Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten: Theoretische Grundlagen und Handlungsperspektiven 9783828260023, 9783828205710

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Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten: Theoretische Grundlagen und Handlungsperspektiven
 9783828260023, 9783828205710

Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Dank
I. Einleitung
II. Zum philosophischen Konzept einer Erwägungsorientierung
III. Ausgangslage und Anknüpfungspunkte: Umgang mit Vielfalt in pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Konzepten
IV. Handlungsperspektiven eines Denkens in Möglichkeiten im erwägungsorientiert gestalteten Grundschulunterricht und in universitären Erwägungsseminaren
V. Fazit der Analyse vielfaltsbewusster pädagogischer Konzepte und bisheriger Erwägungspraxis für die Entwicklung einer erwägungsorientierten Pädagogik
Anhang: Feedback-Bögen zu drei Erwägungsseminaren
Literatur

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Bettina Blanck Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten

Erwägungskultur in Forschung, Lehre und Praxis (herausgegeben von Werner Loh)

Band 4

Menschheitsgeschichtlich bedacht sind in den letzten Jahrhunderten - vom Mikrobereich der Atome bis zum Makrobereich des Weltraums, von der Gentechnik bis zur Robotertechnik - reproduzierbare und radikal neue Ergebnisse gewonnen worden. Trotzdem bestehen in den Wissenschaften nicht nur hinsichtlich ihrer Grundlagen einander widersprechende Auffassungen - von der Mathematik über Physik und Biologie bis hin zu den Kulturwissenschaften sondern auch darüber, wie mit diesen Ergebnissen praktisch umgegangen werden sollte. Viele dieser Differenzen sind in Weltbildern verankert, die zuweilen über mehrere tausend Jahre zurück verfolgbar sind. Es gibt bisher keine Tradition, die derartige Differenzen erforschend in Erwägungen einzubringen trachtet. Erwägen ist ein konstitutiver Bestandteil menschlicher Problembewältigung als Entscheidungsprozess. Erwägungen können erinnert und damit auch als Geltungsbedingungen von Lösungen bewahrt und verbessert werden, insbesondere für Erwägungen, wie zu erwägen sei; hierdurch werden Erwägungsforschungsstände möglich. In der Reihe Erwägungskultur in Forschung Lehre und Praxis werden Arbeiten veröffentlicht, die sich am Konzept des Erwägens orientieren. Es werden sowohl Grundlagen als auch spezifische Anwendungsfragen behandelt. Methodisch reicht das Spektrum von der Zusammenführung unterschiedlicher Auffassungen, die zu Erwägungen herausfordern, bis hin zu kombinatorischen Vorgehensweisen. Die Reihe soll Tradierungen ermöglichen, die der Relevanz entsprechend sich in Forschung, Lehre und Praxis methodisch um Verbesserungen von Erwägungen umfassend kümmern.

Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten Theoretische Grundlagen und Handlungsperspektiven von Bettina Blanck

®

Lucius & Lucius • Stuttgart

Anschrift der Autorin: PD Dr. Bettina Blanck Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften Warburger Str. 100 33098 Paderborn Email: [email protected] bettina.blanck@uni-paderborn. de

Das Institut für Erziehungswissenschaft der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn hat die vorliegende Schrift als Habilitationsschrift angenommen. Die Veröffentlichung wurde von der Fakultät für Kulturwissenschaften finanziell unterstützt.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb. de abrufbar.

ISBN 978-3-8282-0571-0

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft: m b H • Stuttgart - 2 0 1 2 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart • www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagentwurf: Isabelle Devaux, Stuttgart Druck und Einband: Rosch-Buch, Scheßlitz Printed in Germany

Inhalt

V

Inhalt Geleitwort von Annedore Prengel

Dank

I.

XII

Einleitung 1. 2. 3.

II.

X

Problementfaltung und Fragestellung Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit Exkurs zur Verwendung der Termini „Didaktik/didaktisch", „Pädagogik/pädagogisch", „Erziehungswissenschaft(lich)" und „Konzept"

1 8

12

Zum philosophischen Konzept einer Erwägungsorientierung 1. 2. 3.

4. 5. 6.

7.

Überblick Homo deliberativus: Zur Alltäglichkeit des Erwägens Entscheidung und Erwägungs-Geltungsbedingung: Integration und Bewahrung erwogener Alternativen als eine Orientierung zur Einschätzung der Güte von Lösungen Erwägungs-Geltungsbedingung als Bezugspunkt individuellen und gemeinsamen Engagements fur Verbesserungen Reflexiver erwägungsorientierter Umgang mit dem Erwägen: Erwägen des Erwägens und methodische Orientierung Reflexive Integration von scheinbar Konträrem 6.1 Vorgabenotwendigkeit ««¿/Entscheidungsfreiheit 6.2 Subjekt- und Wissenschaftsorientierung 6.3 Vollständigkeitsorientierung und Relativitätsbewusstsein durch Wissen um Nicht-Wissen 6.4 Kreativität und Systematik 6.5 Distanzfähigkeit «»¿/Engagement 6.6 Individualisierung und Gemeinsamkeit 6.7 Radikaler Pluralismus auf der Erwägungsebene und Abgrenzung von einem Beliebigkeitspluralismus auf der Lösungs- und Realisierungsebene Methoden zur Unterstützung erwägungsorientierten Erwägens

17 17

18 29 30 33 33 38 41 43 43 44

46 47

VI

Inhalt

7.1 Zur Problemlage 7.2 Zum Gebrauch des Terminus „Alternative" 8. Kombinatorische Verortung des Konzeptes »Erwägungsorientierung« . . . 9. Offene Forschungsfragen 10. Zusammenfassung von Forschungshypothesen zu Erwägungsorientierung im Umgang mit Vielfalt

47 49 53 56 57

III. Ausgangslage und Anknüpfungspunkte: Umgang mit Vielfalt in pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Konzepten 1. 2.

3. 4.

Überblick Allgemein-theoretische Verortung: Zum Forschungsstand vielfaltsbewusster Pädagogik 2.1 Vielfaltsbewusste Pädagogik als Grundlage 2.2 Politische Bildung und „deliberation in education" Erste Annäherungen 2.3 Perspektivität 2.4 Traditionslinien und Vernetzungsprobleme 2.5 Subjektivität und Dezentrierung Zusammenfassung der Untersuchung zum Forschungsstand vielfaltsbewusster Pädagogik und Zwischenreflexion Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung. Zum Potenzial einer erwägungsorientierten vielfaltsbewussten Pädagogik 4.1 Reflexivität als Bezugspunkt für eine aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung 4.2 Entdeckendes Lernen auf eigenen Wegen 4.2.1 Unterschiedliche Verständnisse und Bestimmungen von „entdeckendem Lernen" - Einblicke in ein kontroverses Forschungsfeld 4.2.2 Kritische Reflexivität beim entdeckenden Lernen und seine Relevanz für inkludierende pädagogische Konzepte auch eine Fortsetzung der Überlegungen zur Bestimmung „entdeckenden Lernens" 4.2.3 Herausforderungen entdeckenden Lernens und Potenziale einer Erwägungsorientierung 4.3 Demokratisches Lernen und Umgang mit Vielfalt: Zweite Annäherung und vertiefende Erörterung zur politischen Bildung und „deliberation in education" 4.3.1 Zum Forschungsfeld »demokratisches Lernen« und »politische Bildung«

59 60 60 73 78 82 87 92 97 97 102

102

114 119

126 126

Inhalt

4.3.2

5.

Relevanz demokratischen Lernens fiir pädagogische inkludierende Konzepte sowie Grundsätze für einen reflexiv-kritischen Umgang mit Vielfalt in Konzepten politischer Bildung und einer „deliberation in education" 4.3.3 Herausforderungen demokratischen Lernens und Potenziale einer Erwägungsorientierung 4.3.3.1 Herausforderungen und Lern-/Lehrfallen 4.3.3.2 Umgang mit Herausforderungen und Lern-/Lehrfallen 4.3.3.3 Potenziale des Konzeptes einer »Erwägungsorientierung« 4.4 Veränderter Umgang mit »Fehlern« 4.4.1 Unterschiedliche Umgangsweisen mit »Fehlern« 4.4.2 Herausforderungen einer »konstruktiven Fehlerkultur« in Schule und Unterricht 4.4.3 Beispielsorientierte Darlegung verschiedener Verständnisse von „Fehler" und verwandter Termini 4.4.3.1 Beispiele, erste Fragen und Erwägungen zur Bestimmung und Abgrenzung von „Fehler" . . . . 4.4.3.2 Vorschläge für reflexive begriffliche Klärungs- und Verständigungsprozesse 4.4.4 Potenzial einer Erwägungsorientierung für den Umgang mit Fehlern 4.5 Umgang mit Ungewissheiten und Nicht-Wissen als Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer 4.5.1 Zum Wandel der Bedeutung von Ungewissheiten und Nicht-Wissen fur das Lernen und Lehren: Von eher starker Gewissheitsorientierung hin zu mehr Ungewissheitsorientierung 4.5.2 Strategien eines exkludierenden Umgangs mit Ungewissheiten und Nicht-Wissen in Lern- und Lehrzusammenhängen 4.5.3 Weitere integrierende, inkludierende Strategien im Umgang mit Ungewissheiten beim Lernen und Lehren sowie reflexive Potenziale des Konzeptes einer Erwägungsorientierung Zusammenfassung des Ertrags der aspektiv-spezifischen vergleichenden Erörterung: Stärkung relevanter Aspekte vielfaltsbewusster inkludierender Pädagogiken durch Erwägungsorientierung

VII

130 134 134 137 145 150 150 161 177 179 187 193 196

199

205

216

229

VIII

IV.

Inhalt

Handlungsperspektiven eines Denkens in Möglichkeiten im erwägungsorientiert gestalteten Grundschulunterricht und in universitären Erwägungsseminaren 1.

2.

3.

4.

V.

Überblick: Beispiele reflexiv-kritischen und systematisch-methodischen Denkens als modellhafte Bezüge fiir Handlungsperspektiven, Kritik und Konzept-Entwicklung Denken in Möglichkeiten im erwägungsorientierten Grundschulunterricht 2.1 Blick auf die Ausgangslage 2.2 Verschiedene Weisen eines erwägungsorientierten Umgangs mit Alternativen durch entsprechende Aufbereitung der Lerninhalte . . 2.3 Sozialer Umgang mit Vielfalt und Alternativen Erwägungsorientiertes Arbeiten in Universitätsseminaren 3.1 Blick auf die Ausgangslage 3.1.1 Zur Einheit von Forschung und Lehre 3.1.2 Entwicklung eines forschenden Habitus 3.1.3 Nutzen der selbstreferentiellen Potenziale von universitären Lehr-/Lernsituationen 3.2 Potenziale der Förderung eines reflexiv-kritischen Habitus und Nutzen der Selbstreferentialität universitärer Lern-/Lehrsituationen in Erwägungsseminaren 3.2.1 Zum Konzept von Erwägungsseminaren, ersten Erfahrungen und Handlungsperspektiven 3.2.2 Heterogene Einschätzungen zu bisherigen Erfahrungen . . 3.3 Besondere Erwägungsmethoden und erwägungsorientierte Seminarberichte als Ergebnis erwägungsorientierten forschenden Studierens und Lehrens 3.3.1 Erwägungsorientierte Pyramidendiskussion 3.3.2 Thesen-Kritik-Replik-Verfahren 3.3.3 Stichwortpuzzel 3.3.4 Erwägungsorientierte Seminarberichte Zusammenfassung: Handlungsperspektiven und Forschungspotenziale . .

233 235 235 239 253 255 255 255 259 269

277 278 286

292 294 302 312 315 324

Fazit der Analyse vielfaltsbewusster pädagogischer Konzepte bisheriger Erwägungspraxis für die Entwicklung einer erwägungsorientierten Pädagogik 1. 2.

Theoretische Umgewichtungen durch Erwägungsorientierung Konsequenzen für Bildungs-, Lern- und Lehrprozesse durch Erwägungsorientierung

327 332

Inhalt

3.

IX

Forschungsfragen zur weiteren Entfaltung erwägungsorientierter Pädagogiken und Didaktiken

332

Anhang; Feedback-Bögen zu drei Erwägungsseminaren

335

Literatur

361

X

Geleitwort

Geleitwort

Annedore Prengel

Mit dem Wunsch, Vielfältiges in der Schwebe zu halten, geht Freude an facettenreichem Denken einher. Vielseitigkeit wird so nicht als lästig, schwierig oder irritierend empfunden, sondern als Neugierde weckend, kreativ und befreiend. Auch wenn in einigen pädagogischen sowie sozial- und erziehungswissenschaftlichen Aussagen vor den Problemen des Wertschätzens von Differenz gewarnt wird, belegt eine ansteigende Fülle an einschlägigen Publikationen und Veranstaltungen, dass Fragen der Diversität an Bedeutung gewinnen. Heterogenität ist zu einem epistemischen Phänomen geworden, von dem für viele eine große Anziehungskraft ausgeht. Diese Anziehungskraft wird in Gang gehalten durch die Frage nach dem „was anders wäre", die in allen Erkenntnissituationen immer wieder neu aufgeworfen werden kann. In der Pädagogik kann sie zu all ihren Erkenntnisgegenständen gestellt werden und sich anschließen zum Beispiel an Befunde zu Akteuren in der jüngeren, lernenden und in der älteren, lehrenden Generation mit ihren unterschiedlichen Professionen, zu pädagogischen Arbeitsfeldern aller Art, zu Vermittlungsgegenständen, zu Modellen und Methoden usw. Mit der unablässigen Suche nach heterogenen Aussagemöglichkeiten ist eine unabschließbare Erkenntnisbewegung im Gang. Der Perspektivitätsforscher Carl F. Graumann 1 stellt

1

Carl F. Graumann: Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität, Berlin 1960.

Geleitwon

XI

fest, dass kognitive Situationen grundsätzlich perspektivisch strukturiert sind und die Enge einer perspektivischen Kanalisierung löst den Impuls sie zu überwinden aus, der zu einem perspektivischen Gleiten fuhrt.

An dieser Stelle ist nicht zu übersehen, dass im Modus einer permanenten dynamischen Dezentrierung weder eine gewisse Zeit gültige wissenschaftliche Aussagen noch begründete pädagogische Handlungen möglich sind, weil in diesem Modus zu jeder Denk- und Handlungsmöglichkeit stets wieder aufs Neue Alternativen herangezogen würden. Darum kann es keine Erkenntnisresultate und Handlungsentscheidungen geben, die ihre Perspektivengebundenheit grundsätzlich überwunden hätten. Aufgrund der zeitlichen, räumlichen und geistigen Begrenztheit unseres Fassungsvermögens ist das Überschreiten von perspektivischen Limitierungen zwar nicht vollkommen ausgeschlossen, aber nur in begrenztem Horizont möglich. Die Vielfalt ist als solche nicht zu haben. Mit jeder Figuration unseres Denkens und Handelns, sei sie noch so vielfältig, verdrängen, ignorieren und exkludieren wir denkbare andere Möglichkeiten.

Eine solche die Emphase für Heterogenität kritisch würdigende Einsicht in ihre unabdingbare Begrenztheit muss die Potentiale eines freiheitlichen Denkens des Verschiedenen nicht negieren. Vielfaltsbewusste Bildung, Bildungstheorie und Bildungsforschung sind möglich, wenn sie sowohl das befreiende Erwägen von neuen Möglichkeiten genießen als auch ihre stets zugleich in Zeit und Raum gegebenen Bestimmtheit und Bedingtheit anerkennen. Dazu tragen die Konzeptionen der Erwägungsorientierung bei.

XII

Dank

Dank Je länger man die theoretische und auch handlungspraktische Entwicklung eines Konzeptes verfolgt, umso mehr profitiert man von den Diskussionen und den erlebten Umsetzungen mit Anderen. Von wem alles diese Arbeit Anregungen, Kritik, Widerstände, neue Impulse und vieles mehr erhalten hat, ist kaum rekonstruierbar. Viele Namen findet man im Literaturverzeichnis. Deshalb möchte ich hier an dieser Stelle mich vor allem bei denen bedanken, die dort nicht zu finden sind: den Grundschulkindern, Lehrerinnen und Lehrern sowie den Studierenden, die sich auf meine Art erwägungsorientierten Unterrichts sowie erwägungsorientierter Seminar- und Vorlesungsgestaltungen eingelassen haben. Von ihren didaktischen Kompetenzen, überraschenden Reaktionen, kreativen Weiterentwicklungen und Ideen, aber auch ihrem Unmut, Widerständen, Kritiken und untereinander gegensätzlichen Einschätzungen habe ich viel über Möglichkeiten und Grenzen erwägungsorientierten Lernens und Lehrens erfahren. Das Aufzeigen von Handlungsperspektiven — also das gesamte IV. Kapitel — wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Durch sie haben sich mir so viele weitergehende Forschungsfragen erschlossen, dass mir die begrenzte Lebenszeit noch deutlicher geworden ist. Eines weiß ich aber ziemlich sicher: Könnte man diese Fragen, wie sie im Verlauf der Arbeit angerissen werden, umfassend im Sinne forschenden Studierens bzw. Lernens und Lehrens gemeinsam mit ihnen verfolgen, so gewönne man mehr als nur einige Antworten, sondern erschlösse sich eine gänzlich neue Dimension gemeinschaftlichen lebenslangen Bildens. Zu denjenigen, die im Literaturverzeichnis stehen, zählen auch Annedore Prengel und Werner Loh. Beide haben den Fortgang der Arbeit am kontinuierlichsten miterlebt und mit kritischen Einwänden, Nachfragen sowie vielfältigen Hinweisen angeregt und gefördert. Im Potsdamer Forschungskolloquium von Annedore Prengel habe ich so manche Gliederung und manche Thesen zur Diskussion stellen dürfen und immer hilfreiche Kritik und Rückmeldungen von den Teilnehmenden erhalten. Auch die Diskussionen im Potsdamer Graduiertenkolleg sowie die gemeinsamen Abende bzw. Nachtgespräche mit Annedore Prengel und Hanno Schmitt ließen so einiges kritisch überdenken und manchen Erwägungshorizont erweitern. Annedore Prengels Geleitwort ist fiir mich ein Ausdruck dieser langen Geschichte. Mit Werner Loh verbindet mich die Entwicklung des Konzeptes einer Erwägungsorientierung, welches uns zusammen mit Frank Benseier, Rainer Greshoff - und später Reinhard Keil - zur Gründung der Diskussionszeitschrift Erwägen Wissen Ethik geführt hat. Die gemeinsamen Erfahrungen mit der Forschungsredaktion und Herausgabe dieser Zeitschrift sowie unsere zum Teil gemeinsamen ersten Versuche mit Erwägungsseminaren bilden eine auch nach über 20 Jahren nicht versiegende Quelle an zu klärenden spannenden Grundsatzfragen, die wir hoffentlich noch lange verfolgen werden können. Schließlich möchte ich Mathis Peckedrath ganz herzlich dafür danken, das Manuskript in das Format für dieses Buch gebracht zu haben. Wer sich mit den Tücken von Konvertierungen zwischen verschiedenen Textverarbeitungsprogrammen auskennt, ahnt, wie misslingensfreundlich man sein muss, wenn dies bei umfangreicheren Arbeiten gelingen soll.

Problementfaltung und Fragestellung

I.

Einleitung

1.

Problementfaltung und Fragestellung

1

T h e m a der Arbeit ist der Umgang mit Vielfalt u n d insbesondere Alternativen in pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen u n d didaktischen Konzepten. 1 Obwohl der U m gang mit Vielfalt mehr oder weniger explizit in allen pädagogischen u n d didaktischen Konzepten relevant ist, 2 gibt es bislang keinen systematischen Vergleich, der die unterschiedlichen Umgangsweisen mit Vielfalt selbst als Alternativen bestimmen ließe. 3 Das mag mit daran liegen, dass unterschiedliche Aspekte des Umgangs mit Vielfalt auf sehr verschiedene Weisen thematisch sind. Drei Zugangsweisen zur Bestimmung unterschiedlicher Umgangsweisen mit Vielfalt seien kurz skizziert, um den Problemhorizont anzugeben, dem die Fragestellungen dieser Arbeit zugehören. In einem ersten Ansatz mag man zunächst zwischen exkludierenden u n d inkludierenden Umgangsweisen unterscheiden, also solchen, die Vielfalt eher zu reduzieren und vermeiden suchen, und solchen, die einen integrierenden u n d jeweilige Vielfalt aufgreifenden Weg intendieren. Außerdem ist zweitens der Terminus „Vielfalt" näher zu bestimmen. Verein1

Zur Verwendung der Termini „Didaktik/didaktisch", „Pädagogik/pädagogisch", „Erziehungswissenschaft/ erziehungswissenschaftlich" und „Konzept" vgl. den Exkurs am Ende dieses Kapitels. - Die Verwendung verschiedener An- und Abfuhrungszeichen wird in dieser Arbeit nach folgenden Kriterien vorgenommen: Wenn ein Sachverhalt hervorgehoben oder als problematisch kenndich gemacht werden soll, wähle ich doppelte eckige Zeichen (»...«). Dabei werden die fiir diese Arbeit als relevant oder problematisch erachteten Termini und Konzepte aber nicht bei jeder Verwendung als solche gekennzeichnet. Dies liefe auf eine Überfrachtung mit Hervorhebungen hinaus. Statt dessen sollen Hervorhebungen eher exemplarisch und die jeweiligen Gedankengänge unterstützend erfolgen. - Geht es um den Gebrauch von Worten sowie um die Kenntlichmachung von Zitaten oder die Angabe von Buch- oder Aufsatztiteln, dann werden doppelte einfache Zeichen genommen („..."). „Wort" verwende ich synonym mit „Bezeichnung", „Ausdruck" und „Terminus". Einfache Zeichen (,...') nehme ich, wenn der Begriff zu einem Wort, das heißt die Semantik eines Ausdrucks, oder ein Gedanke hervorgehoben wird. Zitate werden - wie bereits festgestellt - in doppelte An- und Abfiihrungszeichen gesetzt. Die weitere Zitierweise orientiert sich an folgenden Regeln: Wenn in Zitaten von mir Textstellen ausgelassen werden, so kennzeichne ich dies mit einer eckigen Klammer und drei Punkten: [...]. In eckige Klammern werden auch Wortendungen im Zitat gesetzt, die nicht zur Grammatik des Satzkontextes passen sowie Ergänzungen bzw. Erläuterungen zu Zitaten. Hervorhebungen in den Zitaten werden beibehalten. Hebe ich bestimmte Stellen hervor, weise ich daraufhin. Die Autorinnen bzw. Autoren der Zitate werden das erste Mal mit Vor- und Nachnamen, später meistens nur noch mit Nachnamen angegeben, und zwar entweder im Text vor dem Zitat oder in Klammern nach dem Zitat, in denen auch Jahr und Seite des jeweiligen Zitats genannt werden. Wird von einem Autor bzw. einer Autorin aus mehreren Arbeiten desselben Jahres zitiert, wird die Zuordnung zur Literatur mit dem Zusatz von Kleinbuchstaben kenntlich gemacht, also etwa 1999a, 1999b usw.

2

Für den Umgang mit der Heterogenität der Lernenden, was eine grundlegende Möglichkeit der Fokussierung im Umgang mit Vielfalt und Alternativen in Lern- und Lehrzusammenhängen ist, stellt Annedore Prengel fest: „Jede pädagogische Konzeption — sei sie traditionell oder reformorientiert ausgerichtet, aus der Praxis oder aus theoretischen Überlegungen hervorgegangen, schulisch oder ausserschulisch entworfen, für grössere oder kleinere Kinder gedacht - enthält ausgesprochen oder unausgesprochen eine Vorstellung davon, wie mit der Heterogenität der Kinder [...] umzugehen sei" (Annedore Prengel 2007a, 47). Solch ein systematischer, spezifisch auf den Umgang mit Vielfalt und Alternativen bezogener Vergleich wäre von anderen Vergleichen innerhalb der Erziehungswissenschaften und der Pädagogik, wie etwa die Vorschläge zur Systematisierung der Pädagogiken von Harm Paschen (1997, 1999, 2005) oder die Vorschläge zur Systematisierung der Theorielage der Allgemeinen Didaktik von Ewald Terhart (2005) zu unterscheiden und in Bezug zu setzen.

3

2

Einleitung

fachend mag man zunächst z. B. fragen, ob man allein qualitative Vielfalt im Sinne von qualitativer Verschiedenheit meint, wofür man auch den Ausdruck „Heterogenität" wählen mag. Oder will man „Vielfalt" auch als quantitative Vielfalt verstehen, mit der man auf unterschiedliche Weise in Lern- und Lehrzusammenhängen umgehen kann? Wenn man drittens die einfache Figur des sogenannten didaktischen Dreiecks heranzieht, dann lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen, die allein oder zusammen hinsichtlich der Frage des Umgangs mit Vielfalt behandelt werden mögen. Zieht man die Kritik an dieser Konzeption hinzu und bettet z. B. das Ganze in die jeweiligen Kulturen der Lernenden und Lehrenden ein oder/und ergänzt das Dreieck um die Dimension der Methoden usw., so werden weitere Bezugspunkte deutlich, auf die man Vielfalt beziehen kann. Lernende

4

Bewusst wurden hier die Lernenden in den Mittelpunkt (an die Spitze) des Dreiecks gestellt, womit sich diese Darstellung etwa von denjenigen unterscheidet, bei denen an der Spitze des Dreiecks die Lehrenden oder der Lem-/Lehrgegenstand stehen. So folgt z. B. Peter Petersen denjenigen, die den „„Stoff' an die Spitze des Dreiecks [...] als das, worum sich Lehrer und Schüler gemeinsam mühen sollen" setzen (1984, 28). Lothar Klingberg verwendet in seiner Erörterung von „Kategorien der Didaktik" als Ausgang ein didaktisches Dreieck, an dessen Spitze die Lehrenden stehen (1995, 38). Jürgen Diederich unterscheidet zwischen 12 verschiedenen didaktischen Dreiecken (1988, 256f.). Für Wolfgang Sünkel hingegen ist es irrelevant, was an welcher Ecke des didaktischen Dreiecks steht. Für ihn kommt es auf die „Gleichseitigkeit des didaktischen Dreiecks" an, mit der ausgedrückt wird, „daß es keine wie auch immer geartete Hierarchie unter den situativen Positionen des Unterrichts gibt. Deshalb ist auch die >Lage< des Dreiecks völlig gleichgültig. Unterrichtsgegenstand, Schüler und Lehrer konstituieren den Unterricht nur zusammen; alle drei besitzen die gleiche unterrichtliche Dignität" (1996, 65). Zu den unterschiedlichen Akzentsetzungen sowie auch zur Kritik an der vereinfachten Darstellung des didaktischen Dreiecks und erweiternden Darstellungen vgl. statt anderer Karl-Heinz Sander (1992, 1 lff.), Lothar Klingberg (1995, z. B. 63ff.) oder Andreas Gruschka (2002, 87-134), dessen Auseinandersetzung mit dem didaktischen Dreieck in den Modellvorschlag für eine „didaktische Pyramide" mündet (2002, 120ff.). Beispiele für die Erweiterung des didaktischen Dreiecks in ein Mehreck sind z. B. das „didaktische Quadrat" mit den Dimensionen „Ziele", „Inhalte", „Methoden" und „Wirkungen" (s. Franz Josef E. Becker 1996, 15) oder das „didaktische Sechseck" mit den Dimensionen „Zielstruktur", „Inhaltsstruktur", „Prozessstruktur", „Handlungsstruktur", „Sozialstruktur" und „Raumstruktur" (s. Hilbert Meyer 2005, 25). Auch entfaltete Modelle, die nicht mehr als Drei- bzw. Mehreck dargestellt werden, basieren letztlich immer auf den Ausgangsaspekten Lernende, Lern-/Lehrgegenstände und Lehrende, wie ausdifferenziert, vernetzt und eingebettet in mikro- und makrokulturelle Zusammenhänge sie auch sein mögen (s. statt anderer z. B. die erweiterte Modellvorstellung von Unterricht von GerhardTulodziecki/Bardo Herzig/Sigrid Blömeke 2009, 142). Dazu, dass die Struktur des didaktischen Dreiecks trotz aller Kritik „die Fundamentalstruktur der Unterrichtssituation" ist, vgl. Sünkel (1996, 63); vgl. auch Klaus Prange, für den das didaktische Dreieck „ein notwendiges Baumaß des Lernens im Unterricht ist"(1986, 39). Sünkel beschränkt seine Wertschätzung des didaktischen Dreiecks auf den theoretischen Gebrauch dieser Figur (1996, 64). Hinsichdich des unterrichtspraktischen Gebrauchs schließt er sich der Kritik von Oswald Kroh an, dass das didaktische Dreieck eine unberechtigte Vereinfachung sei (a. a. O.). Die theoretische Leistung der Figur des didaktischen Dreiecks besteht für Sünkel darin, dass es die Komplexität des pädagogischen Geschehens ordnet und begreifbar macht: „Gewiß ist das didaktische Dreieck [...] ein einfaches Schema, aber es ist die Einfachheit des Allgemeinen, in der die Fülle des Besonderen beschlossen

Problementfaltung und Fragestellung

3

Die drei Zugangsweisen zur Bestimmung unterschiedlicher Umgangsweisen mit Vielfalt aufgreifend lässt sich dann beispielsweise schon die Didaktik von Johann Arnos Comenius aus dem 17. Jahrhundert auch als eine inkludierende Didaktik beschreiben, die - neben der qualitativen Vielfalt hinsichtlich der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler sowie der qualitativen und quantitativen Vielfalt des Wissens - auch die quantitative Vielfalt an Schülerinnen und Schülern nicht nur bewältigen helfen, sondern für einen »besseren« Unterricht nutzen wollte. 5 Im Zentrum der Überlegungen einer „Pädagogik der Vielfalt" (Annedore Prengel 1993) steht die qualitative Vielfalt der Lernenden als Heterogenität der Lernenden, für die Grundlagen und Potenziale, aber auch Probleme eines inklusiven Umgangs aufzeigt werden (z. B. Prengel 2007b). Didaktische Konzepte zur politischen Bildung, die auf dem sogenannten Beutelsbacher Konsens von 1976 basieren (Hans-Georg Wehling 1977, vgl. hierzu Kap. III. 2.2 und Kap. III. 4.3), betonen in besonderer Weise die nicht zu eliminierende Heterogenität der Lern -/Lehrgegenstände (Kontroversitätsgebot als Gebot fiir einen inkludierenden Umgang mit kontroversen Positionen). 6 Zu Konzepten, die sich auf

ist" (1996, 64). Für Prange „ist es geboten, den Sinn des didaktischen Dreiecks als grundlegend auszuweisen, so daß es mehr als ein Modell ist, nämlich die praktische Gestalt und das Normativ des dreiseitigen Lern- und Erfahrungsprozesses. Indem ein Können unter mäeutischer Hilfestellung eingeübt, ein Wissen in doktrinaler Darstellung ermöglicht und zugleich gemäß der immanenten Struktur der Instruktion das Ethos der auf vernünftigen Konsens angelegten Gesprächssituation des Unterrichts ausgeübt wird, werden die Seiten des Dreiecks: Lehrer, Thema und Schüler realisiert. Der volle Begriff von Unterricht enthält insofern auch eine Anweisung fiir seine Gestaltung. Der Schüler stellt in diesem Schema die Seite des Subjekts dar, das sich einem objektiven Thema gegenübersieht; der Lehrer repräsentiert den Zeichenkontext im Sinne des Zeigens, wodurch Thema und Schüler, Objekt und Subjekt zusammengeführt werden. Die Funktionen des didaktischen Dreiecks erfüllen insofern den Sinn des grundständigen, erkenntnisanthropologisch ausgewiesenen Erfahrens und Lernens. Doch damit diese Verfassung wirksam werden kann, ist folgendes zu bedenken: in jeder Seite der dreistelligen Beziehung von Thema (Objekt), lernendem Subjekt und vermittelndem Zeichengeber wiederholt sich noch einmal die Dreiheit von Können, Wissen und Wollen" (Prange 1986, 42). 5

Comenius erhofft sich von seiner Didaktik, „daß ein einziger Lehrer für die gleichzeitige Belehrung von hundert Schülern genügt und dabei doch zehnmal weniger Mühe hat, als man heute an jeden einzelnen zu wenden pflegt" (1993, 64). Dabei behauptet Comenius, dass es nicht nur möglich, sondern „sogar nötig" sei, „daß ein Lehrer (magister) eine Gruppe von etwa hundert Schülern leitet, [...], weil dies fiir den Lehrenden wie die Lernenden weitaus am angenehmsten ist. Jener wird ohne Zweifel mit um so größerer Lust sein Tagewerk verrichten, je zahlreicher die Schar ist, die er vor sich erblickt (wie denn auch die Bergleute in einer reichen Mine die Hände freudiger regen); und je eifriger er selbst ist, desto lebhafter wird er seine Schüler machen. Ebenso wird den Schülern die größere Zahl mehr Spaß (Freude macht es, beim Schaffen Genossen zu haben) und mehr Nutzen bringen. Sie werden sich gegenseitig anspornen und helfen, denn auch dieses Alter hat seinen Ehrgeiz. Außerdem kann es leicht geschehen, wenn der Lehrer (doctor) nur von wenigen gehört wird, daß dies oder jenes an den Ohren aller vorübergeht; hören ihm aber viele zu, so erfaßt jeder soviel er kann, und bei den nachfolgenden Wiederholungen kommt alles noch einmal zur Sprache, und alles kommt allen zugut, da sich ein Geist am andern, ein Gedächtnis am andern entzündet" (1993, 122f.). Dazu, dass das „Lernen in heterogenen Gruppen - keine Erfindung unserer Tage" ist, vgl. auch Olga Graumann (2002, 93ff.), die neben Comenius auch auf Pestalozzi und die Bedeutung der »Reformpädagogik« (vor allem Maria Montessori und Peter Petersen) eingeht (zur Umstrittenheit der Verwendung des Terminus „Reformpädagogik" vgl. statt anderer Jürgen Oelkers 2005, etwa S. 17; s. auch Oelkers 2010).

6

Zur Problematik, „Wissensinhalte, Ergebnisse, Traditionen, Axiome, Methoden" usw. als gegeben vorauszusetzen und außer Streit zu stellen, vgl. auch die Überlegungen von Peter Heintel (1986, 12ff.), der fragt: „Verleitet nicht das Außer-Streit-Stellen und Voraussetzen von Stoff zu bloß mechanischer und äußerlicher Aneignung und zur Weitergabe autoritärer Lehrstile, die Fragen an Axiome und Traditionen nicht mehr zulassen? Wird nicht auch dadurch jene einseitige Fachbezogenheit gefördert, die nur mehr aus ihrem Systemzusammenhang urteilen kann?" (1986, 13). Für Heintel heißt, „einen Wissenskanon bereits vorauszusetzen und aus dem Horizont der Befragbarkeit zu stellen [...] einen wichtigen Bereich didaktischer Möglichkeiten ausschließen" (1986, 13f.).

4

Einleitung

einen inkludierenden Umgang mit der Heterogenität der Lehrenden konzentrieren, können z. B. auch pädagogische Konzepte gezählt werden, die Wege im Umgang mit der qualitativen Heterogenität der Lehrenden in einem Kollegium thematisieren (s. z. B. Herbert Altrichter/ Elgrid Messner 2004 oder Katrin Höhmann 2009, 33). Gegenüber solchen Beispielen für Vielfalt inkludierende Konzepte nehmen Vielfalt exkludierende Konzepte jeweils spezifische Differenzen, wie etwa Differenzen der Schülerinnen und Schüler bezüglich Alter, Behinderung, Geschlecht, Kultur, Leistung usw. zum Bezug der Trennung und Separierung von entsprechenden Gruppen. Nicht zu vernachlässigen ist der Zusammenhang unter den drei Dimensionen des didaktischen Dreiecks, die die Vielfaltsmöglichkeiten zusätzlich erhöhen. Wer etwa die Heterogenität der Lernenden berücksichtigen will, braucht eine entsprechende Aufbereitung der Lern-/Lehrgegenstände und muss als Lehrende bzw. Lehrender über entsprechende methodische, fachliche wie soziale Vielfaltskompetenzen verfügen. Die vorangegangenen Überlegungen aufgreifend, lässt sich die Grundfigur des didaktischen Dreiecks hinsichtlich des Vorliegens von Vielfalt und erforderlicher Vielfaltskompetenzen genauer fassen:

r*

Lernende

müssen mit Differenzen untereinander umgehen können

soziale Vielfaltskompetenzen

Lernen auf eigenen (und vielfältigen) Wegen

Lern-/Lehrgegenstand müssen mit Differenzen untereinander umgehen können Abb. 2:

vielfältige Wege der Aufbereitung und Gestaltung von Lern- und Lehrsituationen

„in der Sache" sind unterschiedliche Positionen, Darstellungen, Deutungen usw. möglich

Grundfigur des didaktischen Dreiecks mit Angabe einiger Möglichkeiten, mag und Vielfaltskompetenzen

J

wo Vielfalt vorliegen

erforderlich sein können. Die Heterogenität der Lernenden

und

Lehrenden mag dabei auch Ausdruck unterschiedlicher kultureller Lebensweisen sein, so dass die erweiterte Grundfigur immer eingebettet in verschiedene (Sub-)Kulturen zu denken ist.

Orientiert man sich an den skizzierten drei Zugangsweisen zur Bestimmung verschiedener Umgangsweisen mit Vielfalt - exkludierend/inkludierend, qualitativ/quantitativ, Dimensionen und Beziehungen zwischen ihnen im didaktischen Dreieck - so wird deutlich, dass jeweilige pädagogische und didaktische Konzepte in unterschiedlichem Ausmaß »vielfaltsbewusst« angelegt sein können, je nachdem, welche Aspekte von Vielfalt konzeptuell als relevant erachtet und mit welchen Intentionen und wie berücksichtigt werden. In diesem Sinne werden in dieser Arbeit alle pädagogischen und didaktischen Konzepte, die reflektiert und bewusst Vielfalt berücksichtigen, als „vielfaltsbewusst" bezeichnet. Die Bezeichnung „vielfaltsbewusst" sagt dabei noch nichts darüber aus, ob es sich um einen Vielfalt inkludierenden oder exkludierenden Ansatz handelt und ob dieser als angemessen oder unangemes-

Problementfaltung und Fragestellung

5

sen zu bewerten ist. Auch sagt die Bezeichnung allein nichts über die Art der Reflexivität der Thematisierung von Vielfalt aus, also ob z. B. bestimmte Differenzlinien von Vielfalt (etwa Geschlecht, Leistung usw.) angesprochen werden oder/und auch die Unterscheidung verschiedener Differenzlinien im Umgang mit Vielfalt selbst thematisiert und/oder zudem nach alternativen Umgangsweisen der Thematisierung und Berücksichtigung gefragt wird. Ein Konzept für den Umgang mit Vielfalt, das reflexiv bedacht, auch unterschiedliche Umgangsweisen mit Vielfalt unterscheiden helfen könnte, ist das philosophische Konzept einer »Erwägungsorientierung«. Das Konzept einer »Erwägungsorientierung« ist ein auf Entscheidungszusammenhänge bezogenes Konzept, wobei von einem weit gefassten Entscheidungsverständnis ausgegangen wird (vgl. Blanck 2002). Mit seiner Erwägungs-Geltungsbedingung zielt es auf einen spezifischen erwägenden Umgang mit Vielfalt, der sich grundlegend von bisherigen Umgangsweisen unterscheidet. Nach der Erwägungs-Geltungsbedingung trägt die in einem Entscheidungszusammenhang als Alternativen erwogene Vielfalt mit zur Güte der gesetzten Lösung bei. Das hat weitreichende Folgen zum einen für die Aufbereitung und Tradierung von deskriptiven und präskriptiven Konzepten. Zum anderen hat es Folgen für individuelles wie gemeinsames Entscheiden, insbesondere auch fiir reflexive Entscheidungskompetenzen. Damit wird das Konzept einer »Erwägungsorientierung« für pluralistische demokratische Gesellschaften, die sich zunehmend weg von eher vorgabeorientierten hin zu eher entscheidungsoffeneren Gesellschaften entwickeln, bedeutsam. Denn Y.ntsche\

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J

3. Über Differenzlinien hinausgehende, aber auf sie bezogene, Konzepte I I I • Pädagogik d i r Vielfalt (Annedore Prengel; Ulf Preuss-Lausitz) ,. . Diw t y f aaoalk i i ike Hormei/Aibert Sehe • Inklusive Pädagogik Ii. S. von z. B. Andreas Hinz; Alfred Sanderi/Inklusive Didaktik iz. B. Simone Seitz) • Anti-Bias-Approach (Louise Derman-Sparks) (N g i eigenen pädagogischen Tn fut e fei Umgang rr e eis us einer Auseinandersetzung mit vorhandenen. Konzepten hervorgjsgai 30" srnd. 3 ot es Kcnzap-e. in deren Mittelpunkt weniger ein eigenes Konzept als die Thematisierung, Pröbiimatislerung und der Vergleich votf Differenzilnie steht (Isabel! Diehn A eas J 1 Jorbert Wenning). E e krittecne Auselnanders z ig mit jeweiligen Differenzlinlen findet man natürlich auch bei Konzepten, die sich schwerpunktmäßig auf eine Differenzlinie konzentrieren.) Ermöglichungsdidaktik Erzeugungsdidaktik) (Rolf Arnold/Ingeborg Schüßler: 2 subjektwissenschaftliche Didaktik (Klaus Holzkamp) und starke Nähe zu konstruktivistischen Konzepten (Abgrenzungen seien aber nicht klar) Dialogisches Lernen/Dialogische Didaktik (Urs Ruf/Peter Gallin) (betonen u.a. Zusammenhang eines Lernens auf eigenen Wegen und „Fehlerkultur") Didaktik der Vielfalt (Gudrun Bachmann u.a.) Didaktik der Vielfalt (Gudrun Schönknecht) Politische Bildung (demokratische Erziehung, Urteilskompetenzen, Erziehung zur Mündigkeit) „Beutelsbacher Konsens" • Urteilskompetenzen der Lernenden • Kontroversitätsgebot (z. B. Tilman Grammes) • Überwältigungsverbot Multiperspektivische politische Bildung (Wolfgang Sander)

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Interkultureller Mathematikunterricht (Susanne Prediger, Joachim Schroeder) Insgesamt: Interkulturelle Fachdidaktik (Hans H. Reich u.a. (Hg.)) Interkulturelle Fachdidaktiken kann man als Konkretionen von Interkulturellen Pädagogiken verstehen, bei denen das Fach (der Lern-/ Lehrgegenstand in den Mittelpunkt rückt) Didaktik der Vielfalt (Alexandra Obolenskl)

„Learning diversity" (Vielfalt in der Organisation Schule; Thea Stroot)

Multiperspektivischer Geschichtsunterricht (z. B. Klaus Bergmann)

Multiperspektivische Didaktik für Religions-, Ethik- und Geschichtsunterricht (Hansjörg Blener)

Deliberative Education Deliberative democracy, civic education • Deliberates als kritisches Denken: gut begründete, von allen mitgetragene Entscheidungen (Eva Brann, Jack Crittenden, John Dewey, James T. Dillon, Amy Gutmann)

Provokative Didaktik (Wolfgang Müskens/lsabel Müskens)

1 auf Nachfolgeposition; durchgezogene Pfeile: beziehen sich (u. a.) auf die Position, auf die die Pfeilspitze zeigt, zehen in Gegensatz; dicke Pfeile zeigen auf mögliche Konkretionen; 4 • = zeigt Beziehungen an)

' didaktischer Konzepte für einen inkludierenden Umgang mit Vielfalt onKonzepten zu Differenz und Gleichheit oder Perspektivität)

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Das Schaubild verdeutlicht exemplarisch, dass in den verschiedenen Konzept-Entwicklungen in unterschiedlichem Maße aufeinander Bezug genommen wird und auch zu berücksichtigen ist, dass unterschiedliche Auffassungen über Traditionslinien bzw. Anknüpfungen und Abgrenzungen vertreten werden. Weiterhin gibt es Parallel-Entwicklungen, wo Konzepte mit ähnlichen Anliegen nicht weiter rezipiert wurden. Damit lässt sich als Ertrag einer erwägungsorientierten Erschließung des Forschungsstandes vielfaltsbewusster Pädagogik festhalten, dass diese umfassende und disziplinenübergreifende sowie systematisch methodische Herangehensweise die Umrisse einer Forschungslandschaft hat aufdecken helfen, die bisher so meines Wissens noch nicht zusammengedacht wurde. Die Skizze zur Forschungslandschaft kann dabei nur ein Schritt zu umfassenderen Aufbereitungen sein, bei denen weitere Konzepte - insbesondere wenn man die Geschichte der Pädagogik mit einbeziehen würde - zu integrieren, mögliche zusätzliche Differenzierungen vorzunehmen bzw. bestehende Differenzierungen zu korrigieren sowie auch die Beziehungen der Konzepte untereinander weiter aufzuklären wären. Eine solche Aufklärung hätte aus erwägungsorientierter Perspektive vor allem genauer zu prüfen, inwiefern es sich bei den bestehenden Konzepten um echte Alternativen oder miteinander vereinbare Positionen handelt. Weitere Alternativen wären zu erwägen, was selbstreferentiell in ein Erwägen alternativer Skizzen der Forschungslandschaft einzubetten wäre. Hierbei wären auch diejenigen Konzepte, die für die inkludierenden Konzepte grundlegend sind, - wie z. B. Theorien der Perspektivität, der Differenz und Gleichheit, der Subjektivität und Intersubjektivität/Objektivität - , daraufhin zu untersuchen, wie sie verstanden und aufgegriffen werden und welche unterschiedlichen Verständnisse und Anknüpfungsmöglichkeiten zu berücksichtigen sind. Außerdem wären die Forschungen, die sich schwerpunktmäßig auf spezifische Differenzlinien konzentrieren mit solchen, die umfassender ansetzen, zu vergleichen. Schließlich müsste auch die Vielfalt exkludierender Konzepte näher untersucht werden, um auf vergleichbaren Abstraktionsebenen die Begriffsklärungen (Abgrenzung zwischen inkludierenden und exkludierenden Konzepten) weiter voranzubringen. Was bringt nun die bisherige Erörterung des Forschungsstandes vorliegender Konzepte eines inkludierenden Umgangs mit Vielfalt für die Fragestellung dieses Kapitels? Worin bestehen die bisher sichtbar gewordenen Gemeinsamkeiten mit einem erwägungsorientierten Umgang mit Vielfalt und einer zu entwickelnden erwägungsorientierten vielfaltsbewussten Pädagogik, wo sind Anknüpfungspunkte und Unterschiede? Auf den ersten Blick gibt es beim Vergleich mit den herausgearbeiteten Merkmalen des Konzeptes einer Erwägungsorientierung (s. Kap. II) eine Fülle von Anknüpfungspunkten. In den erörterten, Vielfalt inkludierenden Konzepten geht es etwa auch um einen verantwortbaren Umgang mit jeweiliger Vielfalt, um Wege der individuellen wie gemeinsamen Verständigung und Aufklärung über jeweilige Vielfalt sowie um die Stärkung von Identitätsentwicklungen, die Wissen mit Nicht-Wissen und Wissen um Grenzen des Wissens verbinden. Diese Aspekte individueller wie gemeinsamer Vielfaltskompetenzen werden zwar nicht gleichermaßen umfassend von allen behandelten inkludierenden Konzepten berücksichtigt, dennoch liegen aber hinreichend Anknüpfungspunkte vor, denkt man etwa insbesondere

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

97

an demokratietheoretisch orientierte Konzepte. Auch behandeln die erörterten Konzepte keineswegs nur die Vielfalt der Lernenden; insbesondere die Vielfalt der Lehr-/Lerngegenstände ist gerade fiir die perspektivisch ansetzenden Konzepte relevant. Auffallend ist, dass das Merkmal der Reflexivität für die verschiedenen inkludierenden Konzepte grundlegend ist, was im nächsten Abschnitt (Kap. III. 4.1) noch näher ausgeführt wird. Als Unterschied zu einem erwägungsorientierten Vorgehen lässt sich bisher nur ausmachen, dass letzteres einen Umgang mit jeweiliger Vielfalt schon vom Ansatz her an individuelle wie gemeinsame Entscheidungen knüpft und an der Erwägungs-Geltungsbedingung festmacht. Die hiermit verbundene systematisch und methodisch orientierte Integration und Bewahrung von erwogener Vielfalt als Alternativen sowie ein Engagement für Verbesserungen jeweiliger Erwägungszusammenstellungen, wobei dies fiir alle reflexiven Ebenen des Erwägens gelten soll, konnte in den vorhandenen erörterten inkludierenden Konzepten so nicht gefunden werden. Die Frage ist nun, ob eine iterativ reflexive Orientierung an der Erwägungs-Geltungsbedingung sowie an einem Engagement für Verbesserungen von jeweiligen Erwägungen und Lösungen derart grundlegend ist, dass sie die Konzipierung eines weiteren pädagogischen Ansatzes rechtfertigt. Dies zu prüfen, ist Anliegen der folgenden aspektiv-vergleichenden Erörterung, bei der das Potenzial einer erwägungsorientierten vielfaltsbewussten Pädagogik ausgelotet werden soll. Dabei ist das Merkmal der Reflexivität Bezugspunkt und roter Faden, d. h. es werden Themenaspekte gewählt, fiir die Reflexivität bzw. reflexive Kompetenzen im individuellen wie gemeinsamen Umgang mit Vielfalt bedeutsam sind. Denn, so ist die Ausgangsvermutung, fiir eine nähere Untersuchung des angedeuteten Unterschieds zwischen einem erwägungsorientierten Umgang und inkludierenden pädagogischen Umgangsweisen mit Vielfalt müsste die vergleichende Betrachtung der jeweils intendierten Reflexivität aufschlussreich sein, da sie zum Kern des Konzeptes einer Erwägungsorientierung zählt. Würde das, was die Reflexivität des Konzeptes einer Erwägungsorientierung intendiert, schon von den Reflexionsweisen inkludierender pädagogischer Konzepte geleistet, so käme die Entwicklung eines erwägungsorientiert inkludierenden pädagogischen Konzeptes in Begründungsnöte.

4.

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung: Zum Potenzial einer erwägungsorientierten vielfaltsbewussten Pädagogik

4.1

Reflexivität als Bezugspunkt für eine aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

Wodurch zeichnen sich die von inkludierenden pädagogischen Konzepten intendierte Reflexivität und besonders die Entwicklung von reflexiven Kompetenzen aus? Auch wenn dies explizit so eigens nicht betont werden mag, lässt sich bei einem diesbezüglichen zusam-

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

menfassenden Rückblick auf die bisherigen Erörterungen inkludierender pädagogischer Konzepte zunächst feststellen, dass hinsichtlich Reflexivität und besonders reflexiver Kompetenzen - ebenso wie im Konzept einer Erwägungsorientierung - an kritische Reflexivität bzw. kritische reflexive Kompetenzen gedacht wird, und nicht etwa an eine vorurteilsbestätigende Reflexivität (s. o. Kap. II. 5). Dies hängt eng mit den Vorstellungen über einen inkludierenden Umgang mit Vielfalt zusammen, für den kritische Reflexivität bzw. kritische reflexive Kompetenzen eine Voraussetzung sind. Hier liegen Gemeinsamkeiten vor: In Prengels Pädagogik der Vielfalt, welche den Umgang mit Vielfalt am demokratietheoretischen Prinzip der egalitären Differenz orientiert, wird besonders deutlich, dass Reflexivität vor diskriminierendem Verhalten und vorurteilshaften Einstellungen schützen soll (s. hierzu auch Blanck 2004e). Statt dessen kommt es in der reflexiven Auseinandersetzung mit Vielfalt - wie bei anderen Konzepten, die Perspektivität betonen - darauf an, sich der jeweiligen Perspektivität als Subjektivität mit ihren jeweiligen Grenzen und in ihrer spezifischen historischen und kulturellen Bedingtheit bewusst zu werden und die Vielfalt anderer möglicher Perspektiven auch zur Weiterentwicklung und Entfaltung eigener Subjektivität und Perspektivität zu nutzen. Solche Reflexivität soll einen Beitrag zur Erziehung zur Mündigkeit leisten. Kritische Reflexivität bzw. kritische Reflexionskompetenzen werden dabei aber nicht nur als Entwicklungsaufgabe und -herausforderung für die Schülerinnen und Schüler gesehen. Ich erinnere hier exemplarisch an die oben geführten Erörterungen zur politischen Bildung, wo etwa Rudolf Engelhardt mit seiner Einschätzung zitiert wird, dass gerade Lehrerinnen und Lehrer „den Widerspruch [also die Gegenpositionen, die anderen Perspektiven; B. B.] zur immerwährenden Korrektur und Verunsicherung [brauchen; B. B.], damit [...] Sicherheit nicht in Erstarrung ende" (1968, 60; s. o. ausfuhrlicher zitiert in Kap. III. 2.2). In der Diskussion um „deliberation in education" wird „deliberation" explizit als „critical" und „reflective thinking" charakterisiert (Crittenden, z. B. 2002, 173) und es gilt der Vorsatz, niemanden und keine Position aufgrund von Vorurteilen aus einer deliberativen Diskussion auszuschließen (Dillon 1994b, 11 - s. auch zu Dillon und Crittenden ausführlicher zitiert in Kap. III. 2.2). Vom Reflexionsverständnis des Konzeptes einer Erwägungsorientierung aus gesehen ist aus den vorangegangenen Erörterungen weiterhin noch besonders der Aspekt der Berücksichtigung denkmöglicher Perspektiven relevant. Wenn Duncker „das Feld des Möglichen und Utopischen" (2005, 17) mit in sein Konzept eines mehrperspektivischen Umgangs mit Vielfalt einbezogen wissen will, dann bedarf dies in besonderer Weise kritischer reflexiver Kompetenzen, denn die Suche nach denkmöglichen Perspektiven erfordert die Bereitschaft, vorhandene Perspektiven zu verlassen und ggf. auch grundsätzlich in Frage zu stellen (ausführlicher zu Duncker s. o. Kap. III. 2.3). Schließlich ist für die folgende Auseinandersetzung daran zu erinnern, dass in Vielfalt inkludierenden pädagogischen Konzepten der kritische reflexive Umgang mit Vielfalt seinerseits auch wiederum kritisch hinsichtlich jeweiliger Grenzen reflektiert wird, wenn etwa in der Diskussion um koedukative Konzepte auf mögliche Gefahren einer kritischen reflektie-

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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renden Thematisierung von (Geschlechter-) Differenz eingegangen wird, die unter Umständen in das Gegenteil dessen, was intendiert wird, münden kann, nämlich eine Verfestigung von (Geschlechter-)Stereotypen (zur Thematisierung von Stereotypen vgl. auch Kap. III. 4.5.3, Anm. 198). Für einen Vergleich zwischen bisherigen kritisch-reflexiven inkludierenden mit erwägungsorientierten Umgangsweisen mit Vielfalt ist die Beachtung der jeweiligen Grenzen relevant, die aus der Sicht der verschiedenen Positionen bestehen. In diesem Zusammenhang sind auch Probleme und Chancen zu beachten, die mit einer kritisch-reflexiven Einstellung verbunden werden. Auf der einen Seite darf man die von z. B. John Dewey angesprochene Problematik kritisch-reflektierenden Denkens nicht außer acht lassen, die dieses wegen seiner Verunsicherung als unangenehmen Zustand erleben lassen kann, den man möglichst schnell durch eine »sichere« Lösung überwinden will: „The easiest way is to accept any suggestion that seems plausible and thereby bring to an end the condition of mental uneasiness. Reflective thinking is always more or less troublesome because it involves overcoming the inertia that inclines one to accept suggestions at their face value; it involves willingness to endure a condition of mental unrest and disturbance. Reflective thinking, in short, means judgment suspended during further inquiry; and suspence is likely to be somewhat painful" (John Dewey 1 9 7 8 , 1 9 1 ) .

Auf der anderen Seite steht die z. B. von Prengel beschriebene befreiende Kraft kritischer Reflexion, die begeistert, weil sie neue Möglichkeiten und Perspektiven erschließen hilft: „Kritische Selbstreflexion macht theoretisches Arbeiten interessant und spannend, fuhrt zu mehr Interesse am Erkennen statt an ach so verbreiteter wissenschaftlicher Selbstbehauptung, die stets einen imaginären Gegner vernichten will" (1999b, 236). „Wage ich es, auch die Kehrseiten, Brüche und Schwachstellen meiner Einsichten zu suchen und das nicht, um alles wasserdicht zu machen, sondern im Wissen darum, daß Wissen unvollkommen ist, so bricht mir kein Zacken aus der Krone, sondern ich kann lernen, mit Begeisterung mehrdimensional zu denken" (Prengel 1999a, 34).

Dass beide entgegengesetzten Erlebensweisen viel mit der jeweiligen Kultur und den Gewohnheiten individuellen wie gemeinsamen kritischen Reflektierens und Diskutierens zu tun haben, wird z. B. von Joseph J. Schwab anschaulich beschrieben, 58 wenn er den Unterschied zwischen Leitung und Verlauf einer deliberativen und einer debattenartigen Diskussion darlegt und dabei auch schildert, wie sich in Folgediskussionen über »Rückfalle« in den gewohnten Debattierstil hinweg allmählich eine neue Gewohnheit der Deliberation entwickelt: „... a deliberative process in which all pool their ingenuities, insights, and perceptions in the interest of discovering the most promising possibilities for trial, rather than forming sides, each

58 Auch Dewey betont in Fortsetzung der zitierten Überlegung, dass es wichtig ist, reflektierendes Denken zu trainieren: „As we shall see later, the most important factor in the training of good mental habits consists in acquiring the attitude of suspended conclusion, and in mastering the various methods of searching for new materials to corroborate or to refute the first suggestions that occur. To maintain the state of doubt and to carry on systematic and protracted inquiry - these are the essentials of thinking"(1978, 191).

100

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

of which look only to the strengths of a selected one alternative, hence discarding any means of Coming to decision except eloquence and nose-counting" (Schwab 1983, 255). 59 In der folgenden aspektiv-spezifischen vergleichenden Erörterung (Kap. III. 4.2-4.5) wird die Problemlage verfolgt, inwiefern Lern- u n d Lehrprozesse eine Kultur des individuellen u n d gemeinsamen kritisch-reflexiven Nachdenkens über und Umgehens mit Vielfalt fördern können. Die Auswahl für die aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung orientiert sich dementsprechend an Themen, die für einen Wandel von Lernkulturen stehen, welcher sich in einer pointiert zugespitzten Gegenüberstellung 6 0 charakterisieren lässt als Abwendung von eher vorgäbe- und homogenitätsorientierten Belehrungskulturen hin zu mehr mitbestimmungs- u n d heterogenitätsorientierten Lern- und Lehrkulturen, weg von einem vornehmlichen Lernen u n d Lehren im kleinschrittigen Gleichschritt und hin zu verstärkt individualisiertem u n d differenziertem Unterricht. Außerdem sollten die gewählten thematischen Vertiefungsaspekte unterschiedliche Dimensionen und Beziehungsgeflechte im didaktischen Dreieck berücksichtigen, weil alle zusammen von einer umfassenden Vielfalt inkludierenden Pädagogik zu beachten sind, wie die bisherige Auseinandersetzung dargelegt hat. Die Erörterungen setzen mit dem Themenaspekt eines „entdeckenden Lernens auf eigenen Wegen" beim lernenden Individuum an, welcher auch im Vermittlungszusammenhang mit den anderen Lernenden u n d den Lehrenden zu bedenken ist. Dieser Aspekt betont hinsichtlich des Wandels von Lern- und Lehrkulturen besonders den Wandel in der Lernendenrolle u n d dem Lernverständnis, dass sich von einer eher passiven u n d rezeptiven Haltung hin zu einer aktiven u n d konstruierenden Haltung bei der Erschließung und Aneignung von Wissen u n d Kompetenzen auszeichnet. Der Aspekt des entdeckenden Lernens zielt also insbesondere auf die Heterogenität der Schülerinnen u n d Schüler mit ihren vielfältigen Interessen, Lernvoraussetzungen, Lernstilen usw. Die soziale Dimension gemeinsamen Zusammenlebens rückt beim zweiten gewählten Aspekt, dem „demokratischen Lernen" noch mehr in den Vordergrund. Der hierbei berührte Wandel von Lern- u n d Lehrkulturen bezieht sich vor allem auf den zunehmenden Stellenwert reflexiver Kompetenzen für mündige Bürgerinnen und Bürger u n d auf eine Abgrenzung von eher als „Gehorsamspädagogiken" 6 1 zu bezeichnenden Konzepten von „Mitbe59 Dabei geht es Schwab nicht darum anzuzweifeln, dass nicht auch Debatten hilfreich bei der Lösung von Problemen sein können: „My implied praises of deliberation here are not to be taken as condemning adversary methods in the solution of other kinds of problems. Debate has ist own virtues" (1983, 256). Es kommt also darauf an, welche Art von Problemen man mit welchen Ansprüchen unter welchen Bedingungen wie lösen möchte, eine Frage, auf die es ebenfalls wieder unterschiedliche Antworten geben wird, was kritisch reflektierend zu bedenken ist. 60 Die Zuspitzung lässt die möglichen Kombinationen der Merkmale von vorgäbe- und heterogenitätsorientiert sowie mitbestimmungs- und homogenitätsorientiert außer Acht. Im Folgenden werden in der Erörterung der ausgewählten Aspekte solche Kombinationen immer dann implizit mitbedacht, wenn verschiedene Ausmaße an Mitbestimmung und Vorgaben in Lern- und Lehrzusammenhängen unterschieden werden. 61 Im Sinne von „affirmativer Pädagogik", wie sie Bernhard Claußen charakterisiert hat: ,Affirmative Pädagogik zielt, wenn nicht gar auf Beibehaltung und Ausbreitung von Unmündigkeit, auf eine reduzierte Mündigkeit. Sie erschöpft sich in einer Selbständigkeit der systemimmanenten Funktionstauglichkeit ohne Anleitung und internalisiert eben auch unvernünftige Herrschaftsansprüche und unbewußte innere wie äußere Unterdrükkung" (1997, 47f.).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

101

stimmungspädagogiken". Mit der Diskussion dieses Aspektes werden die ersten Annäherungen zur politischen Bildung und „deliberation in education" (Kap. III. 2.2) fortgesetzt. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Erörterung des Potenzials einer Erwägungsorientierung zur Gestaltung von Diskussionen und Auseinandersetzungen, die individuelle wie gemeinsame Entscheidungen und Urteilsfindungen ermöglichen, für die es grundlegend ist, möglichst umfassend jeweilige Vielfalt an zu erwägenden Positionen, Perspektiven, Argumentationen usw. zu berücksichtigen. Der dritte Themenaspekt des „Umgangs mit Fehlern" umfasst in besonderer Weise alle Dimensionen im didaktischen Dreieck, die Lehrenden und Lernenden sowie ihre Beziehungen als auch die Lern-/Lehrgegenstände und die Weisen ihrer Aneignung, die z. B. mehr oder weniger fehlerfreundlich verlaufen mögen. Der Wandel von Lern- und Lehrkultur lässt sich hier pointiert zugespitzt formulieren als Wandel von einer Kultur der Fehlerverteufelung und Fehlervermeidung hin zu einem konstruktiven Umgang mit Fehlern, bei dem aus Fehlern gelernt werden soll. Schließlich geht es beim letzten Themenaspekt, dem „Umgang mit Ungewissheiten" vor allem um die Lehrenden, wenngleich dieser Aspekt wie auch alle zuvor genannten immer auch die jeweils anderen Dimensionen und Beziehungen im didaktischen Dreieck betrifft. Der hier zum Ausdruck kommende Wandel hat viel auch mit einem anderen Verständnis von „Wissen" zu tun - statt einer Gewissheitsorientierung geht man nun im Umgang mit Wissen von seiner allenfalls vorläufigen Gültigkeit aus - sowie der Erkenntnis von der Notwendigkeit lebenslangen Lernens, von dem auch die Lehrenden nicht ausgenommen sind. Auch wenn die vier gewählten Themenaspekte getrennt voneinander erörtert werden, hängen sie untereinander aufs engste zusammen, was zu beachten ist. So sind Lernende und Lehrende z. B. beim entdeckenden Lernen eher mit »Fehlern« konfrontiert und ein mitbestimmungsorientierter Unterricht wird nicht nur für die Lehrenden eher unerwartete Wendungen nehmen können als ein vorgabeorientierter klein- und gleichschrittig vorgehender Belehrungsunterricht. Insofern den Lernenden nämlich vermehrte Selbstbestimmungs- und damit Entscheidungsmöglichkeiten beim Lernen eingeräumt werden, nehmen auch für sie damit die von Dewey beschriebenen Unsicherheiten zu. Die gewählten Themenaspekte werden unabhängig davon, dass sie für pädagogische, Vielfalt inkludierende Konzepte mehr oder weniger explizit relevant sind, auch in anderen pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Forschungszusammenhängen und -traditionen erörtert. Es würde den Rahmen dieser Arbeit ausufern lassen, diese verschiedenen Forschungsstränge und Traditionen zusätzlich noch darzustellen. Das ist aber auch nicht das Ziel der vergleichenden Erörterung. Vielmehr geht es hier allein um die Einschätzung, ob sich hinsichtlich der Konzepte für die gewählten Themenaspekte die Qualität der Reflexivität von einer erwägungsorientiert bestimmten Reflexivität unterscheidet. Hierfür werden insbesondere folgende fünf Fragen bedacht: Zunächst wird gefragt, was unter dem jeweiligen Themenaspekt, z. B. „entdeckendem Lernen" verstanden wird. Diese Frage folgt dem methodischen Anspruch der Arbeit, unterschiedliche Verwendungsweisen jeweiliger grundlegender Termini zu beachten. Zweitens

102

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

ist einzuschätzen, inwiefern der jeweilige Themenaspekt kritische Reflexivität fördert, also z. B. entdeckendes Lernen ein kritisches reflexives Lernen ist. Drittens wird nach dem Beitrag gefragt, den der jeweilige Themenaspekt im Rahmen von Vielfalt inkludierenden pädagogischen Konzepten leistet. Zur Erfassung der Grenzen soll weiterhin viertens nach den Herausforderungen gefragt werden, die sich im Z u s a m m e n h a n g mit dem jeweiligen Themenaspekt stellen, u m schließlich fünftens auf die Frage einzugehen, inwiefern Erwägungsorientierung die jeweiligen Themenaspekte anders akzentuieren würde und etwa dem entdeckenden Lernen in Vielfalt inkludierenden pädagogischen Konzepten eine neue reflexive Q u a l i t ä t geben könnte. D a diese f ü n f leitenden Fragen im R a h m e n dieser Arbeit nur exemplarisch 6 2 behandelt werden können und zudem eng miteinander zusammenhängen, werden sie im Folgenden je nach Akzentsetzung des Abschnittes auch gemeinsam in einem Punkt erörtert.

4.2

Entdeckendes Lernen auf eigenen Wegen

4.2.1 Unterschiedliche Verständnisse und Bestimmungen von „entdeckendem Lernen" - Einblicke in ein kontroverses Forschungsfeld Das, was unter „entdeckendem Lernen" verstanden wird, ist sehr verschieden. Dies hängt zum einen mit unterschiedlichen Verständnissen von „Lernen" zusammen, denn es gibt keine einheitliche Theorie des Lernens, geschweige denn eine einheitliche Theorie des „Lernens des Lernens". 6 3 Z u m anderen gibt es ein umfangreiches Feld verwandter Termini, die

62

63

So gehe ich z. B. nicht bei allen aspektiv spezifischen Punkten gleichermaßen ausfuhrlich auf Bestimmungsprobleme ein, sondern führe dies exemplarisch schwerpunktmäßig beim Aspekt des „entdeckenden Lernens" und des „Umgehens mit Fehlern" durch. Z u m Facettenreichtum und zu verschiedenen Verständnissen von „Lernen" sowie unterschiedlichen Lerntheorien im Verlaufe der Geschichte und Gegenwart vgl. statt anderer die Beiträge zu den Stichworten „Lernen" und „Lerntheorien" im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Band 5, 1980, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer) sowie: Rudolf Künzli 2004, Joachim Hoffmann/Walter Kintsch (Hg.) (1996), Franz E. Weinert (Hg.) (1996), Robert R. Mowrer/Stephen B. Klein (Eds.) 2001, Klaus Holzkamp (1993) oder Michael Göhlich/Jörg Zirfas (2007). Nach Künzli entfaltet sich ausgehend von der Gedächtnisforschung „sei 1990 ein nicht mehr abbrechender Fluss von lernpsychologischen Modellen, Experimenten und Theoriebildungen. Er ist begleitender Beleg der sozialpolitischen Fokussierung der Epoche auf Lernen als einer universalen Prozedur zur Lebensbewältigung. Verschiedene Forschungsansätze und Paradigmen werden nebeneinander verfolgt und haben den Lernprozess nach den verschiedensten Facetten und Hinsichten von der Gedächtnisforschung, über Denken, Motivation, Verhaltenskonditionierung, Begabung, Einstellungsforschung, Habitusbildung und Prozessen des Verstehens bis hin zu den neurobiologischen und biochemischen Grundlagen des Lernens ausdifferenziert. Die Ergebnisse und Richtungen dieser Forschungen sind in ihrer Fülle und in ihren pädagogischen Konsequenzen und Anwendungen kaum noch überschaubar" (2004, 636). Folgt man Franz E. Weinert und Friedrich-Wilhelm Schräder, dann kann es eine einheitliche Theorie zum Lernen lernen auch gar nicht geben: „Als Fazit ergibt sich, daß es keinen psychologischen Mechanismus des Lernen Lernens gibt; mehr noch, daß es sich dabei nicht einmal um eine einheidiche Phänomenklasse handelt. Im Gegenteil: Wenn von Lernen lernen gesprochen wird, so meint man damit sehr unterschiedliche Veränderungen kognitiver, zum Teil auch motivationaler und volitionaler Kompetenzen, zum Beispiel die Beeinflussung intellektueller Fähigkeiten, den Erwerb allgemeiner, d. h. in unterschiedlichen Situationen nutzbarer Prinzipien, Regeln, Strategien und Handlungskontrollen, die Generierung metakognitiver Einsichten, das Erlernen spezifischer kognitiver Kompetenzen und Metakompetenzen, die für den Erwerb verschieden umfangreicher Klassen von Lerninhalten nutzbar sind und schließlich die Veränderung von lernrelevanten Haltungen, Motiven und Ein-

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

103

in ihrer Verwendungsweise gegenüber „entdeckendem Lernen" zu klären wären, wie „selbstreguliertes", „selbstgesteuertes", „selbstorganisiertes" „eigenständiges", „selbstständiges", „selbstbestimmtes", „autonomes", „exploratives", „forschendes", „expansives", „genetisches" Lernen, „experimentelles Tasten" („tâtonnement expérimental") 6 4 usw. Dabei werden diese Termini ihrerseits mehr oder weniger verschieden verwendet. 6 5 Schließlich gibt es eine Reistellungen. Berücksichtigt man diese Merkmalsvielfalt, so ist es offensichtlich, daß es nach mehr ab hundertjähriger intensiver Forschungstätigkeit keine einheitliche Theorie zum Lernen lernen gibt, - weil es keine geben kann! Es handelt sich stets um mehr oder minder heuristische (oft eklektische) Modelle, in denen Veränderungen einzelner oder kombinierter Lernkompetenzen beschrieben, erklärt oder in präskriptiver Absicht charakterisiert werden" (1997, 305ff.; Kursivsetzungen von B. B.). 64 Zu verschiedenen Übersetzungen und Interpretationen des tâtonnement expérimental der Pädagogik von Célestin Freinet vgl. Renate Kock (2001, 1). Kock grenzt sich dabei in ihrer Interpretation von einer Zuordnung „des intelligenten Tastens im Sinne Freinets zum Modell des EntdeckungsUrnens" ab und hält eine Gleichsetzung von beiden fur „nur vordergründig haltbar" (2001, 33). Kock begründet ihre Einschätzung folgendermaßen: „Der Theorie Freinets folgend entdeckt das Kind nicht neue Zusammenhänge, sondern konstruiert sie. Dieser Konstruktionsprozeß wird von Freinet mit einer eigenen psychologischen Theorie detailliert beschrieben. Das Modell des Entdeckungslernens dagegen verfügt über keine präzise psychologische Theorie, sondern wird gestützt durch einen lockeren Verbund von Ideen aus der kognitiven Psychologie, aus der Entwicklungspsychologie und der Kreativitätsforschung. Dementsprechend unklar und den jeweiligen Ansätzen entsprechend verschieden ist auch, was überhaupt unter Entdecken verstanden wird" (a. a. O.). Und weiter: „Der Mensch kann fiir Freinet weder durch mechanische oder sinnliche noch durch kognitive Verhaltensweisen hinreichend bestimmt werden, wobei Freinet den Begriff kognitives Lernen oder Kognition als Sammelbegriff fiir Prozesse des Denkens und Wissens im weitesten Sinne in seiner Theorie selbst nicht verwendet. Lernen im Sinne experimentellen Tastens ist ganzheitliches Lernen und umfaßt mechanische, intelligente, emotionale und soziale Aspekte" (2001, 33f.). 65 Heinrich Winter stellt zur Verwendung des Terminus „entdeckendes Lernen" und verwandter Termini „eine fast entmutigende Vielfalt von Vorstellungen" und eine „Vieldeutigkeit, ja Verschwommenheit des Wortgebrauchs von „entdeckendem Lernen"" fest (1984, 26): „E gibt offenbar keine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung, wenn man davon absieht, daß es ein gemeinsames Element gibt: die Selbsttätigkeit des Schülers" (a. a. O.). Auch Josef Saxler stellt seiner Bestimmung und Abgrenzung die Einschätzung voran, dass in „der Auseinandersetzung um entdeckendes Lernen [...] oft Unterschiedliches unter diesem Begriff verstanden bzw. unterstellt" wird (1992, 13). Für Saxler ist das Merkmal der Aktivität der Lernenden ein Abgrenzungsmerkmal, mit dem er „entdeckendes" von z. B. „problemlösendem" Unterricht unterscheidet: „Der Begriff des problemlösenden Unterrichtes enthält beide Merkmale, das Bearbeiten eines Problems und das Finden der Lösung, er betont aber nicht so stark die eigene Aktivität der Lernenden, d. h. es könnte auch der Lehrer der Problemloser sein. Entdeckendes Lernen dagegen erwartet, daß der Schüler selbst den Lernstoff entdeckend lernt" (1992, 17f.). Eine mögliche Erklärung fiir die verschiedenen Auffassungen von „entdeckendem Lernen" findet man bei Sybille Schütte: „Lernen auf eigenen Wegen [wie „entdeckendes Lernen" hier auch genannt wird, B. B.] ist ein didaktisches Konzept, das zwar auf wissenschaftlichen Einsichten über kindliche Lernprozesse gründet, es ist aber seiner Natur nach vielfältig und realisiert sich erst in der Praxis mit den individuellen Lösungsversuchen der Kinder" (2001, 27). Eine weitere Erklärung fiir diese Bedeutungsvielfalt ist m. E., verfolgt man Saxlers Bestimmungen und Abgrenzungen, dass zum Teil nur von graduellen Unterschieden bei der Verwendung der unterschiedlichen Termini ausgegangen wird. So geht es nach Saxler z. B. sowohl beim „genetischen" als auch beim „problemorientierten" Lernen um eine Auseinandersetzung mit den zu beantwortenden Fragen (Problemen) als auch um die Lösungswege, mit dem Unterschied, dass „im einen Falle mehr das Augenmerk auf die Probleme und im anderen auf die Lösungswege gerichtet wird" (1992, 14). Während „genetisches" und „problemorientiertes" Lernen nach Saxler „sowohl schüler- als auch lehrerzentriert sein" können (a. a. O.), grenzt er, wie bereits zitiert, „entdeckendes" Lernen dadurch ab, dass die Aktivität der Lernenden mehr betont wird (zur Bestimmung unterschiedlicher Verwirklichungsformen selbstgesteuerten Lernens in Abhängigkeit vom Grad der jeweiligen Offenheit fiir Selbststeuerung beim Lernen, vgl. auch Silke Traub 2003, 20). Dazu, dass es ganz allgemein nicht ungewöhnlich ist, dass „key terms [...] become defined and characterized in numerous ways" und es deshalb nicht überraschend ist, „that self-directed learning is a variously defined and described term" verweist z. B. Huey B. Long (1994, 1). Zu unterschiedlichen Verständnissen von „selbstgesteuertem Lernen", stellt Gerald A. Straka fest: „While self-directed learning is currently a focal point of discussion worldwide, it signifies in no way that the term is always understood in the same way (Straka, 1997). Philippe Carré (1994), for example, discovered well over 20 différent terms for self-directed learning while Roger Hiemstra (1996) analyzed all the conférence proceedings then existing for

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

he von weiteren Konzepten, die mit Termini bezeichnet werden, die in mehr oder weniger großer Nähe zu dem stehen, was unter „entdeckendem Lernen" und verwandten Termini verstanden wird u n d in ihrer genauen Beziehung zu diesem zu klären wären. 6 6 Ich denke dabei z. B. an „handlungsorientierten", „lernendenorientierten", „problem(lösungs)orientierten", „fallbasierten" oder „offenen" Unterricht, aber auch an „Projektunterricht", „Freiarbeit", „experimentierendes" Arbeiten, Lernen in „Lernwerkstätten", „originäres Lernen" u. ä. 6 7 Auch hier ist wieder zu beachten, dass die jeweiligen einzelnen Termini ihrerseits verschieden verwendet werden. Die Vielfalt zu bedenkender Verständnisse von „entdeckendem Lernen" sowie die Vielfalt unterschiedlich verwendeter Termini vergrößern sich weiterhin, wenn man die in der Geschichte der Pädagogik u n d Erziehung vorfindbaren entsprechenden Konzepte sowie verschiedene Länder u n d Kulturen berücksichtigen will. 68 the „lOth International Symposium on Self-Directed Learning" and found over 200" (Straka 2000, 171; die drei Literaturverweise in diesem Zitat von Straka (2000) wurden geprüft und die Angaben mit ins Literaturverzeichnis aufgenommen). Wenn Hiemstra davon spricht, dass er „205 different terms used in the eight symposium-related books, and another 42" in den „confessore and confessore book" gefunden habe, so ging es dabei um die Erstellung eines Wortfeldes und noch nicht um die Klärung verschiedener Verständnisse, was deutlich wird, wenn Hiemstra schreibt: „Before I examined these books ... I would have guessed there would be only three or four dozen unique waysyou can say „seif directed learning" or dosely associated terms" (1996, zitiert nach: http://home.twcny.rr.com/hiemstra/word.html (Zugriff am 20.02.2008), Kursivsetzung von B. B.). Die Vielfalt der Bezeichnungen mag ein Indikator für verschiedene Verständnisse sein, sie ist aber nicht automatisch damit gleichzusetzen, denn systematisch bedacht ist es sowohl möglich, dass mit gleichen Termini Verschiedenes oder Gleiches gemeint ist als auch dass mit verschiedenen Termini Gleiches oder Verschiedenes gemeint ist (s. hierzu die Erwägungstabelle in Anm. 82, Kap. IV). Wird Gleiches mit gleichen oder ungleichen Termini gemeint, ist weiterhin zu prüfen, ob diese Gleichheit auf gleichen oder ungleichen Gründen beruht (s. Kap. IV 3.3.1, insbes. Abb. 37). 66 Die hier getroffene Unterscheidung zwischen verwandten Termini zum Ausdruck „entdeckendes Lernen" und Termini von Konzepten, die in mehr oder weniger großer Nähe zum Terminus „entdeckendes Lernen" stehen, wurde mehr oder weniger intuitiv getroffen und wäre bei einer genaueren Analyse begründeter zu bestimmen. 67 Der enge Zusammenhang der verschiedenen Termini mit „entdeckendem Lernen" wird etwa deutlich, wenn z. B. betont wird, dass entdeckendes Lernen nur „in offenen Unterrichtsformen praktiziert werden" könne (Sabine Liebig 2002, 4; im folgenden wird diese Textstelle noch ausführlicher zitiert), oder wenn einige Termini herangezogen werden, um verschiedene Ausprägungen von entdeckendem Lernen zu unterscheiden. So charakterisiert beispielsweise Günter Neff bei seiner Unterscheidung zwischen kleinem und großem Entdeckungslernen das große Entdeckungslernen als „projekthaftes Lernen" und er betrachtet „freie Arbeit", „Tagesplan", „Wochenplan" und „Projekdernen" als „Schritte des entdeckenden Lernens" (1993, 18f). „Freie Arbeit" bzw. „Freiarbeit" ist für Anne Levin und Karl-Heinz Arnold wiederum als „eine Maximierung von selbstgesteuertem Lernen im Unterricht" zu verstehen (2006, 209), womit - nimmt man beide Zitate zusammen - mit dem Konzept .Freie Arbeit' bzw. ,Freiarbeit' eine Gemeinsamkeit und Nähe zwischen selbstgesteuertem und entdeckendem Lernen zu bestehen scheint. Um ein letztes Beispiel zu nennen: Für das von Hermann Laux an der Individualität der Lernenden orientierte entwickelte Konzept .originären Lernens' sind wesentliche Elemente eigenes aktives Erleben, Selbststeuerung, kreative Eigentätigkeit und Antizipation/Reflexion eigener Handlungsvollzüge (2002, z. B. 1 lff., 18ff.). 68 So wird mit Blick auf die Traditionslinie der deutschen Pädagogik von Erwin Schwartz für das entdeckende Lernen z. B. auf FRÖBELS »Menschenerziehung«, GAUDIGS »Schule der Selbsttätigkeit«, KRETSCHMANNS »Na-

türlichen Unterricht«, COPEIS »Fruchtbaren Moment im Bildungsprozeß« oder die »Originale Begegnung« bei ROTH verwiesen (s. Erwin Schwartz 1993, 28). Rudolf Künzli verweist auf Jean-Jacque Rousseau, der für die Epoche der Aufklärung das „pädagogische Paradigma des selbsttätig hervorbringenden Lernens [...] verbindlich formuliert" habe (2004, 630) und für Sabine Liebig reicht die Geschichte des entdeckenden Lernens z. B. zurück bis Sokrates und seiner Methode des sokratischen Gespräches (2002, 5), um nur zwei weitere Beispiele für historische Verortungen zu geben. Dabei wird es auch hier jeweils wieder unterschiedliche Einschätzungen geben, je nachdem, wie man die Autorinnen und Autoren interpretiert - etwa z. B. entdeckendes Lernen in sokratischen Dialogen für möglich hält (s. Heinz Neber 1983, 64-67) oder ob man das Sokratische Gespräch in seiner „klassisch-literarischen Gestalt" als ein „magistrales Lehrgespräch" auffasst (Stefan Bittner 2006,295) und seine „demokratisch-diskursive Umdefinition [...] in der Nachfolge Lou Marinoffs, Marc Sautets, Leo-

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Mit der in der Überschrift von Kap. III. 4.2 gewählten Ergänzung „auf eigenen Wegen" wird ein zentraler Aspekt angesprochen, mit dem man „entdeckendes Lernen" von anderen Lernweisen abgrenzen kann u n d der bei unterschiedlichen Verständnissen u n d Bezeichnungen eine Rolle spielt. Es geht u m das Subjekt als einzelnes lernendes Individuum, seine Mitbestimmungs- u n d Gestaltungsmöglichkeiten sowie seine Entscheidungsfreiheiten im jeweiligen Lern-/Lehrprozess, wie folgende vier Bestimmungen verdeutlichen. In den beiden ersten Beispielen wird der Ausdruck „entdeckendes Lernen", im dritten Beispiel der Ausdruck „selbstgesteuertes Lernen" u n d im vierten Beispiel der Ausdruck „forschendes Lernen" verwendet: „Es gibt keine einheitliche Definition, sondern eher Umschreibungen und die Autorinnen und Autoren stimmen nicht immer überein. An dieser Stelle sollen jetzt nicht alle Um- und Beschreibungen aufgeführt werden, sondern diejenigen, die sich im Laufe der Zeit heraus kristallisiert haben und noch Gültigkeit besitzen. Entdeckendes Lernen ist nicht nur der Erwerb überprüfbaren Informationswissens, sondern fordert dazu auf, auf individuellem Weg und in persönlichen Bedeutungszusammenhängen Probleme und Fragestellungen zu lösen. Dies geschieht durch Sammeln, Beobachten, Herumstöbern, Experimentieren, Entdecken, (Wieder-)Erfinden, im Dialog mit der Sache und mit anderen. Entdeckendes Lernen ist eng verknüpft mit selbstständigem und forschendem Lernen und kann nur in offenen Unterrichtsformen praktiziert werden" (Sabine Liebig 2002, 4; kursiv von B. B.). „Mit entdeckendem Lernen werden Formen des Unterrichtens bezeichnet, die sich gezielt auf eigene kognitive Aktivitäten von Lernenden stützen. Im Unterricht soll Schülerinnen daher eigenes Denken ermöglicht werden. Dazu gehören Denkoperationen wie das Vergleichen, Unterscheiden und Ordnen sowie auch komplexere strategische Aktivitäten (etwa Lernziele und -methoden planen und überprüfen)" (Heinz Neber 2006, 284, kursiv, bis auf „Denken" von B. B.). „Lehrmethoden lassen sich danach unterscheiden, in welchem Ausmaß die für die Bewältigung von Lernaufgaben notwendigen Prozesse und Wissensstrukturen unterstützt werden. Einerseits können sie vollständig extern vorgegeben sein, oder aber Lernende müssen sie selbständig einsetzen. [... ] Lehrmethoden unterscheiden sich danach, wie weit diese Komponenten [die zur Bewältigung der Lernaufgaben notwendig sind; B. B.] vorgegeben sind oder aber durch Lernende selbst bestimmt werden müssen. Eine vollständige Vorgabe entspricht dem expositorischen Lehren. Wenn keine dieser Komponenten extern vorgegeben wird, so handelt es sich um ungelenktes entdeckendes Lernen" (Heinz Neber 1996, 422; kursiv B. B.). „Als selbstgesteuert'69, B ' B ' werden Lernformen bezeichnet, bei denen der Lernende die wesentlichen Entscheidungen über Inhalt, Zeitpunkt, Form und Ziel des Lernens in gravierender Weise selbst nard Nelsons und Gustav Heckmanns" (a. a. O., 298) als Voraussetzung dafür sieht, entdeckend lernen zu können. 69 Nach Anne Levin und Karl-Heinz Arnold werden die Termini „selbstgesteuertes" und „selbstreguliertes Lernen" (im engl, self-directed bzw. self-regulated learning) „in der Fachliteratur häufig synomym verwendet. Aus unterrichtspraktischer Sicht können die Unterschiede als gering eingestuft werden, weil für die Planung von Unterrichtseinheiten zumeist grundlegende Vorentscheidungen über die Inhalte und Ziele des Unterrichts getroffen sind und somit die Freiheitsgrade der Schüler in den nachgeordneten, gleichwohl für die Lernwirksamkeit wichtigen Bereichen liegen, so z.B. in der Lernzeitaufteilung, Lernmaterialnutzung, Bearbeitungsreihenfolge. Steuerungsentscheidungen sind auf nachrangigen Ebenen häufig möglich und werden durch ausfuhrungs-, d.h. regulationsbezogene Entscheidungen, Handlungen oder Kognitionen ergänzt. Aus kybernetischer Sicht kann das selbstgesteuerte Lernen als eine Erweiterung des selbstregulierten Lernens betrachtet werden" (2006, 206).

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

bestimmt. Im Unterschied zum fremdgesteuerten Lernen, bei dem im wesendichen andere Personen (z.B. Lehrer) die Strukturierung und Zielsetzung des Lernprozesses bestimmen, eröffnet das selbstgesteuerte Lernen den Lernenden Handlungsspielräume, die, um sinnvoll genutzt werden zu können, allerdings den Erwerb von spezifischen Fähigkeiten erfordern" (Anne Levin/ Karl-Heinz Arnold 2006, 207; kursiv B. B.). „Die Konzeption des „Forschenden Lernens" richtet den Blick auf subjektiv Neues, auf Nebenergebnisse, unerwartete oder zufällige Befunde. In Schule und Unterricht soll Neugierde mit Hilfe von Experimenten, Probieren, Erkunden und Recherchieren erhalten bzw. entwickelt werden, um Fragestellungen und damit mögliche Zukunftsaufgaben vor Ort zu erschließen" (Ulf Gebken 2003, 243). 70 Vom Konzept einer Erwägungsorientierung, welches auf Entscheiden u n d Entscheidungen bezogen ist, liegt es angesichts solcher Zitate nahe, das, was als „entdeckendes Lernen" oder mit ähnlichen Termini bezeichnet wird, sowie auch die Unterscheidung verschiedener Arten „entdeckenden Lernens" durch die Beachtung der reflexiven Entscheidungsmöglichkeiten von Lernenden u n d Lehrenden zu bestimmen. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist auf Jerome S. Bruner hinzuweisen, der für viele ein wichtiger Bezugspunkt in der Diskussion u m „entdeckendes Lernen" (learning by discovery) ist (vgl. statt anderer Neber 2006, 284f. oder Gabi Reinmann-Rothmeier/Heinz M a n d l 1998, 481). Bruner beschreibt unterschiedliche Entscheidungsverteilungen zwischen Lehrenden u n d Lernenden, i n d e m er w i s c h e n zwei Lehrstilen differenziert, d e m „expository mode", der auch schon in d e m obigen Zitat von Neber angesprochen wurde, u n d dem „hypothetical mode": „Very generally, and at the risk of oversimplification, it is useful to distinguish two kinds of teaching: that which takes place in the expository mode and that in the hypothetical mode. In the former, the decisions concerning the mode and pace and style of exposition are principally determined by the teacher as expositor; the student is the listener. The speaker has a quite different set of decisions to make: he has a wide choice of alternatives; he is anticipating paragraph content while the listener is still intend on the words; he is manipulating the content of the material by various transformations while the listener is quite unaware of these internal options. But in the hypothetical mode the teacher and the student are in a more cooperative position with respect to what in linguistics would be called „speaker's decisions." The student is not a bench-bound listener, but is taking a part in the formulation and at times may play the principal role in it. He will be aware of alternatives and may even have an „as if' attitude toward these, and he may evaluate information as it comes. One cannot describe the process in either mode with great precision of detail, but I think it is largely the hypothetical mode which characterizes the teaching that encourages discovery" (Jerome S. Bruner 1979, 83). 71 70

Siehe ganz ähnlich statt anderer auch Manfred Bönsch, der ebenfalls betont, dass es „nicht um völlige Neuartigkeit bei den hier gemeinten Forschungs- und Entdeckungsprozessen" in Schule und Unterricht geht, sondern „um subjektive Neuartigkeit, d. h. fiir die jeweiligen Schülerinnen gegebene Neuartigkeit" (1998, 140). 71 Als Vorteil eines durch den hypothetical mode ermöglichten entdeckenden Lernens nennt Bruner an anderer Stelle: .Acquired knowledge is most useful to a learner, moreover, when it is „discovered" through the learner's own cognitive efforts, for it is then related to and used in reference to what one has known before" (1996, XII). Diese Erwartung wird von vielen Autorinnen und Autoren geteilt; vgl. statt anderer etwa auch Heinrich Winter, der sich von einem entdeckenden und vernetzenden Lernen u. a. „mehr Erfolgsaussicht im Hinblick aufTransferleistungen" verspricht und dass es „auch die Chance [erhöht; B. B.], das Gelernte genauer, länger und leichter abrufbar zu behalten" (1984, 28). Inwiefern entdeckendes Lernen die in es gesetzten Hoffnungen

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Der von Bruner hergestellte Zusammenhang zwischen entdeckendem Lernen und einem hypothetischen Lehrstil betont die Alternativen, die damit nunmehr (auch) ins explizite Blick- und (Mit-) Entscheidungsfeld der Lernenden geraten, womit die erwägende Komponente eines entdeckenden Lernens (und Lehrens) unterstrichen wird. Die Frage ist, ab welchem Grad an Entscheidungsmöglichkeiten will man von „entdeckendem Lernen" sprechen?72 Was heißt es in diesem Zusammenhang, dass die Entscheidungen „wesentlich" von den Lernenden getroffen werden sollten (s. oben das Zitat von Levin/Arnold)? Und inwiefern ist dies ein ausreichendes Kriterium der Bestimmung, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass sich alle „Versionen entdeckenden Lernens [...] unterschiedlich stark strukturieren und lenken [lassen; B. B.] (von völlig strukturiert bis offen)" (Neber 2006, 287)? 73 Wie ist es außerdem mit dem in obigen Zitaten auch angesprochenen Aspekt des im Vergleich zu anderen Lernweisen erfüllen kann, ist umstritten und noch genauer zu erforschen: „Bislang fehlen jedoch noch geeignete Beobachtungsinstrumente und erprobte Verfahren zur Erfassung der Effekte, die die hohen Erwartungen an die Forschung in diesem Bereich einlösen" (mit „diesem Bereich" sind Forschungen zum „Wert selbstgesteuerter, problemorientierter Lernprozesse für die Entwicklung komplexer kognitiver Fertigkeiten" gemeint) (Manfred Lüders/Udo Rauin 2004, 709). Walter Edelmann hält den Forschungsstand zu aktuellen „Tendenzen in der Lehr-Lernforschung", wobei es u. a. um selbstbestimmtes und selbstregulierendes Lernen geht, für „absolut unübersichtlich!...]" (2000, 286). Dies hat viel mit der Komplexität des Themas zu tun, wie etwa in Beiträgen von Hans Brügelmann (1998) oder Hartmut Giest (1998b) zum Stand der empirischen Forschungen zum offenen Unterricht deudich wird. Zur Komplexität des Themas zählt m. E. dabei auch, dass es mit einfachen Gegenüberstellungen von Lehrenden- versus Lernendenzentriertheit nicht getan ist und die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Lern- und Lehrweisen wie ihre möglichen mehr oder weniger vorteilhaften oder nachteiligen Verbindungen in jeweiligen Lern-/Lehrzusammenhängen zu bedenken und zu erforschen sind; vgl. statt anderer Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl, fiir die die „Gefahr der Orientierungslosigkeit oder Überforderung" beim explorativen Lernen in „problemorientierten Lernumgebungen", deudich werden lässt, dass es auf eine Vermittlung von „Freiraum für individuelle Wissenskonstruktion" mit „Möglichkeiten gezielter Unterstützung" ankommt (1998, 485; s. hierzu auch Giest 1998b, 64). Es ist noch genauer herauszufinden, wann und unter welchen Bedingungen offener Unterricht und die Ermöglichung eines entdeckenden Lernens weniger effektiv ist (s. z. B. statt anderer Giest 1998a oder Neber 1983, 62) oder aber entdeckendes Lernen im Vergleich mit anderen Lernweisen erfolgreicher ist (vgl. statt anderer z. B. Christoph Seiter 2001), und dies etwa auch bei schulschwachen Kindern (Petra Scherer 1999). 72 An dieser Stelle stellt sich u. a. auch die Frage nach einer Abgrenzung von entdeckendem und fallbasiertem Lernen. Denn folgt man den Ausfuhrungen von Volker Brettschneider zur Fallstudienarbeit, so ist diese auf die Förderung der Entscheidungskompetenzen der Lernenden hin angelegt: „Für die Fallbewältigung ist es notwendig vielfältige Kontexte zu berücksichtigen, multiple Perspektiven einzunehmen und im sozialen Kontext zu lernen" (2006, 313); „Zielsetzung der Fallstudienarbeit ist es, dass die Lernenden sich mit einem aus der Praxis gewonnenen; B. B.] Fall auseinandersetzen, für diese Fallsituation nach alternativen Lösungsmöglichkeiten suchen, sich fiir eine Alternative entscheiden und diese Wahl begründen" (2006, 314). Explizit nennt Brettschneider als ein Ziel der Fallstudienarbeit das „Denken in Alternativen" (a. a. O.). Betrachtet man Entscheidungsmöglichkeiten der Lernenden als ausschlaggebendes Merkmal für das, was man „entdeckendes Lernen" nennen will, dann wäre so gesehen, „fallbasiertes Lernen" eine Möglichkeit der Gestaltung von Lernsituationen, in denen entdeckend gelernt werden kann. 73 S. hierzu auch Astrid Kaiser, die darauf hinweist, dass eigentlich fast jeder Lernvorgang das Merkmal der Selbststeuerung aufweise (1999, 63) oder Gabi Reinmann-Rothmeier, die feststellt: „Gemeinsam ist allen Lernformen, dass sie nur unter aktiver mentaler und/oder körperlicher Beteiligung des Lernenden vonstatten gehen - ein Mindestmaß an Selbststeuerung ist also Bestandteil jeglichen Lernens" (2003, 11). Dass „reine Selbststeuerung und reine Fremdsteuerung hinsichdich aller relevanten Aspekte von Lernen in der Praxis kaum vorkommen" legt nach Helmut Felix Friedrich die „Vielschichtigkeit von Lernen nahe" (2008, 67). Vgl. zum reflexiven Aufeinanderbezogensein von Fremdsteuerung, Selbststeuerung, Selbstorganisation und Selbstbestimmung auch Siegfried Greif (2001, 6ff.). Greif verweist darauf, dass sowohl selbstorganisiertes Lernen „oft mit selbstbestimmten Lernen gleichgesetzt" (2001, 6) als auch selbstgesteuertes Lernen „ebenfalls mit Bezug auf die Selbstbestimmung beim Lernen definiert wird" (2001, 7). Demgegenüber führe eine Verwendung von .Selbstorganisation' „als ein allgemeiner Oberbegriff [...], der sich auf die aktive, partiell

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

(zumindest) subjektiv Neuen im Lernprozess, unabhängig davon, ob sich die Neuheit auf den Weg oder das Ziel (Ergebnis, Produkt usw.) bezieht? Kombiniert man mögliche Konstellationen einer ersten Kombinatorik I hinsichtlich der Entscheidungsverteilungen in einem Lern-/Lehrzusammenhang danach, ob Weg und/oder Ziel für die Lernenden vorgegeben sind oder nicht (d. h. sie können selbst entscheiden) mit den möglichen Konstellationen einer zweiten Kombinatorik II hinsichtlich des Aspektes der subjektiven Neuheit, die bezüglich des Weges und/oder des Ziels (Ergebnisses, Produktes usw.) fiir die Lernenden besteht, so erhält man folgende 16 zu bedenkenden Fälle (Konstellationen):

Kombinatorik Izur Vorgabe/Nicht-Vorgabe von Weg und ZieVProdukt/Ergebnis

Weg subjektiv neu Ziel** subjektiv neu

Iii!« MJ8J I I :

Weg subjektiv neu Ziel nicht subjektiv neu Weg nicht subjektiv neu Ziel subjektiv neu

a «S

Weg nicht subjektiv neu Ziel nicht subjektiv neu

Weg nicht v*

Weg nicht \

Weg v

Weg v

Ziel** nicht v

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Ziel nicht \

Ziel v

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

3

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

(* „v" heißt „vorgegeben"; ** mit „Ziel" ist auch „Ergebnis", „Produkt" u. ä. gemeint)

Abb. 13: Erwägungstafel mit Kombinatorik zweier Kombinatoriken zur Unterscheidung von Bestimmungsmöglichkeiten von entdeckendem Lernen Beschränkt man sich zunächst auf die Dimensionen Ziel u n d Weg u n d bezieht nicht z. B. noch den Gegenstand mit ein, so scheint mit der Konstellation in Feld 1 der reinste Fall „entdeckenden Lernens" vorzuliegen. A m anderen Ende der Kombinatorik wäre für Feld 16 kein Fall für „entdeckendes Lernen" anzunehmen. Vielleicht entspricht diesem Feld am ehesten das, was man mit „übendem Lernen" als reinem „wiederholenden Lernen" (im Gegensatz zu produktivem Üben 7 4 ) bezeichnen könnte, welches nur eingeschränkt „selbstreguliert/selbstgesteuert" verlaufen könnte (oder sogar müsste). Während man die Felder 2, 3, 5, 6, 7, 9, 10, 11 als verschiedene Ausprägungen gelenkten entdeckenden Lernens mit eigengesetzliche oder eigenständige Strukturierung oder Ordnung von Prozessen bezieht" dazu, dass „Lernen immer selbstorganisiert [ist; B. B.] - auch das Lernen im Frontalunterricht" (2001,6). Vergleichsweise führe auch eine Definition selbstgesteuerten Lernens „als bewusstes Überwachen und Regulieren des eigenen Lernens" dazu, dass eine „bewusste Steuerung des eigenen Handelns und Lernens [...] auch dann erforderlich [wäre; B. B.], wenn die Ziele, Aufgaben oder Kriterien fremdbestimmt sind" (2001, 7f.). 74 Ein Beispiel für produktive Übungen im Mathematikunterricht, die Oben mit Entdecken verbinden, sind die sogenannten „Zahlenmauern" (s. hierzu statt anderer Günter Krauthausen (1995), um Thema „produktive Rechenübungen" vgl. z. B. Erich Ch. Wittmann/Gerhard Müller (1994)).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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zumindest teilweiser Neuheitserfahrung für die Lernenden einschätzen mag, zeigt sich in der Einschätzung der Felder 4, 8, 12 und der Felder 13, 14, 15, ob einem Neuheit oder/ und Entscheidungsfreiheit (keine Vorgabe) unverzichtbare Merkmale dessen sind, was man mit „entdeckendem Lernen" bezeichnen möchte. Die hier zu klärenden Fragen sind: Gibt es Lernsituationen, in denen Weg und Ziel vorgegeben sind, und die Lernenden trotzdem, weil ihnen Weg und/oder Ziel subjektiv neu sind, entdeckend lernen (Felder 4, 8, 12)? Gibt es Lernsituationen, in denen für die Lernenden weder bezüglich des Weges noch des Ziels etwas subjektiv neu ist, und sie dennoch, weil ihnen Weg und/oder Ziel nicht vorgegeben sind, entdeckend lernen (Felder 13, 14, 15)? Diese Fragen konkretisieren die bereits aufgeworfenen Fragen nach Ausschließlichkeit sowie Grad (Ausmaß) des Kriteriums der Entscheidungsfreiheiten als Merkmal „entdeckenden Lernens". Was ist beispielsweise, wenn Lernende einem Rezept zum Kuchenbacken oder einer Experimentieranordnung folgen und dabei für sie neue Wege gehen und/oder zu bisher ihnen unbekannten (subjektiv neuen) Ergebnissen gelangen? Einmal angenommen, ein Mädchen findet auf diese Weise heraus, dass ihr physikalisches Experimentieren großen Spaß macht und ihre Forschungslust weckt, hat sie dann nicht doch etwas über sich und ihre Neigungen „entdeckt"? Vermutlich wird man eher meinen, dass diese Entdeckung eine Nebenfolge eines selbst nicht entdeckungsorientiert angelegten Lernprozesses ist, welchen man vielleicht als „nachahmendes Lernen" (bzw. „Imitationslernen") bezeichnen könnte. Das Beispiel zeigt, dass es relevant ist, jeweilige Lernsequenzen hinsichtlich ihres Aufeinanderbezogenseins von Vorgaben und Entscheidungen zu bedenken. Stark von Vorgaben strukturierte Lernsituationen können beispielsweise in entdeckendes Lernen münden, bei dem die Lernenden zu eigenen Entscheidungen (Erwägungen und Bewertungen) herausgefordert sind. Zu fragen ist hier: Wie müssen Vorgaben gestaltet sein, damit sie eigene Entscheidungen und Entdeckungen provozieren? Mit dieser Frage gelangt man in den Bereich dessen, was u. a. unter dem Stichwort „Aufgabenkultur" diskutiert wird. 75 Um noch ein Beispiel für die Felder 13, 14, 15 anzudenken: In einer Freiarbeitsstunde entscheidet sich ein Junge mit dem ihm bekannten Format der Zahlenmauern zu arbeiten (Weg) um sich im Addieren und Subtrahieren zu üben (Ziel). Weder Weg noch Ziel sind ihm vorgegeben, weder Weg noch Ziel sind für ihn subjektiv neu. Diese Konstellation wäre Feld 13 zuzurechnen. Würde die Entscheidungsfreiheit des Jungen hinsichtlich des Ziels oder des Wegs durch eine Vorgabe der Lehrerin bzw. des Lehrers eingeschränkt, wäre das Beispiel Feld 14 oder Feld 15 zuzuordnen. Alle drei Konstellationen sind Beispiele dafür, dass Lernen mehr oder weniger von eigenen Entscheidungen bestimmt sein kann, deshalb

75 Zur Unterscheidung von Aufgaben und der Förderung von eigenständigem Lernen vgl. z. B. die Beiträge im Friedrich Jahresheft 2003 zum Thema „Aufgaben. Lernen fördern - Selbstständigkeit entwickeln", herausgegeben von Helga Ball u. a. Zur Relevanz von Aufgaben als „Katalysatoren von Lernprozessen" vgl. außerdem die Beiträge in Josef Thonhauser (Hg.) 2008 und in dem Themenheft „Aufgabenkultur" der Zeitschrift „Pädagogik", 60(2008)3; über „Wege zu Aufgaben mit Bildungsrelevanz und Lernqualität" vgl. weiterhin Renate Girmes 2004, insbesondere Kapitel II. Wie eng Aufgabenkulturen mit Fragekulturen zusammenhängen, wird in den Überlegungen von Harm Paschen erkennbar, für den sich alternative Pädagogiken danach unterscheiden lassen, welche Rolle in ihnen den Fragen zukommt und ob z. B. echte bedeutsame Fragen oder nur Pseudofragen gestellt und verfolgt werden (1997, 25ff.).

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

aber keineswegs auf Entdeckungen hin angelegt sein muss. N u n liegt es aber im Übungsformat der Zahlenmauern, dass dieses zum Entdecken herausfordert u n d man mit ihm verschiedene Entdeckungen machen kann (nicht machen muss), so dass - vielleicht hervorgerufen durch ein bestimmtes Muster oder einen selbstgefundenen Fehler in einer Zahlenmauer - der Junge doch zu neuen Kenntnissen gelangt. Vermutlich wird man hier sagen, dass diese neuen Kenntnisse zwar schon Entdeckungen sind, aber der Lernprozess selbst (zunächst) nicht auf Entdeckungen hin angelegt war. Woran liegt es, wenn doch Entdeckungen gemacht werden u n d unerwarteter Weise im bereits Bekannten etwas Neues entdeckt wird? Jerome Bruner hat über die „Essenz von Entdeckungen" geschrieben: „I shall operate on the assumption that discovery, whether by a schoolboy going it on his own or by a scientist cultivating the growing edge of his field, is in its essence a matter of rearranging or transforming evidence in such a way that one is enabled to go beyond the evidence so reassembled to new insights. It may well be that an additional fact or shred of evidence makes this larger transformation possible. But it is often not even dependent on new information" (1979, 82f.; kursiv B. B.). So gesehen scheint es vor allem darauf anzukommen, wie man mit Vertrautem umgeht, ob man eine forschende, entdeckungsoffene Haltung nicht nur im Umgang mit Neuem, sondern ebenso im Umgang mit Bekanntem einzunehmen vermag. Auch hier ist zu vermuten, dass es mit von der Aufgabenkultur abhängt und, wie es Bruner vermutet, vom Stil der Lehrenden und davon, inwiefern dieser den Lernenden eigenständiges Denken ermöglicht. 7 6 Ich breche die Erörterung der durch die Erwägungstafel in Abb. 13 aufgeworfenen zu bedenkenden Möglichkeiten bei einer Bestimmung von „entdeckendem Lernen" an dieser Stelle ab. Meines Erachtens wäre es aber für die Bestimmung von „entdeckendem Lernen" u n d die Diskussion verschiedener Auffassungen hilfreich, wenn man in der angedeuteten Weise unterschiedliche Aspekte (Merkmale/Dimensionen), systematisch kombinatorisch bedenken und an Beispielen erörtern würde. 7 7 Dabei wären weitere Aspekte (Merkmale/ Dimensionen) zu bedenken, von denen einige exemplarisch genannt werden sollen. Wie oben schon angesprochen, wäre zu bedenken, inwiefern nicht nur Entscheidungsfreiheiten (bzw. Vorgaben) bezüglich Weg u n d Ziel, sondern auch hinsichtlich des Gegenstandes (des

76 Zu Orientierungsstilen von Lehrenden und Lernenden, die sich z. B. auch an deren Gewissheits- bzw. Ungewissheitsorientierung festmachen lassen und zu unterschiedlichen Haltungen gegenüber Aufgaben fuhren mögen, vgl. Tina Hascher und Franz Hofmann (2008, 56f.). Zum Aspekt des Umgangs mit Ungewissheiten s. auch Kap. III. 4.5). 77 Wie sich das Potenzial erster systematischer Vorschläge entfalten lässt, wenn man beginnt, die in diesen Unterscheidungen enthaltenden Dimensionen systematisch zu kombinieren, lässt sich z. B. an der Unterscheidung von Heinz Neber (2006) exemplarisch verdeutlichen. Nimmt man Nebers drei Grundversionen entdeckenden Lernens - entdeckendes Lernen durch Konflikte, durch Beispiele und durch Experimentieren (2006, 285f.) —, so lassen sich in einem ersten groben Zugriff drei Dimensionen unterscheiden und systematisch aufbereitet zusammenstellen: das Problem (die Frage, der Konflikt, die Aufgabe) sind von der Lehrperson vorgegeben oder werden von den Lernenden selbst formuliert; der Weg zur Lösung ist den Lernenden bekannt oder unbekannt; die Lösung wird durch die Lernenden gefunden oder nicht gefunden. Die sich hieraus ergebenden acht Möglichkeiten regen zu weiteren Ausdifferenzierungen an. So mag man etwa die Dimension, dass der Weg (und/oder außerdem die Lösung) bekannt oder unbekannt ist, nicht nur auf die Lernenden, sondern auch auf die Lehrenden beziehen. Diese Erweiterung wäre hilfreich, um z. B. „expansives Lernen" i. S. von Klaus Holzkamp (s. 1993, 546f.), bei dem es wichtig ist, dass echte, i. S. von wissenssuchenden Fragen (im Unterschied zu vorauswissenden Fragen) gestellt werden, die dies auch für die Lehrenden sind, von anderen Weisen des (entdeckenden) Lernens abzugrenzen.

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

111

Themas) bei der Einschätzung einzubeziehen wären, ob „entdeckendes Lernen" vorliegt oder nicht. Inwiefern besteht ein Unterschied, ob die Lehrerin oder der Lehrer die Vorgabe macht, dass die Kinder am Thema „Mein Lieblingstier" arbeiten sollen oder ob Kinder selbst dieses Thema wählen? Diese Frage hat viel damit zu tun, welche Bedeutung ein Thema für die Lernenden hat und ob es für sie sinnvoll ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und inwiefern sie das erworbene Wissen in ihr bisheriges integrieren können oder nicht. Je nachdem unterscheiden einige Autoren und Autorinnen dann zwischen „sinnfreiem" und „sinnvoll-bedeutsamem" Lernen bzw. „episodisch, empirischem" und „kumulativ, konstruktivistischem" (vgl. statt anderer Michael Soostmeyer 2002, 67ff. oder Bruner 1979, 85f.). Dass Vorgaben dabei nicht automatisch mit einem sinnfreien Lernen einhergehen müssen, wird in einer Kombinatorik von Soostmeyer deutlich, in der er „rezeptiv aufnehmendes" Lernen von „aktiv aufnehmendem" Lernen unterscheidet und mit den Merkmalen „episodisch, empirisch" im Sinne von „sinnfrei unspezifiziert" und „kumulativ, konstruktiv" im Sinne von „sinnvoll-bedeutsam" zusammenfuhrt (2002, 70). 78

episodisch, empirisch

kumulativ, konstruktiv

sinnfrei

sinnvoll / bedeutsam

rezeptiv aufnehmend

Wissen wird aufgenommen, es wird nicht in Vorhandenes eingefugt oder mit ihm in Beziehung gesetzt, es findet kein Transfer des neuen Wissens auf die vorhandene kognitive Struktur statt.

Wissen wird bewusst aufgenommen, es wird in einsichtige Zusammenhänge gebracht, das Lernen geschieht unter dem Paradigma des Transfers, das die verständige Einbergung des neuen Wissens leistet.

aktiv aufnehmend

Wissen wird durch Zufall herausgefunden, es wird nicht in Vorhandenes eingefugt oder mit ihm in Beziehung gesetzt, es findet ebenfalls kein Transfer des neuen Wissens auf die vorhandene kognitive Struktur statt.

Wissen wird methodisch bewusst erworben, es wird in Vorhandenes einsichtig eingefügt, das Lernen geschieht unter dem Paradigma des Transfers, das die verständige Einbergung des neuen Wissens leistet.

A b b . 1 4 : Unterscheidung verschiedener Weisen des Lernens nach Michael Soostmeyer 2002,

67f.

In einer weiteren Differenzierung unterscheidet Soostmeyer, ob Lernende gelenkt oder ungelenkt aktiv lernend sind und ob sie, wenn ihr Lernen sinnvoll/bedeutsam ist (im Unter-

78 Dazu, dass bedeutsames Lernen keineswegs an entdeckendes Lernen gebunden ist, vgl. David P. Ausubel u. a., wenn sie ihre Kritik an der Vergötterung des entdeckenden Lernens wie folgt zusammenfassen: „Die Entstehung der Bedeutung verlangt daher immer die Übersetzung in ein persönliches Bezugssystem und die Angleichung an etablierte Begriffe und Lehrsätze. Dies alles geht in jedem Programm des sinnvollen Lehrervortrags vor sich und ist bestimmt alles andere als die Popanz-Vorstellung einer passiven Absorption, die Bruner entwirft, um diese Methode in Mißkredit zu bringen und das entdeckende Lernen um so mehr anzupreisen. Das meiste von dem, was jemand wirklich weiß, besteht aus Einsichten, die von anderen entdeckt und ihm in sinnvoller Weise übermittelt worden sind" (1983, 31; zur Fortsetzung des Zitats, in dem Ausubel u. a. die These vertreten, dass entdeckendes Lernen den Begriff der Kultur verkenne, vgl. Kap. III. 4.2.3). Siehe hierzu auch die kombinatorische Unterscheidung verschiedener Lerntypen von Dieter Mutschier und Ernst H. Ott (1977, 13), in der Ausubel als Vertreter eines sinnvollen und rezeptiven Lernens, welches als „verstehendes Aufnehmen sinnvoller Information" charakterisiert wird, eingeordnet wird (Darstellung der Kombinatorik in Anm. 83 in Kap. III).

112

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

schied zum sinnfreien, unspezifizierten Lernen) und kumulativ konstruktiv (im Unterschied zum episodisch empirischen Umgang) erfolgt, dabei induktiv oder deduktiv vorgehen:

episodisch,

kumulativ,

konstruktiv

empirisch sinnvoll - bedeutsam

JJ. sinnfrei unspezifiziert

induktiv

deduktiv

entdeckend, ungelenkt

Zufälliges Entdecken durch Versuch und Irrtum, Ergebnisse sowie Verfahren bleiben unbewusst und isoliert.

Methodisch bewusstes Suchen von Regeln an selbstgefundenen Beispielen; Ergebnisse und Teilaspekte werden bewusst integriert.

Integrierende Konzepte werden auf selbstgewählte Beispiele angewandt; die Ergebnisse werden bewusst integriert.

aktiv, gelenkt

Gesteuertes Verhalten in einem vorgegebenen Kontext, der von der Lehrperson als sinnvoll angesehen wird; erst nach Abschluss werden die Ergebnisse dem Schüler bedeutsam.

Bewusstes und gesteuertes Suchen von Regeln in einem von der Lehrperson oder vom Ziel her strukturiertem Lernfeld; Ergebnisse und Teilaspekte sind dem Lernenden bewusst.

Gesteuertes und bewusstes Anwenden integrierender Ideen auf Einzelfälle; das Lernfeld ist von der Lehrperson strukturiert und die Deduktionsschritte sind dem Kind bewusst.

Abb. 15: Unterscheidung verschiedener Weisen des Lernens nach Michael Soostmeyer 2002, 70. Auch wenn die Kombinatoriken von Soostmeyer viele Fragen aufwerfen mögen, etwa die Frage nach der Unterscheidung von „deduktiv" und „induktiv", macht sein Vorgehen deutlich, wie hilfreich derartiges Zusammenstellen verschiedener zu bedenkender Möglichkeiten ist, insbesondere weil so offene und zu klärende Fragen systematisch angebbar werden. Hier soll das Potenzial dieser Kombinatoriken aber nicht weiter ausgelotet werden. Wichtig für die Überlegungen in diesem Abschnitt ist, dass Soostmeyer mit Blick auf seine kombinatorische Unterscheidung feststellt, dass Übergänge von einer Lernweise zu einer anderen möglich sind und durch unterstützendes Lehrverhalten gefördert werden können, so dass der „episodenhafte[...] Charakter einer Zufallsentdeckung oder eines Versuch-IrrtumsProduktes" überwunden und in sinnvoll-bedeutsames entdeckendes Lernen münden kann (2002, 69). Die Frage ist hier wieder, inwiefern Vorgaben in ein bedeutsames entdeckendes Lernen münden können und ob unter den Bedingungen von Schule und Unterricht überhaupt ein vorgabefreies entdeckendes Lernen möglich ist. Klaus Holzkamp hat dies mit seiner Analyse der Möglichkeiten entdeckenden Lernens unter den gegenwärtigen Bedingungen von Schule und Unterricht problematisiert. An dieser Stelle sei nur auf den von Holzkamp geprägten Begriff des ,expansiven Lernens' verwiesen, für den das Merkmal der subjektiven Bedeutsamkeit zentral ist. Im Unterschied zum defensiven Lernen, werden beim expansiven Lernen die „zu erwartenden Anstrengungen und Risiken des Lernens [...] unter der Prämisse von mir motiviert übernommen, daß ich im Fortgang des Lernprozesses in einer Weise Aufschluß über reale Bedeutungszusammenhänge gewinnen und damit Handlungsmöglichkeiten erreichen kann, durch welche gleichzeitig eine Entfaltung meiner subjektiven

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

113

Lebensqualität zu erwarten ist: Lernhandlungen, soweit motivational begründet, sind mithin quasi expansiver Natur. Dabei ist, soweit ich an meine Lernhandlungen den Gesichtspunkt ihrer motivationalen Begründbarkeit anlege, stets impliziert, daß ich bei mangelnder Motivation die Möglichkeit habe bzw. gehabt hätte, eine Lernhandlung zu unterlassen" (1993, 190). Wird dennoch bei einer vorgegebenen Lernproblematik gelernt, weil z. B. mit der „Unterlassung oder Verweigerung des Lernens für mich eine Beeinträchtigung meiner Weltverfiigung/ Lebensqualität droht", so „sehe ich mich begründetermaßen gezwungen zu lernen, obwohl die Möglichkeit der motivationalen Begründung der Lernhandlung (mit der Alternative des Nichtlernens) für mich nicht besteht. [...] In diesem Fall sind meine Lerngründe also nicht expansiver, sondern [...] defensiver Natur" (1993, 191). „Echtes bedeutungsvolles entdeckendes Lernen" gleitet damit in den Bereich dessen ab, was Hans Brügelmann als „Ostereier-Didaktik" beschrieben hat: „Statt die Kinder als selbstständige Denkerinnen ernst zu nehmen, veranstalten die Lehrerinnen ein Ratespiel, in dem der gewinnt, der die Regeln dieses Spiels durchschaut und die gelegten (oft sachfremden) Spuren am besten entziffern kann" (2001, 55). Ich k o m m e hierauf zurück (s. Kap. III. 4.2.3). Mit Blick auf das zu Beginn dieses Abschnittes (Kap. III. 4.2.1) angerissene Wortfeld zum T h e m a „entdeckendes Lernen" ist der Aspekt der Bedeutsamkeit in besonderer Weise nicht nur fiir „expansives Lernen" im Sinne von Klaus Holzkamp, sondern auch für das „genetische Lernen" im Sinne von Martin Wagenschein relevant. „Genetisches" oder, wie Wagenschein es lieber umfassender ausdrücken mag, „genetisch-sokratisch-exemplarisches" Lehren bzw. Lernen bezieht sich vom Ansatz her darauf, dass Pädagogik es „mit dem Werdenden zu t u n [hat; B. B.]: mit dem werdenden Menschen u n d - im Unterricht, als Didaktik - mit dem Werden des Wissens in ihm" (1973, 55). W i e wichtig es dabei ist, dass beim Lernen echte Fragen der Schülerinnen u n d Schüler verfolgt werden, die mit ihrer Lebenswelt verwurzelt u n d die ihnen wirklich bedeutsam sind, wird anschaulich, wenn Wagenschein betont, wie relevant der „Denkdruck" ist (1973, 97), den die Lernenden beim Einstieg in ein T h e m a (der Exposition) aufbauen müssen, damit ein über Wochen anhaltender „Sog des sachlichen Motivs" (1973, 96) sich entwickeln kann, der auch durch die „Dunkelheit" hindurch trägt, auf die sich Lernende u n d Lehrende beim genetischen Lehren u n d Lernen einlassen (1973, 78). 7 9 Das Bild eines „Sogs", der auch durch die „Dunkelheit" hindurch trägt, ist ein Indikator dafür, u m welche Art von „echten" Fragen es sich beim entdeckenden Lernen handeln muss. 8 0 Eine subjektiv bedeutsame echte Frage kann auch sein, wie ich z. B. am schnellsten mit der Bahn von Paderborn nach Potsdam gelangen könne. D e n n o c h fordert die Beantwortung dieser Frage nicht zum entdeckenden Lernen heraus, wenn ich

79 Auch wenn Wagenschein an dieser Stelle meint, dass fiir die Lehrenden nur im Dunklen liegt, welcher Weg sich ausbilden wird, fiir die Schüler auch das Ergebnis" (1973, 78, Anm. 40), so hält er es an anderer Stelle doch wohl auch fiir hilfreich, wenn die Lehrenden selbst auch noch echte inhaldiche Fragen haben, und „etwas lernen wollen; nicht im Sinne der „Weiterbildung", sondern im Sinne der ihm [und ihr; B. B.] noch immer nicht genügenden Grundbildung" (1973, 96), wozu dann auch eine gewisse produktive Verwirrung auf Seiten der Lehrenden gehören mag (s. 1973, 75). 80 Mit Wolfgang Hug könnte man solche echten Fragen, in denen es um die Aufklärung von Dunkelheiten geht, auch dadurch charakterisieren, dass sie „ungeklärte, umstrittene, der Überprüfung oder Differenzierung bedürftige[r] Themen" behandeln (1992, 65). Für Hug ist exploratives historisches Lernen, was „weitgehend mit „entdeckendem Lernen" identisch" (1992, 66) sei, auf solche Themen bezogen.

114

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

einfach nur im Fahrplan nachzusehen brauche und der Weg zur Lösung meiner Frage also klar ist, es gibt keine „Dunkelheit". Demgegenüber scheint es beim entdeckenden Lernen um echte subjektiv bedeutsame Fragen zu gehen, bei denen man nicht auf vorhandene Konzepte zurückgreift. 81 Das Problem des entdeckenden Lernens ist selbst ein solches herausforderndes Dunkelfeld. Wollte man den Ansatz von Holzkamp und Wagenschein weiter verfolgen, die Bedeutsamkeit des Lernens wesentlich daran festzumachen, dass echte Fragen verfolgt werden können, so müsste man auch über eine systematisch ausgearbeitete Theorie der Frage und der Unterscheidung verschiedener Frageweisen für eine Bestimmung und Abgrenzung entdeckenden Lernens gelangen können, ein Forschungsfragenstrang, der hier nicht weiter verfolgt, im Folgenden aber nochmals angesprochen wird, insofern eine bestimmte Fragekultur mit zu den Voraussetzungen gelingenden entdeckenden Lernens gehört und den Gefahren seines Scheiterns begegnen kann (s. Kap. III. 4.2.2). 8 2

4.2.2 Kritische Reflexivität beim entdeckenden Lernen und seine Relevanz für inkludierende pädagogische Konzepte - auch eine Fortsetzung der Überlegungen zur Bestimmung „entdeckenden Lernens" Ein für die Überlegungen dieser Arbeit grundlegender Aspekt, der z. B. auch in den Kombinatoriken von Soostmeyer enthalten ist und mit dem „entdeckendes Lernen" charakterisiert wird bzw. mit dem eine Weise von anderen Weisen „entdeckenden Lernens" unterschieden werden kann, sind die Merkmale des „systematischen (planvollen), methodischen" und „reflexiven" Vorgehens, die eng miteinander zusammenhängen. 83 Unabhängig davon, was genau unter „entdeckendem Lernen" verstanden wird, hängt für viele die Qualität entdeckenden Lernens wesentlich mit davon ab, inwiefern dabei reflexiv methodisch und kritisch vorgegangen und gelernt wird. Auch wenn es für manche, wie Manfred Bönsch in der „begrifflich nicht exakten schulpädagogischen Terminologie [...] angebracht [erscheint; B. B.], die Termini „forschendes Lernen" und „entdeckendes Lernen" synonym zu verwenden" (2000, 235), so kann eine Betonung der Merkmale des Methodischen und ReflexivKritischen auch genutzt werden, um „forschendes Lernen" als eine besonders ausgewiesene Weise „entdeckenden Lernens" von anderen Weisen, z. B. „zufällig entdeckendem Lernen", 81

82

83

Dass man nicht auf vorhandene Konzepte zurückgreift, muss weder heißen, dass es adäquate Konzepte zur Lösung des Problems nicht gibt, noch, dass die- oder derjenige nicht weiß, dass es sie gibt. Ich denke hier z. B. an die Möglichkeit, dass jemand einen Schokoladenkuchen backen möchte, dies noch nie getan hat und sich fragt, auf welche Weise man hier wohl zu einem guten Ergebnis kommen könnte. Sie oder er weiß wohl, dass es Rezepte gibt, in denen man vermutlich verschiedene Antworten finden könnte. Die Person möchte aber selbst herausfinden und herumexperimentieren, um für sich den optimalen Schokoladenkuchen zu erfinden, und beginnt eine mehr oder weniger systematische Erprobung verschiedener Backmischungen und Zubereitungen. Trotz etlicher Fehlversuche und geschmacklich wenig erfreulicher Ergebnisse gibt sie nicht auf, weil ihr die Frage hinreichend wichtig ist und sie - um im Bild zu bleiben - damit durch die Dunkelheit des Nochnicht-Wissens trägt. Dazu, dass man den unterschiedlichen Umgang mit Fragen und Frageweisen heranziehen kann, um alternativen Pädagogiken zu unterscheiden, vgl. - wie weiter oben schon einmal angeführt Harm Paschen (1997,25flf.; s. o. Anm. 75 in Kap. III). Vgl. hierzu auch die kombinatorische Unterscheidung verschiedener Lerntypen von Dieter Mutschier und Emst H. Ott (1977, 13):

Aspektiv-spezifische vergleichende E r ö r t e r u n g

115

abzugrenzen. 84 In diesem Sinne wird dann davon ausgegangen, dass im „Gegensatz zu entdeckendem Lernen [...] beim forschenden Lernen in Analogie zur wissenschaftlichen Forschung „Forschungsfragen und Hypothesen" formuliert" würden (Michael Aepkers 2002, 76). Diese Unterscheidung lässt sich auch mit Franz Radits - den Aepkers an dieser Stelle aus einem Briefwechsel zitiert - folgendermaßen beschreiben: „Entdeckendes Lernen ist essayistisch: Umherschweifen. Addierender [vermutlich gemeint: „Addieren der ..." B. B.] Fundstücke an die vorhandenen Konzepte. Ein Konzeptwechsel durch Anhäufung neuer Erfahrungen geschieht eher zufällig. Erst hier beginnt die Überschneidung mit Forschendem Lernen" (Aepkers a. a. O.). Zieht man aus dem Hinweis, dass beim entdeckenden Lernen ein Konzeptwechsel eher zufällig erfolgt, den Schluss, dass beim forschenden Lernen ein Konzeptwechsel durchaus intendiert wird, so erinnert dies an ein falsifizierendes methodisch systematisches Vorgehen im Sinne des kritischen Rationalismus, bei dem Fehler aktiv gesucht und ihr Auffinden keine Niederlage, sondern die Chance des Weiterkommens bedeutet. Dies weist auf einen der vielen Zusammenhänge zwischen den hier zu diskutierenden spezifischen Aspekten hin, die zu beachten sind, wenn man ihre Relevanz für pädagogische inkludierende Konzepte einschätzen und nutzen will. Als ein Beispiel, wie der

Sinnfrei

Sinnvoll

(1) mechanisches Auswendiglernen

(4) verstehendes Aufnehmen sinnvoller Information

Rezeptiv Ebbinghaus

Ausubel

(2) zufälliges Entdecken mittels Trial and Error

(3) selbständiges Entdecken von Sinnzusammenhängen

Thorndike

Bruner

Entdeckend

Verschiedene Lerntypen nach Mutschler/Ott (1977, 13) Sie unterscheiden „zufälliges Entdecken mittels Trial and Error" und „selbständiges Entdecken von Sinnzusammenhängen". Wenn entdeckendes Lernen „zufällig" bleibt, hängt dies ftir Mutschier und Ott damit zusammen, dass es „sinnfrei" ist. Damit wird in ihrer Kombinatorik die Kategorie des Sinnvollen/Bedeutsamen wie bei Soostmeyer herangezogen, um eine elaborierte Form des entdeckenden Lernens von einer weniger elaborierten Form zu unterscheiden. Die weniger elaborierte Form wird als „zufälliges" entdeckendes Lernen bezeichnet. Entgegen der Erwartung, dass die elaborierte Form entsprechend als „nicht-zufällig" im Sinne von „intendiertem"/„planvollem" entdeckenden Lernen bezeichnet würde, wählen Mutschier und Ott die Bezeichnung „selbständig". Die Wahl dieser Dimensionierung wäre weiter zu klären und zeigt einmal mehr, wie hilfreich kombinatorische Bestimmungsversuche sind, weil sie genau zu solchen Fragen anregen, die bei anderweitigem Vorgehen übersehen werden oder erst gar nicht in den Blick geraten. 84 Bönsch plädiert eher fiir eine enger gefasste Verwendung des Terminus „entdeckendes Lernen", wenn er forschendes Lernen, für welches er ja synonym auch die Bezeichnung „entdeckendes Lernen" verwenden will, explizit von einem blinden „trial und error" abgrenzt und es als einen „Prozess des reflektierten Vorgehens" beschreibt, bei dem die „Vorgehensweise zu klären" und „ein Plan zu entwerfen" ist (2000, 236). Hinsichtlich des „zufällig entdeckenden Lernens" ist es m. E. unter Berücksichtigung der oben zitierten Bestimmung „forschenden Lernens" von Ulf Gebken (2003, 243; s. o. Kap. III. 4.2.1) zu beachten, dass man unterscheiden muss, zwischen dem Lemprozess, der zu einem Zufallsfund fuhrt, und dem Lernprozess, der an einen Zufallsfund anknüpft. Letzterer könnte dann nämlich entweder selbst ein sich weiterhin Zufällen überlassendes Lernen oder aber ein nun reflexiv systematisches und methodisches Lernen sein.

116

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Fehlern und entdeckendem Lernen gesehen werden kann, sei hier Heinrich Winter zitiert, der sich mit dem entdeckenden Lernen im Mathematikunterricht befasst hat: „Die Idee des entdeckenden Lernens enthält von allen bekannten Konzepten den fruchtbarsten mit Schülerfehlern und mit Lehrerfehlern. [...] Im Rahmen des Ansatz, mit Fehlern umzugehen, entdeckenden Lernens werden [...] Fehler positiv aufgearbeitet. Das bedeutet zweierlei: Erstens wird versucht, die Ursache eines Fehlers in vertrauensvoller Atmosphäre offen darzulegen, um dahinterzukommen, wie dieser Fehler wohl entstanden ist. Zweitens wird immer wieder ausdrücklich thematisiert, wie man die Lösung einer Aufgabe selbständig auf Richtigkeit kontrollieren kann" (Heinrich Winter 1994, 24f.). 85

Die Relevanz einer kritischen Reflexivität und methodischen Orientierung für die Qualität von „entdeckendem Lernen" wird auch von Uwe Hameyer herausgestellt. Für ihn gibt es vier grundlegende Formen bzw. Seiten, die beim entdeckenden Lernen zu berücksichtigen sind: Entdeckendes Lernen ist für ihn neben einer explorativen, einer konstruktiven und einer formativen immer auch eine reflexive Tätigkeit: „Das Herausgefundene ist obsolet, solange es nicht im Wissensnetz des Entdeckers Platz findet"; deshalb hat Entdecken immer auch die Seite der Reflexion: „Sie bezieht sich auf den Umgang mit dem entdeckten Wissen und auf die Methode seiner Aneignung" (2002b, 29). Für die Gestaltung von Unterricht bedeutet dies, dass „metainteraktive Phasen" eingebaut werden sollten, in denen über „den Unterricht, die bisherigen Schritte, [...] über das Voranschreiten und über Blockaden, über Schwierigkeiten und Erfolge" in Verbindung mit konkreten Aufgaben geredet wird (2002b, 30f.). Hilfreiche retro- und prospektive Fragen zur geleisteten und zukünftigen Einzel- oder Teamarbeit können nach Hameyer dabei sein: „Wie kam ich oder wie kamen wir mit der Zeit zurecht? Wie fanden wir Ergebnisse? Welche Methoden waren gut, welche führten in die Irre? Was würde ich oder was würden wir zukünftig anders planen? Was hätte ich vorher wissen müssen, um voranzukommen? Wo brauche ich weiterhin Hilfe - wo brauchen wir als Gruppe Hilfe? Was kann ich auf jeden Fall allein herausfinden? Was geht am besten zu zweit? Was lässt sich mit der ganzen Klasse lösen? Welche Idee habe ich fiir das weitere Vorgehen?" (Uwe Hameyer 2002b, 31).

Fragen, die in besonderer Weise auf alternative Lösungsmöglichkeiten zielen, werden von Jens Holger Lorenz für den Umgang mit mathematischen Problemen formuliert, wobei diese Fragen fachunabhängig für jede Lernkultur, die entdeckendes Lernen fördern will, relevant sind: „Gibt es dafür eine Lösung? Gibt es vielleicht mehrere Lösungen? Finden wir alle Lösungen? Können wir sicher sein, alle Lösungen gefunden zu haben?" (Jens Holger Lorenz 2002, 16). 86 85

86

Vgl. hierzu außerdem Erich Ch. Wittmann (1995, 16f.), Günter Krauthausen (1998, 28ff.), Hendrik Radatz u. a. (1996, 8) oder Andrea Heck-Ermer (2001, 85f.), die anschaulich an einem Beispiel aus dem Mathematikunterricht beschreibt, wie ein Mädchen durch eine Fehleranalyse mit den anderen Kindern ihren Fehler versteht und selber zu korrigieren vermag. Z u m Umgang mit Fehlern und insbesondere den Zusammenhang zwischen Fehlerkultur und entdeckendem Lernen s. auch Kap. III. 4.4, insbesondere Kap. III. 4.4.1. Unabhängig von einem bestimmten Fach betont etwa John Holt, wie wichtig es ist, Kinder zu einem entdeckenden (d. h. experimentierenden und über Versuch und Irrtum laufenden) Lernen auf eigenen Wegen zu ermutigen und Fragen nach alternativen Lösungsmöglichkeiten zu stellen, anstelle Vorgaben zum richtigen Vorgehen zu machen: „In our work with children, there are a couple of good rules to keep in mind. O n e is that

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Solche Fragen implizieren auch die Suche nach geeigneten Methoden, die etwa - wie z. B. kombinatorische Verfahren - angeben lassen, ob man sicher sein kann, alle Lösungen gefunden zu haben. Die Fragen zeigen weiterhin, dass entdeckendes Lernen als methodisch und kritisch reflexives Lernen mit einer Haltung einhergehen muss, bei der die Lernenden entwicklungsoffen und engagiert sind, zu Verbesserungen ihrer Fähigkeiten und Konzepte zu gelangen: „Der Mensch kann Neues nur entdecken, wenn er willens und fähig ist, seinen Erfahrungshorizont zu erweitern, sich mit Ungereimtheiten im Wissen über einen Sachverhalt auseinander zu setzen und Schlüsse zu ziehen. Das meint zugleich: Widersprüche zwischen Vermutung und Wissen aufdecken, das eigene Wissenssystem erweitern" (Uwe Hameyer 2002a, 6).

In dem Maße, wie eine Fragekultur mit reflexiv kritischen und methodisch orientierten Fragen, die auf zu erwägende Alternativen zielen, gepflegt wird, weitet sich entdeckendes Lernen auf eigenen Wegen hin zu einem entdeckenden Lernen auf gemeinsamen Wegen. Durch die Auseinandersetzung mit den Perspektiven, Positionen, Lösungswegen und Lösungsvorschlägen der anderen kann sich der jeweils eigene Horizont nochmals beträchtlich erweitern, vorausgesetzt man lässt sich auf Fremdes und Unbekanntes ein und sucht nicht nur den Austausch mit Gleichgesinnten. An dieser Stelle wird die zentrale Verbindung zwischen entdeckendem Lernen und pädagogischen inkludierenden Konzepten deutlich: Entdeckendes Lernen lebt von Lemumgebungen, in denen Vielfalt (hinsichtlich aller Dimensionen des didaktischen Dreiecks) nicht durch Homogenisierungsbemühungen zu vermeiden versucht oder nur geduldet wird, sondern stattdessen in adäquater Weise, d. h. die Gefahr des Verlierens in jeweiliger Vielfalt beachtend, als Herausforderung und Chance von Entwicklungsprozessen aufgesucht, gepflegt und reflektiert wird. 87 Umgekehrt können pädagogisch inkludierende Konzepte ihr Anliegen der Förderung von kritischer Perspektivität besonders umfassend verfolgen, wenn Raum für reflexiv kritisches und methodisches entdeckendes Lernen besteht. Denn zum einen kann die Ermöglichung entdeckenden Lernens auf eigenen Wegen an der Vielfalt der Lernenden anknüpfen und diesen Raum zur Entfalit is always better to say to a child - instead of „Do it this way" - „How many ways can you think of to do it?" The other is to let children find, by experiment, trial and error, and imitation, which of the possible ways of doing a thing is best for them. This best way may often be our way, the way we would have „taught". [...] But even if in the end children do come to our way of doing things, we should let them do so in their way. Some might say, „Why waste time? If we know that a given way of doing things is best, why not just tell the children to do it that way?" But our way may not be the best way, but only the way we are used to. Also, the best way for us, or for some children, may not be the best way for all. Finally, it is always better, if he can do so at not too great cost or risk, for a child to find out something for himself than be told. Only from making choices and judgments can he learn to make them better, or learn to trust his own judgement" (1970, 192). 87 In diesem Sinne hält dann Wolfgang Hug auch als eines von vier Grundprinzipien für ein exploratives historisches Lernen, was - wie schon zitiert (s. o. Anm. 80, Kap. III) - für ihn „weitgehend mit „entdeckendem Lernen" identisch" (1992, 66) ist, fest: „Für exploratives historisches Lernen wird Mehrperspektivität unverzichtbar. Sie hat für die Wahrnehmung, Erkenntnis- und Urteilsbildung zentrale Bedeutung" (1992, 65; zur Relevanz, jeweilige Probleme beim entdeckenden (auch im Sinne von forschenden) Lernen „permanent und mehrperspektivisch zu reflektieren" vgl. auch Juliane Seger 2002, 99). Mehrperspektivität lebt von der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler in einem Klassenverband. Denn wenn sie sich über ihre auf unterschiedliche Weisen gefundenen Ergebnisse im Klassenverband austauschen, dann werden sie „mit alternativen Denkweisen, anderen Techniken, unterschiedlichen Auffassungen konfrontiert, unabhängig von ihrem jeweiligen kognitiven Niveau. Bei strikter innerer Differenzierung wird gerade diese Chance der Begegnung eher erschwert" (Johanna Neubrand u. a. 1999, 154).

118

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

tung geben. Zum anderen sind es die auf diese Weise erschlossenen vielfältigen Lösungswege und Lösungsmöglichkeiten, die Ausgang für gemeinsame Reflexionen sein können, bei denen die Subjektivität und Perspektivität der jeweiligen Positionen bewusst gemacht und damit Mehrperspektivität, Relativität aber auch begründetes Vorziehen bestimmter Lösungswege und -möglichkeiten thematisch werden können. Eine derartige Praxis pädagogisch inkludierender Konzepte, reflexiv kritisch mit Vielfalt, Mehrperspektivität und Alternativen umzugehen, kann ihrerseits zur Entfaltung individuellen und gemeinsamen entdeckenden Lernens beitragen. Entdeckendes Lernen lässt, so gesehen, an Vielfalt anknüpfen und es schafft Vielfalt, die von inkludierenden pädagogischen Konzepten genutzt werden kann, um die Entwicklung individueller wie gemeinsamer Vielfaltskompetenzen zu fordern. These dieser Arbeit zum Zusammenhang zwischen entdeckendem Lernen und inkludierenden pädagogischen Konzepten ist: Je stärker beim entdeckenden Lernen (und Lehren) eine reflexiv kritische und methodische Einstellung bei den Schülerinnen und Schülern (aber auch den Lehrenden) ausgeprägt ist, umso mehr kann dies zu einem Gelingen jener pädagogisch inkludierenden Konzepte beitragen, die einerseits Raum für individuelle Unterschiede und Entwicklungen geben, andererseits aber hierbei auch die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, Positionen, Argumentationen derart einbezogen sehen wollen, dass sich die Schülerinnen und Schüler (wie auch die Lehrenden) zu (selbst)kritischen mündigen Persönlichkeiten bilden können. Dabei wird vor dem Hintergrund des angerissenen Forschungsstandes im weiteren Verlauf der Arbeit vorerst folgendes unter „entdeckenden Lernen" verstanden: Entdeckendes Lernen liegt vor, wenn für eine subjektiv echte und bedeutsame Frage, 88 zu deren Lösung man nicht allein auf vorhandene bereits bekannte oder leicht erschließbare Konzepte zurückgreift 89 , Lösungswege auch über Irrwege und Sackgassen hinweg gesucht und erprobt werden, um eine oder mehrere mögliche problemadäquate Lösungen zu finden. Dabei kommt es nicht darauf an, auch tatsächlich eine Lösung zu finden, selbst wenn das die Regel sein mag. Auch wenn man herausfindet, dass (vorerst) keine Lösung gefunden werden kann bzw. man es mit einem prinzipiell nicht lösbaren Problem zu tun hat, liegt entdeckendes Lernen vor, wenn eine subjektiv echte und bedeutsame Frage mit entsprechender Sogkraft verfolgt wurde. „Entdeckendes Lernen" wird hier - auch wenn es nur um subjektiv Neues geht - dann als „forschendes Lernen" aufgefasst, wenn die methodische Orientierung im Umgang mit Fragen, Hypothesen, möglichen Lösungen, Widerlegungen usw., regelgeleitet und auf Nachvollziehbarkeit und Verbesserungen hin angelegt ist. Liegt derart forschendem Lernen zwar eine echte Frage zugrunde, die subjektiv aber nicht als besonders bedeutsam empfunden wird, so mag die Sogkraft der Fragestellung geringer ausfallen und derartiges forschendes Lernen ist vielleicht am ehesten mit einem

88 Nicht jede (auch subjektiv) echte Frage muss zugleich subjektiv bedeutsam sein. Vielleicht könnte man in solchen Fällen, in denen trotz eher geringer subjektiver Bedeutsamkeit eine Frage, ein Problem usw. in der skizzierten Weise behandelt wird, davon sprechen, dass vergleichbar einem Forschungsauftrag ein Entdekkungsauftrag verfolgt wird. 89 Dazu, dass man auf Konzepte zurückgreifen könnte, dies aber nicht tut, vgl. Anm. 81, Kap. III.

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Forschungsauftrag zu vergleichen im Unterschied zu einer selbst entwickelten Forschungsfragestellung.90 4.2.3 Herausforderungen entdeckenden Lernens und Potenziale einer Erwägungsorientierung Wie in den vorangegangen Abschnitten schon deutlich wurde, besteht ein wesentliches Potenzial, wie Erwägungsorientierung entdeckendes Lernen mitgestalten und fördern kann, in der reflexiv kritischen und methodischen Grundhaltung im Umgang mit zu erwägenden Alternativen. Dieses Potenzial ist auch im Umgang mit den im Folgenden zu erörternden zwei Herausforderungen entdeckenden Lernens hilfreich. Beide Herausforderungen wurden in den bisherigen Ausführungen schon an verschiedenen Stellen thematisiert. Die eine Herausforderung betrifft die Frage nach dem Umgang mit Vorgaben und Entscheidungsfreiheiten bzw. dem Umgang mit Struktur und Offenheit. Die andere Herausforderung bezieht sich auf die Ermöglichung von individuellem (entdeckendem) Lernen und seine Vermittlung mit gemeinsamem (entdeckendem) Lernen. Die erste Herausforderung hängt damit zusammen, dass es unmöglich ist, alles selbst zu entscheiden und Menschen auf Vorgaben angewiesen sind. Für manche ist dies geradezu im positiven Sinne ein Merkmal von Kultur und ihren Traditionen, weshalb David P. Ausubel u. a. in Bezug auf „entdeckendes Lernen" zu folgender Einschätzung gelangen: „Das meiste von dem, was jemand wirklich weiß, besteht aus Einsichten, die von anderen entdeckt und ihm in sinnvoller Weise übermittelt worden sind. Der Satz, daß jedermann jedes Stückchen Wissen, das er wirklich besitzen möchte, selbst entdecken muß, ist von vornherein nicht überzeugend, und er verkennt im Grunde den Begriff der Kultur. Denn das wohl charakteristischste Merkmal menschlicher Kultur, das sie von jeder anderen Art der sozialen Ordnung im Tierreich unterscheidet, ist gerade die Tatsache, daß die gesammelten Entdeckungen von Jahrtausenden jeder neuen Generation im Laufe der Kindheit und der Jugend übermittelt werden können und nicht von jeder Generation aufs neue entdeckt zu werden brauchen. Dies Wunder der Kultur wird uns dadurch möglich, daß es so viel weniger Zeit bedarf, einen Gedanken anderen zu übermitteln und ihn in seiner Bedeutung zu erklären, als ihn sie selbst wiederentdecken [zu; B. B.] lassen" (1983,31).

Unabhängig davon, inwiefern die Generalisierung, dass „jedes Stückchen Wissen" nur als selbst entdecktes zu eigenem Wissen wird, in dieser Verallgemeinerung überhaupt von jemandem, die oder der sich für entdeckendes Lernen einsetzt, vertreten wird,91 macht das 90

In einer genaueren Bestimmung von entdeckendem und forschendem Lernen gegenüber anderen Lernweisen wäre also darauf zu achten, dass echte Probleme oder Fälle (s. problemorientiertes oder fallbasiertes Lernen), seien sie nun vorgegeben oder von den Lernenden selbst erkannt, fiir die Lernenden mehr oder weniger relevant bzw. bedeutsam sein können. Zu bedenken sind dabei weiterhin unterschiedliche Entwicklungsverläufe: So mag - um nur ein Beispiel zu nennen - durch die Arbeit an einem echten, aber subjektiv als wenig bedeutsam eingeschätzten Problem, die subjektive Bedeutsamkeit im Laufe der Zeit wachsen. 91 In dem zitierten Artikel wenden sich Ausubel u. a. insbesondere gegen das von Bruner Anfang der 60er Jahre vertretene Konzept entdeckenden Lernens. Bruner selbst betont aber explizit - zumindest in späteren Arbeiten Mitte der 60er Jahre - , dass es „höchst unrealistisch" sei, „von jedem Organismus [d. h. hier Menschen, B. B.] erwarten zu wollen, daß er seine gesamte Kultur wieder neu entdecken sollte" (1972, 84). Und weiter: „Kultur, so können wir sagen, wird nicht entdeckt; sie wird tradiert oder gerät in Vergessenheit. All dies deutet darauf hin, daß wir lieber vorsichtiger sein sollten, wenn wir von der Entdeckungsmethode oder von der

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Zitat auf die Notwendigkeit aufmerksam, dass Menschen eben nicht nur kompetent mit Entscheidungen (z. B. in Entdeckungszusammenhängen), sondern auch kompetent mit Vorgaben umgehen lernen müssen. Die Überlegung, dass Lernende (und Lehrende) spezifische Fähigkeiten brauchen, um von den Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten beim entdeckenden Lernen zu profitieren, wäre so gesehen auch auf Fähigkeiten auszudehnen, kompetent mit Vorgaben umzugehen. Mit der Frage nach den erforderlichen Fähigkeiten fiir erfolgreiches entdeckendes Lernen, wie immer dies dann auch gemessen werden mag, wird eine zentrale Problemlage angesprochen, die in den vorangegangenen Darlegungen schon mehrfach thematisch war. Dabei geht es um die Sorge, dass Offenheit für entdeckendes Lernen zwar die starken, nicht jedoch die schwächeren Schülerinnen und Schüler fordern könne, also um die „Gefahr der Orientierungslosigkeit oder Überforderung" beim explorativen Lernen (s. o. das Zitat von Gabi-Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl in Anmerkung 71, Kap. III). Unterschiedliche Vermögen der Lernenden bei den metakognitiven Kompetenzen in Bezug auf Lernstrategien, Arbeitstechniken, Reflexionskompetenzen usw. scheinen dazu zu fuhren, „dass Schüler mit ungünstigen affektiven und kognitiven Voraussetzungen eher aus dem informationsvermittelnden, lehrerzentrierten Unterricht Nutzen ziehen, während Schüler mit guten Lernvoraussetzungen eher von offenen, wenig strukturierten Lemumgebungen mit Wahlmöglichkeiten profitieren" (Herbert Gudjons 2003, 7). 92 Dies fuhrt dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer entsprechend differenzierte, unterschiedlich offene Aufgaben stellen bzw. ihre Lernbegleitung an den unterschiedlichen Vermögen der Lernenden orientieren können sollten. Verschiedene Fragen nach einer adäquaten Aufgabenkultur für entdeckendes Lernen wurden in den vorangegangenen Erörterungen schon genannt. Für den Zusammenhang zwischen notwendigen Vorgaben und Entscheidungsfreiheiten in Lernprozessen sind vor allem folgende Fragen relevant: Bei welchem Ausmaß an Vorgaben ist fiir einen Schüler bzw. eine Schülerin dennoch ein entdeckendes

Vorstellung sprechen, das Entdecken sei das grundlegende Vehikel von Unterricht und Erziehung" (1972, 85). Unter diesen Einschränkungen hält Bruner es dann aber trotzdem fiir grundlegend relevant, dass auch entdeckend gelernt wird, weil diese Weise des Lernens den Lerntransfer fördert, indem es Kinder herausfordert ihr Wissen anzuwenden (1972, 86; s. hierzu auch 1961 (dt.: 1983) — einer der Artikel auf die sich Ausubel u. a. beziehen - , wo Bruner ebenfalls schon geschrieben hat, dass „Entdeckung eine notwendige Bedingung [sei; B. B.], um die Vielfalt der Problemlösungstechniken zum Transformieren von Informationen zu erlernen. Das dient dazu, die Informationen verwendungs fähiger zu machen, zu lernen, wie man die eigentliche Aufgabe des Lernens bewältigt. Die Übung im Selbstentdecken lehrt einen, Informationen so zu erwerben, daß sie fiir das Problemlosen weitaus fruchtbarer wird. Dies ist die Hypothese. Sie muß noch überprüft werden" (1983, 21; engl. 1961,26). An dieser Stelle spricht Bruner übrigens nur davon, dass er eine Hypothese dafür aufstellt, was passiert, „wenn man das Entdecken beim Lernen betont" (a. a. O.), womit nicht behauptet wird, dass Lernen nur entdeckend verläuft oder verlaufen sollte. 92 Vgl. hierzu auch Franz Hofmann, der einen Zusammenhang zwischen Erfolgszuversichdichkeit bzw. Misserfolgsängstlichkeit bei den Lernenden und ihrer Fähigkeit, mit Lernfreiräumen und Entscheidungsfreiheiten umgehen zu können oder nicht, festhält: „Während erfolgszuversichdiche Schülerinnen und Schüler diese [Lernfreiräume; B. B.] nützen (und sich möglicherweise noch mehr eigenen Entscheidungsspielraum wünschen), werden misserfolgsängstliche eher defensiv reagieren und mehr lernstrukturelle Vorgaben einfordern" (2000, 84f.). Dazu, dass Mitgestaltungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiräume auch in der Erwachsenenbildung als „Verunsicherung oder gar Zumutung erlebt" werden können, wenn entsprechende Erfahrungen fehlen, vgl. auch Ingeborg Schüßler (2003, 86) oder Werner Helsper, der dies sogar in einem Seminar zum Thema „Umgang mit Ungewissheiten" beobachtet hat (2005, 154). Ich komme auf diese Problemlage in der Erörterung des Aspektes des Umgangs mit Nicht-Wissen und Ungewissheiten zurück (vgl. Kap. III. 4.5.3).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Lernen möglich? 93 Inwiefern kann das Ausmaß an Entscheidungsfreiheiten für eine Schülerin bzw. einen Schüler zu groß sein, um entdeckend lernen zu können? Mit der hieran anknüpfenden Frage, woran es liegen könnte, dass das Ausmaß an Entscheidungsfreiheiten für eine Schülerin oder einen Schüler zu groß ist, und was sich in Schule und Unterricht verändern müsste, um die Lernenden zu mehr Entscheidungsmut zu ermuntern, deutet sich eine weitere Querverbindung zwischen entdeckendem Lernen, konstruktiver Fehlerkultur und einem kompetenten Umgang mit Ungewissheiten und Nicht-Wissen an. Entdeckendes Lernen lebt davon, dass sich Lernende und Lehrende auf ungewisse Lernverläufe einlassen, kompetent mit ihrem Nicht-Wissen umgehen und vor allem auch Misserfolge aushalten und sich weder selbst von diesen beschämen lassen, noch andere für ihre Misserfolge geringschätzen. Eine weitere Herausforderung bei der Ermöglichung entdeckenden Lernens steht in engem Zusammenhang mit der letzteren Frage, nämlich die ebenfalls oben bereits angesprochene Gefahr einer Ostereierdidaktik, d. h. eines pseudoentdeckenden Lernens. Wenn Lehrende dergestalt nur eine scheinbare Offenheit im Unterricht ermöglichen, bei dem Entdecken auf ein Erraten, was die Lehrenden wohl gemeint haben könnten, reduziert wird, so mag dies mit den Bedingungen der Möglichkeiten von entdeckendem Lernen in Schule und Unterricht zusammenhängen - in Anknüpfung an Holzkamp müsste man hier wohl eher von den Bedingungen der Unmöglichkeit von entdeckendem Lernen in Schule und Unterricht sprechen. Je stärker eine Orientierung an Richtlinien und Lehrplänen Lehrerinnen und Lehrer zu einem kleinschrittigen Abarbeiten bewegt, umso geringer werden die verbleibenden Spielräume für eigenständiges entdeckendes Lernen ausfallen, in denen echte und für die Schülerinnen und Schüler bedeutsame Fragen verfolgt werden können. Wenn Entdeckungen dann zur Rätselraterei verkümmern, was die Lehrerin oder der Lehrer jetzt wohl wieder hören wolle, so hat dies vermutlich auch viel damit zu tun, dass Lehrerinnen und Lehrer auf dieser Weise meinen, den Ungewissheiten entgehen zu können, auf die man sich einlassen muss, je offener man die Lern- und Lehrprozesse gestaltet (s. hierzu Kap. III. 4.5). Inwiefern kann nun Erwägungsorientierung hilfreich im Umgang mit diesem ersten Herausforderungskomplex sein? Zunächst einmal bietet das Konzept einer Erwägungsorientierung als ein reflexives Konzept für den Umgang mit Entscheidungen und Vorgaben ein Instrument an, mit dem sich die jeweiligen Zusammenhänge von Entscheidungsfreiheiten und damit auch Möglichkeiten für entdeckendes Lernen sowie Vorgaben institutioneller 93

Vgl. hierzu auch Franz Hofmann, der zu erwägen gibt, „Misserfolgsängstlichen zunächst weniger eigene Entscheidungen bezüglich der Gestaltung ihres Lernprozesses zu überantworten als Erfolgszuversichdichen, sondern ihnen stärker vorstrukturierte Sequenzen anzubieten. In der Entscheidung des Strukturiertheitsgrads dieser Sequenzen ist durch die Orientierung am Konzept der „zone of proximal development" der Hinweis zu gewinnen, etwas weniger als das an Strukturen anzubieten, was von der lernenden Person jeweils schon problemlos bewältigt werden kann, um einen Spielraum, die „Zone der nächsten Entwicklung", zu öffnen und Schritte in diese Richtung zu stimulieren" (2000, 85). Die Frage ist hier m. E., inwiefern es Lehrenden gerade auch angesichts großer Anzahlen an Lernenden überhaupt möglich ist, alle adäquat einzuschätzen und ob es nicht (zumindest zusätzlich) besser wäre, solche Materialien bereitzustellen und solche Lernumgebungen zu schaffen, die den Schülerinnen und Schülern eine Selbstdifferenzierung hinsichtlich ihrer Entscheidungsfreiheiten ermöglichten. Diese Selbstdifferenzierung müsste natürlich von den Lehrenden begleitet und mit den Lernenden reflektiert werden, insbesondere wenn es aus Sicht der Lehrenden zu anhaltenden Selbstüberschätzungen oder Selbstunterschätzungen der Lernenden kommen sollte.

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

und sachlicher Art aufklären helfen lassen. Mit institutionellen Vorgaben sind die Rahmenbedingungen von (Hoch-)Schule und Unterricht, aber auch die Tatsache gemeint, dass wir darauf angewiesen sind, viele Traditionen und Wissen unserer jeweiligen Kultur(en) zu übernehmen. Mit sachlichen Vorgaben sind die immer auch bestehenden bzw. zu ziehenden Begrenzungen jeweiligen entdeckenden Lernens als einem entscheidungsorientierten Lernen gemeint. Als Aufklärungsinstrument über Vorgaben und Entscheidungen ist Erwägungsorientierung eine Orientierung für die Lehrenden bei der Gestaltung von Unterricht und der Begleitung von Lernprozessen. 94 Es lässt jeweilige Lernkonstellationen immer wieder daraufhin klärungsorientiert befragen, inwiefern sie weiter zu öffnen sind für ein Denken in Möglichkeiten als Basis für entdeckendes Lernen - was z. B. zur Abwandlung vorhandener Materialien fuhren kann (s. hierzu Kap. IV. 2.2) - , oder inwiefern sie (vorerst) mit Vorgaben einzuschränken und stärker vorzustrukturieren sind. 95 Erwägungsorientierung unterstützt nicht nur die Vorbereitung entdeckenden Lernens, es unterstützt insbesondere mit seiner Erwägungs-Geltungsbedingung sowie der reflexiven und methodischen Orientierung die konkreten Entdeckungsarbeiten der Lernenden wie die metakommunikativen retro- und prospektiven Reflexionen, die auch im Sinne eines Lernen des Lernens auf Verbesserung eigener wie gemeinsamer Lernfähigkeiten zielen. In Anlehnung an Bruner mag man erwägungsorientiertes Lernen als Praktizierung der seines Erachtens für entdeckendes Lernen hilfreichen Kontrastmethode 96 verstehen, wobei nicht nur Unbekanntes hinsichtlich alter94 Dieses Instrument lebt von der konzeptuellen Ausgestaltetheit. Hier ist noch viel zu tun, denn bisher gibt es keine umfassende systematische Zusammenstellung unterschiedlicher Weisen entdeckenden Lernens, die verschiedene Verteilungsmöglichkeiten von Entscheidungen und Vorgaben zu einem wesentlichen Kriterium nimmt. Eine solche Systematik könnte hilfreich sein, verschiedene Entwicklungs- und Kompetenzniveaus beim entdeckenden Lernen zu identifizieren, wodurch die Initiierung und Gestaltung von Lernsituationen, die diesbezügliche Aufbauprozesse ermöglichten, unterstützt werden könnten. 95 Ein Beispiel strukturierende Vorgaben und Entscheidungsfreiheiten in einem „guided discovery learning" zu verbinden, ist ein Lernen aus Lösungsbeispielen mit multiplen Lösungswegen (Cornelia S. Große 2005, 1 7 6 f f . ) . Es ist m. E. zu unterscheiden zwischen Differenzierungen, die im Angebot unterschiedlicher Aufgaben mit unterschiedlichen Freiheits- sprich Entscheidungsgraden bestehen, und Differenzierungen in einer Aufgabe, bei der alle, vielleicht sogar vom Kindergartenkind bis hin zum Erwachsenen, an einem Gegenstand arbeiten und entdeckend (forschend) lernen können (s. hierzu Kap. IV. 2.2; die hier u. a. geschilderte Arbeit mit Würfelmehrlingen lässt sich »jahrgangsübergreifend« vom Kindergartenkind bis hin zur Mathematikstudierenden als Forschungsfrage gestalten, weil sich die Frage nach der Anzahl der verschiedenen Würfelmehrlinge, die man aus jeweiligen Grundformen bauen kann, sowohl ausprobierend-bauend erkunden als auch als Frage nach einer geeigneten Formel verfolgen und erforschen lässt). Aufgaben mit »Differenzierungen in der Sache« haben den Vorteil, dass nicht die Lehrenden vorab entscheiden müssen, welche Aufgabe für welche Schülerin bzw. welchen Schüler adäquat ist, sondern es von den Lernenden abhängt, wie sie die Aufgaben nutzen, was eine unterstützende Lernbegleitung durch die Lehrenden ja nicht ausschließt. In einer umfassenderen Analyse verschiedener Aufgabentypen (für entdeckendes Lernen) wäre dies eine grundlegend zu beachtende Dimension. 96 Für Bruner ist eines „der besten Hilfimittel zur Erkenntnisgewinnung [...] das des Kontrastes. Kontrast kann herbeigefiihrt werden odersich von selbst anbieten. Er kann in der Tat zur Denkgewohnheit werden. [...] Wir glauben, daß ein Kind, das gelernt hat, Kontraste aufzuspüren, eher in der Lage ist, sein Wissen so zu organisieren, daß es zum Entdecken in den Situationen beiträgt, die entdeckendes Verhalten forden. Ich kann hier nicht in eine ausgedehnte Rechtfertigung der Kontrastmethode eintreten und will nur anmerken, daß ihre Wirksamkeit daher rührt, daß ein Begriff zu seiner Definition immer der Abgrenzung gegen einen negativen Fall bedarf. „Mensch" ist ein besonderer Begriff im Kontrast zu aufrecht gehenden Bären, zu Engeln und Teufeln. Die Bereitschaft, Gegensätze zu erkunden, gestattet eine Auswahl der Alternativen, die möglicherweise relevant sind' (1972, 98; kursiv B. B.). Erwägungstafeln (in Tabellen- oder Felderdarstellung), wie sie auch hier in der Arbeit genutzt werden, mag man als eine kombinatorische Vorgehensweise bei der Anwendung der Kontrastmethode zur Erzeugung von zu erwägenden Alternativen betrachten. In dem Maße, wie entdeckendes Lernen mit der

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nativer möglicher Erklärungen, Lösungswege und Lösungen usw. bedacht wird, sondern ebenso Vertrautes, Gewohntes und Selbstverständliches nach den erwogenen Alternativen (der Erwägungs-Geltungsbedingung) befragbar und damit offen für Entscheidungen und ggf. auch Entdeckungen von Neuem im bisher Vertrauten wird. Auf diese Weise fördert Erwägungsorientierung eine Grundhaltung des Fragens und Suchens und eine grundsätzliche Entdeckungsbereitschaft. Erwägungsorientierung bedeutet, dass reflexive Fragen nach zu erwägenden Alternativen und damit ein Denken in Möglichkeiten fester Bestandteil des Lernens wie Lehrens sind, selbst, wenn man reflexiv entschieden hat, was vermutlich angesichts der Fülle des Wissens häufig der Fall ist, dass man zu bestimmten Fragen nicht selbst entscheiden und Vorgaben folgen will. Lernende können sich mit solchen Fragen nach dem Zusammenhang von Vorgaben und Entscheidungs- und damit Entdeckungsmöglichkeiten des jeweiligen Lernprozesses metakommunikativ auseinandersetzen, wenn sie z. B. fragen: Was bedeutet es für die Gesamtorganisation meines Lernvorhabens, wenn ich an einer bestimmten Stelle Such- und Entdeckungsprozesse intensiviere und damit Zeit an anderen Stellen verliere? Welches sind Fragen, wo ich auf keinen Fall auf eigene Entscheidungen und ein entdeckendes Lernen auf eigenen Wegen verzichten will? Wo wäre es retrospektiv gesehen, besser gewesen, Vorgaben zu folgen? Warum ist es mir eigentlich leicht gefallen, einer Vorgabe zu folgen, während das bei anderen Mitlernenden anders war? Mit der letzten Frage wird deutlich, dass Erwägungsorientierung - wie oben schon angedeutet - auch die Voraussetzungen eines vornehmlichen Lernens über Vorgaben oder mittels eigener Entscheidungen analysieren hilft. Warum ist es für die einen leichter zu lernen, wenn sie Vorgaben folgen, und anderen fällt dies schwer bzw. umgekehrt, warum ist es fiir die einen leichter, auf eigenen Wegen zu lernen, und andern fällt dies schwer? Muss man erst nach Vorgaben folgend lernen können, bevor man es auf eigenen Wegen versucht? 97 Sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, könnte sich insofern als Schutz vor einer Ostereierdidaktik erweisen, als diese, wenn sie denn praktiziert würde, offen als solche erfolgen könnte. Das könnte sie von dem Negativimage befreien, die Lernenden nur raten zu lassen, was und wie die Lehrerin oder der Lehrer wohl will. Raten wäre stattdessen eine weitere mögliche Facette in der Vielfalt möglicher Lern- und Lehrweisen, die selbst auch hinsichtlich unterschiedlicher Rateweisen — etwa systematisches oder weniger systematisches Vorgehen — zu erschließen wäre. Eine zweite Herausforderung für entdeckendes Lernen ist die Vermittlung von individuellem und gemeinsamem Lernen. Dabei geht es zum einen um die schon erörterte zu entwickelnde kritische Reflexivität, die erforderlich ist, um jeweilige Subjektivitäten zu ent-

Kontrastmethode als einer Methode, in Möglichkeiten zu denken, verknüpft wird, zeigt sich eine weitere Verbindung zwischen den spezifischen Aspekten, die als grundlegend fiir pädagogische inkludierende Konzepte erörtert werden. So gilt im Bereich der politischen Bildung und Demokratieerziehung das bereits schon vorgestellte sogenannte „Kontroversitätsgebot", bei dem es auch darauf ankommt, bewusst Alternativen zu berücksichtigen (s.o. Kap. III. 2.2 und im Folgenden Kap. III. 4.3). 97 Die Beantwortung dieser Frage hängt mit den oben erörterten unterschiedlichen Positionen zur Entwicklung von Autonomie und Heteronomie zusammen (s. Kap. III. 2.5). Zu einer schulfachbezogenen Erörterung s. z. B. auch die Philosophiedidaktik, in der es um die Beziehung (Gewichtung und Reihenfolge) von Aufklärung im Sinne der Förderung eines kritischen Selbstdenkens mit einem eher nachvollziehenden Denken geht (pointiert zugespitzt: Selberdenken und Nachdenken, i. S. von Übernahme von Vorgedachtem; s. ausfuhrlicher hierzu Blanck 1998, 169; 172fF.).

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

falten, und die dem entdeckenden Lernen seine methodische Qualität gibt. Das Potenzial erwägungsorientierten entdeckenden Vorgehens besteht darin, sich von Anfang an von der Erwägungs-Geltungsbedingung leiten zu lassen, wodurch neben der Verfolgung eines jeweiligen eigenen Weges die anderen Möglichkeiten nicht nur mit in den Blick genommen werden, sondern auch die eigene Vorgehensweise gegenüber diesen anderen Möglichkeiten begründet können werden sollte. Von daher ist erwägungsorientiert entdeckendes Lernen kein egozentrisches Lernen, welches sich gegenüber anderen abschottet, sondern im Gegenteil, es wird bei ihm an andere Möglichkeiten immer schon im Horizont der ErwägungsGeltungsbedingung mitgedacht, und sei es nur, dass man reflexiv weiß, dass man noch nicht weiß, wie man die Ergebnisse der eigenen Entdeckungen gegenüber zu erwägenden Alternativen begründen kann. Der Austausch mit den anderen Schülerinnen und Schülern wird so als Chance gesehen, die eigene bisher entwickelte Position zu verbessern. Mit diesem Interesse an den Ergebnissen der anderen kann ein anderer Aspekt hinsichtlich der Herausforderung einer Vermittlung von individuellem und gemeinsamem Lernen einhergehen, den ich als „Konkurrenzproblem" bezeichnen möchte. Kann es für lemschwächere Schülerinnen und Schüler nicht außerordentlich entmutigend und frustrierend sein, wenn sie nach einer Phase der Einzelarbeit beim Austausch über die Ergebnisse des entdeckenden Lernens feststellen müssen, dass bei ihrer Arbeit weitaus weniger Interessantes herausgekommen ist als bei den anderen und darüber hinausgehend womöglich ihre eigenen Ergebnisse fehlerhaft und zu korrigieren sind, wohingegen die lernstärkeren Schülerinnen und Schüler mit ihren Ergebnissen glänzen können? Ob aus dem Übergang vom individuellen zum gemeinsamen Lernen eine solche bloß negative Konkurrenzsituation entsteht, hängt auch davon ab, inwiefern in der Klasse ein heterogenitätsbewusster Umgang mit Leistungsvielfalt praktiziert wird, der weniger auf direktes Vergleichen untereinander als auf die individuellen Entwicklungsfortschritte fokussiert. Außerdem wird sich die Situation wohl weniger schnell in Richtung Konkurrenz entwickeln, wenn die gemeinsame Austausch- und Reflexionsphase selbst als ein gemeinsamer Entdeckungsprozess verstanden wird, bei der man nicht nur Eigenes demonstrieren will, sondern neugierig auf die Ergebnisse der anderen und deren Beziehungen zur eigenen Arbeit ist, wobei es zu unterschiedlichen Auffassungen zu den Beziehungen zwischen verschiedenen Arbeitsergebnissen kommen kann, die ihrerseits reflexiv zu bedenken sind. Die Frage ist, wann ein Austausch über gefundene Ergebnisse in ein gemeinsames Lernen übergeht und ab wann man sogar von einem „gemeinsamen entdeckenden Lernen" sprechen darf. Diese Frage nach dem Ubergang von individuellem zum gemeinsamen Lernen erinnert an die oben schon angesprochene Unterscheidung zwischen bloßem debattenartigen Schlagabtausch und einer deliberativen Diskussion (s. o. Kap. III. 2.2 und Kap. III. 4.1). Damit wird eine wichtige Querverbindung zwischen dem Aspekt entdeckenden Lernens und dem Aspekt der politischen Bildung und des demokratischen Lernens deutlich. Wenn demokratisches Lernen auf die Mitbestimmungs- und eigenständigen Urteilsfähigkeiten der Lernenden zielt, um so mündige Bürgerinnen und Bürger zu

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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bilden, so scheint dies durch Lernsituationen, in denen Schülerinnen und Schüler möglichst viel (mit)entscheiden, also auch durch entdeckendes Lernen, gefördert werden zu können. 9 8 Das Potenzial von Erwägungsorientierung besteht in der Unterstützung von deliberativen Diskussionen und eines reflexiven Umgehens mit alternativen Auseinandersetzungsformen, wie z. B. Debatten, Streitgesprächen usw. Für gemeinsames entdeckendes Lernen bietet Erwägungsorientierung mit der Erwägungs-Geltungsbedingung eine Integration aller Entdeckungsergebnisse in einem gemeinsamen Erwägungsforschungsstand, bei der selbst das Falsche oder Unsinnige (solange es problemadäquat ist) grundlegend wichtig ist, weil es hilft, das Richtige besser zu verstehen und vor allem begründen zu können. In einem erweiterten Sinne kann sogar auch dasjenige Falsche oder Unsinnige, was nicht problemadäquat ist, dazu beitragen, den erarbeiteten Erwägungsstand selbst wiederum in zu erwägende Alternativen einzubetten. Inwiefern dieser Umgang mit Falschem bzw. Unsinnigem über eine veränderte Fehlerkultur, bei der Fehler als Helfer betrachtet werden, hinausgeht, wird im Folgenden in Kapitel III. 4.4 ausgeführt. Zusammenfassend lässt sich das Potenzial von Erwägungsorientierung für entdeckendes Lernen als eines der Erschließung und der Vermittlung charakterisieren. Als Instrument der Erschließung ist Erwägungsorientierung vor allem eine Hilfe bei der Entfaltung von jeweiliger Subjektivität hin zu mehr Intersubjektivität bzw. Objektivität, denn sie stärkt reflexiv kritische und methodische Vorgehensweisen beim Entdecken. Als Instrument der Vermittlung ist Erwägungsorientierung vor allem eine Hilfe, wenn es um klärungsförderliche Auseinandersetzungen mit den Entdeckungen der anderen und die Gestaltung dieses Prozesses selbst als gemeinsames entdeckendes Lernen geht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Erwägungsorientierung hinsichtlich des Aspektes „entdeckendes Lernen" also einige Potenziale für Vielfalt inkludierende pädagogische Konzepte bietet.

98 Vgl. hierzu Klaus Moegling (2004), der seine Überlegungen zwar auf „selbstständiges Lernen" bezieht, dies aber in einer Weise versteht, die es sehr nahe einem „entdeckenden Lernen" rückt, wenn er schreibt: „Selbstständiges Lernen [...] meint identitätsgeleitetes Handeln in sozialen Situationen. Hierbei geht es einerseits um das selbstständige Erkunden, Erforschen und schülergemäße Forschen in Bezug auf Problem- und Fragestellungen, die den Schülern ein Anliegen sind und die vom Lehrer ergänzend hinzugefügt werden. Zum selbstständigen Lernen gehört aber auch die Erfahrung der eigenen Ich-Identität im Rahmen widersprüchlicher und druckvoller sozialer Situationen und der Erwerb von Kompetenzen innerer Autonomie, die einen bewussten Umgang mit Konflikten und das produktive Aushalten und Lösen konfliktträchtiger Situationen ermöglicht" (2004, 42f. kursiv von B. B.). Den Zusammenhang zwischen selbstständigem Lernen und demokratischen Fähigkeiten sieht Moegling darin, dass selbstständiges Lernen „nicht denkbar ohne die Eröffnung von Mitentscheidungssituationen für die Schüler" ist und Selbsttätigkeit, Selbsterfahrung und Selbststeuerung „immer in Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Kräften" zu sehen sind (2004, 43, kursiv im Original). Aber selbstständiges (entdeckendes) Lernen ist nicht nur auf demokratische Kompetenzen angewiesen, die insbesondere beim Übergang zum gemeinsamen (entdeckenden) Lernen relevant sind, sondern umgekehrt lebt die Entwicklung von Demokratie davon, dass sie in ihren Sozialisationsinstanzen Raum für selbstständiges (entdeckendes) Lernen gibt und dieses dort auch fordert. Moegling geht davon aus, „dass sich eine demokratisch verfasste und um die Einlösung ihres Demokratieanspruchs ringende Gesellschaft ohne die systematische Eröffnung von Gelegenheiten selbstständigen Lernens und ohne die hiervon ausgelösten Bildungsprozesse nicht weiterentwickeln bzw. ihren Selbstanspruch nicht einlösen kann. Somit berührt die Frage nach dem eigenständigen Lernen in den relevanten Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft eine zentrale gesellschaftliche Problemstellung in Bezug auf die Reproduktion und Weiterentwicklung demokratisch verfasster Gesellschaftsstrukturen" (2004, 43; kursiv im Original).

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Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

4.3

Demokratisches Lernen und Umgang mit Vielfalt: Zweite Annäherung und vertiefende Erörterung zur politischen Bildung und „deliberation in education"

In diesem Abschnitt sollen die bisherigen Darlegungen zur Relevanz von reflexiven Kompetenzen mündiger Bürgerinnen und Bürger in pluralistischen demokratischen Gesellschaften, wie sie in Konzepten zur politischen Bildung, zum demokratischen Lernen und zum Erwägen in der Erziehung (deliberation in education) entwickelt worden sind (s. Kap. III. 2.2), vertieft werden. Verschiedene Verwendungsweisen grundlegender Termini und das Forschungsfeld werden eingangs nur kurz angerissen. Auf eine vornehmlich zusammenfassende Darlegung der Relevanz demokratischen Lernens für pädagogisch inkludierende Konzepte und der Grundsätze reflexiv-kritischen Umgangs mit Vielfalt in Konzepten politischer Bildung folgt der Schwerpunkt dieses Abschnittes: Herausforderungen, die die skizzierten Grundsätze mit sich bringen, und wie diesen begegnet werden kann, werden erörtert. Dabei werden das Potenzial und die neue reflexive Qualität, die Erwägungsorientierung im Umgang mit diesen Herausforderungen haben könnte, herausgearbeitet. 4.3.1 Zum Forschungsfeld »demokratisches Lernen« und »politische Bildung« Das, was unter „demokratischem Lernen" 99 verstanden wird, ist verschieden und hängt insbesondere mit unterschiedlichen Verständnissen von „Demokratie" (und „Lernen", vor allem Möglichkeiten und Grenzen „schulischen demokratischen Lernens") zusammen. 100 Vergleichbares lässt sich für „politische Bildung" feststellen, wo ebenfalls unterschiedliche

99 Ich bevorzuge den Terminus „demokratisches Lernen" gegenüber den in der Literatur verbreiteten Termini „Demokratie-Lernen" oder „Demokratiepädagogik", weil ich damit die Art und Weise des Lernens, nämlich demokratisch, i. S. von mitbestimmungsorientiert, betonen möchte. Unterscheidet man Lern-Gegenstand/Inhalt von der Art der Aneignung, dann ist zu bedenken, dass Demokratie als Gegenstand auch undemokratisch gelernt werden könnte. 100 Zu verschiedenen Verständnissen von „Demokratie" vgl. statt anderer die zusammenfassende Einschätzung von Karlheinz Burk: „Der Begriff der Demokratie ist vieldeutig und es stellen sich viele Fragen und Einzelprobleme sowohl theoretischer als auch praktischer Art [...]. Es gibt nicht die Demokratie, sondern verschiedene Demokratien; es gibt nicht nur eine Demokratietheorie, sondern verschiedene" (2003, 14); entsprechend vielfältig sind auch die Vorstellungen über die wichtigsten Aspekte „demokratisches Lernen" (s. Burk 2003, 18ff.). Hinzu kommen, wie oben schon angesprochen, verschiedene Verständnisse von „Lernen" und „Lernen lernen" (s. o. Anm. 63, Kap. III). Zur Ambivalenz der Verbindung von Termini wie „Schüler"/„Schülerin" und „Demokratie" etwa mit Blick auf geltende Gesetze (z. B. zur „Voll- und Minderjährigkeit") vgl. statt anderer K. Peter Merk (2003), Hans-Werner Kuhn (2003, 224f.) oder Georg Weißeno, der festhält: „Die Schule ist und bleibt indessen eine hierarchisch, keine demokratisch organisierte Institution, die die Aufgabe hat die Schüler/innen auf die Wissensgesellschaft und das Leben als Erwachsene vorzubereiten. Verordnungen, Erlasse, Schulleiter/innen und Lehrer/innen können den Schüler/innen keine politische Entscheidungskompetenz zubilligen" (2005, 190; Kursivsetzung von B. B.; Klaus Moegling spricht in diesem Zusammenhang von einem grundsätzlichen Dilemma der Schulen, „die zur Selbstständigkeit und Demokratießhigkeit erziehen wollen, dies allerdings u.a. über den Einsatz von Zwangsmitteln vollziehen müssen" (2004, 20); kursiv im Original). Zu vielen weiteren verschiedenen Aspekten sowohl von Möglichkeiten (z. B. Klassensprecherin/-sprecher, Klassenrat, Schulversammlung, Streitschlichtung, Schulmediation) als auch von Grenzen schulischen demokratischen Lernens vgl. statt anderer die Beiträge in Christian Palentien/Klaus Hurrelmann (Hg.) (2003) und die Beiträge in Karlheinz Burk/Angelika Speck-Hamdan/Hartmut Wedekind (Hg) (2003).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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Verständnisse vertreten werden. 101 Hinsichtlich des Verhältnisses von »demokratischem Lernen« und »politischer Bildung« wird „demokratisches Lernen" in dieser Arbeit insofern weiter gefasst verstanden, als damit eine bestimmte Weise des Lernens, nämlich ein mitbestimmungsorientiertes Lernen, gemeint ist, das quer zu allen Fächern in Schule und Unterricht (sowie auch außerschulisch) stattfinden kann, wohingegen »politische Bildung« bzw. »politische Bildungsprozesse« auf den Fach- bzw. Lerninhalt »Politik« bezogen sind. 102 In dem Maße, wie ein allgemeines Bildungsverständnis im Sinne von Wolfgang Klafki vertreten wird, welches durch die drei Grundfähigkeiten der Selbst- und Mitbestimmung sowie der Solidaritätsfähigkeit charakterisiert ist (1993, 52), sind politische Bildung bzw. politische Bildungsprozesse durch demokratisches Lernen bestimmt. 1 0 3 Umgekehrt kön-

101 Zu verschiedenen Verständnissen von „politischer Bildung", unterschiedlichen Perspektiven und Positionen innerhalb der Politikdidaktik vgl. statt anderer die Beiträge in Kerstin Pohl (Hg.) 2004 und zu verschiedenen Positionen in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung die Beiträge in Klaus-Peter Hufer/ Kerstin Pohl/Imke Scheurich (Hg.) 2004; zu ideengeschichdichen Aspekten politischer Erziehung bzw. Politischer Bildung vgl. die Beiträge in Dirk Lange (Hg.) 2007; s. außerdem zur Geschichte der politischen Bildung in Westdeutschland nach 1945 z. B. Hermann Giesecke (2000). 102 Die Frage nach der Gewichtung und dem Verhältnis von Politischer Bildung und Demokratie-Lernen/demokratischem Lernen/Demokratiepädagogik zählt zu einer der am häufigsten gegenwärtigen Kontroversen in der Politikdidaktik, wie Kerstin Pohl in ihrem Rückblick auf 17 schriftliche Interviews mit Politikdidaktikerinnen und -didaktikern feststellt (2004, 324). Die von Pohl in diesem Zusammenhang skizzierte Geschichte der Kontroverse (2004, 327fF.) lässt sich z. B. in dem von Wolfgang Beutel und Peter Fauser herausgegebenem Band zur „Demokratiepädagogik" (2007) weiterverfolgen. Für die einen ist „Demokratie-Lernen" eine Aufgabe politischer Bildung (s. z. B. Sander 2007,74; Sander 2005a, 340), für die anderen setzt Demokratie-Lernen viel umfassender an und ist — u. a. vergleichbar mit Konzepten einer civic education — mehr auf das Ganze der Schule bezogen sowie auf Kompetenzen und Handeln angelegt (s. Fauser 2007a, 38; Fauser 2007b, 90), Nach Sander gibt es „keine Demokrade außerhalb von Politik. Deshalb gibt es auch kein Demokratie-Lernen außerhalb der politischen Bildung. Selbstverständlich verstehe ich dabei politische Bildung nicht nur als Unterrichtsfach. Aber der Versuch, eine so genannte „Demokratiepädagogik" neben, an Stelle oder oberhalb der politischen Bildung zu etablieren, ist theoretisch nicht haltbar und führt praktisch zu unnötigen Kontroversen, die jedoch leicht zu einem massiven öffentlichen Konflikt eskalieren können" (2007, 80; vgl. auch Peter Massing 2004). Für Sander konzentriert sich das BLK-Programm „Demokratie lernen und handeln" auf soziales Lernen, wobei die Projekte gar nicht strittig seien: „Das BLK-Programm macht das Richtige unter den falschen Begriffen" (2007, 81). Demgegenüber stellt Peter Fauser fest: „Wir tun etwas Richtiges unter eigenen Begriffen" (2007a, 36). Fauser hält es für einen theoretischen Reduktionismus, wenn man meine, mit Theorien sozialen Lernens ließen sich alle Aspekte von Demokratiepädagogik umfassend und adäquat beschreiben (s. 2007a, 36). Fauser bestreitet auch, dass sich Demokratiepädagogik und hier z. B. das BLK-Programm als Alternative zur politischen Bildung verstehen (s. 2007a, 35). Nach Fauser geht es darum, „in der Schule mehr als bisher über Demokratie zu sprechen, mehr Demokratie zu lernen und mehr für die Demokratie zu arbeiten" (2007a, 29). Vermittelnde Positionen nehmen z. B. Gerhard Himmelmann (2007) und Horst Biedermann (2007) ein. Nach Biedermann sind Politik-Lernen und Demokratie-Lernen „nicht als zwei sich konkurrierende Paradigmen zu betrachten, [...] sondern als zwei einander ergänzende und aufeinander bezogene Teile einer fundierten Konzeption Politischer Bildung" (2007, 21). Auch Himmelmann behandelt Demokratie-Lernen „als einen Ansatz innerhalb der politischen Bildung" und sieht „zwischen „Politik"-Lernen und „Demokratie"Lernen keinen prinzipiellen Gegensatz" (2007, 42), um hieran anschließend allerdings zu fordern, dass „es in Zukunft eine Schwerpunktverlagerung vom verengten „Politik"-Lernen [...] zu einem breiteren und deutlicher hervorgehobenen Demokratie-Lernen geben" sollte (2007, 42). Peter Henkenborg schließlich, um eine letzte Stimme aus der umfassenden Diskussion zu nennen, befurchtet, dass der „vordergründige Streit über politische Bildung durch Schulkultur oder Unterricht" nur verdeckt, „woran die politische Bildung in Deutschland leidet, nämlich daran, dass die „through-Perspektive" im internationalen Vergleich immer noch unterentwickelt ist, während gleichzeitig die „about-Perspektive" [...] oft unprofessionell und unpolitisch unterrichtet wird" (2007, 93). 103 Das mag schon fast tautologisch klingen, systematisch bedacht ist aber - wie schon angesprochen (s. Anm. 99, Kap. III) - auch der Fall denkbar, dass Politik, Demokratie usw. als Themen des Unterrichts selbst höchst undemokratisch vermittelt und als vorgegebene, nicht zu hinterfragende Konzepte gelernt und übernommen

128

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

nen politische Bildungsprozesse aber auch demokratisches Lernen stärken, wenn sich im Fachunterricht - wie immer er auch bezeichnet werden mag 1 0 4 - etwa mit verschiedenen Formen mitbestimmungsorientierten Zusammenlebens, unterschiedlichen Abstimmungsprozeduren oder dem Umgang mit Minderheiten auseinandergesetzt wird. 105 In diesem Fall setzt dann die »politische Bildung« insofern umfassender an, denn »Demokratie« ist nur eines ihrer Teilthemen. Wie beim „entdeckenden Lernen" gibt es im Umfeld von „demokratischem Lernen" und „politischer Bildung" e i n weites Feld von Termini, 106 die alle mehr oder weniger eng miteinander zusammenhängen, wie z. B. „soziales Lernen", „emanzipatorische Pädagogik und Didaktik", „Pädagogik der Anerkennung", „Erziehung zu Mündigkeit", „Menschenrechtserziehung", „Friedenserziehung", „Partizipation bzw. Mitbestimmung in Schule und Unterricht", „Streitschlichtung", „Mediation", „Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit" oder in der englischsprachigen Literatur die Termini „civic education", „service learning", „pluralistic learning", die teilweise auch in deutschsprachige Diskussionen übernommen wurden, 107 oder die schon erörterte „deliberation in education". Liest man die mit „Lernfelder" und „Problemfelder" benannte Liste, die unter dem Titel „Inhaltsfelder der Politischen Bildung" im 3. Band des von Dirk Lange und Volker Reinhardt herausgegebenen Handbuchs für den sozialwissenschaftlichen Unterricht (Reinhardt 2007) behandelt wird, so weitet sich das für politische Bildung zu bedenkende Forschungsfeld um weitere Bereiche, wie etwa moralisches, rechtliches, geographisches ökonomisches, historisches,

werden sollen. Folgt man Wolfgang Sander, nach dem sich drei Denkmuster, nämlich das der Herrschaftslegitimation, der Mission und der Mündigkeit, als „grundsätzlich unterschiedliche Antwortrichtungen auf die Frage, wozu politische Bildung im Sinne einer absichtsvollen Intervention in politische Sozialisationsprozesse gut sein kann" unterscheiden lassen (2005c, 20), dann handelt es sich bei den beiden ersten Grundmustern um vorgabeorientierte Verständnisse, denen „eine implizite Vorstellung von Lernenden als Objekten der Belehrung" gemeinsam ist (2005c, 17). Die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens - vor allem das Kontroversitätsgebot und das Überwältigungsverbot — können Tendenzen in diese Richtung entgegenwirken und sind Ausdruck des dritten Grundmusters, der Mündigkeit (s. Sander 2005c, 18). Setzt man Sanders Überlegung zur Unterscheidung von Grundmustern politischer Bildung in Beziehung zu seiner Ablehnung einer Ablösung politischer Bildung von Demokratiepädagogik, so wird deutlich, dass bei letzterer das Denkmuster der Mission befürchtet werden kann (vgl. dagegen Fauser 2007b, 88). 104 Zur Vielfalt der Bezeichnungen stellt Gerhard Himmelmann fest: „Für das gesellschaftliche Lernfeld zählt man in den 16 Bundesländern inzwischen 23 unterschiedliche Fachbenennungen", wobei hinter „den einzelnen Fachbezeichnungen [ . . . ] - trotz vieler Gemeinsamkeiten - oft auch sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen" stehen (2007, 45, s. auch 62f.). Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) hat in ihrem Entwurf fiir „Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen" (2004) eine einheitliche Bezeichnung vorgeschlagen. In der Grundschule solle die Bezeichnung „Sachunterricht" und in allen folgenden Klassenstufen und Schulformen die Bezeichnung „Politische Bildung" verwendet werden (2004, 12). Die Fachbezeichnung „Politische Bildung" betone „Gegenstandsbereich und Bildungsaufgabe gleichermaßen, ohne dass damit das Fach auf eine einseitige Bindung auf die Politikwissenschaft als alleinige Bezugswissenschaft festgelegt würde" (a. a. O.). 105 Zu einer praktischen Möglichkeit, Abstimmung zum reflexiv-kritischen Gegenstand im Grundschulunterricht zu machen und dabei auch über den Umgang mit „Unterlegenen" nachzudenken, vgl. Kap. IV. 2.3. 106 Inwiefern das folgende sich an der Literatur entlang hangelnde intuitiv zusammengestellte Wortfeld angemessen ist oder nicht, um das Forschungsfeld rund um politische Bildung und demokratisches Lernen abzustekken, ist angesichts der bestehenden Üngeklärtheiten selbst wieder keineswegs eindeutig bestimmbar und auch hier sind unterschiedliche Feldbestimmungen zu berücksichtigen. 107 Vgl. z. B. zum „Service Learning" Anne Sliwka/Susanne Frank (2004) oder Frank/Sliwka (2007); s. zu „citizenship education" bzw. „civic education" vgl. statt anderer den Oberblick von Sliwka 2001.

Aspektiv-spezifische vergleichende E r ö r t e r u n g

129

gender-bezogenes, interkulturelles L e r n e n oder antirassistische B i l d u n g . 1 0 8 Politische Bild u n g bezieht sich d a m i t u m f a s s e n d a u f DifFerenzlinien bzw. S t r u k t u r k a t e g o r i e n vielfalts-/ heterogenitätsbewusster u n d Vielfalt/Heterogenität inkludierende pädagogische

Konzepte.

W e n n unter den Problemfeldern politischer B i l d u n g ein Kapitel d e m genetischen Lernen (Andreas Petrik 2 0 0 7 ) g e w i d m e t wird, so zeigt sich hier explizit eine Q u e r v e r b i n d u n g z u m entdeckenden Lernen u n d d e m zu ihm zu bedenkenden Forschungsfeld. Ein

Zusammen-

h a n g z w i s c h e n „ e n t d e c k e n d e m L e r n e n " u n d „ d e m o k r a t i s c h e m L e r n e n " bzw.

„politischer

B i l d u n g " w i r d z. B . a u c h i n d e r f ü r a l l e S c h u l s t u f e n g e l t e n d e n R a h m e n v o r g a b e f ü r P o l i t i s c h e B i l d u n g in N R W herausgestellt: „ D e r Politik-Unterricht b e n ö t i g t z u m A u f b a u der in A b s c h n i t t 2 . 2 f o r m u l i e r t e n K o m p e t e n z e n ' 1 0 9 ' m ö g l i c h s t viele P h a s e n e n t d e c k e n d e n L e r n e n s , er m u s s z u m E r k u n d e n u n d Reflektieren herausf o r d e r n u n d R a u m fiir unterschiedliche F o r m e n selbstständiger K o o p e r a t i o n u n d K o m m u n i k a tion d e r L e r n e n d e n bieten. In einer v o n Selbsttätigkeit g e p r ä g t e n L e r n k u l t u r in der Politischen B i l d u n g stehen die Lernenden

im Mittelpunkt

des Unterrichts-,

sie w e r d e n bei der Unterrichtsent-

w i c k l u n g beteiligt u n d reflektieren g e m e i n s a m m i t d e n L e h r e n d e n die Vorgehensweisen u n d die d a d u r c h erzielten E r g e b n i s s e i m U n t e r r i c h t " ( R a h m e n v o r g a b e Politische B i l d u n g N R W 2 0 0 1 , 26; Kursivsetzung im Original).110 Eine weitere, i m m e r wieder angesprochene Q u e r v e r b i n d u n g besteht zwischen

politischer

B i l d u n g u n d e i n e m k o n s t r u k t i v e n U m g a n g m i t Fehlern. S o legt e t w a Sibylle

Reinhardt

108 Vgl. hierzu ganz ähnlich die inhaltsbezogenen Aufgabenfelder politischer Bildung, die im >Handbuch politische Bildung< erörtert werden (Wolfgang Sander (Hg.) 2005b). 109 Gemeint sind politische Urteilskompetenzen, politische Handlungskompetenzen und methodische Kompetenzen (Rahmenvorgabe Politische Bildung N R W 2001, 16ff.) 110 Z u m forschenden Lehren und Lernen in der Politischen Bildung vgl. auch Joachim Detjen (2005) und Klaus Moegling (2007). Nach Moegling kann forschendes Lehren und Lernen als eine „geplante und strategische Vorgehensweise und Methodik" eingesetzt werden, welche „einer aktionistisch-unreflektierten Suchbewegung vorzubeugen [versucht; B. B.], die an der Oberfläche bleibt und keine tiefergehende gedankliche Durchdringung erfahrt" (2007, 99). Forschendes Lehren und Lernen ist fiir Moegling in allen Schulstufen möglich, wobei „die didaktisch-methodische Richtung vom Entdecken (Primarstufe), über das Erforschen (Sekundarstufe I) zum systematischen schulergemäßen Forschen in der Sekundarstufe II" reicht (2007,98f.; zum Zusammenhang von selbstständigem (i. S. von entdeckendem) Lernen und demokratischen Fähigkeiten vgl. auch die Überlegungen von Moegling 2004, s. Anm. 98, Kap. III). Einen engen Zusammenhang zwischen entdeckendem/forschendem und demokratischem Lernen/demokratischer Erziehung hebt auch Yaakov Hecht (2002) hervor. Für ihn zählt die Möglichkeit des pluralistic learning - neben der Organisation der Schule als eine democratic Community mit dialogical relationships - zum Herzstück demokratischer Erziehung. Dabei zeichnet sich pluralistic learning nicht nur dadurch aus, dass die Schülerinnen und Schüler darüber entscheiden, was, wie und wann sie lernen bzw. studieren wollen, sondern auch dadurch, dass sie lernen, gefundene Antworten auf Fragen erneut in Zweifel zu ziehen, so dass sie ihr jeweiliges vorläufiges Wissen durch immer neue Fragen und neue Antworten spiralförmig erweitern („Spiral of the pluralistic learning"). Besonders interessant ist in Hechts Konzept dabei, dass diese offene Einstellung dazu fuhren soll, andere Auffassungen als die eigene als „opportunities for growth" zu betrachten (2002, Seite 16 meines pdf-Ausdrucks, die Seiten sind leider nicht nummeriert) und sich nicht durch sie bedroht zu fühlen. Hier besteht eine große Nähe zum Konzept einer Erwägungsorientierung, bei der individuelles entdeckendes/forschendes Lernen durch die ErwägungsGeltungsbedingung dazu fuhrt, sich aktiv fiir andere Auffassungen zu interessieren und sie zu nutzen, um sich immer weiter zu verbessern, womit auch die Brücke vom vereinzelten individuellen zum gemeinsamen Lernen und Forschen geschlagen wird (s. dazu zusammenfassend Kap. III. 4.2.3). Dazu, wie wichtig eine „schüleraktive Lernkultur" statt eines Frontalunterrichts ist, siehe Peter Henkenborg 2002, 120ff; auch Henkenborg 2007, zusammenfassend 109. Nach Henkenborg leidet Frontalunterricht besonders daran, dass es keine „Erfindungsaufgaben", also offene Aufgaben hinsichdich Lösungswegen und/oder Lösungsergebnissen, gibt und das „Trichter-Modell" mit der sich ständig „wiederholenden Trias von Lehrerfrage, Schülerantwort und Lehrerbewertung" dominiert (2002, 121).

130

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

an acht illusionären Alltagsannahmen - wie z. B. der Illusion von Homogenität oder der Illusion, dass die Mehrheit immer Recht habe - dar, inwiefern Fehlverstehen geradezu als eine Bedingung politischen Lernens zu beachten u n d zu nutzen ist (2005a, 47ff.). Reinhardt k o m m t zu dem Schluss: „Wenn wir ihre Verstehensprobleme [die der Schülerinnen und Schüler; B. B.] besser verstehen, können wir ihnen eher helfen, sie konstruktiv zu nutzen - aus Fehlern zu lernen ist subjektnahes Lernen. [...] Es wäre ein Lehr-Kurzschluss, den mitgebrachten und vielleicht „bewähnen", womöglich gegen Irritationen verteidigten Vorstellungen die „richtige" Lehre unvermittelt entgegenzustellen - sie hätte kaum eine Chance, einen Konzeptwechsel einzuleiten. Die Fehlvorstellungen dürfen nicht vermieden (umgangen) werden, sondern sie müssen bearbeitet werden - man muss da durch! [...] Es gilt solche Lernprozesse zu arrangieren, die auch den Fehlvorstellungen Raum geben und die die Kompetenzen erweitern helfen" (2005a, 52f.). m 4.3.2 Relevanz demokratischen Lernens für pädagogische inkludierende Konzepte sowie Grundsätze für einen reflexiv-kritischen U m g a n g mit Vielfalt in Konzepten politischer Bildung und einer „deliberation in education" Entsprechend den bisherigen Ausfuhrungen, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Vielfalt inkludierenden pädagogischen Konzepten und demokratischem Lernen, der als Ausgang fiir eine Erörterung der Potenziale einer Erwägungsorientierung zusammengefasst wird. W e n n dabei Vielfalt inkludierende pädagogische Konzepte Konzepten politischer Bild u n g u n d einer „deliberation in education" gegenübergestellt werden, so soll damit nicht die vorangegangene Verortung von Konzepten politischer Bildung u n d einer „deliberation in education" in der „Forschungslandschaft pädagogischer, erziehungswissenschaftlicher u n d didaktischer Konzepte fiir einen inkludierenden Umgang mit Vielfalt" (s. Kap. III. 3) aufgehoben werden. Die Gegenüberstellung erfolgt, u m den besonderen Beitrag herauszuarbeiten, den Konzepte politischer Bildung u n d einer „deliberation in education" für den Aspekt des demokratischen Lernens in Vielfalt inkludierenden pädagogischen Konzepten leisten. Diese hervorgehobene Herausarbeitung ist erforderlich, weil eine wechselseitige Auseinandersetzung zwischen Vertretenden von Konzepten aus dem Bereich „Heterogenität"/„Vielfalt in Schule und Unterricht", „mehrperspektivischer Didaktik" usw. mit Vertretenden aus dem Bereich „politischer Bildung" u n d einer „deliberation in education" kaum stattfindet. 1 1 2 Ziel von pädagogischen Vielfalt inkludierenden Konzepten im allgemeinen und Konzepten politischer Bildung oder auch einer „deliberation in education" im besonderen sind zur Selbstaufklärung fähige mündige Bürgerinnen u n d Bürger, die individuell wie sozial kom-

111 S. ganz ähnlich auch Reinhardt 2005b. Auch Henkenborg stellt eine Querverbindung zwischen politischer Bildung und einem anderen Umgang mit Fehlern her (2002, 121). 112 Dies war ein wesentlicher Grund dafür, in der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik eine Diskussionseinheit zu initiieren, mit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, den Politik- und Sozialwissenschaften sowie der Philosophie über die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung für Bildung in eine Auseinandersetzung gebracht werden sollten (Hauptartikel von Wolfgang Sander mit anschließenden 33 Kritiken und einer Replik des Autors in EWE 20(2009)2).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

131

petent mit jeweiliger Vielfalt umzugehen vermögen (s. o. insbesondere das Ende von Kap. III. 2.1 und Kap. III. 2.2). Dabei betonen pädagogische inkludierende Konzepte, die sich mehr oder weniger explizit dem demokratischen Prinzip der egalitären Differenz im Sinne von Prengel verpflichtet fühlen, wie wichtig es ist, dass Schülerinnen und Schüler die Subjektivität und Relativität ihrer Auffassungen und Vorgehensweisen reflektieren lernen und im Wissen um ihre jeweiligen Begrenzungen nicht nur tolerant und neugierig im Umgang mit anderen sind, sondern diese Art von reflexiv kritischer Perspektivenerweiterung auch zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihres Wissens nutzen. Konzepte der politischen Bildung und einer „deliberation in education" zielen insbesondere auf zu fördernde reflexiv kritische Urteils- und Handlungsfähigkeiten hinsichtlich individueller wie gemeinsamer Entscheidungen, wobei ein nicht-exkludierender Umgang mit jeweiliger Vielfalt an Positionen verfolgt wird, für den entsprechende methodische Kompetenzen zu entwickeln sind. 113 Stark vereinfacht kann man sagen, dass Konzepte, die ihren Ausgang vom Prinzip der egalitären Differenz nehmen, sich auf die interpersonellen und an Anerkennung 1 1 4 orientierten Beziehungen zwischen den Verschiedenen mit ihren jeweiligen Perspektiven konzentrieren, was Folgen ftir den Umgang mit den Sachen (den Lerninhalten) und z. B. ihre Erschließung auf verschiedenen Wegen sowie ihre Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven hat. Konzepte, die ihren Ausgang bei der Frage nach eigenständigen kompetenten Urteilen (Entscheidungen) 115 und klärungsforderlichen Diskussionen 116 - angesichts der Vielfalt verschiedener Perspektiven auf jeweilige Sachverhalte - nehmen, gelangen hingegen ausgehend von den Sachen und der Berücksichtigung von (Vertreterinnen und Vertretern von)

113 Dazu, dass Konzepte politischer Bildung ihren Ausgang auch eher von den interpersonellen Beziehungen nehmen können, vgl. statt anderer Peter Henkenborg 2007, s. auch die folgende Anmerkung. 114 So berücksichtigt z. B. Annedore Prengel in ihren 17 Thesen für eine Pädagogik der Vielfalt die von Axel Honneth (1994) aufgestellten Dimensionen der Anerkennung, nämlich „die Dimension der Anerkennung der einzelnen Person in intersubjektiven Beziehungen, die Dimension der Anerkennung gleicher Rechte, hier auch gleicher institutioneller Zugänge und die Dimension der Anerkennung der Zugehörigkeit zu (sub-)kulturellen Gemeinschaften" (Prengel 1995, 185). Zu einem Konzept politischer Bildung, welches „Demokratie-Lernen als Kultur der Anerkennung" als eine Herausforderung und Aufgabe politischer Bildung betrachtet vgl. Peter Henkenborg (2007, 87). Henkenborg unterscheidet Formen der Anerkennung, wie sie sich seines Erachtens aus Ergebnissen „der Schulforschung, der Forschungen zur moralischen Entwicklung, aber auch Forschungen in der politischen Bildung" entnehmen lassen (2007, 99f. und 107). 115 Im Rahmen dieser Arbeit kann ich nicht vergleichend auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Termini „Urteil" und „Entscheidung" innerhalb der politischen Bildung und im Konzept einer Erwägungsorientierung eingehen. Wie in Kapitel II. 3 erläutert, wird vom Konzept einer Erwägungsorientierung aus gesehen, „Entscheidung" als das Erwägen von mindestens einer Möglichkeit, welche positiv oder negativ bewertet werden mag, verstanden; Entscheidungen können sich auf „Urteilen" oder „Tätigkeiten" beziehen („Urteilen" und „Tätigkeiten" werden als „Handlungen" verstanden). In der Literatur zur politischen Bildung wird der Terminus „Entscheidung" von Einigen eher für das Ergebnis eines Erwägungs- und Bewertungsprozesses genommen (vgl. Peter Weinbrenner 1997, 87, 91). Bernhard Sutor unterscheidet zwischen den beobachtenden Bürgerinnen und Bürgern, die „ein Urteil über Lösungsmöglichkeiten" treffen, und den „politischen Akteuren", die eine Entscheidung treffen: „Situationsanalyse und Erörterung von Handlungsmöglichkeiten münden beim beobachtenden Bürger in ein Urteil über Lösungsmöglichkeiten, bei den politischen Akteuren in eine Entscheidung. [...] In der Regel setzt der formelle Akt des Entscheidens im zuständigen Organ nur den Schlußpunkt in einem längeren und lange Zeit informell verlaufenden Prozeß ..." (1997, 104). Für die folgenden Erörterungen ist die Beachtung solcher unterschiedlicher Weisen der Verwendung der Termini „Entscheidung" und „Urteil" insofern irrelevant, als beide Male das Erwägen von Alternativen zu beachten ist, über welches man zu einer Lösung gelangen möchte.

132

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

verschiedenen Perspektiven und alternativen Lösungsmöglichkeiten in Entscheidungen (Urteilen) auf diesem Wege zur Frage des interpersonellen Umgangs. Die Fähigkeit des kritisch-reflexiven Perspektivenwechsels, welche für Vielfalt inkludierende pädagogische Konzepte so grundlegend ist, wird in Konzepten politischer Bildung und einer „deliberation in education" in besonderer Weise mit Entscheidungs- bzw. Urteilsfähigkeiten und methodischen Kompetenzen in Verbindung gebracht, was eine Nähe zum Konzept einer Erwägungsorientierung annehmen lässt. Stellvertretend für Befürwortende einer „deliberation in education" sei hier der oben schon zitierte Jack Crittenden mit einer weiteren Einschätzung genannt: „It is the judgement behind moral values and actions that we must educate. To do so, we must teach the skills of critical thinking, which serve as both the skills of deliberation and the foundation of autonomy" (2002, 119; kursiv von B. B.) wobei für ihn „critical thinking" nur ein anderer Weg ist, „to describe deliberation" (2002, 120). Mit Blick auf die soziale Dimension und gemeinsames Erwägen und Treffen von Entscheidungen ist aus erwägungsorientierter Perspektive besonders beachtenswert, dass explizit niemand, d. h. keine Position, aus einer deliberativen Diskussion ausgeschlossen werden soll und es in Abgrenzung zu Auseinandersetzungen in Debatten nicht um die Frage von „Sieg oder Niederlage", sondern um „Verstehen" geht (s. o. Kap. III. 2.2, insbesondere die Zitate von Dillon (1994, 11), Brann (1994, 257) und Crittenden 2002, 172). In Konzepten politischer Bildung im deutschsprachigen Raum hat Perspektivität vor allem als Kontroversität bei der Findung eigener gut begründbarer Urteile eine zentrale Funktion. 117 Besonders deutlich lässt sich dies an den bereits erwähnten Prinzipien des sogenannten Beutelsbacher Konsens festmachen, die sich als leitende Grundsätze bei der Unterrichtsgestaltung auf alle drei Ecken des didaktischen Dreiecks beziehen und z. B. Grundlage der Rahmenvorgabe Politische Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Rahmenvorgabe 2001, 26) und des Vorschlags der GPJE flir nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung sind (2004, 12; s. o. Kap. III. 2.2, Anm. 22):

116 Siehe oben die bereits zitierten Überlegungen in Konzepten einer „deliberation in education", wo z. B. von Jack Crittenden betont wird, dass im Zentrum „of democratic dialogue and autonomous choosing" Erwägungskompetenzen (i. S. von kritischem Denken) stehen (2002, 173: s. Kap. III. 2.2). 117 Auch wenn der Name „Kontroversitätsgebot" und der Bezug auf Entscheidungen es nahelegen mögen, dass es dabei häufig um das Wahrnehmen, Erwägen und Bewerten von einander ausschließenden Lösungsmöglichkeiten für ein Problem geht, was in gewisser Weise als Ausschluss von Perspektiven gedeutet werden kann, ist dieses Prinzip m. E. umfassender angelegt und nicht nur auf disjunkte, sondern auch auf mereologische Perspektivität zu beziehen. Überall dort, wo Sachverhalte und Fragen aus verschiedenen Perspektiven bedacht und erfasst werden sollen, können dies auch einander ergänzende Perspektiven sein. Kontrovers mögen dann allerdings jedoch auch wieder disjunkte Auffassungen darüber sein, welche Perspektiven mereologisch zusammengehören; d. h. es konkurrieren möglicherweise alternative Perspektivenzusammenstellungen miteinander.

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

133

Lernende: Analysefdhigkeit und Interessenlage der Lernenden (3. Grundprinzip politischer Bildung) „Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysierensowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was aber eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist" (Wehling 1977, 180).

Lern-/Lehrgegenstand: Kontroversitätsgebot (2. Grundprinzip politischer Bildung) „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten [1. Grundprinzip; B. B.] aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten" (Wehling 1977, 179).

Lehrende: Überwältigungs-flndoktrinationsverbot (1. Grundprinzip politischer Bildung) „Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern [...] Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers" (Wehling 1977, 179).

Abb. 16: Verortung der drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsens im Didaktischen Dreieck (zitiert nach der Formulierung von Hans-Georg Wehling 1977, 179f.).118

118 Will man sich anstelle einer Orientierung an Verboten und Geboten lieber an eine Positiv-Formulierung halten, so mag man sich von dem Vorschlag von Siegfried Schiele anregen lassen, nach dem das didaktische Dreieck wie folgt zu konzipieren wäre: Lernende: Analysefdhigkeit und Interessenlage der Lernenden (3. Grundprinzip politischer Bildung) „Operationale Fähigkeiten sind wichtig auf dem Weg zu einem selbständigen Urteil. Sie werden auch benötigt, um ftir die eigenen Interessen und die Interessen der Gesamtheit einzutreten" (Schiele 1996, 10).

Politische XJrteihkompetenzen^ Politische Handlungskompetenzen Methodische Kompetenzen Lern-/Lehrgegenstand: Kontroversitätsgebot (2. Grundprinzip politischer Bildung)

Lehrende: Überwältigungs-ZIndoktrinationsverbot (1. Grundprinzip politischer Bildung)

„Ein selbständiges Urteil gewinnt man bei der offenen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und Standpunkten im Unterricht. Die Kontroverse ist das Salz politischer Bildung" (Schiele 1996, 10).

„Die Schülerinnen und Schüler gewinnen im politischen Unterricht ein selbständiges Urteil. So sind sie vor Manipulation und Indoktrination gefeit" (Schiele 1996, 10).

Verortung der Prinzipien des Beutelsbacher Konsens in ihrer „positiven "Formulierung im Didaktischen Dreieck von Siegfried Schiele (1996, 10).

134

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Wie oben schon angesprochen stellt sich angesichts des entfalteten, vor allem auch methodisch orientierten Umgangs mit Vielfalt in Konzepten politischer Bildung (einschließlich einer „deliberation in education") die Frage, worin der Mehrwert und das Potenzial einer Erwägungsorientierung überhaupt noch liegen könne und ob dies nicht bereits hinreichend berücksichtigt sei. Für die Erörterung dieser Frage soll im Folgenden auf Herausforderungen der politischen Bildung und Vorschläge zu deren Bewältigung eingegangen werden. 4.3.3 Herausforderungen demokratischen Lernens und Potenziale einer Erwägungsorientierung 4.3.3.1 Herausforderungen und Lern-/Lehrfallen Die Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses und auch die mehr oder weniger mit ihm zusammenhängenden weiteren Orientierungen sind zwar sehr grundsätzlich, aber auch abstrakt. Deshalb wurde und wird immer wieder die Frage gestellt, ob der Beutelsbacher Konsens sowie Orientierungen, die z. B. für Konzepte einer „deliberation in education" relevant sind, als Orientierungen für gelingende politische Bildungsprozesse ausreichen und inwiefern diese Prinzipien adäquat zu konkretisieren sind. Diese Problemlage lässt sich hinsichtlich der Gestaltungen von politischen Bildungsprozessen und der Förderungen demokratischen Lernens ausarbeiten. Peter Henkenborg hat in seiner Auseinandersetzung mit didaktischen Prinzipien politischer Bildung bzw. eines Demokratie-Lernens elf potenzielle Lernfallen identifiziert (2007, 108f.). Henkenborg ordnet diese elf potenziellen Lernfallen drei didaktischen Prinzipien zu - nämInwiefern die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens historische Vorläufer insbesondere unter denjenigen Pädagogiken haben, die viele mit dem Terminus „Reformpädagogik" zusammenfassen, wäre ein umfassendes eigenes Forschungsprojekt. Exemplarisch sei hier nur auf die Hauslehrerschule von Berthold Otto verwiesen, der nach Dietrich Benner und Herwart Kemper mit seinen Überlegungen zur Gesinnungsfreiheit und Toleranz von Lehrerinnen bzw. Lehrern und Schülerinnen bzw. Schülern den Beutelsbacher Konsens vorweggenommen habe (Benner/Kemper 2009, 185). Otto schrieb 1919 einerseits, dass ein einmal zum Unterricht zugelassener Lehrer „niemals gezwungen werden" darf, „irgendwelche Gesinnungen zu heucheln, die er nicht hat. Er darf niemals gezwungen werden, aus seinen Überzeugungen ein Hehl zu machen, er muß sich jederzeit frei zu ihnen bekennen dürfen" (Otto 1919, zitiert nach der Quellentext-Sammlung von Benner/Kemper (Hg.) 2001, 184). Andererseits musste der Lehrer sich nach Otto „vor sich selbst zur unbedingten Toleranz gegen alle anderen religiösen Überzeugungen verpflichten. Er muß auf das Strengste bemüht sein, diese Toleranz niemals zu verletzen, und wo er es doch getan hat, die Verletzung so rasch wie möglich gutzumachen. [...] Und sobald man nun gemerkt hat, daß man durch rücksichtsloses Aussprechen der eigenen Überzeugung auf der anderen Seite angestoßen hat, dann muß man sich für die nächsten Augenblicke bemühen, alles das zu überlegen, was gegen die eigene Überzeugung und für die durch den unvorsichtigen Ausspruch verletzte entgegengesetzte spricht" (a. a. O.). Was Otto hier für den Umgang mit religiösen Überzeugungen formulierte, lässt sich verallgemeinern und ist dann dem Beutelsbacher Kontroversitätsgebot verwandt, welches es trotz oder besser sogar, wegen — eigener Überzeugungen den Schülerinnen und Schülern ermöglichen soll, eigene andere Positionen beziehen zu können. Hier wären allerdings genauere Analysen erforderlich, denn in dem Zitat sieht es zunächst so aus, als ob das Kontroversitätsgebot mehr ein Notfall- bzw. Reparaturgebot, denn ein wünschenswertes Unterrichtsprinzip ist, wenn es dann eingesetzt werden soll, nachdem man als Lehrperson die Schülerinnen und Schüler rücksichtslos mit der eigenen Meinung „angestoßen" hat. Insofern aber Ottos von den Schülern und Schülerinnen inhaltlich mitbestimmten Gesamtunterricht von der Kontroversität der Standpunkte der Schülerinnen und Schüler lebte und von hier ausgehend zu Toleranz erziehen sollte (z. B. Otto 1913, 13 5; zitiert nach einer v o n G e r n o t B a r t h u n d Joachim Henseler herausgegebenen Schriftensammlung (2008)), spricht vieles dafür, dass man das Kontroversitätsgebot bei Otto doch als ein Unterrichtsprinzip deuten darf.

Aspektiv-spezifische vergleichende E r ö r t e r u n g

lieh d e n e n des kategorialen, m ä e u t i s c h e n u n d selbsttätigen L e r n e n s

135

d i e er als k o n s t i t u t i v

für eine Politikdidaktik auffasst u n d die sichern sollen, „dass Lehr- u n d Lernprozesse Sinne kognitiver A n e r k e n n u n g strukturiert sind" ( 2 0 0 7 ,

Didaktische

im

101):

Bedeutung

Prinzipien/ Lernfellen Kategoriales Lernen

Demokratie-Lernen durch die exemplarische Auseinandersetzung mit kategorialen Schlüsselfragen

Stofffalle

wenn im Politikunterricht das Politische bei der Stoffentwicklung hinter den Sachinformationen verschwindet

Wissensfalle

wenn im Politikunterricht nicht intelligentes Deutungswissen vermittelt wird, sondern eine Anhäufung von trägem Faktenwissen

Mäeutisches Lernen

Demokratie-Lernen durch die themenorientierte Verhandlung von individuellen Deutungsmustem

Programmfalle

wenn der Politikunterricht durch ein unflexibles Modell kalkulierten zweckrationalen Handelns der Lehrerinnen und Lehrer dominiert wird und kein Raum für Flexibilität, Offenheit, Spontanes, Überraschungen etc. bleibt

Problemfalle

wenn im Politikunterricht kein Problembewusstsein durch eine Konfrontation mit unerwarteten Konstellationen oder Folgen entsteht, durch die eingefahrene Gewohnheiten und Überzeugungen in Frage gestellt und neue „eigentätige Lösungsversuche" ermöglicht werden

Deutungsfalle

wenn im Politikunterricht die Interessen, Bedürfnisse, Deutungsmuster von Schülerinnen und Schülern keinen Raum und Ort finden

Imaginationsfalle

wenn im Politikunterricht bei Schülerinnen und Schülern keine Vorstellungsbilder über die Gegenstände des Unterrichts entstehen können, sondern abstrakte Stoffe, Begriffe etc. vermittelt werden

Vermitdungsfalle

wenn im Politikunterricht bei der Variation und Selektion der Themen des Unterrichts die Aneignungsperspektiven von Schülerinnen und Schülern nicht berücksichtigt werden, sondern die Vermitdungsperspektiven der Lehrerinnen und Lehrer dominieren

Überwältigungsfalle

wenn im Politikunterricht das, was in der Gesellschaft, der Politik und Wissenschaft kontrovers ist, nicht kontrovers behandelt wird und so Differenzerfahrungen verhindert werden

Selbsttätiges Lernen

Demokratie-Lernen durch selbsttätiges D e n k e n u n d H a n d e l n

Lernkulturfalle

wenn der Politikunterricht durch Frontalunterricht dominiert wird und kein Raum für schüleraktive und wissenschaftspropädeutische Methoden bleibt

Dramaturgiefalle

wenn im Politikunterricht Zeit, Stoff und Lehrer-Schüler-Aktivitäten nicht durch sinnvolle fachdidaktische und lernpsychologische Lernwege strukturiert sind

Trichterfalle

wenn im Politikunterricht Wissen durch ein kurzschrittiges Frage-Antwort-Muster erzeugt werden soll, ohne eine umfassende Problemsicht und ein reflektiertes Lösungshandeln zu ermöglichen

A b b . 1 7 : D i d a k t i s c h e Prinzipien u n d L e r n f a l l e n ( e n t n o m m e n aus Peter H e n k e n b o r g 2 0 0 7 , 1 0 8 f . ) D i e Tabelle v o n H e n k e n b o r g wirft eine Fülle v o n Fragen auf: W i e h ä n g e n die Lernfallen, die aus der Sicht der Lehrenden zugleich auch i m m e r Lehrfallen sind, untereinander zus a m m e n ? A u f d e n ersten B l i c k s c h e i n e n z. B . W i s s e n s f a l l e u n d Trichterfalle ( b e i d e

Male

136

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

geht es um die Qualität des Wissens) oder Deutungsfalle und Vermittlungsfalle (beide Male geht es um die Perspektiven, Interessen usw. der Lernenden) eng zusammenzuhängen. Wie ist die Relevanz der einzelnen Lernfallen zu gewichten und wie folgenreich sind sie in bestimmten Kombinationen? Sind z. B. die Trichter- und Vermittlungsfalle weniger problematisch, wenn das Kontroversitätsgebot beachtet und die Überwältigungsfalle vermieden wird?119 Wie könnte man die jeweiligen Merkmale (Dimensionen) der Lernfallen kombinatorisch so aufschlüsseln, dass man hinsichtlich der bedachten Merkmale (Dimensionen) alle möglichen Lernfallen erschließen würde? Als eine Vorbereitung zur Beantwortung dieser Frage wäre es zunächst hilfreich, die Liste möglicher Lernfallen unter Einbeziehung weiterer Literatur sowie möglichst beispielsorientiert zu ergänzen. Zu solchen Ergänzungen könnten etwa folgende Stichworte gehören: „Relativismusfalle", „Resignations-ZRückzugsfalle", „Harmonisierungsfalle", „Radikalisierungsfalle", „Pseudoneutralitätsfalle", „Betroffenheits-/ Selbstüberwältigungsfalle" oder „Egoismusfalle". Diese Stichworte deuten Lern- bzw. Lehrfallen an, die alle aus dem Versuch der Beachtung der Prinzipien des Beutelsbacher Konsens resultieren: Wird Kontroversität thematisch, so kann dies, wenn es bei einer bloßen „ A d d i t i o n von Meinungen" bleibt und „die Frage der Gewichtung und Repräsentativität von Argumenten ausgeklammert wird", in einen beliebigen „Diskutier- bzw. „Laberunterricht"" münden (Weißeno 1996, 111), was man die „Relativismusfalle" nennen könnte. Diese Problemlage ist iterativ zu bedenken und auf die Kriterien zur Einschätzung von Gewichtung und Repräsentativität von Argumenten zu beziehen, denn auch hier gilt es, mit unterschiedlichen Meinungen nicht bloß addierend umzugehen: „Es muß berücksichtigt werden, daß es um das Wertsystem einer Gesellschaft selbst wiederum Kontroversen gibt, die nicht [...] im Sinne der Praktischen Philosophie auflösbar sind" (Weißeno 1996, 119). Kontroversität birgt die Herausforderung, wie Hansjörg Biener es für den multiperspektivischen Geschichtsunterricht formuliert hat, „dass die Schülerinnen und Schüler nicht vor der Vielfalt kapitulieren, sondern sich tatsächlich der Aufgabe der eigenen Urteilsbildung stellen" (2007, 72). Misslingt dies, so kann es zu einer resignativen Haltung und einem Rückzug kommen, was man als „Resignations-" bzw. „Rückzugsfalle" bezeichnen könnte. Ein Rückzug aus der Kontroversität wiederum kann darin bestehen, die Kontroverse zu harmonisieren: .Anstatt die Kontroversen inhaltlich auszuhalten und als plurales Deutungsmuster, das jedem am Unterricht Beteiligten eine begründete Entscheidung für die eine oder andere Alternative ermöglichen kann, zu begreifen, einigt man sich im Unterricht vorschnell darauf, daß alle ein wenig Recht haben" (Weißeno 1996, 116, auch 123).

Statt in die „Harmonisierungsfalle" mag ein Rückzug aus der Kontroversität auch in die „Radikalisierungsfalle" fuhren, in dem Sinne, dass die erlebte Hilflosigkeit Zuflucht suchen lässt bei dogmatischen und fundamentalistischen Positionen, von denen man sich Sicherheit erhofft. Die „Pseudoneutralitätsfalle", die darin besteht, dass Lehrende es vermeiden, explizit Position zu beziehen, mag mit dem Versuch der Harmonisierung von Kontroversen 119 Vgl. hierzu auch die von John Stuart Mill entfalteten Überlegungen, warum es selbst bei sicherem (gewissem) Wissen wichtig wäre, dass seine Aneignung bzw. seine Weitergabe in Auseinandersetzung mit Alternativen stattfände (s. Kap. II. 3).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

137

einhergehen, sie resultiert vor allem aber auch aus dem Versuch, das Überwältigungsverbot zu beachten. Dadurch jedoch machen sich Lehrerinnen u n d Lehrer selbst unpolitisch, was problematisch ist, wenn das Lernziel Demokratiefähigkeit mit der Leitidee von mündigen politischen Bürgerinnen u n d Bürgern verfolgt wird; Lehrende laufen dann Gefahr, sich „in der Rolle des ,Politik'-Lehrers" unglaubwürdig zu machen (Reinhardt 1989, 19). Auf eine weitere Lernfalle, die aus dem dritten Beutelsbacher Prinzip resultieren kann u n d die m a n „Betroffenheit!-" bzw. „Selbstüberwältigungsfalle" nennen könnte, macht z. B. Sibylle Reinhardt aufmerksam, wenn sie beschreibt, wie ein unreflektierter, nicht distanzfähiger Umgang mit eigener Betroffenheit darin hindern kann, sich auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Kontroversen einzulassen (1995, 153). Reinhardt schildert hier an einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen zum § 218, wo sich Schülerinnen u n d Schüler erst auf die Frage nach möglichen Erklärungen für geschlechtsspezifische Unterschiede in ihren Positionen einließen, als sie dies aus der Position von Soziologinnen u n d Soziologen zu erklären versuchen sollten. Mit einem etwas anderen Akzent könnte man die Betroffenheits- bzw. Selbstüberwältigungsfalle auch als „Egoismusfalle" (Herbert Schneider spricht von „privatistischem Individualismus" (1987, 44)) bezeichnen, ein Problem, das in Verbindung mit der Auslegung des dritten Beutelsbacher Prinzips häufiger diskutiert wird. Während Autoren wie z. B. Herbert Schneider deshalb für eine Umformulierung des dritten Prinzips plädieren (1987), sehen andere wie z. B. Siegfried Schiele mit Verweis auf eine kontextbezogene Analyse, die das dritte Prinzip in engem Zusammenhang mit den beiden anderen Prinzipien auslegt, keinen Handlungsbedarf, die Formulierung des Prinzips zu verändern (1996, 9, s. auch Wehling 1987, 200). Insofern sich Lernfallen „im alltäglichen Unterricht immer wieder" durchsetzen (Henkenborg 2007, 102), ist zu fragen, unter welchen Bedingungen diese Lernfallen auftreten. W i e können Lehrende u n d Lernende die Herausforderungen meistern, nicht oder wenigstens nicht so häufig in solche Lern- und Lehrfallen zu tappen? W e n n Walter Gagel vermutet, dass das Kontroversitätsgebot wahrscheinlich „ein regelrechtes Training in der Lehrerausbildung u n d -fortbildung" verlangt (1996, 239), dann scheint dies vor allem auch in Richtung einer methodischen Qualifikation im Umgang mit Vielfalt und den skizzierten Herausforderungen u n d Lernfallen zu weisen, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird.

4.3.3.2 Umgang mit Herausforderungen und Lern-/Lehrfallen Die folgenden Erörterungen konzentrieren sich auf das Kontroversitätsgebot, u m der Ähnlichkeit mit der Erwägungs-Geltungsbedingung (als einem Kernpunkt des Konzeptes einer Erwägungsorientierung) nachzugehen. Diese Ähnlichkeit besteht darin, dass sowohl beim Kontroversitätsgebot als auch bei der Erwägungs-Geltungsbedingung alternative Lösungsmöglichkeiten als relevant erachtet werden, u m selbstbestimmt zu entscheiden u n d vor allem u m zu gut begründeten Lösungssetzungen zu gelangen. U m auszuloten, inwiefern das Kontroversitätsgebot nicht bereits alle Intentionen des Konzeptes einer Erwägungsorientierung abdeckt und dieses damit überflüssig macht, wird zunächst die ideale Umsetzung des Kontroversitätsgebotes einschließlich von Vorschlägen zum Umgang mit Herausforde-

138

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

rungen, vor die dieses Gebot Lehrende bei der Gestaltung von Unterricht stellt, zusammengefasst. Umsetzungsideal sowie Vorschläge für eine gelingende Umsetzung werden dann mit dem Konzept einer Erwägungsorientierung verglichen, um herauszuarbeiten, worin sich beide entgegen einer Ausgangsvermutung dann doch unterscheiden. Das Umsetzungsideal des Kontroversitätsgebotes lässt sich mit Blick auf die bislang erfolgten Ausführungen (s. auch Kap. III. 2.2) folgendermaßen zusammenfassend beschreiben: Für die Lehrenden ist das Kontroversitätsgebot vor allem eine Aufforderung zur Vermeidung der Überwältigung der Lernenden. Ihre Aufgabe besteht darin dafür zu sorgen, dass jeweilige Unterrichtsthemen hinsichtlich unterschiedlicher Positionen, Perspektiven, Argumentationen usw. in angemessener Weise erschlossen werden. Eine gelingende Beachtung des Gebotes soll es den Lehrenden dabei ermöglichen, eigene Positionen offen zu legen und zu vertreten, ohne dass dies zu einer überwältigenden Vorgabe für die Lernenden wird. Für die Lernenden bedeutet das Kontroversitätsgebot, dass sie zu eigenen Entscheidungen herausgefordert sind und diese angesichts jeweiliger Vielfalt an kontroversen Positionen, Lösungsmöglichkeiten usw. begründen können müssen. Dabei soll Kontroversität genutzt werden, um jeweilige Perspektiven zu erweitern und ggf. bisherige Positionen zu korrigieren. Sozial gesehen stellt das Kontroversitätsgebot die Lernenden vor die Aufgabe, sich in deliberativen Auseinandersetzungen zu üben. 1 2 0 Für die Lern-/Lehrgegenstände bedeutet das Kontroversitätsgebot eine entsprechende Aufbereitung von jeweiligen Materialen, was idealerweise nicht nur durch die Lehrenden allein zu leisten wäre, sondern durch eine entsprechende Gestaltung von Lehrwerken und Lehr-/ Lernmedien unterstützt werden müsste. Als eine Orientierung für die Aufbereitung von Materialien könnte das Konzept der bereits erwähnten provokativen Didaktik von Wolfgang Müskens und Isabel Müskens hilfreich sein (s. o. Kap. III. 2.2 Anmerkung 25). Wie kann nun Kontroversität so angemessen im Unterricht behandelt werden, dass sich weder die Lernenden in der Vielfalt verlieren und resignieren, noch die Gefahr besteht, dass jeweilige Vielfalt als Pseudokontroversität aufgefasst wird, zu deren Klärung die Lehrenden schon längst die jeweils »richtige« Position haben? Reinhardt macht hierzu Vorschläge, bei der eine angemessene Berücksichtigung des Kontroversitätsgebotes im Unterricht davon abhängig gemacht werden sollte, ob die Lerngruppe eher interessiert oder uninteressiert sowie politisch eher homogen oder heterogen ist (zur folgenden Diskussion des Beutelsbacher Konsens einschließlich von Reinhardts Vorschlägen vgl. auch Blanck 2006c). Danach lassen sich folgende vier Konstellationen unterscheiden:

120 Die Beschreibung der Konsequenzen des Kontroversitätsgebotes für die Lernenden entspricht der Zielvorstellung von Konzepten einer „deliberation in education", wenn dort die Befähigung - wie z. B. von Crittenden und schon mehrfach zitiert - zum „democratic dialogue and autonomous choosing" angestrebt wird.

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

Lerngruppe

ist...

eher interessiert

eher uninteressiert

politisch eher homogen

Konstellation 1

Konstellation 2

politisch eher heterogen

Konstellation 3

Konstellation 4

Abb. 1 8 : Erwägungstafel zu möglichen Zusammensetzungen

139

unterschiedlicher Lerngruppen (auch in

Blanck 2006c, 23)

Während Konstellationen 1 und 2 dazu tendieren, „daß gegebene politische Kontroversen gar nicht im Unterricht repräsentiert werden, u n d wenn doch, dann kaum den Stellenwert ernsthafter Probleme erhalten" (Reinhardt 1989, 20), besteht in heterogenen Gruppen also im Falle der Konstellationen 3 u n d 4 — „die Gefahr der Polarisierung", die „einen solchen Grad an aggressiver Emotionalisierung ergeben" kann, „daß der Lernprozeß nur noch gruppendynamisch zu verstehen ist" (Reinhardt 1989, 18). Deshalb sollten nach Reinhardt Lehrende ihre Beziehung zu den Lernenden prinzipiell komplementär gestalten, wenn sie sich am Kontroversitätsgebot und Indoktrinationsverbot orientieren: „Gruppe ausgewogen [d. h. die jeweiligen Kontroversen sind in der Diskussion repräsentiert; B. B.] - der Lehrer kann sich zurückhalten. Gruppe nicht ausgewogen — der Lehrer m u ß (provisorisch oder wirklich) Position beziehen u n d dadurch politisch erscheinen" (1989, 22). Hinsichtlich der Problemlage, dass die Position der Lehrenden als überwältigende Vorgabe von den Lernenden aufgefasst wird, kann nach Reinhardt dabei die Konstellation 2 zu der paradoxen Situation fuhren, „daß gerade der Versuch, Einseitigkeit in der Lerngruppe (Apathie m u ß man wohl darunter zählen) zu korrigieren, am ehesten zu einem Verhalten des Lehrers fuhrt, das von Schülern u n d Außenstehenden als einseitig [und in diesem Sinne überwältigend; B. B.] interpretiert werden könnte" (a. a. O.). - Wahrend Reinhardts Überlegungen sich eher auf die Lerngruppe insgesamt beziehen, macht Tilman Grammes darauf aufmerksam, dass sich die Frage nach einer angemessenen Dosierung von Kontroversität auch individuell stellt, was weitere Herausforderungen mit sich bringt: „Wieviel Kontroversität braucht der Lernende in einer bestimmten Situation? Wenn die Antwort lautet: „Manche Kinder mehr, andere weniger", wie ist die Lerngruppe dann anzusprechen?" (2000, 142). U n d wenn man dann, Reinhardts Überlegungen folgend, vielleicht in einer Lerngruppe verschiedene Sublerngruppen bildet, die in unterschiedlicher Weise mit jeweiliger themenbezogener Kontroversität konfrontiert werden, wie könnten die Arbeitsergebnisse der Sublerngruppen integriert u n d Gegenstand der gesamten Lerngruppe werden? Für einen gelingenden Umgang mit Kontroversität kann es nach Reinhardt erforderlich sein, dass Lehrende bei fehlender Kontroversität der Positionen der Lernenden selbst eigene oder stellvertretend andere Positionen einbringen. Auch hierbei sind wieder Misslingenstendenzen zu beachten. Im Falle des stellvertretenden Einbringens einer Position kann diese Strategie nach Reinhardt dann problematisch für Lehrende werden, wenn sie damit - „in den Augen der Schüler" - ihre „Identität gefährden" (1989, 20). Wird dies, wie in einem Beispiel von Reinhardt, von den Lernenden thematisiert, die „vorwurfsvoll" fragten, wie sie „denn so etwas t u n könnte - selbst der einen Seite angehören u n d trotzdem die andere

140

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

vertreten", besteht immerhin die Chance, mit den Lernenden „über das Ziel politischen Lernens u n d politischen Unterrichts" zu diskutieren (a. a. O.). Berücksichtigt man, ob die Lernenden u m die Position der Lehrenden wissen oder nicht wissen u n d ob die Lehrenden eigene oder stellvertretend fremde Positionen einbringen, so lassen sich vier Konstellationen unterscheiden:

Schülerinnen und Schüler -» Lehrerinnen und Lehrer 4
brand eins« 9(2007)8. Der Tippfehler „Feiher" auf dem Cover des Magazins ist beabsichtigt. 134 Es wäre eine interessante Forschungsfrage, dem Aufkommen von „diversity-Management-Konzepten" in Verbindung mit einer neuen betrieblichen »Fehlerkultur« näher nachzugehen. Gerade wenn Diversity Management im Sinne des „Learning and Efifectiveness Approach [...] als ganzheitliches organisationales Lernen interpretiert" wird, bei dem sich die Mitarbeitenden mit ihren verschiedenen Individualitäten „in die Organisation einbringen" sollen (Katrin Hansen 2006, 34lf.) - was sehr an das Konzept der eigenen Wege beim entdeckenden/forschenden Lernen erinnert - , so bedeutet dies m. E., dass dies nur in dem Maße gelingen kann und tatsächlich Heterogenes im Unternehmen auch bedacht wird, wie dieses nicht sofort aus dem Blickwinkel von „falsch" und „richtig" bewertet und zum .Abstempeln" von Personen fuhrt, die „Falsches" einbringen. Dass hier eine Hürde für Mitarbeitende bestehen kann, wenn ihre Positionen im Spektrum der Heterogenität in die Gefahr geraten, von anderen als „abweichend" qualifiziert zu werden - sei diese nun eine berechtigte oder unberechtigte Befürchtung - , wird in den Erörterungen von Marco Zimmer und Jan Wegener ahnbar, die dem Zusammenhang von heterogenem Wissen und Stigmarisierung nachgehen, wenn Kenntnisstände mitgeteilt werden, „die über das in dem jeweiligen organisationalen Kontext als normal angesehene Maß hinausgehen bzw. von der allgemein als gültig erachteten Normalität abweichen" (2006, 183). 135 In der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik 19(2008)3 wurde mit einem Themenheft versucht, eine solche disziplinenübergreifende Diskussion zu beginnen, in dem vier Hauptartikel aus der Pädagogik, Arbeits- und Organisationspsychologie und Biologie/Politik insgesamt und vergleichend von »Fehler-Expertinnen« und »-Experten« einzelner Disziplinen erörtert wurden.

156

Ausgangslage u n d Anknüpfungspunkte

Hier möchte ich zunächst nur noch auf die Relevanz von »Fehlern« für wissenschaftliche Forschung und Lehre eingehen, da sich wichtige Parallelen zu Schule und Unterricht ziehen lassen, was die Art und Weise der Tradierung von Konzepten sowie die Rolle von »Fehlerwissen« für die Güte jeweiliger Lösungen betrifft. Entgegen einer ersten Intuition, dass man es in den Wissenschaften mit einem sehr offenen und aufgeklärten Umgang mit »Fehlern« zu tun haben müsste, weil wissenschaftlicher Fortschritt seinen Weg über »Irrtümer«, »Fehler«, »Misslingen« nimmt und Verbesserungen (und Fortschritt) im Popper'schen Sinne durch die Falsifikation von jeweils geltenden Theorien erfolgen, scheint der Umgang mit »Fehlern«, »Irrtümern« und »Misslingen« noch immer problembelastet zu sein. Dies hat, folgt man Gerhard Vollmers Ausführungen (2008), viel damit zu tun, dass Wissenschaft lange Zeit davon ausging, dass es möglich sei, sicheres Wissen zu akkumulieren. Im kumulativen Wissensmodell gilt nach Vollmer, dass wenn „eine Vermutung [...] erst einmal bewiesen [ist; B. B.], so ist sie unverlierbar. Wozu sich dann noch mit Fehlversuchen abgeben? So ist es kein Wunder, dass wir zwar von den Leistungen großer Forscher viel erfahren, von ihren Irrtümern aber nur wenig" (2008, 64). Ganz anders sieht es aus, wenn man ein solches kumulatives Wissensmodell ablehnt und annimmt, dass erstens „über die Falschheit einer Theorie nicht nur nicht sofort, sondern niemals endgültig entschieden" wird (a. a. O.), was einschließt zu bedenken, dass „auch unser Wissen darüber, was nicht der Fall ist", fehlbar ist (2008, 73), und zweitens Irrtümer oft „sogar wesentlich lehrreicher als Erfolge [sind; B. B.] - historisch wie methodologisch", was mit dem „Erkenntniswert von Fehlleistungen"' zusammenhängt (2008, 64). Auch in diesem falsifikatorischen Wissensmodell wird Vermehrung und Verbesserung von Wissen verfolgt. Die „Hoffnung auf sicheres Wissen" ist jedoch einer „Hoffnung auf Wissen" gewichen (2008, 70) und deren Weg verläuft über „die Beseitigung von Irrtümern" (2008, 71): „ D e r w i c h t i g s t e G e s i c h t s p u n k t ist d i e T a t s a c h e , d a s s w i r a u s u n s e r e n F e h l e r n l e r n e n k ö n n e n . N i c h t nur, dass wir dieselben Fehler nicht wieder m a c h e n . W e n n wir m e h r u n d m e h r Fehler erkennen u n d a u s r ä u m e n , d a n n k ö n n e n wir uns der Wahrheit a n n ä h e r n " (Vollmer 2 0 0 8 , 7 4 ) . 1 3 6

Den Erkenntniswert von »Fehlleistungen« für die wissenschaftliche Praxis und die Güte der Legitimation von Ergebnissen unterstreicht auch Jutta Schickore, wobei sie die Relevanz eines umfassenden »Fehlerwissens« für die wissenschaftliche Praxis hervorhebt: „ T h e e r r o r r e p e r t o i r e t h a t is b u i l t u p , e x t e n d e d , a n d r e f i n e d e v e n t u a l l y e n h a n c e s t h e a b i l i t y t o u n c o v e r a n d control - if n o t r e m o v e - potential sources o f error a n d thus helps m a k e scientific p r a c t i c e reliable. T h e a r g u m e n t s f r o m a n d a b o u t e r r o r t h a t r e f l e c t t h i s r e p e r t o i r e a r e a f u r t h e r d r i -

136 A u c h nach Lorraine D a s t o n ( 2 0 0 5 ) ist die offene Auseinandersetzung mit »Fehlern« in den Wissenschaften nicht i m m e r gleichermaßen relevant gewesen. Für D a s t o n ist die H i n w e n d u n g zur Auseinandersetzung m i t »Fehlern« ein Meilenstein in der Geschichte der Wissenschaft, m i t der sich der B e g i n n der M o d e r n e bestimm e n lässt: „A preoccupation with error is a - perhaps the - hallmark o f m o d e r n accounts o f w h a t knowledge is a n d can be. T h i s acute awareness o f error was central to the original definition o f w h a t it m e a n t to be m o d e r n in seventeenth-century E u r o p e a n d thereafter. T o take the m o d e r n side in the quarrel between the Ancients a n d the M o d e r n s was to inventory the errors o f antiquity as well as the inventions a n d discoveries o f recent times" ( 2 0 0 5 , 6). D i e Auseinandersetzung m i t »Fehlern« hat dabei die wesentliche Funktion, Wissen von falschem G l a u b e n abzugrenzen: „the analysis o f error is integral to demarcating genuine knowledge f r o m mere belief and, a m o n g beliefs, the justified f r o m the unjustified" (a. a. O . ) .

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

157

ving forcé of investigative practice, because they play a crucial role in the legitimation of results" (Schickore 2005, 555).

Wie im ersten Zitat von Vollmer schon erkennbar wird, haben die beiden unterschiedlichen Wissensmodelle Konsequenzen für die Tradierung von Wissen und die Gestaltung wissenschaftlicher Lehrbücher, die ihrerseits wiederum die Haltung der Lehrenden und Lernenden im Umgang mit »Fehlern« prägen: „Die herkömmliche Didaktik der Naturwissenschaften ist durchweg kumulativ orientiert. Gelehrt wird selbstverständlich nur Richtiges; für Falsches bleibt keine Zeit, es könnte die Lernenden ja auch verwirren. So werden die wissenschaftlichen Lehrgebäude erneut Baustein um Baustein zusammengesetzt. Man macht genau die richtigen Experimente und sammelt genau die richtigen Ergebnisse. Wird ausnahmsweise einmal eine Konkurrenztheorie vorgestellt [...], so wird sie (unter Berufung auf große Denker [...]) noch in derselben Stunde, in derselben Sitzung, im selben Kapitel »widerlegt«. Die falschen Theorien gelten dabei in der Regel als überwunden, als vorwissenschaftlich oder naiv, vielleicht sogar als pseudowissenschafidich oder absurd. [...] Das gleiche kumulative Bild wird auch durch die wissenschaftlichen Lehrbücher vermittelt oder wenigstens nahegelegt" (Vollmer 2008, 60). 1 3 7

Halten sich Lehrende hingegen an die Orientierung, dass „unser Wissen immer vorläufig ist", so müssen sie nach Vollmer damit rechnen, dass „im Prinzip jedes Element unseres Lehrstoffs auch falsch sein [kann; B. B.]. Wer Wissen vermittelt, der läuft damit auch Gefahr Irrtümer weiterzugeben" (1989, 185). An Beispielen aus der Physik verdeutlicht Vollmer, dass bei vielen Themen fehlerhafte Theorien gelehrt werden und man so gesehen eigentlich häufig nur zwischen falschen und weniger falschen Theorien wählen könne: „Fast überall lehren wir Theorien, die einem eigentlich überwundenen Forschungsstand entsprechen", wobei diese Problematik nicht „auf die Physik oder auf die Naturwissenschaften 137 In diesem Sinne kritisiert auch Andreas Müller Darstellungen der Physikgeschichte, die eher eine Art von „Heiligenverehrung" seien, als dass sie die Irrwege, Irreführungen und Fälschungen der „historischen „Größen"" adäquat darstellten und die Chance nutzten, die produktive Art von Fehlern herauszuarbeiten (2003a, 2). Müller zeigt, wie man aus der Analyse von Fehlern und Irrwegen von „historischen „Größen"" reflexives Wissen über Forschungsverhaltensweisen gewinnen und fehlersensibler werden kann, indem man z. B. weiß, dass Fehler Ergebnisse von „Ähnlichkeitsheuristiken" sein können (2003a, 2f.). Außerdem beschreibt Müller zwei Wege, auf welche Weise Fehler in der Geschichte der Physik dennoch zu neuen Erkenntnissen führten (s. 2003a, 6ffi). In seinem Fazit für die Physikdidaktik untermauert Müller schließlich mit drei Argumenten, warum eine Auseinandersetzung mit Fehlern und Fälschungen für das Lernen und Lehren des Fachs Physik bedeutsam ist. Zusammenfassen lassen sich diese erstens als „Ermutigung" zum eigenen Denken - wenn auch die Großen zu ihren Entdeckungen über Fehler, Irrwege und Sackgassen gehen mussten, ist es gleichsam »normal« wenn ich auch »Fehler« mache - , zweitens als „kritisch-reflektierte Vorbildfunktion", wenn man durch die Analyse von »Fehlern« z. B. die jeweilige Theorie-Getränktheit von Beobachtungen erkennt, sowie drittens als noch „nicht abgeschlossene[...] Aufgabe" der wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Untersuchung von Fehlern und Fälschungen (s. 2003a, 8f.). Dazu, dass auch in der Geschichtsschreibung der Technikentwicklung lange Zeit ein kumulatives Bild der stetigen „Fortentwicklung vom Schlechteren zum Besseren [...] ohne Umwege und Seitenpfade" gezeichnet wurde, nach dem „die gegenwärtige Technik als bestmöglicher Kulminationspunkt einer zur reinen Vorgeschichte degradierten Entwicklung wahrgenommen" wird, vgl. Reinhold Bauer (2006, 9). Die Tendenz einerseits zur Aufwertung und andererseits zum Verschweigen von Problematischem, Fehlerhaftem usw. sieht Jacques Demorgon auch in den jeweiligen Kulturgeschichten einzelner Länder, was seines Erachtens einer von drei Hauptgründen ist, warum die Ermöglichung interkulturellen Lernens im Schulunterricht erschwert wird: „Für den Unterricht müßten geohistorische Kenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart über andere Länder zur Verfügung stehen. Das Wissen in diesem Bereich ist nicht leicht zusammenzustellen, da jedes Land (jede Kultur) mehr damit beschäftigt ist, sich aufzuwerten, als sich in seiner gesamten Komplexität und mit all seinem Widersprüchen kennenzulernen" (1999, 223).

158

Ausgangslage u n d A n k n ü p f u n g s p u n k t e

beschränkt" sei (1989, 191). Als eine von mehreren Bedingungen dafür, dass man derart Falsches dennoch lehren dürfe, nennt Vollmer: „ M a n sollte (deshalb) wenigstens gelegentlich betonen, daß die Fallgesetze, die klassische M e chanik, die m o d e r n e Wissenschaft, daß all unser W i s s e n vorläufig, unvollständig, fehlbar, hypothetisch ist, daß die vorgetragenen H y p o t h e s e n u n d T h e o r i e n n o c h verbessert werden k ö n n e n u n d daß auch die beste verfügbare T h e o r i e vermutlich noch Fehler enthält u n d vielleicht eines Tages als verbesserungsbedürftig u n d hoffentlich auch verbesserungsfähig erkannt w i r d " (Vollmer 1 9 8 9 , 191).

Dass es gerade fiir die Entwicklung einer wissenschaftlichen Haltung grundlegend ist, sich mit der Rolle von »Fehlern« in der Geschichte der jeweiligen Wissenschaftsgebiete auseinanderzusetzen, wird auch von Carmen J. Giunta betont. Sie arbeitet an Beispielen aus der Geschichte der Chemie heraus, dass eine negative Bewertung von Theorien aus heutiger Sicht — wie etwa der Phlogistontheorie - nicht implizieren sollte, die damaligen Konzepte negativ als schlechte Wissenschaft einzuschätzen. Vielmehr sollten solche Beispiele den Studierenden vermitteln, „that the scientific method does not automatically lead to the truth, and that even the leading lights in the development of chemistry could reach conclusions that even beginning students today recognize as mistaken" (2001, 623). Giunta gelangt zum Schluss: „Including tales of error along with the tales of discovery is desirable in any use of history of science to teach about science" (2001, 626). Vollmers Darlegungen sind fiir Vielfalt inkludierende pädagogische Konzepte insbesondere hinsichtlich dreier Aspekte relevant. Zum einen ist zu vermuten, dass »fehlersensibles« Lehren und Lernen eine forschende (entdeckende, suchende) Haltung sowohl bei den Lernenden als auch den Lehrenden fördert, welche Kritikfähigkeit für jeweils vertretene und Offenheit fiir andere Positionen impliziert. Zum anderen ist aus erwägungsorientierter Perspektive besonders Vollmers Hinweis darauf, dass auch das Wissen darüber, was nicht der Fall ist, falsch sein kann, grundlegend. Diese reflexive Einschätzung legt es nahe zu fragen, ob sie nicht ein guter Grund daflir ist, alle problemadäquat erwogenen Lösungsmöglichkeiten zu bewahren, so dass man jeder Zeit neu prüfen kann, ob tatsächlich die jeweils gesetzte Lösung die beste ist oder ob z. B. neue Bewertungskriterien zur Umbewertung von Lösungsmöglichkeiten führen, von denen man bislang zu wissen meinte, dass sie »falsch« (»nicht der Fall«) seien. Schließlich lassen sich Vollmers These zum Erkenntniswert von Fehlleistungen und Schickores Legitimationsthese von Fehlerwissen auf Überlegungen von Fritz Oser zur Relevanz so genannten „negativen Wissens" für das „positive Wissen" beziehen. 138 Auch für Oser kommt dem Falschen (dem negativen Wissen) ein Erkenntniswert für das Richtige zu, was an die Erwägungs-Geltungsbedingung im Konzept einer Erwägungsorientierung erinnert, wenn er von einer „aufzubauenden Erinnerung an das Falsche" spricht:

138 Dazu, dass die Auseinandersetzung mit dem Falschen für den Aufbau von (wissenschaftlichem) Wissen als grundlegend betrachtet wird, vgl. auch die Einschätzung des Lernkonzeptes von Gaston Bachelard durch Rudolf Kiinzli, nachdem Bachelard ein Lernkonzept der Bearbeitung falscher Vorstellungen über die Wirklichkeit entwickelt habe, wonach nicht „der Zugang über die Phänomene und ihre Beobachtung, sondern über die Vorurteile und -einstellungen [...] die wissenschaftliche Erkenntnis" befördert (Künzli 2004, 634).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

159

„Die Erinnerung an eine Fehlerepisode ist von grösster Bedeutung für die Verhinderung der Fehlerrepetition. Wir sprechen deshalb von Negativem Wissen, weil es Wissen der Menschheit oder des Einzelnen darüber ist, was falsch gemacht worden ist" (Oser 2008, 351, Nr. ((7))). An anderer Stelle bringen Maria Spychiger, Fritz Oser, Tina Hascher u n d Fabienne Mahler die „Theorie des negativen Wissens" auf die „„Kurzformel" [...], daß man besser weiß, was richtig ist, wenn man auch richtig weiß, was falsch ist. „Negatives" Wissen ist Wissen u m das, was falsch ist und/oder wie etwas nicht ist (deklaratives „negatives" Wissen) oder was man nicht tun sollte (prozedurales „negatives" Wissen)" (1999, 44). Wichtig dabei ist, „negativ" „nicht etwa im moralisch-wertenden Sinne zu verstehen, nicht einmal im Sinne des „Unerwünschten", sondern als Ergänzung oder Gegenstück zu „positiv"" (Oser, Hascher, Spychiger 1999, 17; vgl. hierzu auch Jutta Standop, die von der „Dialektik des Falschen" spricht (2008c, 41); s. außerdem zusammenfassend Standop 2008a). 1 3 9

139 Obwohl Vollmer und Oser Übereinstimmungen hinsichtlich der Wertschätzung des Falschen hinsichtlich des Richtigen zu haben scheinen, müsste eine nähere Betrachtung klären, inwiefern sie sich andererseits in ihren Wissensmodellen unterscheiden und insofern alternativ sind. Ich denke dabei vor allem daran, dass Oser sein Konzept des negativen Wissens auch auf moralisches Wissen bezieht und dieses scheint bei ihm ziemlich »sicher« in dem Sinne zu sein, dass negatives Wissen das moralische Wissen stärkt und nicht zu seiner Infragestellung fuhrt (vgl. hierzu den Hauptartikel von Oser in Ethik und Sozialwissenschaften 1998 mit anschließenden Kritiken, seiner Replik und einer Metakritik, in der die angedeutete Problemlage behandelt wird (Blanck/Herzig/Loh 1998, 661, Nr. ((23))). Auch wenn Vollmer - wie zitiert - seine Überlegungen zum Erkenntniswert von Fehlleistungen nicht auf Physik und Naturwissenschaften beschränkt sehen will (1989, 191), stellt sich die Frage nach möglichen Unterschieden zwischen den Natur- und Geistes-/Kultur-/Sozialwissenschaften. So bezweifelt Neil J. Smelser, dass die Rolle von Fehlern in beiden Bereichen gleichermaßen bedeutsam für die Entwicklung des jeweiligen Wissens sei: „... we can conclude that the logic of success and failure and the derived notion of „mistakes" is applicable in only a limited way to behavioral and social science knowledge. Many „findings" are specific to their times - neither „successes" nor „failures" as such [Anfuhrungszeichen bei failure von B. B.]. In addition to standard assessment of the scientific validity of findings, shifting empirical conditions [...], new social problems, as well as new and old ideological and political preoccupations are drivers in the changing salience and relevance of knowledge. It is the understanding of these multiple influences, in addition to the straightforward assessment of „findings" by received scientific standards, that will yield a more adequate assessment of the development of knowledge in the social sciences" (2005, 246). Interessanterweise grenzt Smelser sein Verständnis eines Wissenmodells fur die Sozialwissenschaften wie Vollmer von einem akkumulierenden Verständnis ab: „... the developmental picture in the behavioral and social sciences is not that of the earlier model of knowledge accumulation. Rather, it is a story of continuous invention of new or revived theories or perspectives that capture the imagination of a subclass of scientists and occasion a season of research activity and the consolidation of „schools" or „approaches." At a certain point in this process, however, criticism of the approach appear, and lead to an appreciation of its errors, limitations, and biases. As often as not critics are inclined to invent or appeal to alternative frameworks designed to supersede the less favored one. The new approaches, moreover, become schools or approaches on their own, and they too become vulnerable to the same dynamic of invention, elaboration, consolidation, and attack. The peculiar character of this dynamic is that the older approaches seldom die altogether. Some do, but more often they persist or go underground for a time, only to reappear in altered form, which then perhaps brings the word „neo" in front of the older name and they enjoy a new season of visibility" (2005,247). Den Zuwachs an neuen Theorien, die z. B. bisherige bereichern oder neue Akzente setzen, betrachtet Smelser durchaus als Erfolge (successes), „but in the special, complex sence I have stressed. At the same time, it is inappropriate to regard the older perspectives as „mistakes" in any simple sense" (2005, 252). Auch Vollmer spricht ja nun nicht davon, dass alte Konzepte, wie etwa die Fallgesetze, gänzlich falsch seien. Aber er will mit seinem Wissensmodell doch jeweils aktuell einschätzen, ob es sich um weniger tiefe oder tiefere (falsche oder weniger falsche) Konzepte handelt, selbst wenn das Wissen darüber, was falsch ist, seinerseits falsch sein kann. Smelsers Position ist so gesehen demgegenüber relativistischer, betrifft allerdings die Sozialwissenschaften.

160

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Ich k o m m e auf diese Parallele zwischen dem Umgang mit »Fehlern« in Wissenschaft und Schule bei der Erörterung der Herausforderungen, vor die ein konstruktiver Umgang mit »Fehlern« stellt, zurück (s. Kap. III. 4.4.2). Es gibt eine weitere Parallele zwischen der Literatur zur Rolle von »Fehlern« in den Wissenschaften (Forschung und Lehre) und der Literatur zur Rolle von »Fehlern« in Schule und Unterricht (beim Lehren und Lernen). Sie betrifft die Unterscheidung zwischen der Erkenntnis, dass man aus »Fehlern« lernen kann, u n d der Frage, was genau eigentlich stattfindet, wenn man aus »Fehlern« lernt oder eben auch nicht lernt. Hier wird fxir beide Bereiche ein Forschungsdefizit festgestellt: „The view that we learn from error, while commonplace, has been little explored in philosophy of science. When philosophers of science do speak of learning from error - most notably in the work of Popper - they generally mean simply that when a hypothesis is put to the test of experiment and fails, we reject it and attempt to replace it with another. Litde is said about what the different types of errors are, what specifically is learned when an error is recognized, how we locate precisely what is at fault, how our ability to detect and correct errors grows, and how this growth is related to the growth of scientific knowledge" (Deborah G. Mayo 1996, XII). 140 Auch Oser betont, dass wir nicht davon ausgehen können, „dass wir wüssten, wie Fehler, wenn sie dann doch geschehen, in Lerngelegenheiten umgewandelt werden, u n d wie nicht. Es gibt bis heute keine Systematik dieses komplizierten Transformationsprozesses" (2008, 350, Nr. ((6))). Darauf, dass es zwar keine solche Systematik, wohl aber eine Fülle von Vorschlägen für Definitionen, Abgrenzungen u n d Klassifikationen von »Fehlern« gibt, k o m m e ich im übernächsten Kapitel (III. 4.4.3) zurück. Abschließen möchte ich die Andeutungen von Parallelen in der Einschätzung der Relevanz von »Fehlern« in Wissenschaft (Forschung u n d Lehre) sowie Schule mit einem Zitat von Wolfgang Krohn, der daraufhinweist, dass „Forschung und Erziehung [...] insofern strukturähnlich" seien, als sie beide „geeignet sind, der Produktivität der Fehler u n d Irrtümer einen risikoentlastenden Handlungsraum zu geben. [...] Der entscheidende Unterschied ist, dass dem schulischen Lernen ein kundiges Lehren gegenübersteht, während Forschen ein Lernen ohne Lehrer ist" (2008, 336, Nr. ((7))). Die Frage ist, folgt man den Überlegungen von Vollmer, ob der Unterschied wirklich so groß ist u n d inwiefern ein kundiges Lehren nicht auch zumindest von der Grundhaltung u n d Orientierung her ein forschendes Lehren, welches sensibel für potenzielle »Fehler« der jeweiligen Lern-/Lehrinhalte ist, u n d insofern lehrendenloses Lehren sein könnte? Damit soll nicht die Verantwortung der Lehrenden für die Gestaltung der jeweiligen Lernprozesse geschmälert werden u n d dies sollte keine Entlastung von erforderlichen Wissensniveaus u n d 140 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Jutta Schickore: „However, surprisingly, one fundamental epistemologica! problem of error has rarely been directly addressed: if error is really an integral part of scientific practice, then we need to explain how knowledge can be generated despite, or perhaps, even from, the errors that are committed. [...] My account indicates that only very few scholars have considered the questions of whether error can have positive epistemic roles for scientific practice and whether and how we can learn from error" (2005, 540). In einer Anmerkung fugt Schickore dieser Passage hinzu: „My review confirms that even those philosophers and historians who are explicitly concerned with the problem of error have not concerned themselves with this problem" (a. a. O., Anm. 1).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

161

insbesondere Methodenkompetenzen sein. Es würde m. E. im Gegenteil sogar eher ein besonderes Informiertsein und Engagiertsein der Lehrenden bedeuten und dass sie die jeweiligen offenen Fragen und Grenzen des Wissens ihrer Fachgebiete kennen bzw. zumindest wissen, dass sie vieles nicht wissen. Diesbezüglich könnte man sie vielleicht dann als „reflexiv kundige Lehrende" bezeichnen, wenn sie kompetent mit diesem Wissen um Nicht-Wissen umzugehen vermögen (s. hierzu auch Kap. III. 4.5). Nach dem Aufzeigen von einigen Parallelentwicklungen und Zusammenhängen beim Umgang mit »Fehlern« in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen konzentriere ich mich im Folgenden auf die Herausforderungen einer konstruktiven »Fehlerkultur« insbesondere in Schule und Unterricht. 4.4.2 Herausforderungen einer konstruktiven »Fehlerkultur« in Schule und Unterricht Den konstruktiven offenen Umgang mit »Fehlern« als Helfern in Schule und Unterricht hat Ruth Dolenc in einer Gegenüberstellung eines negativen Verständnisses von Fehlern als Defizitansatz und einem konstruktiven positiven Umgang mit »Fehlern« zusammengefasst (siehe Abb. 21). Hinsichtlich der Gegenüberstellung von Dolenc wäre zu prüfen, inwiefern systematisch bedacht jeweilige Annahmen und Einstellungen einander ausschließen müssen oder auch miteinander kombinierbar sind. So ist z. B. zu erwägen, ob die .Annahme der Gleichförmigkeit des Lernens bei allen Schülern" nicht nur mit einem Verständnis von Fehlern „als Zeichen für Mängel, Störungen, Defekte, Entgleisungen beim Lernen", sondern auch mit einem Verständnis von Fehlern „als notwendige [n] Zwischenstufen, integrale [n] Bestandteile [n], fruchtbare [n] Momente [n] für erfolgreiches Lernen (Herausforderung; Anlass fiir Verbesserungen)" vereinbar sein könnte. Aber das soll hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen möchte ich - ähnlich wie Henkenborg Lern-/Lehrfallen für demokratisches Lernen formuliert hat (s. o. Kap. III. 4.3.3.1) - exemplarisch einige Lern-/Lehrfallen als Herausforderungen eines konstruktiven Umgangs mit »Fehlern« skizzieren, wie sie sich aus den vorangegangen Darlegungen sowie der Gegenüberstellung von Dolenc entwickeln lassen. Die Herausforderungen, auf die ich im Folgenden eingehen möchte, beziehen sich auf die Identifizierung von und Verständigung über Fehler (Identifizierungs- und Verständigungsfallen), die Art und Weise der Entdeckung und Thematisierung von »Fehlern« bei sich und anderen (Entdeckungs- und Thematisierungsfallen) sowie die reflexiv-kritische Analyse von »Fehlern« und das Nutzen von »Fehlerwissen«, dessen Funktion trotz des Zulassens von »Fehlern« die »Fehlervermeidung« ist (Fehlerparadoxon-Falle). Diese Herausforderungen, die sich für jede Praxis einer »Fehlerkultur« und nicht nur für eine »Fehlerkultur« in Schule und Unterricht stellen, hängen ihrerseits zusammen.

162

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

Defizitansatz (Dominanz von Leistungssituationen) Objektive „richtige" Stoffstruktur als Hintergrundfolie für den Unterricht;

Konstruktiver Ansatz (Dominanz von Lernsituationen) Lernvoraussetzungen bzw. eigene Denkwege der Schüler als Ausgangs- bzw. Ansatzpunkt für den Unterricht;

Vermittlung von Wissen durch konzentrierte Unter- Aufbau des Wissens durch aktive Aneignung durch weisung des Lehrers (Wissensabbildung, -transport) den Schüler (Wissenskonstruktion); mit nachfolgender Aufgabe fur den Schüler; Bevorzugung kleinschrittiger, geschlossener Lehrgänge im fragend-entwickelnden Unterrichtsstil;

Erweiterung des Methodenrepertoires durch offene und individualisierende Methoden im aktiv-entdeckenden Unterrichtsstil;

Lernen als schrittweiser, additiver Zuwachs „intakter" Kenntnisse,

Lernen als allmähliche Verfeinerung und Ausdifferenzierung grober Vorformen;

Untersuchung des Lernens mithilfe von statisch-quantitadven Komponentenmodellen;

Untersuchung des Lernens auf Basis von Prozessanalysen und qualitativen Stufenmodellen;

Beschränkung auf kognidv-rationale, fachinterne Aspekte (Segmentierung);

Einbeziehung affektiv-motivationaler fachübergreifender Aspekte (Ökologie);

Annahme der Gleichförmigkeit des Lernens bei allen Schülern (Homogenität);

Annahme einer hochgradigen Individualität des Lernens (Heterogenität); Versuch des Verstehens des Schülerdenkens (Plausibilität);»41'

Beurteilung von Schülerleistungen nach richtig/falsch (Bezug auf objektive Stoffstrukturen) und bezüglich der zu erreichenden Curriculumnorm (Normalverteilung; Rang in einer Vergleichsgruppe);

Einordnung von Schülerleistungen bezüglich früherer Lernstände (Individualnorm; individuelle Fortschritte);

Gesichtspunkt des Forderns, Bewertens, Prüfens von Schülerleistungen;

Gesichtspunkt des Unterstützens, Entwickeins, Forderns von Schülerkompetenzen;

Fehler als Zeichen für Mängel, Störungen, Defekte, Entgleisungen beim Lernen (Defizite; Unterschreiten der Norm);

Fehler als notwendige Zwischenstufen, integrale Bestandteile, fruchtbare Momente für erfolgreiches Lernen (Herausforderung; Anlass für Verbesserungen);

Strategie der Vermeidung, Unterdrückung, Sanktionierung, schnellstmöglichen Ausmerzung bzw. Korrektur von Fehlern (Fehler im Keim ersticken)"42';

Strategie der produktiven Auseinandersetzung und des explorativen Umgangs mit Fehlern (Fehler zulassen; aus Fehlern lernen; Fehler als Teil einer Unterrichtskultur).

Abb. 21: Gegenüberstellung des Defizitansatzes und des Konstruktiven Ansatzes nach Ruth Dolenc (2001, 4; zitiert nach Werner Wiater 2004, 7; Formatierung von B. B.)143 Identifizierungs-

und Verständigungsfallen

ergeben sich i m U m g a n g m i t »Fehlern« überall

dort, w o ungeklärte u n d unterschiedliche Verständnisse v o n „Fehlern" u n d ihrer Abgrenz u n g etwa gegenüber „ I r r t u m " , „Panne", „Missgeschick", „Versehen" vorliegen, was seinerseits zu »Fehlern« u n d »Fehleinschätzungen« f u h r e n m a g . I m Falle eines ungeklärten Verständnisses rechnet m a n sich selbst oder anderen vielleicht etwas als »Fehler« zu, was bei geklärtem Verständnis n i c h t als »Fehler« eingeschätzt w ü r d e . Unterschiedliche Verständnisse,

141 Leider haben schriftliche Nachfragen sowohl bei Werner Wiater als auch bei Ruth Dolenc nicht zur Aufklärung der hier mit „2001, 4" genannten Quelle gefuhrt, weshalb ich nach Wiater zitiere. Eine dieser Tabelle zurechenbare Gegenüberstellung von einer Fehlervermeidungsdidaktik und einer Fehlerermutigungsdidaktik, findet man bei Oser/Spychiger 2005, 166, s. hierzu auch Standop 2008b, 43.

Aspektiv-speziflsche vergleichende Erörterung

163

über die sich nicht verständigt wird, etwa weil die Einzelnen ihr Verständnis nicht geklärt haben oder aber annehmen, ihr Verständnis würde von den anderen geteilt, können zu Missverständnissen bei der gemeinsamen »Fehleridentifizierung« und in der Folge zu Missverständnissen im Umgang mit diesen »Fehlern« fuhren. 1 4 4 Entgegen einer ersten Intuition, 142 In diesem Sinne hat z. B. Helmut Heuer für den Englischunterricht betont, dass ein „einmal gemachter Fehler [...] durch seine Korrektur nicht aufgehoben" wird: „Ein einmal gemachter Fehler lebt weiter. Auch die sofortige Korrektur durch den Lehrer kann seine Wirkung nicht ganz rückgängig machen. Es kommt also darauf an, von vornherein zu verhindern, daß die Schüler überhaupt Fehler begehen" (1968, 64). Zum Wandel weg von diesem Fehlerverständnis hin zu einer Einschätzung, nach der Fehler „nicht grundsätzlich negativ einzuschätzen" sind, „da sie durchaus auch Zeichen für Lernfortschritt sein können" vgl. Annelie Knapp-Potthoff 1987, 209. Knapp-PotthofF betont hierbei, wie viele andere Autorinnen und Autoren, dass die Einschätzung von Fehlern Bezug nehmen muss „auf die Phase des Unterrichts bzw. des Lernprozesses, in der sie vorkommen. Bei der soundsovielten Festigungsübung kann nicht mehr »Hypothesentesten« als Erklärung dienen" (a. a. O. 210). Diese Unterscheidung findet sich auch in Dolencs Gegenüberstellung von Lern- und Leistungssituationen und sie wird im Folgenden mit der zusammenhängenden Unterscheidung zwischen guten und schlechten »Fehlern« aufgegriffen. Dazu, was es insbesondere für die diagnostischen Fähigkeiten - bzw. die Vermutungsfahigkeiten, wie Hans Brügelmann vorschlägt, vorsichtiger zu formulieren (2005, 71) - der Lehrenden bedeutet, unterschiedliche Arten von »Fehlern« zu erkennen, wenn im Fremdsprachenunterricht Fehler als Helfer im Lernprozess und als Stufen betrachtet werden, „auf welchen der Lernende emporsteigt" (Werner Kieweg 2004, 45) vgl. neben Kieweg auch Jörg-Ulrich Keßler und Anke Lenzing (2008). Keßler und Lenzing folgen der Theorie, dass Fehler in der Lernendensprache „in erster Linie auf den aktuellen Sprachentwicklungsstand der oder des Lernenden" hindeuten (2008, 100), weshalb es ftir die Lehrenden wichtig ist adäquat einzuschätzen, „welche Fehler als entwicklungsbedingte Fehler in einem produktiven Umgang mit der Zielsprache zu diesem Zeitpunkt noch unvermeidbar sind", wohingegen vermeidbare Fehler „im Unterricht thematisiert und korrigiert werden" können und müssen (a. a. O. 102; zum neuen Fehlerverständnis im Fremdsprachenunterricht Englisch vgl. auch das Themenheft »Fehlerbewusstes Lernen< der Zeitschrift «Der fremdsprachliche Unterricht Englisch< 41(2007)88). Auch für den muttersprachlichen Unterricht wird das didaktische Prinzip verfolgt, „Fehler nicht von vornherein zu unterdrücken und diese im Sinne der Perfektionierung möglichst rasch zu beseitigen, sondern diese Fehler bewusst wahrzunehmen, sie zu beobachten und den anschließenden Lernprozess auf die individuelle Entwicklung abzustimmen", wie dies z. B. Bärbel Kopp (2004) für den Erwerb der deutschen Schriftsprache formuliert (s. hierzu auch die beiden anderen Artikel zum Umgang mit Fehlern im Sprachunterricht von Stefan Seitz und Otto Schober im Fehler-Themenheft Lernchancen 7(2004)39 oder auch Hans Brügelmann/Erika Brinkmann 1998, 92). Dass dieser Wandel in der Fehlerauffassung im Schriftspracherwerb noch gar nicht so lange her ist, stellt u. a. Horst Bartnitzky fest, wenn er daran erinnert, dass im Schriftspracherwerb ein Fehlervermeidungsprinzip, nach dem Falsches „möglichst erst gar nicht entstehen" und wo Falsches entstanden ist, „möglichst sofort richtig gestellt werden" muss, „über die Jahrhunderte Dogma" war und „bis in die 80er-Jahre hinein auch die Lehrerausbildung in diesem Punkt" bestimmte (2000, 106). 143 Dazu, wie man sich das Denken der Schülerinnen und Schüler erschließen und verstehen kann, gibt es viele Vorgehensweisen, etwa die Schüler und Schülerinnen zu motivieren, ihre Gedanken darzulegen, die sie beim Lösen von Aufgaben haben, sei dies nun mündlich oder schriftlich, aufgabenbegleitend oder retrospektiv, allein oder gemeinsam mit anderen usw. usf. (vgl. hierzu statt anderer Christoph Selter und Hartmut Spiegel, die die Gedanken, die Kinder beim Rechnen haben, erforschen (1997)). - Bei Berthold Otto findet man einen Vorschlag, der bei den Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer mit vergleichbaren Fehlern ansetzt. Die Beantwortung von Fragen, wie: „ Warum hat der Junge das falsch beantwortet? Was ist dabei in seinem Geiste vorgegangen? Wie verhalten sich die anderen Jungen zur selben Frage? Wie muß man die Fragen anders gestalten, damit die Jungen richtig antworten? Und vermöge wekhergeistigen Vorgänge antworten sie nunmehr richtig?" (Otto (1897; 1901), in Barth/Henseler 2008, 107), bedarf nach Otto der äußeren Beobachtung wie der Selbstbeobachtung (a. a. O. 108). Er erläutert dies am Beispiel des Erlernens einer fremden Sprache: „Will man auf dem Gebiet Aes fremdsprachigen Unterrichts brauchbare Unterrichtsexperimente machen, so muß man neben dem Unterricht, den man erteilt, selber in einer ganzfremden Sprache Unterricht nehmen-, wer also Latein kann, muss zum Hebräischen, Arabischen oder Suaheli greifen; vielleicht thut das Chinesische, das ich leider noch nicht kenne, noch bessere Dienste. Erst aus der Art, wie man sich selbst bei allen Einzelheiten dieses Unterrichts anstellt [also auch, welche Fehler- und Misslingenserfahrungen man macht; B. B.], kann man die analogen Einzel-Leistungen seiner Schüler psychologisch richtig interpretieren (a. a. O., kursiv im Original). 144 In diese Richtung scheinen auch die Überlegungen von Fritz Oser zu den Voraussetzungen für eine konstruktive »Fehlerkultur« zu zielen, wenn er feststellt, dass das „Bewusstsein des Falschen oder des Irrtums und das

164

Ausgangslage und Anknüpfungspunkte

dass doch mehr oder weniger klar sei, was man unter einem „Fehler" zu verstehen habe, erweisen sich diese „Identifizierungs- und Verständigungsfallen" bei näherer Betrachtung als außerordentlich klärungsbedürftig, dass ich ausführlicher in einem eigenen Kapitel auf sie eingehen werde, zumal sich an ihnen auch gut das Potenzial einer Erwägungsorientierung für eine konstruktive »Fehlerkultur« aufzeigen lässt (s. Kap. III. 4.4.3). Entdeckungs- und Thematisierungsfallen treten vermutlich in besonderem Maße da auf, wo man sich noch im Ubergang von einer »Fehlervermeidungskultur« und einer Einstellung gegenüber »Fehlern« als bloßen Defiziten im Sinne von Dolenc hin zu einer Kultur des Lernens aus »Fehlern« befindet. Zu Fallen in diesem Kontext ist zu zählen, dass »Fehler« (insbesondere eigene) doch lieber (vor allem vor anderen) kaschiert und verschleiert statt offen benannt werden oder dass das Benennen der »Fehler« von anderen diese bloßstellt und beschämt. Einen Grund dafür, das Entdecken eigener »Fehler« eher zu vermeiden und sich selbst nicht mit eigenen »Fehlern« auseinanderzusetzen, kann man mit Dietrich Dörner in der Verbreitung eines „ballistischen Entscheidungsverhaltens" sehen, bei dem die Entscheidungstreffenden wenig Interesse daran haben, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen einzuschätzen, was Dörner folgendermaßen erklärt: „Wenn ich die Folgen meiner eigenen Handlungen gar nicht erst zur Kenntnis nehme, so bleibt mir die «Kompetenzillusion»! Hat man eine Entscheidung getroffen, um einen bestimmten Missstand zu beseitigen, so kann man, wenn man nur die Folgen der Maßnahme nicht betrachtet, der Meinung sein, dass der Missstand behoben ist. Das Problem ist gelöst, und man kann sich neuen Problemen zuwenden. Ballistische Entscheidungen haben also für den Akteur durchaus Vorteile. Er kann nach der «Julchen-Maxime» verfahren: «Wohlgetan ist dieses nun, Julchen kann was andres tun!» In einer Situation mit hoher Unbestimmtheit ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass jemand seine Kompetenzillusionen ballistisch hätschelt. Er hat etwas davon, nämlich geringe Unbestimmtheit und die Möglichkeit der Beibehaltung einer hohen Auffassung von der eigenen Kompetenz und Handlungsfähigkeit. Und das ist doch auch etwas! Oder?" (Dietrich Dörner 2008, 269f.).

In einer ähnlichen Richtung zur Erklärung dessen, warum man nicht »Fehler« bei sich selbst suchen und aufzuklären mag, liegt auch der von Paul Zachos u. a. angesprochene „confirmation bias", mit dem ein Zusammenhang zwischen »Fehlervermeidung« und Vorurteilsbestätigung gesehen wird: „Thus is the tendency to be predisposed to search for evidence that will Support one's own theory. Cognitive research shows that the tendency to favor Information that supports one's current hypothesis, theory, or belief (i.e., one's scientific claim), and to disfavor Information that challenges

Bewusstwerden des Nichtgewussten als Fehlerhaftes [...] unabdingbare Voraussetzungen für eine Fehlerkultur" seien (Oser 2008, 350, Nr. ((4))). Zu klären wäre hier m. E. aber das Verhältnis von Nicht-Wissen und »Fehler-Wissen« und inwiefern bewusstes Nichtgewusstes als „fehlerhaft" bezeichnet werden sollte. Außerdem wäre zu klären, ob sich die von mir hier aufgestellten Identifizierungs- und Verständigungsfragen nicht dahingehend von Osers Vorstellungen eines Bewusstwerdens von »Fehlern« unterscheiden, als Oser im Wesentlichen von einem bestehenden (moralischen) Bezugssystem für die Bestimmung von Falschem und Fehlern auszugehen scheint, so dass sich weniger die Frage stellt, was man unter „Fehlern" versteht, als es vielmehr darum geht, sich an ein vorgegebenes System adäquat anzupassen und diesbezüglich ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wann etwas falsch bzw. ein Fehler wäre. Im Folgenden wird dieser Punkt als Frage der Relevanz des Subjektes, welches „Fehler" definiert, aufgegriffen (s. Kap. III. 4.4.3).

Aspektiv-spezifische vergleichende Erörterung

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these widespread and persistent [...]• This form of'bias' is associated with the tendency to be constrained in one's observations by the framework theory" (Paul Zachos u. a. 2003, 950). Auch Gerhard Vollmer hält die Bereitschaft, »Fehler« in eigenen Konzepten entdecken zu wollen, selbst bei jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zu deren Selbstverständnis und Berufsethos das Falsifikationsprinzip zählt, für eine große Herausforderung: „Der Forderung oder dem Rezept »Suche den härtestmöglichen Test!« stehen freilich Schwierigkeiten entgegen: Erstens neigen wir dazu, solche Fakten zu registrieren, die unserer Erfahrung entsprechen, und solche zu übersehen, die ihr widersprechen. [...] Zweitens fällt es uns sehr schwer, unserer eigenen Theorie ein Bein zu stellen: Zwar leuchtet das Falsifikationsprinzip unserer Ratio, unserem wissenschaftstheoretischen Gewissen, durchaus ein; aber emotional können wir die Widerlegung unserer eigenen Theorie (oder einer Vermutung, die wir persönlich für wahr halten) natürlich nicht wünschen und deshalb auch kaum betreiben" (Gerhard Vollmer 2008, 72). In dem Maße, wie man »Fehler«, die man selbst begangen hat, als Selbstwert erniedrigend oder als Kompetenzverlust bzw. -mangel empfindet, liegt es nahe, dass man »Fehler« bei anderen vergleichbar negativ bewertet. Mit dieser Grundhaltung kann es dann schwierig werden, beim Benennen und Aufdecken der »Fehler« von anderen diese nicht zu beschämen und bloßzustellen. Selbst wenn die »Fehler« aufdeckende Person dies nicht intendiert, kann die »Fehler« begehende Person bei der skizzierten Grundhaltung sich durch die bloße Thematisierung schon beschämt und bloßgestellt fühlen. Gerade weil die hier zitierten Erklärungen zu möglichen Gründen für die Vermeidung eines »Fehler« aufdeckenden Verhaltens bei sich selbst nicht auf pädagogische Lern- und Lehrzusammenhänge bezogen sind, sondern auf Lebenssituationen und Berufe, für die »Fehlersuche« und »-Verbesserung« (gerade auch bei sich selbst!) selbstverständlich sein sollten, verdeutlichen sie die großen Schwierigkeiten, vor die man sich gestellt sieht, wenn man eine konstruktive »Fehlerkultur« in Schule und Unterricht praktizieren will. Bislang gibt es vor allem Indikatoren dafür, dass eine »Fehlerd^ziikultur« in Schule und Unterricht verbreitet ist. Peter O. Chott (2004) nennt drei Beispiele, die wegen ihrer Einfachheit und ihres vermutlichen Verbreitetseins als Indikatoren für »Fehlerri