Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung?: Hamburger Ringvorlesung [1 ed.] 9783428481644, 9783428081646

Die »Einheit der Rechtsordnung« ist seit Karl Engischs klassisch gewordener Antrittsvorlesung zu einer juristischen Parö

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Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung?: Hamburger Ringvorlesung [1 ed.]
 9783428481644, 9783428081646

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KARSTEN SCHMIDT (Hrsg.)

Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung?

Hamburger Rechtsstudien herausgegeben von den Mitgliedern des Fachbereichs Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg Heft 85

Vielfalt des Rechts Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung

im Auftrage des Fachbereichs herausgegeben von

Prof. Dr. Karsten Schmidt

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung in Hamburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung? : Hamburger Ringvorlesung / im Auftr. des Fachbereichs hrsg. von Karsten Schmidt. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Hamburger Rechtsstudien ; H. 85) ISBN 3-428-08164-1 NE: Schmidt, Karsten [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0072-9590 ISBN 3-428-08164-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Vier Jahre nach der als Band 78 der "Hamburger Rechtsstudien" erschienenen Ringvorlesung "Rechtsdogmatik und Rechtspolitik" (1990) fand bei dem Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg allwöchentlich eine Ringvorlesung unter dem an Kar! Engischs berühmtem Werk orientierten Arbeitstitel ,,Einheit der Rechtsordnung" statt. Das mit diesem Titel verbundene Ziel bestand nicht darin, die Fragestellungen aus Engischs Werk sechzig Jahre danach unverändert zu wiederholen und dessen Themenkreis nochmals aufzuarbeiten, vielmehr sahen die beteiligten Fakultätsmitglieder den Reiz der Aufgabe gerade in den sehr unterschiedlichen Assoziationen, die sich mit dem Schlagwort "Einheit der Rechtsordnung" verknüpfen. Nicht als systematische Erschließung eines definierten Problemkreises, sondern als eine lose Folge möglicher Fragen an die Einheit des Rechts und - bisweilen auch kontroverser - Antworten auf diese Fragen versteht sich demgemäß auch die nunmehr vorgelegte Druckfassung der Vorträge. Die Veranstaltung war Bestandteil des "Allgemeinen Vorlesungswesens" der Universität Hamburg (in einem Fall zugleich Antrittsvorlesung) und fand bei den Studenten des Fachbereichs wie bei den Gästen ein dankenswertes Echo. Die Publikation im Jubiläumsjahr der Universität mag als ein Zeichen dafür gesehen werden, daß sich der Fachbereich Rechtswissenschaft I der Tradition der Hamburger Juristenfakultät verpflichtet weiß und auch in einer Zeit allseits beklagter Überlast und Mittelknappheit sein Bestreben darin sieht, neben fachbezogener Ausbildung auch wissenschaftlichen Diskurs in den Hörsaal zu tragen. Dank ist der Fritz und Johanna Buch-Gedächtnisstiftung in Hamburg zu sagen, die auch diesmal die Publikation durch einen Druckkostenzuschuß ermöglicht hat. Hamburg, im Sommersemester 1994

Karsten Schmidt

Inhaltsverzeichnis Karsten Schmidt Einheit der Rechtsordnung -

Realität? Aufgabe? Illusion? .....................

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Götz Landwehr Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte

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Michael Köhler Das angeborene Recht ist nur ein einziges ...

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Kurt Seelmann Privatrechtlich begründete Garantenpflichten?

85

Jürgen Schwabe Öffentliches und privates Nachbarrecht oder: Einheit der Umwelt-Rechtsordnung ................................................................................

99

Horst Dreier Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat

113

Marian Paschke Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung

147

Otto Luchterhandt Was bleibt vorn Recht der DDR? ...................................................

165

Peter Selmer Einheit der Rechtsordnung und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nach Wiederherstellung der deutschen Einheit ..........................................

199

Meinhard Hilf Einheit der Rechtsordnung: EG-Recht und nationales Recht .. ..................

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Einheit der Rechtsordnung Realität? Aufgabe? Illusion? Von Karsten Schmidt

I. Einführung Vor zehn Jahren erschien aus der Feder des damals Bielefelder Privatdozenten für öffentliches Recht Franz-Joseph Peine eine Monographie mit dem Titel l : "Das Recht als System." Dieser Titel, der in Wahrheit als Frage gemeint war, lief auf eine Auseinandersetzung mit einem vor fünfundzwanzig Jahren erschienenen Buch des damals Hamburger, jetzt Münchener, Professors Ctaus-Wilhetm Canaris über "Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz" hinaus, in dem sich das Recht - also die Summe aller Rechtsnormen im materiellen Sinne - als ein System offenbart: als eine axiologische und teleologische (d. h. auf die Wert-und Zwecklehre bezogene) Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien 2. Bestandteile des von Canaris zugrundegelegten Systembegriffs sind die Elemente der "Einheit" und der "Ordnung", und damit weist Canaris wiederum auf eine vor nahezu sechzig Jahren erschienene Schrift hin: auf die aus einer Heidelberger Antrittsvorlesung von 1935 hervorgegangene Grundlagenarbeit von Kart Engisch mit dem Thema 3: "Die Einheit der Rechtsordnung". Diese Schrift, inzwischen von Arthur Kaufmann wieder herausgegeben und trotz des verfänglichen Entstehungszeitpunkts wahrhaftig kein Aufruf zu nationalsozialistischem Gleichschritt des Rechts, leiht unserer Ringvorlesung den Titel. Er hat etwas Bestechendes, und er teilt das Schicksal manch anderer Buchtitel, die man als Jahrhunderteinfälle bezeichnen kann: Er droht zu einer juristischen Redensart zu verkommen und wird am häufigsten und am vorbehaltlosesten von denen zitiert, die nie in das Buch hineinschauen (andere Beispiele für diesen Effekt sind etwa die Schriften von Savigny [1814] über den "Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" 4 sowie von K irchmann [1848] über die "Wertlosigkeit der J urisprudenz als Wissenschaft"5 oder von Luhmann [1969] über "Legitimation durch Peine, Das Recht als System, 1983, insbes. S. 16 ff. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 16 ff. 3 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935 (Neudruck mit einem Geleitwort von Arthur Kaufmann 1987); vgl. für studentische Leser namentlich auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1956, S. 156 ff. 4 Vgl. jetzt Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny, 1973, S. 95 ff. 5 Aus diesem Buch wird üblicherweise gefolgert, daß Kirchmann dem Gesetzgeber den Vorzug gab: "drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken 1

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Karsten Schmidt

Verfahren"6). I~ der wissenschaftlichen Diskussion, die diesen Namen verdient, stößt aber das Konzept neben viel Beifall (z. B. bei Zippelius, Larenz, Paul Kirchhof, Canaris und Bydlinski 7 ) auch auf Kritik, so bei dem eingangs erwähnten Peine, bezogen auf die "Einheit der Verfassung" bei dem Verfassungsrechtler Friedrich Müller 8 sowie auch bei Dieter Grimm, Professor in Bielefeld und seit Jahren Richter am Bundesverfassungsgericht, also an einer Schaltstelle für die Bewältigung unseres Einheitsproblems 9 • Grimm hat, gegen Canaris gewendet, der Sache nach ausgeführt, als rechtspolitisches Postulat möge die These von der Einheit der Rechtsordnung ja wohl angehen, aber dem positiven Recht eigne die Einheit wie die Ordnung doch nur in beschränktem Maße. Wer das nicht zur Kenntnis nehme, laufe Gefahr, eine bloße Arbeitshypothese zum Gegenstand der Rechtswissenschaft zu erklären. Damit ist, wie vergröbernd festgehalten sei, das schöne Schlagwort von der ,,Einheit der Rechtsordnung" als Blendwerk denunziert. Hier setzt unsere Ringvorlesung an. Sie hat allerdings nicht den Ehrgeiz, es

Engisch oder Canaris gleichzutun, und zwar aus einem doppelten Grund: Wer heute die Antrittsvorlesung von Engisch liest, ist zunächst erstaunt über das, was

er seinen Hörern - in der Mehrheit Studenten - an rechtstheoretischem Interesse abverlangte. Für mich selbst möchte ich konstatieren, daß mein Verstand für ein so ambitioniertes Vorhaben nicht gerüstet ist, und selbst wenn dies anders wäre, täte ich der Veranstaltung mit einem so hochgesteckten Ziel wohl einen schlechten Gefallen. So hängt denn der zweite Grund mit dem zyklischen Charakter der Ringvorlesung zusammen. Engisch war einem ganz bestimmten systematischrechtsphilosophischen Prinzip und seinen praktischen Folgen auf der Spur: dem, daß das Recht nicht nur auf der Erkenntnisseite - als systematische Rechtswissenschaft - , sondern auch auf der Gegenstandsseite - als bruchlos geschlossene Sollensordnung - widerspruchslos angelegt sei 10. Wir werden - und ich werde vor allem - immer wieder auf diesen Gedanken zurückkommen. Doch unser werden zu Makulatur." Zu den hierdurch hervorgerufenen Mißverständnissen vgl. Karsten Schmidt, in: Okko Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 80. 6 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 32 ff., 38 ff.; Luhmann ging es um eine gesellschaftstheoretische Deutung des Verfahrens als soziales System im Dienst der "Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen"; zur Verselbständigung des Schlagworts in der juristischen Literatur vgl. Karsten Schmidt, Drittschutz, Akteneinsicht und Geheimnisschutz im Kartellverfahren, 1993, S. 3 f. 7 Zippelius, Rechtsphilosophie, 1982, S. 199 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 487 ff.; Paul Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978, S. 8; Bydlinski, Jur. Methodenlehre und Rechtsbegriffe, 2. Aufl. 1991, S. 34. 8 Friedrich Müller, Juristische Methodik, 3. Aufl. 1989, S. 216 ff.; vgl. auch dens., Richterrecht (Elemente einer Verfassungstheorie IV), 1986, S. 120 f.; Einheit der Rechtsordnung, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Bd. I, Gruppe 2 / 80, 1986, a. E. 9 Grimm, AcP 171 (1971), 266 ff. \0 Engisch, Einheit, S. 2 f., 7 ff.

Einheit der Rechtsordnung - Realität? Aufgabe? Illusion?

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Themenkreis ist von solcher Abstraktionshöhe frei und lebt geradezu von einem bei Engisch als Untugend gebrandmarkten Phänomen: dem, daß Juristen mit der ,,Einheit der Rechtsordnung" ganz unterschiedliche Fragen verbinden 11. Wer auf das Programm unserer Vorlesung blickt, wird darin neben Philosophie, Geschichte und Systematik Themen der Rechtspraxis und Rechtspolitik finden bis hin zu den Fragen der deutschen Einheit und der europäischen Integration am Ende des Semesters. Im Gesamtaufbau werden wir uns immer stärker von Engisch lösen. Ich selbst will mich um den Einstieg bemühen und mich dafür in aller Bescheidenheit dem Grundlagenwerk von Engisch nähern. Das wird in drei Hauptteilen geschehen, die man wie folgt überschreiben mag: -

Das Verhältnis unter den Rechtsdisziplinen (sogleich unter 11),

-

Die Stimmigkeit unserer Rechtsnormen (sodann unter III) und

-

Die Problematik der Pflichtenkollision (unter IV).

11. Das Verhältnis unter den Rechtsdisziplinen 1. Die notwendige Gliederung des Rechts

a) Die erste Frage meines Themas ist die nach der Einheit der Rechtsordnung als Realität. Sie ist so schwierig wie das ganze Thema, denn: Kann Recht Realität sein? Und wenn es dies ist: Woran erkennen wir, ob die Rechtsordnung einheitlich ist? Wer im Studium oder im Staatsexamen auf den "Schönfelder" und den "Sartorius" blickt oder wer zum erstenmal in unsere Bibliotheken kommt, wird sich nicht leicht tun mit der Vorstellung, daß hinter dem sichtbaren Wirrwarr eine Einheit der Rechtsordnung steht. Und wenn etwa die Bundesjustizministerin, die These von Engisch auf den Lippen, vor die Presse träte, wäre gewiß Hohngelächter die Antwort, denn mit Alltagserfahrungen vertraute Kritiker würden sich fragen, ob denn Juristen selbstzufriedene Philister oder vielleicht gar Zyniker sind. Bevor wir aber urteilen, sollten wir sehr behutsam fragen, was wir uns unter der Einheit der Rechtsordnung vorstellen, und da genügt die naive Alltagserfahrung nicht. Wir sind vielmehr auf die Welt der Gedanken - z. B. auf Engisch - verwiesen. b) Eines steht der Einheit der Rechtsordnung gewiß nicht entgegen: daß sich das Recht - nach außen erkennbar an unseren Gesetzessammlungen - vielfältig gliedert. Als Regelsystem der sozialen Ordnung verstanden, gibt sich das Recht nicht dadurch als Einheit zu erkennen, daß es als ein ungeteilter Block vor uns steht. Im Gegenteil: Nur was gegliedert ist, kann Ordnung - also auch Rechtsordnung - sein. Aber wie sieht eine Gliederung aus, die der Einheit der Rechtsord11

Engisch, Einheit, S. 1.

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Karsten Schmidt

nung dient? Immer wieder - auch bei Engisch - taucht beispielsweise die Frage auf, ob unsere kontinentaleuropäische Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht eine zu korrigierende Fehlentwicklung ist. Engisch - wir befinden uns wohlgemerkt am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft scheint unsicher, wohin die damals beschworene sog. "Rechtserneuerung" führen werde, und zieht sich in diesem Punkt eher mit Allgemeinplätzen aus der Affäre 12. Im Vorblick auf den Vortrag von Götz Landwehr 13 scheint es mir interessant, daß Engisch mit der bloßen Berufung auf die Einartigkeit des vorrezeptionellen deutschen - insbesondere germanischen - Rechts nicht allzuviel anfangen kann, und richtig scheint jedenfalls, daß wir uns hüten sollten, die innere Trennung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht aus bloßer Gewohnheit - etwa weil uns die Trennung der Rechtswege so vertraut ist - ein für allemal zu bejahen. Rechtsmaterien können prinzipiell auf zweierlei Weise gegliedert werden: entweder nach Lebenssachverhalten oder nach abstrakt juristischen Kategorien. Sprechen wir vom "Baurecht", vom "Umweltrecht" oder "Medienrecht", so grenzen wir Lebensbereiche ab, müssen dann allerdings gleichzeitig das Privatrecht, das Verwaltungsrecht und das Strafrecht behandeln. Sprechen wir vom ,,Privatrecht" und vom "öffentlichen Recht", so arbeiten wir mit geordneten juristischen Kategorien, dürfen uns aber nicht wundern, daß wir die Lebensbereiche segmentieren. Es ist ein altes Thema, wie unser Rechtsunterricht - und der ist ja Spiegelbild des Rechtssystems! - geordnet werden soll. Moderner und praxisnäher scheint immer wieder die Teilung nach Lebensbereichen. Auch wer etwa in der Rechtsabteilung eines Presseunternehmens oder beim Bundeskartellamt sitzt, wendet ja nicht Bürgerliches Recht, Verwaltungsrecht oder Strafrecht an, sondern Presserecht oder Kartellrecht, und so hat man uns immer wieder vorgeworfen, uns fehle der Blick auf das Ganze. Wir bildeten Justizjuristen aus, die eine Klage als unzulässig abweisen oder an einen anderen Rechtsweg verweisen, wenn sie als Zivilrichter mit einer öffentlichrechtlichen oder als Verwaltungsrichter mit einer zivilrechtlichen Frage befaßt werden (§ 17a GVG). Aber das öffentliche und das private Recht unterscheiden sich vor allem in ihren allgemeinen Lehren, und es ist leichter, diese später in der Praxis zusammenzusetzen, als schon im Studium die juristisch ganz unterschiedlichen Facetten eines Lebenssachverhalts auf einmal zu erfassen. Die herkömmliche Ordnung des Rechtsstoffes sollte deshalb nicht vorschnell als lebensfremd abqualifiziert werden. 2. "Technische Widersprüche"

Nichts mit der Einheit der Rechtsordnung hat auch die Terminologie zu tun. Diese ist in unseren Gesetzen teils einheitlich, teils aber auch uneinheitlich. 12 13

Engisch, Einheit, S. 36 ff. Unten, S. 31 ff.

Einheit der Rechtsordnung -

Realität? Aufgabe? Illusion?

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Engisch spricht dann von "technischen Widersprüchen" 14. Beispiele gibt es zuhauf, und ich will nur wenige nennen.

Zu den ersten juristischen Weisheiten, mit denen wir uns im Studium vertraut machen, gehört die Unterscheidung des Besitzes als einer bloßen Sachherrschaft vom Eigentum als einem absoluten Recht an der Sache. Sehr bald lernen wir aber auch die Relativität dieser Begriffe kennen. Beispielsweise reicht der Eigentumsschutz nach Art. 14 GG über den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff weit hinaus 15. Auch ungegenständliche Rechte sind hiervon erfaßt, und jüngst hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß das Besitzrecht des Wohnungsmieters ,,Eigentum" i. S. von Art. 14 GG sein kann 16. - Aber nicht nur der Eigentumsbegriff schwankt. Das Wort "Besitz" hat bekanntlich im Unterschlagungstatbestand des § 246 StGB eine andere Bedeutung als im BGB, weshalb wir im Studium lernen: Hier ist nur der "Gewahrsam" gemeint. Die Zivilprozeßordnung spricht von der Pfändung einer im "Gewahrsam" des Schuldners befindlichen Sache (§ 808 ZPO), meint aber damit wiederum nicht dasselbe wie die Gewahrsamslehre im Strafrecht. So ist beispielsweise der Fahrer und Bewacher eines Geldtransports zivilrechtlich nur Besitzdiener (§ 855 BGB). Strafrechtlich kann er Gewahrsamsinhaber sein (was einen Mitgewahrsam des Besitzherrn, der Bank, nicht ausschließt). Im Sinne der ZPO hat er keinen Gewahrsam: Für die Pfändung genügt ein gegen den Prinzipal (also in unserem Beispiel: die Bank) gerichteter Titel. Ich will hier abbrechen, denn die Beispiele sind so zahlreich wie uninteressant. Die "technischen" Widersprüche können unterschiedliche Gründe haben. Es kann sich um gesetzgeberische Pannen, häufiger aber um historische Verschiebungen handeln, wie etwa in § 17 KO, wo die "gegenseitigen Verträge" des jüngeren BGB als "zweiseitige" bezeichnet sind. Wir müssen auch bedenken, daß die menschliche Sprache von Vielfalt und Sparsamkeit gleichzeitig lebt: von der Vielfalt, damit wir differenzieren, von der Sparsamkeit, damit wir wiedererkennen können. Die Terminologie der Gesetze kann deshalb gar nicht jeder Differenzierung folgen, so daß selbst der beste Gesetzgeber gegen terminologische Schwächen nicht gefeit ist. Behalten wir das im Auge, so droht für die Einheit der Rechtsordnung keine Gefahr.

3. Das Akzessorietätsproblem

a) Viel interessanter als die bloße Terminologie ist die Frage, inwieweit ein Rechtsgebiet dem anderen inhaltlich folgen soll. Diese Frage wird vor allem für Engisch, Einheit, S. 43 f. Nachweise bei Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Auf!. 1990, S. 174f., insbes. Fn. 97. 16 BVerfG, NJW 1993, 2035. 14 15

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das Strafrecht diskutiert, und hier stammt das klassische Werk nicht von Engisch, sondern von Hans- Jürgen Bruns. Es erschien 1938 und heißt: "Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken". Bruns räumte ein, daß er sich von Engisch nicht unwesentlich unterscheide, denn was dieser als "technischen Widerspruch" herunterspiele, sei Ausdruck einer notwendigen Verselbständigung der Rechtsgebiete 17 • Das Ziel seines Ansatzes war 1,eine spezifisch strafrechtliche Begriffsbildungs- und Auslegungsmethodik"18 . Wie nicht anders zu erwarten, nahm sich Bruns ganz besonders der Vermögensdelikte Betrug und Untreue und hier ganz besonders des Schadensbegriffs an. Wenig Revolutionäres steht dagegen in seinem Buch über den Fremdheitsbegriff in den §§ 242 und 246 StGB, denn hier folgt Bruns dem, was wir alle gelernt haben: Nach wohl allgemeiner Ansicht ist die Fremdheit ein normatives, und zwar ein zivilrechtsakzessorisches Merkmal l9 • Fremd ist eine Sache, die nicht im ausschließlichen Eigentum des Täte,rs steht. Nun hat unsere Eigentumsordnung einen Funktionswandel durchlaufen, seit es üblich geworden ist, bewegliche Sachen zur Sicherheit zu übereignen, statt sie zu verpfänden 20. Stellen wir uns etwa einen Gläubiger und zwei Schuldner vor. Der erste Schuldner hat sein Rennrad, mit dem er noch fahren soll, an den Gläubiger nach § 930 BGB zur Sicherung übereignet, ist also Gewahrsamsinhaber geblieben. Der zweite hat ihm ein Gemälde durch Einigung und Übergabe verpfändet. Nehmen wir jetzt an, daß beide Schuldner das Sicherungsgut an einen Dritten verkaufen, wozu der zweite das Gemälde zunächst einmal an sich bringt. Dann begeht unser erster Schuldner ein Eigentumsdelikt, nämlich eine Unterschlagung (§ 246 StGB), der zweite dagegen ,,nur" eine Pfandkehr nach § 289 StGB, obwohl beide nichts anderes als eine Kreditsicherung verletzt haben und der zweite hinsichtlich des Gemäldes obendrein noch Gewahrsam gebrochen hat 21 . Das ist schon mehr als ein Schönheitsfehler, und unsere Strafrechtler dächten bestimmt viel über diese Unstimmigkeit nach, wenn ihnen nicht eine unbeabsichtigte Weisheit des Gesetzgebers zu Hilfe käme: Das Strafmaß der §§ 246 und 289 StGB ist gleich, und unserem zweiten Schuldner, der ja der Schlimmere ist, können wir noch einen Betrug gegenüber dem Erwerber anhängen, denn das Rennrad kann gutgläubig erworben werden (§ 932 BGB), das Gemälde nicht ohne Belastung mit dem Pfandrecht (§§ 936, 935 BGB analog). Insofern scheint unser strafrechtlicher Eigentumsschutz am Ende gerettet. Aber wir haben jetzt eines gelernt: Folgt ein Rechtsgebiet blindlings dem anderen, so muß dies keine Garantie, kann vielmehr auch eine Gefahr für die Einheit der Rechtsordnung bedeuten. 17

Bruns, Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, 1938, S. 3.

18 Ebd., S. 7.; auch Engisch hatte freilich das Strafrecht als eine "weitgehend in sich

ruhende Materie" bezeichnet; vgl. Einheit, S. 32. 19 Vgl. nur RGSt. 1,343,344; 66,405,406; std. Rspr.; BGHSt 6,377,378; Schönke / Schröder / Eser, StGB, 24. Aufl., 1991, § 242 Rdnr. 12. 20 Staudinger / Wiegand, 12. Aufl. 1989, Anh. zu §§ 929 ff., Rdnm. 20 ff. 21 Eingehend Baumann, Der strafrechtliche Schutz bei den Sicherungsrechten des modemen Wirtschaftsverkehrs, 1956, S. 45 ff., 133 ff., 201 ff.

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b) Diese Beobachtung läßt uns ein Rechtsgebiet berühren, in dem besonders viel von der Einheit der Rechtsordnung die Rede ist: das Steuerrecht. Der Bundesfinanzhof hat mehrfach erklärt, zivilrechtliehe Begriffe seien in Steuergesetzen nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung im Zweifel zivilrechtsakzessorisch auszulegen 22 • Er hat hierfür Beifall erhalten, aber er hat sich auch selbst eine Gegnerschaft herbeigeredet, die laut um die Einheit der Rechtsordnung zu trauern beginnt, sobald die Finanzrechtsprechung von zivilrechtlichen Vorgaben abweicht 23 • Andere - unter ihnen befindet sich der Hamburger Professor Rainer Walz - plädieren für eine Eigenbegrifflichkeit des Steuerrechts 24 und werden sogleich als Gegner der Einheit der Rechtsordnung ausgegeben 25 • Ich halte das - ohne mich auf Einzelheiten einlassen zu können - für ein monströses Mißverständnis. Zwei Grundsätze ermöglichen im Steuerrecht eine Loslösung vom Zivilrecht: die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise und das sog. Wirklichkeitsprinzip. Das Wirklichkeitsprinzip (§ 40 AO) besagt, daß die Gesetz- oder Sittenwidrigkeit eines Verhaltens oder Vertrages die Besteuerung nicht hindert. Hierauf stützt sich beispielsweise die Einkommenbesteuerung der Prostituierten 26. Aus der sog. wirtschaftlichen Betrachtungsweise - einer vieldiskutierten, im Grunde nur negativ als Nicht-Bindung an das Zivilrecht definierten, Methode der Finanzrechtsprechung 27 - wird umgekehrt auch gefolgert, daß selbst ein zivilrechtlich wirksamer Vertrag - z. B. ein Gesellschaftsvertrag mit der Ehefrau und den Kindern - nur anerkannt wird, wenn er ernsthaft gewollt und tatsächlich durchgeführt wird 28. Diese Praxis wird nicht selten als ein eklatanter Verstoß gegen das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung gescholten 29 , indes wohl zu Unrecht. Was zunächst das Wirklichkeitsprinzip anlangt, so passen die Dinge gar nicht so schlecht zueinander: Erhält eine Prostituierte keinen Lohn, so kann sie ihn nicht mit Erfolg einklagen (§ 138 BGB). Hat sie ihn erhalten - wofür sie im BFH BStBl. m 1961, 188 = BB 61, 475; BStBl. m 1962, 127 = DB 1962, 356. Vgl. namentlich Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 187 ff., 206 ff. 24 Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 199, 208 f.; SchulzeOsterloh, AcP 190 (1990), 160 ff. 25 Vgl. zuvor schon SöjJing, in: Tipke (Hrsg.), Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, 1978, S. 125 ff., insbes. 128. 26 BFH, GrS. BStBl. m 1964, 500 = DB 1964, 1397; dazu auch Walz, ZHR 147 (1983),285. 27 Umfassende Kritik bei Pauliek, DStR 1975,566 ff.; Pawlowski, BB 1977,253 ff. 28 BFHE 107, 35 = BStBl. II 1972, 944 (betr. Umfang von Arbeitsvergütungen für im Unternehmen mitarbeitende, erwachsene Kinder); BFHE 118, 181, 184 = BStBl. II 1976, 328 (betr. Mitunternehmerschaft minderjähriger Kommanditisten, deren Rechte von den allein persönlich haftenden Eltern ausgeübt werden); eingehend Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 505 ff. 29 Vgl. namentlich Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 187 ff., 206 ff., 256 f., 331 ff. 22 23

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Zweifel auch ohne juristische Vorkenntnisse sorgen wird - , so braucht sie ihn nicht herauszugeben (§ 817 Satz 2 BGB). Steuern muß sie nach dem Zuflußprinzip nicht deshalb zahlen, weil sie das Entgelt verlangen konnte, sondern weil sie es verdient hat 30 . Auch was den steuerrechtlichen Vorbehalt bei der Anerkennung von zivilrechtlieh wirksamen Verträgen anlangt, so scheint mir (ohne daß damit die Rechtsprechung in den Einzelergebnissen beurteilt werden kann) die Methode des Bundesfinanzhofs nur zu einleuchtend und geradezu durch die Natur der Sache gefordert. Das Zivilrecht hat dafür zu sorgen, daß Vertragsabreden durchgesetzt werden können, vorausgesetzt sie sind wirksam (sonst §§ 134, 138 BGB) und ernsthaft gewollt (sonst § 117 BGB). Wollte die Steuerrechtspraxis streng zivilrechtsakzessorisch arbeiten und die zivilrechtliche Wirksamkeit genügen lassen, so könnte sie sich gegen Mißbräuche - Papier ist bekanntlich geduldig - nur mit den Waffen der §§ 138 BGB (Sittenwidrigkeit), 117 BGB (Scheingeschäft) und 42 AO (Umgehung) zur Wehr setzen, müßte sich also bei der Würdigung der Verträge weit aus dem Fenster lehnen. Der Ansatz der Praxis besteht demgegenüber darin, daß nur durchgeführte Verträge anerkannt werden, nicht schon solche, die zivilrechtlich durchgesetzt werden könnten. Mit einem Verstoß gegen die Einheit der Rechtsordnung hat das nichts zu tun. Nicht als Teil der Einheit der Rechtsordnung verstehe ich auch die hitzig geführte Debatte, ob das Steuerrecht, wie es vorwurfsvoll heißt, eine "unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts" ist. So hatten es Wiedemann und andere gesagt und dies auf die GmbH & Co. sowie auf die Publikumsgesellschaften gemünzt 3!. Brigitte Knobbe-Keuk - Steuerrechtlerin und Gesellschaftsrechtlerin zugleich - wettert entgegen 32: "Die Ankläger sind die Täter", denn die Gesellschaftsrechtler hätten ja all diese Steuersparveranstaltungen erst ermöglicht. Beide Standpunkte haben ihr für und wider. Solange durch gesellschaftsrechtliche Gestaltungen Steuern gespart werden können, wird der Trend zur Deformierung des Gesellschaftsrechts anhalten. Hiergegen mit gesellschaftsrechtlichen Mitteln anzugehen, ist angebracht nur insoweit, als die Bedenken privatrechtlicher Art sind. Die fiskalische Anerkennung von Steuersparmodellen hingegen muß das Steuerrecht mit sich selbst ausmachen, und wenn dann seine Rückwirkungen auf das Gesellschaftsrecht vielleicht wiederum negativ sind - so teilweise bei § 15a EStG33 - , dann kann dies darin liegen, daß die steuerrechtliche Ursache von Fehlentwicklungen - sie liegt im Abschreibungsbereich mög30 So im Ergebnis auch Claßen. Besteuerung des Unrechts. Das Wirklichkeitsprinzip des § 40 AO im Lichte der Einheit der Rechtsordnung, Diss. Bonn 1981, S. 57 ff. 3! Wiedemann. Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 23. 32 Knobbe-Keuk. Das Steuerrecht eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts?, 1986, S. 5. 33 Die gegen die Abschreibungsbranche zielende Nicht-Anerkennung von Verlusten bei negativem Kapitalkonto trifft in der Praxis auch die klassischen Kommanditgesellschaften.

Einheit der Rechtsordnung - Realität? Aufgabe? Illusion? licherweise in der Mitunternehmerbesteuerung nach § 15 EStG34 steuerimmanent nicht grundsätzlich genug angepackt worden ist.

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schon

111. Einheit der Rechtsordnung und innere Stimmigkeit des positiven Rechts Der dem Verhältnis unter den Rechtsdisziplinen gewidmete Teil ist hiermit zu einem Abschluß gelangt. Mit der Frage, was unser geltendes Recht für die Einheit der Rechtsordnung tut, wird es sich nun um den Nachweis handeln, daß sich das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung nicht nur bei abstrakter Betrachtung unserer Rechtsdisziplinen, sondern auch bei der Arbeit am Fall behauptet. 1. Materielles Recht und Verfahrensrecht Zunächst leistet - auch von Engisch betont 35 - unser Verfahrensrecht einen erheblichen Beitrag zur Einheit der Rechtsordnung. Vielzitierte Beispiele - für Studenten allerdings außerhalb der eigenen Anschauungswelt - sind die Vorlagepflichten des Gerichtsverfassungsrechts 36: Will ein Senat beim Bundesgerichtshofvon einem anderen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat (bzw. umgekehrt) oder schließlich ein BGH-Senat etwa vom Bundesarbeitsgericht abweichen, so legt er nach einer Voranfrage die Rechtsfrage dem Großen Senat, dem Vereinigten Großen Senat bzw. dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vor (§§ 132 GVG, § 3 RSprEinhG). Daß dies einer Konkordanz der Entscheidungen dient, leuchtet ein. Weniger bekannt, aber besonders signifIkant ist der Rechtsweg in Kartellrechtssachen. Nehmen wir an, ein Unternehmen z. B. eine Supermarktkette - mißbrauche seine Nachfragemacht durch Diskriminierung oder Sperrung von Anbietern. Das ist nach § 26 GWB verboten und kann zu Bußgeldern, behördlichen Untersagungsverfügungen und SchadensersatzanspTÜchen führen. Diese mehrseitige Sanktionstechnik des sog. Kartellgesetzes hat in materiellrechtlicher Hinsicht die Frage aufgeworfen, ob dieselbe Bezugsnorm - in unserem Fall § 26 GWB - im Bußgeldverfahren, im Anfechtungsverfahren und im Zivilprozeß unterschiedlich ausgelegt werden darf 37 . Dazu, daß dies nicht geschieht, tragen die Zuständigkeitsregeln bei: Nach allgemeinem Verfahrensrecht würden diese Fälle einmal vor die Strafsenate gehören (wenn das Bundeskartellamt einen Bußgeldbescheid erlassen hat), einmal vor die Verwaltungsgerichte (wenn die Kartellbehörde eine Untersagungsverfügung erließ), 34 Dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmens steuerrecht, S. 368 f. 35 Engisch, Einheit, S. 14. 36 Vgl. nur Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 1990, Rdnr. 391. 37 Dazu eingehend Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht - Kartellverwaltungsrecht - Bürgerliches Recht, 1977, S. 126 f., 276 f., 304 f., 517. 2 Vielfalt des Rechts

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einmal vor die Zivilgerichte (wenn auf Schadensersatz geklagt wird). Aber nach dem Kartellgesetz ist es anders 38. Es entscheiden, sieht man von der Landgerichtszuständigkeit im Zivilprozeß erster Instanz ab, immer nur die Kartellsenate, in der Praxis meist die des Kammergerichts (weil das Bundeskartellamt in Berlin sitzt) und des Bundesgerichtshofs (§§ 62, 73, 82, 83, 92 GWB). Diese Senate sind gleichsam Zivilgerichte, Strafgerichte und Verwaltungsgerichte in einem, gewissermaßen die Monopolisten der Kartelljustiz. Es ist dies einer der wichtigsten Fälle der Zuweisung von Verwaltungsrechtssachen an die ordentlichen Gerichte (§ 40 Abs. 2 VwGO) und ein bemerkenswerter Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts, denn hier laufen gigantische Verwaltungsprozesse über Schlüsselfragen des Wirtschaftsrechts - z. B. über die Fusionskontrolle - und Bußgeldverfahren großen Ausmaßes, die von den meisten Professoren des öffentlichen Rechts und des Strafrechts überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Auch sonst tut unser Verfahrensrecht viel für die Einheit der Rechtsordnung. Die Rechtskraft von Urteilen und die Bestandskraft von Verwaltungsakten erschöpft sich ja nicht nur in dem formellen Grundsatz "ne bis in idem", sondern in den objektiven und subjektiven Grenzen der Rechtskraft oder Bestandskraft ist die Entscheidung oder Maßnahme verbindlich. Besonders deutlich ist dies im Bereich der Anfechtungsklagen: Ein Verwaltungsakt ist, sofern er nicht an einem besonders schweren Mangel leidet (die Nichtigkeitsgründe stehen in § 44 VwVfG) wirksam, auch wenn er rechtswidrig ist. Ist er jedoch mit Erfolg angefochten worden, so macht ihn die Gestaltungswirkung des Urteils (§ 113 VwGO) mit Wirkung für und gegen jedermann nichtig. Das ist Dienst an der Rechtssicherheit - in meinen Augen aber auch Dienst an der Einheit der Rechtsordnung, und ich wundere mich etwas, wenn Engisch 39 , als Strafrechtler offenbar unter dem Eindruck des fehlerhaften Strafurteils (es gab noch die Todesstrafe!)4O, die Fragen der Rechts- und Bestandskraft tendenziell nur als Hindernisse und nicht als Brücken auf dem Wege zur Einheit der Rechtsordnung diskutiert. 2. Drittwirkung der Grundrechte

Es hat lange gedauert, bis ich das Thema der sog. Drittwirkung von Grundrechten als ein Thema der Einheit der Rechtsordnung begriffen habe. Nach der Karsten Schmidt, Gerichtsschutz in Kartellverwaltungssachen, 1980, S. 3 ff. Einheit, S. 13 ff.; Engisch sieht bei rechtskräftigen Fehlentscheidungen ganz auf den Gegensatz zwischen dem (fehlerhaften) ,,Erzeugungszusammenhang" und dem "Geltungszusarnmenhang" . 40 Es scheint mir eine verbreitete Untugend der Professoren zu sein, die materielle Rechtskraft vorwiegend am Beispiel des unrichtigen Urteils zu erproben (auch der Streit um die "materiellrechtliche" Rechtskrafttheorie gehört hierher); die materielle Rechtskraft ist für die richtigen Urteile bestimmt, fügt dem Urteil aber ein Gütesiegel hinzu, das vorbehaltlich Wiederaufnahme und § 826 BGB die Richtigkeitsprüfung verhindert. 38

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herrschenden Auffassung sind die Grundrechte gegen den Staat gerichtet, und hieraus ergibt sich für die herrschende Meinung die Frage, ob es eine "unmittelbare" oder doch "mittelbare" Wirkung auch gegen Private gibt 41 . Im Anschluß an das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im siebenten Band - das ist die Sache mit dem Pressekrieg gegen Veit Harlans ,,Jud-Süß-Verfilmung" 42 - wird vielfach von einer bloßen Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht gesprochen, und so habe ich es auch aus dem Studium in Erinnerung. Die Drittwirkung stellte sich mir früher so dar, als wollten die Grundrechte ein Terrain erobern, das ihnen eigentlich fremd ist, und gingen auf diese Weise statt auf den Staat auf diejenigen los, die ich mir nicht als Adressaten, sondern als Inhaber von Grundrechten vorstellte. Eines Tages nun bekam ich als Assistent in Bonn die recht bissig formulierte Dissertation eines Gießener Kollegen in die Hand, die gegen die "sogenannte" Drittwirkung der Grundrechte zu Felde zog43. Dieser Kollege aus Gießen, ]ürgen Schwabe mit Namen, leitete, was uns immer als Drittwirkung gepredigt wurde, schlicht und einfach aus Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 Grundgesetz her 44: Wenn die Gesetzgebung an die Grundrechte und an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist, dürfen Privatrechtsnormen nicht grundrechtswidrig sein. Sind aber Privatrechtsnormen an den Grundrechten zu messen, ist es - so die hier vereinfachte Kernthese - ganz überflüssig, von einer Drittwirkung oder gar von einer bloß mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zu sprechen, denn diese angebliche Drittwirkung ergibt sich ganz einfach schon aus der unmittelbaren Grundrechtsgebundenheit des mit Gesetzgebungshoheit ausgestatteten Staates. Dieser Ansatz hat mir auf Anhieb gefallen. Ganz abgesehen davon nämlich, daß ich ihn mehr und mehr in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wiederzuerkennen glaube 45 , hat er mich etwas Wichtiges gelehrt: Die vielbestaunte Drittwirkung der Grundrechte ist keine absonderli che, sondern eine ganz normale Erscheinung. Und: Sie ist Bestandteil der Einheit der Rechtsordnung. Wenn Schwabes Denkansatz am Ende wohl doch nicht den ganzen Bereich der sog. Drittwirkung erfaßt, dann liegt das daran, daß im Gegensatz zum öffentlichen Recht nicht jede privatrechtliche Position, insbesondere nicht jedes subjektive Privatrecht durch objektives Recht - also durch Gebote, Verbote und Ermächtigungen - vorgeprägt ist. Die Normenhierarchie zwischen Verfassungsrecht und objektivem Bürgerlichen Recht allein kann uns deshalb das Drittwirkungsproblem nicht ersparen 46. In dem Gegensatz zwischen einer objektivrechtlichen (Schwabe) und einer subjektivrechtlichen (Canaris) Betrachtungsweise sehe ich den Hauptgrund für einen im Archiv für die civilistische 41 Vgl. für viele Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 28. Aufl. 1991, S. 150 ff. 42 BVerfGE 7, 198,205 und dazu Leitsatz 2. 43 Schwabe, Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 44 Ebd., S. 26 ff., 45 ff.; zusammenfassend Schwabe, AcP 185 (1985), 1 ff. 45 Beispiele: BVerfGE 72, 155, 170 ff. (§§ 1629, 1643 BGB); 85, 214 und 219 (Mietrecht); besonders deutlich jüngst NJW 1993,2035 (Art. 14 GG im Mietrecht). 46 Charakteristisch BVerfGE 73, 261, 269 (Sozialplan). 2*

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Praxis ausgetragenen Streit mit Claus-Wilhelm Canaris über die Methode der Grundrechtsanwendung im Privatrecht 47 , auf den ich nicht näher eingehen kann. Schon die Tatsache aber, daß und wie hier zwei Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen miteinander debattieren, ist in meinen Augen ein Stück Einheit der Rechtswissenschaft. 3. Normenhierarchie

Schwabes Theorie über die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte - in Wahrheit über den Vorrang der Verfassung auch im Privatrecht - gibt mir das Stichwort für ein neues Instrument der Einheit der Rechtsordnung. Gemeint ist die Normenhierarchie, und da uns die Ringvorlesung noch mit Art. 31 GG beschäftigen wird (Bundesrecht bricht Landesrecht)48, wollen wir uns weiter in der Nähe der Schwabe' sehen Lehre bewegen, aus der ja zu lernen war, daß die Bindung des niederrangigen Rechts an das höhere Dienst an der Einheit der Rechtsordnung ist. Nun hat allerdings diese Normenhierarchie ihre Tücken. Das höherrangige Recht kann ja nicht nur durch Vorbehalte und Verweisungen das niederrangige in sich aufnehmen - ein klares Beispiel sind die Grundsätze des Berufsbeamtenturns in Art. 33 Abs. 5 GG - , es kann nicht nur - wie bei der "verfassungsmäßigen Ordnung" in Art. 2 GG49 - ein Sich-gegenseitig-Bedingen des höher- und des niederrangigen Rechts implizieren, sondern nicht selten ist auch das höherrangige Recht in solchem Maße abstrakt und ausfüllungsbedürftig, daß wir es erst unter Zuhilfenahme des niederrangigen Rechts verstehen und anwenden können 50. Diese inhaltliche Schwäche mancher höherrangiger Norm wirft die Frage auf, wie gut denn die Normenhierarchie funktioniert. Hierüber erschien im Jahr 1964 in der Reihe "Recht und Staat" eine Arbeit des Erlanger Staatsrechtiers Walter Leisner mit dem aufrüttelnden Titel: "Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung." Leisner stellte in jener Arbeit fest, daß es neben offenen Verweisungen des Grundgesetzes auf einfaches Recht 51 in großem Maß eine Auffüllung verfassungsrechtlicher Normen durch einfaches Gesetzesrecht gebe 52 - bis hin zu einem unkontrollierten, den - wie es Leisner nannte - begrifflichen "Selbstand" der Verfassung bedrohenden, Rückgriff der Verfassungsauslegung auf einfaches Recht 53. Insbesondere die immanenten Grundrechtsschranken erschienen Leisner als Einfallstore des 47 Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; Schwabe, AcP 185 (1985), 1 ff.; Canaris, AcP 185 (1985), 9 ff. 48 Unten, S. 113 ff. 49 Vgl. zu diesem Begriff BVerfGE 6, 32, 38 (,,Blfes"); 50, 256, 262. 50 Vgl. Hesse, Grundzüge (Fn. 15), 17. Aufl. 1990, Rdnm. 46, 69, 85. 51 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 23 f. 52 Ebd., S. 28. 53 Ebd., S. 32 ff.

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einfachen Rechts verdächtig 54, die Ausfüllung von Verfassungsnormen aus der "Tradition" niederrangiger Normbereiche gleichsam als Usurpation eines dem einfachen Recht nicht zukommenden Rangs 55. Die Konkretisierung von Verfassungsnormen mit Hilfe von Kategorien, Grundsätzen und Theorien aus dem einfachen Recht ist zwar auch nach Leisner nicht ganz zu vermeiden 56 und als Gebot der Einheit der Rechtsordnung durchaus legitim 57. Aber man müsse das eben als Rezeptionsvorgang erkennen und das Verfassungsrecht gegen den ängstlichen Blick auf die Tradition des einfachen Rechts schützen. Während meiner Referendarstage bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer hatte ich Gelegenheit, über das damals ganz neue Buch zu referieren. Ich war fasziniert und bemühte mich - noch über Leisner hinaus um den Nachweis, welche Kawalkade von trojanischen Pferden aus den Niederungen des einfachen Rechts in die Zitadelle des Verfassungsrechts herein gerollt worden war. Als Dank für diese Großtat erhielt ich eine eher dürftige Seminarnote, weil die Tendenz falsch sei. Das mochte gerecht sein oder nicht - ich fand es ungerecht - , aber eines habe ich doch gelernt: Die Einheit der Rechtsordnung läßt das Verhältnis zwischen Normen höheren und niederen Ranges als ein dialektisches erkennen. Eine Verfassungs interpretation, die sich für das einfache Recht blind stellt, wird zu nichts Gutem führen. Ein in meinen Augen abschrekkendes Beispiel ist etwa die Praxis zur Pfändung in Wohnungen. Nach § 758 Abs. I ZPO - einer seit 1877 unveränderten Norm 58 - ist der Gerichtsvollzieher befugt, zum Zwecke der Pfändung auch die Wohnung und die Behältnisse des Schuldners zu durchsuchen. Der Vollstreckungstitel- z. B. das Zahlungsurteil oder der gerichtliche Vollstreckungsbescheid - genügt also nach § 758 ZPO als Legitirnationsgrundlage für diesen Eingriff. Dabei hätte es bleiben können, wenn sich das Bundesverfassungsgericht an die von Leisner gescholtene Traditionsmethode gehalten hätte. Es hat dies nicht getan, sondern im Jahr 1979 entschieden, daß der Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG - Durchsuchungen außer bei Gefahr im Verzug nur kraft richterlicher Anordnung - auch für die Pfändung gilt 59. Formal läßt sich nun wenig gegen die Gründe des Bundesverfassungsgerichts sagen. Aber was dabei herauskam, will mir doch fragwürdig erscheinen: Die Rechtsverfolgung ist für den von der ZPO ohnedies nicht verwöhnten Gläubiger schwerer geworden, und was der Schuldner an verfassungsmäßigem Schutz gewonnen hat, ist angesichts der Masse der Fälle am Ende kaum mehr als eine Formalität. Dem von Leisner sog. "Selbstand" der Verfassungsnorm, Ebd., S. 41. Ebd., S. 47. 56 Ebd., S. 56. 57 Ebd., S. 61. 58 Vgl. § 678 CPO 1877. 59 BVerfGE 51, 97 = NJW 1979, 1539; dazu ffi. w. N. Rosenberg ! Gaul! Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Auf!. 1987, S. 338 f.; Peters, in: Festschrift Fritz Baur, 1981, S. 549 ff. 54

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hat man am Ende wohl auch nicht den besten Gefallen getan, indem der gewichtige Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG von einem rechtsstaatlichen Zentralanliegen zu einem Zwangsvollstreckungsritual verkam. 4. Höherrangige Prinzipien?

a) Von einem dialektischen Verhältnis in der Normenhierarchie war soeben die Rede. Aber nicht nur höherrangiges positives Recht sucht auf diese Weise der Einheit der Rechtsordnung zu dienen, sondern ähnliches gilt auch für rechtsethisch fundierte, vielleicht gar naturrechtliche Grundsätze. Regelmäßig öffnet sich das Recht diesen Grundsätzen durch Generalklauseln 60 • Die Sittenwidrigkeitsregel des § 138 BGB besagt nichts anderes, als daß nicht nur ein Verstoß gegen gesetzliche Verbotsnormen (§ 134 BGB), sondern auch ein krasser Verstoß gegen Gerechtigkeitsvorstellungen zur Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts führen kann. § 826 BGB besagt, daß nicht nur ein Verstoß gegen gesetzliche Verbotsnormen (die sog. Schutzgesetze des § 823 Abs. 2 BGB), sondern auch ein krasser und vorsätzlicher Verstoß gegen Elementargrundsätze der Sozialordnung einen deliktsrechtlichen Vermögensschutz begründet. Auch Art. 6 EGBGB, die Vorschrift über den sog. ordre public im Internationalen Privatrecht, hat eine solche Funktion. Danach ist eine ausländische Rechtsnorm, auf die das Internationale Privatrecht verweist, nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit den Grundrechten, offensichtlich unvereinbar ist. Diese ordre-publicKlausel beruht auf dem Grundgedanken, daß materiale Gerechtigkeit unteilbar und die lex fori gewissermaßen in sich bruchfest ist 61 • Deutsche Gerichte müssen zwar fremdes, oft auch befremdliches Recht anwenden, aber sie dürfen sich nicht zu Handlangem von Gesetzen machen, die in exorbitanter Weise gegen die im nationalen Recht verkörperte Idee der materialen Gerechtigkeit verstoßen. ehristian von Bar bezeichnet den ordre public als ein "Überdruckventil" des Verweisungsrechts 62 • Dieses Konzept - es ist wohl im internationalen Privatrecht aller Länder vorzufinden - leuchtet ein. Es zeigt aber auch, daß die Einheit der Rechtsordnung insgesamt brüchig werden kann, wenn sie auf mehreren Ebenen verwirklicht werden soll, denn das Land, dessen gegen den ordre public verstoßendes Recht unser Richter nicht anwendet, wird doch wohl für sein Recht gleichfalls die Einheit der Rechtsordnung reklamieren. Das spricht für die Annahme, daß unser Konzept Friktionen zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen und Rechtsebenen nicht auszuschließen vermag. Dazu zuletzt Mayer-Maly, AcP 194 (1994), S. 105 ff. Kegel, Internationales Privatrecht, 5. Aufl. 1985, S. 302 f.; eingehend Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht, 1989, S. 143 ff. 62 v. Bar, Internationales Privatrecht I, 1987, Rdnr. 631. 60

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b) An diesem Punkt nun beginnt unser Thema, sich von einer ungemütlichen Seite zu zeigen, und wie ungemütlich es ist, zeigt sich am besten, wenn wir von lokalen zu zeitlichen Verschiebungen und vorn Privatrecht zum Strafrecht übergehen. Die Rede ist von dem ersten Mauerschützenurteil des Bundesgerichtshofs vorn 3. November 1992 63 • § 27 Abs. 2 Satz 1 des DDR-Grenzgesetzes erklärte den Schußwaffengebrauch für gerechtfertigt, wenn er dazu diente, "die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt". Unsere Gerichte gehen nun davon aus, daß der "ungesetzliche Grenzübertritt" i. S. von § 213 des DDR-StGB als ein Verbrechen i. S. dieser Bestimmung angesehen werden konnte. Trotzdem wurden die Schützen verurteilt. Im BGH-Fall hatte die Jugendkammer wegen des Rückwirkungsverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) den Rechtfertigungsgrund des DDR-Grenzgesetzes für prinzipiell anwendbar erklärt, obwohl er gegen den ordre public der Bundesrepublik verstoße. Sie hatte aber den § 27 dieses Gesetzes gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgelegt und die Tötung eines unbewaffneten ,,Repu~likflüchtigen" auch nach DDR-Recht für rechtswidrig erklärt. Der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht machte gar nicht erst den Versuch, das Problem auf diese Weise unter den Teppich zu kehren. Er ging davon aus, daß nach der zur Tatzeit in der DDR geübten Staatspraxis das Handeln der Angeklagten - Dauerfeuer, gezielt auf die Beine - selbst um den Preis des Todes der Angeklagten als gerechtfertigt angesehen worden wäre. Hieran aber schloß er die Frage an, "ob ein so verstandener Rechtfertigungsgrund wegen der Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer Betracht bleiben muß ... " Der Strafsenat hat diese Frage bejaht und - nicht ohne einen apologetischen Hinweis auf die Unvergleichlichkeit des Mauerschützenproblems mit dem nationalsozialistischen Unrecht - auf Formeln zurückgegriffen, mit denen auch nach dem Zweiten Weltkrieg versucht worden war, schwerste Rechtsverletzungen im untergegangenen Unrechts staat gleichsam überpositiv zu erfassen: Der unerträgliche Verstoß gegen die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung schließt die Anwendung von Rechtfertigungsnormen - hier: des DDRGrenzgesetzes - aus 64 • Unter diesen Voraussetzungen steht nach der Überzeugung des BGH auch Art. 103 Abs. 2 GG - also das Rückwirkungsverbot einer Bestrafung nicht im Wege, denn: "Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig. Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit 63 BGH NJW 1993, 141; dazu etwa Alexy, Mauerschützen, 1993, S. 8 ff.; Herrmann, NStZ 1993, 118 ff.; Roggemann, DtZ 1993, 10; zum gesamten Komplex Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, 1992. 64 Dazu m. w. N. Roggemann, DtZ 1993, 10, 17 f.

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seines Tuns zur Tatzeit angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen". Das ist gedanklich und wertungsmäßig schlüssig, wenn man davon ausgeht, daß das Rückwirkungsverbot nur gegenüber der rückwirkenden Einführung von Straftatbeständen als eine formale Sperre, gegenüber der rückwirkenden Auslegung von Recht als Unrecht dagegen nur als Willkürverbot wirkt. Das ist ein Problem, bei dessen Lösung wohl niemand mit den Richtern wird tauschen wollen, und wer vor den verurteilten Mauerschützen die Einheit der Rechtsordnung preisen wollte, dem würde nun doch wohl Zynismus vorgeworfen. Als Nicht-Strafrechtler stehe ich hier mit recht leeren Händen da und kann nur konstatieren, daß die Einheit der Rechtsordnung in Extremsituationen offenbar nicht imstande ist, objektive und subjektive Rechtstreue zur Deckung zu bringen, und wen kann es wundern, daß uns der so handfest-praktische Mauerschützenfall am Ende in Fragen der Rechtsphilosophie hineinführt 65 ? IV. Ptlichtenkollisionen 1. Fragestellung a) Das leitet über zu dem für Engisch den Mittelpunkt, für dieses Referat den letzten Hauptteil bildenden Problem der Pflichtenkollision. Die Einheit der Rechtsordnung als eine auf Systematik und Stimmigkeit bedachte Betrachtung des Rechts muß ja darauf gerichtet sein, das Recht zu einem widerspruchsfreien Pflichtenprogramm zu machen. Engisch 66 , der als Strafrechtler und offenbar unter dem Eindruck der auf das 19. lahrhundert 67 zurückgehenden Irnperativentheorie alles Recht auf Sollensgebote zurückführt - selbst ein dingliches Recht wie das Eigentum besagt nach dieser Lehre nur etwas darüber, was einer darf und andere nicht dürfen! 68 - , sorgt sich außerordentlich um den Beweis, daß uns das Recht nicht in absurde Situationen versetzen kann. Die Rechtsordnung ist nicht nur ein geschlossenes Ganzes - Rechtslücken gibt es nicht 69 , Gesetzeslücken führen zur Analogie 70 oder zu dem Satz "nulla culpa (nulla poena) sine lege", der seinerseits ja ein Rechtssatz ist 71 - , sondern die Rechtsordnung ist auch auf Widerspruchsfreiheit angelegt 72. 65 Vgl. nur Alexy, Mauerschützen, S. 5 f.; Adomeit, NJW 1993, 2914 f.; Hruschka, JZ 1992, 665 ff.; allgemein zur Beurteilung in der DDR begangener Straftaten Grünwald, StV 1991,31 ff. 66 Einheit, S. 4, 7 f. 67 Vgl. Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 8 ff. 68 Lehmann, Die Unterlassungspflicht im Bürgerlichen Recht, 1906, S. 62 ff. 69 Vgl. Engisch, Einheit, S. 42. 70 Zur Bedeutung der ,,Einheit der Rechtsordnung" für die Analogie vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 401 ff. 71 Vgl. Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB.

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b) Es bedarf wohl kaum der Hervorhebung, daß es Engisch nicht darum ging, Zielkonflikte im Recht zu leugnen. Es gibt sie zuhauf. Blicken wir etwa ins Wettbewerbsrecht, so will das Kartellrecht soviel Wettbewerb wie möglich (das Kartellgesetz heißt "Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen"), während das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb den Wettbewerb tendenziell beschränkt. Emmerich hat jüngst in der Festschrift für Gernhuber sinngemäß behauptet, daß unsere UWG-Rechtsprechung zu einer Art Zwangskartellierung führt, also mit dem Geist des Kartellgesetzes unvereinbar ist 73. Das mag nun richtig oder falsch sein. Engisch hätte sich jedenfalls nicht widerlegt gefühlt, sondern gesagt: Die Einheit .der Rechtsordnung ist nicht dazu bestimmt, Zielkonflikte zu leugnen, sondern sie widerspruchsfrei zu lösen. Solange die Wettbewerbsrechtsprechung eindeutige und stimmige Einzelergebnisse produziert, tut sie ihre Schuldigkeit. Erst wenn das Ergebnis nicht aufgeht, liegt ein Wertungs widerspruch vor.

2. Unmöglichkeit von Wertungswidersprüchen?

a) Schön wäre es nun um die Einheit der Rechtsordnung bestellt, wenn es solche Widersprüche überhaupt nicht erst gäbe. Für einen solchen Beweis werden bemerkenswerte intellektuelle Anstrengungen gemacht. In einem Aufsatz in der Zeitschrift ,,Rechtstheorie" lese ich, daß sich die Rechtsordnung auch konfliktfrei beschreiben läßt, vorausgesetzt man betrachtet z. B. im Strafrecht nur die Rechtsfolgenanordnungen, aber nicht die Gebote und Verbote als Normen 74 • Es liege z. B. nichts Unlogisches oder Sinnloses in dem Nebeneinander zweier Vorschriften, wonach (§ 1), wer die Türe öffnet, mit 200 DM Geldstrafe bestraft wird, und (§ 2) wer die Türe nicht öffnet, mit 200 DM Geldstrafe bestraft wird 75 • Die Aussage dieses Gesetzes sei eben schlicht die, daß in jedem Fall 200 DM zu zahlen seien. Ein ganz sekundäres Problem ist es dann, ob dies noch eine Strafbestimmung ist oder ob wir uns im Abgabenrecht befmden: Wer mit seinem Auto fährt, muß Kfz-Steuer bezahlen; wer nicht fährt, muß auch Kfz-Steuer bezahlen! Noch krasser finde ich die Deutung eines dem skandinavischen Rechtstheoretiker Ross nachgebildeten Beispiels 76 • § 1 dieses Beispiels lautet: ,,Es ist geboten, bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abzunehmen." § 2 lautet: ,,Es ist verboten, bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abzunehmen." Aus den folgenden Vorschriften ergibt sich, daß ein Verstoß gegen § 1 mit zweijährigem, ein Verstoß gegen § 2 mit einjährigem Kerker bestraft wird. - Wir sagen spontan: ein absurdes Gesetz! Doch unser Rechtstheoretiker erkennt neuerlich keinen 72

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Engisch. Einheit, S. 26 ff. Emmerich. in: Festschrift Gernhuber, 1993, S. 857 ff.

Wiederin. Rechtstheorie 1990, 311, 331. Ebd., S. 331. Ebd., S. 332.

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Normenkonflikt, denn man brauche das Gesetz ja nur sinnvoll in folgendem Sinn auszulegen: Wer zum Besuch von Maos Grab einen Hut mitnimmt, wird mit einjährigem Kerker bestraft; behält er den Hut vor dem Grab auf, verschärft sich die Strafe auf zwei Jahre. Alles ist stimmig, und nur die ungeschickte Normformulierung gaukelt uns einen Widerspruch vor! b) Das Beispiel ist kauzig, die Methode rabulistisch, die konsequente Abkehr vom zentralen Normbefehl- also auch von der für Engisch zentralen Imperativentheorie - schwer verdaulich. Wenn es dem Gesetzgeber darum zu tun ist, das Mitnehmen von Hüten zu Maos Grab zu verbieten, dann mag er dies sagen. Der Aufsatz lehrt uns jedoch, vor einer sonst vorschnellen Feststellung von NormwiderspTÜchen nach der versteckten Weisheit des Gesetzes zu fragen. Ein Beispiel aus dem geltenden Recht sei genannt: Der Geschäftsführer einer GmbH muß mit der Gesellschaft sorgsam verfahren und haftet auf Schadensersatz, wenn er z. B. in der Krise eine Sanierungschance versäumt (§ 43 GmbHG). Wird die Gesellschaft insolvent, so muß der Geschäftsführer nach § 64 GmbHG unverzüglich - allerspätestens binnen drei Wochen - den Weg zum Konkursrichter antreten und macht sich sogar strafbar, wenn er das versäumt (§ 84 GmbHG). Dieser Konflikt hat eine Debatte ausgelöst, die stark an Maos Grab erinnert: Der arme Geschäftsführer, so heißt es, handle rechtswidrig, wenn er zum Konkursrichter gehe, statt zu sanieren; er handle aber auch rechtswidrig, wenn er saniere, statt zum Konkursrichter zu gehen. Wie bei Maos Grab besteht aber die Lösung darin, daß § 64 GmbHG unrichtig formuliert ist. Die Konkursverschleppung ist nicht deshalb strafbar, weil es der Geschäftsführer versäumt, zum Konkursrichter zu gehen, sondern sie ist strafbar, weil der Geschäftsführer das insolvente Unternehmen fortführt 77. Beseitigt er die Überschuldung durch Sanierungsmaßnahmen, so ist alles gut, nicht anders, als wenn der zum Grabe pilgernde Mao-Verehrer seinen Hut zuhause läßt. 3. Der rechtswidrige bindende Befehl als absurde Situation

Leider läßt sich nicht jeder Wertungskonflikt nur durch genaues Nachdenken beheben, und damit gelangen wir zu einem bei Engisch besprochenen Strafrechtsproblem, mit dem, wenn mein Urteil nicht trügt, unsere Strafrechtler auch in den seither vergangenen 60 Jahren nicht recht vorangekommen sind: Ist Handlungsunrecht teilbar? Kann dieselbe Handlung zugleich rechtmäßig und rechtswidrig sein? Engisch verneint das und beginnt mit einem zunächst sonderbar anmutenden BeispieF8. Nehmen wir an, das Schießen in unbewohnter Gegend sei erlaubt. Nehmen wir weiter an, A, Bund C veranstalten in unbewohnter Gegend ein Wettschießen auf eine weidende Kuh. Darf man, so fragt Engisch, das Rechtswi77

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Karsten Schmidt, in: Festschrift Rebmann, 1989, S. 419 ff. Engisch, Einheit, S. 53.

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drigkeitsurteil dergestalt aufteilen, daß das Wettschießen als Schießen an diesem Ort erlaubt, aber als Schießen auf die Kuh verboten ist? Engisch hält eine solche Schizophrenie für ausgeschlossen, und zwar, wie er ausdrücklich betont, nicht aus logischen, sondern aus ontologischen Gründen 79. Nur ernsthaft gemeinte Rechtsbefehle verdienten die Anerkennung als Recht 80, und das Recht könne ein Tun nicht ernsthaft erlauben und zugleich verbieten 81 • Vom Kuhbeispiel geht er sodann zu einer ganz ernsthaften, bis heute umstrittenen Frage über: Kann die Befolgung eines Schießbefehls gleichzeitig geboten und verboten sein: geboten als Befehlserfüllung und verboten als Verletzung eines Dritten? Sie kann es nicht! Gegen das berühmte Lehrwerk von Friedrich Liszt und Eberhard Schmidt gewendet, heißt es sodann 82: "Immer unbegreiflich wird mir die Auffassung sein, daß der einen unbedingt verbindlichen Befehl ... Erfüllende dennoch rechtswidrig handeln könne". Da Engisch bis in sein hohes Alter arbeitete - er starb vor wenigen Jahren 83 - wird er noch viel Anlaß zum Kopfschütteln gehabt haben, denn bis heute fmdet sich in den Lehrbüchern die Rechtsfigur des rechtswidrigen Handeins von Soldaten und Beamten durch Ausführung bindender Befehle 84 • Folgt der Untergebene dem Befehl nicht, so handelt er rechtswidrig, folgt er ihm, so handelt er gleichfalls rechtswidrig. Er wird zwar, weil entschuldigt 85 , nicht bestraft, trägt aber das Risiko, seinerseits Opfer der Notwehrhandlung eines betroffenen Dritten zu werden. Die Frage wird bis heute diskutiert, aber wohl mehr in Form eines intellektuellen Spiels, denn wer jetzt an um sich schießende Polizisten denkt, kann nach dem positiven Recht beruhigt werden: Befehle und Anordnungen sind unverbindlich, ihre Verweigerung nicht rechtswidrig, wenn sie zu einer rechtswidrig begangenen Straftat oder zu einem Verstoß gegen die Menschenwürde auffordern 86. Der Konflikt ist damit mehr in die Ebene des Ordnungswidrigkeitenrechts und - nicht zu vergessen! - des zivilen Deliktsrechts hinabgedrängt und damit entschärft worden. Was aber die Einheit der Rechtsordnung anlangt, so hinterläßt er den Eindruck, daß die von Engisch reklamierte Bruchlosigkeit des Rechtssystems, so sehr wir um ihre Verwirklichung bemüht sind, doch nicht ganz an ihr Ziel gelangen will.

Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. 81 Ebd., S. 53. 82 Ebd., S. 53. 83 Vgl. den Nachruf in: Rechtstheorie 1991, 383 ff. 84 Überblick bei Küper, JuS 1987, 8I. 85 So Küper, JuS 1987,92; a. A. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S. 458. 86 Vgl. § 11 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 SoldG; § 22 Abs. 1 WStG; § 38 Abs. 2 2. HS. BRRG. 79

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v. Schluß 1. Die Einheit der Rechtsordnung als Aufgabe

Mit dieser relativistischen Beurteilung nähert sich das Referat seinem Ende. Die Einheit der Rechtsordnung ist nicht Realität im Sinne eines vorgegebenen Zustands, aber als ein dialektischer Prozeß, als ständiges Bemühen, Auseinanderstrebendes zusammenzuhalten, muß uns die Einheit der Rechtsordnung gegenwärtig bleiben. Daß das Recht hiervon lebt, sollte der Beitrag deutlich machen. Daß es hierzu auch imstande ist, entspricht meiner Überzeugung. Massive Zweifel äußern freilich Anhänger einer rechtstheoretischen Strömung, die mich seit Jahren nachdenklich und betroffen zugleich macht, die aber auch verdeutlicht, wie weit sich ein Teil der gegenwärtigen Rechtstheorie - ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Rechtsphilosophie - von ihrem Gegenstand, dem Recht und der Rechtspolitik, entfernt hat. Gemeint ist die Lehre vom "autopoietischen Recht", die auf zwei chilenische Neurobiologen - Maturana und Varela - zurückgeht und in Deutschland vor allem von Luhmann 87 und Krawietz 88 vertreten wird 89 • Die Idee ist, daß lebendige Systeme - z. B. das menschliche Hirn - keine externen ("allopoietischen") Zielsetzungen haben und sich deshalb stets nur aus ihren eigenen Elementen - z. B. den Zellen - selbst programmieren und reproduzieren. Diese, wie es in der autopoietischen Schule heißt, "selbstreferentiellen" Systeme sind nicht auf Öffnung nach außen, sondern auf Abgeschlossenheit angelegt. Sie sind füreinander gleichsam "black boxes": Da dies nicht nur für das Recht insgesamt, sondern auch für seine Teile gilt, lehrt Krawietz, daß die Einheit der Rechtsordnung die Normen einander nur noch formal, nicht aber mehr inhaltlich zuordnen, sie insbesondere nicht zu einer einheitlichen Wertordnung verbinden kann 90 • Wer, wie ich, vom Boden der Rechtsanwendungsdiskussion zu solchen Höhenflügen nur bewundernd aufschauen kann, wird auf diese luftige Systemtheorie mit einer vermutlich unverdienten Grobheit antworten: Ihr theoretischer Reiz darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die postmoderne Ungegenständlichkeit solcher Rechtstheorie mit der Sozialordnung Recht nichts mehr zu tun hat, und wer mir erzählt, die Normen hätten geschlossene Fenster und seien füreinander blind, dem weiß ich nur zu erwidern: Entweder ist das nicht richtig, oder es muß sich ändern!

87 Vgl. nur Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, WÜfzburg 1984, insbes. S. 11 ff. 88 Vgl. nur Krawietz, Recht und modeme Systemtheorie, in: Rechtstheorie, Beiheft 10, S. 281, 290 ff.; ders., Recht als Regelsystem, 1984, S. 139. 89 Überblick bei Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, insbes. S. 21 ff.; Köndgen, ZHR 153 (1989), 472 ff. 90 Krawietz, Rechtstheorie 1985, 277.

Einheit der Rechtsordnung - Realität? Aufgabe? Illusion?

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2. Ausbildung und Praxis Die Rechtsordnung als Ganzes zu sehen, ist ein wesentliches Anliegen unserer juristischen Ausbildung. Es gibt EU-Staaten, in denen die Studenten ein Rechtsgebiet nach dem anderen abschichten können, um dann am Ende nur noch in einem Spezialgebiet examiniert zu werden. Und naturgemäß gibt es Stimmen, die dasselbe für unsere Juristenausbildung fordern. Hamburg hatte vor Jahren eine Justizsenatorin - von der gegenwärtigen spreche ich wohlgemerkt nicht! 91 - , die uns beständig in den Ohren lag mit der Forderung, wir müßten die Zeichen der Zeit erkennen und Spezialisten für die Praxis heranziehen: Arbeitsrechtler, Sozialrechtler, Mietrechtier, Strafrechtler, Baurechtler, Seerechtler usw. usw. Unser Fachbereich hat sich dem widersetzt. Unheimlich ist ja schon das Bild von Studenten (Studentinnen sind immer mitgemeint), die sich mit kaum über zwanzig Jahren auf eine Karriere als Scheidungsanwalt oder als Rentenrechtler kaprizieren, ganz abgesehen davon, daß wir dann wohl mit den wechselnden Moden zehn Jahre lang Sozial- und Jugendrichter und zehn Jahre später Bank-und Wirtschaftsrechtler auszubilden hätten. Vor allem aber lehrt die Beobachtung der Rechtspraxis eines: Nur wer den Blick auf das Ganze hat, ist überhaupt zu einer anspruchsvollen Spezialisierung imstande. Wer beispielsweise wirklich nur Steuerrecht lernen will, der werde Sachbearbeiter im Finanzamt. Steuergesetze verfassen und Steuerprozesse durchführen kann nur, wer auch das Zivil-, Verwaltungsund Strafrecht überblickt. Wer Notar werden will, muß von Kreditsicherheiten so viel verstehen wie vom Erbrecht oder Gesellschaftsrecht. Ein Bankjurist, der nicht das Zwangsvollstrekungsrecht kennt, ist sein Gehalt nicht wert, und ein Konkursverwalter muß vom Zivil-, Steuer- und Arbeitsrecht - mehr und mehr auch vom Umweltrecht - mehr noch verstehen als von der Konkursordnung. Wir sollten es, um unsere Studenten auf diese Anforderungen vorzubereiten, bei unserer generellen Ausbildung belassen. Und wenn im Staatsexamen einmal der Strafrechtler denselben Fall wie der Zivilrechtier prüft oder ein öffentlichrechtlicher Nachbarrechtsfall in der Zivilrechtsprüfung wiederkehrt, wird sich vielleicht das Gefühl einstellen, daß sie doch im Bewußtsein der Juristen lebendig ist: die Einheit der Rechtsordnung.

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Tag des Referats: 27. 10. 1993.

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte Göttliches und weltliches Recht, Privatrecht und öffentliches Recht Von Götz Landwehr Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte heißt nicht, die Gegenwartsprobleme in der Vergangenheit zu suchen, sondern bedeutet, die Vergangenheit danach zu befragen, ob die Einheit der Rechtsordnung für sie ein Problem war und wie sie dieses gehandhabt hat. Unser Gang durch die Rechtsgeschichte führt uns vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. I. Göttliches und menschliches Recht (ius divinum und ius humanum) An den Anfang des Sachsenspiegels, der im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden ist, stellt sein Autor Eike von Repgow die Zwei-Schwerter-Lehre (Ssp. Ldr. I 1). Die zwei Schwerter versinnbildlichen die geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit, die das Wesen mittelalterlicher Herrschaft ausmacht, und außerdem die beiden von Gott den Menschen verliehenen Rechtsordnungen. 1 Die zwei Rechtsordnungen sind das geistliche und das weltliche Recht, die beide für den mittelalterlichen christlichen Menschen verbindlich waren. Das geistliche Recht führte seine Gebote auf die Heilige Schrift zurück, das weltliche Recht berief sich auf die Tradition und Altvätersitte. Dabei gab es nicht unerhebliche Unterschiede beim Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht sowie bei der Rechtsstellung der nichtehelichen Kinder, ferner bei der gewillkürten Erbfolge, beim Zinsnehmen und beim Kauf (laesio enormis, iustum pretium, aequalitas). Diese Gegensätze galt es zu überbrücken. 1. Die hierarchische Ordnung des Rechts im Mittelalter

a) Die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts durch die Lehren von Gratian (gest. um 1160) und insbesondere von Thomas von Aquin (um 1225 -1274) unter Innozenz W. (1243 -1254) gefestigte kirchliche Rechtsauffassung geht von einer 1

V gl. Gerhard TheuerkauJ, Lex, Speculum, Compendium Juris, 1968, S. 268 f., 288.

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hierarchischen Ordnung aus. 2 Dem ius humanum, dem menschlichen Recht, ist das in der lex aeterna, dem ewigen Gesetz, wurzelnde ius divinum, das göttliche Recht, übergeordnet. Das göttliche Recht tritt als ius divinum naturale und als ius divinum positivum in Erscheinung. Das positive Gottesrecht umfaßt die rechtlichen Gebote Gottes und Christi, die (als lex vetus und lex nova) in den Schriften des Alten und Neuen Testaments kundgetan oder durch die sie erläuternde oder ergänzende Tradition überliefert sind. Die Normen des göttlichen Naturrechts beruhen auf den vom Schöpfer in die Menschennatur gelegten Prinzipien. Die einzelnen natürlichen Rechtssätze werden mit Hilfe der Offenbarung Gottes aus den Primärgrundsätzen des Naturrechts, die aus den Moralvorschriften des ius divinum positivum gewonnen werden, von der menschlichen Vernunft erkannt. Das Gottesrecht ist unabänderlich. Das gilt - allerdings mit Einschränkungen - auch für Gott selbst. Dieser kann das von ihm geschaffene ius divinum positivum insoweit abändern und aufheben, als es keine allgemein gültigen Prinzipien des Naturrechts enthält. Das ist teilweise durch Christus geschehen. Das mit der Schöpfungsordnung gegebene Naturrecht ist auch für Gott unabänderlich. Allerdings ist die Erkenntnis der konkreten Regeln des ius divinum naturale und damit deren Anwendung Schwankungen unterworfen, da das göttliche ius naturale keine positiven Rechtssätze kennt und die menschliche Vernunft nicht zu allen Zeiten gleich tief in das Naturrecht eindringen kann. Gerade wegen dieser Unsicherheit des menschlichen Urteils hat es Gott - nach Thomas von Aquin - für nötig befunden, den Menschen die lex divina positiva zu geben. Das bedeutet aber nicht, daß alles, was Gott in seinen positiven Gesetzen verboten hat, unabänderliches Naturrecht ist. Umgekehrt ist vielmehr alles, was durch die lex divina positiva gestattet ist, als nicht naturrechtswidrig anzusehen. Das für den Menschen unabänderliche Gottesrecht ist Quelle und Richtschnur jeden anderen Rechts. Für die Bindung des menschlichen Gesetzgebers an das göttliche Recht war vor allem das ius divinum positivum, das aus konkreten Rechtssätzen besteht, maßgebend. Weniger bedeutsam für das Rechtsleben war dagegen das göttliche Naturrecht, da nur dessen Primärprinzipien in der Heiligen Schrift geoffenbart 2 Zum folgenden siehe: Ludwig Buisson, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter, 2. Aufl., 1982, S. 56 f., 84 ff.; Uvo Andreas Wolf, Ius Divinum, 1970, S. 57 ff., 71 ff.; Hans Martin Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: Lex et Sacramentum im Mittelalter, hrsg. von P. Wilpert (Miscellanea Mediaevalia, Bd.6), 1969, S. 157 ff. (167 ff.); Dieter Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit, 1967, S. 140150; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962, S. 57 ff.; Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Studia Iuridica Upsaliensia, Bd. 1), 1960, S. 179 ff., 181 ff., 186 ff.; Franz Arnold, Die Rechtslehre des Magisters Gratianus, in: Studia Gratiania, Bd. I, Bologna 1953, S. 451 ff.; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., Bd. I, 1914, § 20, S. 98 ff.

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte und die aus ihnen abgeleiteten Regeln - nach eigenem Verständnis Unsicherheit des menschlichen Urteils behaftet waren. 3

33 mit der

Die Bindung des menschlichen Gesetzgebers an die Vorschriften des positivgöttlichen Rechts wirkte sich zum Beispiel im Eherecht durch die Forderung nach Unscheidbarkeit der Ehe aus. Von Wichtigkeit war ferner, inwieweit die sehr weit gehenden mosaischen Eheverbote unter Verwandten (Lev. 18 und 20) als von Christus nicht aufgehobenes ius divinum positivum anzusehen waren. Der menschliche Gesetzgeber kann nach kirchlicher Auffassung (seit Innozenz

IV.) nur das Gewohnheitsrecht aufheben, nicht aber das unveränderliche göttliche

Recht. Das wieder zur Geltung gelangende römische Recht wurde folglich als eine weltliche Anwendungsweise positiven und natürlichen Gottesrechts angesehen und war in diesem Sinne auszulegen. 4

b) In den nicht kirchlichen Rechtsquellen des 13. Jahrhunderts begegnet das Recht ebenfalls als in Gott gegründet. "Gott ist selber Recht", sagt Eike von Repgow im Sachsenspiegel. Das Recht erscheint als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung. Deshalb heißt es im Textus Prologi des Sachsenspiegels, daß die Menschen Gottes Gesetz und sein Gebot halten, die ihnen seine Propheten und gute geistliche Leute gelehrt und auch christliche Könige, namentlich Konstantin und Karl, gesetzt haben. In dieser Aussage erscheinen das durch die Heilige Schrift und die Tradition überlieferte göttliche Recht und das von Kaisern und Königen gesetzte weltliche Recht als Teile einer Gesamtordnung, in der das Recht Gottes alles andere überragt. Deshalb wird von Eike von Repgow das Recht zur Jagd mit dem Hinweis auf Genesis 1,26 und 28 (1. Moses) begründet (Ldr. 11 61 § 1) und wird die Unfreiheit von Menschen mit einer langen Reihe von Zitaten aus dem Alten und dem Neuen Testament als "unrechte Gewohnheit" angeprangert (Ldr. 111 42).5 Die Sachsen haben ihr altes Recht behalten, sofern es nicht wider das christliche Gesetz (kerstenleke e) und wider den Glauben war (Ldr. I 18). Ein Rechtsbrecher handelt nach Eike "wider Gott und wider Recht" (Lnr. 58 § 2; 78 § 3).6 Diese Paarformel kehrt in vielen mittelalterlichen Quellen bei der Beklagung von Unrecht wieder. 7 Verstöße gegen Gottes Gebot werden deshalb nicht nur von der kirchlichen Bußengerichtsbarkeit im Sendgericht (Ssp. Ldr. 12 § 1) geahndet, sondern sind Unrecht auch in der weltlichen Rechtsordnung. Wenn das Recht als Teil der göttlichen Macht erscheint, dann ist es auch möglich, die göttliche Macht unmitFür den Bereich des Eherechts siehe dazu: Schwab (Fn. 2), S. 145 f. Buisson (Fn. 2), S. 86. 5 Siehe auch: Guido Kisch, Sachsenspiegel and Bible (Publications in Mediaeval Studies, the University of Notre Dame, Bd. V), Notre Dame, Indiana, 1941 (Neudruck 1960), S. 133 ff., 160 ff. 6 Zur Rechtsanschauung Eikes von Repgow siehe: Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, 1984, S. 134 ff., 167 ff. (170, 171). 7 OUo Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl., 1965, S. 134. 3

4

3 Vielfalt des Rechts

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telbar in das Rechtsleben hereinzurufen durch die Anrufung Gottes bei der Eidesleistung vor Gericht und mit Hilfe von Verfluchungsformeln in Urkunden (vgl. Ssp. Reimvorrede Verse 230- 234). 8 All dies sind Zeichen der Verlängerung des Rechts in den überweltlichen Raum und damit der Einheit des Rechts in seiner Bezogenheit auf Gott. c) Das dem ius divinum untergeordnete menschliche Recht teilt sich in das ius ecclesiasticum und das ius saeculare, in kirchliches und weltliches Recht. Nach kirchlicher Auffassung ist das weltliche Recht dem kirchlichen oder kanonischen Recht nachgeordnet (Gratian).9 Das wird sichtbar ausgedrückt in der päpstlicherseits vertretenen sog. kurialen Ausgestaltung der Zwei-SchwerterLehre. Danach hat Gott beide Schwerter dem Papst als Lehen gegeben und dieser hat das weltliche Schwert als Afterlehen dem Kaiser weiter verliehen. Darüber hinaus wurde das kirchliche Recht vielfach dem göttlichen Recht gleichgestellt, da es aus den Geboten des Alten und Neuen Testaments abgeleitet und durch die christlichen Autoritäten, insbesondere die Kirchenväter, verbindlich fortentwickelt worden war. Folglich durfte das weltliche Recht dem Kirchenrecht nicht entgegenstehen und mußte seine Werthaftigkeit am kanonischen Recht messen lassen. Soweit das weltliche Recht aber den Geboten der Evangelien und den Normen des Kirchenrechts nicht zuwiderläuft, ist es nach Gratian aller Ehrfurcht für würdig zu halten. 10 Die kirchliche Auffassung erfährt im weltlichen Recht grundsätzlich keinen Widerspruch, auch wenn Eike von Repgow die sog. imperiale Fassung der ZweiSchwerter-Lehre wiedergibt und beide Schwerter als unmittelbare Lehen Gottes ansieht (Ssp. Ldr. I 1). So kennt der Sachsenspiegel- im Gegensatz zum älteren Recht - keine Ehescheidung, sondern lediglich die Ehenichtigkeit wegen trennender Ehehindernisse (Ssp. Ldr. III 27) und allenfalls die Trennung von Tisch und Bett (Ssp. Ldr. III 74). Auch akzeptiert der Sachsenspiegel die verwandtschaftlichen Ehehindernisse des kanonischen Rechts (Ssp. Ldr. I 3 § 3 a. E.) und ferner die Bestimmung, daß Ehebruchskinder auch durch die nachfolgende Ehe der Eltern nicht legitimiert werden können (Ssp. Ldr. I 37). Schließlich wiederholt der Sachsenspiegel die kirchliche Auffassung (Römerbrief 7, 2 u. 3 sowie Timotheusbrief 5, 14-16), daß für Witwer und Witwen kein Wiederverheiratungsverbot besteht (Ssp. Ldr. 11 23). Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit treten uns geistliches und weltliches Recht, d. h. kanonisches und römisches Recht, als Bausteine einer einheitli8 Hermann Krause, Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ.

Abt., 82 (1965) 1 ff., 41 ff. (s. a. S. 13, 39). 9 Buisson (Fn. 2), S. 56 f. \0 Decretum Gratiani, d. p.: c. 6 D X: Ecce quod constitutiones principum ecclesiasticis legibus postponendae sunt. Ubi autem evangelicis atque canonicis decretis non obviaverint, omni reverentia dignae habeantur.

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte

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chen Rechtsordnung entgegen. Dies wird auch durch die bereits im 13 . Jahrhundert entstandene Formel vom ius utrumque, vom beiderlei Recht, bezeugt. 11 Am Ende des 14. Jahrhunderts sagt Nicolaus Wurm in der (um 1390 entstandenen) ,,Blume von Magdeburg", einer gelehrten Bearbeitung des Magdeburger Rechts: Der Blumen Stamm ist Herr Eike von Repgow, die Wurzel aber sind leges (Gesetze), das sind Kaiserrecht und canones. 12 Einen Vorrang hatte das kanonische Recht gegenüber ihm widersprechenden leges des römischen Rechts, wenn deren Anwendung zur Begehung einer Sünde führen würde. Als Beispiel sei die Ersitzung genannt. Nach römischen Recht war zur Ersitzung eine bonafides (Gutgläubigkeit) nur beim Besitzerwerb erforderlich, eine später während der Ersitzungszeit eintretende mala fides (Bösgläubigkeit) war unschädlich. Demgegenüber verlangte das kanonische Recht eine bona fides bis zum Eintritt des Ersitzungserwerbes. Seit dem Spätrnittelalter wurde auch vor den weltlichen Gerichten - zunächst in Italien, später ebenfalls in Deutschland - eine Ersitzung des mala fide Besitzenden entsprechend dem kanonischen Recht nicht mehr anerkannt, weil anderenfalls ein Verleiten zur Sünde (inducere peccatum) vorliegen würde. 13 Ebenfalls mit dieser Begründung erfolgte die Anwendung des kanonischen Rechts in Ehesachen und im Vertragsrecht bei der Bewertung des Wuchers und des gerechten Preises (iustum pretium).14 Kanonisches und römisches Recht ergänzen sich im übrigen gegenseitig. Zeugnis dafür ist die im italienischen Recht für die Gerichtspraxis entwickelte und auch in Deutschland rezipierte Subsidiaritätsregel. Sie besagt, daß immer dann, wenn das eine Recht einen Fall nicht klar entschied, wohl aber das andere eine eindeutige Anordnung enthielt, man sich an dieses wenden sollte. Wenn also das römische Recht eine klare Regelung besaß, die das kanonische Recht nicht hatte, so mußte man im weltlichen wie im geistlichen Gericht dem Zivilrecht folgen. Das kanonische Recht aber war anzuwenden, wenn dieses sicherer und klarer entschied. 15 11 Udo Wolter, lus canonicum in lure civili, 1975, S. 23 ff.; Winfried Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland, 1962, S. 24; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 79. 12 Ebenso in der "Blume ubir der Sachsen spigel und ubir weichbildis recht" von 1397. Siehe: Carl Gustav Homeyer, Der Richtsteig Landrechts nebst Cautela und Premis, 1857, S. 340; vgl. Trusen (Fn. 11), S. 33. 13 Trusen (Fn. 11), S. 27; Wolter (Fn. 11), S. 28, 103; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht, 1985, S. 183 f.; Gerhard Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 4. Aufl., bearb. von Gunter Wesener, 1985, S. 19. 14 Wolter (Fn. 11), S. 28, 98 ff., 100 ff., 104 ff., 113 ff.; Trusen (Fn. 11), S. 28; Coing (Fn. 13), S. 104; Wesenberg-Wesener (Fn. 13), S. 19 f. 15 Trusen (Fn. 11), S. 25 f., 28 f.; Wolter (Fn. 11), S. 29 ff.; Coing (Fn. 13), S. 103.

3"

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d) Die mittelalterliche Rechtsordnung wird geprägt von der seit der karolingischen Zeit vorhandenen Auffassung von der christlichen Welt als Gottesstaat. 16 Recht und Gericht leiten sich von Gott ab und unterliegen einer überirdischen Zweckbindung. Das Nebeneinander zweier, zunächst unterschiedlicher Rechtsordnungen löste das Mittelalter durch eine hierarchisch geordnete Einheit des Rechts, die als gottgewollt angesehen und von allen akzeptiert wurde. Das ius divinum, das göttliche Recht, war unabänderlich und für die beiden Rechtsordnungen unter den Menschen verbindlich; das menschliche Recht der Kirche, das kanonische Recht, hatte, soweit es göttliches Recht ausführte, den Vorrang vor dem weltlichen Recht. 17 2. Die Bindung der weltlichen Gewalt an das ius divinum in der Publizistik des 16. und 17. Jahrhunderts

a) Die Lehre von der Verbindlichkeit des ius divinum positivum für den menschlichen Gesetzgeber überlebte die Glaubensspaltung. Sie erlangte sogar im konfessionellen Zeitalter aktuelle Bedeutung für die katholische Publizistik. Diese wehrte sich vehement gegen die Antastung der sakralen Grundlagen des Reiches, gegen den Prozeß der konfessionellen Neutralisierung der Reichsverfassung und gegen die verfassungsrechtliche Garantie der reformatorischen Bewegung durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555. In diesem Kampf war die katholische Seite unermüdlich darauf aus, mit spitzer Feder das ius divinum als absolute Begrenzung der verfassungsrechtlichen Gestaltungsfreiheit herauszustellen und als scharfe Waffe gegen die Gültigkeit des Religionsfriedens überhaupt und sodann gegen seine protestantischen Interpreten einzusetzen. Erst nach fast einem Jahrhundert bereitete der Westfälische Friede von 1648 dieser Stoß. richtung des ius divinum ein Ende. 18 b) Nach Luthers Lehre sind die göttliche Schöpfungsordnung und die bei der Schöpfung von Gott geschaffenen Institutionen, die Luther auch als ius naturale bezeichnet, unverletzlich und für den menschlichen Gesetzgeber verbindlich. 19 16 Vgl. Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo Aus den Anfangen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: Recht und Staat, Festschrift für Günther Küchenhoff, hrsg. von H. Hablitzel u. M. Wollenschläger, 1972, S. 189 ff., 193 ff.; ErnstWolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 75 ff. 17 Vgl. Trusen (Fn. 11), S. 23, 109. 18 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, 1979, 5.204 f., 206 ff.; ders., ,,1us divinum" im deutschen Staatsdenken der Neuzeit, in: Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Ehmke / J. H. Kaiser / W. A. Kewenig / K. M. Meessen / W. Rüfner, 1973, S. 377 ff. (380); Martin Heckei, Autonomia und Pacis Compositio (1959), in: ders., Gesammelte Schriften: Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. I, hrsg. von K. Schlaich, 1989, S. 1 ff. (26, 29, 60, 65).

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte

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U rspfÜnglich sollte die Schöpfungsordnung - nach Luthers Vorstellung - sogar dem menschlichen Recht völlig entzogen und der Gesetzgeber nicht befugt sein, über die Gültigkeit einer göttlichen Einrichtung, wie sie zum Beispiel die Ehe darstellt, überhaupt Vorschriften zu erlassen. Später hat Luther diese Aussagen abgemildert und eine Allgemeinverbindlichkeit der Schöpfungsordnung für die menschliche Gesetzgebung angenommen. Neben dem institutionellen Naturrecht der Schöpfungsordnung existiert für Luther indes kein ius divinum positivum. Die mosaischen Gesetze verpflichten grundsätzlich nur die Juden. Für die übrige menschliche Rechtsordnung sind sie nur verbindlich, soweit sie Ausdruck der schöpferischen Naturordnung (des ius naturale) sind. Die Gebote Christi hingegen gelten nicht der irdischen Ordnung, sondern der Heilsordnung. Sie gehören dem Reich Gottes an, in dem die lex divina als rein geistliches, nichts Äußerliches umgreifendes Gesetz (als lex spiritualis) herrscht. Diese lex divina hat Gott im Herzen des gläubigen Christen verkündet; ihr Inhalt ist das Gebot der Liebe (lex charitatis). Das göttliche Recht ist einer äußerlichen Positivierung durch menschliche Rechtsetzung weder fähig noch bedürftig. Dies bedeutete einen Bruch mit der überkommenen scholastischen Lehre. Der theologische Ansatz Luthers war indes zu radikal. Er konnte sich in der protestantischen Staatstheorie nicht durchsetzen. Denn die Juristen mußten sich mit den rechtlichen Argumenten der katholischen Gegenseite auseinandersetzen, insbesondere mit der Berufung auf das unabänderliche ius divinum positivum, und waren gezwungen, ebenfalls beim ius divinum Zuflucht zu suchen 20 • Für die protestantische Staatstheorie des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich dabei auf Jean Bodin (1530-1596) berief, war die Bindung des weltlichen Herrschers an das ius divinum positivum und die Begrenzung der Herrschaftsgewalt durch die göttlichen Gebote Gemeingut. Wir finden dies bei Johannes Althusius (15571638), Jakob Bornitz (1565-1625), Dietrich Reinkingk (1590-1664), Johannes Limnaeus (1592-1663), Hugo Grotius (1563-1645), Hermann Conring (16061681), Veit Ludwig von Seckendorff(1626-1692) und Samuel Pufendorf(16321694).21 Die Rechtslehre der protestantischen Juristen ist jedoch nicht mit der scholastischen Lehre identisch. Hugo Grotius unterscheidet nicht zwischen ius divinum 19 Zum folgenden siehe: Wolf(Fn. 2), S. 88 -108; M. Heckel, Rechtstheologie Luthers (1966), in: ders. (Fn. 18), S. 325 ff., (328 f., 337-351); Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 222; Schwab (Fn. 2), S. 151-160. Vgl. auch: Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation, 1977, S. 230-237,246-250. 20 Vgl. M. Heckel, Parität (1963), in: ders. (Fn. 18), S. 106 ff. (129 f., 139, 143, 165, 195,209,221). 21 Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 228 ff.; ders., Ius divinum (Fn. 18), S. 384 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft, 1600-1800, 1988, S.173, 177, 181 f., 207, 211, 220, 223; ders., Veit Ludwig von Seckendorff, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von M. Stolleis, 1977, S. 148 ff. (S. 165-170).

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und ius humanum, sondern zwischen Naturrecht und gewillkürtem Recht (ius voluntarium). Dieses unterteilt er in gewillkürtes göttliches Recht (ius voluntarium divinum) und gewillkürtes menschliches Recht (ius voluntarium humanum), das wiederum aus dem ius civile und dem ius gentium besteht. 22 Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß eine Handlung, weil sie mit der vernünftigen Natur übereinstimmt, eine moralische Notwendigkeit darstellt oder, weil sie mit der vernünftigen Natur nicht übereinstimmt, eine moralische Schändlichkeit ist, weshalb sie entweder geboten oder verboten ist (I 1 § 10 Nr. 1 u. 5). Das Naturrecht ist, auch für Gott selbst, unveränderlich (I 1 § 10 Nr. 5, vgl. Prol. § 11). Das gewillkürte göttliche Recht enthält nicht die Gebote und Verbote des Naturrechts, sondern es umfaßt Gottes willkürliche Anordnung, daß etwas unerlaubt und deshalb verboten oder etwas geschuldet und deshalb geboten ist, was gerade nicht durch das natürliche Recht untersagt oder gefordert ist (I 1 § 10 Nr. 2, § 15 Nr. 1, vgl. 11 20 § 10 Nr. 1). Das gewillkürte göttliche Recht ist der Menschheit dreimal von Gott gegeben worden: einmal bei der Schöpfung des Menschen (Gen. 1), dann unmittelbar nach der Sintflut (Gen. 9) und schließlich durch Christus (I 1 § 15 Nr. 2). Alle übrigen mosaischen Gesetze sind - insoweit mit Luther übereinstimmend Partikularrecht, das nur für die Juden verbindlich ist. Für alle Menschen gilt es nur dann, wenn es Naturrecht enthält oder von Christus ausdrücklich sanktioniert worden ist (I I § 16, § 17). Aufgrund dieser Prämissen ist der Katalog der unmittelbar geltenden Normen des ius divinum positivum bei Grotius nicht übermäßig groß. Verbindliches gewillkürtes Gottesrecht sind (11 20 § 42): -

das Verbot des Konkubinats,

-

das Verbot einiger Arten des Inzests (11 5 § 12 Nr. 1, 2),

-

das Verbot der Bigamie (11 5 § 11),

-

das Verbot des Wuchers.

Weiterhin ist göttliches durch Christus sanktioniertes Gebot, Mordtaten und andere schwere Verbrechen mit dem Tode zu bestrafen (11 20 § 10 Nr. 8, vgl. §§ 11, 12). Damit folgt Grotius der im 17. Jahrhundert herrschenden theokratischen Strafrechtslehre, die sich auf die unmittelbare Rechtsverbindlichkeit des ius divinum berief. 23 Das Verbrechen ist eine Auflehnung gegen Gott und entspre22 Zum folgenden siehe: Hugo Grotius, De lure Belli ac Pacis Libri tres, Editio Novissima, Amsterdam 1680. Vgl. Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 232 ff.; ders., lus divinum (Fn. 18), S. 386 f.; Hasso Hofmann, Hugo Grotius, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (Fn. 21), S. 51 ff. (69-72). 23 Zur theokratischen Strafrechtslehre insbesondere bei Benedikt Carpzov (15951666) siehe: R. Stinzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 2, 1884, S. 74 ff.; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfle-

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chend den strengen alttestamentarischen Geboten Gottes, die seinen durch Christus bekräftigten unwandelbaren Rechtswillen kundtun, zu bestrafen. Für kriminalpolitisch oder humanitär begründete Milderungen des Verbrechens- und Strafenkataloges war dabei kein Raum. Abgeschwächt wird diese Straftheorie nur durch das von Grotius als ius divinum angesehene Verbot, Ketzer mit dem Tode zu bestrafen (11 20 § 50 Nr. 1-3), sowie durch das gottesrechtliche Verbot der Sippenhaftung für Straftaten (11 21 § 14 Nr. 4). Alles in allem wird von Grotius der Geltungsbereich des göttlichen Rechts zu Gunsten des Naturrechts zurückgedrängt. Darin unterscheidet er sich von der scholastischen Rechtslehre, in der das ius divinum positivum in Anbetracht seiner Positivität faktisch den ersten Rang innehatte. 24 3. Das Absterben der Verbindlichkeit des ius divinum im 18. Jahrhundert

a) Grotius schränkte die Verbindlichkeit des ius divinum positivum dadurch ein, daß er fast das gesamte mosaische Recht zum partikularen Gottesgesetz erklärte, das für Christen nur gelten sollte, wenn und soweit einzelne Bestimmungen Naturrecht waren. Den letzten und radikalsten Schritt in diese Richtung ging schließlich im Jahre 1705 Christian Thomasius (1655 -1728) bei der Neubearbeitung seiner Fundamenta Juris Naturae et gentium. Nach Thomasius wirkt Gott im Gegensatz zur weltlichen Ordnung, welche die Mittel äußeren Zwanges nicht entbehren kann, nur innerlich und ohne Zwang. Das ius divinum gehört deshalb in den Bereich der christlichen Ethik, nicht in den des Rechts. Gott ist kein Herrscher und kein Gesetzgeber im Sinne des weltlichen Rechts, seine Strafen sind keine rechtlichen Sanktionen. Die Gebote Gottes erzeugen eine innerliche Verpflichtung für den Christen. Eine Verletzung dieser Gebote ist aber nur Sünde, keine Rechtsverletzung. Eine Nichtbeachtung des ius divinum durch den christlichen Herrscher berührt die Geltung der widersprechenden Normen nicht. 25 Die Spiritualisierung des göttlichen Gebots war insbesondere für das Strafrecht bedeutsam. Die Ablehnung der unmittelbaren Verbindlichkeit der mosaischen Gesetze durch Thomasius ebnete den Weg für eine Abkehr von biblisch begründeten Talionsvorstellungen. Das Verbrechen erscheint nicht mehr als Verletzung der göttlichen Ordnung, sondern nur noch als Störung des säkularen Rechtsfriedens. 26 ge, 3. Aufl., 1965, § 142 (S. 157), §§ 149-152 (S. 161 ff.); Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 276 f. 24 Siehe dazu oben: I. 1. a), Text zu Fn. 3. 25 Wolf (Fn. 2), S. 109 ff., 126-137; Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 253 ff., 260 ff.; ders., lus divinum (Fn. 18), S. 389 ff., 392; Wolter (Fn. 11), S. 161 f. 26 Vgl. Eh. Schmidt (Fn. 23), §§ 204, 205 (S. 212 ff.), §§ 210,211 (S. 219 f.); § 215 (S. 222 ff.). Siehe auch: Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria

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Mit Thomasius' Lehre war die theoretische Grundlage geschaffen für die Kabinetsordre Friedrichs des Großen vom 20. August 1751: Es ist also Mein ernstlicher Wille, daß in Zukunft in solchen Fällen nach Meiner Ordre und Vorschrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabei Moses und die Propheten zu Rate gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nicht zu suchen haben. 27 b) Anders als in Preußen wird im Chur-Bayerischen Landrecht von 1753 (Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis) das ius divinum weiterhin - wie in der scholastischen Rechtslehre von Thomas von Aquin - als Rechtsquelle anerkannt (I 2 § 2): Göttliches Recht, welches Gott unmittelbar selbst zum Urheber hat (Jus Divinum), ist den Menschen entweder mit der Natur angeboren oder durch die Schrift geoffenbaret (naturale vel positivum).

In den katholischen Reichsständen blieb die Doktrin von der Rechtsverbindlichkeit der biblischen Gebote für die staatliche Ordnung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts grundsätzlich unangefochten und bildete die Grundlage des Staatskirchenrechts. 28 Auf diesem Gebiet überlebte sie auch die Aufklärung. Die staatsrechtliche Verbindlichkeit des ius divinum wurde weder von der Theresianischen, noch von der Josephinischen katholischen Staatstheorie in Frage gestellt. Jedoch wurde die Kompetenz zur authentischen Interpretation des ius divinum, die nach kanonischem Recht allein dem obersten kirchlichen Lehramt zustand 29, diesem streitig gemacht und allein dem weltlichen Souverän zugeschrieben. Dabei ging es vor allem um die Beseitigung bzw. Verteidigung von kirchlichen Immunitäten gegenüber der absoluten Staatsgewalt des Landesherrn. Die Freiräume der Kirche wurden kirchlicherseits auf das ius divinum zurückgeführt und damit für unantastbar erklärt. Die absolutistische Staatstheorie sah sie demgegenüber - unter Berufung auf das Recht der staatlichen Gewalt zur authentischen Interpretation - als auf weltlichen Rechtstiteln beruhende Privilegien an, die grundsätzlich widerruflich waren. Für das Eherecht wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Autoren des Staatskirchenrechts in Österreich die Einführung der Ehescheidung gefordert und dies ebenfalls nicht mit der Unerheblichkeit, sondern mit der veränderten Auslegung des ius divinum begründet. 30 Faktisch bedeutete dies allerdings eine Beseitigung der Verbindlichkeit des göttlichen Rechts für die weltliche Rechtsordnung, da die Anwendung des ius divinum in das Belieben der staatlichen Gewalt gestellt war. unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, 1778, hrsg. von J. Lekschas unter Mitarbeit von W. Griebe, 1966, § 32, Fn. p (S. 145, 147). 27 Zitiert nach Link, Ius divinum (Fn. 18), S. 395/6. 28 Siehe: Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 211 ff.; ders., Ius divinum (Fn. 18), S. 380 ff., insb. Fn. 14. 29 Buisson (Fn. 2), S. 51 f., 63 ff., 69 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 212, 216, 315; Sägmüller (Fn. 2), § 30 (S. 134). 30 Schwab (Fn. 2), S. 149 f., 189 f.

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c) In den Lehrbüchern der Reichspublizistik wird - teilweise bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - die Lehre von der staatsrechtlichen Geltung des ius divinum positivum tradiert. Jedoch ist dies zu einer inhaltsleeren Formel verflüchtigt.31 In der protestantischen Staatslehre wird das ius divinum - in Nachfolge von Thomasius - entweder Bestandteil des Naturrechts oder es tritt als bloßes Postulat der Sittlichkeit außerhalb der Rechtssphäre. 32 Im katholischen Staatskirchenrecht verliert die Bindung an das göttliche Recht ihre Bedeutung durch das von der weltlichen Gewalt beanspruchte Recht zur authentischen Interpretation des ius divinum. Faktisch war somit die durch die konfessionelle Spaltung in Frage gestellte Einheit der positiven weltlichen Rechtsordnung wiederhergestellt. Das ius divinum positivum als solches besaß keine Verbindlichkeit mehr. In der Rechtslehre blieb das Nebeneinander von Naturrecht und ius humanum; auf das Verhältnis von überpositivem und positivem Recht soll hier indes nicht eingegangen werden. Mit dieser Entwicklung ist gleichzeitig der Boden bereitet für eine endgültige Trennung von weltlichem und kirchlichem Recht, die insbesondere für das Eherecht von Bedeutung ist und im 19. Jahrhundert durch die Einführung der Zivilehe und der Ehescheidung vollendet wird.

11. Privates und öffentliches Recht Das Verhältnis von göttlichem und weltlichem Recht hat fast ein Jahrtausend die Rechtskundigen und Rechtsgelehrten beschäftigt, bis es am Ende des 18. Jahrhunderts für die säkularisierte Rechtsordnung unerheblich wurde. Diametral anders verläuft die Entwicklung bei der Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht. 33 1. Das "einartige" Recht des Mittelalters

Dem mittelalterlichen Rechtsleben ist die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht unbekannt. 34 Die Ausübung hoheitlicher Befugnisse im modemen Sinne, insbesondere die Gerichtsbarkeit und das Recht, Abgaben zu erheben, sind eng mit dem vererblichen Besitz von Grund und Boden verbunden. Die Grundherrschaft verleiht dem König, dem Adel und der Kirche ihre Macht. 31 Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 271 ff; ders., lus divinum (Fn. 18) S. 392; M. Heckel, Parität, in: ders. (Fn. 18), S. 143 f. 32 Link, Herrschaftsordnung (Fn. 18), S. 280 ff. 33 Stolleis (Fn. 21) und Bd. 11: Staatsrechtsiehre und Verwaltungswissenschaft, 18001914, 1992; Dieter Wyduckel, lus Publicum. Grundlagen und Entwicklung des Öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1984; dazu siehe Stolleis (Fn. 21), S. 51; Horst Dreier, JZ 1985, 570; siehe auch Fn. 40.

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Das auf den Grundsätzen von "Schutz und Schirm" sowie "Rat und Hilfe" aufgebaute Band zwischen Grundherrn und Grundholden, das nicht nur für die bäuerlichen Rechtsverhältnisse, sondern in abgewandelter Fonn auch für das Verhältnis von Stadtherrn und Bürgern maßgeblich war, läßt sich nicht unter die Kategorien öffentliches und privates Recht einordnen. Auch das Lehnrecht, das eine weitere Grundlage der mittelalterlichen Herrschaftsordnung bildet, ist nicht als öffentlich-rechtlich zu charakterisieren. 35 Die adeligen, die bäuerlichen und die bürgerlichen Leiheverhältnisse sind weitgehend von einheitlichen Grundsätzen geprägt. 36 Auch dort, wo das Fehlen eines Erbrechts eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre andeutet, findet sich schon bald der Erwerb einer Erbberechtigung oder wie beim Königtum bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts eine faktische Erbfolge. Auch die Unterscheidung zwischen Reichs- und Hausbesitz der Könige hat im Hochmittelalter nur einmal beim Aussterben des salischen Königshauses und dem Herrschaftsantritt König Lothars von Supplingenburg und im übrigen erst seit Rudolf von Habsburg eine Rolle gespielt. 37 Während des ganzen Mittelalters werden privatrechtliche und hoheitliche Rechtsbefugnisse nicht getrennt, sondern einheitlich behandelt. Sie können geteilt, vererbt, verkauft und verpfändet werden. Werfen wir einen Blick in die Urkunden, dann sind nicht nur einzelne Grundstücke und Gebäude, sondern ganze Territorien und Landesteile, Vogteien und Ämter, Städte und Burgen, Märkte und Hecken, Dörfer und Höfe, Wälder und Weinberge, Gärten und Fischteiche, Burggrafen- und Schultheißenämter, Bergwerke und Münzstätten, Zölle und Geleitsgelder, Steuern und Schutzgelder, Mühlen- und Wildbanne Gegenstand von Pfandgeschäften. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um Reichsgut, Adelsherrschaften oder Klosterbesitz handelt. 38

34 Stolleis (Fn. 21), S. 63 ff. Grundlegend: O. Brunner (Fn. 7), insb. S. 133 ff., 240 ff. Von der älteren Lit. siehe insb. Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 1868 (Neudruck 1954), S. 641 ff., 647 f., Bd. II, 1873 (Neudruck 1954), S. 126 ff., 131 ff., 457 ff. 35 Insoweit führt der Titel des bedeutsamen Werkes von Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933 (Neudruck 1974), in die Irre. Siehe auch: Bernhard Diestelkamp, Lehnrecht und spätmittelalterliche Territorien, in: Der Deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, hrsg. von H. Patze, Bd. I (Vorträge und Forschungen, hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. Xill), 1970, S. 65 ff. 36 Wilhelm Ebel, Über den Leihegedanken in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Studien zum mittelalterlichen Lehenswesen (Vorträge und Forschungen (Fn. 35), Bd V), 1960, S. 11 ff. 37 Elmar Wadle, Reichsgut und Königsherrschaft unter Lothar III. (1125 -1137),1969, S. 100 ff., 152 ff.; Götz Landwehr, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, 1967, S. 150 ff. 38 Götz Landwehr (Fn. 37), S. 99-147; ders., Die rechtshistorische Einordnung der Reichspfandschaften, in: Der Deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, hrsg. von H. Patze, Bd. I (Vorträge und Forschungen hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. XIII), 1970, S. 97 ff. (101 ff.).

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Wenn im Spätmittelalter in der Goldenen Bulle die Unteilbarkeit des Kurrechts und der Kurlande festgelegt und in anderen Reichsterritorien die Unteilbarkeit des Landes und die Unveräußerlichkeit von Herrschaftsrechten eingeführt oder die Teilung und Veräußerung an die Zustimmung der Stände geknüpft wird, dann wird damit der transpersonale Charakter des Herrscheramts betont und die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre vorbereitet. Dennoch wurde dadurch die interne Aufteilung eines Gesamthauses nicht verboten und damit eine Verfügungsbefugnis über Herrschafts- und Hoheitsrechte weiterhin anerkannt. 39 Auch die Regeln des öffentlich tagenden Gerichts können nicht als "öffentliches" Recht von den materiellen Normen über die Innehabung und Ausübung von Rechtsbefugnissen getrennt werden. Eine derartige Sicht ist dem Mittelalter völlig fremd. Die Land- und Stadtrechte unterscheiden nicht zwischen Prozeßrecht und materiellem Recht, sondern behandeln beides als Einheit. Formelles und materielles Recht werden bei der Darstellung der Rechisverhältnisse untrennbar miteinander verbunden. Verlobung und Eheschließung, Geburt, Taufe und Mündigkeit, die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung von Haus und Gesinde, der Kauf auf dem Markt sind ebenso wie der Eintritt in eine Gilde oder eine Zunft, wie der Erwerb des Bürgerrechts oder der Lehnsempfang "öffentliche" Akte, durch die vielfältig gestaffelte Rechtsstatus begründet werden. Jedes dieser Rechtsverhältnisse wurde als Baustein einer einheitlichen Ordnung begriffen. Im Mittelalter war eine von der Gesamtheit rechtlich abgeschiedene ,,Privatheit" ebensowenig vorhanden wie ein von der Privatsphäre abgegrenzter Rechtsbereich des "Öffentlichen". 40

2. Die "Einheit" des Rechts in der Rechtswissenschaft vom 12. bis 16. Jahrhundert Die Entstehung der europäischen Rechtswissenschaft im 11. und 12. Jahrhundert in Oberitalien ist verbunden mit der Wiederbelebung der Kenntnis der Quellen des römischen Rechts. Dabei lernten die Juristen auch die Unterscheidung Ulpians kennen (Inst. 1, 1, 4 und D. 1, 1, 1, 2): Für das Studium des Rechts gibt es zwei Ansatzpunkte, das öffentliche und das private Recht; dann folgen die berühmten Definitionen: 39 Landwehr, Mobilisierung und Konsolidierung der Herrschaftsordnung im 14. Jahrhundert, in: Der Deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, hrsg. von H. Patze, Bd. TI (ebd., Bd. XIV), 1971, S. 484 ff. (500 ff.). 40 Wyduckel (Fn. 33), S. 27 ff., schließt aus der Existenz einer Öffentlichkeit auf Ansätze zu einem öffentlichen Recht im Mittelalter. Darin liegt eine Verkennung der mittelalterlichen Rechtsverhältnisse. Siehe auch: Stolleis (Fn. 21), S. 69. Auch aus dem Gebrauch von Gemeinwohl-Formeln (utilitas publica, utilitas communis, vgl. Walther Merk, Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, 1934, S. 24 ff.) kann noch nicht auf das Vorhandensein eines öffentlichen Rechts geschlossen werden. Siehe: Landwehr (Fn. 37), S. 152 ff.

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Öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ordnung des römischen Staates bezieht. Privatrecht ist das, was das Interesse der Einzelnen betrifft.

Die Kenntnis dieser Differenzierung bedeutet indes nicht die Geburtsstunde des öffentlichen Rechts als eines selbständigen Rechtszweiges. Die Rechtssammlung des Corpus iuris wurde als das Recht des Heiligen Römischen Reiches angesehen und wie die Heilige Schrift als ein autoritativer Text betrachtet. Dessen Inhalt war in der vorgegebenen Reihenfolge, der sog. Legalordnung, auszulegen und zu bearbeiten. Die als ius publicum einzuordnenden Rechtssätze waren in den Institutionen, den 50 Büchern der Digesten, dem Codex - vor allem in dessen letzten vier Büchern - und den Novellen, also in allen vier Teilen des Corpus iuris, verstreut. Ebensowenig wie andere Materien, die an verschiedenen Stellen in den Digesten und im Codex behandelt waren, wurden die Rechtssätze des ius publicum unter materialen Gesichtspunkten zusammengefaßt und als öffentliches Recht dem Privatrecht gegenübergestellt.[us publicum war die Eigenschaft eines einzelnen Rechtssatzes, nicht aber das Charakteristikum einer selbständigen Rechtsmaterie mit speziellen, nur dort geltenden Regeln. 41 An den Universitäten Italiens wie Deutschlands wurde der Rechtsstoff streng nach der Legalordnung der Quellen vorgetragen. Deshalb wurden die Gegenstände des ius publicum, die Grundsätze des Staatsrechts und der Reichsverfassung, im Universitätsunterricht für die Juristen nie zusammen behandelt, sondern jeweils nur am Rande anderer Rechtskomplexe zur Sprache gebracht. So wurden in den Vorlesungen über die Digesten und über den Codex beim Titel über die iurisdictio, die Gerichtsgewalt (D. 2, 1 und C. 3, 13), als Unterpunkt das imperium merum und dabei die Staatsgewalt im Reich erörtert. Bei der Betrachtung der Rechtssubjekte wurden deren Befugnisse als potestas privata und potestas publica unterschieden und dabei der Inhalt der Hoheitsgewalt angesprochen. Andere Fragen der Reichsverfassung wurden bei der Interpretation der dem Corpus iuris angefügten Libri feudorum, des langobardischen Lehnrechts, unter dem Titel über die Regalien (F. 2, 56) behandelt. 42 Die Darstellung des Staatsrechts und der Reichsverfassung insgesamt wurde im übrigen nicht als Gegenstand der Jurisprudenz angesehen, sondern war Aufgabe der Artistenfakultät, der Vorläuferin der philosophischen Fakultät, die für das Studium generale (in den septem artes liberales) zuständig war. Im Rahmen der 41 Wyduckel (Fn. 33), S. 53 ff., 63 f.; Eugen Ehrlich, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, Teil I: Das ius civile, ius publicum, ius privatum, 1902, S. 200 ff., 204. 42 Stalleis (Fn. 21), S. 62 f., 68 ff., 73 ff., 81; Rudalj Hake, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jahrhundert, in: Der Staat 15 (1976),211 ff. (212); Helmut Caing, Römisches Recht in Deutschland, in: Ius Romanum Medii Aevi, P. V, 6, 1964, § 23 (S. 75 ff.); ders., in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I: Mittelalter, hrsg. von H. Coing, 1973, S. 70; R. Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. I, 1880, S. 663ff.

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Vorlesungen über Aristoteles und seine Schrift über die "Politik" wurden ausführlich auch staatsrechtliche Fragen erörtert. 43 3. Die Verselbständigung des öffentlichen Rechts im 17. Jahrhundert

Im Jahre 1602 erscheint in Nürnberg die "Disputatio de lure Publico" von Arnold Clapmarius (1574-1604), Professor an der Universität in Altdorf (Nürnberg). 44 Dieser ersten Schrift folgen in kurzem Abstand weitere Dissertationen, Disputationen und Lehrbücher: von Dominicus Arumaeus (1579 -1637), Daniel Otto (1590-1664), Heinrich Christian von Griesheim (1598-1648), Christoph Besold (1577 -1638), Dietrich Reinkingk (1590-1664) und lohannes Limnaeus (1592-1663). Sie alle haben das "ius publicum Imperii Romano-Germanici" zum Gegenstand. 45 Diese Werke sind die Reaktion auf die allgemeine Kritik über die zu knappe und oberflächliche Behandlung des ius publicum und der Alltagsdinge (cottidiana) durch die Lehrer der Digesten. Sie sind die Antwort auf die Klage, daß der Jurist alle Details des Privatrechts bis hin zum Dachtraufen- und Kloakenrecht (D. 43, 23) lerne, aber nichts erfahre "über die Religionsstreitigkeiten, nichts über Einsetzung und Pflichten der Obrigkeit, nichts über die Reichs- und Del?utationstage oder Reichskreistage, nichts von Fiskus, Heerwesen, Krieg und Frieden oder Bündnissen, also nichts von den Dingen, deren Behandlung bei weitem wichtiger sei als die der privaten Angelegenheiten". 46 Die Autoren des ius publicum behandeln in unterschiedlicher Vollständigkeit und Breite die Grundsatzfragen von Kaiser und Reich, die Reichsform, die Souveränität im Reich und die Landeshoheit, die Verfahrensfragen im Reichstag, die Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Kaiser, Reichshofrat und Reichskammergericht. 47 Für diese Werke ist charakteristisch, daß in ihnen das römische Recht als Rechtsquelle zurückgedrängt oder völlig verworfen wird. Stattdessen werden die positiven Satzungen der Reichsverfassung (die Goldene Bulle, der Ewige Reichslandfrieden, die kaiserlichen Wahlkapitulationen, die Reichsabschiede, der Augsburger Religionsfrieden und die Entscheidungen des Reichskammergerichts ) und später die Territorialgesetzgebung herangezogen. 48 Stolleis (Fn. 21), S. 80 ff.; Hoke (Fn. 42), S. 214. Stolleis (Fn. 21), S. 98 f., 141. 45 Stolleis (Fn. 21), S. 143 ff., 213 ff., 218 ff., 221 ff.; siehe auch: Hoke (Fn. 42), S. 216 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 141 ff. 46 Stolleis (Fn. 21), S. 142. Siehe auch: Hoke, (Fn. 42), S. 221 ff. 47 Stolleis (Fn. 21), S. 143 ff., 155 f., 156 ff., 166 ff., 170 ff., 213 ff., 221 f.; Hoke 43

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(Fn. 42), S. 218 ff. 48 Stolleis (Fn. 21), S. 146 ff., 151 f., 154, 216, 221; Hoke (Fn. 42), S. 224.

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Diese wenigen Fakten offenbaren bereits den rechtlichen und politischen Hintergrund, dem das ius publicum seine Entstehung verdankt. Es sind dies die einschneidenden Veränderungen, welche die Reichsverfassung, die aus den Reformgesetzen zu Anfang des 16. Jahrhunderts hervorgegangen war, durch die verfassungsrechtliche Verankerung der Konfessionen im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erfahren hatte. Dann sind es die durch die Gegenreformation hervorgerufenen Rechtsstreitigkeiten zwischen den Religionsparteien unter den Reichsständen und innerhalb einzelner Territorien. Schließlich sind es die Konflikte, die aus der Ausbildung der Landeshoheit als Herrschaft über das Territorium herrühren und die mit den Ständen und Untertanen sowie mit der Reichsgewalt entstanden waren. Die damit zusammenhängenden Rechtsprobleme waren nicht mehr allein mit den Rechtssätzen des Corpus iuris über die patria potestas, über die iurisdictio, über die lex regia, über die Rechtsstellung der römischen Provinzstatthalter sowie mit der von den Konsiliatoren entwickelten Lehre von dominium directum und dominium utile zu lösen. 49 Die Beantwortung der neuen Rechtsfragen, insbesondere die Klärung der Rechtsbeziehungen zwischen dem Reich und den Reichsständen sowie zwischen dem Landesherrn und den Landständen, erforderte eine Gesamtbetrachtung der Staatsordnung auf der Grundlage der positiven Quellen der Reichs- und Territorialverfassung. Aus der wissenschaftlichen Diskussion dieser Rechtsverhältnisse erwuchs das ius publicum. Damit ist nicht das öffentliche Recht im heute geläufigen Umfang gemeint, sondern allein "das Staatsrecht (Jus Publicum), welches die in einem Staate sowohl dem Oberhaupte von höchster Gewalt und Macht wegen, als den Untertanen zustehenden Rechte und Pflichten begreift" (Cod. Max. Bav. Civ. von 1753, I 2 § 6). Das aus Anlaß der Rechts- und Verfassungs streitigkeiten des konfessionellen Zeitalters entstandene Staatsrecht ist dadurch charakterisiert, daß seine Quellen nicht dem Corpus iuris entstarnrnen. Das wiederum war vom Humanismus vorbereitet worden, der nicht nur gegen das autoritative Verständnis des Textes des Corpus iuris angegangen war, sondern auch die historischen Quellen des Mittelalters wieder ans Licht gebracht und damit den Blick für die Andersartigkeit der aus dem Mittelalter kommenden Verfassung des Reiches geschärft hatte. 50 Die Entstehung des ius publicum ist als eine Emanzipation des Staatsrechts von den Quellen des römischen Rechts gekennzeichnet. 51 Das bedeutet aber nicht, daß Privatrecht und öffentliches Recht zwei völlig getrennte und selbständige Rechtsmaterien wurden. Die Publizisten blieben in vieler Hinsicht der Wissenschaft vom ius civile auch weiterhin verbunden. Die positiven Quellen der Reichs49 Stolleis (Fn. 21), S. 126 ff., 154 ff., 156 ff., 166 ff., 170 ff.; vgl. auch: Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, S. 121 ff., 185 ff., 213 ff. 50 Wyduckel (Fn. 33), S. 131 ff.; Slol/eis (Fn. 21), S. 127 ff.; Hoke (Fn. 42), S. 215 f. 51 Hoke, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jahrhundert (Fn. 42); Stol/eis (Fn. 21), S. 77.

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verfassung konnten nur mit Hilfe des wissenschaftlichen Instrumentariums, das am römischen Recht ausgebildet worden war, juristisch ausgewertet werden. Das fängt bereits bei der Terminologie an, deren sich die Wissenschaft, aber auch der Gesetzgeber - wie die Begriffe Edikt, Reskript, Mandat, Dekret, Constitution zeigen - bedient. Das gilt für die Übernahme des Schemas der Institutionen des Corpus iuris als Gliederung der öffentlich-rechtlichen Materie, für die Transponierung römisch-rechtlicher Institute in das ius publicum und für die am römischen Recht entwickelten Interpretationsmethoden. 52 Die Publizistik blieb insoweit eine im allgemeinen und weiteren Sinne gemeimechtliche Rechtswissenschaft. 53 4. Privatrecht und "gute Policey" Das in den Rechtssätzen des Corpus iuris enthaltene und seit dem l3. Jahrhundert von der gelehrten Literatur erläuterte und fortgebildete Privatrecht war in jeder Hinsicht - zeitlos und von schulmäßiger Allgemeinheit. Das erklärt, warum es nicht nur in der absolutistisch-bürokratischen Ordnung der Spätantike sowie in der feudal-genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung der oberitalienischen Städte im Mittelalter, sondern auch in der kapitalistische Züge aufweisenden Wirtschaftsordnung des 16. Jahrhunderts gelten konnte. 54 Das bedeutet aber nicht, daß das im Corpus iuris niedergelegte Privatrecht ausschließlich Geltung besaß. Neben den als gemeines Recht (ius commune) bezeichneten Rechtssätzen der römischen Rechtsquellen galten mehr oder weniger lückenhafte Statutar- und Partikularrechte, die teilweise aus dem Mittelalter stammten, größtenteils aber in den Stadt- und Landrechtsreformationen des 15. und 16. Jahrhunderts niedergelegt waren. 55 Nach der Rechtslehre des 15. und 16. Jahrhunderts waren diese 52 53

Stolleis (Fn. 21), S. 146 ff., 154, 230 f. Stolleis (Fn. 21), S. 231; Heinz Mohnhaupt, ,.Europa" und "ius publicum" im 17.

und 18. Jahrhundert, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, hrsg. von C. Bergfeld u. a., 1982, S. 207 ff., 216. Hoke (Fn. 42), S. 229, 230, spricht demgegenüber von einer vollständigen, nicht nur äußerlichen (quellenmäßigen), sondern auch methodischen Verse1bständigung der Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik. Diese Feststellung erscheint mir zu apodiktisch; sie berücksichtigt zu wenig die weitgehend fortbestehende Einheit des rechtswissenschaftlichen Denkens. Siehe auch: Stolleis (Fn. 21), S. 58 f., 61 f., 153 f. Über die Bedeutung des Römischen Rechts für das frühe deutsche Staatsrecht siehe auch die ältere Literatur: Paul Laband, Die Bedeutung der Rezeption des Römischen Rechts für das deutsche Staatsrechts (Rektoriatsrede), Straßburg 1880; Max Fleischmann, Über den Einfluß des Römischen Rechts auf das deutsche Staatsrecht, in: Melanges Fitting, hrsg. von der Universität Montpellier, Bd. 11, 1908, S. 637 ff.; Erich Molitor, Über öffentliches Recht und Privatrecht, 1949, S. 11 f. 54 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 201 ff., 243 ff. 55 Wieacker (Fn. 54), S. 189 ff.; Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I: Mittelalter (11001500), 1973, S. 586 ff., Bd. 11: Neuere Zeit (1500-1800), 2. Teilbd., 1976, S. 310 ff.

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Statuten strikt auszulegen; Lücken waren nicht durch eine Analogie partikularrechtlicher Nonnen, sondern allein aus dem römischen Recht zu ergänzen. Anders verfuhr man seit dem 17. Jahrhundert. Nunmehr wurden in Deutschland die Regeln der Partikularrechte nicht mehr als Ausnahmen, sondern als gewohnheitsrechtliche Abänderungen des römischen Rechts aufgefaßt, so daß sie wie alle anderen aus dem Corpus iuris abgeleiteten Rechtssätze uneingeschränkt auslegungs- und analogiefahig waren. 56 Auf die Bedeutung dieser als usus modernus bezeichneten Verschmelzung der römischen und partikularrechtlichen Rechtssätze zu einer Einheit soll hier nicht näher eingegangen werden. Neben die umfangreiche Stoffrnasse des Corpus iuris tritt vom 16. bis ins 18. Jahrhundert weiterhin eine Vielzahl vom Reich und vor allem von den Landesherren erlassener Ordnungen, in denen fast sämtliche Lebensbereiche der Menschen einer Reglementierung unterworfen werden. Diese Gesetzgebung befaßt sich auch mit Gegenständen, die wir dem Privatrecht zuordnen. 57 Sie betreffen: -

die Eheordnung: Ehehindernisse und Heiratsverbote; Gebote zur Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft;

-

die Familien- und Vonnundschaftsordnung: Eltern- und Kinderpflichten; nichteheliche Kinder; Auswahl sowie Rechte, Pflichten und obrigkeitliche Überwachung der V onnünder;

-

die Nachbarschaftsordnung: Bau-, Feuerschutz- und Sanitätsvorschriften; Schutz der Brunnen; Abfallbeseitigung;

-

die Gewerbe- und Berufsordnung: Fähigkeiten, Aufgaben, Rechte und Pflichten der Advokaten und Prokuratoren, der Wundärzte, Zahnärzte und Hebammen, der Apotheker;

-

die Arbeitsordnung: Arbeitsbedingungen, Löhne und Kündigung der Handwerksgesellen und des Gesindes; Gesindemakler; Koalitionsverbote; Arbeitsentgelt der Handwerker (Werklohn);

56 Coing (Fn. 55), Bd. 11, 2. Teilbd., S. 61 ff.; ders., Europäisches Privatrecht, Bd. I, 1985, S. 137 ff. 57 Zum folgenden siehe: Gustav Klemens Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955, passim; Reiner Schulze, Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg in der frühen Neuzeit, 1978, passim; ders., Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, 1982, S. 37 ff.; Wieacker (Fn. 54), S. 200 f.; Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), 1966, S. 104 ff.; Stolleis (Fn. 21), S. 369 ff.; Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983, S. 16 ff.

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte ~

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die Wirtschaftsordnung: Handel auf dem Markt; Verbot von Vorkauf (dem Kauf unter Umgehung des Marktes) und von Aufkauf (dem Kauf zwecks Hortung und Verteuerung von Waren); Einschreiten gegen Monopole; Preistaxen und Wuchervorschriften; Regelung und Beaufsichtigung von Maßen und Gewichten; Bekämpfung der Wein-, Gewürz- und Lebensmittelverfälschung sowie des Betruges.

Vieles dieser Gesetzgebung erinnert an das heutige Gewerbe- und Wirtschaftsrecht oder an das Arbeitnehmer- und Verbraucherschutzrecht. Im Gegensatz zur modernen Gesetzgebung, die in der Regel aus sozialstaatlichen Maßnahmegesetzen besteht, haben die älteren hier genannten Gesetze die planmäßige Herstellung einer guten Ordnung des Gemeinwesens insgesamt zum Gegenstand. Das zeigt sich bereits daran, daß sie neben den genannten - und regelmäßig vor ihnen - noch weitere Lebensbereiche regeln. Diese betreffen: -

die gottgefällige Ordnung: Einschärfung der Sonn- und Feiertagsruhe; Anhalten zum Kirchgang und Erlernen des Katechismus; Verbot des Fluchens, Schwörens und der Gotteslästerung;

-

die Hausordnung: Kleiderluxus; Aufwand bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen; Belustigung durch Pfeifer, Spielleute und Narren; Einschränkung des Zutrinkens;

-

die sittliche Ordnung: Einschreiten gegen Hurerei, außereheliche Beziehungen, Konkubinat und Ehebruch; Steuerung des Müßigganges;

-

die soziale Ordnung: Auftreten von Wahrsagern und Gauklern; Umgang mit Bettlern, Vagabunden und Zigeunern; Umtriebe von Reisigen und Knechten; Bekämpfung des Glücksspiels; öffentliche Badehäuser.

Die Gesetze nennen als ihren Zweck die Errichtung und Aufrechterhaltung "guter Po/icey" und bezeichnen sich selbst als "Po/icey-Ordnungen". Dieses vom lat. "po/itia", griech. "politeia", abgeleitete Wort meint die innere Ordnung des Gemeinwesens. 58 "Gute Policey" ist die "Pflanzung und Aufbauung guter Sitten, Ehrbarkeit und Tugend" (RA von 1551, § 70), dies meint einen Zustand der Wohlordnung im Gemeinwesen. Dabei läßt man sich leiten von den aristotelischen Erkenntnissen über Ethik, Ökonomik und Politik, mit denen man sich seit dem 13. Jahrhundert theoretisch befaßt hatte und die nun zu einer Staatszwecklehre des gerade

58

H. Maier (Fn. 57), S. 116 ff., 122 ff., 127 ff.; Preu (Fn. 57), S. 20 f, 33 ff.

4 Vielfalt des Rechts

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entstehenden Staates ausgebaut werden. 59 Das staatliche Gemeinwesen erscheint danach als ein großes Haus bestehend aus vielen Häusern, von denen jedes von einem pflichtbewußten und fürsorglichen Hausvater geleitet wird und jedes einen festen Bestand an sittlichen Regeln, eine sparsame und vorausschauende Ökonomie und eine stabile soziale Bindung besitzt. Die Sitten- und Sozialordnung des Hauses gilt - mit bestimmten Abstufungen - für alle Stände und schließlich für die staatliche Ordnung insgesamt. In diese aristotelische Staatsordnung fließen auch Gedanken der spätmittelalterlichen christlichen Ständelehre von der gottgewollten und hergebrachten Ordnung der sozialen Schichten ein. 60 Die Entstehung dieser Staatslehre wird seit dem 15. Jahrhundert begleitet von einer Vielzahl von Fürstenspiegeln, Hausväterliteratur, Ehebüchlein, Tischzuchten, Sittenspiegeln, Traktaten über Handel, Geld und Steuern, Ackerbau, Viehzucht und Wohlstand. 61 In diesen Schriften, die durch den Buchdruck weite Verbreitung fanden, wird die aristotelische Tugend- und Politiklehre in einzelne Lebenskreise umgesetzt. Das alles mündet ein in eine eudämonistische Lehre von der "guten Policey", die allerdings seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in eine obrigkeitliche Bevormundung ausartete. Die Polizeigesetze überziehen das gesamte Privatrecht mit einer Pflichtenordnung, die eine Trennung zwischen öffentlich und privat nicht kennt und die der Sozialdisziplinierung dient. 62 "Gute Policey" ist vom 16. bis 18. Jahrhundert neben der Krirninal- und Privatrechtspflege das zentrale Feld staatlicher Herrschaftsausübung und umfaßt fast die gesamte innere Verwaltung. 63 Dennoch wird die Policey-Gesetzgebung nicht zum ius publicum, das eben nur das Staatsrecht umfaßt, gerechnet. Das Policey-Recht wird innerhalb der Legalordnung einzelnen Rechtstiteln des Corpus iuris zugeordnet und folglich überwiegend im Zivilrecht abgehandelt. 64 Erst im 18. Jahrhundert findet die "Policey" eine zusammenfassende wissenschaftliche Bearbeitung, aber nicht von den Juristen, sondern in der Philosophischen Fakultät, und bildet dort den Ausgangspunkt der späteren Staatswissenschaft und der Nationalökonomie. 65 In der juristischen Praxis und in der Prozeßliteratur werden allerdings schon bald Polizeirecht und Privatrecht getrennt. 66 Ausgangspunkt ist dabei die Frage 59 Preu (Fn. 57), S. 26 ff.; H. Maier (Fn. 57), S. 200 ff.; Stolleis (Fn. 21), S. 80 ff., 98 ff., 338 f. 60 H. Maier (Fn. 57), S. 50 ff., 93 ff., 125 ff. 61 Stolleis (Fn. 21), S. 336 f., 338 ff., 342 ff.; R. Schulze, Policey (Fn. 57), S. 45 ff.; H. Maier (Fn. 57), S. 150 f. 62 Stolleis (Fn. 21), S. 337 ff.; Preu (Fn. 57), S. 18; R. Schulze (Fn. 57), S. 125 ff.; vgl. auch: Schmelzeisen (Fn. 57), S. 545. 63 Stolleis (Fn. 21), S. 370; Preu (Fn. 57), S. 27 f.; R. Schulze, Policey (Fn. 57), S. 56 ff. 64 Stolleis (Fn. 21), S. 386. 65 Stolleis (Fn. 21), S. 386 ff.; Preu (Fn. 57), S. 148 ff.; H. Maier (Fn. 57), S. 213 ff.; R. Schulze, Policey (Fn. 57), S. 114 ff. 66 Zum folgenden siehe ausführlich: Preu (Fn. 57), S. 59 ff.; Karl Kroeschell, Justizsachen und Polizeisachen, in: Gerichtslauben-Vorträge. Freiburger Festkolloquium zum

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nach der Zulässigkeit der Appellation an das Reichskammergericht in Polizeisachen. Noch der Jüngste Reichsabschied von 1654 (§§ 105,106) schließt polizeiliche Sachen von der Appellation an das Reichskammergericht, die grundsätzlich nur in Zivilrechtsstreitigkeiten möglich war 67 , prinzipiell nicht aus. Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts wird dann jedoch, um die Möglichkeit der Appellation an das Reichskammergericht einzuschränken, zwischen Justiz- und Polizeisachen unterschieden. Justizsachen beruhen "auf Handhabung der Gerechtigkeit in Privatangelegenheiten oder Parteisachen" und haben nur "den Nutzen oder Schaden einzelner Personen" zum Gegenstand. Polizeisachen betreffen demgegenüber das gemeine Wesen im ganzen und sind dahingerichtet, "daß durch vernünftige und kluge Anstalten, auch durch Gesetze und Verordnungen . .. , der Nutzen und die Wohlfahrt" des ganzen Landes oder einzelner Teile gefördert werden. 68 Die salus publica gehört demnach zur Polizei, die salus privata zur Justiz. Zur Möglichkeit der Appellation in Polizeisachen hatten sich zwei Auffassungen gebildet. Die ,,Fürstenerianer" wollten - unter Hinweis auf den Vorrang der salus publica und der Landeshoheit - die Appellation in Polizeisachen völlig ausschließen. Soweit sich die Ansicht der ,,FÜTstenerianer" in einzelnen Territorien durchsetzen konnte, war ein ordentlicher Prozeß gegen polizeiliche Anordnungen, auch wenn sie private Rechte betrafen, verwehrt. Die Anhänger einer ,,reichsjustizstaatlichen" Theorie wollten die Möglichkeit der Appellation in Polizeisachen lediglich einschränken. Auch sie gehen bei ihrer Auffassung von der salus publica als Gegenstand der "Policey" aus. Da die salus publica die Wohlfahrt der Mehreren oder die Summe der Einzelwohlfahrten ausmacht, kann sich die "Policey" auch der privaten Wohlfahrt annehmen. Dabei darf sie aber nicht in wohlerworbene Rechte, iura quaesita, eingreifen. Sobald die Verletzung eines wohlerworbenen Rechtes vorliegt oder möglich ist, liegt eine Justizsache vor. Das führt nun zu einer Differenzierung zwischenjustizmäßigen Polizeisachen (causae politicae mixtae), bei denen die Verletzung eines ius quaesitum in Frage steht, und "reinen" oder "wirklichen" Polizeisachen (causae politicae purae). Bei justizmäßigen Polizeisachen war eine Klage im ordentlichen Prozeß bis hin zum Reichskammergericht zulässig. Bei "reinen" Polizeisachen war dagegen nur ein summarischer Prozeß (processus summarius), ein von prozessualen Förmlichkeiten entbundenes Eilverfahren, ohne Appellation möglich. 69

fünfundsiebzigsten Geburtstag von Hans Thieme, hrsg. von K. Kroeschell, 1983, S. 57 ff., 60ff. 67 Vgl. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, 1981, S. 68. In Strafsachen war keine Appellation, sondern nur eine Nullitätsbeschwerde an das Reichskammergericht möglich. 68 Johann Ernst Flörcke, Erörterung der Rechtsfrage: Ob und wie feme PoliceySachen vor die Justiz-Collegia gehören, Halle 1760, §§ 1,3. Vgl. Preu, (Fn. 57), S. 69. 69 Preu (Fn. 57), S. 68 ff., 76 ff., 78 ff. 4*

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In der Praxis spitzte sich für die ,,reichsjustizstaatliche" Auffassung alles darauf zu, ob die Obrigkeit durch die "Policey" in ein ius quaesitum eingegriffen hatte. Die klagenden Untertanen gaben ihre verletzten Rechtspositionen als wohlerworbene Rechte aus. Von der Obrigkeit wurde ihnen die Qualität von iura quaesita abgesprochen oder sie wurden als Mißstände oder Mißbräuche qualifiziert, die zu beseitigen der Landesherr kraft seines ius reformandi politicum befugt sei. Die Entscheidung über den Charakter einer Rechtsposition als ius quaesitum und damit über die Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges war eine Justizsache, die allerdings letztlich durch Machtspruch des Landesherrn erledigt werden konnte. 70

Insgesamt ist bedeutsam, daß sich in der Differenzierung zwischen Justiz- und Polizeisachen bzw. zwischenjustizmäßigen und reinen Polizeisachen eine bisher nicht bekannte Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht herauskristallisiert, die für die Gewährung des gerichtlichen Rechtsschutzes maßgeblich wird. Für das Staatsrecht, das ius publicum im eigentlichen Sinne, war das eine weniger wichtige Frage. Für verfassungsrechtliche Streitigkeiten der Reichsstände untereinander sowie der Untertanen gegen ihre reichsunmittelbare Obrigkeit waren sowohl das Reichskammergericht (Possessions-, Fiskal- und Mandatssachen) als auch insbesondere der Reichshofrat zuständig. Bei einer Zuständigkeitskonkurrenz beider Gerichte hatte das zuerst mit der Sache beschäftigte Gericht den Vorrang. 71 5. Staats- und Verwaltungsrecht als öffentliches Recht im 19. Jahrhundert

Die endgültige Herausbildung eines umfassenden öffentlichen Rechts und die kategoriale Zweiteilung des Rechts in öffentliches und privates Recht sind eine Frucht der späten Aufklärung. a) In der Rechtslehre wird am Ende des 18. Jahrhunderts dem absolutistischen Wohlfahrtstaat und seiner polizeilichen Staatszwecklehre eine schroffe Absage erteilt. Der Staat wird nur als spezifische Einrichtung zum Schutze der Rechte der Staatsbürger anerkannt; allein zu diesem Zweck hat er das Gewaltmonopol inne (vgl. §§ 76, 77 Einl.; §§ 2, 3 11 13; §§ 1- 3 11 17 ALR). Das ergibt eine klare Abgrenzung zwischen den Rechten der Individuen unter sich, dem Privatrecht, einerseits und dem Rechtsschutz und den rechts schützenden Organisationen des Staates, die nunmehr als öffentliches Recht bezeichnet werden, andererseits. 72 Preu (Fn. 57), S. 66 ff., 68 ff., 78 ff. Vgl. Dick (Fn. 67), S. 65 ff. 72 fan Schröder, Privatrecht und öffentliches Recht. Zur Entwicklung der modemen Rechtssystematik in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Joachim Gemhuber zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Lange, K. W. Nörr, H. P. Westermann, 1993, S. 961 ff., 967 ff.; Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, 1984, S. 14 ff.; Eugen Ehrlich (Fn. 41), S. 159 ff., 208 ff. 70 71

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Zum öffentlichen Recht gehören neben dem Staatsrecht die als Staatsanstalten (im Sinne von Organisationen und Tätigkeiten) ausgewiesenen Bereiche: das (Staats-)Kirchenrecht, das Kriegs- und Völkerrecht, das Justiz- oder Prozeßrecht, das Kriminalrecht, das Kameral- oder Finanzrecht, das Polizeirecht. 73 Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden diese Materien - und das gilt auch für das Strafrecht 74 - zum Privatrecht gerechnet. 75 Erst die Lehre der späten Aufklärung vom Rechte schützenden Staat, vom Rechtsstaat, gelangt zu einer Ausweitung des öffentlichen Rechts und zu einer Gleichrangigkeit mit dem Privatrecht. 76 b) Der aus der Aufklärung hervorgegangene staatstheoretische Liberalismus führte mit der Separation von Staat und Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Aufhebung aller ständischen und polizeilichen Schranken im Gewerbe-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Aufgabe des Staates sollte nicht mehr die bevormundende Förderung der individuellen Wohlfahrt des einzelnen sein. 77 Darin liegt eine Absage an die "gute Policey", die bereits das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 in seinem berühmten § 10 11 17 formulierte: Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizei. Die Veränderung der Staats ziele und die Rücknahme staatlicher Tätigkeit führten - auf den ersten Blick überraschend - zu einer erheblichen inhaltlichen Ausweitung des nunmehr aus dem Polizeirecht entstandenen Verwaltungsrechts. Der Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkte sich keineswegs allein auf die reine Gefahrenabwehr. Er verzichtete zu keiner Zeit auf einen obrigkeitlichen Kontrollanspruch gegenüber den gesellschaftlichen Kräften, denen durch die Einführung der Grunderwerbs- und der Gewerbefreiheit ökonomi73 Gustav Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 1., 4. Aufl., 1811, §§ 417 (S. 4 ff.), §§ 240 ff. (S. 214 ff.), §§ 275 -411 (S. 235 ff.); 7. Aufl. (1823), S. 69 ff., 76 ff., 428 ff., 445 ff., 451 ff. Zu den Vorläufen bei Pütter und seinen Zeitgenossen siehe: Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975, S. 100 ff.; Björne (Fn. 72), S. 18 ff., 23 ff., 35 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 204 ff. 74 Gerd Kleinheyer, Vom Wesen der Strafgesetze in der neueren Rechtsentwicklung (Recht und Staat, Heft 358), 1968, S. 11 ff. 75 J. Schröder (Fn. 72), S. 963 f.; Björne (Fn. 72), S. 14 ff. 76 J. Schröder (Fn. 72), S. 967 ff. Für die Zuordnung des Strafrechts zum öffentlichen Recht läßt sich diese Entwicklung an den Versuchen im 18. Jahrhundert, die öffentliche Strafe durch die gesellschaftsvertragliche Unterwerfung oder Einwilligung des Straftäters zu legitimieren, ablesen. Siehe: Kurt Seelmann, Vertragsmetaphern zur Legitimation des Strafens im 18. Jahrhundert, in: Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, hrsg. von M. Stolleis / M. Frommel / J. Rückert / R. Schröder / K. Seelmann/W. Wiegand, 1991, S. 441 ff. (S. 444-453). 77 Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 526 ff., 776 ff.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., 1960, S. 97 ff.; Reinhart Kosel/eck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl., 1975, S. 52 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 211 ff., 220 ff.

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sche Spielräume gegeben wurden. Auch die liberale Staatsrechtslehre des Vormärz zählte das "Jus inspectionis", das Recht der Kenntnisnahme und der Oberaufsicht über alle gesellschaftlichen Aktivitäten, zu den selbstverständlichen Souveränitätsrechten. Die Gewährung von Autonomie verbunden mit fortbestehender Staatsaufsicht war das Prinzip für die Neukonstitution von Staat und Gesellschaft. Das Jus inspectionis diente dabei der Minderung der noch nicht absehbaren Risiken, die mit der weitgehenden Vergesellschaftung verbunden waren. 78 Beispiele für das Jus inspectionis sind die Konzessionierung von Eisenbahnund Chausseebau-Aktiengesellschaften, von Bergbau- und Eisenhüttenunternehmen sowie die Fabrikaufsicht. 79 Weiterhin zog sich der Staat keineswegs vollständig aus dem Wirtschaftsgeschehen zurück, sondern er· blieb intensiv lenkend, fördernd und Impulse gebend für Gewerbe und Landwirtschaft tätig. 80 Schließlich aber erweiterte und veränderte sich die Staatstätigkeit durch die radikalen und sprunghaften Wandlungen der sozialen Wirklichkeit, die sich im Gefolge der Industrialisierung und der Bevölkerungswanderung in die Städte ergaben. Die Schaffung eines Netzes fester Straßen (Chausseen), die Anlage eines Schienennetzes für den Eisenbahnverkehr, der Bau von Kanälen und die Regulierung von Flüssen, die Errichtung einer verbesserten Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung (Kanalisation), von Schlachthöfen und öffentlichen Badeanstalten in den Städten, die Einführung einer modernen Straßenbeleuchtung, die Ausweitung der Städte durch die Schleifung der alten Wallanlagen und Befestigungen sowie die Verlagerung der handwerklichen und industriellen Produktionsstätten aus den Stadtzentren in die Außenbereiche, all diese Angelegenheiten forderten die Tätigkeit des Staates, wandelten die bisherige Policey zur Verwaltung und riefen ein immer mehr anwachsendes Verwaltungsrecht ins Leben. 81

78 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800-1914, 1992, S. 238 ff. 79 Götz Landwehr, Staatszweck und Staatstätigkeit in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag, hrsg. von G. Köbler, 1987, S. 249 ff. (255 ff., 258 ff.). 80 Ulrich Peter Ritter, Preußische Gewerbeförderung in frühindustrieller Zeit (1961), in: Modeme Preußische Geschichte, hrsg. von O. Büsch/W. Neugebauer, Bd. II, 1981, S. 1031 ff.; Herbert Pruns, Staat und Agrarwirtschaft 1800-1865 (Berichte über Landwirtschaft. Zeitschrift für Agrarpolitik und Landwirtschaft, N. F., Sonderheft 194), 1979, S. 178 ff. 81 Stolleis (Fn. 78), S. 238. Vgl. Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. II: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, 1981, S. 56 f., 93 f., 108 f., 111 ff., 113 ff., 154 ff.; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. VI: Die moderne Technik und die deutsche Industrie, 1965, S. 42 f., 168 ff., 196 ff., 259 ff.; W. O. Henderson, Die Entstehung der preußischen Eisenbahnen 1815 -1848 (1958), in: Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Karl Erlch Born, 1966, S. 137 ff.; siehe die Beiträge in: Bernhard Kirchgässner / Heinz Schmitt (Hrsg.), Stadtkern und Stadtteile (Stadt in der Geschichte, Bd. 17), 1991.

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c) Dringender noch als im 18. Jahrhundert stellte sich nunmehr die Frage nach der gerichtlichen Überprüfung staatlicher Hoheitsakte. Die neuorganisierte ordentliche Gerichtsbarkeit war nur für Zivil- und Strafsachen zuständig. Lediglich bei der Verletzung des Eigentums oder anderer wohl erworbener Rechte durch hoheitliche Akte konnte vor dem ordentlichen Gericht geklagt werden. Das wurde allgemein als unerträglich empfunden und deshalb nach Abhilfe gerufen. Aus der fast ein halbes Jahrhundert dauernden heftigen Diskussion zwischen den Anhängern einer justizstaatlichen Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte und den Verfechtern einer der Verwaltung inkorporierten Administrativjustiz gingen schließlich 1863 in Baden und 1875 in Preußen die Anfange der heutigen eigenständigen (nicht der Justiz unterstellten) Verwaltungsgerichte hervor. 82 d) In den großen auf Samuel Pufendorf (1632-1694) zurückgehenden Vernunftrechtssystemen des 18. Jahrhunderts ist das ius publicum, das Staatsrecht, ein fest integrierter Bestandteil. 83 Eindrucksvoll demonstriert dies der Aufbau des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Bei der Normierung der Gesamtrechtsordnung in mehr als 19.000 Paragraphen beginnt das Landrecht mit den Rechtsverhältnissen des Individuums, schreitet dann fort über die Ehe, die Familie und das Haus mit dem Gesinde zu den bäuerlichen Rechtsverhältnissen auf dem Lande und der bürgerlichen Rechtsordnung in den Städten, geht weiter zu den Rechten des Adels und der Kirche und endet schließlich bei den Rechten und Pflichten des Staates und seiner Anstalten, einschließlich des Strafrechts. Nach dem Zusammenbruch des aufgeklärten Vernunftrechts, nach der Trennung von Staat und Gesellschaft sowie nach der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht entwickelte die Zivilrechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts für das - durch die historische Rechtsschule von den Rechtsfortbildungen des usus modernus und den polizeilichen Rechtssätzen befreite - Privatrecht ein eigenständiges Rechtssystem. Dieses wirkt bis in die Gegenwart und ist durch die Herausarbeitung Allgemeiner Lehren sowie die Trennung von Sachen- und Obligationenrecht gekennzeichnet. 84 Etwas systematisch und methodisch Vergleichbares hat für das Staatsrecht erstPaul Laband (1838-1918) in seinem von 1876 bis 1882 erschienenen Staatsrecht des deutschen Reiches (3 Bde.) entwickelt. Die "einheitlichen Grundsätze und leitenden Principien" des Staatsrechts gewinnt Laband - unter Beiseitelassung aller historischen, politischen und ethischen Fundamente - mit bewun82 Stolleis (Fn. 78), S. 240 ff.; Regina Ogorek, Individueller Rechtsschutz gegenüber der Staatsgewalt. Zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert, hrsg. vonJ. Kocka, Bd. I, 1988, S. 372 ff.Zurandersartigen Entwicklung in Hamburg siehe: Gerd Quast, Die Entstehungsgeschichte der hamburgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, jur. Diss. Hamburg, 1974. 83 Björne (Fn. 72), S. 14 ff.; Stolleis (Fn. 21), S. 282 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 185 ff. 84 Björne (Fn. 72), S. 131 ff., 154 ff., 179 ff., 181 ff., 250 ff.; Andreas B. Schwarz, Zur Entstehung des modemen Pandektensystems (1921), in: ders., Rechtsgeschichte und Gegenwart, hrsg. von H. Thieme/F. Wieacker, 1960, S. 1 ff.

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dernswerter Klarheit und Logik aus den wenigen positiven Normen des Verfassungsrechts. Aus Analogiebildungen und Umkehrschlüssen werden - wie im Zivilrecht - Regeln, Begriffe und Rechtsinstitute eines lückenlos gedachten Staatsrechts geschaffen, das die Reichsverfassung von 1871 allerdings nicht überlebte. 85 Für das Verwaltungsrecht erbringt eine ähnlich grandiose Leistung Otto Mayer (1846 - 1924). Er schuf in seinem 1895 / 96 erschienenen Deutschen Verwaltungsrecht die Allgemeinen Lehren und damit Methode, Begriffe und System des Verwaltungsrechts. Ähnlich wie Laband behandelte Otto Mayer das Verwaltungsrecht unter Abschneidung der Verbindungen zur Verwaltungslehre, zum Verfassungsrecht sowie zur Nationalökonomie und zur Politik. Auch Otto Mayers Werk ist ein glanzvolles Produkt des rechtswissenschaftlichen Positivismus. 86 Mit Paul Laband und Otto Mayer etabliert sich das öffentliche Recht nicht nur als ein vom Privatrecht inhaltlich geschiedener, sondern auch als ein systematisch abgeschlossener Rechtsbereich. Die Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus, einsetzend in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts,87 bedeutet demgegenüber nur einen Methodenwechsei, der in Gestalt der Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz eine Parallele im Zivilrecht hat. 88 6. Anwendung privatrechtlicher Normen und Institute im öffentlichen Recht

Otto Mayer hat für das Verhältnis des öffentlichen Rechts zum Privatrecht konstatiert, daß es "keine dem öffentlichen und dem Privatrechte gemeinsamen Rechtsinstitute" gibt und daß eine analoge Anwendung von Bestimmungen des bürgerlichen Rechts auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse ausgeschlossen ist wegen Fehlens jeglicher Rechtsähnlichkeit. 89 Dieser Auffassung ist das Reichsgericht und sind - ihm folgend - die Verwaltungsgerichte nicht beigetreten. Dem hat sich Ernst Forthoff(1902-1975) 85 Stol/eis (pn. 78), S. 341 ff.; Manfred Friedrich; Pau1 Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit, in: Archiv des öffentlichen Rechts 111 (1986) 197 ff; Wyduckel (Fn. 33), S. 259 ff., 293 ff. Zu earl Friedrich von Gerber als Vorläufer Labands siehe: Stol/eis (Fn. 78), S. 331 ff, 383 f.; Wyduckel (Fn. 33), S. 257 ff.; Walter Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958, S. 129 ff. 86 Stolleis (Fn. 78), S. 381-384, 403 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 267 ff. 87 Wyduckel (Fn. 33), S. 299 ff., 316 ff. Zur Kritik am staatsrechtlichen Positivismus im 19. Jahrhundert siehe ebendort, S. 289 ff.; Stolleis (Fn. 78), S. 348 ff., 359 ff. 88 Vgl. Wieacker (Fn. 54), S. 574 ff., 579 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1979, S. 53 ff., 64 ff., 69 ff. 89 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1,3. Aufl. 1924, S. 117.

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in seinem bedeutenden in zehn Auflagen von 1949 bis 1973 erschienenen Lehrbuch des Verwaltungsrechts angeschlossen. Forsthoff hält die von Otto Mayer propagierte rigorose Trennung der öffentlich-rechtlichen und zivilistischen Institute für unverträglich "mit der Verwaltungsentwicklung der neueren Zeit, die sich vielfach dem Zivilrecht angenähert hat". Forsthoffbefürwortet eine Analogie zivilrechtlicher Normen. Außerdem sollen" bestimmte Rechtsnormen des bürger-

lichen Rechts als Ausdruck eines allgemeinen, also nicht nur auf das bürgerliche Recht beschränkten und sohin für das Verwaltungsrecht unmittelbar geltenden Rechtssatzes verstanden werden". 90 Dazu rechnet Forsthoff den Grundsatz von

Treu und Glauben, die Verwirkung, insbesondere im Prozeßrecht, die Auslegungsbestimmungen (§§ 133,157 BGB) und die Vorschrift über die Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB). Für analogiefähig hält Forsthoff die Bestimmungen über die Fristen (§§ 187-193 BGB) und die Verjährung (§§ 194-225 BGB). Für den öffentlich-rechtlichen Vertrag sollen entsprechend anwendbar sein die Vorschriften über den Vertragsschluß, über die Irrtumsanfechtung und den Wegfall der Geschäftsgrundlage. 91 Abgelehnt wird dagegen die analoge Anwendung der Geschäftsführung ohne Auftrag, des Bereicherungsrechts und der Verwahrung sowie der Ersitzung, weil insoweit eigene öffentlich-rechtliche Institute entwickelt worden sind. 92 Wesentlich grundsätzlicher als Forsthoff äußert sich 1959 der bedeutende Zivilrechtler Hans earl Nipperdey (1895-1968):93 "Öffentliches Recht und Privatrecht sind nur Teile einer einheitlichen Rechtsordnung, die unter demselben Gebot der Gerechtigkeit steht, daß Gleiches gleich behandelt werden muß. Da es in beiden Rechtsgebieten trotz unterschiedlicher Grundauffassung durchaus substantiell gleichartige Interessenkonflikte gibt, entspricht es diesem Gebot, wenn derartige öffentlich-rechtliche Interessenkonflikte, soweit das öffentliche Recht keine besondere Regelung enthält, unter Hinzuziehung der entsprechenden im Privatrecht entwickelten Grundsätze bewertet werden." Seit den Ausführungen von Nipperdey sind 35 Jahre, seit der letzten Darstellung von Forsthoff sind über 20 Jahre vergangen. Die Rechtsentwicklung ist in dieser Zeit nicht stehengeblieben. Vor allem das Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976 hat für die von Forsthoff und von Nipperdey angesprochenen Fragen eigene Regelungen gebracht und dadurch die Eigenständigkeit und Autonomie des öffentlichen Rechts erheblich gesteigert. 94.95 90 Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I: Allgemeiner Teil, 9. Aufl., 1966, S. 162. 91 ForsthoJf, (Fn. 90), S. 162 ff., 165 f., 167 ff., 186 ff., 269 ff. 92 ForsthoJf (Fn. 90), S. 113, 169, 186. 93 Ludwig Enneccerus, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl, bearb. von Hans earl Nipperdey, 1. Halbbd., 1959, § 34 V (S. 238). 94 Zum gegenwärtigen Diskussionsstand siehe: Fritz Ossenbühl, in: Hans-Uwe Erichsen / Wolfgang Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1992, § 7 IX 3 c, bb (S. 164).

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7. Exkurs: Privatrecht - Öffentliches Recht - Sozialrecht

a) Der staatsrechtliche Antipode und Kritiker Labands, der Germanist OUo (von) Gierke (1841-1921)96, hat in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts den Versuch unternommen, die Zweiteilung des Rechts in öffentliches und privates Recht durch eine andere Einteilung zu ersetzen. 97 Gierke stellt dem Individualrecht das Sozialrecht gegenüber. Das Individualrecht ist das Recht "der menschlichen Willensträger als Einzelwesen", als" in sich abgeschlossener Einheiten", und umfaßt auch das Außenrecht der menschlichen Verbände (der juristischen Personen und Gesellschaften). Das Sozialrecht ist demgegenüber das Recht "der menschlichen Willensträger als Gesellschaftswesen", als "Glieder von höheren Ganzen" (von menschlichen Verbänden). Zum Sozialrecht rechnet Gierke das Familienrecht, das Gesellschaftsrecht und das Körperschaftsrecht sowie das gesamte öffentliche Recht. Diese an die Vernunftrechtssysteme des 18. Jahrhunderts erinnernde, zunächst einleuchtende und deshalb bestechend wirkende Theorie hat nur wen.ig Gefolgschaft gefunden, weil durch sie die bisherige Zweiteilung praktisch durch eine Dreiteilung ersetzt wurde. Denn innerhalb des Sozialrechts muß zwischen privatem und öffentlichem Sozialrecht mit den entsprechenden Rechtswegen unterschieden werden. 98 Letztlich bleiben also die bisherige Zweiteilung in öffentliches Recht und Privatrecht und die für den Rechtsweg entscheidenden umstrittenen Abgrenzungsfragen erhalten. 99 Außerdem war Gierke bei der Ausgestaltung seiner Theorie nicht konsequent. So konstatiert er zwar, daß im Arbeitsrecht "freie genossenschaftliche Verbände [gemeint sind die Trarifvertragsparteien] die Regelung der Arbeitsverträge in die Hand genommen und in erheblichem Umfange an Stelle der Vereinzelung ein .berufsständisches Gemeinschaftsrecht" gesetzt haben 100, rechnet aber das Arbeitsrecht nicht zum Sozialrecht. b) Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlagert eine umfangreiche, bis heute immer mehr anschwellende Gewerbe- und Wirtschafts- sowie Mieterund Verbraucherschutzgesetzgebung das private Unternehmens-, Arbeits- und 95 Ein anderes Problem ist die Einwirkung des öffentlichen Rechts (und der Grundrechte) auf das Zivilrecht. Siehe dazu bereits: Fritz Fleiner, Über die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht, Akademische Antrittsrede, Tübingen 1906. 96 Zur Kritik Otto (von) Gierkes an Labands staatsrechtlicher Methode siehe: Stolleis (Fn. 78), S. 348 f., 359 ff.; Wyduckel (Fn. 33), S. 293 ff. 97 Ouo von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. I, 1895, S. 26,29 ff.; ders., Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 155 ff. 98 Gierke, Dt. Privatrecht (Fn. 97), S. 27. 99 Molitor (Fn. 53), S. 15 f.; Enneccerus-Nipperdey (Fn. 93), § 34 Fn. 4 (S. 224); Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1921 (Neudruck 1960), S. 384. - Die Lehre Gierkes ist von Heinrich Lehmann, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl. 1922, § 1 I (S. 2), übernommen und erst in der Neubearbeitung von Heinz Hübner, 15. Aufl. 1966, § 1 I (S. 2) aufgegeben worden. 100 Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. III, 1916, S. 599.

Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte

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Vertragsrecht mit einem dichten Netz zwingender Ge- und Verbote. 101 Das hat den Anstoß dazu gegeben, neben dem Privatrecht und dem öffentlichen Recht die Existenz eines dritten, gemischten Rechtsgebietes anzunehmen. Dieser Rechtsbereich wird dadurch charakterisiert, daß private Entscheidungen im übergeordneten Interesse, insbesondere zum Schutze eines schwächeren Partners, an bestimmte materiale oder formale Voraussetzungen gebunden sind; er wird deshalb als Sozialrecht bezeichnet. 102 Dazu sollen das Arbeitsrecht, das Wirtschaftsrecht (insbesondere das Kartellrecht), das Recht des Mieterschutzes, das Recht der wirtschaftlich bedeutsamen Vereine, das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und das Eherecht gehören. 103 Diese Dreiteilung hat sich trotz einer gewissen Plausibilität bislang nicht durchsetzen können, da die Abgrenzung eines derartigen Sozialrechts, auch in Anbetracht der immer weiter fortschreitenden Pflichtenbindung im Privatrecht insgesamt, nicht wenige Schwierigkeiten bereitet und für diese privatrechtlichen Bereiche - mit Ausnahme des Arbeitsrechts und des Kartellrechts - auch kein besonderer Rechtsweg außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgeschrieben ist. 104 c) Schließlich hat RudolfWiethölter 1968 die Auffassung vertreten, der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht sei im modernen Recht ,,nahezu völlig zertrümmert" und habe "seine Existenzberechtigung verloren". Im ,,Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialrecht, die alle weder öffentlichrechtlich noch privatrechtlich zu begreifen sind, offenbart sich die umfassende historische Überwindung verklungener Modellansätze" . 105 Richtig an diesen Feststellungen ist, daß im heutigen Privatrecht neben die privatautonome Grundlegung eine Pflichtenordnung getreten ist (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993 106), die mit dem Policey-Recht des 16. bis 18. Jahrhunderts in mancher Hinsicht vergleichbar ist. Das hat jedoch nicht dazu geführt, daß zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht keinerlei Unterschiede mehr auszumachen sind. Schon allein die unterschiedlichen Rechtswege in § 13 GVG einer101 Vgl. Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 5. Aufl. 1980, § 3 (S. 43 ff.). 102 Hans-Martin Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB. Grundlehren des bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. 1987, Rdnr. 17 - 23; Manfred Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, § 16 IV (S. 89); Herbert Krüger (Fn. 77), S. 503 f. Vgl. auch: Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht / Allgemeiner Teil des BGB, Bd. I, 2. Aufl. 1974, § 7 (S. 56 ff.), § 19 (S. 139 ff., 140 f.); Gustav Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Bd. I: Das bürgerliche Recht als Teilgebiet der Gesamtrechtsordnung, 1950, S. 164 ff., 179 ff. 103 Pawlowski (Fn. 102), Rdnr. 19. 104 Larenz (Fn. 101), § 1 I (S. 3 f.); Dieter Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 1982, Rdnr. 6; Molitor (Fn. 53), S. 16 f. 105 Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 23, 167/68, siehe auch S. 195, 283 f., 333; ders., Recht, in: Wissenschaft und Gesellschaft, hrsg. von Gerd Kadelbach, 1967, S. 228 ff. (229). 106 NJW 1994, 36.

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und § 40 Abs. 1 VwGO andererseits (mit teilweise grundverschiedenen Verfahrensprinzipien) zwingen zur Beibehaltung der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht. 107

107 Larenz (Fn. 101), § 1 I (S. 4); Medicus (Fn. 104), Rdnr. 6; Heinz Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1985, § 1 I 1 (S. 1 f.); Ingo von Münch, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. von Hans-U we Erichsen / Wolfgang Martens, 4. Aufl. 1979, § 2 11 1 (S. 14).

Das angeborene Recht ist nur ein einziges ... Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem Von Michael Köhler* Mit dem Thema wird Kants Rechtslehre zitiert: ,,Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht" 1. Nicht in erster Linie zu erörtern sind also die Menschenrechte, welche in vielen Deklarationen und Verfassungen von der Virginia Bill of Rights (1776) bis zu internationalen Pakten wie der Europäischen Menschenrechtskonvention, den UN -Pakten von 1966 enthalten sind 2, ihr nötiger Schutz angesichts vielfacher Mißachtung. Vielmehr soll die Rede sein vom einzig ursprünglichen, gleichen Menschenrecht als dem universalen Konstitutionsprinzip jeder Rechtsordnung.

I. Begriff des Rechtssystems Ein Rechtssystem, unterschieden von zusammengestellten Normsätzen, konstituiert sich durch ihren widerspruchfreien Ableitungszusammenhang nach Prinzipien. Schon der Grundsatz systematischer Widerspruchsfreiheit gegen vorhandene Normwidersprüche - "System soll sein!" - ist ebenso vorpositiv wie die Identität des Rechtsbegriffs selbst 3 • Die positivistische Methodologie beschränkt sich zwar auf die Analyse einer gegebenen Rechtsordnung4, muß aber mit dem Ziel der Widerspruchsfreiheit * Für Eberhard Schmidhäuser 1 Kant, MdS, Einteilung der Rechtslehre B (zit. nach Akademieausgabe, Bd. 6,237 f.); s. auch Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 11 im Staatsrecht (8, 290 f.); vgl. Rousseau, Contrat social, I,I. 2 Historisch s. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß (2. Aufl. 1978); positivrechtlich Simma I Fastenrath, Menschenrechte - ihr internationaler Schutz (2. Aufl. 1985). 3 Kant, MdS, RL Einl. §§ A, B (6,229 f.); vgl. Heget, Rechtsphilosophie, § 4: " ... das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, ... ". 4 Vgl. Engisch, Einheit der Rechtsordnung (1935), der, ausgehend von Kelsens Theorie der Grundnonn und deren Relativität (S. 5 ff.), immanente Nonnwidersprüche analysiert (S. 41 ff.). - Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969), S. 40 ff., faßt das Rechtssystem als axiologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien

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den vorpositiven Systembegriff unausgesprochen voraussetzen. Die Notwendigkeit dieses Übergangs tritt in der Analyse selbst hervor. Erstes Beispiel sei die Regelung der Fahrlässigkeitshaftung. Zivilrechtlich wird die zunächst individuelle Schadensersatzhaftung für die objektiv "im Verkehr erforderliche Sorgfalt" (§ 276 BGB) in den gesellschaftlichen Handlungssystemen mit erheblichem Gefahrenpotential (z. B. Verkehrs-, Produktionssystemen) weithin auf die Gesamtheit verlagert, besonders durch Pflichtversicherungen mit weitestgehendem Regressausschluß (wie für Unfälle im Straßenverkehr und im Betrieb) und andere Institute (z. B. Haftungsverlagerung zugunsten des Arbeitnehmers)5. Das beruht auf zwingendem Grund. In den genannten Zusammenhängen ist das durch Verstandesendlichkeit bedingte individuelle Versagen (die ,,Fehlleistung") ein grundsätzlich unvermeidbarer Teil der gemeinschaftlich gesetzten Systemgefahr. Es darf daher nicht ausschließlich und nicht einmal vorwiegend dem Einzelnen zur Last gelegt werden. Dagegen wird im Strafrecht für generell unvermeidbare Fehlleistungen selbst in Form (leichter) unbewußter Fahrlässigkeit ein personales Strafunrecht behauptet. Das ist ein Widerspruch in der Auslegung des Unrechts begriffs. Schuldbegrifflich tritt noch der Widerspruch hinzu, einesteils für Strafbarkeit die bewußte Entscheidung gegen die Norm vorauszusetzen, anderenteils - bei unbewußter Fahrlässigkeit - davon abzugehen 6 • Die immanente Analyse trifft also auf den Widerspruch von Teilgrundsätzen. Aber die Norm der systematischen Lösung und das maßgebende inhaltliche Prinzip - die Begriffe des personalen Unrechts und der Schuld - sind nicht mehr positiv-systemimmanent gegeben. Zweites Beispiel sei die Frage, ob Verletzungshandlungen im Rahmen des gesetzlichen Grenzregimes der vormaligen DDR strafbar sein können. Gilt der Grundsatz: Strafbarkeit muß nach all ihren Voraussetzungen zur Tatzeit durch das staatliche Gesetz des Tatortes bestimmt sein - intemationalrechtlich folgt aus der Staatensouveränität der Vorrang des Tatortstrafrechts 7, so muß daran auch für den Fall des späteren Beitritts eines Staates zu einem anderen festgehalten werden. Es widerspricht daher dem Grundsatz, hinsichtlich der Grenzwächter der früheren DDR einen gesetzlichen Rechtfertigungsgrund (Grenzgesetz der früheren DDR) für Verletzungshandeln nicht gelten zu lassen und tatbestandsmäßiges Strafunrecht anzunehmen. Denn wie immer man es wendet, - ob unter auf; das Systemideal selbst und sein Prinzip werden dem analytischen Gebrauch vorausgesetzt (s. S. 46 ff., 112 ff.). 5 Vgl. von Hippel, NJW 1966, 129; Bokelmann, Grobe Fahrlässigkeit (1973), S. 95 ff., 102 ff. m. w. N.; BAG Großer Sen. v. 12.6. 1992. 6 Vgl. Arth. Kaufmann, Schuldprinzip (1961), S. 156 ff.; Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 373 ff.; zwingende Kritik des "potentiellen Unrechtsbewußtsins" von Schmidhäuser, Strafrecht AT (Studb. 2. Auf!. 1984),7/79 ff. 7 Vgl. Oehler, Internationales Strafrecht (2. Auf!. 1983), S. 101 ff., ISS ff.; vgl. Art. 7 I EMRK sowie Art. 10311 GG, Art. 315 I EGStGB (Fassung des Einigungsvertrages v. 23. 9. 1990).

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Berufung auf Naturrecht oder eine "an sich richtige" Auslegung oder unter Anwendung einschränkender, vom betreffenden Staat aber nicht transformierter Völkerrechtssätze 8 : im Subjekt- und Inhaltswechsel der Staatspositivität liegt der Bruch. Wieder zwingt die unverstellte Analyse dazu, sich die Frage der Widerspruchslösung allgemeingültig vorzulegen: Kann das Strafrecht beim gegenwärtigen Entfaltungsstand der Rechtsidee von der Staatensouveränität gelöst und allgemeingültig als internationales positives Recht behauptet werden? Die Systemfrage selbst und die begründete Antwort fordern wieder vorpositive Prinzipien. Im folgenden ist es nicht um Teilgrundsätze zu tun, sondern um das konstitutive Prinzip des Rechtssystems überhaupt.

u. Das ursprüngliche Menschenrecht als vorpositives Systemprinzip 1. Erster Umriß Der Ansatz wendet sich gegen die naturrechtlich-empiristische Konzeption. Danach soll es "von Natur" Menschenrechte (im Plural) mit bestimmtem gegenständlichem Zuweisungsgehalt geben, eben life, liberty, property9. Nun werden zwar systemprägende Freiheitsrechte (Grundrechte) nicht bestritten. Aber sie in bestimmter Extension als schon naturgegeben anzunehmen, verwechselt das Resultat mit dem freiheits gemäß-universalen Grund bestimmter subjektiver Rechte und Pflichten. Das einzige ursprüngliche Menschenrecht besteht in der permanent formenden Rechtsvernunft für alle besonderen Zuweisungsgehalte, - vorgesetzliches Prinzip aller bestimmten Rechte und Pflichten so, daß das objektive Recht die äußerlich einräumende Formbedingung für die inhaltliche Selbstbestimmung aller freien Subjektivität ist. Dadurch verwirklicht und bewahrt sich das Ganze des Menschseins, - theoretische Erkenntnis, pragmatische Selbsterhaltung, Moralität, ästhetische Anschauung, Glaubensorientierung. Systematische Selbstbestimmung enthält universale Wechselseitigkeit und Allseitigkeit der konstitutiven Rechte- und Pflichtenbestimmung unter menschheitlichem Aspekt - umgreift die ganze Schöpfung in der Form des Rechts 10. 8 So BGH NJW 1993, 141 ff.; Kritik zusf. Amelung, JuS 1993,637; s. auch Rittstieg, in: Demokratie und Recht 4 (1991), 404 ff. 9 S. Virginia Bill of Rights v. 12.6. 1776, sect. 1; grundlegend Locke, Second treatise of government, Chap. II, (Ed. Laslett, Cambridge 1988); zur Tradition der Naturrechtslehre vgl. Brocker, Arbeit und Eigentum (1992), S. 160 ff.; s. kritisch Ebbinghaus, in: Gesammelte Aufsätze (1968), S. 161 ff. 10 V gl. analog in theologischer Totalität zum Zusammenhang Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe, Matthäus-Evangelium 22, 34 ff.; subjekttheoretisch aus amour de soi entwickelnd vgl. Rousseau, Ungleichheitsdiskurs (Ed. Meier, 3. Aufl. 1993), S. 136 ff.

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Beispielsweise folgt daraus, daß sich Rechtspflichten zum Natur-Resourcenschutz für künftige Generationen nicht hinreichend aus Freiheitsinteressen der empirisch existierenden Subjekte begründen, sondern nur mittels Rechtsbegriffen, welche die menschheitlichen Daseinsbedingungen aus universaler Teilhabe definieren 11. Generell reduziert sich daher Gerechtigkeit nicht auf Ausgleichs- und Marktgerechtigkeit zwischen den Personen-Eigentümern und ein Zuteilen von oben durch den "Vater Sozialstaat" (Max Weber). Vielmehr gehört ihr eine aus dem Menschenrecht abgeleitete Systematik freiheitsnotwendiger Teilhabe aller an den gegenständlichen Lebensgrundlagen zu 12. 2. Methodologische Einordnung Die These formuliert ein vorpositives subjekt-rechtliches Prinzip. Das Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht ist doppeldeutig definiert. Positivrechtlich erscheinen subjektive Rechte und Pflichten abgeleitet aus dem objektiv gesetzten Recht 13. Muß aber nach dem Grund des Rechts gefragt werden, so reicht ein Rekurs auf die objektive Satzung eines Gesetzgebers nicht hin. Die behauptete Befugnis, andere zu verpflichten, verweist auf den vorpositiven Begriff des subjektiven Rechts und der korrespondierenden Pflicht 14. Der Rechts- / Pflichtgrundsatz, der den besonderen Grundrechten / -pflichten und dem weiteren Gesetzesrecht - mithin dem Rechtssystem - zugrundeliegen muß, beruht auf dem Rechtssubjekt. 3. Begründungszusammenhang in der Systematik der Vernunft Vorausgesetzt ist die Entfaltung der Vernunft seit der cartesianischen Wende. Menschliche Erkenntnis- und Handlungssystematik gewinnt ihren Objektivitätsgehalt (Wahrheit / Güte) in einem immanenten Vernunftschluß 15. Die Handlungs11 S. zur Kritik eines reduzierten Naturverhältnisses Hofmann, JZ 1988,265 ff.; vgl. auch Schäfer, Das Baconprojekt (1993), 206 ff., dessen ethische Argumentation aber wohl um eine rechtliche aus dem ursprünglichen Gemeinbesitz ergänzt werden muß. 12 Vgl. Köhler, ARSP 79 (1993), 457 ff. 13 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Auf!. 1960), S. 130 ff.; ihm folgend Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis (1965); Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht (1975), S. 20; Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung (1977), S. 14, 20. 14 Vgl. entsprechend dem neuzeitlichen Ansatz seit Hobbes, Kant, MdS, Einleitung IV und Einteilung Rechtslehre (6, 224, 237); vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1984), S. 91 (kritisch zu Kelsen); Busch, Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants (1979), S. 100 ff.; Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (1993), S. 336 ff.; begriffsgeschichtlich zum subjektiven Recht K. H. Fezer, Teilhabe und Verantwortung (1986), S. 453 ff. IS Vgl. Kants Kritiken insbes. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft; Metaphysik der Sitten; zur kopernikanischen Wende Kaulbach,

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verfassung freier Subjekte, ihr Zwecksetzen und -verwirklichen besteht in einer durch Vernunft konzipierten Regelungssystematik - von unmittelbar lebendiger Selbsterhaltung hin auf einen das Ganze des Menschseins umfassenden Schlußzusarnmenhang. Das ist in den Begriffen Wille und Freiheit durch allgemeingesetzte Regeln (Gesetze) erfaßt und konstituiert den Begriff der Person 16. Kritisch gewendet, begreift sich die Idee des Guten nicht als objektiv teleologische Weltverfassung, als inhaltserfüllte Basisnorm für das erkennende Subjekt - also weder als objektiv-transzendente Idealität, wie Plato annahm, noch als göttliche Offenbarung wie nach theologischer (Rechts-)Auffassung oder als eine objektive Geschichtsteleologie wie nach historisch-materialistischer Ansicht. Mit Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch gilt nur der Vernunftprozess selbst, der, die Evidenzen der schlüssigen Selbstsetzung denkender und handelnder Subjektivität fortschreitend verallgemeinernd, sich die objektiv-allgemeingültigen Bedingungen vernünftigen Daseins erschließt - freilich auch in Anerkennung der Relativität nach individuell, kulturell, historisch entwickelten Besonderheiten. Das Recht kann daher nicht als Teilsystem einer objektiv-teleologischen Weltordnung vorgestellt werden, wie die ältere Naturrechtslehre annahm, neuzeitlich fortwirkend etwa bei Grotius und, in eigentümlicher Verquickung mit einer empiristischen Anthropologie, in John Lockes Begriff der lex naturalis 17 • Vielmehr resultiert die Rechtsregel nur aus vernünftiger Einsicht in die menschliche Handlungssystematik, die Selbstbestimmtheit der Gutskonzeptionen im interpersonal-äußeren Gegenstandsbezug. In subjekt-rechtlicher Methodologie bildet daher das ursprüngliche Menschenrechts- und Pflichtverhältnis in seiner Gesetzesallgemeinheit den Gegenbegriff zur teleologischen lex naturalis 18. 4. Das Recht des freien Subjekts

Welche Rechtsregel resultiert aus der immanenten Handlungssystematik freier Subjektivität? Hier liegt die eigentliche Auseinandersetzung in der Weltordnung. a) Die erste Antwort geht aus vom empirischen Subjekt, das in selbstbezüglicher Evidenz seine Glückseligkeitssystematik zum Formprinzip aller besonderen Rechte setzt. Hobbes formuliert es am schärfsten: Das subjektive Selbsterhaltungsrecht (und eine selbstbezügliche Pflicht) auf alles, den anderen nicht ausgeZphF 41 (1987),349 ff.; zur Aktualisierung grundlegendE. A. Wolf!, in: Strafrechtspolitik (Hrg. Hassemer, 1987), S. 137, 162 ff.; s. auch Bartuschat, in: Theorien der Gerechtigkeit (Hrg. Koch / Köhler / Seelmann 1994), S. 9 ff.; Zaczyk, ebda. S. 105 ff.; Köhler (Fn. 12). 16 Kant, MdS, Einl. IV (6, 223). 17 Vgl. Locke, (Fn. 9) sowie ders., Essay conceming human understanding 11, 28, 4 ff. (Works, London 1823, Vol. 11); s. zur Methodologie Specht, John Locke (1989). 18 Zur Kritik eines objektivistischen Naturrechts s. Lu/, in: Menschenrechte (Hrg. Böckenförde/Spaemann 1987), S. 127 ff. 5 Vielfalt des Rechts

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nommen, - was zunächst zum objektiven Recht des Natur-Kriegszustandes und aus dessen Negativität zum äußeren Zwangs staat führt 19. In der widersprüchlichen Fassung von Locke sind es die empirisch-natürlichen Personen-Eigentümer mit schon angeeignetem Status "von Natur", welche die bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat bilden, - ein Fortschritt zwar im freiheitlichen Objektivitätsanspruch, aber doch auf derselben Grundlage empirischer Subjektivität. Die weltrnächtige Schwerkraft dieses Ansatzes beruht auf der Dynamik des selbstbezogenen Verstandessubjekts, dem Geist der Neuzeit 20 • - Aber in der Grundlage bleibt ein ursprünglicher Gegensatz der am anderen grundsätzlich desinteressierten (Rawls) Individuen 21 • So reduziert sich die "Objektivität" des Rechts auf fragile Interessenkoordination oder Interessenkampf, gefaßt in den empiristischen (utilitaristischen, instrumentalen) Rechtskonzepten. Der Staat schwankt zwischen dem legitimen Gesetzes- und Rechtspflegestaat für die gesellschaftlichen Personen / Eigentümer und ihre allgemeinen Interessen (bei Locke) und äußerem Machtstaat zur notdürftigen Friedenssicherung (bei Hobbes). Gerechtigkeit beschränkt sich auf die Formen der ausgleichenden und marktmäßigaustauschenden. Daß aber unter einem Rechtsprinzip interessegeleiteter Weltaneignung der Mensch in seiner ursprünglichen Güte, welche vernünftige Selbsterhaltung und positiven Bezug auf andere einschließt, nicht hinreichend zu seinem Recht gelangt, hat Rousseau im Diskurs über den Grund der Ungleichheit aufgewiesen. Mit der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung offenbart sich das innere Auseinanderfallen als Rechtskrise 22 , - durch den Sozialstaat teils wirklich aufgehoben, teils noch verstärkt, in der weltgesellschaftlichen Beziehung nahezu ungehindert sich entfaltend. Das Resultat eines subjektiv-empiristischen Naturrechts auf alles ist die Ambivalenz der Weltordnung: Rechtsverwirklichung der einen, Entrechtung der anderen, - verbunden mit der in unserem Jahrhundert wiederholt bewiesenen Tendenz, der Krise durch autoritäre, totalitäre, despotische Lösungsversuche - "politische Theologien" - zu steuern 23. b) Die richtige Antwort lautet: Zwar hat der Mensch vermöge seiner Freiheit ein Recht auf alles, - aber ausgenommen den anderen, oder positiv formuliert: 19 Vgl. Hobbes, Leviathan (Hrg. Fetscher, 1984), Kap. 14 u ff.; Vom Bürger (Hrg. Gawlik, 1959), Kap. I, 10. 20 Vgl. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (1966). 21 Vgl. Löwith, Menschen- und Bürgerrechte, in: Sämtliche Schriften Bd. 5 (1988), S. 174 ff.; zum besitzindividualistischen Solipsismus Huber / Tödt, Menschenrechte (3. Aufl. 1988), S. 134 ff.; zur entsprechenden Sozialtypologie für die amerikanische Gesellschaft aufschlußreich Bellah / Madsen u. a., Gewohnheiten des Herzens (dt. 1987), bes. S. 52 ff.; zur empiristischen Rechtstheorie s. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (dt. 1975); Summers: Pragmatischer Instrumentalismus und amerikanische Rechtstheorie (1983). 22 Grundlegend die Analyse Hegels, Rechtsphilosophie, §§ 182 ff., 243 ff.; vgl. Klesezewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 207 ff. 23 Zu Ansätzen totalen Gemeinwesens s. Löwith (Fn. 21), S. 183 ff.

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Aus einem die Selbstbestimmung des je anderen wechselseitig-allgemeingültig mitenthaltenden Vernunftgrund, und zwar in menschheitlicher Universalität. Der Vernunftschluß bezieht in die auf objektive Allgemeingültigkeit gehende Handlungssystematik die Endlichkeit der individuell-subjektiven Setzung ein, nicht nur im Extrem des Bösen, sondern als grundsätzliche Begrenztheit ihrer subjektiven Regelungsperspektive. Anzuerkennen ist die Relativität selbstbestimmter Gutskonzeptionen, des guten Willens. Die Objektivität der Handlungsregel muß sich daher durch eine fundamentale form-inhaltliche Allgemeinheit zugleich Bedingung intersubjektiver Gültigkeit - begründen 24 • Für das Rechtsverhältnis folgt daraus: Insofern jedes Vernunftsubjekt gerade im Gegenstandsbezug nicht nur seine mögliche Interesseorientiertheit - die gegenständliche Verfestigung seiner Eigenliebe als vermeintliches Recht (amour propre bei Rousseau), sondern die grundsätzliche Perspektivengebundenheit seiner auch bestwilligen Regelungssystematik voraussetzen muß25, kann als allgemeines Rechtsgesetz nur konzipiert werden, was die freie Selbstbestimmung des einen und des anderen im äußeren Verhältnis wirklich mit ansetzt. Das verbietet die (moralische) Anmaßung, dem anderen einseitig Regeln vorzuschreiben, oder umgekehrt: Es erweitert den objektiven Zusammenhang um die anzuerkennende Regulationsfähigkeit aller. Das Recht ist daher eine sich in wirklicher Wechselseitigkeit konstituierende, von besonderen Selbstbestimmungsgehalten abstrahierende Formensystematik äußerer Freiheit 26. Inhaltlich enthält dieser Schluß ebenso das subjektive Recht und die selbstbezügliche Pflicht der freien Selbstsetzung eines jeden, wie deren notwendigen positiven Bezug auf die äußere Form der Selbstbestimmung aller. Das reduziert sich nicht auf den wechselseitigen Nutzenaspekt, sondern gilt universal: das Recht eines jeden als konstitutive Bedingung subjektiver Rechte. Das ursprüngliche Recht freier Selbstsetzung und die ihm korrespondierende Pflicht im Selbstverhältnis werden also in eins gedacht mit dem sich-beschränktSetzen durch freie Selbstsetzung aller; das Recht der Selbstbestimmung ist gleichursprünglich der rechtlichen Anerkennungspflicht gegenüber dem anderen 27. Ein methodologischer Vorrang autonomer Rechtsbestimmung gilt daher Vgl. zum Stufengang der Selbstobjektivierung Kant (pn. 15). Kant, MdS, RL § 44 (6, 312). 26 Dem entspricht die Transposition der 2. Formel des kategorischen Imperativs (GMS, 4, 428 f.) auf den Personbegriff (Fn. 16), das äußere-interpersonale Verhältnis und die objektive Formel des Rechts (MdS, RL 6, 236 f., 230); deutlicher zur interpersonalen Setzung Fichte, Naturrecht (1796, Werke Bd. 3, Hrg. H. Fichte, 1971), S. 17 ff.; vgl. Zaczyk, in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1990), S. 9 ff.; s. auch Köhler, ebda S. 93 ff. 27 Vgl. die kantische Systematik der Pflichten, MdS Einteilung Rechtslehre (6, 236 f.), die die Bestimmungen Ulpians aufnimmt; vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, § 36: "Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen"; zur Einheit von Recht und Pflicht s. aaO § 155; Enzyklopädie (1830), § 486; vorpositiver Ansatz einer Grundpflichtableitung bei Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem (1988), S. 444 ff. 24 25

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zwar gegenüber objektiv-teleologischen Pflichtbehauptungen, nicht aber gegenüber der freiheitlichen Pflichtkonstitution. Im kritischen Rückblick geht also das erste subjektive Recht nicht "auf alles" aus bloß selbstbezogen-empirischer Subjektivität. Es enthält auch nicht einen schon abgegrenzten Kreis besonderer personaler Rechte, wie Locke, die Verfassungsdeklarationen behaupten. Nichts Äußeres ist ursprünglich mein 28 • Das erste subjektiv-objektive Recht ist nur die totale äußere Unabhängigkeit von einseitiger (heteronomer) Regelsetzung, oder positiv: Eine alles äußere umgreifende Handlungsfreiheit nach selbstkonstituierten, also wechselseitig-allgemeinen Gesetzen der Freiheit. Das bedeutet Zwecksubjektivität für den Rechtssetzungsprozess, Rechtsfähigkeit oder rechtliche Würde der Person. Die erinnerte Rechtsbegründung ist nicht formal-inhaltsleer 29 , sondern konstitutiv für alle inhaltlichen Rechtsformen. Impliziert sie doch die wirklich entwikkelte, gegliederte Handlungssystematik freier Subjekte, die daraufhin notwendigallgemeingültige Formstrukturen äußerer Freiheit entwerfen. Vorgreifend am Beispiel des Privatbesitzes als eines subjektiven Rechts gegenständlicher Gebrauchsbefugnis: Die Teilung einer zunächst ungeteilt zu denkenden Gegenständlichkeit folgt aus der wechselseitig-allgemeinen Reflexion auf die je einzelngegenstandsangewiesene Selbstbestimmung eines jeden. So läßt sich Privatbesitz, im Gegensatz zu eigentumsnegierenden Auffassungen, als freiheitsnotwendig aufweisen - freilich aus einer kategorisch-rechtseinräumenden Teilungsregel für alle aufgrund des ursprünglichen Menschenrechts. Mit einer positivrechtlichen Eigentumsgewährleistung, die zuerst eine ,,naturrechtlich"-naturwüchsige Aneignung voraussetzt und nachträglich offene "Inhalts- und Schranken" -setzung, "Sozialbindung", "gewährenden" Sozialstaat hinzufügt, wird es also nicht getan sein. 111. Systematische Folgerungen

Das ursprüngliche Menschenrecht enthält das universale Verbot der Würdeverletzung (I). Sein konstitutiver Gehalt bestimmt das gesamte Rechtssystem (2) in universaler Erweiterung (3).

Vgl. Kant, MdS, RL (6, 237, 258). S. von Freier, in: Kant-Studien 83 (1992), 304 ff.; zu fonnal Rousseaus Begriff des allgemeinen Willens; ähnlich Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 129 ff.; kritisch zu Rousseau Figal, in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), 24 ff. 28

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1. Der Verbotsgehalt des Menschenrechts

Ausgeschlossen ist jede Regelungsmaxirne, worin der andere "bloß zum Objekt" gesetzt wird - ein untrügliches Beurteilungskriterium von Normansprüchen, beispielsweise -

eine Privatrechtsnorm, die den anderen bloß als Gegenstand setzt, nicht als sui iuris, so die Herrschaftsbeziehung zum Sklaven vom antiken Recht bis weit in die Neuzeit hinein 30,

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der Begriff des Unternehmenseigentums (nicht die Rede ist vom Kapitaleigentum), soweit darin der legitime sachenrechtliche Grenzbegriff des Eigentums - als Inbegriff aller Gebrauchsbefugnisse hinsichtlich Sachen - unausgewiesen auf ein Produktionsverhältnis insgesamt übertragen, einer Art von Personen oder dem Staat und seinen Funktionsträgern vindiziert wird, und andere als bloße Akzidentien fremder Regelsetzung behandelt werden,

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die "staatliche" Inanspruchnahme der Person für partikuläre Interessen, wie zur Zeit des Absolutismus ein Landesherr seine "Landeskinder" für fremde Kriegführung verkaufte, oder die Verweigerung der Freizügigkeit mit dem Anspruch auf die Person als Eigentum eines (staatlichen) Produktionszusammenhangs,

-

die internationalrechtliche Anmaßung, die Usurpation der Indianerreiche im heutigen Lateinamerika mit wohlwollendem Paternalismus oder anderen Zwecken zu begründen 31 ,

-

eine Strafauffassung, welche Grund und Maß der Strafe nicht der schuldhaften Tat korrespondieren läßt, sondern den Delinquenten zum Objekt der Zwecke anderer, insbesondere in den Formen der Generalprävention, herabsetzt 32.

Die rechtliche Würde der Person wäre also mißverstanden als besonderes Grundrecht etwa einer unmittelbaren "Sphäre", eines gegenständlichen "Kerns" der Persönlichkeit 33 • Sie ist vielmehr die allgemeingesetzgebende Personalität in allen Besonderungen. Dieses Urgrundrecht mag zwar hinter speziellere zurücktreten, bleibt aber als Konstitutionsprinzip permanent wirksam. Das zeigt sich an nicht besonders geregelten Teilbereichen und an der Fortentwicklung von Persönlichkeitsrechten im Hinblick auf veränderte Bedingungen. 30 Noch Grotius und Locke anerkennen sie in gewissen Grenzen, vgl. die Kritik von Rousseau, Contrat sodal, I, 4. 31 Vgl. kritisch bereits Kant, MdS, RL §§ 15, 62 (6, 266, 352 f.); s. auch Valdes, in: Rechtstheorie 23 (1992), 373 ff. 32 Dazu E. A. Woljf, ZStW 97 (1985), 786 ff.; Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung (1983); Begriff der Strafe (1986). 33 Vgl. zu Art. 1 I Grundgesetz Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff (1990) und kriti~ch. Hoftnann, AöR 118 (1993), 353 ff.; zur Interpretation der Wesensgehaltsgarantie (Art. 1911 GO) s. Arth. Kauftnann, ARSP 70 (1984), 384 ff.

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2. Zur systematischen Entfaltung in der Rechtsordnung

Das ursprüngliche Menschenrecht ist das Prinzip aller subjektiven Rechts-/ Pflichtverhältnisse. Aus dem interpersonalen Begrundungszusammenhang resultiert systematisch vorrangig zunächst das Privatrechtsverhältnis freier Personen, entwickelt sodann in seiner öffentlichgesetzlich-staatlichen, schließlich international-weltbürgerrechtlichen Form. Inhaltlich implizieren die Hauptmomente der subjekt-rechtlichen Systematik, nämlich die zur interpersonalen Allheit übergehenden Wechselseitigkeit und Gleichheit rechtlicher Selbstsetzung, nicht nur den abgrenzenden Verbotsgehalt der Personalität - ein häufiges Mißverständnis aus empiristischer Perspektive, sondern ebenso notwendig ihren Einräumungsgehalt: Interpersonalität als positiven Bezug auf die äußere Freiheit des anderen 34 , und zwar schon in der Privatrechtsbegrundung. Eine Grundrechtetheorie muß daher den Prinzipienvorrang gegenüber der Gesetzgebung 35 einlösen -

in einem abgeleiteten System möglicher Grundrechte (a),

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in Grundsätzen des konkreten Grundrechteerwerbs (b),

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in systematischen Grundrechtsverhältnissen privaten und öffentlichen Rechts (c).

a) Grundrechtsarten gemäß dem freiheitlichen Rechtsprinzip aa) Grundrechte freien Zwecksetzens Das Prinzip äußerer Freiheit nach selbstbestimmt-allgemeinen Gesetzen bezieht sich einesteils auf die Inhalte der Vernunftsystematik in Gedankenbildung und -äußerung, Theorie, Pragmatik, Ethik, Religion, Ästhetik, insgesamt: kultureller Selbstrealisation des Menschseins. In Anbetracht dieser Eigengesetzlichkeit muß sich das freiheitliche Rechtsverhältnis auf den abstrakt-formalen Gehalt der wechselseitigen äußeren Freiheitseinräumung beschränken. Insofern in diesen Inhalten jeder Selbst-Zweck sein soll, verbietet sich ihre äußerlich zwingende Bestimmung. Die besonderen Grundrechte wie Religions- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, der Meinung und Information, der Handlungspragmatik, Kunst, auch der kulturellen Identität (Minderheitenrechte) leiten sich daraus ab 36; speziellere wie etwa die Berufsfreiheit verknüpfen verschiedene Selbstbestimmungsmo34 Die Wechselseitigkeit ist in der kantischen Formulierung hinreichend klar (MdS, RL 6,236 f.); s. auch Hegel, Rechtsphilosophie § 36 und dazu Bartuschat, ZphF 1987, 30f. 35 s. verfassungsrechtlich Art. I III GG. 36 Historisch ausgehend von der Religionsfreiheit; s. Oestreich (Fn. 2); Rendtdorff, in: Böckenförde / Spaemann (pn. 18), S. 93 ff.

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mente. Das insofern abstrakte Recht bezeichnet eine Hauptdifferenz zum vorfreiheitlichen Verständnis, in dem das Ganze des Lebens aus einem objektiv behaupteten ontologisch-kosmologischen Telos des Guten dem Rechtszwang unterworfen wird 37 • Nur der freiheitliche Rechtsbegriff entspricht aber der kulturellen Verschiedenheit inhaltlicher Gutskonzeptionen, wird also mit begründetem Universalitätsanspruch auch der aktuellen Entwicklung weltgesellschaftlicher Rechtsformen gerecht werden. bb) Grundrechte freien Gegenstandsbesitzes Anderenteils erweitert sich subjektive Selbstbestimmung durch ihren notwendigen Gegenstandsbezug in einer zunächst ungeteilten Totalität. Darauf gründen sich notwendig besondere Grundrechte des Gegenstandsbesitzes und seines Erwerbs. Ein vorpositives Privatrecht 38 begründet daher die Begriffe: des Gegenstandes, der Gegenstandsarten (Sache, personale Äußerungen und Leistungen, personale Ganzheit), der rechtlichen Gebrauchsbefugnis und ihrer Formen (Besitzrecht, Eigentum engeren Sinnes), des Besitzerwerbs nach Gründen ursprünglichen und abgeleiteten Erwerbs. Eine praktische Vernunftidee ursprünglich-universalen Gemeinbesitzes der Menschheit an der Gegenstandstotalität als Grundes notwendiger privater Besitzrechte und ihres Erwerbs, sollen diese nicht bloß empirisch gelten, ist das besitzrechtliche Korrelat des ursprünglichen Menschenrechts. Dieser Begründungszusammenhang sichert dem Privatrecht eine nicht bloß gegeneinander abgrenzende, sondern allgemein besitzeinräumende Seite, ein die Privatheit gleichursprünglich konstituierendes Teilungsmoment; mit "Sozialbindung" unzulänglich erfaßt, hebt es den bisherigen Positivismus einer empirischen Besitzrechtsformation auf. Daher müssen die vom römischen Recht übernommenen Besitz- und Eigentumsbegriffe freiheitlich neu eingeordnet werden 39• Die Form der staatlichen iustitia distributiva (Teilhabegerechtigkeit) beruht darauf. Das mögliche subjektive Recht auf Gegenstandsbesitz entfaltet sich in besonderen (Grund-) Rechten: auf Selbstbesitz der Person in Leben, Körperintegrität, auf Handlungs- und Bewegungsraum - wiederum mit speziellen Ausprägungen (Wohnung, Freizügigkeit, alle möglichen gegenständlichen Medien der Selbstver37 Vgl. Landwehr (in demselben Band) zum Begriff der "guten Polizei" bis zum preußischen Allgemeinen Landrecht. 38 Grundlegend Kant, MdS, 1. Teil (Privatrecht) (6. 245 ff.); dazu Köhler, ARSP 79 (1992), 459 ff.; alsbald Süchting (Diss.) m. w. N. 39 Die kantische Besitzrechtsdoktrin, die eine empiristische Eigentumskonzeption (seit Locke) und ihre Verfallstendenz (Rousseau: Ungleichheitsdiskurs) aufhebt, ohne zu totalitären, autoritär-paternalistischen Alternativen überzugehen, ist für eine freiheitliche Privatrechtstheorie ein noch ungehobener Schatz; eine liberalistisch verkürzte "Privatrechtsidee" bleibt der etatistischen Auflösungstendenz ausgeliefert; vgl. theoriegeschiehtlieh Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), S. 84 ff.; Nörr, Eher Hegel als Kant (1991), bes. S. 54 f.; s. aber die Annäherung von Fezer (Fn. 14), S. 253 ff.

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ständigung und Kommunikation), auf Gegenständlichkeit überhaupt; allgemeinste Voraussetzung ist ein ursprüngliches Besitz(erwerbs)recht am Boden 4O • Nach der weiter zu unterscheidenden Gegenstandsart der willentlichen Äußerung (Leistung) anderer Personen differenzieren sich Besitz(erwerbs )rechte abgeleiteteter (vertraglich-gesellschaftlicher) Art (Vertragsfreiheit, Erwerbsfreiheit, Versammlungs-, Vereinigungs-, Korporationsfreiheit), schließlich in substantiell-personaler Beziehung die subjektiven Privatrechte der Ehe und Familie. Grundrechte inhaltlicher Selbstbestimmung und auf Gegenstandsbesitz begreifen sich somit als notwendige Teilmomente eines Freiheitsgrundes. Als Verwirklichungsformen für historisch-empirische Besonderungen offen, entfalten sie sich in Verfassungsgrundrechten.

b) Grundsätze des Grundrechteerwerbs (Grundrechtsverhältnisse) Grundrechtsverhältnisse - das konkrete Maß subjektiver Grundrechte - sind, entgegen der naturrechtlichen und empiristischen Annahme, nicht inhaltlich vorgegeben ("angeboren"). Vielmehr müssen sie erst freiheitsgemäß erworben werden; das gilt selbst für Leben und Körperintegrität 41 . "Wohlerworbene"42 Rechte beruhen daher auf Prinzipien, in denen ursprünglich-notwendige Momente subjektiver Berechtigung und ihre abgeleitete (vertragliche etc.) Verwirklichung miteinander verbunden sind. Die Erwerbsprinzipien folgen der menschenrechtlichen Setzungssystematik (Einzelheit, Wechselseitigkeit, Allheit). Die Konstitution von personalen Rechten (Eingriffsverboten) hat daher gleichursprünglich ein wechselseitig-allgemeines Rechtseinräumungsmoment zugrundeliegen. So setzt jedes subjektive Besitzrecht an der Gegenstandstotalität, beginnend mit dem Selbstbesitz lebendiger Körperlichkeit, ein auf vernunftgemäßer Selbstsetzung beruhendes ursprüngliches Okkupationsmoment voraus, dem eine wechselseitig-allgemeine Einräumung korrespondieren muß43. Das notwendige Moment ursprünglichen Besitz-erwerbs spiegelt sich in den Grenzen der Verfügbarkeit, in Notstandsbefugnissen und Hilfspflichten (Sozialhilfe) bei Existenznot wider. Die weiteren privatautonomen Austauschbeziehungen setzen dies permanent begründend und begrenzend voraus. Auch das Willkürmoment im abgeleiteten Erwerb (Vertragsfreiheit) folgt aus dem Prinzip menschenrechtlicher Selbstbestimmung; hier berechtigen deshalb Grundrechte wie die Handlungs-, Berufs-, Gewerbefreiheit nicht absolut zum konkreten Erwerb, sondern nur vermittelt durch privatautonomes (vertragliches) Gutdünken anderer, das daher etwa in Kant, MdS, RL §§ 12, 13, 16 (6, 261 ff.). 41 Kant differenziert innerhalb des Besitzbegriffs den empirischen Selbstbesitz (RL §§ 2, 6); Hegel faßt auch Leben und Körper unter das ,,meiner Freiheit äußere", s. Rechtsphilosophie, §§ 41 ff. 42 Dogmengeschichtlich s. Stödter, Öffentlichrechtliche Entschädigung (1933), S. 52 ff. 43 Zuerst hins. Leiblichkeit anderer; vgl. Köhler, GA 1988, 437 ff. 40

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freier Meinungsäußerung beeinflußt werden darf 44 • Ebenso werden sie auch durch einen kategorisch vorausgesetzten Rechtszweck limitiert, z. B. die Erwerbsfreiheit im Gesundheitswesen bei drohender Widersprüchlichkeit zum zugrunde gelegten Rechtsgut 45 • Begrifflich fortzuentwickeln ist namentlich das Besitz(Erwerbs)Recht in arbeitsteiliger gesellschaftlicher Produktion als besonderes Vermögen am allgemeinen Vermögen 46 • Das erfordert eine Systematik von Besitz(erwerbs)formen. Sie gliedern sich in gegenständlich besondere, wie Kapital und Arbeitsvermögen, das sowohl individuell als auch korporativ vermittelt wesentlich besitzrechtlich zu denken ist 47 • Davon unterscheiden sich abstraktere Teilhaberechte hinsichtlich Ausbildung, Arbeitsbefähigung, Versicherung gegen (vorübergehende) Arbeitslosigkeit und - in letzter Linie - Sozialhilfe bei Existenznot. Ihnen korrespondieren unterschiedliche Erwerbsgründe, denen jedoch gleichfalls ein Moment praktischer Notwendigkeit - der Willkür anderer unverfügbar - zugehört. Die besonderen Rechtsverwirklichungsprozesse im abgeleiteten Erwerb aufgrund privatautonomer (resp. vertraglich-marktmäßiger) Beziehungen setzen das voraus und haben es zum Resultat. Das positive Recht kann als Leitfaden der Systematik dienen. So ist etwa das (Aus-)Bildungsrecht weit entwickelt. Das Arbeitsrecht (Betriebsverfassungsrecht, Kündigungsschutzrecht, etc.) regelt wesentliche Teile eines Besitzrechts an den Produktionsgrundlagen; dadurch wird der vorläufige Begriff eines Unternehmenseigentums als einseitig-totaler Gebrauchsbefugnis relativiert 48 • Auch die Teilhabe an Produktivitätsveränderungen muß privatrechtlich formuliert, Massenarbeitslosigkeit als Mangel subjekt-rechtlicher Teilhabe am allgemeinen Vermögen begriffen werden. Auf der bezeichneten Besitz(Erwerbs)-Systematik beruht die, mithin prinzipiengeleitete, Regelungskompetenz des Staates 49 • Aus ihr resultieren systematische Grundrechtsverhältnisse der teilenden, austauschenden, ausgleichenden Gerechtigkeit. Solchermaßen "wohlerworbene" Privatrechte vorausgesetzt, können sich besondere Eingriffsbefugnisse (Rechtfertigungsgründe) wiederum nur aus bestimmten Erwerbsgründen ergeben, wie freiwilliger (vertraglicher) Entäußerung, Unrechtsverantwortung, Notstand, sowie allgemeinen Rechtszwecken der verfaßten Gemeinschaft, in bestimmten Grenzen auch aus besonderer Aufopfe44 Darauf reduziert sich im Kern, neben ethisierenden und politischen Überlegungen, die Argumentation im Lüth-Urteil BVerfGE 7, 209, 216 ff., 221; grundlegend Kant, MdS, RL (6, 237 f.). 45 Vgl. BVerfGE 7, 377 Apothekenurteil. 46 Grundlegend Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 199 ff., freilich in einer besitzrechtlichen Auslegung (s. Köhler, Fn. 38). 47 Zu beziehen auf den Zusammenhang der Grundrechte Art. 9, 12, 14; Ansätze in BVerfGE 50, 290, 337 ff. - Mitbestimmung. 48 Vgl. im Ansatz BVerfGE (Fn. 47). 49 Vgl. Art. 1 III GG sowie die Inhalts- und Schrankenbestimmung bei besonderen Grundrechten wie Art. 14 I 2 GG (Eigentum).

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rungspflicht (bei entsprechender Entschädigung) für notwendig-allgemeine Rechtszwecke. Es kann also weder unbeschränkte Grundrechte geben, noch eine schrankenlose Regelungsmacht des Gesetzgebers. c) Grundrechtsverhältnisse privaten und öffentlichen Rechts

Da das ursprüngliche Menschenrecht zunächst die unmittelbar-interpersonale Beziehung formt, sind Grundrechte zuerst privatrechts- oder gesellschaftskonstitutiv, entgegen der bisherigen Konzentration auf das Staatsrechtsverhältnis 50 • So gilt die Meinungsfreiheit, also die Befugnis zu autonomer Gedankenbildung und -kommunikation, primär interpersonal 51 • Das öffentliche Recht besteht in der allgemeingesetzlichen Regelung, judikativen Feststellung, exekutiven Durchsetzung interpersonaler Rechtsverhältnisse und ihrer überindividuell-allgemeinen Bedingungen. Es beruht auf dem Schluß, daß eine vorstaatliche Rechtsbestimmung der guts- und interessegeleiteten Einzelperspektive und der Zufälligkeit privatmächtiger Rechtsdurchsetzung überantwortet, - also hinter möglicher Allgemeingültigkeit und Rationalität ZUTÜckbleibt 52. Das Völkerrecht auf dem Stande der absoluten Staatensouveränität bietet dafür Anschauungsmaterial. Besondere Grundrechte gelten daher primär im interpersonalen Verhältnis, die sog. Drittwirkung ist eigentlich ihre erste Geltungsebene 53 • Die Regelungskompetenzen des Staates, daher auch dessen Schutzpflichten, beruhen darauf. Das öffentliche Recht ist die weiter verallgemeinerte Regelungsform interpersonaler Rechte, nicht eine andere Materie 54. In allen Geltungsstufen legen die Grundrechte sich nach dem menschenrechtlichen Prinzip in privatrechtsbezogene Teilhabe- und Verbotsmomente auseinander. Schließlich konstituiert sich mit dem Staat ein Grundrechte- und Pflichtenverhältnis zwischen einzelner Person und verfaßter Gesamtheit. Darin werden "wohlerworbene" Privatrechte in ein Verhältnis zu allgemeinen Rechtszwecken gesetzt (Mitwirkungs- bzw. ,,Aufopferungs"-pflichten und ,,klassische" Abwehrrechte), wird ein Rechtserwerb in Be50 Vgl. die systematische Abfolge bei Kant, MdS, RL (6, 237); schon Locke (Fn. 9) geht vom Primat der Privatrechtsgesellschaft aus; s. auch Ebbinghaus (Fn. 9), S. 172 ff.; zu Trennung und Gegensatz von Privatrecht und öffentlichem Recht dogmengeschichtlich Grimm (Fn. 39). 51 Vgl. bei Fn. 44. 52 Vgl. Kant, (Fn. 50) und § 44 (6, 312); Locke (Fn. 9), II, 9 S. 350 ff. 53 Vgl. aber umgekehrt BVerfGE 7, 198 - Lüth-Urteil; zur Entwicklung Böckenjörde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (2. Aufl. 1992), S. 159 ff.; zutreffend Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte (1971), S. 26 ff.; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 214 ff.; ders., EuGRZ 1984, 464. 54 Vgl. Kant, MdS, RL § 41 (6, 306); im Ansatz zur personalen Grundlage Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis (1993); zur Geschichte des (falschen) Gegensatzes s. Grimm (Fn. 39); zur Kritik an materialer Unterscheidung s. Schwabe (Fn.53).

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zug auf öffentliches Vermögen (soziale Teilhaberechte engeren Sinnes), werden subjektive Konstitutionsrechte und -pflichten bzw. Abwehrrechte in der Staatsverfassung geregelt (Volkssouveränität und Aktivbürgerrecht, abgeleitete Rechte wie politische Meinungs-, Willensbildungs-, Versarnmlungs-, Vereinigungs-, Parteifreiheit, Wahl- und Amtsrechte, plebiszitäre Befugnisse bis hin zu einem ursprünglich vorpositiven Widerstandsrecht gegen eine mögliche Staatsrechtsperversion). Das mit dem Staat konstituierte Rechtsverhältnis hat also zum gründenden Rechtszweck nur die freiheitsgemäße Regulation der interpersonalen Verhältnisse. Zwar verändert sich auch der vorstaatliche Privatrechtserwerb, sowohl durch den erweiterten Zusammenhang der staatlichen Gerechtigkeitsverfassung (beispielsweise die allgemeine Regelung der Sozialhilfe), als auch durch die mit dem Staatsrechtsverhältnis gesetzten relativ selbständigen Rechtszwecke (z. B. notwendige Mittel für Staatsfunktionen). Aber deren Grundlage bleibt die personale Selbstbestimmung aller. Darin bewahrt sich das naturrechtliche Motiv des systematischen Vorrangs subjektiver ("wohlerworbener") Rechte 55 , gegen jeden Staatsabsolutismus 56 • Grund und Grenze staatlicher Regelungskompetenz leiten sich daher zunächst aus Privatrechtsprinzipien ab, namentlich als allgemeine Bestimmung von Besitzrechten und ihren Erwerbsgründen aus ursprünglicher Teilhabe. Das definiert insbesondere den Begriff der Teilhabe-gerechtigkeit 57 • Beispielsweise folgen die Nichtigkeit einer totalen Vergegenständlichung von Personen (§ 138 BGB) ebenso wie Spezialnormen über Arbeitsschutz, gegen Organhandel etc. aus dem menschenrechtlichen Verbot der Selbstentäußerung der Person in ihrem Freiheitsvermögen 58 • Das Recht des Ungeborenen aufLeben in einer die Grundrechte anderer (der Mutter) in Anspruch nehmenden Personensorge muß aus einem Privatrechtsverhältnis begründet sein, bevor eine staatliche Schutzpflicht sich darauf bezieht 59. Schließlich das Beispiel des Sozialhilferechts: Hätte dieses nicht einen besitzrechtlichen Teilhabegrund am allgemeinen Vermögen um der notdürftigen Existenz willen, woher sonst sollte der Staat, gegen den Einwand der Minimalstaatskonzeption in der Tradition Lockes, die Befugnis nehmen, durch Steuern die Besitzenden dafür zu belasten?60

Also mit Locke in der empirismus-kritischen Fassung Kants. Also gegen Hobbes ' Instrumentalismus, auch gegen Rousseaus unvermittelte alienation totale subjektiver Selbstbestimmung. 57 s. Köhler, ARSP 79 (1993), 457 ff. 58 Zur Grundlage Hegel, Rechtsphilosophie, § 66 f.; s. auch Köhler, ZStW 104 (1992), 3 ff. 59 Vgl. Köhler, GA 1988,435 ff.; verkürzt BVerfGE 39, 1; ausgewogener insofern das Urteil vom 28. 5. 1993. 60 Dazu Süchting (Fn. 38). 55

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d) Kritik der Grundrechtsauffassungen Der menschenrechtliche Begründungszusammenhang schließt es zunächst aus, besondere Grundrechte bloß als Reflex eines objektiv gesetzten (Geschichts-) Prozesses 61 , als abgeleitete Momente einer objektiv-idealen Wertverwirklichung oder als subjektives Korrelat vorgegebener Institutionen 62 zu fassen - mit der Implikation, den menschenrechtlichen Selbstbestimmungsgehalt zu negieren und in eine interpersonal nicht abgeleitete Pflichtbeziehung umzuwenden. Eine Grundrechtsteleologie dominiert auch mit der auf den Erwerbsempirismus Lockes zurückgehenden Voraussetzung eines gleichsam naturwüchsigen gesellschaftlichen Rechtsstatus. Daraus folgt eine bloß staatsbezogene abwehr- und bürgerrechtliche Auslegung 63, oder doch die Behauptung eines Vorrangs der liberalen und politischen Grundrechte 64. Diese Position tendiert innerstaatlich und in internationaler Beziehung, namentlich gegenüber der sog. 3. Welt, zu einem Begründungsabbruch in besitzrechtlicher Hinsicht. Der Mangel zeigt sich in der Doktrin daran, daß gegenständliche Berechtigungen allenfalls als "soziale" oder "Realbedingungen" durch eine unabgeleitete Sozialstaatskompetenz irgendwie hinzutreten, abstrakt-unvermittelt als materiale Teilhaberechte gegenübergestellt 65 oder im Sinne einer bloß funktionalen Legitimation für die liberalen Grundfreiheiten und Bürgerrechte aufgefaßt werden 66 , als wenn die gegenständliche Berechtigung nicht aus der Selbstzweckhaftigkeit der Freiheitsrealisation selbst folgen müßte. Hinter dieser grundsätzlichen Aufspaltung, widergespiegelt auch in den beiden internationalen Menschenrechtspakten von 1966, steht die Auffassung von naturrechtlich vorgegebenen (Besitz-)Rechten in der empiristischen Tradition. Indessen stehen subjekt-rechtliche Autonomie und ihre Gegenstandsangewiesenheit als relativ selbständig zu entfaltendes subjektives Besitzrecht in ursprünglich einem Begründungszusammenhang. Das entspricht ganz der allgemeinen Anschauung 67: Selbstbestimmung tendiert ohne gegenständlichen Entfaltungsraum, beginnend in Leben und Körperintegrität, zur völligen Vernichtung; umge61 s. kritisch Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie (1987), S. 53 ff. 62 Zu Grundrechtstheorien Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; kritisch z. Wertbegründung ders., in: Spaemann-Festschrift (1987), S. 1 ff. 63 Kritisch Lu/. in: Menschenrechte (Hrg. Böckenförde / Spaemann 1987), S. 124 ff. 64 Vgl. Schwartländer, in: Menschenrechte und Demokratie (1981), S. 189, 204 ff.; Rupp, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. 1 (1987), S. 1187, 1200 f.; zutreffend aber Luf (Fn. 63), 127 ff.; Huber / Tödt, Menschenrechte (3. Auf!. 1988), S. 82 ff. 65 Vgl. zur Dreispaltung der Menschenrechtskonzeptionen (liberal, sozialistisch, 3. Welt) Heckel (Fn. 61), S. 52 ff. 66 s. Höjfe, Politische Gerechtigkeit (1987), S. 399 ff., 469 ff.; s. auch Habermas (Fn. 29), S. 151 ff. 67 s. schon zur Notwendigkeit äußerer Güter Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 9

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kehrt entbehrt eine teleologisch-fürsorgend zugewiesene Bedürfnisbefriedigung des Abhängigen - das selbst einem Sklaven mögliche "gute Leben" - der rechtlichen Selbstbestimmtheit. Eine angemessene Grundrechtetheorie muß also beide Momente subjektrechtlicher Selbstbestimmung aus einem Begründungszusammenhang entfalten, - systematische Grundlage sowohl für besondere Grundrechte und ihre Verhältnisbestimmung im Staat, als auch für die internationalrechtliche Beziehung nach der Idee des Weltbürgerrechts. Die gegenwärtige Dogmatik der Grundrechte 68 geht, anschließend an verfassungsrechtliche Bestimmungen (Art. 1 III GG), von ihrer Staatsbezogenheit aus, namentlich im Sinne einer Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Einer primär abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte wird unter dem Titel "Grundsatznormen objektivrechtlichen Gehalts" eine Wirkfunktion für die gesamte Rechtsordnung angefügt69, insbesondere für Privatrechtsverhältnisse. Schließlich sollen objektive Gewährleistungsgehalte, z. B. auf Teilhabe am Bildungssystem 70, hinzutreten. Die positivistische Methodologie ist indessen unzureichend. Mit der Aufstellung eines Grundrechtekataloges sind weder geregelt die Grundsätze des konkreten (interpersonalen) Grundrechtserwerbs ("Grundrechtskollisionen"), noch das Verhältnis zu den Staatsfunktionen in offenen Gesetzesvorbehalten. Der erforderliche vorpositive Begründungszusammenhang bleibt aber offen. So richtig die Ablösung von einem verkürzten Staatsbezug erscheint, so unzureichend ist das Aufgreifen angeblich "objektivrechtlicher" Gehalte, ohne sie schlüssig aus dem Interpersonalitätsverhältnis zu entwickeln. Ebenso unvermittelt wird einem zunächst liberal-abwehrrechtlichen Verständnis die "Gemeinschaftsgebundenheit" des "Menschenbildes" hinzugefügt 71. Der vorausgesetzte Prinzipiengehalt der Grundrechte für die konstituierten Staatsfunktionen, insbesondere die Gesetzgebung, bleibt daher im praktisch zentralen Punkt der Verhältnisbestimmung uneingelöst. aa) Unabgeleitetheit der Grundrechtsverhältnisse Schon die abwehrgrundrechtliche Verhältnisbestimmung bleibt unzureichend. Zwar erscheinen unter der naturrechtlichen Voraussetzung (Lockes) eines schon vorstaatlich festgelegten Verhältnisses der Personen (Eigentümer) die Abwehr68 Dazu Böckenjörde, NJW 1974, 1529 ff.; ders., in: Staat, Verfassung, Demokratie (2. Aufl. 1992), S. 159 ff.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik (1989); Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff.; zusammenfassend H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 27 ff.; zur Geschichte aus dem Gegensatz Gesellschaft - (absoluter) Staat Grimm (Fn. 39), S. 192 ff. 69 Vgl. BVerfGE 7, 198,204 - LÜth. 70 Vgl. BVerfGE 33, 303, 330 ff. numerus clausus. 71 s. BVerfGE 4, 7, 15 f.; aktualisierend Brugger, JZ 1987, 635 ff.; vgl. offen auch Häberle, Menschenbild im Verfassungs staat (1988); skeptisch H. Dreier, AöR 116 (1991),623,627 f.

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und Schutzgrundrechte mit Gesetzesvorbehalt oder vorbehaltlos hinreichend bestimmt. Wird indessen die inhaltliche Vorgegebenheit gesellschaftlicher Rechtsverhältnisse in Frage gestellt und mit der Teleologiekritik die Unhaltbarkeit einer "geschlossenen Werte- und Güterordnung" , aus der deduziert werden könnte, zugestanden 72, dann öffnet sich eigentlich die Frage nach vorpositiver Verhältniskonstitution, sowohl in interpersonaler Beziehung, als auch zum Staatsrecht. Aber aus positivistischer Sicht reduziert sich die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers auf eine offene "Verhältnismäßigkeit"73 von Kollisions- und Schrankenbestimmungen. Der gleichnamige "Grundsatz" soll besagen, daß - abgesehen von MittelZweck-Relationen (Geeignetheit und Erforderlichkeit) - ein "Verhältnis" von Rechtsansprüchen abwägend zu regeln sei74 • Ein normatives Prinzip des Abwägungsvorganges wird nun entweder nicht angegeben, teils die Leerformelhaftigkeit eingeräumt 75 , teils gar die Unmöglichkeit überzeugender Gewichtungskriterien behauptet 76. Oder es wird auf inhaltliche Formeln der Güterabwägung im konkreten Fall, der Zumutbarkeit, praktischen Konkordanz, Optimierung rekurriert 77 • Fällt man nicht auf die unhaltbare Annahme einer vorgegebenen Werteund Rangordnung zUTÜck 78 , so bleiben Ableitung und inhaltliche Reichweite der bezeichneten Kriterien ganz offen. Das gilt namentlich für die Grundrechtseinschränkung zum staatlichen ,,Allgemeinwohl" 79. Insbesondere muß bestritten werden, daß mit "Güterabwägung" (namentlich utilitaristischen Verständnisses) überhaupt ein haltbares Rechtsprinzip angesprochen ist so. Der Anspruch eines den Gesetzgeber bindenden Prinzipiengehaltes wird mithin nicht erfüllt. Entsprechend unbegrenzt erscheint die Abwägungs- und Dezisionskompetenz eines autoritativen Interpreten. 72 Vgl. oben 11.; überzeugend Böckenförde ( Fn. 68, 1992); ders., in: SpaemannFestschrift (1987), I ff.; Schlink (Fn. 68), 462 m. w. N. 73 Böckenförde, (Fn.68, 1992) 183; Schlink, (Fn. 68) 459 ff. 74 Schlink, (Fn.73); ders., Abwägung im Verfassungsrecht (1976); Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 100 ff. und öfter. 75 Vgl. Hirschberg, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981), zusf. S. 245 ff. mit dezisionistischem Resultat. 76 So Schlink, EuGZ 1984, 461 f. 77 s. etwa BVerfGE 19,206,220; 28, 243, 260; 30, 173, 193; 32,98, 107; 35,202, 225; 39, 334, 367; 46,120,145; NJW 1990, 1982; dazu Grabitz, AöR 98 (1973),568 ff.; Hesse, Verfassungsrecht (17. Aufl. 1990), S. 27, 72; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1985), zusf. S. 217 ff. (zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als angeblichem Anwendungsfall der Güterabwägung); Alexy (Fn. 74). 78 Kritisch Schneider, Güterabwägung des BVerfG bei Grundrechtskonflikten (1978), S 243 ff. 79 s. nur Grabitz, (Fn. 77); vgl. den Utilitarismus von BVerfGE 80, 367 - Tagebuch. 80 Grundlegende Kritik des utilitaristischen Moral- und Rechtsprinzips von Kant, Kp V (5, 21 ff.); MdS, RL Einl. § B, Anhang (6, 230, 235 f.) u. ö.; s. auch Rawls (Fn. 21); Höfte (Fn. 66).

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Grund des Mangels ist, daß der Staatsbezug der Grundrechte verkehrterweise als das Erste genommen, die ihm zugrundeliegende interpersonale Konstitution hinreichender Gründe konkreten Rechtserwerbs aber übergangen wird. Beispielsweise gelangt das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sog. Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch 81 zu einer Verhältnisbestimmung der konfligierenden Grundrechtsansprüche dadurch, daß es das Lebensrecht des Ungeborenen mit schon extensivem Anspruch auf die Schwangere "naturrechtlich" voraussetzt, um danach deren Freiheitsstatus einer staatlichen Schutzpflicht unterzuordnen, - eine petitio principii. Die verfassungs gesetzlich nicht geregelte, sondern aufgegebene vorpositive Verhältnisbestimmung muß aber die bezeichneten menschenrechtlichen Setzungsmomente eines bestimmten Rechtserwerbs entfalten. So kann sich auch das subjektive Recht auf Leben in Einheit mit der Inanspruchnahme eines anderen nur in einer Systematik von interpersonalen Erwerbsgründen ergeben (im Beispielsfall: durch Momente der Okkupation und autonom-familialer Übernahme von Personensorge, eingeordnet in eine ursprüngliche Erwerbsgründe respektierende gesellschaftliche Gerechtigkeitsverfassung). Darauf beruht die Regelungs- und Schutzbefugnis des Staates 82. - Gesondert zu kritisieren wäre die Unabgeleitetheit des sog. verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs, die Offenheit der Verhältnis- und das Zirkuläre der Schrankenbestimmung 8J. Die Leerformel einer ungegründeten "Verhältnis-Abwägung" wird also der Systematik von Erwerbsgründen (Grundrechtsverhältnissen) zu weichen haben. bb) Kritik des Sozialstaatsgrundsatzes und "sozialer Grundrechte" Die unvermittelt staatsbezogene Grundrechteauffassung ohne Reflexion auf eine interpersonale Besitz- und Erwerbssystematik prägt sich in den Begriffen des Sozialstaates und "sozialer Grundrechte" weiter aus. Das "Sozialstaatsprinzip", defmiert als umfassende Leistungs-, Gestaltungs-, Ordnungsermächtigung bezüglich sozialer Sicherheit, gerechter Sozialordnung Vgl. bei Fn. 59. Das Urteil vom 28. 5. 1993 anerkennt deutlicher, daß ungeborenes Leben und Person der Mutter in einem als Sonderrechtspflichtbeziehung erst begründungsbedürftigen Verhältnis stehen, und zwar unter Einbezug der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsverfassung für Familialität. Der mitkonstitutiven Rolle der Frau soll einerseits ihre "Letztverantwortung" für einen nach Überlegung (Beratung) vollzogenen Abbruch entsprechen; nach den wesentlichen Rechtsfolgen (Ausschluß von Nothilfe Dritter, Erlaubtheit des Arztvertrages, der Sozialhilfe und Lohnfortzahlung) bedeutet dies die Rechtmäßigkeit der ,,Fristenregelung". Andererseits soll ein solcher Abbruch ,,rechtswidrig" genannt werden. Dieser Grundwiderspruch in der Verwendung der Rechtswidrigkeitskategorie, ein das ganze Urteil durchziehender Bruch, beruht darauf, daß die autonome Entscheidung der Frau nicht auf verhältnisbestimmende Voraussetzungen (negativ: Indikationen) bezogen wird (dazu Köhler, Fn. 59). 83 Dazu Süchting (Fn. 38). 81

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und sozialer Gerechtigkeit 84, hat für sich keinen konkretionsfahigen Rechte- und Pflichtengehalt. Der Sozialstaat ist in diesem Sinne kein Rechtsbegriff 85 . Der Versuch, ihn subjektivrechtlich zu konturieren, führt zur Behauptung "sozialer Grundrechte"86, wie etwa auf Bildung, Arbeit, soziale Sicherung, Sozialhilfe u. a. Ein Begründungszusammenhang steht freilich dahin. So wird ein "Grundanteil an sozialen Lebensgütern" als notwendige Bedingung bürgerlich-liberaler Freiheitsrechte behauptet 87 . Nun muß aber der fragliche Rechtsanspruch in zweierlei Richtung begründet werden, sowohl für Betroffene (etwa einer Steuererhebung) als Rechtspflicht, als auch für Begünstigte nach ihrem freiheitlichen Selbständigkeitsanspruch. Die "Gewährung" - der übliche Terminus des paternalistischen Fürsorgestaates - von Bedürfnisbefriedigung erfüllt zunächst kein rechtliches, sondern allenfalls ein ethisch-wohlfahrts bezogenes Gebot 88, kann also nicht Inhalt staatlichen Zwangsrechts sein. Die allein fragliche Einräumung subjektiver Besitzrechte folgt ihrerseits nicht schon "sachlogisch" aus den liberalen Freiheitsgewährleistungen 89. Denn unter der Voraussetzung vorstaatlich-eingriffsverbietender Freiheitsrechte ist der unvermittelte Übergang zu einem Teilhabe-Gebot (Umverteilung) - abstrakt von hinreichenden Erwerbsgründen - rechtsgrundlos, wie Minimalstaatskonzeptionen in der Tradition Lockes zutreffend vortragen 90 • Beispielsweise würde ein "Recht auf Arbeit" 91 im Sinne eines bestimmten subjektiven Rechts auf einen Arbeitsplatz für jeden eine umfassende staatliche Regelung der Arbeitsrechtsverhältnisse mit weitestgehendem Kontrahierungszwang bedeuten, mithin die pragmatische Handlungsfreiheit und die Tausch-/ Marktgerechtigkeit in dieser Hinsicht aufheben, zum total geregelten "geschlossenen Handelsstaat"92 tendieren. Leistungsansprüche gegenüber dem Staat, so wird vorgetragen, könnten deshalb nicht als strikte Grundrechte begriffen werden, sondern nur als bloße ,,Programmsätze" einer "Gewährung" nach Ermessen, eben als allgemeiner Sozialstaatsauftrag, eine Anweisung auf "gute Politik"; Der subjektivrechtliche Zuweisungsgehalt bleibt mithin generell unbestimmt 93. Ähnlich offen wird in internatio84 Vgl. Scholz, in: Soziale Grundrechte (Hrg. Böckenförde / Jekewitz / Ramm, 1981), S. 75,82. 85 Forsthoff, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit (Hrg. Forsthoff 1968), S. 165, 177 ff. 86 V gl. Murswiek, in: Handbuch des Staatsrechts (Hrsg. Isensee / Kirchhoff), Bd. 5 (1992), S. 243 ff.; Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Fn. 84); Böckenförde, Soziale Grundrechte, in: Staat, Verfassung, Demokratie, S. 146 ff.; Alexy (Fn. 74) 455 ff. 87 Böckenförde (Fn. 86); s. auch oben bei Fn. 60. 88 Zwingend Kant, MdS, Einleitung RL § B (6, 230 i. Vb. m. 213). 89 So aber grundlos Böckenförde (Fn. 86). 90 Vgl. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (1974). 91 Dazu Scholz (Fn. 84); s. auch Eschenauer, Das Recht auf Arbeit (1983); Ryffel/ Schwartländer (Hrg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit (1983); Häberle, JZ 1984, 345 ff. 92 s. Fichtes gleichnamige Schrift(1800), in: Werke 3, S. 387 ff.

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nalrechtlicher Beziehung ein "Recht auf Entwicklung" proklamiert 94, werden wie etwa im UN-Pakt von 1966 soziale Teilhaberechte verheißen - unvermittelt neben weltweit schwersten Mangelverhältnisen. So schließen sich im Verweisungszirkel die Offenheit des "Sozialstaatsprinzips" und eine entsprechende Staatskompetenz zusammen. Die Unbestimmtheit des "Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" gewinnt in der "Abwägung" von Freiheitsrechten und Sozialrechten eine weitere Dimension 95. Der Begründungsmangelliegt darin, "soziale Teilhaberechte" - abstrakt von einer privatrechtsfundierten Erwerbssystematik - auf den Staat zu beziehen 96 • Die unvermittelte Zusammenstellung liberaler Freiheitsrechte in ihrer die Gesellschaft auch spaltenden Dynamik einerseits, sozialstaatlicher Zuteilung andererseits bedeutet einen fundamentalen Rechtssystem-Widerspruch. Der Begriff des Sozialstaates ist zutiefst zweideutig. Einerseits entspricht er einer Kritik an unrechtlichen Besitzbegriffen und -verhältnissen. Andererseits transformiert die "unbegrenzte Abwägung" in der Sozialgestaltung den Staat zur rechtsbegrifflich ungebundenen Superstruktur, einem tendenziellen Despotismus, den schon Rous- , seau als Konsequenz der empiristischen Privatrechtskonzeption kritisch ins Auge faßte 97. Diese doppelte Kritik ist im Blick auf verschiedene autoritäre bis totalitäre Lösungsversuche seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beklemmend aktuell. Dem Anspruch auf selbständige Rechtssubjektivität nicht angemessen, verfestigt solcher Etatismus eher den privatrechtlich-gesellschaftlichen Rechtsmangel. Das zeigt sich an vielfältigen Krisensymptomen, besonders eindrücklich an der Depravation familialer Verhältnisse (Verwahrlosung eines Teils der Jugend, Rauschdrogenproblem). Das für niemanden mehr wirklich überschaubare Dickicht des Wirtschaftsinterventions-, Sozialleistungs- und Steuerstaates, wohl noch verstärkt auf der Ebene der europäischen Gemeinschaft, widerspricht einer schlüssig wohlgeordneten Gerechtigkeitsverfassung. e) Die Aufhebung des paternalistischen Sozialstaates

Die kritische Aufhebung des "Sozialstaates" bedeutet aber nicht die Negation seiner die rechtliche Selbständigkeit eröffnenden Momente, sondern besteht in deren subjekt-rechtlichen Einlösung. Die systematische Stelle dafür sind die Besitz- und Eigentumsbegriffe. Grundlegend ist die Einsicht, daß das ursprüngliVgl. Forsthoff (Fn. 85); Böckenförde (Fn. 86); Scholz (Fn. 84); Alexy (Fn. 86). Dazu Riedei, EuGZ 1989,9 ff. 95 Vgl. Alexy (Fn. 86); Schlink (Fn. 68) blendet teils die Problematik aus, teils weicht er auf eine rechtsbegrifflich unangemessene "Spiel"-Konfiguration aus (465 f.); ähnlich Alexy (Fn. 86, S. 469). 96 Insoweit zutreffend Rupp (oben Fn. 64), 1200 ff. 97 Vgl. Rousseau (Fn. 10), S. 211 ff.; zu modemen Kritikansätzen s. Habermas, Theorie kommunikativen Handeins Bd. 2 (1981), S. 507 ff.; Kissling, Gemeinwohl und Gerechtigkeit (1993), S. 529 ff.; Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 299 ff. 93

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che Menschenrecht auch dem vorstaatlich-privatrechtlichen Verhältnis der Personen zugrundeliegt, und zwar auch in seiner wechselseitig rechts-einräumenden Seite. Dies muß in einer von bisherigen Reduktionen befreiten Systematik der Besitzrechtsformen und entsprechender Erwerbsgründe, die vom besonderen Kapital- und Arbeitsvermögen über abstraktere Teilhabeformen bis zum subjektiven Recht auf existenznötige Sozialhilfe reichen, expliziert werden. Nach Erwerbsgründen und Zuweisungsgehalt unterschieden, wird darin das abstrakte Gegenüber "liberaler" und "sozialer" Rechte aufgehoben. Sowenig es beispielsweise in der notwendig auf freien Austauschbeziehungen beruhenden Marktgesellschaft unvermittelt ein gegenständliches ,,Recht auf Arbeit" geben kann, so sehr ein erworbenes Recht des gegenständlich konkretisierten Arbeitsvermögens, relativ abstraktere Teilhaberechte (Erwerbschancen) am gesellschaftlichen Vermögen gegen vielfältige Formen der Kartellbildung, in letzter Linie ein existenznötiges Sozialhilferecht. Systematisch richtig aufgefaßt, sind diese und abgeleitete Fragen, wie etwa des Status familialer Berechtigung in der Gesellschaft, des Wohnungsrechts, ursprünglich Privatrechtsfragen. Sich mit dem Sozialhilfe staat zu beruhigen, ist ebenso unrechtlich, wie im Hinblick auf die innere Stabilität der Gemeinschaft unklug. 3. Zur Universalität des Menschenrechts Das Menschenrechtsprinzip ist aus seinem Vernunftgrunde universal. Der menschenrechtliche Formungsprozess subjektiver Grundrechtsverhältnisse ist aber empirisch-historisch relativaufgrund der legitimen Besonderheit verschiedener Lebens- und Gutskonzeptionen. Subjekt-rechtliche Selbstbestimmung bringt sich historisch je in Auseinandersetzung mit unmittelbarer Gebundenheit hervor. Das "Sei eine Person" und ihr Recht müssen sich erst im besonderen Gegensatz begreifen, um wirklich im Recht zu sein. Beispiele bieten die Aufhebung der Sklaverei, das Recht der Religionsfreiheit, die Rechte auf Freiheit und Eigentum, die Emanzipation der Frau. Die Geschichte der positivierten Grundrechte dokumentiert die bisherige Entfaltung. Die Relativität subjektiver Grundrechte aktualisiert sich besonders in der internationalen, interkulturellen Beziehung. Die Universalität der Menschenrechte 98 , in einem bestimmt vorausgesetzten Maß, ist insofern ein problematischer Titel, als ihr die kulturelle Differenz in der Rechtsform der Staatensouveränität legitim gegenübersteht. Auch innerstaatlich behauptet sie sich als gruppenspezifischer Autonomieanspruch. Strengen Sinnes universal ist das Menschenrecht in seiner je normkonstitutiven Formkraft, nicht sind es die besonders entwickelten Grundrechtsverhältnisse. 98

So der Titel des Buches von Kühnhardt (2. Aufl. 1991).

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Universalität kann daher einerseits nicht einen gleichförmig bestimmten Rechtszusarnrnenhang, etwa aus eurozentrischer Perspektive, bedeuten. Insofern bleibt etwa der Widerspruch der sog. 3. Welt gegen paternalistische Bevormundung berechtigt99. Denn das Menschenrechtsprinzip selbst impliziert die materiale Differenz seiner Verwirklichungformen, z. B. eine stärkere Gruppengebundenheit des Individuums in familialen Formationen Afrikas. Unverfügbar gilt andererseits aber, gegen jede objektiv teleologische Rechtsanmaßung )()(), die immanente subjektivrechtliche Formkraft des Prinzips, z. B. die Freiheit des verfolgten Dissidenten gegen eine religiös-fundamentalistische Sanktionsanmaßung 101, die Freiheit von Frauen gegen die paternalistische Gebundenheit ihrer Herkunftswelt, die Selbstbestimmung im Erziehungswesen gegen den Zwang zur kulturellen (sprachlichen) Gruppenidentität 102. Im freiheitlichen Staat begründet der menschenrechtliche Selbstbestimmungsprozess an sich eine sekundäre Schutzpflicht, auch die Pflicht immanenter Fortentwicklung zu entsprechender kultureller Offenheit der Rechtsformen. Internationalrechtlich bleibt diese Rechts- / Pflichtbeziehung vermittelt und begrenzt durch den immanenten Selbstbestimmungsprozess in der Form legitimer Staatensouveränität 103. Die Schutzpflicht transformiert sich'daher wesentlich in ein Beteiligungsverbot an den nach eigenen Prinzipien (ordre public) menschenrechtswidrigen Akten (z. B. Verbot des Waffenhandels); allerdings muß sich das internationale Rechtsverhältnis auch erweitern nach der einräumend-besitzrechtlichen Seite 104. Zwar schließt die Staatensouveränität eine paternalistische oder interessengeleitete Interventionsbefugnis aus. Für Fälle evidenter Verletzung des Menschenrechtsprinzips ist aber nach der Idee des ius gentium eine (kollektive) Rechtspflicht der humanitären Intervention anzunehmen 105. Neben der Evidenz der Voraussetzung muß auch die Form der Ausübung, im Unterschied zu einzelstaatlichen Interessen- und Gutsvorstellungen, die universale Allgemeingültigkeit des Rechtsgrundes repräsentieren.

99 s. Bedjouni. in: Die Rechte des Menschen (1987), S. 123 ff.; vgl. Schn1ale (Hrg.), Human rights and cultural diversity (1993). 100 Insoweit überzeugend Spaemann. in: Merkur 42 (1988), 706 ff.; zutreffend gegen eine Konsensvoraussetzung Kriele. ARSP Beiheft 51 (1993),52 ff.; zum Verallgemeinerungspotential in den Weltreligionen s. Küng. in.: Universitas 46 (1991), 633 ff. 101 Exemplarisch der Fall Rushdie; zur Ungleichzeitigkeit des islamischen Kollektivismus und des Autonomieprinzips s. Tibi. in: Universitas 47 (1992), 16 ff. 102 Vgl. aber Taylor. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1993), S. 13, 46 ff.; kritisch Habermas. ebd., 147 ff. 103 s. Verdroß / Simma. Völkerrecht (3. Aufl. 1984), §§ 490 ff. 104 Gegen Verkürzung zutreffend Bedjouni. (Fn.99). 105 Zur Umstrittenheit s. Verdroß / Simma. (Fn. 103); Denecke. Humanitäre Intervention (1972); Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1984), S. 575 ff. 6*

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IV. Zusammenfassung Das ursprüngliche Menschenrecht, das mit Vernunftfaktizität gegebene ("angeborene") Subjekt-Recht - entsprechend ursprünglicher Pflicht, hat den einzigen Inhalt selbstgesetzlicher Teilhabe an allgemeiner äußerer Verhaltensregulation (Rechtsfähigkeit, rechtliche Würde). Das innere "Meine" (meum internum) impliziert daher zwar die Totalität interpersonaler Freiheit (Unabhängigkeit) und insofern ein noch ungeschiedenes "Recht auf alles", nicht aber nach individueller Willkür, sondern nach dem Gesetz allgemeiner Freiheit. Inhaltlich umfaßt dies das Ganze des Menschseins aus Selbstzweckhaftigkeit freier Subjekte in der Form des Rechts. Wirkliche Wechselseitigkeit und Allgemeinheit äußerer Selbstbestimmung enthalten daher auch ein ursprünglich-permanentes Moment gegenständlicher Rechtseinräumung (Recht auf Besitz). Das einzige, aus seinem Vernunftgrund unveräußerliche Menschenrecht definiert die Grundgleichheit eines jeden, während der Erwerb besonderer Rechte notwendigerweise verschieden ist. Das einzige Menschenrecht gilt gegenständlich universal, indem es die Systematik der Grundrechtsarten und -verhältnisse nach vorpositiven Erwerbsprinzipien formt. So ist es zuerst privatrechtskonstitutiv und - dadurch vermittelt staatsrechtsbegründend, jede objektivistische Teleologie, auch diejenige des paternalistischen "Sozialstaates", in subjektiven Rechtsverhältnissen aus ursprünglieher Teilhabe aufhebend. Es ist menschheitlich universal unter interkulturellem, internationalem Aspekt, - im kritischen Gegensatz zu einseitigen (ethnozentrischen, religiös-fundamentalistischen, reduziert liberalistischen) Konzeptionen. Der Begriff des Rechtssystems besteht nur einheitlich mit dem erinnerten subjektrechtlichen Prinzip. Dessen privat-, staats- und völkerrechtsbildende Forrnkraft bedingt mithin einen Verfassungsbegriff, der sich nicht (wie seit Aristoteles) auf die politische Verfassung engeren Sinnes reduziert, sondern die Systematik der universalen Rechtsordnung in ihren konstitutivenTeilprinzipien enthält.

Privatrechtlich begründete Garantenpflichten ? Von Kurt Seelmann Viele, die von der Einheit der Rechtsordnung sprechen, meinen damit ein Ideal, das nur aus mancherlei Gründen nicht so einfach zu verwirklichen sei. Bei der Klärung praktischer Fragen der Strafrechtsdogmatik zeigt sich dieses positive Verhältnis zum Begriff der Einheit der Rechtsordnung nicht selten schon in der apodiktischen Weise, wie der Begriff als Argument eingesetzt wird: Ein rein wirtschaftlicher Vermögensbegriffbeim Betrugstatbestand etwa, so hält man dem BGH entgegen, widerspreche der Einheit der Rechtsordnung!. Was im Privatrecht verboten sei, dürfe das Strafrecht nicht schützen. In rechtstheoretischen Diskursen herrscht dagegen eher Skepsis darüber vor, ob sich, wenn überhaupt, mehr als eine bloß logische Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung erreichen lasse 2 • Auch diese Skepsis aber wird mit einem gewissen Bedauern vorgetragen. Ich will im folgenden die Optik ein wenig verschieben und an einem Beispiel zeigen, daß die Einheit der Rechtsordnung, verstanden in einem kurzschlüssigen Sinn, auch ihre Tücken haben kann. Das Beispiel sind privatrechtlich begründete Garantenpflichten. Die Aktualität der Problematik sei zunächst kurz an einem Ihnen allen bekannten Fall in Erinnerung gerufen. Ich will-dann ein paar Worte zur Geschichte der Privatrechtsabhängigkeit der Garantenpflichten und zum aktuellen Stand der Erörterung sagen, die Schwierigkeiten kennzeichnen und schließlich einen Lösungsweg vorschlagen.

I. Einführung: Die Aktualität des Problems anhand der "Lederspray"-Entscheidung Nur wenige Entscheidungen des BGH in Strafsachen haben ein vergleichbares Aufsehen erregt wie die ,,Lederspray"- oder "Erdal"-Entscheidung 3• In diesem Urteil ging es um die Verpflichtung zum Rückruf von Produkten, die nach ihrem Verkauf als gesundheitsgefahrdend in Verdacht geraten waren. Mit Erstaunen wurde allgemein wahrgenommen, daß der BGH - wohlgemerkt im Strafrecht! - das Erfordernis einer erwiesenen Kausalität zwischen dem Benutzen des !

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Vgl. nur Schönke / Schröder-Cramer, StGB, § 263, Rn. 83. Peine, JZ 1990, 201, 209. BGHSt 37, 106.

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Ledersprays und den gesundheitlichen Schädigungen jedenfalls praktisch verabschiedete und eine positive Korrelation insoweit ausreichen ließ. Hinter diesem allgemein beachteten Aspekt der Entscheidung blieb zunächst fast unbemerkt, daß sich das Urteil des BGH zugleich auch anschickte, die Dogmatik der Garantenpflichten ausdrücklich in ihrem Kern zu verändern. Dies betraf sowohl die Arten der herangezogenen Garantenpflichten als auch die Anforderungen an das Vorliegen dieser Pflichten. Neben der Ingerenz, also dem eigenen gefahrschaffenden Vorverhalten, wird die Herrschaft über eine Gefahrenquelle angeführt; weiter spricht nach Auffassung des BGH "vieles dafür", daß die privatrechtlichen Produkthaftungspflichten auch für das Strafrecht anwendbar sind. All dies verwundert aus mehreren Gründen: Bei der Ingerenz verzichtet der BGH auf die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens 4 • Bei der Herrschaft über die Gefahrenquelle verzichtet er auf die Zugehörigkeit der gefährlichen Sache zum Organisationskreis des Handlungspflichtigen und mit dem Hinweis auf die privatrechtlichen Produkthaftungspflichten wird explizit der Einbau eines strafrechtlichen Filters bei der Pflichtbegründung aufgegeben. In all diesen Punkten nähert die neue Rechtsprechung des BGH die strafrechtlichen Garantenpflichten den privatrechtlichen Haftungsvoraussetzungen an: Wie sich zeigen wird, den Voraussetzungen der Haftung aus Verkehrspflichten. Aber ist diese Privatrechtsakzessorietät der strafrechtlichen Garantenpflichten wirklich neu? Daran wird man zweifeln müssen.

11. Die Geschichte des Problems Der Rückgriff der Garantenpflichtdogmatik insbesondere auf das Privatrecht hat eine lange Geschichte - aber die Kritik daran auch. Feuerbach, der sich als einer der ersten zu Beginn des 19. Jahrhunderts systematisch mit Garantenpflichten befaßt hat, hielt allein Pflichten aus Vertrag und Gesetz für taugliche Grundlagen einer Unterlassungsstrafbarkeit 5 • Unter letzterem, dem Gesetz, verstand man im folgenden insbesondere eine gesetzlich normierte familiäre Beistandspflicht. Damit war durch die Begriffe "Vertrag" und "Gesetz" die Garantenpflichtdogmatik in erster Linie vom Privatrecht her programmiert. Kritik daran gab es mit zwei Stoßrichtungen: Vor allem in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts propagierten sogenannte materielle Rechtspflichttheorien eine Abkoppelung vom Privatrecht 6. Diese materiellen Rechtspflichttheorien 4 Zu diesem Verzicht Kuhlen, NStZ 1990, 566, 567 f.; Samson, Strafverteidiger 1991, 182, 184. 5 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. (Hrsg. Mittermaier), 1847, § 24. 6 Sauer, FG Frank I, 1930, S. 202; Kissin, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den Unterlassungsdelikten, 1933 (StrAbh. H. 317).

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lehnten jede fonnelle Beschränkung auf außerhalb des Strafrechts nonnierte Rechtspflichten ab und forderten eine ad-hoc-Konstruktion von strafrechtlich relevanten Rechtspflichten aus einer natürlichen Anschauung. Solchem Verlangen nach einer "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken"? verschloß sich auch das Reichsgericht nicht und schuf, ersichtlich nicht ganz ohne Skrupel, aber mit dem Zeitgeist im Rücken, Garantenpflichten aus "enger Lebensgemeinschaft" 8. Ging es hier um ein Strafrecht, das privatrechtliche Fesseln abstreifte, um sich letztlich einen Zugang zu allem zu verschaffen, was sozialschädlich und verwerflich war, so gab es auch schon lange die andere Stoßrichtung einer Kritik an der Abhängigkeit vom Privatrecht. Vertragsverletzungen sollten nicht die Kraft haben, ein strafrechtlich irrelevantes Verhalten in ein strafbares zu verwandeln. "Nichterfüllung eines Versprechens", so bringt es Kohlrausch auf den Punkt, ,,kann nicht zum Mörder machen!"9.

III. Der aktuelle Stand der Garantenpflichtdogmatik Die Herleitung strafrechtlicher Garantenpflichten aus dem Privatrecht war also nie unumstritten. In der Nachkriegszeit gab es immer wieder Bemühungen, einer schlichten Übernahme solcher Pflichten aus dem Privatrecht dadurch gegenzusteuern, daß man bestimmte inhaltliche - wie man meinte, strafrechtliche Kriterien für Rechtspflichten zu entwickeln suchte. Bald entstand so etwas wie ein Konsens darüber, daß strafrechtlich relevante Garantenpflichten sich alternativ durch zwei Kriterien bestimmen lassen sollten. Entweder sollte ihnen eine Gefahrverantwortlichkeit zugrunde liegen - dann nannte man sie Sicherungspflichten. Oder aber man begründete Garantenpflichten aus einer Vertrauensbeziehung zwischen dem Unterlassenden und dem Opfer - dann sprach man von Obhutspflichten 10. So strittig es heute noch ist, ob man damit nur ein Einteilungs- und Begrenzungskriterium gefunden hat oder ob damit auch schon taugliche Quellen von Garantenpflichten bezeichnet sind 11, so schien doch damit das spezifisch Strafrechtliche an solchen Pflichten erfaßt und gegenüber Kategorien wie "Vertrag" und "Gesetz" festgehalten. Indessen sind große Zweifel erlaubt, ob man damit wirklich eine eigenständige Leistung des Strafrechts erbracht hat. Und nicht nur dies - auch die Tauglichkeit von Kriterien wie "Gefahrzuständigkeit" und "Vertrauen" zu einer rechtsstaatlich akzeptablen Begrenzung des Feldes der Garantenpflichten erweckt eher Skepsis. ? Bruns, Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, 1938. 8 RGSt 69, 323. 9 Kohlrausch, StGB, 29. Aufl., 1930, Vorb. I 36, 14. 10 Terminologie von Schmidhäuser, Lehrbuch AT Rn. 16/38, S. 40 ff. 11 Zu den Einzelheiten Seelmann, AK-StGB, Bd. 1, 1990, § 13, Rn. 31 ff.

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Beide Schwierigkeiten hängen miteinander zusammen: Wie man zeigen kann, wird durch solche Kategorien die Abhängigkeit strafrechtlicher Garantenpflichten vom Privatrecht nicht etwa überwunden. Es erfolgt nur eine Anpassung an das neuere Privatrecht. Und da das neuere Privatrecht den Umkreis von Rechtspflichten eher auszudehnen als einzuschränken sich anschickt, verlieren auch die Garantenpflichten immer mehr ihre überkommenen Konturen. Durch die Schaffung der Kriterien der Gefahrverantwortlichkeit und des Vertrauens hat man aber auch nicht den privatrechtlichen Pflichten etwas spezifisch Strafrechtliches hinzugefügt. Die aus solchen Quellen geschöpften Rechtspflichten sind nämlich schlicht identisch mit Pflichten, die das neuere Privatrecht entwickelt hat. Die sogenannten Sicherungspflichten weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit den zivilrechtlichen Verkehrspflichten auf, und das, was man im Strafrecht Obhutspflichten nennt, ist schwerlich von dem zu unterscheiden, was im neueren Privatrecht unter Bezeichnungen wie "Selbstbindung ohne Vertrag" oder quasivertragliche Verpflichtung zu einem Gegenstand der Erörterung geworden ist. Man hat also im Strafrecht mit Gefahrzuständigkeit und Vertrauen keine zusätzlichen Hürden für Rechtspflichten aus dem Privatrecht aufgestellt und man hat solche privatrechtliche Rechtspflichten schon gar nicht durch spezifisch strafrechtliche ersetzt. Man hat vielmehr ganz im Gegenteil mit großem Eifer - manchmal ohne es zu bemerken - die strafrechtlichen Garantenpflichten, noch enger als dies vordem der Fall war, an privatrechtliche Rechtspflichten angekoppelt. Ich will diese vielleicht etwas überraschende Behauptung an beiden heute von einem breiten Konsens erfaBten Typen von Garantenpflichten kurz aufzeigen: an den Sicherungspflichten und an den Obhutspflichten.

IV. Der privatrechtliehe Hintergrund 1. Verkehrspflichten

Privatrechtliche Verkehrspflichten erlegen jedem Gefahrverantwortlichen die Pflicht auf, Vorkehrungen zur Vermeidung von Schädigungen Dritter zu treffen, zumindest soweit die Gefahr das normale Lebensrisiko übersteigt l2 • Unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherungspflicht hat man darunter zunächst Fälle der Zustandshaftung für geflihrliche Sachen oder gefahrliche Personen zusammengefaBt. Aber auch das eigene gefahrschaffende Vorverhalten, die sogenannte ,,Ingerenz", wird mittlerweile als ein Unterfall der im Deliktsrecht erörterten Verkehrspflichten angeführt 13. Zusammenfassend kann man etwa bei ehr. v. Bar lesen, es gehe hierbei um den Schutz des allgemeinen Rechtsverkehrs durch eine 12 Larenz, Schuldrecht 11, 12. Auft., 1981, S. 612; Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 2. Auft., 1991, 29/42. 13 Mertens, Münchner Kommentar zum BGB, Bd. III/2, 2. Auft., 1986, § 823, Rn. 187 f.

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"partielle Generalklausei zum Schutz vor und zum Ausgleich von mittelbaren Rechts- und Rechtsgutsverletzungen" 14. Wie der Blick in die neuere Strafrechtsdogmatik zeigt, sind solche Überlegungen schnell und gründlich aufgegriffen worden. Die Begründung der strafrechtlichen Haftung aus Verkehrspflichten findet sich dort mit den aus dem Privatrecht bekannten Argumenten wieder. Auch die Gründe für eine Haftungsbeschränkung wurden ganz konsequent übernommen: Man sieht dies deutlich an den Hinweisen auf die haftungsmindernde Wirkung eines Schaffens von Sonderrisiken durch das Opfer, etwa in den Lehrbüchern von Baumann und Weber sowie von Jakobs 15. Aber nicht nur die Strafrechtsliteratur hat solche Überlegungen aufgegriffen. Auch die Rechtsprechung des BGH zur Ingerenz, in der sich bisher schwer ein roter Faden finden ließ, läßt sich mit diesem Code mühelos dechiffrieren. Ich darf dafür kurz auf zwei Fälle verweisen: In einem F all 16 war das Opfer betrunken vor ein Auto getorkelt und angefahren worden; der Fahrer des Autos kümmerte sich nicht um das verletzte Opfer. Der BGH verneinte eine vorsätzliche Tötung durch Unterlassen, wobei die Begründung sich genau besehen aus zwei Teilen zusammensetzt: Zwar schafft auch rechtmäßiges gefahrerhöhendes Verhalten eine Garantenpflicht, wenn man sich nur gegen die Gefahr - wie im Straßenverkehr - nicht selbst ausreichend schützen kann. Davon gilt aber eine Ausnahme, wenn das Opfer selbst Schuld an der Verletzung trägt. In der Struktur ähnlich fällt eine andere Entscheidung 17 des BGH aus: Jemand hatte einen anderen in Notwehr gerechtfertigt niedergeschlagen und sich nicht weiter um den Verletzten gekümmert, der gleichfalls zu Tode kam. Auch hier nimmt der BGH nicht zu der Frage Stellung, ob das Vorverhalten bei Ingerenz rechtswidrig gewesen sein müsse. Im Ergebnis wird allerdings ein Garanten-Unterlassungsdelikt verneint. Man wird auch hier wieder folgende nicht ausdrücklich vorgetragene Überlegungen vermuten dürfen: Wer gerechtfertigt handelt, kann bei entsprechender Gefahrintensität dennoch garantenpflichtig sein, es sei denn, das Opfer habe die Verletzung zu verantworten, eben wie hier als Angreifer in einer Notwehrsituation. Nur so läßt sich übrigens systematisch konsequent begründen, warum niemand auf die Idee käme, im Falle einer Rechtfertigung durch Notstand eine Garantenpflicht prinzipiell auszuschließen. Haftungsbegründung wie Haftungsbegrenzung entnimmt also auch die strafrechtliche Ingerenz-Rechtsprechung direkt aus der Rechtsfigur privatrechtlicher Verkehrspflichten.

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ehr. v. Bar, JuS 1988, 169 f. Baumann / Weber, Strafrecht Allg. Teil, 9. Aufl., 1985, S. 250; Jakobs, AT, 29/42. BGHSt 25, 218. BGHSt 23, 327.

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2. Selbstbindung ohne Vertrag

Was im Hinblick auf die Abhängigkeit vom Privatrecht für die Sicherungspflichten gilt, gilt auch für die Obhutspflichten. Auch sie werden in der neueren Strafrechtsdogmatik aus der neueren Privatrechtsdogmatik übernommen, wo man sie als "quasivertragliche Pflichten" erörtert. Eine "Selbstbindung ohne Vertrag" wird etwa von Köndgen propagiert im Falle des Erweckens "legitimer Erwartungen"18. Weiter hat das Privatrecht in Zusammenhang mit dem alten Grundsatz vom "venire contra factum proprium" auch verschiedene Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe sich das Vorliegen einer solchen "legitimen Erwartung" bestimmen lassen soll. Große Bedeutung wird hierbei der Erkennbarkeit des vertrauenbegründenden Verhaltens durch den Adressaten beigemessen 19. Da es aber nicht um Erwartungen schlechthin geht, sondern diese Erwartungen legitim sein müssen, werden im Privatrecht "Vertrauensinvestitionen" gefordert 20. Versucht man solche Kriterien auf die strafrechtlichen Garantenpflichten zu übertragen, so kann man auf diese Weise wieder genau die neuere Strafrechtsdogmatik rekonstruieren. So hält Schultz die Obhutspflichten dann für begründet, wenn beim Erwartenden keine Fahrlässigkeit hinsichtlich eines durch das Versagen des Übernehmenden eingetretenen Erfolgs besteht 21 . "Vertrauensinvestitionen" im strafrechtlichen Sinne sind insoweit von Belang, als der Vertrauende gerade aufgrund des Vertrauens eigene Schutz- und Überwachungsmaßnahmen unterlassen haben muß 22. Neuerdings greift man schließlich für den Vertrauensbegriff auf die Rechtssoziologie Luhmanns zurück: Berechtigt soll eine Erwartung demnach dann sein, wenn sie sich beim Erwartenden sozial verfestigt hat oder wenn der Erwartungsadressat seinerseits solche Erwartungen erwartet hat 23 . Vergleicht man diese Entwicklung mit der traditionellen Privatrechtsabhängigkeit der Garantenpflichten in Kategorien wie "Vertrag" und "Gesetz", so dürfte eines deutlich werden: Die Abhängigkeit hat keineswegs nachgelassen, sondern ist eher noch verstärkt worden. Vertrag und Gesetz sind in der strafrechtlichen Diskussion häufig noch durch besondere Kautelen ergänzt worden. Man stellte auf vertragliche Pflichten von einem erheblichen Gewicht und auf gesetzliche Pflichten von großer Tragweite ab. Nunmehr hingegen werden privatrechtliche Pflichten direkt ins Strafrecht übernommen.

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Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 116 f. Roth, Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 2,2. Aufl., 1985, § 242, Rn. 297. Teubner, AK-BGB, Bd. 2, 1980, § 242, Rn. 31 m. Nachw. M. Schultz, Amtswalterunterlassen, 1984, S. 270. Arzt, JA 1980,652 f.; Schönke / Schröder-Stree, StGB, § 13, Rn. 27. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 169 f.

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V. Die Strafrechtsferne der privatrechtlichen Kriterien Sie mögen jetzt vielleicht fragen, was daran überhaupt zu beanstanden sei. Ist es denn nicht im Sinne des zu Beginn genannten Begriffs von der Einheit der Rechtsordnung begrüßenswert, daß verschiedene Teilrechtsordnungen vom selben Rechtspflichtbegriff ausgehen? Um meine insoweit bestehende Skepsis plausibel zu machen, bedarf es wohl noch eines genaueren Blicks auf den ideengeschichtlichen Hintergrund der Begründung einiger neuerer privatrechtlicher Rechtspflichten. Der schon erwähnte v. Bar versteht die privatrechtlichen Verkehrspflichten als "eine Übertragung des Gedankengutes der Gefährdungshaftung in die Fahrlässigkeitshaftung"24. Es geht also auch nicht mehr entfernt um die Verantwortlichkeit für eigenes Handeln, sondern um vielfältige andere haftungsbegründende Erwägungen. Haften soll z. B., wer aus der Gefahr ideellen oder wirtschaftlichen Nutzen zieht oder wer sich gegen die Gefahr am besten versichern kann. Ganz ähnlich steht es um die quasivertragliche Verpflichtung. Gerade im Interesse des Vertrauensschutzes soll dort eine willens- und konsensunabhängige vertragsähnliche Haftung begründet werden. In beiden Bereichen sind es also vielfache Gerechtigkeitserwägungen, die im Hintergrund solcher Haftungsbegründungen stehen. Man orientiert sich an der Leistungsfähigkeit des Haftenden, an der Schutzbedürftigkeit des Opfers, an der gesamtgesellschaftlich optimalen Verteilung der Haftung und vielen anderen Erwägungen. Demgegenüber war das Strafrecht immer, welche Steuerungsleistungen man im übrigen auch von ihm erwartete, an der individuellen Verantwortung von Tätern interessiert. Es stand und steht deshalb in einer gewissen Nähe zu willensund verantwortungsorientierten Haftungsformen in anderen Teilrechtsordnungen. Dies gilt etwa für das klassische Deliktsrecht, das ja in seinen Zurechnungsvoraussetzungen Ähnlichkeiten mit dem Strafrecht aufweist. Dies gilt auch für das klassische Vertragsrecht, das gerade in seiner Ausprägung durch den deutschen Idealismus von der Willenszurechnung bestimmt war. Diese strukturellen Ähnlichkeiten erklären auch, warum traditionell die Haftungsvoraussetzungen in Privatrecht und Strafrecht eher quantitativ differenziert wurden: Besonders bedeutsame Rechtsgüter und besonders schwere Verletzungen von Rechtsgütern sollten zusätzlich zum Privatrecht auch noch vom Strafrecht erfaßt werden. Vergleicht man aber nunmehr die traditionellen und im Prinzip auch heute noch hochgehaltenen strafrechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen mit denen in einem Teilbereich des modemen Privatrechts, so fällt der Unterschied ins Auge: Auf der einen Seite geht es um individuelle Verantwortung und Schuld gekoppelt mit einem sozialethischen Vorwurf, auf der anderen Seite jedenfalls zusätzlich um Verteilungsgerechtigkeit.

24 ehr. v. Bar, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd.lI, 1981, S. 1715.

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VI. Zurechnungsschwierigkeiten Damit ist die Differenz gekennzeichnet, die das überkommene Strafrecht zu denjenigen Haftungsvoraussetzungen aufweist, die nunmehr an einer Stelle, nämlich bei den Garantenpflichten, unmittelbar in das Strafrecht übernommen werden. Noch nicht begründet ist damit, warum das Strafrecht denn nicht künftig seine klassischen Zurechnungsvoraussetzungen verabschieden und, auf den Zug der Zeit aufspringend, fehlverhaltensunabhängige Haftungsvoraussetzungen übernehmen sollte. Der Einwand dagegen lautet, daß die Übernahme privatrechtlicher Haftungsgründe in die Garantenpflichtdogmatik Zurechnungsschwierigkeiten im Strafrecht schafft. Folgt man der modernen Strafrechtsdogmatik, dann wird der Garant zur Verantwortung gezogen unter Rekurs auf ein ganz anderes rechtliches Steuerungsprogramm, eben das des modernen Privatrechts. Dem Garanten wird vorgeworfen, daß er eine bereits in Gang befindliche Entwicklung hin zu einer Rechtsgutsverletzung nicht verhindert hat, obwohl er kraft organisatorischer oder institutioneller Nähe oder wegen bestehenden Vertrauens dies hätte tun müssen 25. Die strafrechtliche Zurechnung orientiert sich hierbei an sozialen Standards wie Zuständigkeit oder Vertrauen, die sich durch Änderungen der sozialen Randbedingungen ständig selbst verändern. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verwaltungsakzessorietät, z. B. im Umweltstrafrecht, läßt sich hier erkennen. In der Verwaltungsakzessorietät macht sich das Strafrecht abhängig von Verordnungen und Verwaltungs akten, die heute so und morgen anders lauten können, deren Inhalt also von der jeweiligen Verwaltungszweckmäßigkeit bestimmt wird. Die Privatrechtsakzessorietät der Garantenpflichtdogmatik wirkt in ihrer Orientierung an Gefahrverantwortlichkeit und Vertrauen ähnlich wechselhaft und zweckorientiert, leidet zusätzlich aber unter einer im Strafrecht schwer erträglichen Unbestimmtheit. Das hat aber zur Folge, daß, anders als im traditionellen Strafrecht, die jeweilige Zurechnung sich nicht als evident aufdrängt, sondern als ein post factum erst noch vorzunehmender Akt erscheint. Es ist erst diese explizit so erfolgende Zuschreibung unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, die den Täter aus dem Kreis der Konfliktbeteiligten heraushebt. Zugeschrieben wird somit, für jeden erkennbar, nach Kriterien, die aufgrund anderer und vielleicht nicht minder einleuchtender privatrechtlicher Zweckmäßigkeitserwägungen auch anders hätten ausfallen können. Dieser Mangel an Zurechnungsevidenz, die doch für einen sozialethischen Tadel traditionell für erforderlich gehalten wurde, schafft Zurechnungsprobleme. Die Tat kann im Falle eines Unterlassungsdelikts, wie es heute formuliert wird, nicht selten "am Täter vorbei erklärt werden"26.

25 Zu, diesen Kategorien Jakobs, AT 29 / 28 ff. 26 Jakobs, ZStW 89 (1977), 2 f.

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VII. Das Kohärenzgebot

Auch hier freilich läßt sich weiter fragen: Muß das Strafrecht nicht solche Zurechnungsprobleme hinnehmen? Sind sie nicht der Preis für den Anschluß an eine moderne Dogmatik, der Preis auch für den Erhalt einer Einheit der Rechtsordnung? Die zunehmende Bedeutung von Unterlassungsdelikten ist offensichtlich ein Phänomen der modernen Gesellschaft 27. Das Anwachsen staatlicher Leistungsverwaltung einerseits und des privaten Dienstleistungssektors andererseits in den Bereich vorher rein individueller Daseinsvorsorge hinein wirkt sich aus in Phänomenen wie einer Zunahme von Arbeitsteilung und Automatisierung: Der einzelne kann immer weniger der ihm primär selbst obliegenden Gefahrabwehr oder Sorge für Schutzbefohlene gerecht werden und muß sie deshalb auf andere arbeitsteilig übertragen. Aber auch die sozialplanerische Umorientierung staatlicher Eingriffsverwaltung verschärft die Frage nach entsprechenden Handlungspflichten der Allgemeinheit oder einzelnen gegenüber. Es wächst also im modernen Staat die kriminalpolitische Bedeutung der Unterlassungsdelikte wo sich die Fakten verändern, muß sich da das Strafrecht nicht auch verändern? In dieser Situation die Zurechnungszurückhaltung des klassischen Strafrechts etwa des 19. Jahrhunderts zu beschwören, mag da anachronistisch erscheinen, ein Plädoyer für das Abstellen des Strafrechts auf individuelle Verantwortlichkeit gar archaisch. Sicher läßt sich lange darüber diskutieren, ob typische soziale Probleme des späten 20. Jahrhunderts, wie z. B. die Umweltverschmutzung oder der BetäubungsmiUelmißbrauch, mit dem Instrumentarium des Strafrechts besonders sinnvoll erfaßt werden können. Eine ganz andere Frage aber ist, ob dort, wo der Gesetzgeber sich für eine strafrechtliche Problemerfassung entschieden hat, die Rechtswissenschaft nicht mindestens Kohärenz in den Wertungen fordern muß, eine Vermeidung von Wertungswidersprüchen. Das Strafrecht kennt nun einmal Sanktionen wie Geldzahlung an den Staat oder Freiheitsentzug, verbunden mit einem sozialethischen Tadel, die in dieser Kombination in anderen Rechtsgebieten nicht bekannt sind. Die strafrechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen müssen zu solchen Rechtsfolgen passen. Rechtsfolgen von massivem Eingriffscharakter, noch dazu mit einem sozialethischen Tadel, passen aber nur für ein Zurechnungssystem, das an der individuellen Verantwortung des Handelnden ansetzt. Sicher mag es vielerlei gute Gründe geben, die Zurechnungsvoraussetzungen zu verändern, sie neuen Entwicklungen in der Gesellschaft und neuen Wertemustern anzupassen. Dann aber muß dies aus den genannten Kohärenzgründen Konsequenzen für die Rechtsfolgen haben: Wer nach Zweckmäßigkeitskriterien tadelsfrei zurechnet, muß insoweit das Strafrecht verlassen. Wer aus präventiv vielleicht sehr vernünftigen Gründen den Anschluß an privatrechtliche Haftungsvoraussetzungen sucht, der muß die Nähe zu diesem anderen Rechtsgebiet auch bei den 27

Ausführlich zum Folgenden Seelmann, AK-StGB § 13, Rn. 7.

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Rechts/olgen berücksichtigen. Wer umgekehrt an einer Sanktion mit sozialethischem Tadel für bestimmte Bereiche festhalten will, der sollte sich auch um die gewohnte Zurückhaltung des Strafrechts bei den Zurechnungsvoraussetzungen bemühen.

VIII. Folgerungen aus dem Kohärenzgebot bei den Garantenpflichten Versuchen wir nunmehr, aus diesen Kohärenzüberlegungen Folgerungen für die Dogmatik der Unterlassungsdelikte zu ziehen. Sollte man sich dort von strafrechtlichen Sanktionen fortbewegen oder wieder auf traditionelle Zurechnungsvoraussetzungen zurückgreifen? Schon lange gibt es einen auch internationalen Disput darüber, ob die Strafbarkeit von Unterlassungsdelikten nicht in einigen Randbereichen zu weit greift 28. Man muß kein Abolitionist sein, um an der Strafwürdigkeit des Unterlassungsversuchs und des fahrlässigen Unterlassens gewisse Zweifel zu verspüren. Aber auch, wer keine ausgeprägten Strafbedürfnisse hat, wird sich schon aus sehr praktischen Gründen davor hüten, eine gänzliche Abschaffung der sogenannten unechten Unterlassungsdelikte, entsprechend der Situation in Frankreich 29, zu fordern. Der Effekt wäre dann nämlich sehr schnell auch derselbe wie in Frankreich. Die Gerichte würden auf dem Wege der prozessualen Beweiswürdigung die Handlungsaspekte in mancher Unterlassungssituation deutlicher hervorkehren oder, vorsichtiger formuliert, die häufig anzutreffende prozeßrechtlich bedingte Umdeutung eines Handeins in ein Unterlassen würde viel seltener. So zieht man heute Kfz-Halter, die andere nicht am Fahren gehindert haben, mitunter deshalb als Unterlassungstäter heran, weil sich nicht nachweisen läßt, daß sie selbst gefahren sind. Ärzte sind nicht eines aktiven Fehlverhaltens, wohl aber eines Unterlassens der indizierten Behandlung zu überführen. Verantwortliche in bestimmten Räumlichkeiten mögen in Verdacht stehen, bestimmte Straftaten begangen zu haben, nachweisen aber läßt sich vielleicht nur, daß sie jedenfalls die Straftaten anderer nicht unterbunden haben. Man wird den Gerichten nicht zu nahe treten, wenn man argwöhnt, daß beim Fehlen einer Unterlassungsstrafbarkeit manche Beweissituation großzügiger interpretiert werden könnte.

Nicht zuletzt aus solchen praktischen Gründen erscheint es angezeigt, die Kohärenz zwischen Straftatvoraussetzungen und Straftatfolgen bei den Unterlassungsdelikten nicht durch Entfernung der Unterlassungsdelikte aus dem Strafrecht herzustellen. Die Kohärenz ist vielmehr mit Hilfe einer Rückbesinnung auf traditionell strafrechtliche Zurechnungskriterien zu gewährleisten. Wie aber bestimmt sich ein solches genuin strafrechtliches Zurechnungsschema? Es bestimmt sich, 28 V gl. nur die Entschließungen des Internationalen Strafrechtskongresses vom 1984, ZStW 97 (1985), 732. 29 Dazu leschek, Strafrecht Allg. Teil, 4. Aufl., 1988, S. 553.

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wie schon angedeutet, von den massiv eingreifenden und tadelnden Rechtsfolgen her. Wer tadelt, setzt individuelle Verantwortung voraus, und wer so massiv tadelt, wie man es mit einer Strafrechtssanktion tut, der setzt eine sehr gewichtige individuelle Verantwortung voraus. Ein solcher an Verantwortung orientierter Rechtspflicht- und Rechtsbegriff wird in der Philosophie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts begründet.

IX. Der dem Strafrecht adäquate Rechtsbegriff Daraus darf, dies soll nur zur Vermeidung von Mißverständnissen vermerkt werden, nicht geschlossen werden, man müsse zur Garantenpflichtdogmatik des frühen 19. Jahrhunderts zurückkehren. Es soll also nicht etwa eine Rückkehr zu Feuerbach, eine Rückkehr zu Garantenpflichten aus Gesetz und Vertrag 30 postuliert werden. Damit wäre, wie sich aus dem Gesagten schon ergibt, für einen strafrechtlichen Rechtspflicht- und Rechtsbegriff überhaupt nichts gewonnen. Die heute im modemen Privatrecht diskutierten Rechtspflichten lassen sich nämlich allesamt auf Gesetz und Vertrag zurückführen. Die Verkehrspflichten des modemen Schuldrechts sind aus dem BGB entwickelt worden, aus dessen §§ 823 und 831 ff. Auch die quasivertragliche Haftung wird nicht - oder selten - als Haftung neuen Typs aufgefaßt. Man versucht vielmehr, sie in den Rahmen einer Neubestimmung des Vertragsbegriffs einzufügen. Nicht also ein Rückgriff auf die Garantenpflichtdogmatik des frühen 19. Jahrhunderts, sondern allein auf den damals entwickelten Rechtsbegriff ist für die modeme Garantenpflichtdogmatik zu fordern. Der Rechtsbegriff, um den es mir hier geht, entstand nicht zufällig zeitgleich mit dem Beginn einer aus heutiger Sicht wissenschaftlichen Behandlung des Strafrechts. Es geht um einen Rechtsbegriff, der seit dem 18. Jahrhundert mit einem ganz bestimmten Ziel entwickelt wurde: Dem Ziel einer Abgrenzung zur Moral und damit verbunden der Legitimation staatlichen Zwangs. Staatlicher Zwang soll immer nur zum Zweck der Ermöglichung gleicher Freiheitssphären aller Bürger, gewissermaßen zur Freiheitsoptimierung, eingesetzt werden. Es sollte nicht Aufgabe des Rechts sein, eine bestimmte Vorstellung moralisch richtigen Verhaltens zwangsweise durchzusetzen. War dies einmal akzeptiert, so konnten nur Verletzungen der Freiheitssphäre des andern mit einer Sanktion belegt werden; positive Zuwendung zum anderen war allein eine Forderung der Moral. Thomasius entwickelte als erster diese Vorstellung vom Rechtsgebot als einem bloßen Nichtinterventionsgebot 31 • Auch Kant differenziert zwischen Rechtspflichten und nur moralischen Pflichten danach, ob es um das Verbot 30 31

So aber Seebode. FS Spendel, 1992, S. 317,344. Thomasius, Fundarnenta luris Naturae et Gentium. 1705, 1. Buch. 4. Kap., §§ 89 ff.;

5. Kap., § 24.

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eines Eingriffs in die Freiheitsrechte oder um die Förderung des Wohlergehens anderer geht 32. Man würde die Autoren jener Zeit freilich erheblich unterschätzen, wollte man ihnen unterstellen, für sie seien Rechtspflichten deshalb immer nur Unterlassungs- und niemals Handlungspflichten. Schon Hegel hat ausführlich diese Unterscheidung erörtert und begründet, warum sehr wohl auch Handlungspflichten Rechtspflichten sein könnten: Dann nämlich, wenn jemand sich durch sein vorheriges Handeln die Verantwortung für ein späteres Unterlassen selbst auferlegt habe 33 • Es sei hier nur am Rande erwähnt, daß selbst die Begründung des modernen Sozialstaats unter dieser Prämisse keine allzu großen Schwierigkeiten macht. Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit allerdings, die über diese Grenze der Handlungsverantwortung hinausgehen, dürften, wie unschwer einleuchtet, jedenfalls in einem Rechtsgebiet, das sozialethische Tadelsurteile verteilt, nicht begründbar sein. Das war auch Autoren um die Jahrhundertwende noch geläufig. Binding hielt fest, daß "nur durch Nichthemmen selbstgesetzter Kausalitäten ... Verursachung durch sog. Unterlassen möglich" seP4. Zwar erscheint uns heute die Formel von der Verursachung durch Unterlassen als mißverständlich und für die Zurechnungslehre durchaus entbehrlich. Unentbehrlich und keineswegs überholt ist dagegen die Forderung, strafrechtlich relevantes Unterlassen nur als Nichthemmen selbstgesetzter Kausalitäten zu begreifen. Es bedarf mit anderen Worten nach wie vor für eine Garantenpflicht einer Verletzungs-Kausalität der Vorhandlung. Nur diese Voraussetzung verträgt sich mit dem Begriff von Handlungsverantwortung, ohne die wir einen Tadel nicht aussprechen können.

x. Folgen für aktuelle Fragen der Garantenpflichtdynamik Lassen sie mich daraus noch kurz die Konsequenzen für eine moderne und gleichwohl am strafrechtlichen Rechtsbegriff orientierte Garantenpflichtdogmatik ziehen 35. Fordert man für jede Garantenpflicht ein vorausgehendes verantwort liches Handeln, so muß dies in gleicher Weise für die Sicherungs- wie Obhutspflichten gelten. In beiden Fällen muß der Pflichtige durch sein Vorverhalten selbst die Ursache für die spätere Verletzung gesetzt haben. Im Falle einer Sicherungspflicht muß der Garant die Gefahr selbst geschaffen oder aber die Verantwortung für eine Gefahrenquelle durch sein Handeln übernommen haben. Im Falle einer Obhutspflicht muß der Garant die Abwehrbereitschaft gegenüber einer Gefahr übernommen und sie eben dadurch dem primär Gefährdeten oder primär Abwehrverpflichteten - wieder durch sein Handeln - abgenommen 32 Kant, Metaphysik der Sitten (zuerst erschienen 1797), hrsg. v. W. Weischedel, Band IV, 1956, Einleitung in die Tugendlehre. 33 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (zuerst erschienen 1820), hrsg. v. E. Moldenhauer / K. M. Michel, Bd.7, 1970, § 38, S. 96 f. 34 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2, 2. Aufl., 1914, S. 588. 35 Ausführlich Seelmann, AK-StGB, § 13, Rn. 98 ff.

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haben. Egal also, ob es sich um eine Verantwortung für eine Gefahrenquelle handelt, wem auch immer der Schaden droht, oder um die Verantwortung für ein Rechtsgut, woher auch immer die Gefahr kommen mag, in beiden Fällen muß verantwortliches Handeln die Voraussetzung für eine spätere Handlungspflicht sein. Eine ganze Reihe heute aus unmittelbarer Privatrechtakzessorietät geschaffener Garantenpflichten kann deshalb schwerlich begründet werden. Das gilt für eine bloß organisatorische oder institutionelle Zuständigkeit z. B. aufgrund des Vorteils, den man aus dieser Zuständigkeit zieht, es gilt aber auch für die bloße Existenz einer Vertrauensbeziehung. Enge Lebensgemeinschaften, Haus-, Familien-, Gefahren- und Wohngemeinschaften können für sich genommen strafrechtlich relevante Garantenpflichten nicht begründen. Man wird nicht etwa deshalb zum Garanten, weil man eine bestimmte Fabrik geerbt hat - man wird es erst, wenn man ein Handeln an den Tag legt, das als Übernahme der Gefahrverantwortlichkeit interpretiert werden kann. Man wird nicht dadurch zum Garanten, daß ein anderer Vertrauen gefaßt hat. Man wird es erst dann, wenn man ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das, vernünftig bewertet, beim anderen den Eindruck erwecken konnte, man würde zum Schutz in Notfällen bereitstehen. Die heute nicht selten verwischten Grenzen zwischen einer Jedermannspflicht zur Hilfe bei Unglücksfällen im Sinne des § 323c StGB und einer Garantenpflicht können erst so wieder ihre Konturen erhalten.

XI. Zusammenfassung Ich komme zum Schluß und fasse noch einmal zusammen. Eine Garantenpflichtdogmatik, die sich von privatrechtlichen Haftungsbegründungen abhängig macht, ist nichts wirklich Neues. Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts koppelt man Garantenpflichten an Verträge und -lange Zeit in erster Linie privatrechtliche - Gesetze. Paradoxerweise führte teilweise gerade die Kritik daran zu einer noch engeren Anbindung an das Privatrecht: Strafrechtliche Sicherungspflichten sind weitgehend identisch mit privatrechtlichen Verkehrspflichten, strafrechtliche Obhutspflichten mit quasivertraglicher Haftung. Daraus entstehen im Strafrecht Zurechnungsprobleme, die einem Wertungswiderspruch entspringen. Wo das Strafrecht sich mit seinen Garantenpflichten von Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit abhängig macht, paßt dies nicht mehr zu seinem sozialethisehen Tadel, den es in seinen Sanktionen ausspricht. Abhilfe kann hier nur das Bemühen um einen Rechtsbegriff für § 13 StGB schaffen, der eben diese Orientierung an einer tadelnden Sanktion reflektiert. Dies kann nur ein Rechtsbegriff sein, der an die Verantwortung des Pflichtigen für seine vorausgehenden Handlungen anschließt. Ein solcher Rechtsbegriffist an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gemeinsam mit einer systematischen Zurechnungslehre des Strafrechts entwickelt worden. Es ist ein Rechtsbegriff, der zwar aus dem Verletzungsverbot resultiert, 7 Vielfalt des Rechts

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Handlungspflichten aber immer dort statuiert, wo durch verantwortliches Handeln Gefahren geschaffen oder übernommen worden sind oder wo anderen die Abwehrbereitschaft entzogen worden ist. Von der Einheit der Rechtsordnung scheint angesichts dieses spezifisch strafrechtlichen Rechts- und Rechtspflichtbegriffs wenig übrig zu bleiben. Doch dieser Eindruck trügt möglicherweise. Vielleicht sind es verschiedene Aufgaben, die die Teilrechtsordnungen zu erfüllen haben, und die nur durch ein gemeinsames Ziel zusammengehalten werden. Ein solches Ziel könnte die Aufrechterhaltung einer allgemeinen wechselseitigen Anerkennung der Rechtssubjekte als frei und gleich sein. Sollte hierbei das Ziel des Strafrechts, wie dies heute immer wieder gesagt wird, die Gewährleistung einer ultima ratio des Rechtsgüterschutzes durch einen Tadel, also eine rechtliche Statusminderung, sein, so wird sich dies auf seine Zurechnungsvoraussetzungen auswirken. Daß diese strenger sind als in anderen Rechtsgebieten, ist dann gerade Ergebnis einer arbeitsteiligen Einordnung des Strafrechts in die Gesamtrechtsordnung.

Öffentliches und privates Nachbarrecht oder: Einheit der Umwelt-Rechtsordnung Von Jürgen Schwabe

I. Doppelsicherung von Schutzgütern durch öffentliches und privates Recht Einheit der Rechtsordnung meint nicht ihre Ungeteiltheit, sondern verlangt nur und hauptsächlich, daß verschiedene Rechtsteilgebiete keine einander widersprechenden Lösungen enthalten. Die Sonderung der Rechtsmasse in verschiedene Rechtsgebiete ist uns allen selbstverständlich. Schon im ersten Semester lernt jede Studentin, jeder Student die Trias Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht kennen und bald darauf auch die weiteren Unterteilungen wie beispielsweise Bürgerliches Recht, Gesellschaftsrecht, Wertpapierrecht oder Polizeirecht, Baurecht, Steuerrecht. Nicht jedem Studienanfänger wird sogleich klar, daß die Ausdifferenzierung der Rechtsordnung nicht mit dieser Dreiteilung beginnt, sondern schon eine Verfeinerung der für unser Rechtssystem grundlegenden Zweiteilung in öffentliches und privates Recht ist. Strafrecht bildet einen Sonderzweig des öffentlichen Rechts. Wenn unser Recht in zwei Blöcke aufgeteilt ist, muß ein Normgeber sich bei jedem Regelungszweck fragen, ob das öffentliche oder das private Recht eingesetzt werden soll oder gar beide. Das Verfahren von Staatsorganen ist offensichtlich eine Domäne des öffentlichen Rechts, die Bestimmung eines Erben ist dem bürgerlichen Recht vorbehalten. Freilich muß man sich bei den rein privatrechtlichen Regelungen klar machen, daß durchweg hinter ihnen und zu ihrer Durchsetzung das öffentliche Recht mindestens in Bereitschaft steht. Denn die Erzwingung privatrechtlicher Verpflichtungen beruht auf öffentlichem Prozeß- und Zwangsvollstreckungsrecht. Überaus häufig wird aber für einen Regelungszweck das öffentliche Recht nicht nur in diesem Sinne als notwendiges Sanktionsinstrument dem Privatrecht beigeordnet, sondern parallel zur Verhaltenssteuerung eingesetzt. Die Verhütung dessen, daß A den B verprügelt, ist zum einen Aufgabe der Polizei sowie Präventionszweck des Strafrechts, also öffentlichrechtlich erfaßt. Zum anderen aber soll nicht nur die privatrechtliche Schadensersatzverpflichtung den Angreifer abschrecken, der Angegriffene hat auch einen privatrechtlichen Unterlassungsanspruch. Daß dieser in der Praxis kaum jemals von Nutzen ist, weil der mit Prügel 7*

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Bedrohte nicht Schutz durch eine einstweilige Verfügung des Zivilrichters sucht, sondern sich der Polizei anvertraut, steht auf einem anderen Blatt und ändert am Grundsatz der doppelten Regelung nichts. Es kann dies höchstens Anlaß sein, auf Fälle zu sehen, in denen die Doppelregelung voll effektiv ist. Dafür muß man nur die Bedrohung durch Prügel auswechseln gegen eine solche durch gesundheitsschädliche Abgase. Der Bedrohte kann (und wird häufig) einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend machen und / oder behördliches Einschreiten bewirken. Und damit sind wir zugleich beim Nachbarrecht angelangt und auch beim Umweltrecht. Und wir haben den - natürlich noch sehr banalen - Befund, daß im Nachbarrecht häufig ein Schutzzweck parallel mit öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Mitteln verfolgt wird. 11. Ausnahmen hiervon

Diesem Neben- und Miteinander werden wir uns im folgenden näher zuwenden. Ich muß aber zuvor darauf hinweisen, daß diese Doppelung des Rechtsgüterschutzes nicht für das ganze Umweltrecht charakteristisch ist. Zum einen gibt es schmale Bereiche des Nachbarrechts, die nur privatrechtlich geregelt sind, etwa das Recht der Grenzbepflanzung. Hier haben Behörden und Strafrichter keine Befugnisse, folglich bedarf es keiner öffentlichrechtlichen Normen. (Nur das öffentliche Prozeß- und Zwangsvollstreckungsrecht steht wieder in Reserve.) Umgekehrt wird die Erhaltung eines Naturdenkmals oder einer Tierart ausschließlich öffentlichrechtlich geregelt. Weil hier ein zweiter Privater neben dem Schädiger nicht beteiligt ist, gibt es für das Privatrecht (= das zwischen und unter Privaten (Plural!) geltende Recht) nichts zu bestimmen. Allerdings verläuft die Trennlinie nicht so, daß eine Doppelregelung Platz greift, sobald es um den Schutz des Menschen oder ihm zugehöriger Rechtsgüter geht, wohingegen allein das öffentliche Recht sich aller übrigen Rechtsgüter, der Natur und ihrer Bestandteile, anzunehmen habe. So geht es beim Verbot bestimmter Chemikalien oder der Bodenverseuchung ausschließlich oder zumindest auch um den Schutz des Menschen, und dennoch wird hier meist eine ausschließlich öffentlichrechtliche Regelung angebracht sein. Wenn im Außenbereich ohne Nachbargefährdung Böden kontaminiert werden, macht es wenig Sinn, einem (welchem?) Privaten einen Unterlassungsanspruch einzuräumen; bestenfalls ließe sich an eine Verbandsklage denken, die wir aber hier außer acht lassen wollen. Es ist evident, daß von diesen beiden Blöcken des Umweltrechts, dem nur öffentlichrechtlich bestimmten und dem durch Doppelreglementierung erfaBten, der letztgenannte, und zu ihm gehört das N achbarrecht, die interessantesten (Koordinierungs-)Fragen für die Einheit der Rechtsordnung aufwirft. Ihnen wollen wir uns sogleich zuwenden. Ich muß aber noch vor dem Mißverständnis warnen, daß in dem anderen, dem rein öffentlichrechtlichen Block, die Einheit der Rechtsordnung eine Selbstverständlichkeit sei. Sehr wohl kann es hier bei-

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spielsweise an einer widerspruchsfreien Koordinierung der verwaltungsrechtlichen und der strafrechtlichen Bestimmungen fehlen, was für das Umweltstrafrecht mancherlei Probleme aufwirft. Und gelegentlich bedarf es überraschenderweise einer Abstimmung mit dem Zivilrecht ungeachtet dessen, daß an sich nur eine gleichsam eindimensionale Regelung vorliegt wie beispielsweise beim Artenschutz. Aber im berühmt-berüchtigten Ingolstadter Froschfall, für dessen Bewältigung der BGH nicht weniger als 30 DIN-A-4 Seiten benötigte l , wurde der zivilrechtliehe Anspruch auf Störungsbeseitigung, sprich: Entfernung der männlichen Frösche (nur sie quaken), durch die öffentlichrechtlichen Artenschutznormen blockiert, jedenfalls vorläufig bis zu einer behördlichen Genehmigung der Frosch-Umquartierung.

III. Die "Neutralität" von Imperativen und ihrer Durchbrechung in Form von Rechtfertigungsgründen Wenn wir uns nun näher dem zentralen Problem, dem Neben- und Miteinander des öffentlichen und privaten Rechts beim Nachbarsschutz, zuwenden, müssen wir uns naturgemäß auf die Eigenart von öffentlichem und privatem Recht besinnen. Überraschenderweise geschieht dies jedoch selten oder nie. Üblicherweise liest man: das BGB und Ausführungsgesetze der Länder zum BGB oder Nachbargesetze der Länder enthalten das Zivilrecht, wohingegen das BImSchG und das Baurecht das öffentliche Recht stellen. Das ist jedoch keinesfalls so selbstverständlich wie es den Anschein hat. § 22 BImSchG lautet: Nicht genehmigungs bedürftige Anlagen sind so zu errichten und so zu betreiben, daß 1. schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, 2. nach dem Stand der Technik unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden und ... Diese Bestimmung könnte aber genauso gut Bestandteil von § 906 BGB sein, der minutiös regelt, welche wesentlichen Immissionen ein Grundeigentümer hinzunehmen hat und welche anderen er mit Hilfe des § 1004 BGB abwehren kann. Würde sich nun der § 22 bei seiner Umsetzung in das BGB von öffentlichem Recht in Privatrecht verwandeln? Wir sind hier gar nicht auf den Irrealis, auf ,,könnte" und "würde" angewiesen. Zahlreiche Nachbarrechtsregeln wurden aus ursprünglich privatrechtlichen KodifIkationen in baurechtliche, also öffentlichrechtliche transferiert. Und manche führen eine Art Doppelleben sowohl in privatrechtlichen Nachbarrechtsgesetzen wie auch in öffentlichrechtlichen Bauordnungsnormen. 1 BGH, NJW 1993, 925 = LM § 823 BGB, Dd Nr. 22 m. Anm. Rehbinder = JR 1993,237 m. Anm. Schwabe. Besprechungsaufsatz von Viehweg, NJW 1993,2570.

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Das Preußische ALR, bekanntlich ein Kompendium des gesamten privaten wie öffentlichen Rechts, enthält alles Nachbarrecht im 8. Titel seines ersten Teils, der "vom Eigenthum" handelt. Art. 124 EGBGB beließ den Ländern die Kompetenz, in Ausführungsgesetzen zum BGB oder in speziellen Nachbarrechtsgesetzen ergänzendes ziviles Nachbarrecht zu setzen. Das eröffnete nun vielfältige Möglichkeiten: Man konnte auf eine Regelung in einem Privatrechtsgesetz verzichten und statt dessen eine Anordnung im Baurecht treffen. So ist heute in Hamburg das sog. Fenster- und Lichtrecht (es regelt u. a. die Zulässigkeit von Fenstern in grenznahen Wänden) nur im Baurecht geregelt. (Wie wir sehen werden, bedeutet das aber nicht, daß diese Regelung privatrechtlieh irrelevant sei.) Man konnte zweitens sich mit der Regelung in einem Ausführungsgesetz zum BGB oder in einem Nachbarrechtsgesetz begnügen. Das trifft beispielsweise für die bereits erwähnte Frage zu, welchen Abstand die Bäume oder Sträucher des Nachbarn halten müssen. Die dritte und für uns interessanteste Möglichkeit besteht darin, ein Nachbarschaftsproblem sowohl im Baurecht wie auch im AGBGB oder im NachbarrechtsG zu regeln; das war vorhin mit Doppelleben gemeint. Dabei gibt es wiederum zwei Regelungstechniken: die inhaltsgleiche oder die divergente Doppelregelung. Die inhaltsgleiche Doppelregelung geschieht am einfachsten durch Verweisung. So heißt es beispielsweise im NachbarrechtsG des Landes SchleswigHolstein 2 : § 42 Grenzabstand (1) Mit der Außenwand eines Gebäudes und vorspringenden Gebäudeteilen ist

mindestens der in öffentlichrechtlichen Vorschriften bestimmte Abstand zum Nachbargrundstück einzuhalten ... (2) Der Eigentümer des Nachbargrundstücks kann die Beseitigung eines Gebäudes oder Gebäudeteiles insoweit verlangen als der in Absatz 1 genannte Abstand nicht eingehalten worden ist.

Nun zur inhaltsverschiedenen Doppelregelung. Sie muß vernünftigerweise eine Eventualregelung derart sein, daß ein Privatrechtsgesetz eine Regelung vorbehaltlich einer abweichenden baurechtlichen Bestimmung enthält. Denn es wäre nicht sinnvoll, daß die Baubehörde einen Grenzabstand von 3 m genehmigen müßte, aber der Nachbar auf 5 m bestehen dürfte. Auch bei dieser subsidiär geltenden Regelung des AGBGB oder NachbarrechtsG gibt es zwei Regelungstechniken (oder muß man auch hier auf neudeutsch Technologien sagen?). Entweder gilt bei abweichenden baurechtlichen Regelungen das ganze Privatrechtsgesetz nicht, so daß der Nachbar jedenfalls insoweit keine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage hat 3• Oder es tritt der im Privatrechtsgesetz festgelegte Grenzabstand zugunsten in der Fassung v. 19.11.1982 (GVOBl. S. 256, 281). So bestimmen es beispielsweise § 45 des Hess. NachbarG (v. 24.9.1962, GVBl. I S.417), §§ 1 und 2 des NachbarG NW (v. 15.4.1969, GVBl. S. 190) und § 1 n des NachbarG RP (v. 15.6.1970, GVBl. S. 198). 2

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des im Baurecht normierten zurück, aber auf die Einhaltung des letzteren wird auch ein privatrechtlicher Anspruch verliehen. So hieß es etwa in einem AG zum BGB von 1899 4 : Der Eigentümer eines Grundstücks kann verlangen, daß auf dem Nachbargrundstükken nicht schadendrohende Anlagen hergestellt werden, ohne daß der Abstand, der nach polizeilichen Verordnungen zwischen der Anlage und der Grenze ... belassen werden soll, gewahrt ist ... Bestehen keine Verordnungen, so kann verlangt werden, daß ein Abstand von 1 m von der Grenze eingehalten wird. Zu diesen Anlagen sind insbesondere Kanäle, Abtrittsgruben, Feuerheerde, Schmieden, Backöfen oder andere Oefen, sowie Niederlagen für Aetzstoffe zu rechnen. Das alles erlaubt -

mindestens -

folgende Vermutung:

Die Unterbringung einer Norm im Bürgerlichen Gesetzbuch macht sie noch nicht zwangsläufig zu bürgerlichem Recht, so wenig ihre Plazierung in eine Landesbauordnung sie automatisch in öffentliches Recht verwandelt. Die Beschriftung des Behälters klassifiziert nicht notwendig den Inhalt, vielmehr muß dieser materiell, nach sachlichen Kriterien bestimmt werden. Hierfür lege ich Ihnen der besseren Anschaulichkeit halber ein fiktives Normenpaket vor, nämlich ein Gesetz über den Betrieb von Rasenmähern mit Verbrennungsmotoren § 1 Rasenmäher mit Verbrennungsmotoren dürfen, sofern nicht das nächste Gebäude weiter als 300 m entfernt ist, nur werktags zwischen 9 und 12 Uhr betrieben werden. § 2 (1) Nachbarn können den Betreiber auf Einhaltung des § 1 in Anspruch nehmen. (2) Auf Antrag eines Nachbarn hat das zuständige Zivilgericht die Beachtung des § 1 zu erzwingen. § 3 Auf Antrag eines Nachbarn kann die Beachtung des § 1 durch die Ordnungsbehörde durchgesetzt werden. § 4 Ein Verstoß gegen § 1 wird als Ordnungswidrigkeit mit ... geahndet. § 5 Inkrafttreten. Dieses Gesetz ist leidlich realistisch, außer in folgenden Punkten: die enge Zeitbegrenzung in § 1, auf deren Sinn ich zurückkomme, ferner der § 2 11, eine eigentlich in der ZPO beheimatete Bestimmung, die ich aus didaktischen Gründen hier eingepflanzt habe, wie auch das Antragserfordernis bei § 3. Diejenige Bestimmung des Gesetzes, die in ihrer Struktur unserer Ausgangsnorm, dem § 22 BImSchG, entspricht, ist allein und ausschließlich der § 1. Ist der nun öffentliches oder privates Recht? Diese Frage hat es in sich, wie Sie gleich sehen werden. Sie wissen, daß sich zur Beantwortung dieser Frage die 4 § 7 des ABGB von Schwarzburg-Sondershausen. Ähnliche Regelung in § 62 des AGBGB von Elsaß-Lothringen sowie Artt. 85 und 86 des AGBGB von Hessen.

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sogenannte Interessentheorie als untauglich erwiesen hat und heute zu Recht nicht mehr vertreten wird, weshalb es keinen Sinn hat, nach den mit der Regelung verfolgten Interessen (ersichtlich, wie so oft: privaten und öffentlichen) zu fragen. Maßgeblich, weil bislang noch am tauglichsten, ist die sog. Subjektstheorie. Nach ihr ist, vereinfacht gesagt, Privatrecht das für jedermann geltende Recht, während durch öffentliches Recht der Staat als Hoheitsträger (und nicht nur in einer Jedermannsrolle, beispielsweise als Mieter) berechtigt oder verpflichtet wird, mithin ein auf ihn zugeschnittenes Sonderrecht vorliegt. Nun könnte man erwägen zu sagen, daß der Staat mit dem § 1 als befehlender Hoheitsträger in Erscheinung trete, es sich folglich deshalb um öffentliches Recht handele. Zu diesem Ergebnis kann man auch mit einer - eventuell vereinfachten oder abgewandelten - Subordinationstheorie kommen, denn normative Befehlserteilung ist Ausdruck übergeordneter Hoheitsgewalt. Indessen wissen Sie, daß auch diese Theorie wegen erwiesener Untauglichkeit (insbesondere im Hinblick auf die Leistungsverwaltung) heute nicht mehr vertreten wird. Ich muß noch erwähnen, daß kein geringerer als der große Strafrechtslehrer Binding - und nicht nur er - die Auffassung vertreten hat, jede Norm oder jedenfalls jeder Imperativ sei öffentlichrechtlicher Natur 5 • Die Folge wäre jedoch, daß das BGB hunderte von öffentlichrechtlichen Normen enthalten würde, eine offensichtlich unhaltbare Konsequenz. Unser Ergebnis ist folglich, daß sich eine Norm wie der § 1, d. h. eine an den Bürger gerichtete Befehlsnorm oder ein sog. Imperativ, der Zuordnung entweder zum öffentlichen oder privaten Recht entzieht. Ist damit die gesamte Zweiteilung unseres Rechts hinflillig? Nein, aber Ansatz zur Qualifizierung bieten erst die §§ 2-4, die sich auf die Durchsetzung des in § 1 niedergelegten Imperativs beziehen; man nennt sie auch zuweilen Sekundärnormen, die eine Befolgung der Primärnormen in Form der Imperative erzwingen sollen 6 • So ist denn die Anspruchsverleihung durch § 2 I unzweifelhaft Privatrecht, die Behördenermächtigung in § 3 ebenso wie die Sanktionsermächtigung in § 4 hingegen öffentliches Recht. Daß Zivilprozeßrecht - also der § 2 11 - dem öffentlichen Recht angehört, wurde schon erwähnt. Dieses Ergebnis, daß man reine Imperative weder als privat- noch als öffentlichrechtlich qualifizieren kann, wird für viele von Ihnen neu sein. Allein deshalb sollten Sie die These aber nicht sogleich als suspekt oder absurd verwerfen. Ich habe sie immerhin seit gut 20 Jahren im Schrifttum vertreten? und noch nirgends Widerspruch erfahren. Das ist ein Indiz entweder für eine solche Unsinnigkeit, die eine Entgegnung nicht lohnt, oder aber für Unwiderlegbarkeit. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen muß ich wegen Befangenheit natürlich 5 Die Normen und ihre Übertretung, Band I, 2. Aufl. 1890, S. 255. Zustimmend Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 109, und Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe n, 1874 ff., S. 175. 6 Vgl. u. a. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl. 1990, § 2. ? Die sog. DrittwirkungderGrundrechte, 1971,26 ff., sowieNJW 1971,913 und 1835.

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Ihnen überlassen, will hierzu aber noch wenigstens zwei Erwägungen beisteuern, eine, die Ihre Skepsis bestärken könnte, und eine gegenteilige. Zur erstgenannten: Was dem normativen, abstrakt-generellen Befehl recht ist, muß wohl dem hoheitlichen Einzelfall-Befehl billig sein. Wenn man diesem Problem nicht mit dem mir sehr zweifelhaften Argument ausweichen will, daß wir üblicherweise nur Normen als öffentliches oder privates Recht qualifizieren, dann hätte das die zunächst befremdliche Konsequenz, daß auch ein durch Verwaltungsakt verfügtes "Du sollst" nicht als öffentlichrechtlich, vielleicht sollte man sagen: nicht als öffentliches Einzelfall-Recht klassifiziert werden kann. Es würde vielmehr nur auf öffentlichem Recht in Gestalt der Verfügungsermächtigung beruhen, und so müßte man die Wendung in § 35 VwVfG "auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts" verstehen. Hingegen hätten wir keine Probleme mit der "hoheitlichen Maßnahme"; das ist ein Verwaltungsakt ganz ebenso wie auch jedes Gesetz unter Einschluß des BGB. Nun zu einer Erwägung zur Unterstützung des bisherigen Ergebnisses, bei der ich an etwas anknüpfen kann, was Ihnen vermutlich schon einmal aufgefallen und vielleicht auch seltsam vorgekommen ist: mit § 32 StGB und § 227 BGB haben wir zwei fast wortgleiche und inhaltlich identische Notwehrbestimmungen (was auch für andere Rechtfertigungsgründe gilt). Ist deren eine nun öffentliches Recht, weil sie im (öffentlichrechtlich zu qualifizierenden) StGB steht, und die andere als Bestandteil des BGB Privatrecht? Das wäre absonderlich genug und würde zum Irrwitz, sobald man sich im Strafverfahren auf § 227 BGB berufen würde, was an sich durchaus möglich ist, da anerkanntermaßen auch BGBNormen rechtfertigen können. Hätten wir dann eine Mixtur von öffentlichem und privatem Recht? Wohl kaum. Ein Blick auf die normstrukturelle Eigenart von Rechtfertigungsgründen verhilft hier zu einer einfachen Lösung. Bei ihnen handelt es sich ja um Einschränkungen von Imperativen. Letztere sagen: "Du sollst nicht ... ", erstere "außer ... ", beispielsweise in einer Notwehrlage. Wenn die Imperative sich der Polarität von öffentlichen und privaten Recht entziehen, dann logischerweise auch ihre Einschränkungen. Folge: § 227 BGB ist weder öffentliches noch privates Recht. IV. Exkurs zur Drittwirkung von Grundrechten Ich kann an dieser Stelle der Versuchung zu einem Exkurs nicht widerstehen und hoffe, Sie setzen mich nicht jenem berüchtigten Biologiekandidaten gleich, dessen Lieblingstier der Elefant war, der aber zu seinem Leidwesen nicht darüber, sondern über Würmer befragt wurde und sich mit den Eingangssätzen zu retten versuchte: "Würmer bilden fast nie die Speise von Elefanten. Was nun die Elefanten betrifft ... " Mein Elefant ist die Drittwirkung der Grundrechte. Aber sie hat, wie darzulegen ist, mit dem Rasenmähergesetz entschieden mehr zu schaffen als der Elefant mit den Würmern.

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Schon bei der Vorstellung des Gesetzes werden Sie sich gefragt haben: Ist es denn grundrechtlich haltbar, das Rasenmähen beispielsweise zwischen 15 und 16 Uhr zu verbieten? Was aber wäre als beschwerender Hoheitsakt denn an Art. 2 I GG zu messen und anzugreifen? Ersichtlich nur das Verbot in § 1. Allein dieses würde von Ihnen als übermäßige Freiheitsbeschränkung empfunden. Ob es verkoppelt ist und durchgesetzt wird durch einen Anspruch des Nachbarn mit Hilfe des Richters (§ 2) oder durch einen verfügenden Verwaltungsbeamten auf Antrag des Nachbarn (§ 3) oder durch ein behördliches rsp. richterliches Bußgeld (§ 4) könnte Ihnen völlig gleichgültig sein, die sog. Sekundärnormen wären für Sie ohne jedes Interesse 8. Ganz anders die herrschende Lehre. Bei einer Verknüpfung des § 1 mit § 3 oder § 4 ist die Grundrechtsgeltung für sie - wie für uns alle - selbstverständlich, hingegen bei einer Kombination des § 1 mit § 2 prinzipiell höchst problematisch, jedenfalls was die Begründung betrifft. Ich illustriere das gerne an folgendem Fall: Der junge Student A macht nach dem 2. Semester ein Praktikum bei einem Amtsrat, bei dem der Antrag eingeht, das 15-UhrRasenmähen gemäß § 3 zu untersagen. Zur selben Zeit ist im Nachbarhaus der Student B Praktikant bei einem Amtsrichter, bei dem unter Berufung auf § 2 11 ein gleichlautender Antrag eingeht, ein Antrag, den wir Klage zu nennen pflegen. Beide Studenten bekommen den Auftrag, unter erschöpfender Heranziehung von Literatur und Rechtsprechung zu prüfen, ob die beantragten Verbote an Art. 2 I GG zu messen seien. Dann könnte Student A schon am nächsten Tag auf höchstens einer DIN-A-4-Seite sich seines Auftrag entledigt haben, wohingegen der bedauernswerte B genötigt wäre, wenigstens die nächsten 10 Monate ununterbrochen zu lesen und in weiteren 2 oder mehr Monaten ein voluminöses Gutachten zu erstellen. Denn er ist, folgt man der h. L., unglücklicherweise an das Thema Grundrechte im Privatrecht = Drittwirkung geraten, und das ist, wenn man wirklich umfassend arbeiten wollte, unter 12 Monaten nicht zu bewältigen. Ich pflege Kollegen gern nach der Logik in dieser Angelegenheit zu fragen, sehe jedoch aus Diskretion davon ab, Sie hier mit den Antworten zu erheitern. Aber soviel sei verraten, daß ganz überwiegend eine Antwort schlicht verweigert wird. Für die Studenten unter Ihnen füge ich - und zugegebenermaßen höchst unkollegial - hinzu, daß Sie hier einmal die nicht eben häufige Gelegenheit haben, 8 Falls jemand sich nur Fällen aus der Praxis anvertrauen will, sei hier einer von vielen erwähnt: Ein Werbeverbot für Lohnsteuerhilfevereine enthält den Imperativ. Seine Beachtung können Private über § 1 UWG erzwingen, aber auch die Behörde über ein Bußgeld oder durch eine Verfügung. Die erstgenannte Verbotsdurchsetzung hat BVerfGE 84,372 I an Art. 9 I GG gemessen, die zweitgenannte wenig später BVerfGE 85, 97 I an Art. 12 I GG. Die Verschiedenheit der Maßstabsnormen muß, obwohl anzweife1bar, hier nicht interessieren. Entscheidend ist, daß beide Fälle in genau gleicher Weise der Grundrechtsprüfung unterliegen. Es ist deshalb konsequent, daß sich in E 84, 372 I keine Silbe zur ..Drittwirkung" fmdet - ganz ebenso wie in zahllosen anderen Entscheidungen zur Grundrechtsgeltung in Privatrechtsbeziehungen, etwa in der ebenfalls durch eine UWG-Klage ausgelösten BVerfGE 53, 135 (Puffreisschokolade). (Hierzu mein Grundkurs Staatsrecht, 4. Aufl., S. 107.) Diese Rechtsprechungspraxis ist vom Boden der h. M. und auch von des Gerichts eigenen Prinzipien aus nicht plausibel zu erklären.

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einen der h. L. verhafteten Professor in die Ringecke zu drängen und auszupunkten. Gönnen Sie sich mal diesen Luxus, angeblich gönnt man sich ja sonst nichts - ein grotesker und fast empörender Werbeslogan für eine Überflußgesellschaft. V. Die Durchsetzung umweltschützender Imperative mittels öffentlichen und privaten Rechts Ende des Exkurses und Rückkehr zu unserer Ausgangsfrage, wie denn die Aufgabe des Nachbarschutzes auf öffentliches und privates Recht verteilt ist. Unser vorläufiger Befund ist der, daß wir die nachbarschützenden Befehlsnormen gar nicht qualifizieren können. Nur ihre Durchsetzung wird, allgemein gesprochen, mal dem öffentlichen und mal dem Privatrecht anvertraut, und im Fall des eigentlichen Nachbarrechts eben beiden. Welche Koordinierungsprobleme entstehen dabei? Gelegentlich ist bezweifelt worden, ob der § 3 des Gesetzes nicht unzulässigerweise die durch Art. 92 GG garantierte richterliche Befugnis beschneide 9• Das überzeugt mich nicht, und ich sähe auch keine förderativen, kompetenzrechtlichen Probleme, wenn es sich um ein Landesgesetz handeln würde, das dem Gerichtsverfassungsrecht des Bundes gegenüber stünde. Hingegen könnte der Verwaltungsbeamte bei seiner Ermessensausübung den Antragsteller auf seine Möglichkeit nach § 2 verweisen, und der gegen ihn angerufene Verwaltungsrichter hätte zu erwägen, ob in Anbetracht des § 2 für eine verwaltungsgerichtliche Klage überhaupt ein Rechtschutzinteresse besteht. Ersichtlich ist dem begünstigten Nachbarn daran gelegen, gemäß § 3 die Behörde für sich zu aktivieren, statt beim Zivilgericht einen Kostenvorschuß zu entrichten, in größeren Fällen dieser Art sogar noch einen notwendigen Anwalt zu finanzieren. Dies bringt ihm den weiteren Vorteil, daß er - zwar nicht beim Rasenmähen, aber in ähnlichen Fällen - bei vorläufigen Verboten, die sich später als ungerechtfertigt erweisen, den verursachten Schaden nicht bezahlen muß, während er für die Folgen einer von ihm erwirkten einstweiligen Verfügung gemäß § 945 ZPO einzustehen hat. Aber wenn er wegen des der Behörde eingeräumten Ermessens auf diesem Weg nicht weiterkommt, wird er gerne auf seinen strikten privatrechtlichen Anspruch zurückgreifen. Falls Sie den Wunsch haben, nicht nur mit einem fiktiven Gesetz, das ich zur Veranschaulichung auswählte, konfrontiert zu werden, sondern wirklich geltenden Normen, müssen wir uns nur dem vorhin schon zitierten § 42 des NachbarG von Schleswig-Holstein zuwenden: Hier steckt der (neutrale) Imperativ in der Landesbauordnung und/ oder im Bebauungsplan, das öffentlichrechtliche Erzwingungsinstrumentarium in der Bauordnung und die zivilrechtliche Verleihung eines Anspruchs im Nachbar9

Dehner, Nachbarrecht, 7. Aufl. 1991, A § 7, S. 12.

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rechts gesetz. Wichtig ist nun sich klarzumachen, daß es dieser ausdrücklichen Anspruchsverleihung eigentlich gar nicht bedürfte, weshalb man auf sie in anderen Nachbargesetzen denn auch verzichtet hat. Denn die Abstandsnorm ist ein den Nachbarn begünstigendes Schutzgesetz i. S. d. § 82311 BGB, dessen Verletzung nicht nur einen Schadensersatzanspruch nach sich zieht, sondern anerkanntermaßen einen analog § 823 11 und 1004 BGB abgeleiteten Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch. Seiner kann man sich auch zur Erzwingung des bereits zitieren § 22 BImSchG bedienen. § 22 ist die Primärnorm, die ungeachtet ihrer Plazierung im BImSchG nicht als öffentliches Recht qualifiziert werden kann. Ihre Einhaltung kann zum einen mittels des privatrechtlichen Anspruchs aus §§ 823 11, 1004 BGB analog erzwungen werden 10, aber auch - und nicht nur für den Fall konflikt- und klage scheuer Nachbarn - über den öffentlichrechtlichen § 24 BImSchG: Die zuständige Behörde kann im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 ... erforderlichen Anordnungen treffen ...

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß über die analoge Heranziehung der §§ 823 11, 1004 BGB nicht nur die Beachtung einer abstrakt-generellen Schutznorm erzwungen werden kann, sondern auch die Befolgung eines durch Verwaltungsakt ausgesprochenen Schutzbefehls, wenn das dazu ermächtigende Gesetz die Interessen des Nachbarn im Auge hatte. Konkret: der Nachbar kann vor dem Zivilgericht die Erfüllung einer behördlichen Schutzauflage einklagen 11. Wenn wir von dieser besonderen Konstellation einmal absehen, haben wir in dem Miteinander der §§ 22 und 24 BImSchG sowie §§ 823 11, 1004 BGB analog eine deutliche Parallele zu unseren fiktivem RasenmäherG. Indessen gibt es noch einen auch im Hinblick auf die Einheit der Rechtsordnung bedeutsamen Unterschied: Wir haben bislang immer nur den Anspruch auf Einhaltung eines Schutzgesetzes betrachtet. Es gibt aber auch noch den auf § 1004 BGB gegründeten Anspruch auf Abwehr von Eigentumsbeeinträchtigungen, der durch § 906 begrenzt und näher ausgestaltet wird. Ihn konnten wir bislang vernachlässigen, weil man das RasenmäherG als abschließende Regelung betrachten konnte und in den Grenzabstandsfällen mit der actio negatoria des § 1004 BGB nichts anzufangen ist, denn sie schützt nur das sog. Säuleneigentum am Grundstück und kann kein Verlangen stützen, es möge das Nachbargrundstück nicht in bestimmter Weise bebaut werden. (Entsprechendes gilt für gleichgerichtete Besitzschutzansprüche.) Anders ist es natürlich bei Immissionen, hier steht der negatorische 10 Es ist dogmatisch verfehlt, wenn Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, 1987, S.7 und ähnlich auf S. 53, behauptet, in einem solchen Fall könne der Nachbar "durch den Anspruch aus § 823 11 BGB seine subjektiv-öffentlichen Rechte nunmehr auch auf privatrechtlichem Wege durchsetzen". Als ausschließlich öffentliches Recht betrachtet Sachs, NVwZ 1988, 127 ff., den § 22 BImSchG. 11 BGH, NJW 1993, 1580.

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. Anspruch neben jenem auf Beachtung eines Schutzgesetzes, ein Nebeneinander, das wir in ähnlicher Form bei § 823 Abs. 1 und 2 kennen. Folglich muß der privatrechtliche Anspruch auf Einhaltung des § 22 BImSchG mit demjenigen aus §§ 1004, 906 BGB abgestimmt werden. Das wirft die Frage auf, inwieweit sich die nach § 22 BImSchG verbotenen und in § 3 des Gesetzes definierten "schädlichen Umwelteinwirkungen" decken mit den nach §§ 1004, 906 BGB untersagten "nicht ortsüblichen" wesentlichen Immissionen. VI. Duldungsgebot kraft Bebauungsplans? Unter den Schutzgesetzen sind die in einern Bebauungsplan enthaltenen von großer praktischer Bedeutung. Welche Festsetzungen im einzelnen nachbarschützender Art sind (beispielsweise Zahl der Vollgeschosse, Baugrenze zur Seite, nach vom, nach hinten usw. ?), ist im einzelnen sehr strittig, kann hier aber nicht näher erörtert werden. Jedoch wirft der Bebauungsplan noch ein anderes interessantes Problem auf, inwieweit er nämlich in der privatrechtlichen Auseinandersetzung dem Bauherm zugute kommt. Damit wird gleichsam ein Frontwechsel vollzogen. Denn bislang ging es ja darum, aus dem Bebauungsplan und seinen nachbarschützenden Beschränkungen des Bauens (und der Baunutzung) einen Anspruch des Nachbarn zu gewinnen. Nunmehr ist die Frage, ob der Bauherr die Festsetzung des Bebauungsplan als ihm günstige Erlaubnis gegen einen Unterlassungsanspruch des Nachbarn wenden kann. Dabei kommt als Anspruchsgrundlage des Nachbarn nur § 1004 mit § 906 BGB in Betracht (oder ein Besitzschutzanspruch). Kann einern darauf gegründeten Unterlassungsanspruch entgegengehalten werden, die beanstandete Bauwerksnutzung sei beispielsweise als gewerbliche kraft Bebauungsplan erlaubt? Eine solche Konstellation kann sich ergeben, wenn ein bislang nur mit Wohnbauten besetzes Gebiet zum Mischgebiet erklärt wird, aber der zeitlich erste Gewerbebetrieb mittels der §§ 1004, 906 BGB abgewehrt werden soll, weil seine Emissionen jedenfalls derzeit noch nicht "ortsüblich" und also nach BGB verboten seien. Der BGH 12 hat das gutgeheißen, jedoch zu Unrecht. Ein Bebauungsplan, dessen Gültigkeit gemäß § 1 VI BauGB eine umfassende Berücksichtigung nachbarlicher Belange aufgrund planerischer Abwägung voraussetzt, muß ein wirksamer Rechtfertigungsgrund sein. Konkret: Von einern im Bebauungsplan festgesetzten Sportplatz müssen die bei bestimmungsgemäßer Nutzung entstehenden und technisch nicht vermeidbaren Geräusche prinzipiell hingenommen werden. Das ist keine unangemessene Benachteiligung des Nachbarn, der den Bebauungsplan ja angreifen kann.

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U. a. DVBI. 1968,51 und 1971,744; NJW 1983, 751.

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VII. Auswirkungen öffentlich-rechtlicher Genehmigungen auf privatrechtliche Ansprüche Das Baurecht, von dem ja vorne bereits gelegentlich die Rede war, gleicht unseren anderen Beispielen, dem RasenmäherG wie auch den §§ 22,24 BlmSchG insofern, als einheitlich eine nachbarschützende Primärnorm, ein sie einbeziehender privatrechtlicher Unterlassungsanspruch und eine Verfügungsbefugnis der Behörden zu beobachten sind. Wie Sie wissen, begnügt sich aber das Baurecht - ebenso wie sonstige Reglementierungen gefährlicher Tätigkeiten - nicht mit einer bloßen Behördenmacht, Gebote und Verbote zu erzwingen. Denn davon würde im schlimmsten Fall erst Jahre nach einer Verbotensmißachtung Gebrauch gemacht, falls zwischenzeitlich auch die Nachbarn ihre Privatansprüche nicht aktiviert haben. Das zu bewahrende Kind läge also schon im Brunnen. Deshalb gilt hier - jedenfalls bei größeren Vorhaben - ein präventives Verbot, um eine Tätigkeit erst nach gehöriger Kontrolle auf Einhaltung der Primärnormen freizugeben. Die normative Struktur sieht dann etwa so aus: § 1 X ist nur unter den folgenden Voraussetzungen (1- 10) erlaubt

§ 2 Für X ist eine behördliche Genehmigung einzuholen. Sie darf nur bei Nichtbeachtung von § 1 versagt werden. § 3 Die Behörde kann im Einzelfall die zur Beachtung des § I erforderlichen

Anordnungen treffen.

Die für unser Thema wichtigsten Genehmigungen sind die Baugenehmigung und die immissionsschutzrechtliche Anlagengenehmigung, die eine Baugenehmigung in sich birgt. Das präventive Verbot ändert an unseren bisherigen Ergebnissen nichts, insbesondere nichts daran, daß ein durch § 1 begünstigter Nachbar dessen Beachtung über die §§ 823 11, 1004 BGB analog erzwingen kann. Daran ist er selbstverständlich gehindert, falls die Behörde (in einer den §§ 1- 3 noch hinzuzufügenden Bestimmung) zu einem Dispens von § 1 ermächtigt wurde und sie davon Gebrauch gemacht hat, denn in diesem Fall wurde gleichsam das Schutzgesetz in Form des § 1 verkürzt und insoweit als Anspruchsgrundlage beseitigt. Wie aber ist es, wenn die Behörde das Vorhaben X ohne Dispens nur genehmigt hat, aber unter Verstoß gegen § I? Unzweifelhaft ist hier die öffentlichrechtliche Nachbarklage auf Aufhebung der Genehmigung eröffnet, weil die Behörde der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, also der Beachtung des § 1, verpflichtet ist und dieser Pflicht dann, wenn § 1 den Nachbarn begünstigen will, also nachbarschützend ist, ein einklagbarer Anspruch des Nachbarn korrespondiert. Wie aber, wenn der Nachbar auf diese Klage verzichtet und sich auf sein privatrechtIiches Unterlassungsbegehren konzentriert? Diese Frage hat der Gesetzgeber verschiedentlich ausdrücklich beantwortet, insbesondere für die hier besonders interessierende immissionsschutzrechtliche Genehmigung. Der einschlägige § 14 BlmSchG wird ihnen geläufig sein: Nach

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einer Genehmigung, in deren Vorfeld der Nachbar beteiligt wird und dabei Einwände erheben kann, ist sein privatrechtlicher Abwehranspruch insofern geschmälert, als er jedenfalls die Einstellung des Betriebs einer Anlage nicht mehr verlangen kann. Der genehmigende Verwaltungsakt hat hier privatrechtsgestaltende Wirkung. Gleiches gilt u. a. für die Bewilligung nach § 11 WHG und die Genehmigungen nach § 7 AtomG, § 23 GenTG und § 11 LuftVG. Da bei genauerem Besehen die Planfeststellung eines Vorhabens sich von einer Genehmigung nur geringfügig unterscheidet, ist es konsequent, daß auch hier privatrechtliehe Ansprüche eingeschränkt werden, wie es § 7511 VwVfG verfügt. Wie sich die Rechtslage in Ermangelung solcher Vorschriften bei anderen Genehmigungen, vornehmlich der Baugenehmigung, darstellt, ist überaus streitig. Ich muß es hier bei Andeutungen zum Baurecht bewenden lassen. Dabei interessiert zunächst der Fall, daß ein Bau oder seine Nutzung unter Mißachtung eines Schutzgesetzes genehmigt wird. Wenn man die Genehmigung außer acht läßt, besteht in Anbetracht der permanenten Schutzgesetzverletzung durch den Bauherrn ihm gegenüber der mehrfach erwähnte privatrechtliche Abwehranspruch. Andererseits enthält aber die Genehmigung (auch) die Feststellung, daß der Bau dem öffentlichen Recht entspreche, also auch, daß er kein Schutzgesetz verletze. Worauf kommt es nun an, auf das Gesetz oder den abweichenden Verwaltungsakt? Wir sind es gewohnt, daß der wirksame Verwaltungsakt dem Gesetz vorgeht: man schuldet eine durch wirksame Verfügung angeforderte Gebühr auch dann, wenn das Gesetz nichts davon weiß. Und gegenüber dem Bauherrn geht sicherlich auch in unserem Fall der Verwaltungsakt, d. h. die Baugenehmigung, vor, weshalb die Baubehörde gegen den Gesetzesverstoß nicht einschreiten darf, solange ihre eigene Feststellung wirksam ist, alles öffentliche Recht sei gewahrt. Nur fragt sich, ob diese Feststellungswirkung auch zu Lasten des Nachbarn gilt. Das ist wiederum strittig, wird aber überwiegend bejaht 13. Folglich könnte eine Schutzgesetzverletzung nicht mehr geltend gemacht werden. Entsprechendes muß dann für die Rechtfertigungswirkung eines Bebauungsplans gelten. Wenn die Genehmigung die Plankonformität fehlerhaft aber wirksam bescheinigt, muß sich das bei einer umfassenden, auch den Nachbarn betreffenden Feststellungswirkung dahingehend auswirken, daß ein Vorhaben dennoch als plankonform gilt und insoweit gerechtfertigt ist. Wenn aufgrund des Bebauungsplans die notwendigen und unvermeidbaren Geräusche eines Tennisplatzes hinzunehmen sind, hilft der Einwand nichts, es sei rechtswidrig ein Badmintonplatz genehmigt worden, zu dessen Gunsten der Bebauungsplan eben keine Duldungspflicht auferlege. Kraft der Feststellungswirkung gilt dann die Anlage sozusagen als Tennisplatz. Alle diese Erwägungen zeigen, daß es zu undifferenziert wäre, einfach auf die in allen Bauordnungen enthaltenen Bestimmungen zu verweisen, wonach die 13

Vgl. die Nachweise bei Marburger. 56. DJT, 1986, Gutachten C 47.

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Baugenehmigung "unbeschadet der Rechte Dritter" erteilt wird. Ein platter Einsatz dieser Normen würde die Einbeziehung der genehmigungsrelevanten baurechtlichen Vorschriften in die Begründung privatrechtlicher Ansprüche verkennen bzw. ihre Verwendbarkeit als eine diese Ansprüche ausschließende Duldungspflicht. Ebenso oberflächlich wäre ein schlichter Umkehrschluß aus § 14 BImSchG und verwandten Normen, des Inhalts, alle anderen Genehmigungen und also auch die Baugenehmigung hätten keinen Einfluß auf die Privatrechtsbeziehungen. Zuweilen ist das, unabhängig von einem Umkehrschluß, auch im Baurecht zutreffend. Wenn im unbeplanten Innenbereich ein sich der Wohnumgebung nicht einfügender und deshalb gemäß § 34 BauGB unzulässiger Gewerbebetrieb genehmigt würde, könnten die Anlieger aus den §§ 1004, 906 BGB ungeachtet der wirksamen Genehmigung bis zur Einstellung des Betriebes klagen. Weshalb gilt hier anderes als bei Planvorhaben? Die Zulassung einer bestimmten Bodennutzung in einem Bebauungsplan, die nach umfassender Berücksichtigung der einschlägigen privaten Belange erfolgte, kann zumindest in vertretbarer Weise als Rechtfertigung gegenüber privatrechtlichen Ansprüchen angesehen werden. Gleiches läßt sich für die ganz unspezifische Zulässigkeit von "sich einfügenden" Vorhaben gemäß § 34 BauGB nicht sagen; diese weite, allgemein gehaltene Bestimmung ist nicht geeignet, beispielsweise pauschal die Immissionen von "sich einfügenden" Bauten und Baunutzungen auch gegenüber privatrechtlichen Nachbarklagen zu legitimieren. Folglich kann auch die feststellende Wirkung der Genehmigung, das Projekt genüge dem § 34 BauGB, keine Auswirkungen im Zivilprozeß haben. Ganz Entsprechendes gilt schließlich für Außenbereichsvorhaben. Meine Damen und Herren! Was ich Ihnen vorgetragen habe, sollte die wichtigsten Querverbindungen zwischen öffentlichem und privatem Nachbarrecht, genauer: zwischen diesen beiden und den Verbindungsgliedern in Form der gleichsam neutralen Imperative aufzeigen. Die Einzelheiten füllen, wie Sie sich denken können, eine kleine Bibliothek. Sie wären nicht nur zeitlich nicht zu bewältigen, sondern würden auch schwerlich noch Ihr Interesse finden. Wenn dieses ein wenig Nahrung am bislang Vorgetragenen gefunden hätte, würde es mich freuen.

Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat Von Horst Dreier

I. Lokalisierung des Themas 1. Die bunte Fülle des Rechts

Das Recht moderner Gesellschaften, so könnte man den Einleitungssatz des Hauptwerkes eines berühmten deutschen Gesellschaftstheoretikers variieren, erscheint auf den ersten Blick als eine ungeheure Ansammlung von Rechtsnormen. Daran ändert sich auch beim zweiten Blick wenig: Zählen zur Rechtsordnung doch nicht nur abstrakt-allgemeine Gesetze einheitlicher Struktur und gleicher Herkunft. Ein hochentwickeltes staatliches Rechtssystem wie das der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich vielmehr durch eine Mehrzahl von Rechtsquellen aus, die ausgesprochen munter sprudeln. Nicht allein die Parlamente füllen - Carl Schmitts Wort vom "motorisierten Gesetzgeber" bestätigend - in rastloser Tätigkeit die Gesetzblätter; auch Verordnungs- und Satzungsgeber haben erheblichen Anteil an der allerdings oft viel zu pauschal beklagten NormenflutI. Ferner zählen bei analytischer Betrachtung Einzelakte wie behördliche Verfügungen, insbesondere aber (höchst-)richterliche Urteile zum Gesamtkosmos der Rechtsordnung. Das durch die letztgenannten hervorgerufene Problem des Richterrechts (richterliche Rechtsfortbildung, Präjudizien) 2 kann an dieser Stelle ebenso wie die schwierige Einordnung des Gewohnheitsrechts 3 nur notiert werden.

1 Aus der Fülle der Literatur: A. Heldrich, Normüberflutung, in: Festschrift für Konrad Zweigert, 1981, S. 811 ff.; J. Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze?, in: ZRP 1985, S. 139 ff.; zahlreiche weitere Nachweise bei M. Dreher, Verrechtlichung und Entrechtlichung, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 2 (1987), S. 312 ff. 2 Statt aller F. Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 1985, S. 149 ff.; umfassende Bestandsaufnahme in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986; s. auch P. Badura, Die Bedeutung der Präjudizien im öffentlichen Recht, in: U. Blaurock (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 49 ff. 3 Orientierender Überblick bei R. Dreier, Art. Gewohnheitsrecht, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd.2, 1986, Sp. 1059 ff.; aus der Literatur H.-U. Freitag, Gewohnheitsrecht und Rechtssystem, 1976.

8 Vielfalt des Rechts

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Die Komplexität und Vielschichtigkeit der Rechtsordnung wird ferner illustriert durch ihre voranschreitende inhaltliche Differenzierung. Das Recht zerfällt ja nicht nur in die beiden großen Blöcke des privaten und öffentlichen Rechts (dem wiederum das Strafrecht zugehört), sondern formt immer neue Spezialdisziplinen aus. Kannte man früher nur das Polizei- und Gewerberecht, so unterteilen wir allein das mittlerweile als eigenständiger Zweig des besonderen Verwaltungsrechts anerkannte Umweltrecht in Immissionsschutzrecht, Wasserrecht, Abfallrecht, Atom- und Strahlenschutzrecht 4 • Solche Feindifferenzierungen sind im übrigen kein Spezifikum des öffentlichen Rechts - man denke nur an die sog. Sonderprivatrechte 5• Nicht mehr von "dem" Gesetzgeber sprechen wir, sondern vom Privat-, Straf-, Steuer-, Sozial-, Umwelt-, Polizeigesetzgeber - und oft weiß der eine nicht, was der andere tut 6 • Zusätzlich kompliziert sich die Situation dadurch, daß die Rechtsordnung nicht - wie es dem aufklärerischen Kodifikationsideal entsprochen hätte - ein in sich geschlossenes, umfassendes und dauerhaftes Produkt eines einzigen souveränen Willens war und ist, sondern sich alte und neue Rechtsnormen einer Pluralität von Rechtssetzungsinstanzen ineinander und übereinander schieben 7 • Die "Misere des heutigen positiven, namentlich des öffentlichen Rechts", so hat Niklas Luhmann (ein anderer deutscher Gesellschaftstheoretiker) vor mehr als 20 Jahren in der ihm eigenen plastischen Art festgestellt, "liegt in der Zusammenhanglosigkeit großer Normmengen, die situationsweise verfahrensmäßig hergestellt und zu unüberblickbaren Haufen zusammengeschoben werden"8. 2. Strukturierungsprinzipien

Soll nun die soeben nur grob skizzierte ,,Fülle vorgegebener Rechtssätze unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters, voneinander abweichender Strukturen, variierender Qualität und diversen Ranges" 9 ein und derselben Rechtsordnung nicht in ein heilloses Chaos zerfließen, so bedarf es der strukturierenden und ordnenden Gliederung der Rechtsrnasse. Hier im Sinne von Systembildung 4 Vgl. R. Breuer, Umweltschutzrecht, in: I. v. Münch/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1992, S. 391 ff. (455 ff.). 5 Dazu F. J. Säcker, in: Münchener Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1993, Einleitung Rn. 1. 6 Hochspezialisierte Stäbe der Ministerialbürokratie, denen ebenso spezialisierte Ausschüsse des Bundestages gegenüberstehen, sind konkret faßlicher Ausdruck für die Vielfalt des einen Bundesgesetzgebers; vgl. zu diesem Komplex H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, insb. S. 285 ff. 7 Allgemein dazu A. Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987; Karsten Schmidt, Die Zukunft der KodifIkationsidee, 1985. 8 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, S. 331. 9 H. Hofmann, Rechtsphilosophie, in: P. Koslowski (Hrsg.), Orientierung durch Philosophie, 1991, S. 118 ff. (121).

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Orientierung, Ordnung und Kohärenz zu sichern, ist vornehmste Aufgabe von juristischer Methodenlehre und Rechtsdogmatik 10. Doch kann ihr Geschäft im engeren Sinne erst beginnen, wenn Klarheit über die anzuwendenden Rechtsnormen besteht. Schon hier liegt aber wegen deren angesprochener bunter Fülle oftmals ein Problem. Da etwas als Einheit zu begreifen bedeutet, es als eine in sich widerspruchsfreie Ordnung verstehen zu können, haben entwickelte Rechtsordnungen Mechanismen zur Vermeidung oder Behebung möglicher Kollisionen hervorgebracht. Es handelt sich um die Mechanismen der Hierarchisierung, der Temporalisierung und der Spezialisierung. Bekannt sind diese in Gestalt römischrechtlicher Parömien. a) Lex superior derogat legi inferiori ("das höhere Gesetz verdrängt das niedere") ist Ausdruck der Hierarchisierung von Rechtsnormen. Nirgends kommt die Existenz einer sowohl zu unterstellenden wie auch in der täglichen Rechtsarbeit beständig herzustellenden Einheit der Rechtsordnung sinnfälliger zum Ausdruck als in ihrem Stufenbau. Das gilt für die statisch gedachten mittelalterlichen Legeshierarchien ebenso wie für moderne dynamische Rechtssysteme, in denen es verschiedene Rechtsquellen und Rechtssetzungsinstanzen rein säkularer Art gibt. Für das Recht der Bundesrepublik Deutschland läßt sich dies demonstrieren am Vorrang des Gesetzes im Verhältnis zur Rechtsverordnung (Art. 80 GG), an den allgemeinen Prinzipien des Vorrangs und Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und schließlich am Vorrang der Verfassung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GO) gegenüber dem Gesetzgeber und allen anderen staatlichen Gewalten - wobei dieser Vorrang in Deutschland erst seit Inkrafttreten des Grundgesetzes allgemein anerkannt und nach wie vor mit zahlreichen Problemen behaftet ist 11.

b) Die Regel lex posterior derogat legi priori ("das spätere Gesetz verdrängt das frühere") bewältigt das Problem der Geltung zeitlich aufeinanderfolgender Rechtsnormen, und zwar insbesondere für die Fälle, in denen der Normsetzer die Außerkraftsetzung der "alten" Norm nicht ausdrücklich angeordnet hat 12 • 10 Zur Aufgabe der Rechtsdogmatik E. Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / G. F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, 1993, S. 11 ff.; vie1faltiges Anschauungsmaterial und zahlreiche Belege bieten die Beiträge in: K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990. 11 R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; E. Denninger, Verfassung und Gesetz, in: KritV 1986, S. 291 ff. - Genauer ist im übrigen bei der Rechtsanwendung zwischen Geltungsvorrang der höherrangigen (und zumeist allgemeinen) und Anwendungsvorrang der niederrangigen (und zumeist speziellen) Norm zu unterscheiden (vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1994, § 4 Rn. 42; D. Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, 3. Aufl. 1992, Rn. 76). Erst der Anwendungsvorrang führt ja im konkreten Konfliktfall zu der Frage, ob die rangniedere Norm im Widerspruch zu einer ranghöheren Norm steht. 12 Dazu bereits K. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935 (ND 1987), S. 47 ff. - Man unterscheidet zwischen formeller und materieller Derogation; vgl. P. Koller,

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Dies kommt deshalb in Betracht, weil die rechtsetzende Instanz wegen der erwähnten Unübersichtlichkeit und Vielschichtigkeit der Rechtsordnung niemals alle denkbaren Konflikt- bzw. Kollisionskonstellationen vorhersehen kann 13. Daß es sich bei dieser Regel nicht um eine gewissermaßen apriorische oder logische (und auch keine ontologische) Aussage handelt, folgt bereits daraus, daß in fiüheren Epochen gerade das "gute alte Recht" als dem neuen überlegen galt l4 • Und der Vorrang der Verfassung besteht ja gerade darin, daß für sie im Verhältnis zum Gesetzgeber der lex-posterior-Satz nicht gilt l5 • c) Vielfältige Überschneidungen ergeben sich mit der dritten allgemeinen Kollisionsregel, die der speziellen Norm Vorrang gegenüber der allgemeinen verleiht: lex specialis derogat legi generali ("das spezielle Gesetz verdrängt das allgemeine"). Auch diese Regel weist ein hohes Maß an unmittelbar einleuchtender Plausibilität auf und läßt sich an zahlreichen Beispielen demonstrieren: etwa an den besonderen Rückabwicklungsregeln des § 3 HausTWG im Verhältnis zu den allgemeinen Vorschriften der §§ 346 ff., 812 ff., 987 ff. BGB 16, den besonderen Gewährleistungsbestimmungen in bezug auf Pauschalurlaubsreisen 17, dem Wohnungseigentumsgesetz im Verhältnis zu den BGB-Regeln über die Gemeinschaft 18, den besonderen erbrechtlichen Normen der §§ 2078,2079,2081,2082 Theorie des Rechts, 1992, S. 100; s. auch R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Auf!. 1985, S. 36. - Vertiefend auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre Kelsens R. Thienel, Derogation, in: R. Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre 11, 1988, S. 11 ff. - Beispiel aus dem öffentlichen Recht: BVerwGE 85, 289 / 292 f. (Außerkrafttreten eines alten Bebauungsplanes bei Erlaß eines neuen). Zum lex-posterior-Satz bei der Grundsatzgesetzgebung gern Art. 109 Abs. 3 GG W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 165 ff., 172 ff. 13 Häufig wird allerdings ein möglicher Konf!ikt durch die Anwendung der sogleich zu erörternden lex-specialis-Regel zu lösen sein. Wichtig ist zudem, daß der erwähnte Grundsatz ebenso wie der folgende nur für Normen der gleichen Rangstufe und des gleichen Urhebers gelten kann. So kann eine landesrechtliche Norm des Polizeirechts im Überschneidungsbereich repressiver und präventiver Tätigkeit nicht aufgrund ihres späteren Gesetztseins oder spezielleren Aussagegehalts anderslautende Regeln der bundesrechtlichen Strafprozeßordnung derogieren. 14 Dieser insbesondere durch F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, 1919 geprägte Blickwinkel ist indes durch die neuere Forschung weitgehend revidiert, zumindest aber korrigiert worden; vgl. J. Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, S. 19 ff. 15 Grundlegung: "Federalist Papers" Nr. 78 (Hamilton); in der dt. Ausgabe von B. Zehnpfennig (Darmstadt 1993) S. 454 ff. (458). - Vgl. insbesondere H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht - Politik - Verfassung, 1986, S. 261 ff. (263 f., 294). S. jetzt auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S.290 Fn. 106,472 f. 16 Vgl. P. Ulmer, in: Münchener Kommentar, Bd. 3.1, 2. Auf!. 1988, HausTWG vor § 1 Rn. 18 ff. 17 So jedenfalls eine zunehmende Auffassung: vgl. U. Wolter, in: Münchener Kommentar, Bd. 3.1,2. Auf!. 1988, § 651e BGB Rn. 3. 18 J. Bärmann / E. Pick / W. Merle, Wohnungseigentumsgesetz, 6. Auf!. 1987, vor § 10 Rn. 1.

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BGB im Verhältnis zu den allgemeinen Anfechtungsregeln der §§ 119, 121, 123, 124, 143 BGB 19 oder dem § 126 Abs. 3 BRRG in bezug auf den 8. Abschnitt der VwG020. Teils ist das Spezialitätsverhältnis durch das Gesetz exakt selbst bestimmt (wie in den meisten Polizeigesetzen), teils bedarf es der Ermittlung. Sind mehrere Normen nebeneinander anwendbar, eröffnet sich das insbesondere von der Straf- und Zivilrechtslehre mit Sorgfalt bestellte weite Feld der Anspruchs- und Strafnorrnkonkurrenzen 21.

3. Bundesstaatliche Besonderheiten

a) Nun ist klar, daß auch nach der "Bereinigung" des Normenkosmos mit Hilfe der genannten Kollisionsnormen für die Sicherung der Einheit der Rechtsordnung durch Rechtsdogmatik und Methodenlehre im Sinne der Wahrung durchlaufender Wertungslinien und der Erhaltung von Konsistenz und Kohärenz des Gesamtsystems genug zu tun verbleibt 22. Doch nicht um die Vertiefung dieser Aspekte soll es uns gehen, sondern um die Einsicht, daß die erwähnten Kollisionsregeln ganz unabhängig davon bestehen, ob wir es mit einer zentralistischen oder föderalistischen Staatsordnung zu tun haben. Unser Augenmerk gilt nun den spezifischen Fragen, die sich aus einer bundesstaatlichen Organisation ergeben. Hier verdoppeln sich die genannten Probleme nicht nur dadurch, daß Hierarchisierung, Temporalisierung und Spezialisierung auch in jeder Teilrechtsordnung der Gliedstaaten von Bedeutung sind. Jedes Bundesland kennt ja wiederum den Stufenbau von der Verfassung über die Satzung bis hin zum normativen Einzelakt, und die Vorrangregeln gelten auf gliedstaatlicher ebenso wie auf gesamtstaatlicher Ebene.

19 K.-G. Loritz, in: Soergell Siebert, Kommentar zum BGB, Bd. 9, 1992, § 2078 Rn. 5 u. § 2081 Rn. 4. 20 Dies jedenfalls soweit, als das Vorverfahren auch für Leistungs- und Feststellungsklagen obligatorisch ist; in bezug auf § 126 Abs. 3 Nr. 1 BRRG liegt der echte Fall einer lex specialis insofern nicht vor, als § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO eine gesetzliche Ausnahmemöglichkeit, wie sie § 126 Abs. 3 Nr. 1 BRRG darstellt, ausdrücklich vorsieht. - Beispiel aus dem Verfassungsrecht: Der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (Art. 7 Abs. 3 GG) ist eine Ausnahmeregelung im Verhältnis zum allgemeinen Prinzip staatlicher Bekenntnisneutralität; Art. 141 GG wiederum statuiert eine Ausnahme von Art. 7 Abs. 3 GG. Aus dem Besonderen Verwaltungsrecht: die gefahrenabwehrrechtlichen Spezialermächtigungen gehen der polizeirechtlichen Generalklausel vor (vgl. F. Schoch, Grundfälle zum Polizei- und Ordnungsrecht, in: JuS 1994, S. 479 ff.). 21 Siehe etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auf!. 1983, S. 255 ff.; F. Geerds, Die Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht, 1961; J. Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, 1979, S. 313 ff.; P. Arens, Zur Anspruchskonkurrenz bei mehreren Haftungsgründen, in: AcP 170 (1970), S. 392 ff.; R. Bruns, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht, in: JuS 1971, S. 221 ff. 22 Vertiefend Hofmann (Fn.9), S. 121 f.; s. auch W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, in: AöR 119 (1994), S. 1 ff.

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b) Im Bundesstaat tritt vielmehr eine völlig neue und eigentümlich gelagerte Dimension hinzu, durch die sich die Probleme der Einheit einer Rechtsordnung in bemerkenswerter Weise verkomplizieren. Fragt sich doch, wie die eine Rechtsordnung, die des Gesamtstaates, mit den unterschiedlichen Rechtsordnungen der zum Bundesstaat zusammengeschlossenen Länder harmonisieren soll. Die erwähnten Kollisionsregeln können hier nicht helfen. Das liegt für den Spezialitätsgrundsatz auf der Hand. Denn dieser gilt nur auf ein und derselben Rechtsebene: also im Verhältnis von Gesetz zu Gesetz, von Verordnung zu Verordnung, nicht aber im Verhältnis von Verordnung zu Gesetz und auch nicht zwischen Bund und Ländern. So wenig eine spezielle Rechtsverordnung eine den gleichen Sachverhalt anders regelnde förmliche Gesetzesbestimmung derogieren kann, so wenig kann der lex-specialis-Grundsatz im Verhältnis von Bundesrecht und Landesrecht greifen 23. Gleiches trifft auf die lex-posterior-Regel zu: Gälte sie im Verhältnis von Bund und Land, so wäre ein absurder Wettlauf um die jeweils neueste und darum gültige Rechtsnorm die Folge 24 • Aber liegt die Lösung nicht auch hier wieder einmal im Hierarchieprinzip, also der schlichten Unterordnung des Landesrechts unter jenes des Bundes? Eine unbefangene, sozusagen naive Lesart des Art. 31 GG ("Bundesrecht bricht Landesrecht") könnte diese Vermutung nähren - ebenso übrigens wie allzu schematische graphische Darstellungen in Lehrbüchern und Skripten, wenn dort die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in hierarchischer Gliederung so wiedergegeben wird, daß erst auf das Bundesrecht von der Verfassung bis hin zu Rechtsverordnungen das Landesrecht folgt, wiederum beginnend mit der Verfassung und bis zu den Rechtsverordnungen reichend 25. Die Vorstellung eines derartig strengen Schematismus führt aber notwendig in die Irre. Denn ein solches Verständnis von Art. 31 GG würde föderale Eigenständigkeit im Kern zerstören; zwischen zentralistischer und föderaler Staatsorganisation wäre keine 23 Daß die Auflösung einer Normenkollision zwischen einem Bundes- und einem Landesrechtssatz nicht nach der lex-specialis-Regel möglich ist, betont zu Recht J. Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (i. F.: HStR), Bd. IV, 1990, § 99 Rn. 32; s. auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 720; H. D. Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, 1991, S. 35 f. - Zur begrenzten Leistungsfähigkeit der lex-posterior- und der lex-specialis-Regel schon Engisch (Fn. 12), S. 52. 24 Gleichwohl ist eine solche Unentschiedenheit nicht ausgeschlossen: vgl. H. Haller, Die Prüfung von Gesetzen, 1979, S. 30 ff. - Auf schwierige Fragen wie die nach dem Umfang der Vorlagepflicht gern. Art. 100 Abs. 1 GG sowie der nicht selbstverständlichen Rechtsprechung des BVerfG, wonach jeder Richter nach der lex-posterior-Regel darüber entscheiden kann, ob ein ursprünglich einwandfreies Landesgesetz mit einem später erlassenen Bundesgesetz vereinbar ist, kann hier nicht näher eingegangen werden (vgl. K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1994, Rn. 153). 25 Etwas mißverständlich F. Ossenbühl, Die Quellen des Verwaltungsrechts, in: H.-U. Erichsen I W. Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1992, § 8

Rn. 9.

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prinzipielle Differenz mehr auszumachen. Auf der anderen Seite versteht sich aber, daß an der grundsätzlichen Überordnung des Bundes über die Gliedstaaten nicht zu deuteln ist, weil ohne sie der Bundesstaat in ein loses Konglomerat souveräner Einzelgebilde zerfallen oder sich zu einem Staatenbund umbilden würde. Nicht von ungefähr kennt ja der Bundesstaat kein Austrittsrecht. Aber diese prinzipielle Suprematie ist nicht identisch mit der allgemeinen Normenhierarchie 26 • Vielmehr tritt zu dieser eine zweite, eigengeartete und den besonderen föderalen Beziehungen besser angepaßte Hierarchie hinzu 27. Deren Ausgestaltung ist nun im einzelnen sehr viel differenzierter und vielschichtiger, als es der ..einschüchternde Wortlaut" 28 des Art. 31 GG suggeriert. Für diese erfreulich knappe Grundgesetznorm trifft offenbar im besonderen Maße die spöttische Bemerkung zu, Verfassungen müßten kurz und unklar sein 29 • Zwar gibt Art. 31 GG in gewisser Weise die Grundrichtung vor 30 . Doch weder ist dieser Artikel die alleinige noch die zentrale Ausgestaltungsnorm für das Bund-Länder-Verhältnis. Vielmehr ist ein ganzer "Kranz homogenitätssichernder Vorschriften"31 wie die Art. 1 Abs. 3,21,28 Abs. 1,33,70 ff. GG zu berücksichtigen. Diese Normen' sind positivrechtlicher Ausdruck des Umstandes, daß sich jedem Bundesstaat als "duplex regimen" die Aufgabe stellt, Kompetenzen und Regelungsbefugnisse zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen in sachgerechter und möglichst kollisionsfreier Weise gegeneinander abzugrenzen, was insbesondere - aber nicht allein - für die Rechtsetzung von Bedeutung ist 32. Damit ist zugleich angedeutet, daß die genaue Ausgestaltung des Verhältnisses von Bund und Gliedstaaten nicht aus einem abstrakten Modell oder einer empirieunabhängigen Bundesstaatstheorie folgt33; jedes föderale Gemeinwesen besitzt vielmehr aufgrund von Geschichte, politischer Prägung und staatsrechtlicher Tradition sein eigenes, zumeist unverwechselbares Profil 34. Von fundamentaler Bedeutung für die kon26 Treffend F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HStR III, 1988, § 62 Rn. 3; S. lutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, 1982, S. 19 (keine schematische Regelung des Rechtsordnungsverhältnisses von Bund und Ländern). 27 Pietzcker (pn. 23), § 99 Rn. 25. 28 u. W. Kasper, Der Staat 31 (1992), S. 137. 29 Auf diesen Aphorismus, der Talleyrand zugeschrieben wird, nimmt Bezug Stern (Fn. 23), S. 87. 30 Vgl. Nachweise bei Stern (Fn. 23), S. 720. 31 So treffend W. Roters, in: I. v. Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.2, 2. Auf!. 1983, Art. 28 Rn. 4; R. Grawert, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechtsin der Gegenwart, in: NJW 1987, S. 2329 ff. (2331): ..Konkordanzmasse"; s. auch l. Kersten, Homogenitätsgebot und Landesverfassungsrecht, in: DÖV 1993, S. 896 ff. (896, 898). 32 Vgl. E.-W. Böckenförde / R. Grawert, Kollisi!?nsfälle und Geltungsprobleme im Verhältnis von Bundesrecht und Landesrecht, in: DOV 1971, S. 119 ff.; W. Löwer, Art. Bundesrecht, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/ 110, S. 2; Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 1. 33 Stern (Fn. 23), S. 667. 34 Vgl. M. Bothe, Die Kompetenzstruktur des modemen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977; ders., Die Entwicklung des Föderalismus in den angelsächsi-

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krete föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist insofern die - auf die Auslegung und das Verständnis der genannten Verfassungsnonnen zurückwirkende - Kernthese des Bundesverfassungsgerichts von der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer, deren HoheitsgewaIt nicht vom Bund abgeleitet, sondern lediglich anerkannt werde 35. Ihren vornehmsten Ausdruck findet diese Staatsqualität nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung in der Verfassungshoheit (Verfassungsautonomie) der Länder 36 . "Der voneinander nicht abgeleiteten Staatsgewalt entspricht die Selbständigkeit der Verfassungsräume"37, die in wechselseitiger Unableitbarkeit nebeneinander stehen und Geltung beanspruchen. Wie nun im einzelnen die Balance zwischen bundesstaatlicher Einheit und gliedstaatlicher Vielfalt gehalten wird, bedarf genauerer Untersuchung. c) Im folgenden werden zwei Komplexe aus diesem vielschichtigen Problemkreis behandelt. Zunächst geht es um das Verhältnis von Staatsorganisationsrecht des Bundes zum Staatsorganisationsrecht der Länder, also im Kern um die Bestimmung des Art. 28 Abs. 1 GG (Stichwort der "Verfassungshomogenität"). Danach gilt das Augenmerk dem Sonderfall der Grundrechte, d. h. also dem Verhältnis von Bundesgrundrechten zu Landesgrundrechten, welches zu regeln Art. 142 GG vorgibt. Ein dritter wesentlicher Komplex, nämlich das Verhältnis von sonstigem Bundesrecht jeder Stufe zu entgegenstehendem Landesrecht jeder Stufe, muß aus Raum- und Zeitgründen ausgespart bleiben. Das betrifft insbesondere die Kompesehen Staaten, in: JöR 30 (1981), S. 569 ff.; ferner die Beiträge in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990; C. Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988. 35 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14/34; siehe noch E 60, 175/207. Monographisch U. Barschei, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982. - Ob der (dem Grundgesetz aus Art. 20 Abs. 1,79 Abs. 3 GG ansatzweise zu entnehmenden) normativen Aussage ein realer Gehalt entspricht, war Gegenstand kontroverser Diskussionen bei der Passauer Staatsrechtslehrertagung: VVDStRL 46 (1988), S. 120 ff.; skeptisch ebenfalls W. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 169 ff. - S. auch R. Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, in: AöR 112 (1987), S. 26 ff. 36 BVerfGE 4, 178 / 189; 6, 376/ 382; 22, 267 / 270; 36, 342/361; 41, 88 / 119; 64, 301/317. Die Literatur stimmt zu: Stern (Fn. 23), S. 707; H.-P. Schneider, Verfassungsrecht der Länder - Relikt oder Rezept?, in: DÖV 1987, S. 749 ff. (750); W. Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 7 ff. (22 ff.); R. Bartlsperger, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: HStR IV, 1990, § 96 Rn. 1,24; H. J. Boehl, Landesverfassunggebung im Bundesstaat, in: Der Staat 30 (1991), S. 572 ff. (582); zur Staatsqualität und Verfassungsautonomie der Länder zuletzt gründlich J. Rozek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, 1993, S. 29 ff., 36 ff. 37 E. Klein, Landesverfassung und Landesverfassungsbeschwerde, in: DVBI. 1993, S. 1329 ff. (1330).

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tenzfragen einschließlich der Derogation von Landesrecht, auch Landesverfassungsrecht, durch kompetenzgemäß gesetztes Bundesrecht. Es geht also im vorliegenden Beitrag allein um die Ebene des Verfassungsrechts.

11. Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht gemäß Art. 28 Abs. 1 GG 1. Art. 28 Abs. 1 GG als Homogenitätsgebot

a) Art. 28 Abs. 1 GG hat eine Doppelbedeutung. Mit ihm wird die Verfassungsautonomie der Länder sowohl anerkannt als auch begrenzt 38. Sie wird anerkannt, weil nach bundesrepublikanischer Lesart das ,,Eigentümliche des Bundesstaates" gerade darin besteht, daß "der Gesamtstaat Staatsqualität und daß die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen", mit der Folge, "daß sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten je ihre eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besitzen" und "daß die Gliedstaaten ebenso wie der Gesamtstaat in je eigener Verantwortung ihre Staatsfundamentalnormen artikulieren"39. Und weil dem so ist, normiert Art. 28 Abs. 1 GG nicht etwa selbst und unmittelbar Verfassungsrecht der Länder, sondern lediglich Vorgaben für dasselbe. Er gilt - nochmals in den Worten des Bundesverfassungsgerichts - nicht in den Ländern, sondern für die Länder 4O • Und mit dieser Begrenzungsfunktion kann und will Art. 28 Abs. I GG nun nicht etwa Konformität oder Uniformität bewirken, sondern allein für ein unerläßliches "Mindestmaß an Homogenität"41 sorgen - daher auch die Kurzcharakterisierung 38 H. D. Jarass I B. Pieroth, Grundgesetz"Kommentar, 2. Auf!. 1992, Art. 28 Rn. 1; März (Fn. 35), S. 187; Kersten (Fn. 31), S. 896, 898; Rozek (Fn. 36), S. 41. 39 BVerfGE 36, 342/ 360 f. - Zu diesem zentralen Urteil vgl. die ausführlichen Besprechungen von A. v. Mutius, Zum Verhältnis von gleichlautendem Bundes- und Landesverfassungsrecht, in: VerwArch. 66 (1975), S. 161 ff.; P. Krause, Grenzen der Verfassungsautonomie der Länder, BVerfG, NJW 1974, 1181, in: JuS 1975, S. 160 ff. 40 BVerfGE 1,208/236; 6, 104 /111; ausführlich dazu Rozek (Fn. 36), S. 107 ff. Allerdings ist zu beachten, daß ständiger Rechtsprechung des BVerfG zufolge die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten ist, sondern in sie hinein auch Bestimmungen der Bundesverfassung wirkten; erst beide Elemente zusammen machten die vollständige Verfassung des Gliedstaates aus (BVerfGE 1,208/227,232; 66, 107/114 m. w. N.). Demgemäß gilt etwa Art. 21 GG nicht nur für den Bereich des Bundes, sondern unmittelbar auch für die Länder, ist also automatisch Bestandteil des Landesverfassungsrechts (sog. "Bestandteilstheorie"; vgl. m. w. N. Kersten [Fn. 31], S. 897); dagegen durchgreifende Kritik bei Rozek [Fn. 36], S. 157 ff., 179 ff.). - Als zweite wesentliche Einschränkung der These von der Selbständigkeit der Verfassungsräume ist auf die Existenz von sog. "Durchgriffsnormen" hinzuweisen, die - wie insb. Art. 1 Abs. 3 GG - unmittelbar alle staatliche Gewalt im Bund wie in den Ländern binden (vgl. insb. P. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips und ihrer Ausgestaltung im Bonner Grundgesetz, 1967, S. 89 ff.; Grawert [Fn.31], S.2331; ferner Vitzthum [Fn.36], S. 11; Kersten [Fn.31], S.897); Rozek [Fn. 36], S. 41, 106). S. auch unten Fn. 114. 41 BVerfGE 36, 342/361; vorher bereits E 9, 268/279; 24, 367/390; 27, 44 / 56.

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des Art. 28 Abs. 1 GG als "Homogenitätsgebot" oder "Homogenitätsprinzip"42. Das wiederum bedeutet: Art. 28 Abs. 1 GG will Gleichartigkeit im Prinzipiellen, nicht im Detail. Die "verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern" soll keine getreue Kopie des Grundgesetzes sein, aber doch die gleiche Grundausrichtung der staatlichen Organisation in Bund und Ländern sicherstellen. Peter Lerche hat insofern von "Gleichgestimmtheit" gesprochen 43 . b) Handlungsspielräume gewinnen die Länder auf diese Weise in zweierlei Hinsicht 44 • Die Landesverfassungen können zum einen die in Art. 28 Abs. 1 GG genannten Staatsstrukturbestimmungen anders konkretisieren oder profilieren (also sich etwa nicht auf den allgemeinen Sozialstaatsgrundsatz beschränken, sondern hier detaillierte Regelungen treffen); sie können zum anderen neben den in Art. 28 Abs. 1 GG genannten Normkomplexen neue und andere staatliche Grundbestimmungen fixieren (man denke etwa an den Umweltschutz als Verfassungsgebot oder Kulturstaatsklauseln) 45. Besonders für die erstgenannte Variante gibt es vielfaltige Beispiele: Nur ein Bundesland, nämlich Bayern, praktiziert ein (unechtes) Zweikammermodell, während alle anderen Länder dem Einkammersystem folgen 46. Während dem Grundgesetz das Selbstauflösungsrecht des Parlaments unbekannt ist, bieten zahlreiche Landesverfassungen diese Möglichkeit, deren Realisierung von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängt 47. An die vierjährige Legislaturperiode des Bundestages sind die Länder ebensowenig gebunden wie an die Koppelung der Amtsdauer der Landesregierungen an die Legislaturperiode des Landesparlaments 48. Auch der Vorgang der Bestellung und der Abwahl der Landesregierungen kann in den Landesverfassungen abweichend von den grundgesetzlichen Vorschriften geregelt sein und ist dies auch in vielfälti42 Stern (Fn. 23), S. 704 ff.; T. Maunz, Verfassungshomogenität von Bund und Ländern, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 1 ff. 43 P. Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S. 66 ff. (87). Vgl. Vitzthum (Fn. 36), S. 28 ff. 44 Zahlreiche Beispielsfälle und Diskussion zulässiger bzw. unzulässiger Ausgestaltung bei K. Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 28 (Zweitbearbeitung 1964) Rn. 27, 28; ders. (Fn.23), S. 704 ff.; Roters (Fn. 31), Rn. 14 ff.; M. Bothe, in AK-GG, Bd. 1, 2. Auf!. 1989, Art. 28 Abs. 1 I Rn. 6 ff.; Jarass / Pieroth (Fn. 38), Art. 28 Rn. 3; Rozek (Fn. 36), S. 38 ff. - Sehr instruktiv auch C. Pestalozza, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 4. Auf!. 1991, S. 9 ff. (21 ff.). 45 Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen: Art. 86 Bad.-WürttVerf, Art. 3 Abs.2 BayVerf, Art. 39, 40 BrandenbVerf, Art. 11 a BremVerf, Präambel HambVerf, Art. 26a HessVerf, Art. 12 Meckl.-VorpVerf, Art. 1 Abs. 2 NdsVerf, Art. 59a SaarVerf, Art. 10 SächsVerf, Art. 7 Schl.-HolstVerf. - Zur Kulturstaatlichkeit vgl. insb. Art. 3 Abs. 1 BayVerf, Art. 2 Abs. I BrandenbVerf und Art. 1 SächsVerf. 46 M. Herdegen, Institute des Verfassungsrechts der Länder, in: HStR IV, 1990, § 97 Rn. 17, 18 - vgl. dort auch zum folgenden. 47 Nachweise bei Herdegen (Fn. 46), § 97 Rn. 22. 48 Hier ist etwa auf die Institution des ,,Ewigen Senats" in Hamburg hinzuweisen (vgl. dazu J. Schwabe, Verfassungsrecht, in: W. Hoffmann-Riem/H.-J. Koch [Hrsg.], Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1988, S. 32 ff. [56 f.]); weitere Nachweise zu anderen Bundesländern bei Herdegen (Fn. 46), § 97 Rn. 27.

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ger Weise 49 • Besonders signiflkante Unterschiede ergeben sich bei der plebiszitären Anreicherung der strukturell repräsentativ ausgestalteten Demokratie. Während auf der Ebene des Grundgesetzes selbst die Verfassungsänderung ganz in den Händen von Bundestag und Bundesrat liegt, kann eine solche nur in den allerwenigsten Bundesländern ohne (im einzelnen unterschiedlich ausgestaltete) Beteiligung des Volkes stattflnden 50• Auch im Bereich der Gesetzesinitiative zeigen sich zahlreiche Verfassungen der Bundesländer direkt-demokratischen Elementen gegenüber aufgeschlossener als das Grundgesetz 51 , das sich einer vielzitierten Wendung Klaus Sterns zufolge "prononciert antiplebiszitär" präsentiert 52 • Volksbegehren, Volksentscheid und Verfassungsreferendum, wie sie mittlerweile auch den Verfassungen der neuen Bundesländer vertraut sind, stellen sich nach prinzipiell unangefochtener Meinung als zulässige Konkretisierungen und Variationen des Demokratieprinzips dar 53 • Als unhaltbar erweist sich eben deswegen die zuweilen vorgetragene These, eine Anreicherung des Grundgesetzes um Elemente direkter Demokratie sei auch im Wege der Verfassungs änderung nicht möglich, weil durch Art. 79 Abs. 3 GG ausgeschlossen 54. So kann man aus dem Verfassungsrecht der Länder auch etwas für die Grundgesetzinterpretation lernen 55. Selbst einer Direktwahl des Ministerpräsidenten stünde wohl im Ergebnis kaum etwas entgegen; gleiches gilt für die Institutionalisierung eines ,,Landespräsidenten" als Außenrepräsentationsorgan in Analogie zum Bundespräsidenten.

Überblick bei Herdegen (Fn.46), § 97 Rn. 23 ff. Ausführlich hierzu C. Bushart, Verfassungsänderungen in Bund und Ländern, 1989; s. auch Bartlsperger (Fn. 36), § 96 Rn. 10 ff. - Die Verfassungen der neuen Bundesländer sehen zumeist alternativ zur Verfassungsänderung durch das Parlament einen Volksentscheid vor (vgl. Art. 78 Abs. 3, 79 BrandVerf; Art. 74 Abs. 3 SächsVerf; Art. 60 Abs. 4 Meckl-VorpommVerf). 51 Vgl. P. Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: HStR II, 1987, § 39 Rn. 21 ff. - Zu den neuen Bundesländern H. v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993, S. 52 ff.; R. Will, Die Grundrechtsgewährleistungen und die staatsorganisationsrechtlichen Regelungen der neuen Verfassungen im Vergleich, in: KritV 76 (1993), S. 467 ff. (485 ff.). - Eingehende Darstellung von Volksgesetzgebung und Verfassungsreferendun in den alten Bundesländern bei G. ]ürgens, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1992. 52 Stern (Fn. 23), S. 608. 53 Umfassende Darstellung bei K. Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991, insb. S. 289 ff., 443 ff.; U. Berlit, Soll das Volk abstimmen?, in: KritV 76 (1993), S. 318 ff. - Vgl. BVerfGE 60, 175/208. 54 Die Extremposition, Art. 79 Abs. 3 GO verbiete jedwede noch so marginale Variante direktdemokratischer Einflußnahme und Entscheidung, wird in dieser Pauschalität nicht vertreten (Bugiel [Fn. 53], S. 443). Für sehr weitgehende Restriktionen aber etwaA. Greifeld, Volksentscheid durch Parlamente, 1983, S. 105 ff. m. w. N.; R. Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983, S. 6 ff. 55 H. Hofmann, Bundesstaatliche Spaltung des Demokratiebegriffs?, in: Festschrift für K. H. Neumayer, 1985, S. 281 ff. (291 ff.). 49

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Horst Dreier 2. Die Verletzung des Homogenitätsgebotes und ihre Folgen

a) Der vorstehend geschilderte vergleichsweise weite Spielraum der Länder bei der Gestaltung ihrer Staatsorganisation beruht weniger auf dem abstrakten Modell eines besonders länderfreundlichen Föderalismus als der "inhaltlichen Weite der die übereinstimmung gebietenden Grundsätze" 56. So ist es denn auch der immanente Sinngehalt jener Prinzipien selbst, der der Verfassungsautonomie der Länder Schranken setzt. Für eine solche Überschreitung des homogenitätsverbürgenden Mindeststandards Beispiele zu finden, bedarf es - glücklicherweise! - einiger Phantasie. Gleichwohl ist man nicht allein auf hypothetische Fälle wie die Einführung der Erbmonarchie in Bayern oder die lebenslängliche Amtszeit eines verdienten Hamburger Ersten Bürgermeisters angewiesen. Gerade das Verfassungsrecht des Stadtstaates Hamburg bietet ein vergleichsweise seltenes Beispiel für eine nach Bundesverfassungsrecht problematische Ausgestaltung des Organisationsrechtes eines Gliedstaates. Die Rede ist vom ,,ruhenden Mandat" 57. Diese auf dem prinzipiell richtigen Gedanken einer Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt basierende Regelung sieht vor, daß das Bürgerschaftsmandat während der Amtszeit als Senator ruht, nach deren Beendigung aber kraft eines gesetzlichen Automatismus auflebt, so daß das nachgerückte Mitglied der Bürgerschaft wieder aus ihr ausscheidet 58 • Richtiger und mittlerweile wohl herrschender Auffassung zufolge verstößt das "ruhende Mandat" sowohl gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit als auch den der Gleichheit der Wahl 59. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl liegt vor, weil jedenfalls die Rückkehr des ehemaligen Senators in die Bürgerschaft und infolgedessen das Ausscheiden des nachgerückten Abgeordneten zu einer Zusammensetzung der Bürgerschaft führt, die sich nicht aus der Wahlentscheidung ableitet 60 • Die 56 März (Fn. 35), S. 188. Demgemäß hat das BVerfG den weiten Handlungsspielraum der Länder zumeist anerkannt (vgl. etwa E 27, 44 / 52 ff.) und nur in wenigen Fällen recht enge Vorgaben gesetzt (z. B. BVerfGE 9, 268/278 ff.; 24, 367/391 - hier bedenklicherweise ohne Nennung des konkreten Staatsstrukturprinzips, gegen das eventuell hätte verstoßen sein können; 40, 296/319 [siehe aber einschränkend E 64, 301/ 318] - Geltung der Grundsätze der Abgeordnetenentschädigung des Art. 48 Abs. 3 GG auch in den Ländern). 57 Ursprünglich kannten vier Bundesländer eine solche Regelung; zur Zeit sind es nur noch die Stadtstaaten Bremen (Art. 108 BremVerf) und Hamburg (Art. 38a HambVerf). 58 Im einzelnen wird der Vorgang durch gesetzliche Bestimmungen geregelt. Für Hamburg im "Gesetz über die Wahl zur hamburgischen Bürgerschaft" i. d. F. vom 22. Juli 1986 (GVBI. S. 223), § 39. 59 Vgl. Schwabe (Fn. 48), S. 56; L.-A. Versteyl, Beginn und Ende der Wahlperiode, Erwerb und Verlust des Mandats, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 14 Rn. 37; Herdegen (Fn. 46), § 97 Rn. 26; März (Fn. 35), S. 188. - Ausführliche Darstellung bei T. Dress, Das ruhende Mandat, Diss. jur. Hamburg 1985, insb. S. 46 ff., 176 ff.; K. Rosenau, Das "Ruhende Mandat" - die Hansestädte und das Grundgesetz, in: ZParl. 19 (1988), S. 35 ff.; jüngst D. Gottschalck, Die Hamburgische Bürgerschaft, 1993, S. 171 ff.

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konkrete Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft beruht also nicht mehr allein auf Entscheidungen der Wahlbürgerschaft und des Gewählten. Aus dem nachgerückten Abgeordneten wird wegen seiner prekären Stellung zudem ein Volksvertreter ,,2. Klasse", so daß auch ein Gleichheitsverstoß voriiegt61. b) Fragt man nun nach den rechtlichen Folgen grundgesetzwidrigen Landesverfassungsrechts, so bekommt man einen ersten Vorgeschmack auf die Vielfalt der vertretenen Positionen. Als herrschende, wenngleich nicht unangefochtene Meinung läßt sich wegen des bereits erwähnten Satzes des Bundesverfassungsgerichts, Art. 28 Abs. 1 GG gelte "für" die Länder, nicht "in" ihnen 62 , lediglich die Auffassung bezeichnen, daß Art. 28 GG im Falle eines Widerspruchs nicht einfach Bundesverfassungsrecht an die Stelle von Landesverfassungsrecht setzt und es auf diese Weise gleichsam substituiert 63 . Für die herrschende Ansicht spricht insbesondere, daß im Falle eines unmittelbaren Durchschlagens des Bundesverfassungsrechts auf die Landesebene eine gliedstaatliche Umsetzung der bundesstaatlichen Prinzipien ebenso entbehrlich wäre wie die Regelung des Art. 28 Abs. 3 GG. Doch sind damit längst noch nicht alle Fragen geklärt. Denn offen ist ja noch, ob im Falle eines Widerspruchs zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht die Gliedstaaten lediglich durch Art. 28 Abs. 1 GG verpflichtet werden, ihre Verfassungen dem gebotenen Bundesstandard anzupassen, oder ob eine automatische Ungültigkeit der jeweiligen Landesverfassungsnormen eintritt. Hier sind die Auffassungen gespalten 64. 60 Die Nichtannahme der Wahl oder die spätere Niederlegung des Mandats sowie andere gesetzlich geregelte Formen des Verlustes der Mitgliedschaft stellen als nicht revidierbare Maßnahmen keinen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz dar. Beim freiwilligen Ausscheiden aus dem Senat mit der Folge des Verdrängens des "Platzhalters" sorgt aber der Begünstigte selbst für eine personelle Veränderung der Zusammensetzung der Repräsentativkörperschaft, die bereits vorher durch die Annahme des Senatorenamtes bewirkt worden war. Andere, nicht freiwillige Formen der Beendigung des Senatorenamtes (zu den verschiedenen Varianten Rosenau [Fn.59], S.39) beruhen ohnehin auf unzulässigen Entscheidungen "Dritter", die sich zwischen Wähler und Gewählten schieben. - Nicht die Unvereinbarkeit von Bürgerschaftsmandat und Senatorenamt als solche ist also problematisch; die Verfassungswidrigkeit beruht allein auf der speziellen Koppelung von Inkompatibilität und jederzeitigem Rückkehrrecht. 61 Ausführliche Begründung im Urteil des Hess. Staatsgerichtshofes (NJW 1977, 2065 ff.). - Obwohl es sich dabei um eine nicht auf Verfassungsebene, sondern lediglich im Landeswahlgesetz geregelte und vom Hess. Staatsgerichtshof für nichtig befundene Vorschrift handelte, kann für das in den Landesverfassungen Bremens und Hamburgs institutionalisierte ,,ruhende Mandat" nichts anderes gelten. Es liegt also ein Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG vor. 62 BVerfGE 1, 208/236. Vgl. oben bei Fn. 40. 63 Für diese h. M. vgl. nur Böckenförde I Grawert (Fn. 32), S. 126; März (Fn. 35), S. 190 f. - Abweichend W. Schmidt, Das Verhältnis von Bund und Ländern im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, in: AöR 87 (1962), S. 253 ff. (280). 64 Für die erste Variante (lediglich Verpflichtung des Landes zur Änderung seiner Verfassung) etwa Böckenjörde I Grawert (Fn. 32), S. 126. - Die zweite, herrschende Auffassung wird u. a. vertreten von Bothe (Fn. 44), Art. 28 Abs. 1 Rn. 16; März (Fn. 35), S. 191 f.; Rozek (Fn.36), S. 114 ff. m. w. N. - Gleichsam im Vorwege ist noch zu beachten, daß sich in den Ländern Bremen und Rheinland-Pfalz ein Konflikt zwischen Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht gar nicht erst stellen kann, weil deren (vorkonstitutionelle) Verfassungen i. S. einer Kollisionsvermeidung den Vorrang

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Für die Mindenneinung (Verpflichtung der Länder zur Verfassungsänderung) spricht ohne Zweifel, daß sie dem Art. 28 Abs. 3 GG einen weiten Anwendungsbereich erschließt. Sie muß aber mit der unhaltbaren, zudem mit dem Gedanken des Bundesstaates unvereinbaren Annahme leben, daß die das Homogenitätsgebot verletzenden landesverfassungsrechtlichen Nonnen bis zu ihrer Aufhebung durch den gliedstaatlichen Verfassunggeber oder Bundesaktivitäten gern. Art. 28 Abs. 3 GG (wie etwa der Bundeszwang nach Art. 37 GG) wirksam blieben 65 . So erweist sich die herrschende Meinung (Nichtigkeit der homogenitätswidrigen Vorschriften) aus einem doppelten Grund als zutreffend. Sie trägt einmal konsequent dem bundesrepublikanischen Dogma von der Rechtsungültigkeit, also Nichtigkeit, rechtswidriger genereller Nonnen (gesetzwidriger Verordnungen oder verfassungswidriger Gesetze) Rechnung 66 • Landesverfassungsrechtssätze, die gegen Art. 28 Abs. 1 GG verstoßen, sind demnach nicht nur vernichtbar, sondern nichtig. Art. 28 Abs. 1 GG entfaltet dabei "selbstregulierende Wirkung" 67 , ohne daß es eines Umsetzungs- oder "Vollstreckungsaktes" in Gestalt des als Sanktionsnonn verstandenen Art. 31 GG bedarf 68 • Zweitens wahrt die hier vertretene Lösung die Balance zwischen der Selbständigkeit der Länder und der Suprematie des Bundes. Für Art. 28 Abs. 3 GG bleibt ein gewisser, wenngleich schmaler Anwendungsbereich übrig. Halten die Länder bei der Konkretisierung der Homogenitätsgrundsätze den vorgegebenen Rahmen nicht ein, bewirkt die negative Kompetenzvorschrift des Art. 28 Abs. 1 GG69 unmittelbar und ohne jeden weiteren Zwischenschritt die Nichtigkeit des Landesverfassungsrechts. Unterlassen die Länder indes die Umsetzung der Strukturprinzipien völlig (eine schwer vorstellbare, aber nicht ganz ausgeschlossene Konstellation), so kann der Bund insofern von den Mitteln des Art. 28 Abs. 3 GG Gebrauch machen 70. Belangvoll für unseren Zusammenhang schließlich ist der Befund, daß keine der geschilderten Auffassungen des Rekurses auf Art. 31 GG bedarf: Die herrschende Meinung nicht, weil Art. 28 Abs. 1 GG selbst die Nichtigkeitsfolge impliziert; die Auffassung von der bloßen Vernichtbarkeit grundgesetzwidrigen Landesverfassungsrechts nicht, weil entgegenstehenden bzw. anderslautenden Bundesverfassungsrechts zum Bestandteil ihres eigenen Staatsgrundgesetzes gemacht haben (vgl. dazu die Angaben bei März [Fn. 35], S. 177 f.). 65 Das hat Werner (Fn. 40), S. 76 treffend als bundesstaatlich inakzeptabel bezeichnet; ebenso Rozek (Fn. 36), S. 117. 66 Dazu ausführlich J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Nonn und Einzelakt, 1980, S. 69 ff.; Schlaich (Fn. 24), Rn. 126, 343 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. TI, 1980, S. 1039 ff. 67 Werner (Fn. 40), S. 76; März (Fn. 35), S. 191; Rozek (Fn. 36), S. 116. 68 Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 30 (siehe aber auch Rn. 37 a. E.); März (Fn. 35), S. 191; Jarass / Pieroth (Fn.38), Art. 28 Rn. 1; J. Dietlein, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993, S. 45 f.; Rozek (Fn. 36), S. 110, 116. A. A. Roters (Fn. 31), Art. 28 Rn. 13; T. Maunz, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 28 (1977) Rn. 82. 69 Diese Charakterisierung bei Bothe (Fn. 44), Art. 28 Abs. 1 Rn. 16; März (Fn. 35), S. 191; Rozek (Fn. 36), S. 110. Ähnlich Dietlein (Fn. 68), S. 45: "Begrenzung der landesstaatlichen Verfassungsautonomie" . 70 So Maunz (Fn. 68), Art. 28 Rn. 81; Roters (Fn. 31), Art. 28 Rn. 13; März (Fn. 35), S. 191 f. - Zu den Möglichkeiten gern. Art. 28 Abs. 3 GG vgl. Roters (Fn. 31), Art. 28 Rn. 64 ff.

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sie bereits eine Kollisionslage verneint und von daher nicht zu Art. 31 GG gelangt; die Ansicht, bei den Strukturaussagen des Art. 28 Abs. 1 GG handele es sich um unmittelbar geltendes Landesverfassungsrecht, nicht, weil sie ebenfalls keine Kollisionslage festzustellen vermag. c) Insgesamt ergibt sich: Art. 28 Abs. 1 GG ist eine sowohl autonomiebegrundende wie autonomiebegrenzende Norm des Bundesverfassungsrechts, die den Ländern einen Variations- und Konkretisierungsspielralim läßt, dessen Überschreitung zur Nichtigkeit der entsprechenden Landesverfassungsrechtssätze führt.

III. Bundesgrundrechte und Landesgrundrechte (Art. 142,31 GG) Mit der Diskussion des Art. 28 Abs. 1 GG ist der Problemkreis des Verhältnisses von Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht noch nicht erschöpft. Verfassungen modernen Typs enthalten neben Regeln über ihre Strukturprinzipien, Staatsorgane und Funktionenordnung auch Bestimmungen über das Verhältnis der Staatsgewalt zum Individuum 71. Neben die Staatsorganisation tritt der Grundrechtskatalog. Es stellt sich auch hier die Frage nach dem Verhältnis der Grundrechte des Grundgesetzes und denen der Landesverfassungen, insbesondere den Grenzen innovativer oder alternativer Gestaltung. Sie stellt sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem abgeschlossenen Prozeß der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern sogar verstärkt. Denn im Unterschied etwa zu Hamburg 72 hat man in Berlin und Brandenburg, MecklenburgVorpommern (dort allerdings in Verbindung mit der Rezeption der Bundesgrundrechte), Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nicht auf einen eigenen Grundrechtsteil verzichtet. Ausgangspunkt der Betrachtung ist Art. 142 GG.

71 Vgl. Hofmann (Fn. 15), S. 261 ff.; P. Badura, Art. Verfassung, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 3737 ff.; K. Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung (1982), in: ders., Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 111 ff.; G. Stourzh, Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution (1976), in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 155 ff. (162 ff.) - G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 532: allgemeine Verfassungsinhalte seien die "Grundzüge der staatlichen Organisation und Zuständigkeiten, sowie die Prinzipien für die Anerkennung der Rechte der Untertanen". 72 Um der Genauigkeit willen ist allerdings auf Art. 59 Abs. 1 und 61 HambVerf hinzuweisen.

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1. Historischer Hintergrund

Sinn und Zweck des Art. 142 GG sind nur zu verstehen vor dem historischen Hintergrund des Prozesses der Verfassunggebung im Jahre 1949. Weder war damals das Bundesverfassungsgericht bereits institutionalisiert noch auf Grundgesetzebene die Individualverfassungsbeschwerde - wie heute in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG - garantiert. In dieser Situation wollte man weitergehende materielle und verfassungsprozessuale Garantien, wie sie vor allem Bayern kannte und kennt, durch das Grundgesetz nicht annullieren 73. Und weil man im Parlamentarischen Rat vor dem Hintergrund entsprechender Weimarer Doktrin annahm, Art. 31 GG bräche auch inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht74, fügte man Art. 142 GG als lex specialis ein 75. Nach heutigem Verständnis kommt der Nonn insofern nur noch eine klarstellende Bedeutung zu. Denn spätestens seit der wegweisenden Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 29.1.1974 76 geht man allgemein davon aus, daß bei Inhaltsgleichheit zwischen Landesverfassungs- und Bundesverfassungsrecht kein Kollisionsfall vorliegt, da es an einem Nonnenwiderspruch fehlt. Art. 142 GG ist danach insofern überflüssig, als er die Weitergeltung inhaltsgleicher Landesgrundrechte anordnet: Er "ist keine Ausnahme von der Regel, sondern Ausdruck der Regel" 77. Zumindest klargestellt ist aber, daß der Landesverfassunggeber überhaupt auf den "Regelungstyp" grundrechtlicher Gewährleistungen zurückgreifen darf und ihm dieser nicht verschlossen ist 78. Wie regelt nun Art. 142 GG das Verhältnis von Bundesgrundrechten und Landesgrundrechten genau? 2. Einzugsbereich und Kollisionsfälle

a) Relativ klar und so gut wie unbestritten ist, daß Art. 142 GG nicht nur die dort genannten Grundrechtsartikel 1 - 18 GG erfaßt, sondern auch die anderen verbürgten sogenannten "grundrechtsgleichen" Rechte, wie sie etwa in Art. 93 Nachweise bei Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 41 ff. Darstellung bei H. v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, 1980, S. 110; zahlreiche weitere Nachweise .~i M. Sachs, Die Grundrechte im Grundgesetz und in den Landesverfassungen, in: DOV 1985, S. 469 ff. (470 Fn. 15). 75 Vgl. K.-B. v. Doemming IR. W. Füßlein I W. Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR 1 (1951), S. 1 ff. (910 ff.); März (Fn.35), S. 193 f. m.w.N. 76 BVerfGE 36, 342. 77 März (Fn. 35), S. 195. 78 März (Fn. 35), S. 195; M. Sachs, Die Landesverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen Rechts- und Verfassungsordnung, in: ThürVBl. 1993, S. 121 ff. (123). - Das könnte man aber wohl bereits Art. 28 Abs. 3 GG entnehmen. 73

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Abs. 1 Nr. 4a GG bezeichnet sind 79 • Das ist zugleich ein schöner Beleg für die These, daß der Wortlaut einer Norm keineswegs immer die Grenze ihrer Auslegung fixiert 80 • Weitgehende Einigkeit besteht im übrigen auch darüber, daß Art. 142 GG nicht nur vorkonstitutionelle, sondern auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Landesgrundrechte erfaßt 81 • b) Schwieriger zu bestimmen ist hingegen, was "in Übereinstimmung mit" bedeuten soll. Diese kleine Wendung erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus schillernd. Als vergleichsweise unproblematisch kann die Konstellation gelten, in der die Landesverfassung das Bundesgrundrecht wortgleich wiederholt 82 • Noch stärkere Identität herrscht in den Fällen, in denen Landesverfassungen den Grundrechtsteil des Grundgesetzes pauschal rezipieren 83. In beiden Fällen handelt es sich dabei um selbständige Grundrechte des Landesverfassungsrechts, nicht etwa nur um die mehrfache Sicherung ein und desselben Grundrechts 84 • Dieser aus einer unguten Kombination von Weimarer Staatsrechtsdoktrin und unverdautem Naturrecht entsprungenen und unter dem Grundgesetz insbesondere von Willi Geiger vertretenen Position, der auch das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung gefolgt ist 85, tritt heute die Lehre zu Recht entgegen 86. Ganz unabhängig von inhaltlicher Gleichheit oder Ungleichheit handelt es sich um Rechtssätze verschiedener Normgeber, nämlich des Bundesverfassunggebers einerseits, des Landesverfassunggebers andererseits. Dementsprechend bleiben Landesgrundrechte rezipierter oder inhaltsgleicher Art in Kraft, selbst wenn sie auf der Ebene der Bundesverfassung gelöscht oder substantiell verändert sein sollten. Die Verfassungen der neuen Bundesländer folgen diesem Konzept und gehen davon aus, daß die wortgleichen oder rezipierten Grundrechte

79 larass I Pieroth (Fn. 38), Art. 142 Rn. 1; Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 42; BVerfGE 27, 267/271. 80 Zum Problem O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988. 81 Statt aller I. v. Münch, in: ders., GG-Kommentar, Bd. 3, 2. Auf!. 1983, Art. 142 Rn. 3 m.w.N. 82 Vgl. etwa Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 21 SächsVerf. 83 Vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 Bad.-WürttVerf; Art. 4 Abs. 1 Nordrh.-WestfVerf; Art. 3 Abs. 2 NdsVerf. 84 Zur Begründung W. Leisner, Die bayerischen Grundrechte, 1968, S. 15; v. Olshausen (Fn. 74), S. 112 ff., 120 f.; Dietlein (Fn. 68), S. 12 ff., 22 f.; Rozek (Fn. 36), S. 183 ff. m.w.N. 85 Vgl. zuletzt W. Geiger, Die Verfassungsbeschwerde nach Bundes- und nach Landesrecht, in: DRiZ 1969, S. 137 ff. (138); BVerfGE 22, 267/271. - Zur Kritik lutzi (Fn. 26), S. 39. 86 Außer den in Fn. 84 Genannten: Maunz (Fn. 68), Art. 142 Rn. 11; Vitzthum (Fn. 36), S. 37; März (Fn. 35), S. 196 f. - Revision eigener Auffassungen auch bei E. Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsgg. von C. Starck, Bd. I, 1976, S. 748 ff. (763 ff.)

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in den Landesverfassungen selbständigen Charakter haben 87. Nur durch die auch normtheoretisch gebotene Anerkennung als originäres Landesverfassungsrecht bietet sich zudem auf diesem Feld die Möglichkeit innovativer und alternativer Verfassungsjudikatur durch die Landesverfassungsgerichte 88. Aus dem Charakter als eigenständiger Norm des Landesverfassungsrechts folgt schließlich, daß im Falle unterschiedlicher Auslegung des wortgleichen Grundrechts durch die Landesverfassungsgerichte untereinander oder im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht keine Verpflichtung zur Divergenzvorlage gern. Art. 100 Abs. 3 GG besteht, weil es sich nicht um die ,,Auslegung des Grundgesetzes" handelt 89 • Nun können aber "in Übereinstimmung" stehende Bundes- und Landesgrundrechte auch ohne Textgleichheit vorliegen. Nicht auf den Wortlaut, sondern auf den Sinn und den Schutzgehalt der grundrechtlichen Gewährleistung muß es ankommen. Um Inhaltsgleichheit der Schutzwirkung, nicht um Textgleichheit geht es 90 • Da für den realen Schutzgehalt einer Grundrechtsnorm nicht nur die 87 Vgl. v. Mangoldt (Fn. 51), S. 46 f.; für die Verfassung Niedersachsens U. Berlit, Die neue Niedersächsische Verfassung, in: NVwZ 1994, S. 11 ff. (14). - Schon 1967 konnte festgestellt werden: "In Lehre und Praxis wird ganz überwiegend angenommen, daß die Grundrechtsverbürgungen in Bund und Land auch bei übereinstimmender Regelung selbständig nebeneinanderstehen. Deshalb ist eine Verfahrenskonkurrenz sowohl bei der Verfassungsbeschwerde wie bei der konkreten und abstrakten Normenkontrolle zuzulassen. Das gilt selbst dann, wenn die LVerf (wie in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg) die Grundrechte (und staatsbürgerlichen Rechte) des GG en bloc rezipiert hat. Es ist der ausdrücklich erklärte Zweck des Art. 4 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen und des Art. 2 Abs. 1 der Verfassung von Baden-Württemberg, die Grundrechtsbestimmungen des GG zum unmittelbar geltenden Landesrecht zu machen. Die Vorschriften wurden aus dem GG in seiner ursprünglichen Fassung übernommen, wie die Verfassung von Nordrhein-Westfalen deutlicher als die von Baden-Württemberg herausstellt." (W. Rüjner, Zum Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bereich der Grundrechte, in: DÖV 1967, S. 668 ff. [668 f.]). 88 Das gilt in erster Linie für diejenigen Bundesländer, die die Landesverfassungsbeschwerde vorsehen; den anderen ist es bundesrechtlich unbenommen, eine solche einzuführen, wie dies die neuen Bundesländer jüngst durchgängig getan haben. - Für einen doppelten prozessualen Schutz der doppelten Grundrechtsgarantie auch Klein (Fn. 37), S. 1333 f.; Berlit (Fn. 87), S. 17: Landesverfassungsbeschwerde als "Schlußstein". In allgemeinerer Wendung hat Wahl (Fn.35), S.28 mit Fn. 4 zu Recht betont, die Eröffnung des Rechtswegs zu den Landesverfassungsgerichten sei die ,,Pointe" des Privilegs, daß auch inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht seine Geltung nicht verliert. - Vgl. auch bei Fn. 117. 89 Das ist eine sehr umstrittene Frage. Wie hier etwa K. Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 100 (Zweitbearbeitung 1967), Rn. 304; H. Tileh, Inhaltsgleiches Bundes- und Landesverfassungsrecht als Prüfungsmaßstab, in: C. Starck / K. Stern (Hrsg.) Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilbd. 11, 1983, S. 551 ff. (561 f.); C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 15 Rn. 1; Rozek (Fn.36), S. 189. - A A, aber ohne nähere Begründung E. Denninger, in: AK-GG, 2. Aufl., Bd. 2, 1989, Art. 142 Rn. 10; ein ganz anderes Konzept vertritt mit ausführlicher Begründung J. Burmeister, Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 3 GG, in: Starck/ Stern (Hrsg.), ebd., S. 399 ff. (421 ff., 457 ff.). S. noch Friesenhahn (Fn. 86), S. 798 f. 90 Treffend Maunz (Fn. 68), Art. 142 Rn. 12; H.-U. GaUwas, Konkurrenz von Bundesund Landesgrundrechten, in: JA 1981, S. 536 ff. (540); ebenso v. Müneh (Fn. 81), Art. 142 Rn. 4.

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Eröffnung des Schutzbereiches, sondern auch die vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten sowie die Regelung der Grundrechtsträgerschaft von Belang sind, kann es im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereiten, Übereinstimmung im Sinne einer sachlichen Identität trotz nicht identischen Wortlautes festzustellen 91 • So wäre es sogar voreilig, Übereinstimmung in diesem Sinne schon deshalb zu verneinen, weil ein bundesrechtlich vorbehaltlos gewährtes Grundrecht auf Landesebene mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehitlt versehen ist 92; kann doch nicht ausgeschlossen werden, daß die durch Aktualisierung des Gesetzesvorbehalts geschaffenen Beschränkungen nicht weiter reichen als diejenigen, denen auch das vorbehaltlos gewährte Bundesgrundrecht selbstverständlich unterliegt. Gerade eine bundesstaatskonforme Auslegung kann hier zu einem gleichen Schutzniveau führen, welches ja auf dem komplexen Zusammenwirken von Schutzbereichseröffnung und Schrankenziehung 93 beruht 94. Wann immer Übereinstimmung in diesem materiellen Sinne vorliegt, ordnet

Art. 142 GG eindeutig die Rechtsfolge der Fortgeltung an.

Noch weitgehend ungeklärt scheint, ob man generell in den Notstandsartikeln, die zur Suspendierung von Grundrechten ermächtigen (vgl. Art. 48 BayVerf; Art. 112 Rheinl.-PfalzVert), gegenüber dem Grundgesetzstandard abfallende und von daher nicht "übereinstimmende" Rechte sehen kann 95. c) Nun herrscht aber zu Recht Einigkeit darüber, daß das Grundgesetz nicht allein die sachlich mit den Bundesgrundrechten übereinstimmenden Landesgrundrechte "ungebrochen" in Geltung stehen lassen will. Das wäre nicht zuletzt 91 Der Hessische Staatsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 30.12.1981 (JZ 1982, 463 f.) die einzelnen Normelemente der zu vergleichenden Rechtssätze getrennt gegenübergestellt. 92 Vgl. etwa zur Wissenschaftsfreiheit Art. 5 Abs. 3 GG mit Art. 108, 98 Satz 2 BayVerf; Art. 31 Abs. 2 BrandVerf; Art. 10 Abs. 3 Sachsen-AnhaltVerf. 93 Zwar mag einiges dafür sprechen, daß es für die stärkere Beschränkungsmöglichkeit von Grundrechten nicht auf die Aktualisierung durch den Gesetzgeber, sondern primär auf die Zulassung dieser Beschränkungsmöglichkeit im Verfassungste~t selbst ankommt (s. unten Fn. 119). Doch daß allein dadurch "Freiräume für staatliche Ubergriffe" (Dietlein [Fn.68], S.53) geschaffen würden, ist angesichts der nur relativen Bedeutung expliziter Gesetzesvorbehalte für die Beschränkungsmöglichkeiten von Grundrechten einerseits, der tragenden Rolle von Schutzbereichsbestimmungen, Eingriffsqualität und - vor allem - den Schranken-Schranken des Übermaßverbotes wie insgesamt des Abwägungsgrundsatzes ein reichlich kühner und zu schematischer (Kurz-)Schluß. 94 Treffend G. Lübbe-Wo/f!. Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 100: ,,Der substantielle Freiheitsschutz, den die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte vermitteln, wird nicht durch ihren Schutzbereich als solchen festgelegt, sondern durch das Zusammenspiel von Schutzbereich und Schranken, das erstens einen effektiven Garantiebereich des Grundrechts und zweitens die Primärkompetenz des Gesetzgebers für die Feststellung sichert, daß eine bestimmte Freiheitsbetätigung nicht in diesen effektiven Garantiebereich fallt. Diese Sicherungen und nicht der Schutzbereich als solcher machen den wirklichen Inhalt der Grundrechte aus." 95 Vgl. dazu etwa Maunz (Fn. 68),Art. 142 Rn. 17; zum ganzen auch Leisner (Fn. 84), S. 15 ff.

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mit dem Prinzip der Verfassungshoheit der Gliedstaaten kaum vereinbar. Die konstruktiven Argumentationswege, die zu dieser Aussage und damit zum Ausgangspunkt für die Bestimmung der Kollisionsfälle führen, sind indes unterschiedlich 96. Man kann zum einen die in Art. 142 GG angesprochene "Übereinstimmung" als "Nicht-Widerspruch" deuten und damit in den Geltungsbereich des Art. 142 GG alle dem Grundgesetz nicht widersprechenden Landesgrundrechte einbeziehen 97 • Liegt ein Widerspruch vor, so folgt aus der Kollision mit dem vorrangigen Bundesrecht die Nichtigkeit des Landesgrundrechts. Eine andere, argumentativ etwas aufwendigere und auf das Zusammenspiel zwischen Art. 142 und 31 GG Wert legende Meinung geht davon aus, daß Art. 142 GG direkt und unmittelbar nur für im positiven Sinne inhaltlich übereinstimmende Grundrechte gilt 98 • Für Fälle der Nichtübereinstimmung jeder Art trifft dieser Ansicht zufolge Art. 142 GG keine Anordnung. Insofern gelten vielmehr die allgemeinen Regeln, insbesondere die Kollisionsnorm des Art. 31 GG. Daraus wiederum folgt, daß im Falle eines Widerspruchs zu entgegenstehendem Bundesrecht, also auch zu Bundesgrundrechten, Landesgrundrechte nichtig sind. Welchen argumentativen Weg man auch immer beschreitet: Entscheidend ist die sachlich-inhaltliche Frage, wann eine Kollision gegeben ist 99 • Sie ist für die beiden denkbaren Abweichungen 100 getrennt zu beantworten; wenn Landesgrundrechte mit Bundesgrundrechten nicht identisch sind, so können sie entweder hinter ihnen zurückbleiben, also weniger gewähren, oder über sie hinausgehen, also mehr gewährleisten (wobei hierzu auch die Fälle zu zählen sind, in denen ein aliud garantiert wird). Die besonders in der Kommentarliteratur verbreitete Generaleinschätzung sieht dah..i so aus, daß Fälle der Mindergewährleistung als dem Grundgesetz widersprechend und von daher als nichtig angesehen werden, während man die Fälle der Mehr-Gewährleistung einschließlich der aliud-Gewährleistung als weitgehend unproblematisch ansieht. Die hier vertretene Position - die keineswegs singulär ist 101 - geht in die entgegengesetzte Richtung. Landesgrundrechte, die weniger als die des Grundgesetzes gewähren, bleiben danach weitgehend in Kraft; als problematisch und in vielen (nicht allen!) Konstellationen mit Bundesgrundrechten nicht vereinbar erweisen sich hingegen die Fälle, in denen 96 Im einzelnen spielt hier die Auslegung der Wendung "auch insoweit" ebenso eine Rolle wie die Formulierung "in Übereinstimmung mit" (Art. 142 GG); vgl. Leisner (Fn. 84), S. 21; v. Olshausen (Fn. 74), S. 117; Sachs (Fn. 74), S. 470, 472, 478; Dietlein (Fn. 68), S. 137. 97 So Maunz (Fn.68), Art. 142 Rn. 5; v. Münch (Fn. 81) Art. 142 Rn. 5; Rüfner (Fn. 87), S. 669. 98 Zu nennen ist insbesondere Dietlein (Fn. 68), S. 35, 38, 42 ff. m. w. N. 99 Vgl. auch Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 42,43. 100 Zu ihnen v. Olshausen (Fn. 74), S. 107 ff.; Dietlein (Fn. 68), S. 34 ff. 101 Ähnlich wie im folgenden etwa Rüfner (Fn.87), S.669; v.Olshausen (Fn.74), S. 121; Gallwas (Fn. 90), S. 540 f.; März (Fn. 35), S. 200; Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 45 ff.; Sachs (Fn. 78), S. 124; w. N. bei Dietlein (Fn. 68), S. 52 Fn. 229.

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Landesgrundrechte mehr und anderes gewährleisten wollen als die Grundrechte des Grundgesetzes. Das gilt es im folgenden etwas genauer zu erläutern.

3. Fälle der Mindergewährleistung a) Hilfreich für das Verständnis der Problematik ist es zunächst, sich die verschiedenen Fallgestaltungen deutlich zu machen. Im wesentlichen kommen drei Möglichkeiten in Betracht. Das Landesgrundrecht kann erstens einen engeren Schutz- oder Regelungsbereich haben 102; die Grundrechtsträgerschaft kann zweitens enger geregelt sein; das Landesgrundrecht kann drittens stärkeren Einschränkungen unterliegen. Zur Illustration einige Beispiele teils hypothetischer, teils realer Art. Ein engerer Schutzbereich ist gegeben, wenn auf Landesebene zwar die Meinungsfreiheit, nicht aber auch die Informationsfreiheit geschützt ist, nur das Eigentum, nicht aber das Erbrecht gewährleistet wird, lediglich die Forschungsfreiheit, nicht aber die Lehrfreiheit garantiert ist oder die Unverletztlichkeit der Wohnung nicht auf Geschäftsräume erstreckt wird 103. Die Grundrechtsträgerschaft ist enger gefaßt, wenn etwa ein bundesrechtliches Jedermann-Grundrecht wie der Schutz von Ehe und Familie als Deutschen-Grundrecht ausgestaltet ist. Von stärkeren Grundrechtsschranken ist schließlich auszugehen, wenn ein bundesrechtlich vorbehaltlos gewährtes Grundrecht einem qualifizierten oder gar einfachen Gesetzesvorbehalt unterworfen wird oder es an der Junktim-Klausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG fehlt 104 • b) Wie angedeutet, nimmt die überwiegende Rechtslehre in solchen Fällen einen Widerspruch zu Art. 142 GG bzw. Art. 31 GG an, woraus die Nichtigkeit der landesrechtlichen Bestimmungen folgt 105. Die sogenannte ,,Ergänzungslehre" 106 suchte hier mit dem Denkbehelf einer automatischen Auffüllung engerer Landesgrundrechte auf Bundesstandard Abhilfe zu schaffen; zu Recht hat sich diese Auffassung, die mehr als "Denkmöglichkeit" 107 in die Diskussion aufgenommen wurde, nicht durchsetzen können 108. Zu tief wäre der Einschnitt in die 102 Zur Terminologie vgl. B. Pieroth I B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht 11,7. Aufl. 1991, Rn. 225 ff. 103 Weitere Beispiele bei Dietlein (Fn. 68), S. 41, 53 f. 104 Auch das Beispiel einer gegenüber Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG hinausgehenden Frist oder die Statuierung ausdrücklicher Grenzen für die Wissenschaftsfreiheit wie in Art. 31 Abs. 2 BrandenbVerf (vgl. U. Sacksojsky, Landesverfassung und Grundgesetz - am Beispiel der Verfassungen der neuen Bundesländer, in: NVwZ 1993, S. 235 ff. [238]) wäre hier zu nennen. 105 So etwa Böckenjörde I Grawert (Fn. 32), S. 126; Jutzi (Fn. 26), S. 38; v. Münch (Fn. 81), Art. 142 Rn. 7; Denninger (Fn.89), Art. 142 Rn. 7. - w. N. bei Dietlein (Fn. 68), S. 41 Fn. 176, S. 55 Fn. 235. 106 Nachweise dazu etwa bei Sachs (Fn. 74), S. 473 f. m. w. N. 107 Sachs (Fn. 74), S. 473. 108 Kritisch bereits Leisner (Fn. 84), S. 20; Maunz (Fn. 68), Art. 142 Rn. 15; gegen sie auch v. Olshausen (Fn. 74), S. 122; zusammenfassend Dietlein (Fn. 68), S. 11, 12.

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Verfassungshoheit der Länder, zu abenteuerlich die Konstruktion für Landesverfassungen ohne Grundrechte. Das zentrale Argument für die herrschende Auffassung ist ebenso einfach wie schlagend: Da Art. 142 GG einen "Mindeststandard" 109 garantieren wolle, könne die Unterschreitung desselben durch Landesgrundrechte der genannten Art nicht hingenommen werden. c) Diese auf den ersten Blick plausible Position sieht sich zunächst kleineren kritischen Einwänden ausgesetzt. Sind nicht die restriktiveren Landesgrundrechte immer noch ein Plus im Verhältnis zu denjenigen Bundesländern, deren Verfassungen sich auf ein Organisationsstatut beschränken? 110 Des weiteren hat man treffend beobachtet, daß die herrschende Meinung triftig nur für Freiheitsrechte und auch für diese nur in ihrer status-negativus-Dimension ist. Die Gleichheitsgrundrechte vermag sie ebensowenig zu erfassen wie teilhaberechtliche Komponenten von Freiheitsgrundrechten 111. Und schließlich hat man bemerkt, daß die Formel von der Garantie des Mindeststandards in den Beratungen des Parlamentarischen Rates ausschließlich im Hinblick auf extensivere Grundrechtsgewährleistungen auf Landesebene geprägt worden ist 112 - man wollte einen bundesrechtlichen Mindeststandard mit landesrechtlicher Erweiterungsmöglichkeit. Entscheidend gegen die herrschende Auffassung spricht, daß es zu einer Kollision im Sinne miteinander unvereinbarer, sich widersprechender Normbefehle zwischen Bundesgrundrecht und weniger weitreichendem Landesgrundrecht gar nicht kommt. Ein echtes Unterschreiten des grundgesetzlich garantierten Standards durch die Länder ist nicht möglich. Denn das weniger weitreichende Landesgrundrecht impliziert in keinem Fall das Gebot, das weiterreichende Bundesgrundrecht außer Anwendung zu lassen. Weder wollen noch können Landesgrundrechte den bundesgrundrechtlichen Gewährleistungsgehalt schmälern. Art. 1 Abs. 3 GG bindet alle staatliche Gewalt, und zwar im Bund wie in den Ländern 113. Deswegen sind Landesgesetzgebung, Landesverwaltung und Landesrechtsprechung ohnehin unmittelbar, also im Sinne eines direkten Durchgriffs, an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden 114. Ganz unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz von Landesgrundrechten wird also auch durch die Staatsgewalt der Bundesländer der bundeseinheitliche Mindeststandard gewahrt. 109 So der Vorsitzende des Hauptausschusses Dr. Carlo Schmid in der Sitzung vom 19.11.1948 (zitiert nach JöR 1 [1951], S. 911). 110 In diese Richtung etwa v. Olshausen (Fn.74), S. 122; Gallwas (Fn.90), S. 541 Fn. 30; Sachs (Fn. 74), S.478. 111 Kritisch bereits Maunz (Fn. 68), Art. 142 Rn. 14. 112 Sachs (Fn. 74), S.473. 113 Detailliert C. Starck, Das Bonner Grundgesetz (Art. 1 - 5). Kommentar, begr. v. H. von Mangoldt. Fortgef. v. F. Klein, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rn. 138 ff. 114 Stern (Fn. 23), S. 704 spricht vom "direkten Durchgriff der Bundesverfassung auf die Länder"; März (Fn. 35), S.200, 202 u. ö. nennt das die "ganzheitliche Wirkung". - Vgl. Werner (Fn. 40), S. 63 sowie die Angaben bei Fn. 40.

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Gegenüber der Landesstaatsgewalt aber, für die die gliedstaatlichen Grundrechte ohnehin nur gelten 115, verschlägt es nichts und kann es aus bestimmten Gründen sogar von Vorteil sein, sich auf die scheinbar oder tatsächlich restriktivere Grundrechtsverbürgung der Landesverfassung zu berufen und den - konsequenterweise vorzusehenden entsprechenden prozessualen Weg zu beschreiten. Leisner hat es für Bayern auf den Punkt gebracht: ,,Es ist ja nicht einzusehen, warum neben einem breiteren Weg nach Karlsruhe nicht noch ein engerer nach München offenstehen soll" 116.

d) Das Gemeinte ist an den bezeichneten Fallkonstellationen kurz zu erläutern. Die geringsten Probleme bereitet der engere Zuschnitt des Schutzbereiches einiger Grundrechte. Denn es spricht ja nichts dagegen, daß sich der in seiner Privatwohnung Belauschte, in der Forschung Gegängelte, im Eigentum Geschädigte oder in seiner Meinungsäußerungsfreiheit Verletzte nicht - auch! - vor seinem Landesverfassungsgericht auf die ihn schützenden entsprechenden Landesgrundrechte soll berufen können 117. Nichts anderes gilt bei der landesrechtlichen Verengung der Grundrechtsträgerschaft. Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Deutschen-Grundrechten und Jedermann-Grundrechten ist auch dem Grundgesetz nicht fremd. Soll die landesrechtliche Verfassungsautonomie nicht bloß verbales Bekenntnis sein, wird man den Ländern nicht die Befugnis absprechen können, von dieser Differenzierung auch mit anderen Bewertungen Gebrauch zu machen 118. Zudem greift hier wiederum das Argument, daß im Vergleich zu einem völligen landesrechtlichen Verzicht auf die Statuierung von Grundrechten das "Minus" in Bezug auf die Trägerschaft immer noch ein "Plus" gegenüber dem völligen Ausfall von Grundrechtsgewährleistungen ist. Der bundesgrundrechtliche Mindeststandard, der insofern Deutsche und Nichtdeutsche gleich behandelt, kann durch die landesrechtliche Vorschrift nicht unterschritten werden. 115 Geringfügige Ausnahmen einer zumindest mittelbaren Bindung auch der Ausübung von Bundesstaatsgewalt können hier außer Betracht bleiben. 116 Leisner (Fn. 84), S. 21. 117 Praktische Relevanz erlangt diese Möglichkeit natürlich nur dann, wenn das Landesrecht die Möglichkeit einer Landesverfassungsbeschwerde überhaupt vorsieht. Dies ist nicht in allen Bundesländern der Fall, noch nicht einmal in allen Bundesländern, die Grundrechte - seien es die vom Bund rezipierten, seien es eigene - statuieren. Dieser unbefriedigende Zustand einer materiell-rechtlichen Grundrechtsgewährleistung ohne verfassungsprozessuale Durchsetzungsmöglichkeit bietet allerdings kein Argument gegen die hier vertretene Auffassung, sondern zeigt nur die fehlende Stringenz jener Regelungen auf. Die Gewährung von Landesgrundrechten hat hier etwas Dekorhaftes. Doch ließen sich jene Mängel durch Änderung des Landesrechts ohne weiteres beheben. Die neuen Bundesländer haben sich für die Landesverfassungsbeschwerde entschieden (vgl. J. Dietlein, Landesverfassungsbeschwerde und Einheit des Bundesrechts, in: NVwZ 1994, S. 6 ff. [6]). - Vgl. auch Fn. 88. 118 Es dürfte ohnehin nicht ganz einfach sein, in der Aufteilung zwischen JedermannGrundrechten und Deutschen-Grundrechten auf Grundgesetzebene ein strikt durchgehaltenes "System" zu erkennen. Zum Problem ausführlich K. Stern (unter Mitwirkung von M. Sachs), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1016 ff.; W. Rü!ner, Grundrechtsträger, in: HStR V, 1992, § 116 Rn. 3 ff.; schon auf einfachgesetzlicher Ebene ist etwa die den Deutschen gewährte Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG erweitert worden (vgl. § 1 VersG).

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Denkbar sind nur ,,Privilegierungen" der Bürger des jeweiligen Bundeslandes. (Daß hier allerdings Verwerfungen auftreten können, wenn es um teilhaberechtliche oder andere komplexe Regelungen auch auf einfachgesetzlicher Ebene geht, sei ausdrücklich vermerkt.) Nichts anderes gilt im Ergebnis für die dritte Fallgruppe, nämlich die intensiveren Einschränkungsmöglichkeiten des Landesgrundrechts im Verhältnis zu seinem bundesrechtlichen Pendant. Hier sind gleichsam im Vorwege noch Fragen klärungsbedürftig, bevor überhaupt von einer Mindergewährleistung gesprochen werden kann. Zum einen betrifft dies den Punkt, ob der Landesgesetzgeber von der grundrechtlichen Einschränkungsmöglichkeit aktuell Gebrauch gemacht hat oder ob das bloße Vorliegen der Einschränkungsmöglichkeit bereits ausreicht 119. Nicht nachhaltig genug betont werden kann schließlich, daß allein mit der kategorialen Unterscheidung zwischen vorbehaltlos gewährten Grundrechten, Grundrechten mit qualifizierten und solchen mit einfachem Gesetzesvorbehalt noch nichts Endgültiges über die tatsächliche Reichweite, also den effektiven Garantiebereich des Grundrechts ausgesagt ist. Verschiedene Verfassungsgerichte können und dürfen unter Kunst, Wissenschaft, Religion, Glauben, Gewissen, Eigentum, Presse etc. anderes verstehen, können und dürfen die Qualität staatlicher Maßnahmen (Eingriff oder Nichteingriff) unterschiedlich einordnen und daran wiederum unterschiedliche Folgen knüpfen, können und dürfen die Anforderungen an das Verhältnismäßigkeitsprinzip unterschiedlich streng handhaben und bei Abwägungsprozessen andere Wertungspräferenzen vornehmen. Das kann im Ergebnis bedeuten, daß über die Justierung von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung die Schutzintensität eines mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechts im Bundesland A weiterreicht als im Bundesland B oder auf bundesstaatlicher Ebene, wo es normtextlich vorbehaltlos gewährleistet ist. Doch selbst wenn ein eindeutiges Minus gegenüber den Bundesgrundrechten vorliegen sollte, ist einem Unterschreiten des bundesgrundrechtlichen Schutzstandards - wie ausdrücklich wiederholt sei - durch die unmittelbare Bindung auch der Landesstaatsgewalt an Art. 1 Abs. 3 GG vorgebeugt l20 • e) Gerade weil dem aber so ist, hat man nicht von ungefähr nach Sinn und Zweck des Fortgeltens zurückbleibender Landesgrundrechte gefragt und gemeint, 119 Die Meinungen sind hier geteilt: Im Sinne der ersten Alternative Sachs (Fn. 74), S. 478; Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 48; s. auch Maunz (Fn. 68), Art. 142 Rn. 16. Pointierte Gegenposition bei Dietlein (Fn. 68), S. 53. 120 Vgl. v. Olshausen (Fn.74), S. 121 f. Transparente Begründung bei Gallwas (Fn. 90), S. 541: "Wortlaut und Zielsetzung/wird am besten dadurch entsprochen, daß ein Landesgrundrecht auch dann wirksam bleibt, wenn es den grundgesetzlichen Standard unterschreitet. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß dann das Bundesgrundrecht Schaden leidet. Denn dem Bundesgrundrecht wird durch einen beschränkteren landesverfassungsrechtlichen Schutz nichts genommen; es entfaltet seine volle Wirksamkeit aufgrund des Art. 1 Abs. 3 GG auch gegenüber der Landesstaatsgewalt und kann notfalls durch die Bundesrechtsprechung bis hin zur Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt werden. Wenn der Betroffene zugleich das Landesverfassungsgericht anrufen kann, um den geringeren Schutz der Landesverfassung zu aktualisieren, tut dies dem Bundesgrundrecht keinen Abbruch."

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den Kritikern der herrschenden Meinung mißlinge die Begründung dafür, "worin der Sinn des Fortbestehens eines Landesgrundrechts liegt, das zu staatlichen Grundrechtseingriffen berechtigt, welche dem gleichen (Glied-)Staat durch Bundesgrundrechte verboten sind" 121. Doch läßt sich dieser Sinnlosigkeitsverdacht zerstreuen. Sinn und Zweck der Fortgeltung restriktiverer Landesgrundrechte ist kein anderer als der der Aufrechterhaltung inhaltsgleicher Landesgrundrechte, also des unbestrittenen Kerns des Art. 142 GG. Denn auch diese sind ja, da sie keinen intensiveren Grundrechtsschutz gewähren als die Bundesgrundrechte, jedenfalls nach Institutionalisierung der Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz "eigentlich" überflüssig. Die vermißte Antwort lautet: Weil gepflegt und gefördert werden soll, was Anliegen und Funktionsprinzip der bundesstaatlichen Organisation schlechthin ist: Vielfalt, Konkurrenz, Alternativenreichtum, Innovationspotential 122 • Diesen Postulaten trägt die Zulassung der Möglichkeit unterschiedlicher verfassungs gerichtlicher Judikatur zu Grundrechten gleichen oder unterschiedlichen Schutzniveaus Rechnung. Die Verdoppelung der "Interpretationswege" 123 birgt ein Potential für die fruchtbare Weiterentwicklung der Grundrechtsinterpretation in sich, das nicht ungenutzt bleiben sollte. Einige Beispiele sind allgemein geläufig. Erinnert sei etwa an die vom Sasbach-Urteil des Bundesverfassungsgerichts abweichende Judikatur des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zur Anerkennung von Gemeinden als Trägem des Eigentumsgrundrechts 124 oder an die Urteile Vitzthum (Fn. 36), S. 33; ebenso v. Mangoldt (Fn. 51), S. 45 Fn. 116. Aus der längst nicht mehr überschaubaren Literatur: H.-P. Schneider, Kooperation, Konkurrenz oder Konfrontation? Entwicklungstendenzen des Föderalismus in der Bundesrepublik, in: Lebendige Verfassung -das Grundgesetz in Perspektive, 1981, S. 91 ff. (113 ff.: Politikenkonkurrenz im ,,kompetitiven" Bundesstaat); Stern (Fn. 23), S. 657 ff. (658 f.: "Wettbewerb, Kontrolle, Entfaltung von Alternativen und das Wechselspiel von Mehrheit und Minderheit in der politischen Verantwortung, die Eindämmung von Machtmißbrauch und der Trend stärkerer Rationalität und Verantwortlichkeit in der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben - dies alles sind im wesentlichen die Argumente, die für einen föderativen Staatsaufbau ins Feld geführt werden"); allgemein zur Legitimation des Bundesstaates J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98 Rn. 299 ff. 123 J. Isensee, VVDStRL 46 (1988), S. 123 (Diskussionsbemerkung): ,,Es bestehen weder rechtliche noch politische Notwendigkeiten, daß die Landesverfassungen auf dem niedrigen Bedeutungsniveau verharren, auf dem sie sich heute befinden. In ihnen steckt ein ungenutztes normatives Potential, das dem föderalen Verfassungs staat vielfältige Lebensimpulse geben könnte: ein Potential an Interpretationsvielfalt, an Innovation, an regionalem, dezentralem Experiment, an kreativer Ergänzung der Bundesverfassung. Selbst dort, wo die Verfassungstexte des Bundes und eines Landes übereinstimmen, bietet sich mehr als die Verdoppelung der Rechtsschutzwege. Es verdoppeln sich auch die Interpretationswege, wenn nur genug Interpretationsphantasie und föderales Selbstbewußtsein vorhanden sind." Siehe auch K. Stern, ebd., S. 138 ff. Die Möglichkeit der Innovation betont ebenfalls Klein (Fn. 37), S. 1331, 1333. 124 Vgl. einerseits BVerfGE 61,82/108 f.; andererseits BayVerfGH NVwZ 1985, 260; dazu etwa H. Domcke, Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zum Kommunalrecht, in: NVwZ 1984, S. 616 ff. (617); ablehnend W. Bambey, 121

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des Hessischen Staatsgerichtshofes zum Ausgleich zwischen staatlicher Schulaufsicht und elterlichem Erziehungsrecht 125. Warum sollte nicht Neues, ja Wegweisendes zum Schutzbereich von Grundrechten landesverfassungsgerichtlich auch dann entwickelt werden, wenn die Länder hier gewissermaßen auf der zweiten Stufe restriktivere Vorbehalte kennen? 126 Letztlich bleibt die Möglichkeit zu bedenken, daß aufgrund bundesverfassungsrechtlicher Änderungen das engere Landesgrundrecht von heute zum großzügigeren von morgen werden kann 127. Mögliche Differenzen und Unstimmigkeiten sind im föderalen Gemeinwesen nichts Pathologisches, sondern liegen in seinem Kalkül. Der Bundesstaat will Vielfalt, Eigenständigkeit, vielleicht sogar Eigensinnigkeit. Er macht dabei vor der Staatsorganisation ebensowenig halt wie vor den Grundrechten. Er ,,riskiert" Uneinheitlichkeit, ja vermeintliche Widersprüchlichkeit, um sich als "dynamisches System" 128 insgesamt nur umso flexibler, innovationsfreudiger und gerade dadurch leistungsfähiger zu erweisen. Zugleich wird mit dieser länderfreundlichen Position die These vom eigenständigen Nebeneinander gesamtstaatlicher und gliedstaatlicher Verfassungsordnung, also die Verfassungsautonomie der Länder, ernst genommen. f) Im Ergebnis heißt dies: Prinzipiell bleiben auch im Fall der Minder-Gewährleistung die Landesgrundrechte in Kraft. Werden allerdings die restriktiveren landesverfassungsgrundrechtlichen Gesetzesvorbehalte durch Landesgesetze aktualisiert (etwa durch Handlungsermächtigung an die Polizei, bei Freiheitsentziehungen die Vorführung vor den Richter erst nach 96 Stunden vorzunehmen), so scheitern diese an Art. 31 GG.

Gemeinden als Träger der landesverfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie? , in: NVwZ 1985, S. 248 ff. (249 f.). Zusammenfassende Darstellung bei F.-L. Knemeyer, Die Stellung der bayerischen Gemeinden nach Grundgesetz, Bayerischer Verfassung und bayerisehen Landesgesetzen, in: ders. (Hrsg.), Bayerische Gemeinden - Bayerischer Gemeindetag. Festschrift 75 Jahre Bayerischer Gemeindetag, 1987, S. 97 ff. (122 ff.). 125 Vgl. HessStaatsGHNJW 1982,1381; anders BVerfGE 53,185/195. Dazu I. Richter, Die Verwirklichung landesverfassungsrechtlicher Grundrechte, in: JuS 1982, S. 900 ff. - Wiederum zur staatlichen Schulorganisation HessStaatsGH NVwZ 1984, 90/91 f.; zu Art. 7 Abs. 4 GG HessVGH NVwZ 1984, 118/122. - Zum Gesamtkomplex P. J. Tettinger, Die politischen und kulturellen Freiheitsrechte der Landesverfassungen in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: C. Starck / K. Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilbd. III, 1983, S. 271 ff. (298 ff.). 126 Dahingestellt soll hier bleiben, ob das Innovationsreservoir landesverfassungsgerichtlicher Judikate sich noch besser nutzen ließe, wenn man die im Dornröschenschlaf liegende Divergenzvorlage des Art. 100 Abs. 3 GG (bislang vier Fälle: BVerfGE 3, 261; 13, 265; 18, 407; 36, 342) aktivieren würde. Die entsprechenden Vorschläge bei Rurmeister (pn. 89), S. 421 ff, 457 ff. beruhen allerdings auf der anfechtbaren Prämisse, daß bei inhalts gleichen Grundrechten die divergierende Auslegung des Landesgrundrechts durch ein Landesverfassungsgericht den Mechanismus des Art. 100 Abs. 3 GG auslösen kann. - Vgl. auch oben Fn. 89. 127 Sachs (Fn. 74), S. 478. 128 A. Renz, Föderalismus als dynamisches System, 1985.

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4. Fälle der Mehr-Gewährleistung

Ein bei unserem Themenkomplex schon überraschendes Maß an Übereinstimmung herrscht bei der allgemein bejahten Frage des Fortgeltens extensiverer Landesgrundrechte l29 • In der Tat: Wenn Art. 142 GG einen Mindeststandard garantieren will, dann scheint ein Mehr an Freiheit nicht nur möglich, sondern vielleicht sogar wünschenswert. Indes erweist sich die Erweiterung individueller Freiheitsräume nur in den vergleichsweise einfach strukturierten Fällen individueller Abwehrrechte im bipolaren Staat-Bürger-Verhältnis als unproblematisch. In anderen Konstellationen stößt der weitergehende Schutz durch Landesgrundrechte rasch an die Grenzen des Grundgesetzes (von den Grenzen einfachen Bundesrechts zunächst einmal abgesehen). Dies soll abschließend erläutert werden. a) Zunächst auch hier zu den Fallkonstellationen. Es kann sich bei der MehrGewährleistung um neue, dem Grundgesetz mit diesem Aussagegehalt nicht bekannte Grundrechte handeln, also um ein aliud. Gern zitiertes Beispiel ist Art. 4 Abs. 2 der Nordrhein-westfälischen Verfassung über den Schutz personenbezogener Daten, wie ihn jetzt auch die Verfassungen der neuen Bundesländer kennen 130. Des weiteren ist hier das in der Bayerischen Verfassung verankerte und viel belächelte Recht auf den Genuß von Naturschönheiten und Erholung (Art. 141 Abs. 3 S. 1 BayVerf) zu nennen 131. Spielraum für Grundrechtsinnovationen, wie er zum Teil von den Verfassungen der neuen Bundesländern genutzt wird, gibt es ferner im Bereich von Kultur, Schule und Erziehung 132. Nachweise bei Dietlein (Fn. 68), S. 49 ff. Vgl. D. Grimm, Verfassungsrecht, in: ders. / H.-J. Papier (Hrsg.), Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 1 ff. (54 ff.) - S. nunmehr Art. 11 Abs. 1 BrandenbVerf; Art. 6 Abs. 1 Meckl.-VorpVerf; Art. 6 Abs. 1 Sachsen-AnhVerf; Art. 33 SächsVerf. (dazu Will [Fn. 51], S.476). 131 Dazu W. Rüjner, Die persönlichen Freiheitsrechte der Landesverfassung in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: C. Starck / K. SterI?: (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilbd. rn, 1983, S. 247 ff. (266 ff.) - Ahnlich jetzt Art. 10 Abs. 3 SächsVerf. - Diese Regelungen geben Anlaß zu der KlarsteIlung, daß es sich um Grundrechte im Sinne subjektiver, einklagbarer Rechte des Einzelnen handeln muß, nicht um bloße Staatsziele oder Prograrnmsätze (treffendJ. Dietlein, Landesgrundrechte im Bundesstaat, in: Jura 1994, S. 57 ff. [58]). Dabei ist nicht der Wortlaut einer Norm, sondern ihr Sinn und Regelungsgehalt entscheidend. Bei den meisten "sozialen Grundrechten" handelt es sich nicht um direkt einklagbare subjektive Rechte. Das Recht auf Wohnung und das Recht auf Arbeit, wie es ebenfalls die Bayerische Verfassung kennt, sind vom BayVerfGH denn auch konsequenterweise als Prograrnmsätze, nicht als Grundrechte eingestuft worden (vgl. BayVerfGHE 15 [1962] 11, S. 49 ff.; 13 [1960] 11, S. 141 ff.). Grundsätzlich zum Problem E.-W. Böckenjörde. Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge (1980), in: ders., Staat. Verfassung, Demokratie, 1991, S. 146 ff.; Bericht der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge", 1983. 132 Aus den Verfassungen der neuen Bundesländer: Art. 11,22 Abs. 2, 29 (Sachsen); Art. 29, 34 Abs. 1 (Brandenburg). Ferner wären die in vielen Landesverfassungen enthaltenen Erziehungsziele zu nennen. 129

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Mehr-Gewährleistungen können auch in der Erweiterung des Regelungs- oder Schutzbereichs eines Grundrechts liegen. Fiktives Beispiel ist die Gewährung der Versammlungsfreiheit auch für unfriedliche und bewaffnete Zusammenrottungen, reales Beispiel die Erstreckung des Schutzes von Ehe und Familie auf nichteheliche Lebensgemeinschaften, wie sie die Brandenburgische Verfassung kennt (Art. 26 Abs. 2) 133. Ferner ist an eine Erweiterung der Grundrechtsträgerschaft zu denken, also z. B. die Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit zu einem Jedermann-Grundrecht, wie dies in einigen Verfassungen der alten und neuen Bundesländer geschehen ist 134. Schließlich ist der Wegfall von Begrenzungen oder die Fixierung strengerer Voraussetzungen für die Einschränkbarkeit eines Grundrechts zu nennen: also das Erfordernis eines qualifizierten Gesetzesvorbehalts anstelle eines einfachen und die damit - allerdings nicht zwingend - verbundene Erweiterung des effektiven Garantiebereichs eines Grundrechts 135. b) Soweit zu den denkbaren Fallkonstellationen. Jede von ihnen wirft besondere Probleme auf, denen nicht im einzelnen nachgegangen werden kann. Im folgenden müssen allgemeinere Überlegungen genügen. Vergleichsweise einfach stellen sich die Dinge dar, wenn es bei der MehrGewährleistung um die Vergrößerung des Freiheitsraumes im bipolaren StaatBürger-Verhältnis ohne wesentliche Beeinträchtigung Dritter geht. Die Verkürzung der grundgesetzlichen Frist zur Vorführung vor den Richter bei der Freiheitsentziehung bildet ein plastisches Beispiel 136. Die prinzipielle Bejahung der Ver133 Dazu ausführlich J. Dietlein, Der Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den Verfassungen und Verfassungsentwürfen der neuen Länder, in: DtZ 1993, S. 136 ff. mit richtiger Betonung der zentralen Frage, ob wegen der objektiv-rechtlichen und institutionellen Schutzseite des Art. 6 Abs. 1 GG in der landesgrundrechtlichen Erweiterung nicht zugleich eine mit dem Grundgesetz unvereinbare Entprivilegierung des Schutzes von Ehe und Familie vorliegt. Auch hier zeigt sich wieder, daß jenseits der rein abwehrrechtlichen Dimension Grundrechtserweiterungen ohne gleichzeitige Beschränkungen anderer (Rechts-)Positionen nicht ohne weiteres möglich sind. - Sacksofsky (Fn. 104), S. 237 nennt als weitere Beispiele: Erweiterung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit um die seelische Unversehrtheit (Art. 5 Abs. 2 Sachsen-AnhVerf) und die Würde im Sterben (Art. 8 Abs. 1 BrandenbVerf). 134 Vgl. folgende Verfassungsbestimmungen: Art. 113 BayVerf, Art. 16 BremVerf, Art. 23 Abs. 1 BrandenbVerf, Art. 23 Abs. 1 SächsVerf, Art. 12 Abs. 1 SachsenAnhVerf. - Weitere Beispiele bei Will (Fn. 51), S. 407 f. und H. Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: HStR V, 1992, § 120 Rn. 5, der in derartigen Fällen einen Kollisionsfall zwischen Bundesrecht und Landesrecht mit der Folge der Nichtigkeit der landesgrundrechtlichen Regelungen annimmt (Rn. 9). 135 Beispiele: Art. 108 Bay Verf kennt das beschränkende Erfordernis der Verfassungstreue des Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG bei der Lehrfreiheit nicht. - Art. 9 Abs. 3 BrandenbVerf, Art 19 Abs. 2 S. 1 HessVerfund Art. 5 Abs. 2 Rheinl.-PfalzVerfverlangen bei Freiheitsentziehungen eine Vorführung beim Richter innerhalb von 24 Stunden, also in einer kürzeren Frist als Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG. Hier wird der bundesrechtliche Mindeststandard übertroffen, die Landesstaatsgewalt ist an die entsprechenden Landesverfassungsnormen gebunden. Nach allgemeiner Auffassung (vgl. Nachweise bei Dietlein [Fn. 68], S. 50 Fn. 216) liegt kein Kollisionsfall vor. - Nicht gebunden ist aber etwa der in den Ländern agierende Bundesgrenzschutz (Pietzcker [Fn. 23], § 99 Rn. 56).

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größerung des individuellen Freiheitsraumes durch weitergehende Landesgrundrechte fallt leicht, wenn man sich ganz auf die Dimension des subjektiven Abwehrrechts konzentriert 137. Doch birgt eine solche Perspektive die Gefahr gravierender Verkürzungen in sich. Denn bei den Grundrechten geht es ja längst nicht allein um die Grenzregulierung zwischen omnipotenter Staatsgewalt und autonomem Individuum. Stets ist .die Ausgleichsbedürftigkeit konkurrierender und häufig konfligierender Grundrechtsverwirklichungsansprüche Dritter zu bedenken 138. So dokumentiert sich in den Grundrechtsschranken die Notwendigkeit, legitime Ansprüche des Gemeinwesens und solche anderer Grundrechtsträger gegen den gewissermaßen "wildwüchsigen" Freiheitsgebrauch zur Geltung zu bringen 139. Vollends deutlich wird die komplexe Struktur grundrechtlicher Gewährleistungen, wenn man die Vielfalt der Grundrechtsdimensionen ins Auge faßt und auch ihre teilhabe- und leistungsrechtliche, organisations- und schutzrechtliche Seite berücksichtigt 140. In solchen polygonalen Rechtsverhältnissen ist aber die Freiheit des einen häufig nur auf Kosten der Freiheit des anderen zu realisieren 141. Des einen Lust ist des anderen Last, des einen Recht des anderen Pflicht. Die wohlfeile Maxime in dubio pro libertate richtet hier nichts aus. Eben solche Konstellationen bilden aber nicht mehr lediglich die Ausnahme, sondern angesichts der Normierungsdichte unseres Rechtssystems und der knappen Ressourcen mehr und mehr den Regelfall l42 • 136 V gl. vorige Fn. Nicht zu übersehen ist allerdings, daß auch hier für ein und denselben Sachverhalt zwei unterschiedliche Rechtsfolgebestimmungen gelten, so daß "eigentlich" ein Kollisionsfall vorliegt. Dieser wird jedoch durch "teleologische Reduktion" (Dietlein [Fn. 68], S. 51) bewältigt. Es geht eben bei Art. 31 GG um die Aufrechterhaltung derjenigen gliedstaatlichen Rechtssätze, die nicht zwingend dem Bundesrecht weichen müssen. 137 Nicht übersehen werden sollte aber, daß auch im gewissermaßen eindimensionalen abwehrrechtlichen Verhältnis zum Teil komplexe Ausgleichs- und Verteilungsentscheidungen zu treffen sind, die allerdings als solche nicht so deutlich in Erscheinung treten wie bei den Dreiecksverhältnissen. Zur Schutzpflichtendimension präzise G. Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 200 ff. Siehe sogleich Fn.141. 138 Es sind vor allem die "Grundrechtsschranken, welche in je besonderer Weise dafür Vorsorge treffen, daß der jeweils spezifische Freiheitsgebrauch mit den legitimen Interessen der anderen und des Gemeinwesens verträglich bleibt" (H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 [1983], S. 42 ff. [76]). 139 Die Wendung "wildwüchsig" bei Pieroth! Schlink (Fn. 102), Rn. 238, 359, 363. 140 Ausführlicher H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993. 141 Man denke etwa an den Hessischen Schulgebetsstreit und seine lange Geschichte; dazu statt aller A. Hollerbach, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des BVerfG (11), in: AöR 106 (1981), S. 219 ff. (268 ff.). Insb. in den SchutzpflichtfaIlen liegt auf der Hand, daß in der gegebenen Dreieckskonstellation der einen Seite ,,nur dadurch etwas gegeben werden (kann), daß der anderen etwas genommen wird" (R. Wahl! J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553 ff. [553]). Tatsächlich macht sich die unausweichliche Ausgleichsbedürftigkeit und Mehrdimensionalität auch in scheinbar rein abwehrrechtlichen Konstellationen bemerkbar wie z. B. bei Beschränkungen des Art. 14 Abs. I GG oder bei der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt.

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c) Von daher erweist sich die Mehr-Gewährleistung grundrechtlicher Substanz auf Landesebene als keineswegs unproblematisch. Rascher als erwartet stoßen entsprechende Verbürgungen an die Grenzen des Grundgesetzes, weil sie sich als Beschränkung von wiederum grundrechtsgeschützten Positionen Dritter erweisen 143. Diese recht allgemeine Aussage sei an drei Beispielen näher erläutert, einem hypothetischen und zwei realen. Das hypothetische Beispiel: Angenommen, eine Landesverfassung statuierte ein uneingeschränktes Recht der Schwangeren auf Abbruch der Schwangerschaft innerhalb der ersten sechs Monate. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 144 verstieße dies gegen die grundrechtIiche Schutzpflicht des Staates zugunsten des ungeborenen Lebens aus Art. 1 Abs. 1,2 Abs. 2 GG. Die landesrechtliche Erweiterung des subjektiv-abwehrrechtlichen Freiheitsraumes der Schwangeren wäre nicht vereinbar mit dem objektiv-rechtlichen Schutzgehalt des Bundesgrundrechts 145. Das erste reale Beispiel: Das in der Hessischen Verfassung enthaltene Aussperrungsverbot kollidiert jedenfalls dann mit Art. 9 Abs. 3 GG, wenn man diesem die Garantie bestimmter Formen der Aussperrung (suspensive Abwehraussperrung) als zulässige Arbeitskampfmaßnahme entnimmt 146. Besonders vertrackt wird es schließlich, wenn landesgrundrechtliche Ausdehnungen der Grundrechtsträgerschaft auf bundesgrundrechtliche TeilhabeanspTÜche derivativer Art treffen 147. Hier kann sich wegen der komplexen Grundrechtsverteilungs- und Grundrechtsausgleichslage der bundesgrundrechtIiche Mindeststandard zugleich als vom Landesrecht nicht zu überschreitender Maximalstandard erweisen 148. Lehrreich ist insofern - dies das zweite reale Beispiel- der 142 Vgl. dazu lsensee (Fn. 123), S. 121; P. Lerche, Nachwort zu: Emst-Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 75 ff. (77 f.); Dreier (Fn. 140), S. 57 m. Fn. 240. 143 Klar gesehen bei Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 50; dort auch Beispiele. 144 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 145 Das Beispiel bei Sachs (Fn. 74), S. 477 und Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 50. 146 So wohl jetzt eindeutig BVerfGE 84, 212/228 ff.; dazu M. Coester, Verfassungsrechtliche Gewährleistung der Aussperrung - BVerfG NZA 1981,809, in: Jura 1992, S. 84 ff. - In einer früheren Entscheidung hatte das BAG (E 33, 140/161 f.) das Aussperrungsverbot durch Bundes(tarif)recht derogiert gesehen (Darstellung bei D. Reuter, JuS 1980, S. 766 ff.). Darin hält es im Grundsatz auch in der neuen Entscheidung fest, meint allerdings, die Fortgeltung des Art. 29 Abs. 5 der Hess Verf scheitere nur daran, daß es sich dabei nicht um ein Grundrecht handele (NJW 1989, 186/ 190)! Das BAG hat also offenbar nicht gesehen, daß im echten Kollisionsfall Landesgrundrechte den Bundesgrundrechten weichen müssen - und zwar auch, wenn sie über bundesgrundrechtliche Gewährleistungen hinausgehen. - Siehe zum ganzen auch Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 50, 51; Dietlein (pn. 68), S. 43 f. 147 Zur Unterscheidung zwischen originären und derivativen Teilhaberechten wegweisend W. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 7 ff. (21 ff.). 148 Das ist bereits angedeutet bei Böckenförde I Grawert (Fn. 32), S. 121: "Weitergehende Grundrechtsverbürgungen der Landesverfassungen gelten daher dann nicht weiter,

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Fall des Hochschulzugangs für Ausländer in harten numerus-clausus-Fächern, mit dem sich u. a. der VGH Kassel mehrfach auseinanderzusetzen hatte 149. Während die Hessische Landesverfassung den Hochschulzugang für alle geeigneten Kandidaten ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit eröffnet 150, ist Art. 12 GG als Deutschen-Grundrecht ausgestaltet. Dieser Grundrechtsartikel gibt nun zwar keinen einklagbaren Anspruch auf Schaffung neuer Studienplätze her 151, begründet aber einen subjektiv-rechtlichen Anspruch des Grundrechtsträgers auf erschöpfende Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten 152. Wird nun die von Art. 12 GG gewollte "Bevorzugung" der deutschen Studienplatzbewerber in numerus-clausus-Fächern durch das hessische Landesgrundrecht ausgehebelt, so daß jedenfalls in Hessen Studienbewerber aller Nationalitäten den besagten Anspruch haben? 153 Der VGH Kassel hat die Frage verneint und die Regelung des Art. 59 Abs. 2 der Hessischen Verfassung für teilnichtig erklärt, weil er sich insofern nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbaren ließe und daher gern. Art. 31 GG unwirksam sei 154. Der Saarländische Verfassungsgerichtswenn das GG klar zu erkennen gibt, daß der von ihm gewährte ,Mindeststandard' zugleich, einschließlich der normierten Grundrechtsschranken, das Höchstmaß des Freiheits- oder Gleichheitsrechts sein soll, über das hinaus Rechtsgewährungen nicht erfolgen dürfen." - S. auch Jutzi (Fn. 26), S. 37; Quaritsch (Fn. 134), § 120 Rn. 6. 149 Vgl. VGH Kassel NVwZ 1988, 855 = JuS 1989, 138 (M. Sachs); VGH Kassel NVwZ 1989, 387. 150 Art. 59 Abs. 2 HessVerf lautet wie folgt: "Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen." - Ähnlich Art. 11 Abs. I Bad.-WürttVerf, Art. 128 Abs. 1 u. Abs. 2 BayVerf, Art. 39 Abs. 5 Rheinl.-PfalzVerf, Art. 33 Abs. 3 S. 1 SaarVerf. - Aus den nelien Bundesländern vgl. etwa Art. 29 Abs. 3, 32 Abs. 3 BrandenbVerf. - Vielfältig bis hin zur Irritation gestaltet sich wiederum die landesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Der BayVerfGH (E 23, 181/185) geht davon aus, daß Art. 128 Abs. 1, Abs. 2 BayVerf kein Grundrecht verbürgt. Der Bad.-Württ. VGH sieht in Art. 11 Abs. 1 Bad.-WürttVerf zwar ein subjektives Recht, stellt es aber unter den Vorbehalt eines Parlamentsgesetzes und der Verwaltungsplanung (ESVGH 20, 23/26f.; 26,216/223). Der SaarlVerfGH (NVwZ 1983, 604 / 605) erblickt in den Hochschulzugangsregelungen der saarländischen wie der baden-württembergischen und der rheinland-pfälzischen Verfassung subjektive Rechte. 151 BVerfGE 33, 303/333 ff. 152 BVerfGE 54, 173/191 ff.; 66, 155/179 ff.; 85, 36/54. 153 Vgl. zum Problem März (Fn. 35), S. 199;Pietzcker(Fn. 23), § 99 Rn. 51; Quaritsch (Fn. 134), § 120 Rn. 11. 154 VGH Kassel NVwZ 1989,387: "Die Unvereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG ergibt sich daraus, daß Art. 29 Abs. 2 HessVerf jedermann gleichen Zugang zu den Bildungseinrichtungen gewährt. Zum Kreis dieser Grundrechtsbegünstigten gehören demnach auch Ausländer. Die Geltung eines jedermann zustehenden landesverfassungsrechtlichen Grundrechts neben dem Staatsbürgergrundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG würde in absolut zulassungsbeschränkten Studiengängen die Zahl der Teilhabeberechtigten vergrößern und die Zulassungsaussichten des Einzelnen vermindern. Dadurch träte eine dem Zweck des Art. 12 Abs. 1 GG zuwiderlaufende Verschärfung des absoluten Numerus clausus ein. Infolgedessen kollidiert Art. 59 Abs. 2 HessVerf mit Art. 12 Abs. 1 GG, soweit das Landesgrundrecht ausländischen Studienbewerbern das gleiche Teilhaberecht einräumt wie deutschen Studienbewerbern. Diese Kollision führt gern. Art. 31 GG zur

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hof ist hingegen bei ähnlicher Verfassungslage zu einem anderen Ergebnis gelangt l55 • Wie auch immer man sich in dieser schwierigen Frage entscheidet: Es zeigt sich jedenfalls, daß es bei der Mehr-Gewährleistung durch Landesgrundrechte zu schwerwiegenden Verwerfungen mit bundesgrundrechtlichen Gewährleistungen kommen kann 156. d) Mit den Beispielen mag es an dieser Stelle sein Bewenden haben. Jedes wirft neue Fragen und spezifische Probleme auf. Zu demonstrieren war allein, daß entgegen der oft allzu unbekümmerten Annahme einer Fortgeltung weiterreichender Landesgrundrechte Vorsicht und subtile grundrechtsdogmatische Arbeit geboten ist. Entgegen dem ersten Anschein kann es gerade hier und weniger in den Fällen der Mindergewährleistung zu Kollisionen mit den Bundesgrundrechten kommen. Diese setzen sich im Konfliktfall durch - und zwar aufgrund von Art. 31 GG mit der Folge der (Teil-) Nichtigkeit bzw. nach einer im Vordringen befindlichen Mindermeinung bloßer Suspension der landesgrundrechtlichen Bestimmungen 157. Unwirksamkeit des Landesgrundrechtes, soweit es im Bereich absoluter Zulassungsbeschränkungen den Kreis der Begünstigten über den des Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG hinaus allgemein ausdehnt". 155 SaarlVerfGH NVwZ 1983,604. Die Ausführungen des SaarlVerfGH sind schon deshalb wenig überzeugend, weil sie den zentralen Konflikt nicht thematisieren, der darin liegt, daß die landesrechtliche Mehrgewährleistung zugleich eine bundesrechtliche Einschränkung bedeutet. Das Gericht begnügt sich hingegen mit allgemeinen Ausführungen darüber, daß Art. 12 GG keinen "Ausschließlichkeitsanspruch" erhebe und die Grundrechtsnormen des Grundgesetzes nur ein Minimum garantieren und weitergehende Grundrechte nicht ausschließen wollten (S. 606). 156 Schon die Konstruktion des Konfliktfalles ist nicht ganz eindeutig. Man wird ihn wohl naheliegenderweise so deuten, daß die landesverfassungsrechtliche Erweiterung der Grundrechtsträgerschaft gegen den auf Deutsche beschränkten Teilhabegehalt des Art. 12 GG verstößt und von daher eine gern. Art. 31 GG aufzulösende Kollision vorliegt. -März (Fn. 35), S. 199 will die Konstellation offenbar so verstehen, daß der grundrechtliehe Mindeststandard für die Deutschen unterschritten wird, so daß sich der Konflikt ohne Rückgriff auf Art. 31 GG direkt aufgrund der unmittelbaren Geltung des Art. 1 Abs. 3 GG löst (vgl. aber auch März [ebd., S. 203]). 157 Vgl. die weitergehenden Nachweise bei März (Fn. 35), S. 203; Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 51; Dietlein (Fn.68), S. 56 f. Die im Vordringen begriffene Mindermeinung nimmt an, das Landesverfassungsrecht werde im Kollisionsfall nicht gebrochen, sondern nur überlagert; bei Fortfall des entgegenstehenden Bundesrechts lebe es wieder auf. Diese Modifikation sei wegen des Respekts vor der Verfassungsautonomie der Länder geboten (so vor allem v. Olshausen [Fn. 74], S. 125 ff.). Die hiergegen gerichtete Kritik weist insb. auf die damit verbundene Rechtsunsicherheit und rechtsstaatlieh schwer erträgliche Schwebelage sowie auf den relativ eindeutigen Wortlaut der Art. 31, 142 GG hin (vgl. statt aller Jutzi [Fn. 26], S. 25 ff.). In jüngster Zeit hat sich der Auffassung v. Olshausens angeschlossen Sacksofsky (Fn. 104), S. 238 f. Spezifische Fragen ergeben sich, wenn durch ein Bundesgesetz von einem bundesgrundrechtlichen Gesetzesvorbehalt Gebrauch gemacht wird und infolgedessen ein weiterreichendes, etwa vorbehaltlos gewährleistetes Landesgrundrecht nun mit der bundesgesetzlichen Norm kollidiert. Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 52 geht davon aus, daß die Kollision in diesem Fall nicht zur Nichtigkeit des Landesgrundrechts führt, "da nicht der Grundrechtsschutz insgesamt, sondern nur die Vorbehaltlosigkeit mit dem Bundesge-

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IV. Schlußbemerkung Die vorstehenden Darlegungen haben sich erklärtermaßen auf das Verhältnis von Bundesverfassung und Landesverfassungen beschränkt und die im einzelnen schwierigen Fragen der Harmonisierung einfachen Bundesrechts mit Landesverfassungsrecht oder auch einfachem Landesrecht außer Betracht gelassen. Hier können sich durch den Einbezug der Ebene des einfachen Gesetzes-, Verordnungs- oder Satzungsrechts im einzelnen durchaus Veränderungen der Rechtslage ergeben, wiewohl auch dabei nicht zu verkennen ist, daß echte Kollisionsfälle, deren Bereinigung Art. 31 GG intendiert, selten sein werden. Denn für das Verhältnis von Bundes- und Landesgesetzgebung treffen die Kompetenzregeln der Art. 70 ff. GG eine der Intention nach nahtlose Aufteilung, so daß es der Hinzuziehung der Kollisionsnorm des Art. 31 GG nicht bedarf l58 • Im Verhältnis von Landesverfassungsrecht zu einfachem Bundesrecht geht im Falle einer Kollision gern. Art. 31 GG das Bundesrecht - und zwar jeder Stufe - dem Landesrecht, auch dem Landesverfassungsrecht, vor. Hier wird man indes zum einen im Falle der Inhaltsgleichheit vom Fortbestehen der Landesverfassungsbestimmungen ausgehen und zum anderen einer weithin möglichen bundesrechtskonformen Interpretation des Landesverfassungsrechts den Vorzug geben müssen 159. Einer abgerundeten, vollständigen und in sich schlüssigen Lösung harrt schließlich noch das schwierige Problem der Reichweite landesgrundrechtlicher Bestimmungen bei bundesgesetzlich geordneten Gerichtsverfahren oder bei sonstigen Behörden- oder Gerichtsentscheidungen, die materiell auf Bundesrecht beruhen. Die Beantwortung dieser Frage wirkt sich insbesondere auf die Kontrollkornpetenz der Landesverfassungsgerichte, genauer: auf den von ihnen zu handhabenden Prüfungsmaßstab, aus 160. Unvermutete Aktualität hat diese lange Zeit als eher peripher angesehene Frage durch den umstrittenen Honecker-Beschluß des Berliner Verfassungs gerichtshofs erlangt 161. Auf die intensive rechtswissenschaftliche Diskussion dieses Judikats mit seinen verfassungsrechtlichen, prozessualen und föderalen Aspekten kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden 162. setz kollidiert." In diesem Fall sei "von einer Überlagerung ohne Teilnichtigkeit auszugehen, da kein ausdrücklich formulierter Normteil als nichtig bezeichnet werden" könne. 158 Ausführlich dazu März (Fn. 35), S. 119 ff. - Kontrovers ist die Frage nach möglichen Doppelzuständigkeiten; hierzu instruktiv Jarass (Fn. 23), S. 38 ff. 159 Vgl. Pietzcker (Fn. 23), § 99 Rn. 36, 39. 160 Dazu W. Berg, Kassation gerichtlicher Urteile, die in bundesrechtlich geordneten Verfahren ergangen sind, in: C. Starck / K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilbd. H, 1983, S. 529 ff.; Friesenhahn (Fn.86), S. 765 ff.; Rozek (Fn.36), S. 190 ff., 197 ff., 212 ff., 240 ff. 161 BerlVerfGH NJW 1993, 515. S. jetzt auch BerlVerfGH NJW 1994, 436 (Fall Mielke) = JuS 1994,520 (M. Sachs). 162 Vgl. aus der Vielzahl der Stellungnahmen C. Pestalozza, Der "Honecker-Beschluß" des Berliner Verfassungsgerichtshofs, in: NVwZ 1993, S. 340 ff.; J. Berkemann, Ein Landesverfassungsgericht als Revisionsgericht - Der Streitfall Honeker, in: NVwZ IO Vielfalt des Rechts

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1993, S. 409 ff.; D. Wilke, Landesverfassungsrecht und Einheit des Bundesrechts, in: NJW 1993, S. 887 ff.; J. Gehb, Bricht Berliner Landesrecht Bundesrecht?, in: DÖV 1993, S. 470 ff.; E. Klein / A. Haratsch, Landesverfassung und Bundesrecht - BerIVerfGH, NJW 1993,515, in: JuS 1994, S. 559 ff. - In diesen Zusammenhang gehört auch P. Kunig, Die rechtsprechende Gewalt in den Ländern und die Grundrechte des Landesverfassungsrechts, in: NJW 1994, S. 687 ff.

Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung* Von Marian Paschke

I. Einleitung Gustav Radbruch hat in seiner 1929 erschienenen "Einführung in die Rechtswissenschaft" die Entstehung des Wirtschaftsrechts als den Verlust des optimistischen Glaubens an das freie Spiel der Kräfte, an den selbstätigen Ausgleich allseitigen Eigennutzes in der Richtung auf den gemeinen Nutzen und damit die rein privatrechtliche Beleuchtung der Wirtschaft beschrieben. "Dieses Dogma", so formulierte Radbruch, "zerbrach augenfallig, als nach dem 1. Weltkrieg die Abschnürung der deutschen Wirtschaft von der Weltwirtschaft kam und die wirtschaftlichen Bewegungen der Einzelnen fühlbar aneinanderstießen". "Aus dieser Erkenntnis aber" - so lesen wir bei Radbruch weiter - "erwuchs das Wirtschaftsrecht" . I

Was ist aus dem so erwachsenen Wirtschaftsrecht geworden in einer Zeit, in der von einer Abschnürung der deutschen Wirtschaft dank günstiger geschichtlicher Fügung keine Rede mehr sein kann? Haben wir zu einer Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung gefunden und können wir also von einer Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung sprechen? Auf diese Fragen ist zunächst einzugehen (unter 11.). Danach wird erörtert, welchen Einflüssen die Wirtschaftsrechtsordnung in unseren Tagen ausgesetzt ist und wie wir mit ihnen umgehen. Drei Aspekte sind dabei zu beleuchten: Uns wird beschäftigen, welche Auswirkungen sich infolge der Integration der neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung Deutschlands auf das Wirtschaftsrecht ergeben (unter III.). Sodann ist auf die Bedeutung des europäischen Rechts und seinen Einfluß auf das nationale Wirtschaftsrecht einzugehen (unter IV.). Schließlich ist nach dem letztlich noch gelungenen Zustandekommen der neuen GATT-Vereinbarungen auf den sicherlich an Bedeutung gewinnenden Einfluß des internationalen Wirtschaftsrechts einzugehen (unter V.).

* Um Fußnoten erweiterte Antrittsvorlesung des Verfassers vor dem Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg, gehalten am 12. Januar 1994. Die Vortragsfonn wurde weitgehend beibehalten. I Radbruch / Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Auf!. 1969, S. 119. 10*

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11. Die Wirtschaftsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland 1. Grundlegende Wertentscheidungen

Wirtschaftsrecht entsteht - um noch einmal Gustav Radbruch zu zitieren "wenn der Gesetzgeber die wirtschaftlichen Beziehungen nicht mehr im Sinne gerechten Ausgleichs zwischen den zunächst daran Beteiligten betrachtet und behandelt, sondern vorwiegend unter dem Gesichtspunkte des wirtschaftlichen Gemeininteresses"2. In dieser Grundeinsicht hat das Wirtschaftsrecht seinen sinnstiftenden Bezugsrahmen, der - bei aller Verschiedenheit der Gegenstandsbeschreibung 3 und Uneinigkeit 4 über das Verständnis von Wirtschaftsrecht - auf die hier nicht einzugehen ist - dieses Rechtsgebiet konstituiert 5 • Sie erlaubt uns, mit Blick auf die nationale Ordnung von einer Einheit der Wirtschaftsrechtordnung zu sprechen. Diese ist durch drei grundlegende Wertentscheidungen charakterisiert: Die Rechtsnormativität des Ordnungskonzepts, die Wertbezogenheit seiner Regelungsinhalte und die Instrumentalität des Wettbewerbsprinzips. a) Das Prinzip der Rechtsnormativität hat die paläoliberale Maxime des Gewährenslassens eines freien Spiels der Kräfte abgelöst. An seine Stelle ist die ordnende Kraft des Rechts getreten. Es gibt keine Residuen rechtsfreier Räume im Wirtschaftsleben, auch nicht für die das Wirtschaftsleben beeinflussende öffentliche Hand 6. Uns ist dieser Gedanke selbstverständlich geworden. Aus Gesprächen mit Juristen aus der ehemaligen DDR vor allem in zeitlicher Nähe zur sog. Wendephase ist mir aber noch allzugut deren nicht selten überraschte Reaktion in Erinnerung, daß selbst dieser und jener Bereich des Wirtschaftslebens rechtlich geordnet sei. Und in Gesprächen mit zwei juristischen Delegationen aus China, Radbruch / Zweigert, S. 118 f. Vgl. nur die Übersicht bei Fikentscher, Wirtschaftsrecht, 1987, Bd. I, § 1 n. 4 Vgl. insbesondere die Kontroverse um das Verständnis des Wirtschaftsrechts als systematischem Begriff (so Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1987; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung 1971; Weimar / Schimikowski, Grundzüge des Wirtschaftsrechts, 2. Aufl. 1993), als Rechtsbegriff mit - unterschiedlich nuancierten - programmatischen Ansätzen (so z. B. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, 1987; Rinck, Wirtschaftsrecht, 5. Aufl. 1977; Rinck / Schwark, Wirtschaftsrecht, 6. Aufl. 1986) bzw. als Wissenschaftszweig ohne disziplinbildenden Charakter (so Tilmann, Wirtschaftsrecht, 1986). 5 Vgl. Raiser, ZHR 143 (1979), 338 ff.; Steindorff, Einführung in das Wirtschaftsrecht der Bundesrepublik: Deutschland, 1985, S. 4 ff.; Assmann, Wirtschaftsrecht in der Mixed Economy, 1980, S. 278 ff. 6 Auf der Grundlage dieses selbstverständlich gewordenen Ausgangspunktes ist dann allerdings streitig, ob die öffentliche Hand in Ausübung öffentlich-rechtlicher Kompetenzen auch an die vom Wirtschaftsrecht und speziell vom Wettbewerbsrecht formulierten Regeln gebunden ist; dafür insbesondere BGHZ 82, 375 sowie der Gemeinsame Senat der OBG, NJW 1988, 2295; dagegen zuletzt aus öffentlich-rechtlicher Sicht Brohm, NJW 1994,281 ff. 2

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die unseren Fachbereich im vergangenen Jahr besuchten, wurde mir ganz lebensnah berichtet, wie in China während der Kulturrevolution der Versuch unternommen wurde, die Lehre von Absterben des Rechts im sozialistischen System zu verwirklichen und zumindest den Binnenwirtschaftsverkehr ohne die ordnende Kraft des Rechts geschehen zu lassen. Wir setzen dem das Prinzip der Rechtsnormativität der Wirtschaftsordnung entgegen. b) Unsere Wirtschaftsrechtsordnung ist eine wertbezogene Ordnung. Wir finden zwar im geltenden Wirtschaftsrecht nicht mehr eine Regelung wie die des Artikel 151 der Weimarer Reichsverfassung, nach der die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen muß. Der Verzicht des Grundgesetzes auf eine verfassungsrechtliche Festlegung der Wirtschaftsordnung, seine vom Bundesverfassungsgericht so bezeichnete wirtschaftspolitische Neutralität? bedeutet indes weder eine "reduzierte Garantiewirkung"8 der grundrechtlichen Freiheitsrechte des einzelnen im wirtschaftlichen Bereich noch einen Verzicht auf die Gemeinwohlbindung des wirtschaftsordnenden Gesetzgebers 9 • Der ideologisch neutrale Verfassungs staat des Grundgesetzes und seine wirtschaftspolitisch neutrale Verfassungsordnung lassen es nicht zu, daß das Wirtschaftsrecht zum Spielball allein wirtschaftlicher Rationalität instrumentalisiert wird. Alle wirtschaftlichen Zwecksetzungen dürfen nicht der menschlichen Individualität vorgehen, sondern haben sich an ihr auszurichten. c) Die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland \0 beruht auf funktionsfähigem Wettbewerb. Vor allem durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der dadurch normierte Wettbewerb zu einer für das wirtschaftliche Geschehen vorgegebenen Kategorie geworden. Dadurch, daß der Gesetzgeber insbesondere wettbewerbsbeschränkende Verhaltenskoordinierungen verbietet, marktrnächtige Unternehmen einer am Leitbild funktionsfähigen Wettbewerbs orientierten Verhaltenskontrolle unterwirft und das Entstehen bzw. die Verstärkung marktbeherrschender Stellungen infolge von Unternehmenszusammenschlüssen kontrolliert, kommt dem wirtschaftlichen Wettbewerb eine hervorragende Bedeutung für die Steuerung des wirtschaftlichen Geschehens zu. Es gilt ein Primat wettbewerblicher Selbsteuerung 11, das auf der Einsicht gründet, daß dadurch nach aller historischen Erfahrung am besten die Ziele der Freiheitsgewährleistung und Gemeinwohloptimierung verwirklicht werden. 7

So die in ständiger Rechtsprechung angeführte Fonnel des BVerfG; z. B. in BVerfGE

50, 290, 338. 8 Papier, in: Benda/ Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1984, S. 611. 9 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. 1,2. Auf!. 1984, insbesondere S. 899. 10 Vgl. Art. 1 Abs. 1, 3 Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion vom 18.5.1990, BGBl 11, 537 und § 1 StabG. 11 Eingehend Müller-Graf!, Unternehmensinvestition und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 339 ff.

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Die Gewährleistung und Sicherung des Wettbewerbs haben sich indes allein als nicht ausreichend erwiesen, das wirtschaftliche Geschehen mit den Erfordernissen gesicherter individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Die Instrumente der Globalsteuerung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, die Bereichsausnahmen und Sonderregeln etwa für die Energiewirtschaft für Banken und Versicherungen und das Verkehrswesen sowie obrigkeitlich gelenkte Märkte im Bereich der Urproduktion und der Rohstoffwirtschaft sind der normative Beleg dafür, daß es die Wirtschaftsordnung als ihre Aufgabe begreift, wettbewerbs-systemimmanente Defizite durch staatliche Korrekturen zu kompensieren. Die sektoralen und funktionellen Grenzen des Wettbewerbssystems belegen den tatsächlich gemischten Charakter der geltenden Wirtschaftsrechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland 12. In dieser Ordnung der mixed economy besteht keine schematische Bindung an das Wettbewerbssystem. Dem Gesetzgeber steht vielmehr eine - wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont - "weite Gestaltungsfreiheit" 13 zu, die allerdings durch das Postulat der Systemgerechtigkeit begrenzt ist 14. Abweichungen vom Ordnungsprinzip wettbewerblicher Selbststeuerung sind mithin nicht staatsinterventionistischer Beliebigkeit anheimgestellt, sondern nur nach Maßgabe sachlicher Rechtfertigung zugelassen. Instrumentalität des Wettbewerbs prinzips bedeutet somit, daß der Wettbewerb nicht als eigener Rechtswert, sondern um seiner Ziele willen als wirtschaftsordnende Kraft normiert wurde. Über die Rationalität, aber auch die Legalität marktinterventionistischer Korrekturen ist deshalb anhand der Funktionen und Grenzen des Wettbewerbs als Steuerungsprinzip des Wirtschaftsgeschehens zu befinden. 2. Die Ausformung zu einem wertungsstimmigen Gesamtsystem Die Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich nun darin, daß es dem Gesetzgeber, der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft jedenfalls im wesentlichen gelungen ist, die Ausformung und Umsetzung der genannten grundlegenden Wertentscheidungen für das Wirtschaftsrecht in seinen verschiedensten Teilbereichen widerspruchsfrei und systemstimmig zu bewerkstelligen. Ich kann für diese These im begrenzten Rahmen der Antrittsvorlesung keinen wissenschaftlich fundierten Beweis erbringen, möchte aber anhand von einzelnen Beispielen zumindest einen Plausibilitätsnachweis für die systemstimmige Verflechtung, die weitgehend harmonische Abstim12 Vgl. nur Papier, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 612; zu den sich ergebenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines "Sozialsmodells" für das Wirtschaftsrecht eingehend Assmann, Wirtschaftsrecht in der Mixed Economy, 1980. 13 BVerfGE 50, 290, 338; 30, 292, 317; 25, 1, 19 f. 14 Vgl. insbesondere Degenhardt, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Battis, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 11; kritisch zum Postulat der Systemgerechtigkeit Peine, Systemgerechtigkeit, 1985.

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mung bzw. wechselseitige Begrenzung verschiedener Teilbereiche der Wirtschaftsrechtsordnung liefern. a) Im Schnittbereich von Gesellschafts- und Wettbewerbsrecht gerät die Genossenschaft als eine Form der wirtschaftlichen Kooperation zwischen i. Ü. selbständig bleibenden Gewerbbetreibenden gleichsam automatisch in den Verdacht eines Verstoßes gegen das Verbot horizontaler Wettbewerbsbeschränkungen nach § § I, 25 GWB. Die wirtschaftsrechtliche Lösung der Konfliktlage beider Normbereiche stellt heute weder generell die Benutzung der Rechtsform Genossenschaft kartellverbotsfrei 15, noch erklärt sie eine genossenschaftliche Kooperation mit spürbaren Marktwirkungen per se zum Kartell l6 • Vielmehr wird eine wechselseitige Verschränkung beider Regelungsbereiche durch die Anerkennung genossenschaftsimmanenter Wettbewerbsbeschränkungen in der Weise erreicht, daß Genossenschaften, die eine Wettbewerbsbeschränkung als Hauptzweck verfolgen, kartellverbotswidrig eingestuft werden 17, während bei Genossenschaften mit im übrigen rechtlich zulässigem Kooperationszweck die implizierte horizontale Wettbewerbsbeschränkung vom Kartellverbotsbereich ausgenommen wird, soweit diese zur Erreichung des Kooperationszwecks unerläßlich ist 18. b) Ein weiteres Beispiel für eine solche gelungene Abstimmung konfligierender wirtschaftsrechtlicher Regelungsbereiche im Sinne einer Einheit der Rechtsordnung betrifft die Beurteilung von Wettbewerbsbeziehungen im Konzern. Die konzernrechtliche Rechtfertigung dafür, daß im Vertragskonzern das Interesse der Tochtergesellschaften dem Konzerninteresse selbst dann nachgeordnet werden kann, wenn sich dieses für die Tochtergesellschaften nachteilig auswirkt l9 , ist auch im Kartellrecht zu berücksichtigen. Das auf der Grundlage von Beherrschungsverträgen der Konzerntochter diktierte Verhalten ist nicht mehr autonom und wird daher zu Recht nicht mehr als beschränkbarer Wettbewerb im Sinne des Wettbewerbsrechts angesehen 20. Anders stellt sich die Rechtslage im faktischen Konzernverbund dar; da hier keine konzernrechtliche Befolgungspflicht der abhängigen Gesellschaft gegenüber verhaltenskoordinierenden Maßnahmen der Obergesellschaft besteht 21 , und damit schützenswerter konzerninterner Wettbewerb bestehen kann, steht der Anwendbarkeit der Kartellverbotsregeln nicht 15 Grundlegend BGH, WuW /E BGH 1313, 1315 Stromversorgungsgenossenschaft; vgl. auch Huber I Baums in: FK zum GWB, § 1 Rn. 717; Immenga, in: Immenga / Mestrnäcker, GWB, 2. Auf!. 1992, § 1 Rn. 412; Nachweise zur Gegenauffassung bei Sandrock, Kartellrecht und Genossenschaften, 1976, S. 8. 16 Vgl. dazu Meier, ZHR 142 (1988), 124 ff.; Säcker, AögU 9 (1971), 193 ff. 17 So z. B. Genossenschaften mit statutarischer Andienungspflicht; vgl. BGH, WuW / E BGH 1977, 1978 f. - Privatmolkerei. 18 Vgl. Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rn. 194 ff. 19 Vgl. nur Emmerich I Sonnenschein, Konzernrecht, 5. Auf!. 1993, § 8 I, IV. 20 Unstreitig; vgl. Huber I Baums, in: FK zum GWB, § 1 Rn. 242; Immenga, in: Imrnenga/Mestrnäcker, GWB, § 1 Rn. 202. 21 Die Folgepflicht besteht nach § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG nur im Vertragskonzern; vgl. Koppensteiner, in: KK zum AktG, § 311 Anm. 2.

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einmal entgegen, daß zugefügte Nachteile nach Maßgabe des Konzemrechts ausgeglichen werden 22. c) Ein hier letztgenanntes Beispiel aus dem Privatrechtsbereich für wirtschaftsrechtseinheitliches Rechtsdenken betrifft den Funktionszusammenhang des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb und des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Es steht exemplarisch dafür, daß beide Regelungskreise trotz ihres unterschiedlichen Ausgangspunktes (das UWG schützt die Lauterkeit wettbewerblichen Verhaltens, das GWB den Bestand funktionsfähigen Wettbewerbs), Bestandteile eines einheitlichen "übergreifenden Schutzsystems zugunsten des Wettbewerbs" bilden 23. Obwohl Maßnahmen der Behinderung im Wettbewerb durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eingehende Regelung gefunden haben und der Verbotsbereich dort an das Erreichen spezifischer Marktmachtschwellen geknüpft ist, besteht heute Einvernehmen darüber, daß das UWG-Recht das GWB ergänzt. In den Fällen der individuellen Behinderung von Konkurrenten bzw. der allgemeinen Marktbehinderung ist nach § 1 UWG schon im Vorfeld des kartellrechtlichen Verbotsbereichs etwa eine gezielte Preisunterbietung unter Einsatz nicht leistungsgerechter Kampfpreise zur Verdrängung von Mitbewerbern untersagt 24 • Wer dagegen die kartellrechtlichen Anforderungen an ein zulässiges Vertriebsbindungssystem nich!einhält, kann nicht bindungswidrige Parallelimporte eines Händlers über den Umweg des § 1 UWG als Behinderungswettbewerb untersagen lassen 25 • d) Die Einheitlichkeit der Wirtschaftsrechtsordnung zeigt sich ferner in einer prinzipiellen Konkordanz der wirtschaftsrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe aus dem Bereich des öffentlichen Rechts und des Privatrechts. So wie in den Fällen einer konzerninternen Subventionierung das Wettbewerbsrecht sensibilisiert wird, wenn beispielsweise Monopolgewinne zum Verdrängungswettbewerb in Drittmärkten eingesetzt werden 26 , so wird bei wirkungsgleichen Maßnahmen der öffentlichen Hand der Konkurrentenschutz nach dem öffentlichen Wirtschaftsrecht aktiviert 27 • Allerdings ist gerade in diesem Feld noch keine befriedigende 22 Streitig; wie hier Immenga, in: Immenga / Mestrnäcker, GWB, § 1 Rn. 204 ff., 207; dagegen Huber I Baums, in: FK zum GWB, § 1 Rn. 244 ff. Koordinierende Weisungen im faktischen Unterordnungskonzern mit abhängiger GmbH unterfallen dagegen wegen der gesellschaftsrechtlichen Weisungsbefugnis des Mehrheitsgesellschafters nach § 37 Abs. 1 GmbHG nicht dem Kartellverbot des § 1 GWB; vgl. Huber, ZHR 151 (1968), 193,235 f.; Schroeder, WuW 1988,274,280. 23 Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. 11, § 22 I 6 a. 24 Vgl. Baumbachl Hefermehl, UWG, 17. Aufl. 1993, § 1 Rn. 255 und Rn. 832 ff. 25 BGH, NJW 1988, 3152, 3153 Kontrollnummern I ("verbietet sich angesichts des Funktionszusammenhangs von UWG und GWB"). 26 Vgl. Regierungsbegründung zur 1. GWB-Novelle, BT-Drucks. 4/2564, S. 15; ferner Möschel, ORDO 79, 295, 307 ff. 27 Zum Konkurrentenschutz insbesondere gegenüber Wirtschaftssubventionen der öffentlichen Hand vgl. BVerfGE 30, 191; Zuleeg, Subventionskontrolle durch Konkurrentenklage, 1974.

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Harmonisierung der materiellen Beurteilungsmaßstäbe erreicht, da die enteignungsrechtliche Rechtsprechung 28 unter überwiegender Zustimmung der Literatur 29 zu Art. 14 Grundgesetz den Konkurrentenschutz gegenüber Wirtschafts subventionen erst ab der im Vergleich zum Kartellrecht zu spät eingreifenden Schwelle der sog. Erdrosselungsgefahr marktzugehöriger Unternehmen eingreifen läßt. e) Generell gilt, daß dann, wenn die öffentliche Hand im Privatrechtsverkehr am Wirtschaftsleben teilnimmt, sie ihr Verhalten nicht nur an den öffentlichrechtlichen Maßstäben messen lassen muß, sondern auch an denen des Handels-, Gesellschafts- und sonstigen Wirtschaftsrechts 30 • Verstöße gegen öffentlich-rechtliche Normen werden dabei häufig zugleich wettbewerbsrechtlich sanktioniert, weil sich die öffentliche Hand durch den Rechtsverstoß einen Vorsprung im Wettbewerb verschafft, der einen Verstoß gegen § 1 UWG begründet, wenn sich die öffentliche Hand über den Schutz privater Mitbewerber bezweckende Normen hinwegsetzt 31 • Durch eine sachgerechte Bestimmung des konkurrentenschützenden Charakters insbesondere des Haushalts- 32 und Gemeindewirtschaftsrechts 33 , die freilich noch nicht durchgängig gelungen ist 34, kann so die Einheitlichkeit der Wirtschaftsrechtsordnung auch im Bereich der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand gewährleistet werden.

III. Die Integration der neuen Bundesländer Die Integration der neuen Bundesländer hat einen gewaltigen wirtschaftsrechtlichen Regelungsbedarf geschaffen, dessen Umsetzung eine selbst für Spezialisten nur noch schwer zu überschauende Regelungsflut gebracht hat 35 • Das konnte nicht überraschen, ging es und geht es noch immer um keine geringere Aufgabe als die der Umgestaltung einer ganzen Volkswirtschaft von der staatlichen Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft. Bei der Normflut handelt es sich praktisch insgesamt um sog. Transformationsrecht, das nach der Konzeption des Einigungs28 BVerfGE 30, 191, 197 im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG; BVerfG, BayVBI 1978, 375, 376; GewArch 1982, 341, 343 f. 29 Vgl. auch Badura in: FS 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 1, 17 ff.; Zuleeg, Subventionskontrolle durch Konkurrentenklage, S. 77 ff. 30 Paschke, ZHR 152 (1988), 263 ff. 31 Baumbach / Hefermehl, UWG, § 1 Rn. 931 ff. 32 Gegen die Annahme eines konkurrentenschützenden Charakters insbesondere von § 65 BHO Emmerich, Der unlautere Wettbewerb der öffentlichen Hand, 1969, S.63; Schricker, Wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand und unlauterer Wettbewerb, 2. Auf!. 1987, S. 135 f. 33 Vgl. BGH, GRUR 1965, 373, 375 zu § 69 GO NRW a. F. 34 Vgl. auch Lerche, JurA 1970,834; Harms, BB 1986, Beilage 17; vgl. auch Ulmer, ZHR 143 (1982), 466 ff. 35 Vgl. die Zusammenstellung bei Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, 2. Auf!. 1993.

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vertrages, die auf die Herstellung der Rechtseinheit in den alten und neuen Bundesländern ausgerichtet ist 36, dem Zweck dient, den Übergang vom planwirtschaftlichen System auf das marktwirtschaftliche rechtsstaatlich geordnet zu ermöglichen. Seine Eigenart besteht deshalb darin, daß es - von dieser Zweckbindung abgesehen -;-letztlich keinen überdauernden wirtschaftsrechtlichen Eigenwert beansprucht. Mit der Bewältigung der Transformationsaufgabe, deren Ende wir nach den Verlautbarungen der Treuhandanstalt näher stehen als deren Beginn, wird das Transformationsrecht nur noch rechtshistorische Bedeutung haben. Wir könnten deshalb im Rahmen unserer Themenstellung zum nächsten Punkt schreiten, wären nicht einige Aspekte, die nähere Aufmerksamkeit unter dem Aspekt der Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung herausfordern. Die Erfahrungen mit dem Transformationsprozeß geben insbesondere Anlaß auf die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes der Rechtsnormativität des Wirtschaftsrechts hinzuweisen. In der ersten, noch vor dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland liegenden Umgestaltungsphase, fehlten in der damaligen DDR zunächst jede wettbewerbsschützenden Normen und Kontrollbefugnisse, weil insbesondere ein Kartellrecht der DDR zunächst nicht verabschiedet war. Dies hat zur Herausbildung von Unternehmens- und Marktstrukturen geführt, die später weder kontrollierbar noch korrigierbar waren 37. Dabei handelte es sich um wirtschaftsrechtlich absolut unzuträgliche Vorgänge, an die - wollte man politisch argumentieren - sich so mancher erinnern lassen muß, der heute als Kritiker der Wirtschaftsordnung auftritt. Für die späteren, spektakulären innerdeutschen Zusammenschlußvorhaben - zu erinnern ist an die Zusammenschlußfälle Allianz / Staatliche Versicherung der DDR, Daimler Benz / IFA, Deutsche Bank / Deutsche Kreditbank AG, Lufthansa / Interflug oder Rhurgas / Verbundnetz GAS AG38 - ist allerdings eine differenzierte Behandlung geboten, soweit diese Fälle bereits nach dem zwischenzeitlich verabschiedeten GWB-DDR vom dann zuständigen Amt für Wettbewerbsschutz zu beurteilen waren 39. Der Tätigkeit der Treuhandanstalt soll meine zweite Anmerkung gelten. Ihr, der Treuhandanstalt, ist im wesentlichen die Transformationsaufgabe zugewiesen und sie stand und steht noch immer in einer unentrinnbar schwierigen Konfliktlage zwischen Wettbewerbs- und Industriepolitik. Ohne die Gewährung finanzieller Hilfen in Form insbesondere von Altschuldenbefreiung oder Kapitalzufuhr war nur der geringste Teil der Betriebe privatisierbar. Solche Sanierungs subventionen unterliegen den wirtschaftsrechtlichen, namentlich auch vom europäischen Recht gezogenen Schranken 40. Dabei hat es einige Aufsehen erregende Problemfälle 36 37 38 39

Art. 8 Einigungsvertrag vom 31.8.1990, BGBI I1, 889. Vgl. Kulka, DWiR 1991,95, 105; Wienke, WM 1990,917. Vgl. Monopolkommission, Hauptgutachten VIII (1990), Tz. 77 ff. Vgl. Kleinmann, RIW 1990, Beilage 14, S. 1, 2.

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(etwa im Bereich des Schiffbaus 41 und der optischen Industrie 42) gegeben. Insgesamt scheint mir dennoch aus wirtschaftsrechtlicher Sicht keine grundsätzliche Kritik am Treuhandgesetz und der Tätigkeit der Treuhandanstalt gerechtfertigt zu sein 43, zumal das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen das Treuhandgesetz zurückgewiesen hat 44 • In der Forderung, bei den Aufgaben der Treuhandanstalt solle die industrielle Strukturierung bei weitgehender Aufrechterhaltung vorhandener Industriestandorte Vorrang erhalten 45 , sehe ich allerdings einen Verstoß gegen den Wenbewerbsprimat unserer Wirtschaftsverfassung; diese Forderung ist deswegen zu Recht nicht umgesetzt worden. Die mit öffentlichen Mitteln der Treuhandanstalt subventionierten Kampfpreisstrategien von privatisierten oder treuhänderisch verwalteten Unternehmen zum Nachteil ihrer Wettbewerber müssen sich - das entspricht dem Gedanken der Einheit der Wirtschaftsordnung - an den Vorschriften des § 26 Abs. 4 GWB und § 1 UWG messen lassen 46 • Grundsätzliche wirtschafts- bzw. wirtschaftsverfassungsrechtliche Probleme wirft die dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte 47 Frage auf, ob der Gesetzgeber des § 28 a EGAktG die Treuhandanstalt vom persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Regelungen des AktG über herrschende Unternehmen ausnehmen durfte. Die Bestimmung soll vor allem Ansprüche der Treuhandunternehmen bzw. ihrer Gläubiger gegen die Treuhandanstalt als Alleingesellschafter wegen Ausübung ihres Einflusses auf die Gesellschaften ausschließen 48. Da nach zutreffender Auffassung die Treuhandunternehmen - ebenso wie die Bundesunternehmen _49 im Konzernverbund zusammengefaßt sind 50, und zwar unter der Leitung der Treuhandanstalt, konzentriert sich auch die verfassungsrechtliche Überprüfung der Ausschlußnorm des § 28 a EGAktG auf die Frage, ob durch die gesetzliche Regelung eigentumsverfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen in Form von Haftungsansprüchen aus qualifiziert faktischer Konzernherr40 Zuletzt Kommission der Europäischen Gemeinschaften, XII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 1992, 1993, S. 207 ff. 41 Dazu Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, § 22 Rn. 19. 42 Vgl. Mitteilung der EG-Kommission, ABlEG C 73/2 vom 24.3.1992; FAZ vom 1.12.1992, S. 15. 43 Vgl./mmenga, NJW 1993,2471,2472; Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, § 18 Rn. 6; grundsätzliche Kritik dagegen bei Lipps, BB 1991, Beilage 9, S. 1 ff. 44 BVerfG, DtZ 1991,376 f. 45 Ehrenberg, in: Handelsblatt vom 21.11.1991, S. 7. 46 Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, § 22 Rn. 21, 37. 47 Vorlagebeschluß des AG Halle-Saalkreis vom 10.12.1992, DZWiR 1993,471 ff. 48 Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 12/2944, S. 197 f. 49 BGHZ 69, 334, 338 ff VEBA / Gelsenberg. 50 Vgl. Weimar, Treuhandgesetz, 1993, § 12 Rn. 16 ff; Emmerich / Sonnenschein, Konzemrecht, S. 54 ff.; Spoerr, Treuhandanstalt und Treuhandunternehmen zwischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht, 1993, S. 382 ff.

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schaft konstitutiv entzogen wurden 51 • Der Nachweis, daß die Treuhandanstalt Leitungsmacht in einer Weise ausübt, die keine angemessene Rücksicht auf die Belange der abhängigen Gesellschaften im Sinne der Haftungsgrundsätze wegen qualifiziert faktischer Konzernherrschaft nimmt, wird nach meiner Überzeugung allerdings kaum geführt werden können. Der gesetzliche Treuhandauftrag begründet zwar keinen konzernrechtlichen Ausnahmebereich 52 ; aber der den gesetzlichen Aufgaben entsprechende Treuhandeinfluß wird regelmäßig mit dem Eigeninteresse der Treuhandunternehmen übereinstimmen, weil ebenfalls regelmäßig auf andere Art und Weise eine aussichtsreiche Privatisierung und die Sicherung einer dauerhaft erfolgreichen werblichen Tätigkeit der Treuhandunternehmen im Markt nicht gewährleistet ist 53. Die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in diesem Fall des Konzernrechts auf die Treuhandanstalt hindert nicht, sondern verlangt im Gegenteil die situationsspezifischen Besonderheiten der Treuhandunternehmen zu berücksichtigen. Deshalb ist wohl mit keiner Erklärung der Verfassungswidrigkeit von § 28 a EGAktG zu rechnen.

IV. Die Herausforderungen des europäischen Integrationsprozesses 1. Die Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung sprengende Norm- und Wertungsdifferenzen

Vorn Wirtschaftsrecht der Europäischen Union geht derzeit der nachhaltigste Einfluß auf die Einheit der Wirtschftsrechtordnung in der Bundesrepublik Deutschland aus. In einer Vielzahl von Fällen sehen wir - und keineswegs erst seit dem Maastricht-Vertrag über die Europäische Union - , daß dann, wenn europäisches Wirtschaftsrecht anwendbar ist, nicht nur vorn nationalen Recht verschiedene Normen anwendbar sind, sondern auch andere Norminhalte bzw. interpretationsleitende wirtschaftspolitische Grundvorstellungen die rechtliche Entscheidung beeinflussen. In den Bereichen, in denen europäisches Einheitsrecht gilt, sind bestehende Divergenzen weitgehend bedeutungslos. Der Vorrang des gemeineuropäischen Rechts gegenüber allem nationalen Recht schafft europaweit inhaltsgleiches Recht. Anders stellt sich die Situation in Bereichen nur teilweise harmonisierten Rechts dar. Hier treten diese Unterschiede im direkten Vergleich zwischen der bundesdeutschen und der europäischen Wirtschaftsrechtsordnung in Erscheinung. 51 Vgl. dazu Timm, in: FS für Semler, 1993, S. 611 ff.; Schöne, EWiR 1993,669 f.; Weimar, DZWiR 1993,441,442. 52 So aber z. B. Schuppert, ZGR 1992,454,469 ff. Zur Problematik der Unternehmenseigenschaft der Treuhandanstalt vgl. z. B. Balz, ZIP 1992,446; Immenga, NJW 1993,

2474f. 53 Vgl. Lutter I Hommelhojf, GmbHG, Anhang § 13 Rn. 57; Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, § 18 Rn. 70 ff.; Weimar, ZGR 1992,477,492 ff.

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Beispielsweise wird das Erreichen der Schwellenwerte für die Anwendung der europäischen Fusionskontrolle, das dazu führt, daß der betroffene Zusammenschluß nicht vom Bundeskartellamt nach dem GWB, sondern von der Brüsseler Kommission nach der europäischen Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen beurteilt wird, typischerweise als Erleichterung empfunden, wenn nicht gar von den betroffenen Unternehmen geradezu angestrebt. Das ist nur allzu verständlich, insbesondere deshalb, weil der deutsche Zusammenschlußbegriff deutlich über den europäischen hinausgeht 54, und vor allem weil das europäische Fusionskontrollrecht grundsätzlich vom europäischen Markt ausgeht und die Kommission der Auffassung zuneigt, daß im größeren Markt ohne Binnengrenzen verschärfter Wettbewerb herrscht oder zumindest zu erwarten ist 55. Selbst hohe Marktanteile wurden deshalb nicht als geeignet angesehen, marktbeherrschende Stellungen zu begründen oder zu verstärken 56. In den Bereichen, in denen keine Rechtsvereinheitlichung erreichbar ist, entsteht nicht selten eine sog. Inländerdiskriminierung. Dadurch, daß Art. 30 EGVertrag für den Warenverkehr im zwischenstaatlichen Bereich mengenmäßige Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung verbietet, ergibt sich als europarechtliche Konsequenz die Notwendigkeit, die jeweils nationalen Herstellungs- und Vermarktungsregeln gemeinschaftsweit gegenseitig anzuerkennen 57. Die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und vermarkteten Erzeugnisse dürfen grundsätzlich im Binnenmarkt frei zirkulieren 58. In Deutschland fiel unter diesem Gesichtspunkt beispielsweise das Reinheitsgebot für importierte Biere, das aber für in Deutschland hergestellte Biere weiter fortgilt 59 •

Der EG-Vertrag kennt zwar in seinem Artikel 36 Ausnahmen und der Europäische Gerichtshof läßt Hemmnisse für den Binnenhandel in der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung von Erzeugnissen ergeben, zu, soweit die betreffenden Bestimmungen notwendig sind, um "zwingenden Erfordernissen" gerecht zu werden 60 • Die dabei zu berücksichtigenden Erfordernisse werden vom Europäischen Gerichtshof autonom geprüft 61 und nicht etwa vom nationalen Gesetzgeber verbindlich definiert. Daß 54

Paschke, in: FK zum GWB, Vorbem. §§ 23-24c, Rn. 103.

Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft, XXII. Wettbewerbsbericht 1992, Tz. 241 ff. 56 Vgl. den Zusammenschlußfall Thorn EMI/Virgin, XXII. Wettbewerbsbericht, Tz. 252; einen Überblick über die Rechtsprechung vermittelt Weitbrecht, EuZW 1993,687 ff. 57 Vgl. nur Müller-Graf!, in: Groeben / Thiesing / Ehlermann, EWG-Vertrag, 4. Auf!. 1991, Art. 30 Rn. 81. 58 Vgl. Müller-Graf! (Fn. 57). 59 EuGH Slg. 1987, 1227. 60 Grundlegend EuGH Slg. 1979,649,662 - Cassis-de-Dijon; Rechtsprechungsübersicht bei Meier, Die Cassis-Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2. Auf!. 1989; Joliet, GRUR Int. 1984, S. 1 ff. 61 Vgl. nur Meyer, WRP 1993,215,222; Meier, GRUR Int. 1993,219,220 f. 55

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diese Prüfung zur Verwerfung von Richtigkeitsüberzeugungen des nationalen Gesetzgebers führen kann, hat der Europäische Gerichtshof im vergangenen Jahr selbst für die Ausgestaltung des Wettbewerbsrechts ausgesprochen, als er das in § 6e UWG enthaltene Verbot der Preisgegenüberstellung in der Werbung allerdings ohne überzeugende Begründung 62 - für mit Art. 30 EG-Vertrag unvereinbar erklärte 63 . Das französische Unternehmen Yves Rocher durfte deshalb mit einheitlich für alle Mitgliedstaaten festgelegten Verkaufsprospekten auch in Deutschland werben, obwohl diese nach deutschem UWG verbotene blickfangmäßige Eigenpreisvergleiche enthielten. Für Inländer ergibt sich seither also auch in einem Kernbereich des Wirtschaftsrechts eine insofern besondere Rechtslage, als sie an nationales Wettbewerbsrecht gebunden sind, das für ausländische Konkurrenten wegen Art. 30 EG-Vertrag u. U. nicht einschlägig ist, obwohl beide Wettbewerber auf demselben Markt tätig sind 64 • Ähnliche Konfliktlagen entstehen in Bereichen nur teilweise harmonierten bzw. konzeptionell verschiedenen europäischen Rechts. Lassen Sie mich beispielhaft die in ihrer Reichweite freilich umstrittene industriepolitische Kompetenz der Kommission im Rahmen der Fusionskontrolle 65 und auf der Grundlage des neuen Artikel 130 des Maastricht-Vertrages erwähnen, die die wettbewerblichen Grundentscheidungen lockert 66. 2. Der Umgang mit Norm- und Wertungsdifferenzen

Die Beispiele zeigen, daß eine Einheit der Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik Deutschland in Ansehung des europäischen Rechts nicht besteht. Überdies fehlt offenbar in der deutschen Rechtspolitik eine Leitvorstellung über den Umgang mit dem Phänomen der Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bzw. im Verhältnis zum Gemeinschaftsrechts. Das Bundesministerium der Justiz beispielsweise reagierte mit geradezu erstaunlicher Betriebsamkeit auf die soeben angesprochene Yves Rocher-Entscheidung des Europäischen Gerichthofes, als es durch Ankündigung vom 15. September 1993 vorschlug,67 u. a. die Regelung des § 6e UWG abzuschaffen, obwohl diese doch erst im Jahre 1986 eingeführt wurde 68 und seiner Zeit die rechtspolitische und 62 Vgl. die Kritik bei Sack, BB 1994,225 ff.; vgl. a. Steindorjf, WRP 1993, l39, 149. 63 EuGH, DZWiR 1993,367 ff. - Yves Rocher. 64 Vgl. Weyer, DZWiR 1993,359,365 f.; Steindorjf, WRP 1993, l39, 141; Schricker, WRP 1993,615,617. 65 Vgl. zuletzt Immenga, Die europäische Fusionskontrolle im wettbewerbspolitischen Kräftefeld, 1993 einerseits und Ehlermann, RIW 1993, S. 793,794 ff. 66 Vgl. Möschel, ORDO 43 (1992), 415 ff.; Feldmann, ORDO 44 (1993), l39 ff.; Immenga, EuZW 1994, 14 ff. 67 Abgedruckt in: GRUR 1993, S. 871 ff. 68 Gesetz vom 25.7.1986, BGBl I, 1169.

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europarechtliche Problematik durchaus bekannt war 69 • Andere Vorschriften sind in den Sog solcher Überlegungen geraten 70 • Nach einem Vorschlag ausgerechnet der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher soll die Regulierung des Sommer- und Winterschlußverkaufs, also das Recht der Sonderveranstaltungen, wesentlich liberalisiert werden 71. Erst allmählich setzen Überlegungen ein, das Fusionskontrollrecht des GWB auf die Maßstäbe in den übrigen Mitgliedstaaten und der europäischen Fusionskontrollverordnung zuzubewegen 72; vielmehr hat der Gesetzgeber der 5. Kartellgesetznovelle gleichsam sehenden Auges, nämlich in Kenntnis der sich abzuzeichnenden Verabschiedung der europäischen Fusionskontrollverordnung, den Abstand zum europäischen Recht und dem Recht der Mitgliedstaaten noch vergrößert 73. Das Problem der Norm- und Konzeptionsunterschiede in der Europäischen Union bedarf sicher noch näherer rechtswissenschaftlicher und rechtspolitischer Diskussion. Die Schaffung von Rechtseinheit im Wirtschaftsrecht in europäischer Dimension mag aus Gründen der Überschaubarkeit und Berechenbarkeit des Rechts und zur Ermöglichung effektiven Rechts- und Verwaltungs vollzuges empfohlen werden 74. Sie bleibt deswegen nur eine Option für die Gestaltung der Wirtschaftsrechtsordnung. Mit dem Argument der Überschaubarkeit und Berechenbarkeit des Rechts ist sie nicht einmal eine überzeugend begründete. Die Maximen der Berechenbarkeit und Überschaubarkeit des Rechts erfordern keine völlige Übereinstimmung der nationalen und europarechtlichen Wirtschaftsordnung. Ihnen könnte auch durch eine präzise Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche entsprochen werden. Die nachgerade schon klassische Abgrenzungsformel der EG-Vertrages, die Anwendbarkeit des europäischen Rechts an das Merkmal zu knüpfen, daß der "Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann", hat sich freilich zunehmend als problematisch erwiesen. Die weite Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel, die längst auch Maßnahmen von Unternehmen aus nur einem Mitgliedstaat erfaßt75, läßt eine 69 Vgl. insbesondere GRUR-Eingabe, GRUR 1986, 439, 443 f.; ferner Lehmann, GRUR 1987, 199, 206; Keßler, WRP 1987, 75, 80 ff.; für die Vereinbarkeit mit Art. 30 EWGV BGH, GRUR 1989,446,447; dagegen Piper, in: Großkommentar UWG, § 6e Rn. 44. 70 Vgl. z. B. Schütz, EuZW 1993,409 zur Vereinbarkeit des Rabattgesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht; anders Möschel, NJW 1994,429,430; vgl. ferner Schricker, WRP 1993, 618 zu § 6a, b, d UWG. 71 AgV-Vorschlag vom Januar 1994. 72 Vgl. Bericht der Bundesregierung vom 3.9.1993, BT-Drucks. 12/5620 S. 43. Zur Harmonisierungsdiskussion im Bereich des Kartellrechts vgl. Bunte, WuW 1994,5 ff.; Dreher, AG 1993, 437 ff.; Hommelhoff, in: FS für Nirk, 1992, S. 469 ff.; Paschke in: FK zum GWB, Vorbem. vor §§ 23-24c Rn. 102 ff. 73 Vgl. Paschke, Der Zusammenschlußbegriff des Fusionskontrollrechts, 1989, S. 83 ff. Für eine Annäherung zuletzt Bunte, WuW 1994, S. 5, 19. 74 So insbesondere Gäbelein, in: FS für Benisch, 1993, 267, 287. 75 EuGH Slg. 1972,977,991; 1985,2566,2572.

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vorhersehbare Abgrenzung der Regelungsbereiche des nationalen und des europäischen Rechts kaum noch zu 76. Deshalb erscheint der von der europäischen Fusionskontrolle beschrittene Weg, die Abgrenzung nach bestimmten ökonomischen Schwellenwerten vorzunehmen, vorzugswürdig 77 • Eine andere Option für die Bewältigung der Norm- und Konzeptionsunterschiede besteht darin, innerhalb der Europäischen Union gleichsam im Wettbewerb der wirtschaftsrechtlichen Ordnungskonzepte für die im eigenen Mitgliedstaat gewonnenen Richtigkeitsüberzeugungen selbst dann zu streiten, wenn die Durchsetzungschancen für eine entsprechende Regelung auf europäischer Ebene in absehbarer Zeit nicht günstig stehen. Eine rechtliche Notwendigkeit unter Hintanstellung eigener Ordnungsvorstellungen für den nationalen Bereich die Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung im europäischen Binnenmarkt herzustellen, besteht weder aus europarechtlichen noch aus verfassungsrechtlichen Gründen des Grundgesetzes. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zu Art. 30 EG-Vertrag dafür gehalten, daß diese Regelung nur gleiche Bedingungen für Inlands- und Auslandslieferungen schaffen wolle 78. Art. 7 EG-Vertrag verbietet zwar eine Diskriminierung zwischen Wirtschaftsteilnehmem nach ihrer Staatszugehörigkeit oder nach dem Ort ihrer Niederlassung 79 ; produktbezogene Vorschriften werden deswegen von Art. 7 EG-Vertrag aber gerade nicht erfaßt 80 • Der Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes der Art. 3 und 5 EG-Vertrag steht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs entgegen, nach der der europäische Gleichheitsgrundsatz den einzelnen nur vor einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung aufgrund von Rechtsakten der Gemeinschaft bewahrt 81 •

Im Lichte dieser herrschenden Rechtsauffassung erscheint es überdenkenswert, in den angesprochenen Fällen generell von "Inländerdiskriminierung" zu sprechen, obwohl doch kein anderer Sachverhalt gegeben ist als der, daß rechtsstaatliches Gesetzesrecht auf den Normunterworfenen angewendet wird. Nach derallerdings betagten und nicht auf den Gemeinschaftsgesetzgeber gemünzten -

76

Gleiss I Hirsch, Kommentar zum EG-Kartellrecht, 4. Aufl. 1993, Bd. I, Art. 85

(1), 1. Kap. D Rn. 233; dagegen Schröter, in: Groeben / Thiesing / Ehlermann, EWGV,

Art. 85 Abs. 1 Rn. 144. 77 Ebenso Gäbelein, in: FS für Benisch, S. 282 f.; Bunte, WuW 1994, 5, 15. 78 EuGH Slg. 1987, 809 ff. Mathot. 79 Zuletzt EuGH vom 24. 11. 1993, Rs. C267 / 91 und 268/91 Keck, ZIP 1993, 1813, 1814. 80 Dazu, daß Regelungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Verkaufsmodalitäten verbieten oder beschränken, auch nicht von Art. 30 EGV erfaßt werden, vgl. jetzt EuGH, ZIP 1993, 1813 ff. mit Anmerkung von Reich, ZIP 1993, 1815 ff. und Möschel, NJW 1994, 429 ff. 81 Vgl. EuGH Slg. 1986,3231,3241 Cognet; 1987,809,822 - Mathot; vgl. auch Fastenrath, JZ 1987, 170" 172; Schöne, RIW 1989,450,453.

Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung

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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schaffen dann auch unterschiedliche Regelungen verschiedener Gesetzgeber, nämlich des Gemeinschaftsgesetzgebers einerseits und des nationalen Gesetzgebers andererseits, keine nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes relevanten Konfliktlagen 82 • Bei der Bewältigung dieser Spannungslage zwischen nationalem und europäischem Wirtschaftsrecht bewegen wir uns deshalb im Bereich wirtschaftspolitischen Gestaltungsermessens des nationalen Gesetzgebers 83. Rechtlich ist nach der hier vertretenen Auffassung weder vom Gemeinschaftsrecht noch vom nationalen Recht eine schematische Lösung vorgeschrieben, nicht eine solche in Richtung der Harmonisierung auf Minimalniveau, aber auch nicht eine solche in Richtung des Beharrens auf nationaler Egozentrik. Geboten ist eine sachlich begründete Entscheidung in jedem Einzelfall unter Abwägung häufig vielfältiger und komplexer Entscheidungsfaktoren. Die Primatentscheidung der nationalen Wirtschaftsrechtsordnung für die Anerkennung der überlegenen Steuerungskraft wettbewerblich-dezentraler Entscheidungen autonomer Wirtschaftseinheiten ist dabei - wie gezeigt - nur ein Datum, wenn auch ein solches von hervorragender Bedeutung. Die Debatte um die Sicherung des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland 84 hätte - auch dies gilt es zu bedenken - andererseits wohl kaum aufkommen können, wenn nicht die wirtschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Reihe von Wirtschaftssektoren im Wettbewerb der Ordnungskonzepte zu einer Benachteiligung der in der Bundesrepublik ansässigen und dem nationalen Wirtschaftsrecht unterworfenen Unternehmen führten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich ergänzen, daß die Rechtsvereinheitlichung in der Europäischen Union nicht nur im Bereich des Wirtschaftsrechts, aber gerade auch in diesem Bereich den hervorragendsten Weg zur europäischen Integration beschreibt. Sie trägt nicht nur dem für den Wissenschaftler so faszinierenden Postulat Rechnung, in wertungsstimmigen Gesamtsystemen denken und argumentieren zu können. Sie erledigt auch das Gerechtigkeitsvorstellungen herausfordernde Problem der Wertungsdifferenzen für die Normbetroffenen, solange diese unterschiedlichen Regelungen unterworfen sind, je nachdem in welchem Mitgliedstaaten sie ihre wirtschaftlichen Interessen entfalten bzw. je nachdem, ob die nationale oder europäische Regelungsebene betroffen ist. Im Wirtschaftsrecht kann daraus die schwer erträgliche Konsequenz erwachsen, 82 BVerfGE 4, 84; 4, 131 ff.; vgl. auch Bleckmann, GRUR 1986, 182; Fastenrath, JZ 1987, 175 f. 83 Für eine verfassungsrechtlich vorgezeichnete Bewältigung der Inländerdiskriminierungsproblematik mit den Mitteln des Grundrechtschutzes der Art. 3 und 12 GG aber Nicolaysen, EuR 1991,95, 107 ff; vgl. auch Weis, NJW 1983,2725; Kleier, RIW 1988, 629; Spätgens, in: FS für v. Gamm, 1990, 201 ff.

84 Vgl. Z. B. die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des Standortssicherungsgesetzes, BT-Drucks. 12/4158 sowie die Beiträge in: Bittburger Gespräche, Jahrbuch 1993 / 1.

11 Vielfalt des Rechts

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kleine und mittlere Unternehmen, die vorwiegend im nationalen Raum wirtschaften, anderen, nach der deutschen Wirtschaftsrechtsordnung nicht selten strengeren Vorschriften zu unterwerfen als Unternehmen mit europadimensionalem Betätigungsfeld. Diese Quelle speist ganz wesentlich die Harmonisierungsbemühungen in Europa. Ihre Quell- und Schubkraft ist allerdings offenbar nicht so groß, daß sie ohne ergänzende Anstrengungen und mühevoll langdauernde Verfahren zum Erfolg verhilft. Die Rechtsvereinheitlichung im gewerblichen Rechtsschutz, mit Harmonisierungserfolgen insbesondere im Patentrecht 85 , Warenzeichenrecht 86 und Urheberrecht 87 , die z. T. außerhalb des Gemeinschaftsrechts erreicht wurden, geben dafür vieIniltiges Anschauungsmaterial. Für eine Rechtseinheit um jeden Preis, für eine Harmonisierung auf niedrigem Niveau und für eine vorschnelle Preisgabe im nationalen Rahmen bewährter Ordnungsvorstellungen besteht bei aller Faszination des Rechtseinheitsgedankens keine Veranlassung.

v. Die internationale Wirtschaftsrechtsordnung Wenn wir nun den Blick dem internationalen Wirtschaftsrecht zuwenden, so blicken wir auf die das weltwirtschaftliche Geschehen betreffende Ordnung, eine Ordnung, die aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Regelungsbereiche und im Geflecht eines die uns vertrauten juristischen Fachsäulen sprengenden Normgefüges gewachsen ist. Es hat teils völkerrechtliche teils im nationalen Privatund Öffentlichen Recht liegende Wurzeln. Die in den Basisregeln der großen Vertragswerke zum Ausdruck kommende konzeptionelle Besonderheit der internationalen Wirtschaftsrechtsordnung besteht darin, daß sie - anders als das Recht der Europäischen Union - nicht eine Integrationsordnung sondern eine Koordinationsordnung darstellt. Während die europäische Wirtschaftsrechtsordnung Teil des europäischen Integrationsprozesses mit einem letztlich jedoch offenen Ziel- wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil betont 88 - darstellt und durch eine Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist, entfaltet sich die internationale Wirtschaftsrechtsordnung ausweislich der UN -Charta als eine die Souveränität der Staaten unangetastet lassende und durch das Bekenntnis zur 85 Luxemburger Gemeinschaftspatentübereinkommen vom 15.12.1975, BGBI. 11 1979,833. 86 Markenrechtsrichtlinie ABI. EG 1989 Nr. L 40, S. 1; die VO über Gemeinschaftsmarken hat der Ministerrat am 21.12.1993 verabschiedet; vgl. DB 1994, 204. 87 Richtlinien des Rates vom 14.5.1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen, ABI. EG 1991 Nr. L 122, S.42; vgl. ferner die Richtlinienvorschläge ABI. EG 1991 Nr. C 53, S. 35 (Vermiet- und Verleihrecht), ABI. EG Nr. C 92, S. 6 (Datenbanken, Schutzdauer). 88 BVerfG, NJW 1993,3047,3052.

Einheit der Wirtschaftsrechtsordnung

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Zusammenarbeit der Staaten u. a. im wirtschaftlichen Bereich gekennzeichnete Ordnung 89. Diese etwa in den Vertragsdokumenten über die Harmonisierung der internationalen Handels- und Währungsbeziehungen, dem GATT90 und dem IWF-Abkommen 91, ausgefonnte Konzeption hat dazu geführt, daß diesem Rechtsgebiet ein vornehmlich dem Spezialisten zugänglicher Sonderstatus zugemessen wird. So geschieht es, wenn die internationale Wirtschaftsrechtsordnung als internationales Recht der Wirtschaft dargestellt und in erster Linie aus seinen völkerrechtlichen Bezügen entwikelt wird 92 • Eine andere Perspektive gewinnt, wer nicht den Aspekt des internationalen Rechts, sondern den des Rechts der internationalen Wirtschaft als wissenschaftlichen Bezugs- und Orientierungsrahmen wählt 93 • Aus dieser Perspektive entfaltet sich die internationale Wirtschaftsrechtsordnung sehr rasch als eine höchst lebendige Rechtsordnung, die im praktischen wie im wissenschaftlichen Bereich, wenn auch nicht allgegenwärtig, so doch von weit ausladender Bedeutung ist. Uns begegnet das im Rahmen der Vereinten Nationen ausgearbeitete UN-Kaufrecht 94 , das für Kaufverträge über Waren zwischen Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Vertrags staaten grundSätzlich automatisch gilt, wenn es nicht von den Kaufvertragsparteien abbedungen wird 95. Für den Dienstleistungsverkehr stehen in Gestalt des internationalen Transportrechts für sämtliche Transportwege 96 besonders eingehende und in Gestalt des internationalen Bankrechts 97 nicht minder bedeutsame Regelungswerke zur Verfügung. Das Telekommunikationswesen 98 und der Gewerbliche Rechtsschutz 99 sind schon traditionell von internationalrechtlichen Regelungen geprägt. Aus dem Blickwinkel der Wirtschaftsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland lassen sich die international-wirtschaftsrechtlichen Regelungen nicht durchgängig in unsere wirtschaftsordnenden Leitvorstellungen einfügen. Der Grundsatz der Rechtsnonnativität ist in der internationalen Wirtschaftsrechtsordnung noch keineswegs umfassend verwirklicht. Art. 2 Nr. 1 UN-Charta. 90 UNTS 55, S. 194; zu den Ergebnissen der im Dezember 1993 zustande gebrachten Einigung über das neue GATI vgl. EuZW 1994, 87 ff. und Jansen, EuZW 1994,65. 91 UNTS 726, S. 266; BGBl. n 1952, S. 637. 92 So exemplarisch Seidl-Hohenveldern, International Econornic Law, 2. Aufl. 1992. 93 Fikentscher, Wirtschaftsrecht, 1983, Bd. I, insbesondere §§ 6-10; Groß/eid, Internationales Wirtschaftsrecht, 1975; Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 1993. 94 BGBl. n 1989, S. 588. 95 Art. 6 UN-Kaufrecht. 96 Vgl. die von Herber, Transportgesetze, 1992 herausgegebene Textsammlung. 97 Vgl. die Übersicht bei Temaekoon, The Law and Regulation of International Finance, 1991. 98 Vgl. Ellger / Kluth, Das Wirtschaftsrecht der Internationalen Telekommunikation in der Bundesrepublik Deutschland, 1992; Paschke, Medienrecht, 1993, § 6. 99 Vgl. Hubmann, Gewerblicher Rechtschutz, 5. Aufl. 1989, S. 314 ff. 89

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Beispielsweise fehlen noch immer verbindliche Regeln für die Erfassung der Tätigkeit multinationaler Unternehmen. Mangels zwischenstaatlicher Abkommen fehlt es deshalb weitgehend an einer Aufsicht über diese Unternehmen, die infolge ihrer häufig weltweiten Vernetzung sämtlicher Unternehmens strukturen vom nur nationalen Recht des gewählten Gründungsstatus bzw. des Sitzortes 100 nicht adäquat erfaßt werden können. Die für multinationale Unternehmen von verschiedenen internationalen Organisationen aufgestellten Verhaltensregeln (codes of conduct)IOI, die derzeit unter der Federführung der Vereinten Nationen fortentwickelt werden 102, haben nur empfehlenden Charakter. Sie sind richtungweisende Wegsteine zu dem Ziel normativ verbindlicher Regeln. Die Anerkennung des Primats marktwirtschaftlichen Wettbewerbs als Steuerungsinstrument im internationalen Wirtschaftsverkehr ist ein weiteres Kardinalproblem der internationalen Wirtschaftsrechtsordnung. Durch den Untergang der Staatshandelssysteme wird zwar die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Liberalität wachsen; aber das Streben nach Liberalisierung des internationalen Handels- und Zahlungsverkehrs, das in den Abkommen über den Internationalen Währungsfonds und in der Präambel des GATI einen hervorragenden Platz einnimmt, wird sich gegen protektionistische Tendenzen weiterhin erst noch praktisch bewähren müssen.

100 Zu den umstrittenen Anknüpfungsgrundsätzen im internationalen Gesellschaftsrecht vgl. nur Groß/eId, Internationales Unternehmensrecht, 1986, S. 21 ff. 101 Vgl. Ebenroth, Code of Conduct, 1987. 102 Zu den vorliegenden Entwürfen vgl. ICSID Review 4 (1989), S. 135.

Was bleibt vom Recht der DDR? Von Otto Luchterhandt

I. Einleitung Im Blick auf unser Rahmenthema "Die Einheit der Rechtsordnung" könnte man für einen Moment stutzig werden und fragen: Was hat hier noch die DDR zu suchen? Ist ihr Recht nicht "Schnee von gestern", untergegangen mit diesem Staat und nur noch Anlaß böser Erinnerungen? War nicht die DDR "ein Unrechtsstaat" , "Unrecht als System" 1, wie wir Jahrzehnte hindurch bei feierlichen und bei weniger feierlichen Anlässen in der Bundesrepublik gehört haben und auch seit der Wiedervereinigung nach Jahren einer wohl eher taktisch bestimmten Zurückhaltung gegenüber dem anderen deutschen Staat wieder häufiger und häufiger hören 2? Sind nicht Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik durch eine wechselseitige Ausschließlichkeit ihrer Staatsverfassung und Rechtsordnung charakterisiert? Und ist das nicht arn entschiedensten gerade bei der Rechtstellung des Einzelnen im Gemeinwesen zum Ausdruck gekommen? Lassen Sie mich das mit einern Zitat aus den Materialien zur Lage der Nation belegen, die das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen 1989, wenige Monate vor dem Fall der Mauer, zum Thema "Bürger und Staat" der Öffentlichkeit vorgelegt hat 3 : "Theoretische Konzeption und praktische Ausgestaltung der Rechtsstellung des Menschen und Bürgers in beiden deutschen Staaten sind ... nicht lediglich durch Unterschiedlichkeit, sondern durch eine beinahe idealtypische Gegensätzlichkeit gekennzeichnet: einer menschenrechtlichen Grundrechtskonzeption mit begrenzter staatsbürgerlicher Gemeinwohlbindung steht eine staatsbürgerliche Grundpflichtenkonzeption mit äußerst eng begrenzten (subjektiv-öffentlichen) Individualrechten gegenüber. Während das Grundgesetz die Freiheit des Bürgers im Staat und zum Staat zugleich durch den Staat und gegen den Staat sichert, konstituiert die Verfassung der DDR eine staatliche Gemeinschaft für die Erfüllung des Zukunftspro1 So der Titel eines vierbändigen, 1962 vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen herausgegebenen Werkes. 2 Vgl. dazu nur Horst Send/er, Die DDR ein Unrechts staat - ja oder nein?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1993, S. 1-5. 3 Otto Luchterhandt, Allgemeiner Status des Staatsbürgers, in: Bürger und Staat. Materialien zur Lage der Nation, hrsg. vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Eine vergleichende Untersuchung zu Praxis und Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik), Köln 1990, S. 5 - 22 (20 f.).

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Otto Luchterhandt gramms der ,Arbeiterklasse', fügt den Bürger als öffentlichen Funktionsträger in das Ganze ein und programmiert ihn für die pflichtmäßige Mitwirkung am ,Aufbau des Kommunismus'. Während das Grundgesetz den mündigen, selbstverantwortlich handelnden Bürger voraussetzt und zugleich hervorbringen hilft und dessen Relation zum Staat als ein Spannungsverhältnis versteht, das durch abwägende Zuordnung von Individualinteresse und Gemeinschaftsinteresse zum Ausgleich gebracht werden soll und auch gebracht wird, ist die von der DDR-Verfassung zur Norm erhobene ,sozialistische Persönlichkeit' zu allererst unselbständiges Funktionselement des von der Partei gesteuerten Staatswesens, deren Individualinteresse dem Gemeininteresse unbedingt untergeordnet ist und das daher rechtlich nur insoweit anerkannt wird, als es sich widerspruchsfrei in die Staatspolitik einfügt. Die sozialistische Persönlichkeit meint den politisch ergebenen, disponiblen Untertan - Werktätigen und Funktionär, der sich dem sozialistischen Staat durch weltanschaulich begründete, emotional gefärbte Treuebande restlos verbinden soll."

Auch auf DDR-Seite hat man die Unvereinbarkeit im Ergebnis mit allem Nachdruck vertreten. Man wird die ,,Neue Justiz" kaum dafür tadeln können, daß sie 1988, ein gutes Jahr vor der "Wende", schrieb 4 : "Die Forderung der BRD-Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, "ein provisorisches Konzept einer gemeinsamen Rechtsordnung" auszuarbeiten, ohne dazu die Realitäten der grundverschiedenen Gesellschaftsordnungen in den beiden deutschen Staaten zur Kenntnis zu nehmen, ist schlicht absurd ... Die Idee, zwei Rechtsordnungen, denen deutlich zu unterschiedende politische Macht- und Eigentumsverhältnisse zugrunde liegen, einfach "zusammenzuzimmem", kann also nur ganz und gar weltfremden ,,Rechtshandwerkem" kommen." Wenn diese Einschätzungen richtig sind, und niemand wird das ernstlich bezweifeln wollen, dann läßt sich schon von vornherein ohne nähere Prüfung vermuten, daß von der Substanz des DDR-Rechts tatsächlich nicht allzuviel übrigbleiben konnte. Allerdings hat die idealtypische Gegensätzlichkeit zwischen den Grundlagen beider Rechtsordnungen in Deutschland nicht bis zur Wiedervereinigung am 3.10.1990 bestanden. Wir müssen uns hier nämlich der in den heutigen Diskussionen häufig aus dem Blick geratenen Tatsache bewußt bleiben, daß in der DDR zwischen der Öffnung der Mauer am 9.11.1989 und den Volkskammerwahlen vom 18.3.1990 eine echte RevolutionS ablief, die die Staatsund Rechtsordnung der DDR von Grund auf umgestaltete: Aus der Diktatur des 4 1988, S.240. Den Hinweis verdanke ich meiner Seminarteilnehmerin, Frau stud. jur. Antje Pedain. S Die rechtliche Deutung der Vorgänge in der DDR zwischen der Öffnung der Mauer und der Wiedervereinigung ist in staats- bzw. verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht völlig unumstritten. Vgl. dazu Hans H. Klein, Verfassungskontinuität im revolutionären Umbruch? Die Verfassung der DDR zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990, in: Peter Badura/Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassenslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S.459-474 (464 ff.); Helmut Quaritsch, Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, in: Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 314-329 (324 f.); Wilfried Fiedler, Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, in: Der Staat, Bd. 33 (1993), S. 436-453 (436 f.).

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Parteiapparats wurde ein Verfassungsstaat, aus dem Machtstaat der SED begann sich ein Rechtsstaat zu entwickeln. Eine der Paradoxien des Vorganges besteht darin, daß diese Revolution sich in legalen Formen, d. h. nach den Verfahrensregeln der DDR-Verfassung von 1968/1974 vollzog. Die Souveränität der SED wurde am 1.12.1989 aus der Verfassung gestrichen 6 und unter dem Ruf "Wir sind das Volk!" zugleich das Prinzip der Volkssouveränität in Kraft gesetzt, das bis dahin nur eine leere, auf Täuschung angelegte Propagandaphrase der Verfassung gewesen war? Zwischen der Wahl der Regierung de Maiziere am 12.4.1990 und dem Beschluß über die Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland am 22. 8. 1990 verabschiedete die Volkskammer auf 37 Tagungen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse. Auch wenn man berücksichtigt, daß daran in verschiedenen Formen nicht wenige Fachberater aus der (alten) Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt haben, bleibt dies eine erstaunliche Leistung gewiß auch der Ostberliner Ministerialbürokratie, vor allem aber der Volkskammer, die bis dahin nicht einmal ein ,Feierabend-Parlament' gewesen, vielmehr seit 1968 nur etwa 3 bis 4 Tage im Jahr zusammengetreten war 8 und parlamentarische Arbeit nun von Grund auf erst lernen mußte. Die Verfassungsänderungen und Gesetze entkleideten die DDR-Verfassung weitgehend ihrer marxistisch-leninistischen Ideologiegehalte und gestalteten die Rechtsordnung nach den Prinzipien von Pluralismus, liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit um. Durch die am 18.5.1990 mit der Bundesrepublik vereinbarte und am 1. 7.1990 in Kraft getretene Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion übernimmt die DDR nicht nur die Grundprinzipien und weite Teile des bundesdeutschen Wirtschafts- und Arbeitsrechts, sondern sie verpflichtet sich u. a. auch, das Gerichtswesen nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung umzugestalten und die typischen sozialistischen Elemente der Rechtspflege zu beseitigen 9 • In einem besonderen Gemeinsamen Protokoll verpflichtet sich die DDR darüber hinaus ganz generell'o, Vorschriften nicht mehr anzuwenden, "die den einzelnen oder Organe der staatlichen Gewalt einschließlich Gesetzgebung und Rechtsprechung auf die sozialistische Gesetzlichkeit, die sozialistische StaatsOBI. I S. 265. VgL Art. 2, 5, 47 Abs. 2. 8 VgL Georg Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts. Band I, Heidelberg 1987, S. 385-447 (415). 9 Text des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, in: Bulletin des Presse- und Inforrnationsarntes des Bundesregierung 1990, Nr. 63, S. 517-544. 10 S. i. e. Fn. 9, S. 526 f. 6 ?

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und Gesellschaftsordnung, die Vorgaben und Ziele zentraler Leitung und Planung der Volkswirtschaft, das sozialistische Rechtsbewußtsein, die sozialistischen Anschauungen, die Anschauungen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Parteien, die sozialistische Moral oder vergleichbare Begriffe verpflichten". Als am 31.8.1990 in Berlin der Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) unterzeichnet wurde 11, war folglich der Prozeß der Rechtsangleichung der DDR an die alte Bundesrepublik bereits weit vorangeschritten, nämlich teils direkt - durch Rezeption - die Einheit der Wirtschaftsund Sozialrechtsordnung hergestellt, teils die Rechtsordnung im übrigen zu einem erheblichen Umfange mit der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland kompatibel gemacht. Nur am Rande: Welche feine Ironie der Geschichte: Walter Ulbricht hatte einst getönt, eine Wiedervereinigung zu westlichen Bedingungen sei ausgeschlossen, denn zwischen den "Krupps" und den "Krauses" könne es keine Gemeinsamkeiten geben, und nun unterschrieb auf östlicher Seite ausgerechnet ein Günther Krause das Vertragswerk! Andererseits kann von einer Einheit der Rechtsordnung der DDR in intertemporaler Hinsicht zwischen 1949 und 1990 keine Rede (mehr) sein: sie zerfällt etwas vereinfacht - in das DDR-Recht vor und das nach der Wende. Es liegt auf der Hand, daß dieser Unterschied unter dem Gesichtspunkt einer in sich widerspruchslosen Einheit der Rechtsordnung in Gesamtdeutschland von wesentlicher Bedeutung ist. Denn die Fortgeltung des Nach-Wende-Rechts der DDR war und ist im Prinzip unproblematisch; sie ist lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit; die Fortgeltung des DDR-Rechts aus der Zeit davor, noch dazu solcher Rechtsvorschriften, die bei Ausarbeitung des Einigungsvertrages nicht weiter beachtet, geschweige denn geprüft und ausdrücklich übernommen wurden, ist daher von vornherein problematisch 12.

11. Der Regelungsansatz des Einigungsvertrages Lassen Sie mich nun näher betrachten, was eigentlich noch "vom Recht der DDR bleibt" 13. 11 Text des Einigungsvertrages: BGBI. II S. 889, dazu die amtlichen Erläuterungen zum Vertragswerk, zusammengefaßt in der Denkschrift zum Einigungsvertrag, Text: BT-Drucks. 11/7760, S. 355 ff.; ferner: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1990, Nr. 104, S. 877 ff. bzw. 1990, Nr. 112, S. 1177 ff; GBI. der DDR I S. 1627. 12 Dies betrifft die gemäß Art. 9 Abs. 1 des EV grundsätzlich fortgeitenden Normen des DDR-Rechts. 13 Siehe dazu bereits den ersten Überblick von Georg Brunner, Was bleibt übrig vom DDR-Recht nach der Wiedervereinigung?, in: JuS 1991, S. 353 - 362; unter dem Gesichtspunkt der Rechtsangleichung vgI. ferner Christoph Degenhart, Deutsche Einheit und Rechtsangleichung - Öffentliches Recht, in: JuS 1993, S. 627 -633.

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Die Antwort auf diese Frage gibt der Einigungsvertrag, und zwar - soweit es sich um Rechtsnormen handelt - die Art. 8 und 9, soweit es sich um Gerichtsentscheidungen handelt - Art. 18, um Verwaltungsentscheidungen - Art. 19 des Vertrages. Außerdem regelt der Einigungsvertrag das Schicksal einer Reihe spezieller Rechtsverhältnisse (z. B. im öffentlichen Dienst - Art. 20) oder bestimmter Vermögensmassen, bei deren Feststellung bzw. Zuordnung die Anwendung von DDR-Recht unausgesprochen vorausgesetzt wird l4 • Aus Zeitgründen muß ich das Schicksal dieses für den Einzelfall konkretisierten DDR-Rechts - etwa die Möglichkeit der Kassation rechtsstaatswidriger Gerichtsurteile - (Art. 18 Abs. 2 EV) beiseite lassen; ich beschränke mich auf die Normen des DDR-Rechts. Gemäß Art. 8 EV wurde mit dem Tage der Wiedervereinigung (3.10.1990) das Bundesrecht auf dem Territorium der nun untergegangenen DDR in Kraft gesetzt. Das geschah mit gewissen Einschränkungen, Ausnahmen und Abstrichen. Diese sind in einer umfangreichen Anlage (I) aufgelistet, die mit den amtlichen Erläuterungen über 500 eng bedruckte Seiten im Format eines normalen Buches umfassen 15. Die stärksten Einschränkungen ergeben sich vor allem in den Bereichen der Justiz und des Sozialrechts. Insgesamt bedeuten sie nicht, daß gleichsam automatisch DDR-Recht in diesen Lücken fortbesteht. Zwar kann das der Fall sein, ist aber nicht zwingend, denn viele Einschränkungen bei der Ausdehnung von Bundesrecht sind dadurch bedingt, daß die westdeutschen Regelungen Versorgungssysteme, Institutionen und Verfahren betreffen, die in der DDR keine Entsprechung hatten und in der kurzen Übergangszeit bis zum Beitritt und darüber hinaus auch gar nicht hätten geschaffen werden können. Vielfach wird bei Abänderungen des Bundesrechts auf Rechtsvorschriften der DDR Bezug genommen. So wird z. B. in das Bafög auch die Fortzahlung von 14 Eine besonders verwickelte, auch in tatsächlicher Hinsicht vielfach recht unklare und streitträchtige Gruppe von Fällen ist hier die Zuordnung von Gegenständen zum Verwaltungsvermögen bzw. ihre Abgrenzung vom Finanzvermögen des früheren DDRStaates, insbesondere im kommunalen Bereich. Vgl. dazu Klaus König, Kommunalisierung, Verselbständigung, Privatisierung, in: DÖV 1993, S. 1076-1083; BVerwG, DÖV 1993, S. 1010; VG Berlin DÖV 1993, S. 1056; KG DtZ 1992, S. 243. In diesen Bereich fällt auch die Feststellung, welche Vermögenswerte den DDR-Parteien (SED / PDS und Blockparteien) und die ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenorganisationen besessen haben und für die der Zustimmungsvorbehalt des fortgeltenden - § 20 b des Parteiengesetzes der DDR vom 21.2.1990 i. d. F. v. 22.7.1990 von staatlicher Seite aus gilt. Vgl. dazu die Entscheidungen des OVG Berlin, DVBl. 1992, S. 1301 ff. 15 Vgl. die Textausgabe mit Einführung von Klaus Stern / Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag, München 1990 (Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 2); Zum Einigungsvertrag allgemein auch Klaus-Dieter Schnapaujf, Der Einigungsvertrag - Überleitungsgesetzgebung in Vertragsform, in: DVBl 1990, S. 1249-1256.

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DDR-Stipendien einbezogen, indem an die Stipendienverordnungen in der DDR angeknüpft wird (§ 59) 16. Nicht selten handelt es sich jedoch um Übergangsregelungen, die inzwischen bereits ausgelaufen sind. Zu erwähnen ist besonders der Gerichtsautbau der DDR 17. Anstelle der vom Gerichtsverfassungsgesetz vorgesehenen Amts-, Land- und Oberlandesgerichte bleiben in den neuen Bundesländern vorerst die DDR-Kreis- und -Bezirksgerichte bestehen, bis die Länder die traditionellen Gerichte geschaffen haben. Weiter wird das deutsche Richtergesetz 18 zwar grundsätzlich in Kraft gesetzt; indem man hier im Grundsatz die Möglichkeit schafft, daß zum Richter auch berufen werden kann, "wer die Befähigung zum Berufsrichter nach dem Recht der DDR erworben hat", bleibt für die Überleitung der DDR-Richter das DDRRecht ein wichtiger Bezugspunkt, und zwar umso mehr, als sie erst nach dreijähriger Richtertätigkeit in den neuen Bundesländern zum Richter auf Lebenszeit berufen werden können; und erst danach erfüllen sie auch die gesetzliche Voraussetzung, an einem Gericht der alten Bundesländer tätig zu werden. Während Art. 8 die Geltung des Bundesrechts in der früheren DDR betrifft und damit das DDR-Recht bereits weitgehend außer Kraft setzt, regelt Art. 9, in welchem Umfang DDR-Recht fortgilt. Hier sind folgende Konstellationen zu unterscheiden: 1. In einer Reihe von Fragen bzw. Fällen, in denen der Bund die Gesetzgebungskompetenz besitzt und diese Kompetenz auch ausgeübt hat, gilt das DDRRecht in der Regel als partielles Bundesrecht, d. h. räumlich beschränkt auf die neuen Bundesländer, fort, jedoch nur insoweit, wie es in der Anlage (11) zu Art. 9 Abs. 2 des EV ausdrücklich bestimmt ist und das DDR-Recht nicht gegen Grundgesetz und unmittelbar geltendes EG-Recht verstößt (Fall des Art. 9 Abs. 2 EV). 2. Hat das DDR-Recht bereits Fragen geregelt, die zwar in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen, ohne daß der Bund aber bereits eine einheitliche Regelung getroffen hat, gilt das DDR-Recht als Landesrecht fort, sofern es mit dem unmittelbar geltenden EG-Recht und mit dem Bundesrecht in der Form übereinstimmt, wie es (eingeschränkt) in den neuen Bundesländern gilt (Art. 9 Abs. 1 Satz 2 EV). 3. Handelt es sich um DDR-Recht, das nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes in die Kompetenz der Länder fällt, dann gilt das alte DDR-Recht in den neuen Bundesländern jeweils als Landesrecht weiter, wenn es uneingeschränkt mit dem GG und unmittelbaren EG-Recht vereinbar ist (Art. 9 Abs. I Satz 1 EV). 16 17 18

Vgl. EV Anlage I, Kap. XIV B, Abschn. 11. 1. (1). EV Anlage I, Kap. m, A, Abschn. m. 1. EV Anlage I, Kap. m, A, Abschn. m. 8.

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Bei der Antwort auf die Frage, was von den Nonnen des DDR-Rechts "bleibt", möchte ich zwischen der Fortwirkung und der Fortgeltung von Nonnen unterscheiden. Fortgeltung soll heißen, daß in der DDR-Zeit ordnungsgemäß erlassene Rechtsvorschriften auch noch auf Sachverhalte Anwendung finden, die nach dem staatlichen Untergang der DDR, also dem 2. 10. 1990, entstanden sind. Mit Fortwirkung von DDR-Recht bezeichne ich hingegen die Tatsache, daß sich die Beurteilung von Sachverhalten und Rechtsverhältnissen, die noch während der staatlichen Existenz der DDR begründet worden sind, auch weiterhin nach DDR-Recht zu richten hat. Ordnet man die Antwort nach Rechtsbereichen, so ergibt sich für die Ebene der Fortgeltung, knapp zusammengefaßt, folgender Überblick:

llI. Das fortgeltende DDR-Recht im Überblick 1. Verfassungs- und Staatsrecht

Vom fonnellen Verfassungsrecht der DDR ist verständlicherweise nichts übriggeblieben. In materieller Hinsicht könnte man allenfalls die Garantie des Art. 40 der DDR-Verf. zugunsten der DDR-Bürger "sorbischer Nationalität" erwähnen, die in die Landesverfassungen Brandenburgs und Sachsens aufgenommen, dabei aber inhaltlich erheblich umgestaltet wurde 19. Die Konzeption des von Art. 21 der Verfassung Brandenburgs garantierten "Rechts auf politische Mitgestaltung" scheint in einer gewissen Linie mit Art. 3 Abs. 2 und Art. 21 der DDRVerfassung von 1949 bzw. 1968 / 74 zu stehen 20. Als partielles Bundesrecht gilt für die Wiederherstellung der Länder das Ländereinführungsgesetz vom 22.7.1990 21 , als Landesrecht das Länderwahlgesetz vom selben Tage fort 22 , wobei das Letztere nun durch eigene Wahlgesetze der neuen Bundesländer abgelöst wird.

19 Vgl. den 4. Abschnitt (Art. 25) der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.8.1992 (,,Rechte der Sorben / Wenden") bzw. Art. 5 und 6 der sächsischen Landesverfassung vom 26.5.1992 (,,Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit"). 20 Zu den Einflüssen im neuen Verfassungsrecht Mitteldeutschlands siehe Peter Häberle, Die Verfassungsbewegung in den fünfneuen Bundesländern, in: JÖR NF, Bd. 41 (1993), S. 69-92; Hans-Peter Bull, Die Verfassungen der neuen Länder - zwischen östlicher Selbstbestimmung und westlichen Vorgaben, in: FS Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln usw. 1993, S. 305-327. 21 GBI. I S. 955. 22 GBI. I. S. 960.

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Otto Luchterhandt 2. Verwaltungsrecht

Vom Staatsrecht abgesehen, war der Substanzverlust innerhalb des DDRRechts auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts wahrscheinlich am größten. Walter Ulbricht hatte es 1958 als eigenständiges Rechtsgebiet überhaupt abgeschafft, weil das Verwaltungsrecht ein ideologisches Produkt des bürgerlichen Rechtsstaates seil3 • Unter Honecker kam es zwar zu einer gewissen Rehabilitierung, und 1979 erschien sogar ein offiziöses Lehrbuch des Verwaltungsrechts 24, aber es wird als trauriges Denkmal einer weltanschaulich durchtränkten Dogmatik der Verwaltung und Bewirtschaftung des Menschen in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen. So war hier die Übernahme des allgemeinen Verwaltungsrechts, insbesondere des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes geboten, das auf Länderebene inzwischen seine Geltung wegen der Verabschiedung entsprechender Landesgesetze verloren hat 25. Eine nur scheinbare Ausnahme bildet die Fortgeltung des Staatshaftungsgesetzes der DDR von 1969 26 • Es ging zwar-ebenso wie das am Bundesverfassungsgericht gescheiterte Staatshaftungsgesetz der Bundesrepublik von 1981 - von der unmittelbaren, verschuldensunabhängigen Haftung des Staates für Schäden aus, die die Staatsbediensteten den Bürgern zugefügt hatten (kannte also nicht mehr die Anknüpfung an das Verschulden des Amtswalters und die Drittbezogenheit der Amtpflicht), schränkte u. a. den sachlichen Bereich der Staatshaftung (z. B. Ausschluß von Privateigentum) jedoch so stark ein 27 , daß das Gesetz den Einigungsvertrag nur mit starken Modifikationen überlebte und als Landesrecht fortgilt 28. Ossenbühl ist aber zuzustimmen, daß von einer echten Fortgeltung nicht mehr gesprochen werden kann 29. 23 Günter Püttner, Zur Entwicklung des Verwaltungsrechts in der DDR, in: Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland. Festschrift für Siegfried Mampel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gottfried Zieger, Köln usw. 1983, S. 143-155; Wolfgang Bernet, Zur Rehabilitierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht in Ostdeutschland, in: FS Werner Thieme, Köln usw. S. 289-304. 24 Verwaltungsrecht. Lehrbuch, Staatsverlag der DDR, Berlin 1979, 686 Seiten (2. Aufl. 1988). 25 Zur Entwicklung vgI. Paul Stelkens, Die Überführung des sozialistischen Verwaltungsrechts. insbesondere des Verwaltungsverfahrensrechts der früheren DDR in das rechtsstaatliche Verwaltungsrechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: DVBl 1992, S. 248-256. 26 GBI I S. 34, geändert durch Gesetz vom 14.12.1988, GBI I S. 329. 27 Ausführlich zum Vergleich Eckart Klein, Staatshaftung, in: Bürger und Staat (Anm. 1). S. 302-319. 28 AnI. n, Kap. 1lI, B, Abschn. 1lI. EV. 29 Fritz Ossenbühl, Das Staatshaftungsrecht in den neuen Bundesländern, in: NJW 1991, S. 1201-1208; derselbe: Staatshaftungsrecht, 4. Aufl., München 1991, S. 377408 (392).

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Für Schadensverursachungen durch Bundesorgane gilt im übrigen § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG30. Im Bereich des besonderen Verwaltungsrechts gilt in größerem Umfange bereits rechtsstaatlich bestimmtes Nach-Wende-Recht aus der Amtszeit de Maizieres als Landesrecht fort, namentlich das Kommunalrecht 31 , das Polizeirecht (auf der Basis des Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeirecht)32 und das Bauordnungsrecht vom 20.7.1990 33, das allerdings im wesentlichen eine Rezeption der Bauordnung NRW darstellt.

Im Bauplanungsrecht wurde zwar das Baugesetzbuch eingeführt, aber mit dem endlosen § 246 a BauGB 34 eine Übergangsregelung geschaffen, kraft derer noch Teile der Bauplanungs- und ZulassungsVO der DDR vom 20.6.1990 35 mit Modifizierungen bis Ende 1997 fortgelten. Die Übergangsregelung ist durch starke Verfahrensvereinfachungen gekennzeichnet. Zulässig ist danach insbesondere ein von privater Seite ausgearbeiteter Vorhaben- und Erschließungsplan, der von der Gemeinde nach Prüfung und Billigung als Satzung mit den Wirkungen eines Bebauungsplanes verabschiedet wird. Der private Investor, der mit diesem verkürzten Verfahren ermuntert werden soll, muß das Vorhaben dann auch ausführen 36. Unbeschadet überlebt hat das DDR-Straßenrecht 37 . 30 Zur Praxis Sighart Lörler, Anwendungsprobleme des Staatshaftungsrechts in den neuen Ländern - dargestellt am Beispiel Brandenburgs, in: DtZ 1992, S. 135 -139. Zu der interessanten Frage einer Haftung der PDS bzw. der SED als einstiger quasi staatlicher Herrschaftsorganisation mit ihrem Parteiverrnögen etwa für Justizunrecht siehe die Entscheidung des LG Berlin vom 15.10.1992 (DtZ 1993, S. 220-221) sowie FriedrichChristian Schroeder, Haftung der PDS für Justizunrecht?, in: DtZ 1993, S. 203 /204. 31 Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung) vom 17.5.1990 (GBI. I S. 255)-Anlage 11, Kap. 11. B, Abschn. 11 EV. In Thüringen gilt inzwischen eine Vorläufige Kommunalordnung i. d. F. der Bekanntmachung vom 24.7.1992, in Sachsen eine Gemeindeordnung vom 21.4.1993. Zur Entwicklung siehe qie Themen-Beilage ,,Aus Politik und Zeitgeschichte" B 36/ 1993 (3. Sept.) mit Beiträgen von Gerd Schmidt-Eichstaedt, Herbert Schneider, Wolfgang Bemet; ferner OLG Rostock, DtZ 1993, S. 376 ff. 32 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei vom 13.9.1990 (GBI. I S. 1489) - Anlage 11, Kap. 11, C, Abschn. III Nr. 2 EV in der Fassung von Art. 4 Nr. 8 ZV; dazu auch Ernst Rasch, Der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes und seine Verwirklichung, in DVBl 1982, S. 126-130. 33 Gesetz über die Bauordnung (BauO), GBl I S. 929. 34 Anlage I, Kap. XIV, Abschn. 11 EV. 35 GBI I S. 739. 36 Dazu Walter Bielenberg, Die Besonderheiten des Städtebaurechts nach dem Einigungsvertrag im Gebiet derneuen Länder, in: DVBl1990, S. 1314-1322; Gerd SchmidtEichstaedt, Verfahrensdauer und Zeitablauf im Bauleitverfahren, in: DVBI 1992, S. 652657; lost Pietzker, Der Vorhaben- und Erschließungsplan nach § 55 BauZVO, in: DVBI 1992, S. 658-664. 37 Verordnung über die öffentlichen Straßen vom 22.8.1974 (GBl I S.515) mit Durchführungsbestimmungen - Anlage 11, Kap. XI, D, Abschn. III, Nr. 1- 3 EV.

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Soweit das DDR-Verwaltungsrecht wegen der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes· kraft Art. 9 Abs. 1 Satz 1 EV als Landesrecht fortgilt, wird mit besonderer Sorgfalt seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen sein. Ein Beispiel ist hier die Sammlungs- und Lotterieverordnung der DDR vom 18.2.1965 38 • Ihr § 3 Abs. 1 unterwirft öffentliche Sammlungen dem Erfordernis einer Genehmigung, deren Erteilung in das freie Ermessen der Verwaltungsbehörde gestellt ist. Die Regelung ist daher aus demselben Grund verfassungswidrig wie das Reichssammlungsgesetz von 1934, welches das Bundesverfassungsgericht 1966 für nichtig erklärte 39. Wie unsicher die Gerichte mitunter vor der Frage der Fortsetzung und überhaupt der Feststellung des geltenden Rechts stehen, zeigt die Entscheidung des BezG Schwerin vom 3.9. 1991 im Presserecht zu einer Klage auf Gegendarstellung wegen eines ungünstigen Zeitungsberichts 40. Weil in Mecklenburg -Vorpommern ein Landespressegesetz bzw. eine landesrechtliche Regelung des Gegendarstellungsrechts nicht vorlag, hatte das Gericht - erstaunlicherweise - auf das ReichspresseG vom 7.5.1874 als angebliches Presserechtsrahmengesetz (Art. 75 Nr. 2 GG) zurückgegriffen, dabei allerdings übersehen, daß jenes Gesetz nicht in Bundesrecht übernommen worden war. Die Lösung ergibt sich wohl aus dem ,,Nach-Wende-Beschluß" der Volkskammer vom 5.2.1990 über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit 41 , dessen Punkt 4 Satz 2 bestimmt: ,,Das Recht auf Gegendarstellung bei Tatsachenbehauptungen ist in demselben Medium zu gewährleisten." 42

3. Zivilrecht und Arbeitsrecht

Nicht nur nebensächliche Teile bzw. Institute des DDR-Zivilrechts und Familienrechts dürften noch eine gehörige Zeit weitergelten. Die Einzelheiten ergeben sich weitgehend aus den §§ 230-236 EGBGB. Im Sachenrecht gelten namentlich die durch die §§ 287 - 294 ZGB DDR begründeten Nutzungsrechte fort. Der Hintergrund ist folgender. Abweichend von § 94 BGB erstreckte sich in der DDR das Eigentum an einem Grundstücks nicht auf das darauf errichtete Bauwerk. Vielmehr wurden quasi-dingliche Nutzungsrechte durch behördliche Zuweisung von staatlichen, genossenschaftlichen oder auch privaten Grundstücken begründet, und es entstand isoliertes Gebäudeeigentum. Die Eigentumsgrundlagen sind vielfach unklar, befinden sich in einem chaotischen Zustand. Ein von der Bundesregierung beschlossener Entwurf eines 38

39 40 41 42

GBI 11 S. 238.

Urteil vom 5.8.1966, BVerfGE 20, 150. Vgl. DtZ 1991, S. 442. GBI I S. 39. Dazu auch Peter Schulz, in: DtZ 1992, S. 210.

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SachenrechtsbereinigungsG (20.7.1993)43 will den Gebäudeeigentümern jetzt dadurch helfen, daß sie zu günstigen Bedingungen bzw. Preisen Grundeigentum oder Erbbaurechte erwerben können 44. Im Familienrecht behält der gesetzliche Güterstand des Familiengesetzbuches der DDR, nämlich die als ,,Eigentums- und Vermögensgemeinschaft" bezeichnete Errungenschaftsgemeinschaft dadurch eine beträchtliche Bedeutung, daß die Ehegatten bis zum 3.10.1992 durch einseitige Erklärung gegenüber dem Kreisgericht für den Güterstand Ost oder den Güterstand West optieren konnten 45 . Die erdrükkende Zahl hat für die Beibehaltung der Errungenschaftsgemeinschaft votiert. Dadurch, daß die Geltung der §§ 1706-1710 BGB über die Amtspflegschaft in den neuen Bundesländern nicht in Kraft gesetzt wurden, besteht hier die DDRRegelung fort, nämlich das volle Sorgerecht der Mutter eines nichtehelichen Kindes (§ 46 FGB). 1991 betraf dies 41,7% (d. h. 44 959) der dort überhaupt geborenen Kinder (im Vergleich: Bundesgebiet: 11,1 % = 80 228). Hier könnte die DDR-Regelung zur gesamtdeutschen werden 46 • Entsprechendes könnte auch für das Erbrecht gelten: Auf der Linie einer formal-rechtlichen Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern kannte das DDR-Recht weder den schuldrechtlichen Erbersatzanspruch (§ 1934 'a BGB) noch den vorzeitigen Erbausgleich (§ 1934 d BGB) des nichtehelichen Kindes gegenüber seinem Erzeuger (vgl. § 365 ZGB DDR). Auf der Linie des 59. DJT47 hat die Bundesregierung den Entwurf eines ErbrechtsgleichstellungsG vorgelegt, der dem DDR-Rechtszustand inhaltlich folgt48. Als Landesrecht gilt das Stiftungsgesetz der DDR vom 13.9.1990 fort, soweit es bundesgesetzlich nicht geregelte Probleme normiert 49. Umstritten ist, ob die DDR-Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen (4.7.1975)50 gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 2 EV in Anbetracht dessen fortgilt, daß das geplante Transplantationsgesetz des Bundes noch immer auf sich warten läßt 51 . Verfassungsrechtliche Bedenken richten sich vor allem 43 Text: BR-DrS 515/93. 44 Dazu aus offizieller Sicht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Die Bereinigung des Sachenrechts in den neuen Bundesländern, in: DtZ 1993, S. 34-39; kritisch Wilhelm Strobel, Der Regierungsentwurf zum Sachenrechtsänderungsgesetz für das Beitrittsgebiet, in: NJW 1993, S. 2484-2490. 45 Art. 234 § 4 EGBGB (Anlage I Kap. III. B. Abschn. 11 EV). 46 Vgl. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Zur Struktur der Rechtsangleichung im vereinten Deutschland, in: NJW 1993, S. 2465-2470 (2466). 47 Beschluß D der Abteilung Familienrecht, in: NJW 1992, S. 3018. 48 Leutheusser-Schnarrenberger, Anm. 46, S. 2466. 49 GBI I S. 1483; Art 3 Nr. 5 ZV. 50 GBI I S. 597. 51 Zur Problematik Bernd-Rüdiger Kern, Die rechtliche Grundlage für die Organtransplantation - Zur Gesetzeslage in den neuen Bundesländern, in: DtZ 1992, S. 348-350 m. w. N. Zum Stand der Arbeit an einem TransplantationsG siehe Thomas Gutmann, Lebendspende von Organen - nur unter Verwandten, in: ZRP 1994, S. 111-114.

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gegen die für die Organentnahme von Verstorbenen nonnierte Widerspruchslösung, d. h. die Entnahme war in der DDR zulässig, "falls der Verstorbene zu Lebzeiten keine anderweitigen Festlegungen getroffen" hatte (§ 4). Diese Regelung ist in der Tat außerordentlich weitgehend, und zweifelhaft ist auch, ob die Transplantations VO ohne diese Regelung noch Bestand haben könnte. Im Bereich des Arbeitsrechts (Arbeitsvertragsrecht) gelten die Regelungen des DDR-Arbeitsgesetzbuches zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (§§ 115 a-g) und zu den Kündigungsfristen (§§ 55, 58, 59) fort, weil nämlich das Bundesverfassungsgericht kurz vor dem Beginn der Arbeiten am Einigungsvertrag (30.5.1990) die Unterschiedlichkeit der Kündigungsregelung für Arbeiter und Angestellte (§ 622 BGB) für verfassungswidrig erklärt hatte 52. Das DDR-Altrecht setzt sich insofern auch gegenüber Tarifvertragsregelungen durch, die auf die neuen Bundesländer übergeleitet worden sind, es sei denn, eine Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten ist ausdrücklich vorgesehen und in der Sache gerechtfertigt 53. Definitiv ausgelaufen ist die "Babyjahr-Vorschrift" des § 246 AGB DDR zum 31.12.1993 54 •

Unter dem Eindruck der Entwicklungen im europäischen Gemeinschaftsrecht, aber wohl auch der sich von der Verworrenheit des Rechtsgebietes in der BRD im Ansatz positiv abhebende Geschlossenheit des DDR-Arbeitsrechts, hat der Einigungsvertrag dem "gesamtdeutschen Gesetzgeber" die fönnliche Aufgabe zugewiesen (§ 30), zumindest das Arbeitsvertragsrecht und den Arbeitsschutz (neu) zu kodifizieren. 4. Strafrecht

Im Bereich des Strafrechts ist die Fortgeltung der DDR-Abtreibungsregelung bekanntlich aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 entfallen, die mit Wirkung vom 16.6.1993 die verfassungskonfonnen Teile des umstrittenen Schwangeren- und FamilienhilfeG in ganz Deutschland in Kraft gesetzt und im übrigen durch eine VollstreckungsAO eine vorläufige Regelung getroffen hatte 55. Damit besteht auf diesem so heftig umstrittenen Gebiet seither immerhin eine, wenn auch teilweise nur provisorische Rechtseinheit in Deutschland. Aus dem Bereich des Prozeßrechts möchte ich nur erwähnen, daß das Insolvenzrecht der DDR, insbesondere die Verordnung vom 6.6.1990 über die Gesamtvollstreckung 56 , mit Modifizierungen als partielles Bundesrecht ("GesamtBVerfOE 82, 126 ff. Vgl. dazu die Entscheidung des BAO vom 23.9.1992, DtZ 1993, S. 158-160. 54 Anlage 11 Kap. X, H. Abschnitt III Nr. 1 EV. Ausführlich zum Arbeitsrecht siehe Michael Worzalla, Arbeitsrecht in den neuen Bundesländern, in: DtZ 1992, S. 306-311. 55 BVerfOE 89, 1 ff.; BOBI I S. 1398. 56 OBI I S. 285 bzw. 782. 52

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vollstreckungsO") fortgilt 57 • Man hat von einer Außerkraftsetzung abgesehen, weil die Konkursordnung, die Vergleichsordnung und das Anfechtungsgesetz nach allgemeiner Auffassung reformbedürftig sind und ein neues gesamtdeutsches Insolvenzrecht an die Stelle treten soll 58 • Man kann zum Abschluß dieses knappen Überblicks feststellen: Der Umfang des über den 2.10.1990 hinaus fortgeltenden Rechts der DDR schrumpft immer mehr zusammen: 1. wegen des Ablaufes der Übergangsfristen 59, 2. wegen der fortschreitenden Angleichung an das alte Bundesrecht 60 , 3. wegen der Inkraftsetzung neuen, gesamtdeutschen Bundesrechts 61 und 4. wegen der Ablösung des DDR-Rechts durch die sich immer mehr entfaltende Landesgesetzgebung in den fünf neuen Bundesländern 62 • Auf längere Sicht werden nur marginale Reste erhalten bleiben.

IV. Rechtsprobleme aus der Fortwirkung von DDR-Recht Demgegenüber wird das fortwirkende DDR-Recht vor allem die Gerichte noch lange beschäftigen, schwerpunktmäßig natürlich in den neuen Bundesländern selbst, aber keineswegs nur dort. Denn mit der Wiedererlangung der Freizügigkeit in ganz Deutschland haben Hundertausende einstige DDR-Bürger ihre Wohnsitze in Gerichtsbezirke alter Bundesländer verlegt, mit der Folge, daß sich schon heute, und dies in steigendem Umfange, die ordentlichen Gerichte auch zwischen Lörrach und Flensburg etwa in familienrechtlichen oder in sonstigen vermögensrechtlichen Streitigkeiten mit der Anwendung von DDR-Recht zu befassen haben. Wir stehen hier vor den mitunter schwierigen Problemen des sogenannten

intertemporalen Rechts. Im Bereich des Privatrechts gilt seit der Wiedervereini-

gung und für die Zukunft in ganz Deutschland grundsätzlich das BGB, allerdings mit Einschränkungen bei vor der Wiedervereinigung begründeten sogenannten 57 Anlage II Kap. m. A, Abschn. 11 Nr. 1 EV. Zur Praxis vgl. Ste/an Smid, Erfahrungen mit der Verbraucherinsolvenz nach der Gesamtvollstreckungsordnung der neuen Bundesländer, in: DtZ 1993, S. 98 - 100; ferner Gerhard Pape, Forderungausschuß im Insolvenzverfahren der neuen Bundesländer, in: DtZ 1992, S. 347. 58 Regierungsentwurf einer Insolvenzordnung, BT-Drs 12/2442. 59 Die Fristen für das Auslaufen der Übergangsregelungen sind, auch und gerade in den Sachgebieten selbst, unterschiedlich, insgesamt aber relativ kurz bestimmt, mit der Folge, daß bereits zum 31.12.1992 ein beträchtlicher Teil von ihnen ausgelaufen war. 60 V gl. dazu den aktuellen Überblick über den Stand und die Hauptrichtungen der Entwicklung Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Zur Struktur der Rechtsangleichung im vereinten Deutschland, in: NJW 1993, S. 2465-2470. 61 Prominentestes Beispiel ist sicherlich im Bereich des Verbots gesetzwidriger Abtreibung das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 25.6.1992 (BGBl. I, 1398), das allerdings wegen der Entscheidung des BVerfG vom 28.5.1993 nur teilweise in Kraft treten konnte. 62 Dies betrifft vor allem das VerwR.

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Dauerschuldverhältnissen, namentlich im Mietrecht 63 • Der teilweise noch über das soziale Mietrecht des BGB (vgl. § 564 Buchst. b) hinausreichende Kündigungsschutz des ZGB der DDR - etwa die für den Vermieter ungünstigere Eigenbedarfsregelung (§§ 121, 122 ZGB) - gilt teilweise noch bis Ende 1995, teilweise sogar unbefristet darüber hinaus (Art. 232 § 2 lI-IV EGBGB). Die Unterschiedlichkeit der Regelungen in beiden Teilen Deutschlands ist verfassungsrechtlich unter den gegebenen Voraussetzungen (vgl. Art. 143 GG n. F.) unbedenklich 64.

Ein besonderes Problem stellen die "Altfälle" , d. h. vor der Wiedervereinigung begründeten Fälle, dar, die einen rechtlichen Bezug zur alten Bundesrepublik Deutschland aufweisen, etwa dadurch, daß - wie in Erbschaftsfällen oder in Ehesachen - teils ,DDR-Bürger', teils ,Bundesdeutsche' beteiligt waren, denn hier ist vorab zu prüfen, ob früheres DDR-Recht überhaupt Anwendung findet und nicht bundesdeutsches Recht 65 • Kollisionsfälle solcher Art wurden vor der Wiedervereinigung in den beiden deutschen Staaten nach unterschiedlichen Regeln gelöst 66 • In der DDR galt für das IPR das sogenannte Rechtsanwendungsgesetz vom 5.12.1975 (GBl. 1975 I 748), in der Bundesrepublik das sogenannte Interlokale Privatrecht (innerdeutsches Kollisionsrecht), das die Rechtsprechung aus einer entsprechenden und dabei modifizierten Anwendung der Regeln des IPR gemäß Art. 3 ff. EGBGB entwickelt hatte. Umstritten ist nun, wie bei derartigen Kollisions-Altfällen vorgegangen werden soll: Ein Teil der Literatur 67 vertritt die Auffassung, die Gerichte in den neuen Bundesländern müßten das IPR der DDR anwenden, denn gemäß Art. 8 EV i. V. m. Art. 236 § 1 EGBGB bleibe "das bisherige internationale Privatrecht" auf Vorgänge anwendbar, die vor der Wiedervereinigung ihren Abschluß erlangt hätten. Diese Regelung müsse analog auch für die deutsch-deutschen Kollisionsfälle gelten; dafür spreche insbesondere der Art. 236 zugrundeliegende Gedanke des Vertrauensschutzes. Ein starke Gegenmeinung 68 will demgegenüber das bisherige interlokale Privatrecht der Bundesrepublik nunmehr einheitlich in ganz Deutschland auch für Altfälle anwenden. Damit würden sowohl Manipulationen des Gerichtsstandes Vgl. EV Anlage I, Kap. III. B, Abschn. 11, Art. 232. Vgl. dazu BVerfG DtZ 1992, S. 353 (1. Kammer). 65 Vgl. dazu etwa LG Berlin, DtZ 1993, S. 121 f.; BezG Erfurt, DtZ 1993, S. 344 f. 66 Dazu Gerhard Kegel, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., München 1987, § 1 III. 67 Heinrich Dörner, Das deutsche und interlokale Privatrecht nach dem Einigungsvertrag, in: Festschrift für Wemer Lorenz, 1991, S. 577 ff. . 68 Ulrich Drobnig, Innerdeutsches und interlokales Kollisionsrecht nach der Einigung Deutschlands, in: RabelsZ 55 (1991), S. 268 ff.; Andreas Heldrich, Interlokales Privatrecht im vereinten Deutschland, in: Festschrift Lerche 1993, S. 913-928 (m. w. N.). 63

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(sogenanntes forum shopping) je nach den günstigeren Kollisionsregeln - DDR oder Bundesrepublik Deutschland - als auch eine unterschiedliche Behandlung der vor der Wiedervereinigung abgeschlossenen und der am 3.10.1990 noch nicht abgeschlossenen Vorgänge vermieden. Allerdings kann wegen des aus verfassungsrechtlichen Gründen hochrangigen Vertrauens schutzes auch diese Meinung eine Anwendung des DDR-Rechtsanwendungsgesetzes im Einzelfall nicht ausschließen. Die Gerichte in den neuen Bundesländern wenden in der Regeln Altrecht der DDR an, ohne auf die kollisionsrechtliche Problematik näher einzugehen.

v. Das DDR-Rechtsverständnis des BGH in den Mauerschützenprozessen

1. Zur DDR-verfassungskonformen Behandlung der Todesschüsse Die spannendsten Auseinandersetzungen um das einstige DDR-Recht dürften sich wohl auf strafrechtlichem Gebiet abspielen. Hier ergeben sich auch die schwierigsten, zuweilen schier unlösbar erscheinenden Probleme. Das betrifft insbesondere jene Fälle, bei denen es sich um Taten handelt, die - aus der Perspektive der Bundesrepublik - vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus immer als Unrecht, als mehr oder weniger massive Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenrechte angesehen wurden 69. 69 Stark verkürzend und daher unzulässig vereinfachend wird in dieser Hinsicht häufig von "Regierungskriminalität" gesprochen. Zu diesem Komplex ist in den letzten Jahren eine reichhaltige und, wie nicht anders zu erwarten, von sehr unterschiedlichen, ja konträren Standpunkten bestimmte Literatur entstanden. Nachfolgend einige Titel in Auswahl: Juua Limbaeh, Vergangenheitsbewältigung durch Justiz, in: DtZ 1993, S. 6671; Helmut Quaritsch, Strafrechtliche und berufsrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, in: Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln 1993, S. 329342; Albrecht Zeuner, Zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern aus Gründen einer Vorbelastung, in: Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln 1993, S. 377 -392. Christian Starck / Wilfried Berg / Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: VVDStRL Heft 51 (1992), S. 9 ff. / 46 ff. / 91 ff.; Theodor Maunz, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Bay Verwaltungsblätter 1991, S. 545-550; Klaus Lüderssen, Der Staat geht unter - das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, Frankfurt 1992; ders.: Zu den Folgen des "Beitritts" für die Strafjustiz der Bundesrepublik Deutschland, in: Strafverteidiger 1991, S. 482 - 487; JosefIsensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, Berlin 1992 (Beiträge von Eckhard Jesse, Günther Jakobs, Ulrich Battis und Josef Isensee; [aus der reichhaltigen Zeitungsdiskussion siehe Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet ,,Aufarbeitung der Vergangenheit" heute?, in: DIE ZEIT 1992, Nr. 15, S. 82- 84; Detlej Merten, Rentenkürzungen als Kollektivsühne?, in: FAZ vom 2.12.1993, S. 12; Steifen Heitmann, Vergeltung und Ausgrenzung, Amnestie und Versöhnung, in: FAZ vom 12.10.1993, S. 10; Joachim Nawrocki, Für Gnade ist es noch zu früh, in: DIE ZEIT 1993, Nr. 32, S. 3; ders., Der Kampf gegen

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Kennzeichnend für sie ist gerade der politische Einschlag, der sich aus ihrem intensiven Bezug zum SED-Herrschaftssystem ergibt. In diese Kategorie fallen Prozesse gegen DDR-Richter wegen Rechtsbeugung 70 , gegen Staatsfunktionäre wegen Wahlfälschung 71 oder gegen Stasi-Mitarbeiter etwa wegen Telefonüberwachung 72 • Am spektakulärsten ist gewiß die Kette der "Mauerschützenprozesse", deren ersten der BGH mit seinem Urteil vorn 3.11.1992 abgeschlossen hat73 • Um die durch diese Fälle aufgeworfenen Probleme ist seit der Wiedervereinigung höchst kontrovers diskutiert worden; zu einer echten Klärung der Streitfragen und zu einer Beruhigung hat die BGH-Rechtsprechung vorläufig nicht geführt. Überraschen kann das nicht, denn die vorn BGH vorgetragene Argumentation, mit der er die Verurteilung der Grenzsoldaten rechtfertigt, die Flüchtlinge an der Berliner Mauer mit bedingtem Vorsatz erschossen zu haben, verläuft mehrgleisig, ist dabei teilweise unklar und nicht frei von Widersprüchen. den Aktenberg, DIE ZEIT 1993, Nr. 47, S. 9; Richard Schröder, Laßt verjähren, was verjährt, in: FAZ vom l. 9.1993, S. 30; Michael Pawlik, Das Strafrecht gerät an seine Grenzen, in: FAZ vom 3l.3.1992, S. 36; Reinhard Göhner, Der Unrechtsstaat hat sich gerichtet, in: FAZ vom 13.5.1992, S. 35]; Einen Überblick über die in der (gesamt)deutschen Bevölkerung vorherrschenden Auffassungen (u. a.) zur ,,Abrechnung" mit der Vergangenheit im SED-Staat mit juristischen Mitteln aus der Perspektive der Demoskopie siehe Elisabeth Noelle-Neumann, Aufarbeitung der Vergangenheit im Schatten der Stasi, in: FAZ vom 6.8.1992, S. 8. 70 Wegen Rechtsbeugung wurde im Juli 1992 in ca. 3000 Fällen ermittelt. Vgl. FAZ vom 23.7.1992, S.5. Zu der Problematik vgl. Erardo C. Rautenberg I Gerd Burges, Anfangsverdacht wegen Rechtsbeugung gegen Staatsanwälte und Richter der früheren DDR - ein Beitrag zum Meinungsstand in der Praxis, in: DtZ 1993, S. 71-75; Manfred Maiwald, Rechtsbeugung im SED-Staat, in: NJW 1993, S. 1881-1889; Friedrich-Christian Schroeder, Wann war es Rechtsbeugung?, in: FAZ vom 17.3.1994, S. 14. 71 Siehe die BGH-Entscheidung zum Dresdener Wahlfälschungsprozeß, NJW 1993, S. 1019-1023; Karl Friedrich Fromme, Das Fehlen von Nein-Stimmen und andere Selbstverständlichkeiten. Beobachtungen im Prozeß gegen Berghofer und Moke in Dresden, in: FAZ vom 1O.l.1992, S. 4; die Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil und die Entscheidungen der Vorinstanzen wurde durch Kammerbeschluß zurückgewiesen, vgl. BVerfG NJW 1993, S. 2524 f.; Peter König, Anmerkung zur BGH-Entscheidung, in: IR 1993, S. 207-210; Friedrich-Christian Schroeder, Rückwirkung milderen Rechts und Wiedervereinigung. Zugleich zum DDR-Wahlfälschungsurteil des BGH, in: NStZ 1993, S. 216-218; zu konträren Auffassungen für und gegen eine Aburteilung vgl. im übrigen Erich Samson, Zur Straflosigkeit von DDR-Wahlfälschungen, in: Strafverteidiger 1992, S. 141-143; Lüderssen, Der Staat geht unter (Anm. 69, S. 75); Frank L. Lorenz, Zum "Beitrittsprinzip" und zur Strafbarkeit von DDR-Wahlfälschungen, in: NStZ 1992, S. 422-428. Zum Modrow-Prozeß in Dresden siehe Albert Funk, Wahlfälschung ist das geringste Delikt, in: FAZ vom 19.4.1993, S. 4. 72 Vgl. die Entscheidung des KG wegen Amtsanmaßung i. S. v. § 224 DDR-StGB, in: DtZ 1993, S. 381- 384 sowie die Entscheidung der Vorinstanz AG Tiergarten NStZ 1993, S. 46 f.; sowie OLG Dresden, DtZ 1993, S. 376 ff. 73 NJW 1993, S. 141-149; weitere Entscheidungen in Mauerschützenprozessen siehe BGH NStZ 1993, S. 486 (mit Anmerkung Joachim Herrmann) bzw. NStZ 1993, S. 488 f. Siehe jetzt auch die Dokumentation bei Herwig Roggemann, Systemunrecht und Strafrecht am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR, Berlin 1993, S. 80 ff.

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Man muß dem BGH allerdings Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn der Versuch, dem ,SED-Unrecht' mit juristischen, zumal rechts staatlichen Mitteln beizukommen, führt die gesamtdeutsche Justiz fast zwangsläufig in ein mehrfaches - moralisches und juristisches - Dilemma und zugleich vor große, kaum übersteigbare methodologische Hindernisse. Einigen damit verbundenen Fragen soll der zweite Teil meines Überblicks gewidmet sein. Die Anwendung von DDR-Strafrecht aufTaten, die vor der Wiedervereinigung in der DDR begangen worden sind, wird durch den Einigungsvertrag nur indirekt, nämlich dadurch ermöglicht, daß gemäß § 2 StGB der Bundesrepublik auf das Recht zur Tatzeit, also das Recht der DDR, abgestellt wird 74 • War die damals geltende Strafvorschrift der DDR milder als die heute geltende bundes- bzw. gesamtdeutsche oder sah das Tatzeitrecht der DDR von Strafe ab, dann hat das heutige deutsche Gericht das mildere DDR-Recht anzuwenden und gegebenenfalls den Angeklagten freizusprechen. Von der Vielzahl allein der Rechtsprobleme, die die Mauerschützenfälle aufwerfen 75, kann und möchte ich jenes herausgreifen, das m. E. den Kern der Sache bildet, nämlich die Frage, was eigentlich "das zur Zeit der Tat geltende Recht der DDR" ist (so Art. 315 Abs. 1 EG StGB n. F.), das den Maßstab unserer strafrechtlichen Beurteilung abgibt 76? Die Antwort auf diese Frage hat zugleich prinzipielle Bedeutung für die Behandlung der DDR-Altfälle insgesamt, mögen es solche des Verfassungsrechts, des Verwaltungsrechts, des Zivilrechts oder eben auch des Strafrechts sein 77. 74 Ich schließe mich hier der Position des BGH an. Auf abweichende Überlegungen, insbesondere zum Umfang der Anwendbarkeit des § 7 StGB kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zu diesem Problem etwa Lüderssen, Der Staat geht unter (Anm. 69), S. 71 f. 75 Siehe auch die folgenden Kommentierungen Joachim Hruschka, Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, in: JZ 1992, S. 665 -670; Klaus Günther, Anmerkung zum ersten Mauerschützenurteil, in: Strafverteidiger 1993, S. 18-24; Herwig Roggemann, Zur Strafbarkeit der Mauerschützen, in: DtZ 1993, S. 10-16; Friedrich-Christian Schroeder, Die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen zwischen Transzendenz und hnmanenz, in: JR 1993, S. 45-51; Klaus Adomeit, Die Mauerschützenprozesse rechtsphilosophisch, in: NJW 1993, S. 2914-1916; Wilfried Fiedler, Vom Gesetz zur ,,richtig interpretierten" Norm. Bemerkungen zum Mauerschützen-Urteil des BGH, in: Osteuropa-Recht 1993, S. 259 - 268, Hans Faller, Unrichtiges Recht hat der Gerechtigkeit zu weichen, in: FAZ vom 30.11.1992, S. 13; Rudolf Wassermann, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft - Zur Rolle des Rechts bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, in: NJW 1993, S. 895-899. Das "Mauerschützen"-Problem ist inzwischen bereits zum Musterfall einer strafrechtlichen Hausarbeit gediehen, vgl. Lothar Kuhlen / Thomas Gramminger, Der Mauerschütze und der Denunziant - Ein Bericht über eine strafrechtliche Hausarbeit, in: JuS 1993, S. 32- 39. 76 So zutreffend Günther, Urteilsanmerkung (Anm. 75), S. 20 (1. Sp.). Der Verfasser findet sich weitgehend in Übereinstimmung mit dieser brillanten Analyse bzw. Kommentierung der BGH-Entscheidung.

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,,,Mauerschütze' ist nicht gleich ,Mauerschütze"', stellt Herwig Roggemann zutreffend fest und belegt dies mit neun verschiedenen Fallkonstellationen, in denen sich entsprechend unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben 78. Meinen weiteren Darlegungen lege ich die zugespitzte Situation zugrunde, daß der Flüchtling am Überschreiten von ,Mauer und Stacheldraht' nur noch durch (gezielte ) tödliche Schüsse gehindert werden kann und auch gehindert wird. In diesem Fall besteht das konkrete Problem in der Frage, ob § 27 des GrenzG der DDR 79 das staatliche Verbot des eigenmächtigen Grenzübertritts (vgl. § 213 StGB der DDR 80) höher 77 Zu den Problemen der Auslegung von DDR-Recht nach der Wiedervereinigung durch (gesamt-)deutsche Gerichte vgl. Hartmut Oetker, Rechtsvorschriften der ehern. DDR als Problem methodengerechter Gesetzesanwendung, in: JZ 1992, S.608-6l4. Die Schlußfolgerungen Oetkers (S. 614) sind hinsichtlich der Auslegung von DDRAltrecht allerdings zu weitgehend, weil er das Problem des Rückwirkungsverbots im Falle des Strafrechts übersieht. Dazu ausführlicher unten V.2. 78 Zur Strafbarkeit der Mauerschützen, in: DtZ 1993, S. 10 ff. (12). 79 Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik vom 25.3.1982, GBI 1197. § 27 lautet: "Anwendung von Schußwaffen (1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird. (2) Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind. (3) Die Anwendung der Schußwaffe ist grundSätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schußwaffe verhindert oder beseitigt werden kann. (4) Die Schußwaffe ist nicht anzuwenden, wenn a) das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefahrdet werden können, b) die Personen dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter sind oder c) das Hoheitsgebiet eines benachbarten Staates beschossen würde. Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden. (5) Bei der Anwendung der Schußwaffe ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsrnaßnahmen Erste Hilfe zu erweisen." 80 § 213 StGB der DDR lautet: "Ungesetzlicher Grenzübertritt" (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) ... (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht

Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn

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als das Menschenrecht auf Leben stellte und den Grenzsoldaten dazu ennächtigte, den Flüchtling gegebenenfalls zu erschießen, um ihn an der Überschreitung der Grenze zu hindern. Eine solche Ennächtigung wäre als ein Rechtfertigungsgrund zu werten, dessen Anerkennung eine Bestrafung des Grenzsoldaten wegen Mordes oder Totschlags (vgl. § 112, 113 StGB der DDR) ausschlösse 81 • § 27 GrenzG der DDR rechtfertigt (in einer bereits leicht verschleierten Weise 82) den Schußwaffengebrauch bei illegalem Grenzübertritt in Anlehnung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, räumte dem menschlichen Leben aber nicht eindeutig Vorrang vor dem Grenzschutz ein, denn gemäß Abs. 5 war das Leben von Personen nur ,,nach Möglichkeit zu schonen". Die Frage, ob Rechtferti gungsgrund - ja oder nein - ist also zunächst unklar, die Nonn erscheint auslegungs bedürftig.

Das sieht auch der BGR so. Da er verwertbare öffentliche Äußerungen für die Auslegung nicht findet 83, zieht er als Indiz die Grenzsicherungspraxis heran 84. 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird; 4. 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits be straft ist. (4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar." Ferner "Gemeinsamer Standpunkt zur Anwendung des § 213 StGB von Oberstem Gericht und Generalstaatsanwalt der DDR vom 15.1.1988, Text: OG-Informationen 1988, Nr. 2. 81 Es ist schief, wenn Schroeder meint, nur eine Minderheit im Schrifttum vertrete die Auffassung, "daß der Grundsatz ,nulla poena sine lege' (Art. 103 Abs. 2 GG) eine Berücksichtigung der Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts gebiete"; eine Berücksichtigung der Rechtfertigungsgründe ist vielmehr in jedem Fall durch § 2 StGB geboten, umstritten ist nur die Frage, ob sich der Rechtfertigungsgrund etwa des § 27 GrenzG der DDR auch letztlich durchsetzt und zur Anwendung kommt. Allein in dieser Hinsicht gehen die Ansichten, wie Schroeder in einer vorzüglichen Übersicht darstellt, allerdings weit auseinander, wobei die Skala der Meinungen von einer Vemeinung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts zum Schußwaffengebrauch bis hin zur Außerkraftsetzung des § 27 GrenzG wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht reicht. Vgl. JR 1993, S. 46 f. 82 Dazu Schroeder, Anm. 75, S. 45; Kuhlen / Gramminger, Der Mauerschütze (Anm. 75), S. 36; aufgrund eines wohl zu engen Ansatzes Starck, Der Rechtsstaat (Anm. 69), S. 27, Anm. 48. 83 NJW 1993, S. 143 r. Sp. ("Wie die Abwägung zwischen dem Leben des Flüchtlings und der ,Unverletzlichkeit der Staatsgrenze' auszufallen hatte, war aus dem Gesetz nicht abzulesen. Rechtsprechung von Gerichten der DDR ist zu dieser Frage nicht veröffentlicht worden. Äußerungen im Schrifttum der DDR zum Schußwaffengebrauch an der Grenze beschränken sich auf die Darlegung, daß die Bestimmungen über den Schußwaffengebrauch ... im Einklang mit dem Völkerrecht dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung dienten ... "). 84 Anm. 73, S. 143 ff.

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Hier hat der BGH m. E. bereits etwas vorschnell aufgegeben. Es gab nämlich sehr wohl Hinweise. War die überragende Bedeutung, welche die hermetische Abriegelung der Grenze gerade seit dem Mauerbau für das Überleben der DDR in den Augen der SED-Führung besaß, nicht evident? War es nicht eine u. a. mit dem Mauerbau selbst eingeräumte Tatsache, daß die DDR mit offenen Grenzen als Staat nicht hätte überleben können, wie es sich dann ja auch tatsächlich im Herbst 1989 mit der Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich angekündigt und mit der Öffnung der Mauer am 9. 11. 1989 bestätigt hat 85? Wenn mit dem Grenzregime letztlich die Existenz der DDR als Staat auf dem Spiele stand, konnte die Nachrangigkeit der Person im Konfliktfalle mit dem Grenzschutz noch irgendwie zweifelhaft sein? Ferner hat der BGH den ideologisch-politischen Instrumentalcharakter des GrenzG im allgemeinen und des § 27 im besonderen nicht beachtet und damit einen bestimmenden Gesichtspunkt der sogenannten sozialistischen Gesetzlichkeit (als Auslegungsprinzip) übersehen. Dieses ist zugegebenermaßen ein außerordentlich verschwommenes Prinzip86. Aber es besteht kein Zweifel, daß Kern des Prinzips die Parteilichkeit und die Funktionalisierung der Normen für die Machtzwecke der SED war und sein sollte. Die einschlägige Lehrbuchliteratur der DDR legte das in aller Offenheit und Selbstverständlichkeit dar 87 : ,,Die sozialistische Gesetzlichkeit ist eine wichtige Methode der Diktatur des Proletariats, die, als unmittelbares Ergebnis der proletarischen Revolution entstanden, aktiv dazu beiträgt, die historischen Errungenschaften der Revolution zu festigen, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der sozialistischen Ordnung zu entwickeln, die Verteidigung des Landes zu organisieren und damit die Funktionen des sozialistischen Staates erfolgreich auszuüben. In diesem Prozeß wächst ständig ihre Bedeutung als grundlegende Methode der Machtausübung und damit zur einheitlichen Verwirklichung der in den Beschlüssen der Partei wissenschaftlich begründeten objektiven Erfordernisse . . . Einhaltung der Gesetze und ihre parteiliche Anwendung im Interesse der sozialistischen Gesellschaft bilden eine Einheit. Die Parteilichkeit neben die sozialistische Gesetzlichkeit zu stellen, hieße, das Klassenwesen des sozialistischen Rechts nicht zu begreifen, die Parteilichkeit dem Recht von außen beizufügen. Das würde jedoch bedeuten, sozialistische Gesetzlichkeit und sozialistisches Recht als zeitlose, gesellschaftlich abgehobene Erscheinungen zu sehen und entspräche dem formalen, bürgerlichen Rechtsdenken. Gesetzlichkeit und Recht sind Ausdruck und Instrument der bewußten Durchsetzung der geschichtlichen Notwendigkeiten. Darin liegt gleichzeitig ihre wissenschaftlich begründete Parteilichkeit. Parteilichkeit und Gesetzlichkeit stehen nicht in einem alter85 Siehe unter diesem Gesichtspunkt die Chronik des Untergangs der DDR, DDRAlmanach ,90. Daten, Informationen, Zahlen, hrsg. von Günter Fischbach, Bonn Aktuell 1990, S. 173 ff., ferner Chronik der Ereignisse in der DDR, hrsg. von Ilse Spittmann und Gisela Helwig, 4. Auflage, Köln 1990. 86 Vgl. dazu das (offiziöse) Lehrbuch Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 423 ff. 87 Anm. 86, S. 426.

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nativen oder einander ergänzenden Verhältnis zueinander. Die sozialistische Gesetzlichkeit ist Ausdruck der Parteilichkeit."88

Im Schatten dieses Prinzips hätte der BGH § 27 GrenzG interpretieren müssen. Im Blick auf den politischen Instrumentalcharakter des (DDR-)Rechts hätte der BGH außerdem danach fragen können, aber auch sollen, warum die Verhältnismäßigkeitsregelung in das GrenzG von 1982 hineingeschrieben wurde, um auch von hier aus etwas über dessen Reichweite und dessen Normativität zu erfahren. Er hätte dann festgestellt, daß das GrenzG verabschiedet und § 27 bewußt verschwommen und (auf den ersten Blick scheinbar rechtsstaatlieh) formuliert wurde, um die DDR vor allem gegenüber der internationalen, aber auch gegenüber der nationalen Menschenrechtskritik - etwa aus den Reihen der Kirche abzuschirmen 89. Das GrenzG und die GrenzO vom 25.3. sowie die Anordnung des DDRInnenministers über Reiseverkehrsregelungen ins "nichtsozialistische Ausland" 90 vom 15.2.1982 waren Reaktionen erstens auf das KSZE-Nachfolgetreffen von Madrid 91 und zweitens auf die Tatsache, daß die DDR 1980 wegen ihres Grenzregimes auf die bei der UN-Menschenrechtskommission geführte Liste derjenigen Staaten gesetzt worden war, die im Verdacht massenhafter, friedensgefahrdender Menschenrechtsverletzungen standen 92 ; die DDR war damit ein Kandidat für das sogenannte 1503-Verfahren geworden 93 , eine für sie nicht zuletzt auch im Blick auf ihre Reputation in der Dritten Welt politisch äußerst unangenehme Sache. Drittens war die DDR 1977 bei der Diskussion ihres ersten Staatenberichts an das Menschenrechtskomitee entsprechend Art. 40 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 wegen ihres Grenzregimes 88 Zu den verschiedenen Bedeutungsgehalten und -schichten des Prinzips der "sozialistischen Gesetzlichkeit" vgl. vor allem Georg Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl., München 1979, S. 2 ff.; ders., Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts. Band I, Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 385-447 (Rdn. 3033). 89 Die ersten bundesdeutschen Kommentierungen nach Verabschiedung des Gesetzes lenkten allerdings nicht den Blick auf die größeren politischen Zusammenhänge. Vgl. Georg Brunner, Neue Grenzregelungen der DDR, in: NJW 1982, S. 2479-2482; Karl Wilhelm Fricke, Altes Grenzregime mit neuen Bestimmungen, in: Deutschland-Archiv 1982, S. 567-569. 90 Text: GBI. 1982 I S. 187. 91 OUo Luchterhandt, Menschenrechtspolitik und KSZE. Teil 11: Belgrad, Madrid und die Perspektiven, in: Berichte des BIOst, Köln 1985; Nr. 4, S. 40 ff. 92 Ausführlich mit Nachweisen siehe Hans-Jürgen Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes im Jahre 1981, in: NJW 1982, S. 478-487 (483 1. Sp.). 93 Zum 1503-Verfahren siehe die UN-ResolutionenNr. 768,1235,1503 in: Universelle Menschenrechte, Beck'sche Rechtsausgaben, hrsg. von Bruno Simma / Ulrich Fastenrath, München 1992, S. 11 ff.; ferner Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl., Berlin 1984, S. 832 ff.

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in die Kritik gekommen 94, und sie stand hier ebenfalls für die Anfang der 80er Jahre beginnende zweite Berichtsrunde 95 unter Legitimationsdruck. Die offensichtliche außenpolitische Abwehrfunktion relativiert bzw. schwächt gerade die Elemente der Verhältnismäßigkeit in § 27 GrenzG. Es ist daher ein "Kurzschluß", wenn das Berliner Landgericht im Fall ,Michael Schmidt' statuiert 96 : ,,Ein Gesetz, das den Anschein von Rechtsstaatlichkeit - sei es auch nur aus Gründen internationalen Ansehens - erweckt, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auszulegen. Da eine solche Auslegung des Grenzgesetzes nach dessen Systematik möglich ist und da eine entgegenstehende Rechtsprechung durch Gerichte der DDR nicht existiert, besteht keine Veranlassung, an der rechtlichen Wirksamkeit dieses Gesetzes zu zweifeln." Der Hinweis auf das Fehlen von Rechtsprechung ist politisch naiv, die Ignorierung der mehr als deutlich sprechenden Rechtspraxis methodologisch unzulässig. Überzeugend ist m. E., daß der BGH im nächsten Schritt die Praxis des Schußwaffengebrauchs heranzieht, um die Frage des Vorranges von Staats schutz oder Leben innerhalb von § 27 zu ermitteln. Das von ihm gefundene Ergebnis überrascht nicht. Die Indizien waren zu erdrückend, angefangen bei der Vergatterungsformel 97 ("Sie - d. h. die Soldaten - sind eingesetzt von .. . bis ... [Uhrzeit] im Abschnitt der ... [X. Y.] Grenzkompanie mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche in beiden Richtungen nicht zuzulassen, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten, sowie Provokationen rechtzeitig zu erkennen und deren Ausdehnung auf das Gebiet der DDR zu verhindern." - die Vergatterungsformel galt so zwischen 1966 und 1987 98 ), über die feststellbare Praxis der Bekämpfung der Flüchtlinge bis hin nicht nur zur Straflosigkeit, sondern im Gegenteil zur Belobigung der Schützen. Man hätte meinen sollen, die vom BGH angestrebte normative Klarheit des

§ 27 sei nun erreicht, d. h. der normative Vorrang des Grenzschutzes vor dem

menschlichen Leben festgestellt worden. Das ist jedoch nicht so. Vielmehr igno94 Vgl. Hans-Jürgen Bartseh, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes im Jahre 1978, in: NJW 1979, S. 449-456 (451); Felix Ermacora, Die DDR am Prüfstand der Menschenrechte, in: Deutschland als Ganzes, Festschrift für Herbert Czaja, hrsg. von Dieter Blumenwitz / Gottfried Zieger / Boris Meissner, Köln 1985, S. 117 -124 (121 ff.). 95 Dazu Hans-Jürgen Bartseh, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes 1983/1984, in: NJW 1985, S. 1751-1761 (1753 f.). Der zweite Staatenbericht der DDR wurde am 18. und 19.7.1984 vom Menschenrechtskomitee behandelt (vgl. CCPR/ C / SR.532 / 533 / 534-23.-25-7-1984). Die DDR war durch hochrangige Vertreter des Justizministeriums vertreten (Rose; Buchholz). Das Grenzregime wurde kritisch von Tomuschat(,,Recht auf Leben") und Ermacora ("Grundsatz der Verhältnismäßigkeit") angesprochen. 96 LG NJ 1992, S. 418 (421); Roggemann, Systemunrecht (Anm. 73), S. 117 f. 97 Der Text ist abgedruckt bei Thomas M. Forster, Die NY A. Kernstück der Landesverteidigung der DDR. 5. Aufl., Köln 1977, S. 177. 98 So Kar/ Wilhe/m Fricke in: Deutschland-Archiv 1992, S. 1009/1010.

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riert der BGH jetzt seine Ausgangsfrage - die Unklarheit des Vorranges in § 27 GrenzG - und spricht nur noch davon, daß die Staatspraxis vom Vorrang des Grenzschutzes ausgegangen sei 99 , und er behandelt diese Staatspraxis dann nur noch wie eine (von mehreren) gleichsam neben der Norm des § 27 GrenzG stehende Auslegungsmöglichkeit 1°O, eine Möglichkeit, die allerdings - so der BGH 101 - , vorgeordnete, auch von der DDR zu beachtende Rechtsprinzipien verletze und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer acht bleiben müsse'. Mit diesem ,Trick' hält der BGH die eigentlich schon geklärte Auslegungsfrage zu § 27 weiter offen, und zwar ersichtlich deswegen, um nun eine (eigene) Auslegung von § 27 GrenzG anzubieten, eine Auslegung, die er mit Auslegungsmethoden gewonnen haben will, "die dem Recht der DDR eigentümlich waren" 102. Diese Behauptung ist, wenn man das folgende liest, ,starker Tobak'. Denn, um es vorwegzusagen, mit den Auslegungsmaximen der DDR-Rechtswissenschaft und -praxis hat diese Auslegung des BGH nichts zu tun:

Erstens berücksichtigt sie nicht einmal ansatzweise das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit mit seinem integrierenden Bestandteil der Parteilichkeit 103; Zweitens (und komplementär dazu) blendet der BGH die absolute Machtstellung der SED-Führung aus seinen Erwägungen völlig aus, nimmt einige ihm dafür geeignet erscheinende Bestimmungen der DDR-Verfassung isoliert zu ihrem verbalen (rechtsstaatlich assoziierten) Nennwert und kommt damit zu dem folgenden eindrucksvollen Ergebnis 104: ,,Anders als im nationalsozialistischen Führerstaat gab es in der DDR keine Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht Recht zu schaffen vermochte. Gesetze waren verbindlich (vgl. Art. 49 Abs. 1 DDR-Verf.); sie konnten allein von der Volkskammer erlassen werden (Art. 48 11 DDR-Verf.). Zur "Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit" war die Rechtspflege berufen, die die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen zu schützen hatte (Art. 90 I DDR-Verf.). Die Richter sollten nach Art. 96 I DDR-Verf. in ihrer Rechtsprechung unabhängig sein. Hiernach beanspruchten die Gesetze eine Geltung, die nicht durch Weisungen oder die tatsächliche Staatspraxis bestimmt war. Wer heute den Inhalt der Gesetze der DDR unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung und der Bindung der DDR an die internationalen Menschenrechtspakte zu ermitteln 99

Anm. 73, S. 144 (I. Sp. unten).

Siehe insbesondere S. 146. Vgl. S. 144 bei b). 102 Vgl. S. 146 bei 3. 103 Siehe dazu das Zitat oben bei Anm. 88. 104 A. a. 0., S. 146 f. Ironischerweise bedient sich der BGH bei diesem Vorgehen im Prinzip eines Ansatzes, der auch und gerade im Rahmen des Grundsatzes der "sozialistisehen Gesetzlichkeit" typisch ist, nämlich einer politisch gesteuerten Selektivität der zur Anwendung bzw. Auslegung gebrachten Normen! 100 101

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Otto Luchterhandt sucht, unterschiebt demnach nicht dem Recht der DDR Inhalte, die mit dem eigenen Anspruch dieses Rechts unvereinbar wären."

Der BGH macht hier genau das, was er der Vorinstanz - dem Berliner Landgericht - vorwirft, nämlich eine mit einem rechtsstaatlichen Vorverständnis ansetzende DDR-Rechts-Interpretation \05. ,Die DDR-Verfassung', so wird man im Nachhinein belehrt, ,war an sich eine schöne Frau, sie befand sich nur in der Gefangenschaft der häßlichen SED' ... Als weitere Schlußfolgerung aus diesem Ansatz des BGH drängt sich auf, daß zwischen dem Verfassungsrecht der DDR und dem der Bundesrepublik, sieht man von der Praxis mal ab, ein substantieller Unterschied nicht bestand: Menschenrechtskonformität hier wie dort. Wenn das so ist, warum hat man dann nicht mehr vom DDR-Recht übriggelassen, möchte man sarkastisch fragen.

2. Zur Problematik des Rückwirkungsverbots Natürlich kannte der BGH die in ihrer Einseitigkeit liegende Schwäche seiner Argumentation, aber er sah sich zu dieser Lösung genötigt, weil er ganz offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Verbot der Rückwirkung gemäß Art. 103 Abs. 2 GG aus dem Wege gehen wollte 106. Denn der BGH vertritt mit der herrschenden Lehre die Auffassung, das Rückwirkungsverbot erstrecke sich auch auf die RechtfertigungsgTÜnde. Eine Anerkennung von § 27 GrenzG der DDR in seiner praktizierten Form als Rechtfertigungsgrund aber hätte zur Straflosigkeit der Mauerschützen geführt \07. Das Ergebnis aber durfte augenscheinlich aus ,übergeordneten', und das heißt hier letzlich politischen Erwägungen nicht sein. Andererseits war aber auch ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ausgeschlossen. Mit dem gefundenen ,goldenen Mittelweg' soll beides vermieden werden. Der BGH bringt es mit provozierender Deutlichkeit auf den Punkt \08: Art. 103 Abs. 2 GG sei nicht verletzt: "Bei der Prüfung, ob die Strafbarkeit ,gesetzlich bestimmt \05 Der Unterschied liegt nur darin, daß der BGH einen ausdrücklichen positiv-rechtlichen Bezug zu Art. 12 IPBPR herstellt (vgl. S. 145 f.), während das Landgericht hierauf verzichtet hatte. 106 Dieser Gesichtspunkt beherrscht völlig den zweiten Teil der BGH-Entscheidung, vgl. NJW 1993, S. 146 ff. 107 Etwas anderes wäre nur im Falle der Unbeachtlichkeit des § 27 GrenzG wegen seines Verstoßes gegen höherrangiges, d. h. in diesem Falle überpositives Recht der Fall gewesen, wie es der BGH in seiner Entscheidung ja auch aufgezeigt hat, indem er nämlich die Praxis des Schußwaffengebrauches - unverkennbar in Anlehnung an die berühmte ,,Radbruchsche-Formel" - für einen Verstoß gegen "vorgeordnete, auch von der DDR zu beachtende allgemeine Rechtsprinzipien" angesehen hat. Die Auslegung des § 27 Abs. 2 DDR-GrenzG müsse daher "wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben". Anm. 73, S. 144 r. Sp. (Mitte). \08 NJW 1993, S. 148.

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war' , bevor die Tat begangen wurde, ist der Richter nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden hat. Konnte das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so ausgelegt werden, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf die Menschenrechte entsprochen wurde, so ist das Tatzeitrecht in dieser menschenrechtsfreundlichen Auslegung als das Recht zu verstehen, das die Strafbarkeit zur Zeit der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 gesetzlich bestimmt hat. Ein Rechtfertigungsgrund, der das Verhalten der Angeklagten gerechtfertigt hätte, wurde zwar in der Praxis, wie es sich in der Befehlslage ausdrückte, angenommen; er durfte aber dem richtig interpretierten Gesetz schon damals nicht entnommen werden." Zu Unrecht beruft sich der BGH auf die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützte herrschende Meinung 109, daß das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht das Vertrauen des Bürgers in die Stabilität der Rechtsprechung schütze. Der BGH meint, es sei 110 ,,keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angehe, so beurteilt werde, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen. Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig." Dem kann m. E. nicht gefolgt werden, denn die vom BGH betriebene menschenrechtskonforme Auslegung des § 27 GrenzG wäre zur Tatzeit (1984) nur möglich gewesen, wenn die friedliche Revolution in der DDR nicht erst 1989, sondern schon 1983 stattgefunden hätte! Zur Tatzeit (1984) war es gänzlich ausgeschlossen, daß ein DDR-Richter Verfassung, GrenzG und StGB so interpretierte, wie der BGH es getan hat. Wir haben hier den Fall vor uns, daß der Wortlaut einer Norm (der DDR) zwar unverändert bleibt, daß ihr Sinn aber durch eine Auslegung in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil diese Auslegung jetzt von diametral entgegengesetzten Rechts- und Verfassungsprinzipien bzw. Werten gesteuert wird. Im Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG verlangt der BGH nicht weniger als dies, daß nämlich der schießende Grenzsoldat von 1984 hätte damit rechnen müssen, daß er von einem DDR-Gericht wegen Mordes oder Totschlags vielleicht einmal belangt werden würde. Da dies unter der SED-Herrschaft natürlich undenkbar war, läuft die Position des BGH darauf hinaus, daß der Grenzsoldat bereits 1984 zumindest eine Ablösung des SED-Regimes durch ein menschenrechtlich orientiertes Herrschaftssystem nicht hätte ausschließen können, d. h. zu einer Zeit, als 109 Vgl. dazu Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 2, Rdr. 63 f. (Zweitbearbeiter Rüping); RudolfWassermann in: AK-GG, Art. 103, Abs. 2, Rz. 51. 110 Anm. 108, S. 148 1. Sp.

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die weitere Aufwertung der SED-Führung auch durch die (neue) Regierung KohlStrauß-Genscher im Sinne "gutnachbarlicher, gleichberechtigter" Beziehungen in vollem Gange war und dann bekanntlich 1987 mit dem Staatsbesuch Honeckers in Bonn ihren Höhepunkt erlebte! 111 Ich stelle daher fest: Art. 103 Abs. 2 GG schließt eine Gesetzesauslegung aus, deren hypothetische Anerkennung und Praktizierung zur Tatzeit nur unter (stillschweigender) Voraussetzung einer Revolution in der DDR denkbar gewesen wäre.

Teilt man diesen Standpunkt, dann bleibt die Frage, ob § 27 GrenzG in der ihm durch die Schießpraxis gegebenen offiziellen Auslegung dem elementaren Gerechtigkeitsempfinden so unerträglich widerspricht, daß er als ,legislatives Unrecht' außer Betracht zu bleiben hat und keinen Rechtfertigungsgrund abzugeben vermag. Der BGH hat in der Mauerschützenpraxis, wie schon bemerkt, einen Anwendungsfall der berühmten ,Radbruchsehen Formel' 112 gesehen. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob man deren Anwendungsbereich so weit ziehen darf. Grundsätzlich bin allerdings auch ich der festen Überzeugung, daß jene Formel im Kern richtig, unter bestimmten Voraussetzungen also der Rückgriff auf ,überpositives Recht' vollauf gerechtfertigt, vielleicht sogar geboten ist 113. War aber das Grenzregime der DDR "extrem ungerecht und deshalb für jeden von Anfang an als evidentes Nicht-Recht erkennbar"? 114 Der BGH hat selbst eingeräumt 1IS: "Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann." Die Sonderstellung der Ausreisefreiheit unter den Menschenrechten und die noch verbreitete 111 Zu den Umständen des Honecker-Besuches in Bonn 1987 siehe nur die aus diesem Anlaß herausgegebene Broschüre des Bundespresseamtes. 112 "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorzug hat, wenn es inhaltlich ungerecht und .unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Ungerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kemder Gerechtigkeit ausmacht, bei der Satzung positiven Rechts verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur "unrichtiges Recht", vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur." (Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1956, S. 347 ff. [353]). 113 Ich schließe mich hier der Argumentation Robert Alexys an. Vgl. Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg / München 1992, S. 52 ff. (83 f.; 99 ff.); zur Analyse der Position Radbruchs, zugleich gespiegelt an Kelsen, siehe Horst Dreier, Die Radbruchsche Formel - Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Staatsrecht in Theorie und Praxis. FS für Robert Walter, Wien 1991, S. 117 -135. 114 So die Formulierung des Maßstab~ durch Alexy, Diskussionsbeitrag in: VVDStRL Heft 51 (1992), S. 134. 115 NJW 1993, S. 144 f.

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repressive Staatenpraxis im Weltrnaßstab 1l6 relativieren das Unrechtsurteil zusätzlich. Ich neige daher dazu, hier einen Anwendungsfall der Radbruchschen Formel zu verneinen. Zu beachten ist schließlich im Blick auf die Rückwirkung der Bestrafung das gewichtige Problem der Kompetenz, ob nämlich darüber ein Richter oder nicht vielmehr das Parlament entscheiden soll 117.

VI. Normativität und Faktizität im SED-Staat Aus den vorstehenden Darlegungen möchte ich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Bei der Behandlung der DDR-Altrechtsfälle steht die Rechtsanwendung vor zwei Gefahren, die jeweils auf eine nachträgliche (unzulässige) Veränderung des DDR-Rechts hinauslaufen. Es handelt sich zugleich um zwei Extrempositionen, die beide beinahe exemplarisch bei der Diskussion um die strafrechtliche Aufarbeitung des SED-Unrechts hervorgetreten sind: 1. Die eine Gefahr geht dahin, das geschriebene DDR-Recht beiseite zu lassen, dafür ganz auf die DDR-Staatspraxis abzustellen und diese Staatspraxis, etwa die Machenschaften des Stasi, als in jedem Fall Ausdruck der "gelebten" DDRVerfassung, als durch Praxis verbindlich interpretiertes, festgestelltes DDR-Recht zu verstehen. Diese Tendenz findet sich insbesondere bei dem Strafrechtler Jakobs 118, bei dem allerdings nicht immer ganz deutlich ist, inwieweit er auf die "gelebte Rechtsordnung", unabhängig vom Buchstaben des Gesetzes, abstellt oder aber noch an der Forderung eines Bezuges der Staatspraxis zum. Dies ist abzulehnen, denn damit wird die politische Realität in der DDR nachträglich in einem Maße vergesetzlicht und verrechtlicht, wie es schlechterdings nicht der Fall war. Vor allem wird damit ignoriert, daß die SED-Führung und das MfS sich, wenn es zweckmäßig erschien, über den klaren Wortlaut von Verfassung und Gesetz zynisch hinwegsetzten, die Normen ignorierten, durchbrachen 119. 116 Siehe dazu Rainer Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, Berlin usw. 1988, S. 302 ff.; vgl. aber auch Dieter Blumenwitz, Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland. FS für Siegfried Mampel, hrsg. von Gottfried Zieger, Köln usw. 1993, S. 93-101. 117 Horst Dreier, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL Heft 51 (1992), S. 137 f.; Michael Pawlik, FAZ vom 31. 3. 1992, S. 3. 118 Günther Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in: Josef Isensee (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992, S. 37-64 (56; vgl. auch S. 53). 119 Zu undifferenziert auch Jose! Isensee in seinem Diskussionsbeitrag VVDStRL Heft 51 (1992), S. 135: ,,Das rechtsstaatliche Strafrecht des wiedervereinigten Deutschland kann zwar die typischen Kriminaltaten aus der DDR-Ära erfassen, ebenso die privaten Exzesse der Regimetäter, nicht aber das systemkonforme Unrecht, das, selbst

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2. Das andere Extrem ist die Position, die der BGH bisher in den Mauerschützenfällen eingenommen hat. Er interpretiert die DDR-Rechtsvorschriften im Lichte der von der DDR völkerrechtlich eingegangenen Menschenrechtsverpflichtungen und kommt damit zur Unterscheidung zwischen einer rechtlich irrelevanten, weil menschenrechtswidrigen Staatspraxis einerseits, und einem menschenrechtlich rekonstruierten DDRRecht andererseits. Der BGH hält dies nicht nur für einen DDR-System-immanenten Interpretationsansatz, sondern sogar für das (einzig) "richtige" Verständnis der DDR-Normen. Die DDR-Verfassungs- und Rechtsordnung verwandelt sich unter diesem interpretatorischen Zugriff auf wundersame Weise: sie bekommt verfassungs- und rechtsstaatliche Züge. Die Prinzipien der führenden Rolle der Partei, der Instrumentalisierung des Rechts, der sozialistischen Gesetzlichkeit und Parteilichkeit der Rechtsanwendung dürfen ignoriert werden, und sie werden vom BGH auch ignoriert. Ignoriert wird ferner das spezifische sozialistische (Anti-)Menschenrechtsverständnis, mit dem sich die DDR bewußt und gezielt gegenüber eventuellen Rückwirkungen aus dem Völkerrecht auf ihr innerstaatliches Recht abschirmte 120 (ebenso wie mit dem völkerrechtlichen Prinzip einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten) 121. Wer alles dies beiseite schiebt, verwandelt im Nachhinein das historische DDR-Recht der "Vorwendezeit" in ein fiktives Gebilde und schemenhaftes Abstraktum zugleich 122. Vom DDR-Recht bleibt so nicht einmal bei der Lösung von Altrechtsfällen etwas von seiner eigentlichen Substanz übrig. Während die erste Position immerhin noch in der Immanenz der Vorgaben des SED-Herrschaftssystems verbleibt, führt die zweite Position zu einer Verfälschung der DDR-Rechtsordnung; dies ist unannehmbar. wenn es dem förmlichen Strafrecht der DDR widersprochen haben sollte, unter den Bedingungen des sozialistischen Systems nicht mit Strafe bedroht war, weil die Geltung und Anwendung der Gesetze überlagert war von der Maxime der sozialistischen Persönlichkeit, und die sozialistische Parteiführung es war, die sich des Rechts als Herrschaftsinstrument bediente, ohne sich selbst daran zu binden, und die letztverbindlich über das systemimmanente Recht oder Unrecht disponierte." 120 Vgl. dazu Luchterhandt. Allgemeiner Status (Anm. 3), S. 20 f.; Hans v. Mangoldt. Die kommunistische Konzeption der Bürgerrechte und die Menschenrechte des Völkerrechts, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission, Köln 1988, S. 34-58. 121 Vgl. Völkerrecht. Lehrbuch, Teil 1 (Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin 1988, S. 231 ff.; Georg Brunner / Eckart Klein. Internationale Menschenrechtsverpflichtungen der DDR, in: Georg Brunner (Hrsg.), Menschenrechte in der DDR, Baden-Baden 1989, S. 15 -48 (46 f.). 122 Wilfried Fiedler. Vom Gesetz zur ,.richtig interpretierten" Norm, Osteuropa-Recht 1993, S. 267; 266.

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Beide Ansätze werden dem Verhältnis von Nonnativität und Faktizität bei der Bestimmung und Identifizierung des Vorwenderechts der DDR nicht gerecht. Um dies darzulegen, muß ich mich hier auf einige skizzenhafte Bemerkungen beschränken. Ausgehen möchte ich von Ernst Fraenkels berühmt gewordener Erfassung des Dritten Reiches in dem Bild eines Doppelstaates 123 • Gerade im Blick auf unser Leitthema "Die Einheit der Rechtsordnung" ist Fraenkels Ansatzbesonders interessant, denn ebenso wir Karl Engisch ging es ihm um die angemessene, richtige Deutung des augenscheinlich widersprüchlichen Nebeneinander von alter Weimarer Rechtsordnung und neuer NS-Staatsordnung. Während jedoch Engisch sein Ziel darin sah, die Brüche und Widersprüche zwischen altem Weimarer und neuem NS-Recht durch Akzentuierung des vom NS-Gesetzgeber nonnativ Gewollten zu überbrücken, um mit diesem ,,nonnativistischen" Ansatz der "inneren Ordnung, Einheit und Totalität des Staates" gerecht zu werden, weil das "gerade die konkrete Ordnung ,totalitärer Einheitsstaat' (fordere)" 124, betonte Fraenkel den inneren Bruch in der Staatsordnung des Dritten Reiches, die den Zeitgenossen janusköpfig angeschaut habe, nämlich teils in der Fonn eines Nonnenstaates, teils in der eines Maßnahmenstaates. Der Maßnahmenstaat umschreibt den Bereich des Herrschaftssystems, in welchem der an Recht und Gesetz nicht gebundene Machthaber unter Mißachtung von Recht und Gesetz souverän nach der jeweiligen politischen Zweckmäßigkeit entscheidet. Kraft seiner Souveränität besitzt der Machthaber die Kompetenzkompetenz und kann jede beliebige Frage nach Belieben entscheiden und dementsprechend das Gesetz im Einzelfall durchbrechen. Daneben steht der Normenstaat. Hier handelt der Staat (äußerlich ähnlich wie im Rechtsstaat) in den Fonnen von 123 Der Doppelstaat. Recht und Justiz im ,Dritten Reich', Frankfurt / Main 1984, S. 21 ff. (Einleitung zur amerikanischen Ausgabe 1940) und passim. Fraenkels Konzept des "Doppelstaates" ist ganz auf den NS-Staat von 1933-1938 zugeschnitten und stark einer spezifischen politökonomischen Sicht und Kritik (,,kapitalistisch") des NS-Herrschaftssystems verpflichtet. Gleichwohl würde ich nicht so weit gehen wie FriedrichChristian Schroeder und deswegen Fraenkels Theorieansatz als unbrauchbar beiseite stellen (vgl. 74 Jahre Sowjetrecht, Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg, München 1993, S. 31). Mit Georg Brunner bin ich vielmehr der Auffassung, daß Fraenkel mit seiner Gegenüberstellung von "Maßnahmenstaat" und ,,Normenstaat" ein Phänomen auf Begriffe gebracht hat, das sich im Prinzip auch im totalitären kommunistischen Weltanschauungsstaat findet. Vgl. ders. Was ist sozialistisch am "sozialistischen" Recht?, in: Festschrift für Klemens Pleyer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Paul Hofmann / Ulrich Meyer-Cording / Herbert Wiedemann, Köln 1986, S. 187 - 205 (200 ff.). 124 Karl Engisch. Die Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935; Neudruck mit einem Geleitwort von Arthur Kaufmann, Darmstadt 1987; zu Engisch und seiner "subjektiv-teleologischen Auslegung" im Kontext der Zeit vgl. (Bernd Rüthers. Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Frankfurt / M. 1973, S. 178. Das Zitat bei Engisch. S. 6). Das von Engisch verfolgte rechtsdogmatische und zugleich politische Anliegen der juristischen Harmonisierung konnte für Fraenkel, nicht allein wegen des ganz anderen Zieles seiner Studie, natürlich keinen Sinn haben.

13 Vielfalt des Rechts

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Gesetz, Verordnung, Gerichtsurteil und Verwaltungsakt, bindet sich an diese Normen und sorgt für ihre Achtung und Durchsetzung. Fraenkesl Modell läßt sich m. E. auf die DDR übertragen, denn auch in ihr verbinden sich die Züge eines Normenstaates mit denen eines Maßnahmenstaates, wobei auch im Falle der DDR die Grenzen des Normenstaates durch das positive Recht gebildet wurden 125. "Das sozialistische Recht ist das System allgemeinverbindlicher Normen, die den Willen der Arbeiterklasse und der von ihr geführten Werktätigen ausdrücken, vom Staat festgelegt oder sanktioniert und garantiert werden." Entscheidende Kriterien für den Rechtscharakter der Norm seien ihre Allgemeinverbindlichkeit und die Veröffentlichung. Das Recht sei in der sozialistischen Gesellschaft freilich nicht der einzige normative Faktor; es gäbe noch andere normative Systeme, z. B. die Moral und die Normen gesellschaftlicher Organisationen (z. B. SED). Das Recht sei aber das einzige staatlich-normative System. Ausdrücklich wird festgestellt, daß Regierungsakte, die entweder in der Verfassung nicht vorgesehen seien oder keine abstrakt-generellen Regelungen träfen, keinen Rechtsnormcharakter besäßen. Dagegen könne das Recht in Präzedenzfällen auftreten. Dann werde der staatliche Wille der herrschenden Klasse dadurch zum Gesetz erhoben, daß der Entscheidung eines Gerichts oder Verwaltungsorgans in einer konkreten Sache allgemeine Bedeutung beigemessen werde. Es ergibt sich also bereits nach dem DDR-Selbstverständnis eine ziemlich präzise Bestimmung zumindest der Abgrenzung des Rechts (d. h. des Normenstaates ) von den sonstigen Erscheinungen des juristischen"Überbaus", von exekutiver Staatspraxis, sozialen Normen usw. Welches Verhältnis besteht nun zwischen Maßnahmen- und Normenstaat? Hier ist eine Erscheinung höchst bedeutsam, die bei Fraenkel nur unzureichend behandelt wird, im Falle der langlebigen DDR (im Vergleich zum kurzlebigen NS-Staat) aber eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Durchdringung und Instrumentalisierung des Normenstaates durch die Akteure des Maßnahmenstaates. Die von Fraenkel vorgenommene Trennung (und Entgegensetzung) zwischen beiden berücksichtigt zu wenig die Tatsache, daß das Recht selbst, die Normen selbst an die Bedürfnisse des Maßnahmenstaates angepaßt werden, und zwar (insbesondere) -

erstens durch die direkte Hereinnahme der Ideologie in die Verfassungs- und Rechtsordnung (über die Rechtssprache);

125 Vgl. Karl A. Mollnau u. a. (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrburch, 3. Aufl., Berlin 1980, S. 400-405. Zum Problem der Normenhierarchieim DDR-Recht vgl. auch Regina Rühmland, Die Rechtsnatur der Rechtsakte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in: DVBI 1983, S. 261-267.

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-

zweitens durch die Öffnung der Rechtsbegriffe für eine ideologisch präformierte "unbegrenzte Auslegung" und

-

drittens durch die juristische Transformation des politischen Maßnahmezwekkes, im Einzelfall durch außergerichtliche Anweisung von oben 125.

Bildlich gesprochen, zwischen dem Maßnahmenstaat und dem Normenstaat dehnt sich eine Übergangszone verminderter (offener) Normativität l26 , gewissermaßen die in Rechtsvorschriften verpackte Ermächtigung zu Willkür und politischer Beliebigkeit. Diese Zone erstreckt sich über die Generalklauseln grundsätzlich auf alle Rechtsgebiete, vor allem betrifft sie jene Materien, die den spezifischen Machtinteressen des Maßnahmenstaates am nächsten stehen, also das Staatsrecht und das politische Strafrecht. In dem Maße, wie eher unpolitische Bereiche des Normenstaates - Teile des Zivilrechts, des Arbeitsrechts, des Familienrechts bis hin zu den systemneutralen "technischen" Normen des Straßenverkehrsrechts - in Rede stehen, wächst hingegen die innere Stabilität, Berechenbarkeit und Geltungskraft solcher Normen nach Maßgabe der hier gleichsam "normal" arbeitenden Justiz.

Was ergibt sich daraus? Ich möchte folgendes feststellen: Man wird dem Begriff des DDR-Rechts, welches z. B. gemäß Art. 315 EGStGB auf Altrechtsfälle anzuwenden ist, nicht gerecht, indem man die Faktizität des Maßnahmenstaates in den Normenstaat hineinzieht, man wird ihm aber auch nicht gerecht, indem man - wie der BGH - jene politische Übergangszone verminderter Normativität durch eine angeblich immanente menschenrechtliche Interpretation zur Quasi-Rechtsstaatlichkeit erstarken läßt und so geradezu in einen Gegensatz zum Maßnahmenstaat bringt, wo diese Übergangszone doch faktisch weitgehend Teil des Maßnahmenstaates war! Die Behandlung der Altfälle, die in die Übergangszone fallen, wirft aber zweifellos die größten Probleme auf, und in diese Zone fällt auch das menschenrechtsfeindliche Grenzregime. Michael Pawlik aufgezeigt:

127

hat die Grundproblematik mit den folgenden Sätzen treffend

"Die Rechtsordnung der DDR (war) in sich widersprüchlich bzw., in juristischer Terminologie, ,perplex'. Die DDR sprach gleichsam mit gespaltener Zunge: Nach außen klang es anders als nach innen; und was auf dem Papier stand, hatte häufig mit dem, was tatsächlich geschah, nur wenig zu tun. Die DDR war eben ein durch und durch verlogener Staat, und an dieser Verlogenheit ist sie auch zugrundegegangen. Die politische Verlogenheit und die ihr korrespondierende rechtliche Perplexität des DDR-Systems verurteilen jeden Versuch einer systematischen Interpretation So zutreffend Brunner (Anm. 123), S. 201. Vgl. Das Strafrecht gerät an seine Grenzen. Warum die Verfolgung der Taten des SED-Staates unserer Gerichte überfordert, in: FAZ vom 31.3.1992, S. 36. 126

127

13*

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Otto Luchterhandt des vorgefundenen Normenmaterials zum Scheitern. Ein solcher Versuch steht nämlich unter der Prämisse, daß eine Rechtsordnung systematische und normative Geschlossenheit zumindest anstrebe. Wo, wie in der DDR, nicht einmal ein solches Ziel bestand, führt eine nachträgliche Unterstellung nur zu schlechten Fiktionen."

Das LG Berlin hat in seinem ersten Mauerschützen-Urteil (vorn 20.1.1992) 128 die Belehrung der Grenzsoldaten durch ihre Vorgesetzten über den Schußwaffengebrauch - im Prinzip ähnlich - als eine ,,Art perfider Doppelstrategie" bezeichnet: einerseits sei nämlich bei der (allgemeinen) "Unterrichtung" als Ziel Fluchtunfähigkeit durch Schießen auf die Füße genannt worden, andererseits sei die "Vergatterung" vor dem Grenzeinsatz nach der Faustregel erfolgt: "Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt." Was als ,Perplexität', als ,Widersprüchlichkeit der Rechtsordnung' oder als ,perfide Doppelstrategie' 'erscheint, ist das verwirrende Neben- und Ineinander von Normen- und Maßnahmenstaat. Gesteuert von dem alles durchdringenden Prinzip der politischen Zweckmäßigkeit arbeitete man nicht selten gewissermaßen in einem System mit "doppeltem Boden", eben teils auf der Ebene des Maßnafunenstaates, teils auf der Ebene des Normenstaates: zur Demonstration einer staatlichen, möglichst völkerrechtskonformen, jedenfalls zur propagandistischen Vermarktung tauglichen Normalität zitierte und berief man sich auf mehr oder weniger unverdächtige Vorschriften bzw. Deklarationen, betonte ihre Völkerrechtskonformität und immunisierte sich damit zugleich gegen Kritik 129; zur Durchsetzung der elementaren Sicherheitsbedürfnisse des Regimes griff man hingegen zu den Instrumenten des ,Ausnahmefalles' und zeigte die Fratze des Maßnahmenstaates in ihrer ganzen Brutalität. Nur scheinbar in Widerspruch steht hierzu, daß die Verantwortlichen des Regimes intensiv darum bemüht waren, die menschenverachtende Praxis des Grenzregimes vor der Öffentlichkeit des In- und Auslandes zu verschleiern, das Thema in der DDR selbst zu tabuisieren. Die Doppelstrategie aus Verharmlosung und Verschleierung bzw. terroristischer Abschreckung setzte sich in der zynischen Strafrechtspraxis fort, daß auch derjenige kriminalisiert, nämlich wegen "staatsText: JZ 1992, S. 691 ff. Als Beispiel hierfür seien Punkt 35 und 36 des Ergänzungsberichts der DDR an das UN-Menschenrechtskornitee vom 3.11. 1983 zitiert (Text: CCPR / C / 28 / Add. 2 v. 14.11. 1983, S. 8): "Based on the internationally accepted principles embodied in Article 7 of the Constitution, the Law of the State Frontier of the German Democratic Republik which was enacted on 25 March 1982 (... ) gives the consideration to the function of the State frontier with regard to the establishmeht of a stable peace order throughout Europe and to the actual state of intergovernmental agreements and arrangements concerning all matters ih respect of the State frontier. The Law reaffrrms the character of the German Democratic Republic's frontier in terms of international law and provides the legal prerequisites für the inviolability of the State frontier, for security and order in the frontier areas. Security of frontiers and their unqualified recognition proves whether the policy of aState serves peace and, hence, the interests of mankind (!). It is, therefore, necessary to adopt appropriate measures designed to suppress violations of the frontier and safeguard their inviolability (Article 11)." 128 129

Was bleibt vom Recht der DDR?

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feindlicher Hetze" (§ 106 StGB) oder - in leichteren Fällen - wegen "öffentlicher Herabwürdigung (§ 220 StGB) bestraft wurde, welcher der DDR vorhielt, sie verstoße gegen das Menschenrecht der Ausreisefreiheit des Art. 12 IPBPR. Dies geht z. B. aus einem von amnesty international dokumentierten Fall eines 1978 angeklagten DDR-Bürgers heror\3O: "Ich wurde für schuldig befunden, die staatliche Ordnung der DDR und deren Organe durch meine Postkarten und Volkskammer-Briefe mehrfach öffentlich herabgewürdigt zu haben. Die Argumentation im Falle der Postkarten lief etwa so: Dadurch, daß ich mich in meinen Postkarten auf die Gesetze der DDR und auf internationale Gesetze berufe, erwecke ich den Eindruck, als ob sich die staatlichen Organe nicht an diese Gesetze hielten, und darin bestehe die Herabwürdigung, die durch den Charakter der Postkarten sogar öffentlich erfolgt sei." Die Praxis der Immunisierung gegen Kritik durch die strafrechtliche Absicherung der SED-Propaganda und die öffentliche Tabuisierung des Geschehens war charakteristisch für das sowjetsozialistische Herrschaftssystem überhaupt und zugleich ein Grundzug der Existenzweise des sozialistischen Rechts. Man wird daher seiner Eigentümlichkeit und seiner Funktionsweise nicht gerecht, wenn man versuchen wollte, den Sinngehalt des "Normenstaates" allein oder auch nur vorwiegend durch normative Verknüpfung der Vorschriften festzustellen. Darin ist Pawlik durchaus Recht zu geben. Die Einheit von Normenstaat und Maßnahmenstaat im Ganzen des Herrschaftssystems wurde nicht durch einen kohärenten normativen Sinnzusammenhang, sondern primär und bisweilen auch allein durch die Funktionalität der jeweiligen Normen und Institutionen für den Zweck der Machterhaltung hergestellt. Bei der Interpretation der Rechtsnormen kommt es infolgedessen neben dem Wortsinn ganz entscheidend auf den systempolitischen Kontext der betreffenden Rechtsmaterie und die jeweiligen politischen Funktionen der Vorschrift an. Angesichts der schwachen Normativität besitzt daher gerade die Staatspraxis in solchen Fällen eine starke indizielle Bedeutung für die Feststellung des Normengehaltes. Hüten muß man sich dabei jedoch vor einem normativen Schönreden von Verhaltensweisen, die sich eindeutig als Rechtsbruch darstellen. Die Praxis des MfS ist insofern ein unerschöpfliches Arsenal von Beispielen, wie etwa der folgende Erlebnisbericht von Günther Fritzsch zu seinen Erfahrungen in einem Untersuchungsgefängnis 131: ,,Als ich auf die entwickelte Demokratie im sozialistischen Staat verweisen wollte, die jedem Bürger das Recht auf Verteidigung garantiert, schnitt mir Major Humrnitzsch das Wort ab: Hier drinnen herrscht keine Demokratie. Bei uns herrscht Diktatur, die Diktatur des Proletariats. Das ist unversöhnlicher Klassenkampf. Sie sind unser Klassengegner. Mit ihnen verhandeln wir nicht über Recht \30 Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. von arnnesty international, September 1983, S. 26. 131 FAZ vom 3.3.1992, S. 31.

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und Demokratie ... Fazit: Die Verweigerung elementarer Rechte durch den Stasi geschah in vollem Bewußtsein der Rechtsbrechung." VII. Schlußbemerkung

Ich fasse zusammen: Was bleibt vom Recht der DDR? 1. Quantitativ ein sich ständig verkleinernder Bestand von ,sozialistischen' Normen, der aufgrund der Rechtsangleichung zum ,Absterben' verurteilt ist ein höhnischer Fußtritt der Geschichte gegen die marxistischen Rechtsnihilisten Engels und Lenin!

Dieses Recht ist zwar seiner Herkunft nach DDR-Recht, aber indem es über den Einigungsvertrag in den Willen des Bundes- bzw. Landesgesetzgebers übernommen wurde, hat es einen qualitativen Bedeutungs- und Inhaltswandel erfahren. Denn erstens kann das fortgeltende Recht vom Gesetzgeber freier umgestaltet werden, und zweitens ist es im Geiste des Grundgesetzes und aus dem systematischen Zusammenhang der neuen gesamtdeutschen Rechtsordnung heraus zu interpretieren. Wegen der terminologischen Eigenheiten des fortgeltenden DDRRechts kann aber im Einzelfall ein Rückgriff auf frühere DDR-Interpretationen erforderlich sein. 2. Es bleibt noch auf unabsehbare Zeit, freilich auch hier mit abnehmender Tendenz, das DDR-Recht als Maßstab der Rechtsanwendung für sogenannte Altfalle, für rechtliche Vorgänge wirksam, die bis zum 2. 10. 1990 begründet wurden. 3. Diese fortwirkenden DDR-Rechtsnormen haben sich aber mit dem Untergang der DDR, ihres politischen Systems und ihrer Justiz zwangsläufig faktisch weitgehend in ein fiktives DDR-Recht verwandelt, da eine Rechtsanwendung aus dem sozialistischen Geist heraus teils abgelehnt, teils vermieden oder allenfalls noch in angenäherter Form möglich ist bzw. sein wird. Was bleibt also übrig vom Recht der DDR? Streng genommen fast nichts, und die Mauerschützenurteile des BGH sind nicht der schwächste Beleg dafür. Soll man das beweinen? Natürlich nicht.

Einheit der Rechtsordnung und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nach Wiederherstellung der deutschen Einheit Von Peter Selmer

I. Vorbemerkung Wie schon bei dem Beitrag von Herrn Dreier steht heute wiederum ein bundesstaatlicher Aspekt unseres Themas in Rede. Nicht also geht es um eine Frage der Einheit der Rechtsordnung im Sinne einer Wertungsparallelität der verschiedenen Teilrechtsordnungen des Privatrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts I. ZU sprechen ist vielmehr von der - bereichsübergreifenden - Rechtseinheit auf dem Gebiet der erweiterten Bundesrepublik als einem fundamentalen Bestandteil der inneren Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit im wiedervereinigten Deutschland hat freilich viele Facetten 2 • Nur eine, allerdings wichtige, will ich mit meinen nachfolgenden Bemerkungen in näheren Augenschein nehmen: Die Bezüge dieser Rechtseinheit zu der von der Bevölkerung der neuen Länder vor allem erhofften Angleichung ihrer Lebensverhältnisse an das öffentliche Leistungsniveau der Westländer. Die Rechtseinheit im Dienste der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse war ein beherrschendes Thema bereits der alten Bundesrepublik. Nicht nur wurde die Zuordnung der Gesetzgebungsbefugnisse an Bund und Länder von Verfassungs wegen zunehmend der Vereinheitlichungsambition des Bundes untergeordnet, wie insbesondere den Art. 73 ff. GG, den Art. 91 a und 91 b GG sowie den Art. 100a ff. GG zu entnehmen ist. Das BVerfG tat in diesem Sinne das Seine, indem es das als Hemmschwelle des Bundesgesetzgebers angelegte "Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung" bei Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten (Art. 72 11 GG) weitgehend der Justiziabilität entzog 3 1 Vgl. dazu für eine spezifische Konstellation im Verhältnis von öffentlichem Recht und Privatrecht - i. e. im Zusammenhang mit der Frage der Ausstrahlungswirkungen öffentlichrechtlicher Genehmigungen auf das Privatrecht - SeImer, Privates Umwelthaftungsrecht und öffentliches Gefahrenabwehrrecht, 1991, S. 7 -20 m. w. N. 2 Vgl. dazu für das öffentliche Recht etwa die im Rahmen eines Förderprogramms der Fritz Thyssen Stiftung angestellten und 1991 -93 in vier Bänden publizierten Referate und Diskussionen im Rahmen des Arbeitskreises Staats- und Verfassungsrecht über "Deutsche Wiedervereinigung - Die Rechtseinheit -", hrsg. von Stern; s. umfassend demnächst auch lsensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII: Die Einheit Deutschlands. 3 Vgl. BVerfGE 13, 230 (233 f.); 26, 338 (382 f.).

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mit der Folge, daß das sozialstaatliehe Kriterium "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus" (Art. 72 11 Nr. 3 GG) den Bundesgesetzgeber nicht etwa hemmte, sondern anregte 4 • Ich darf hier zunächst zurückstellen, warum gleichwohl aus alledem tatsächliche "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" schon in der alten Bundesrepublik nicht ohne weiteres dauerhaft entstanden ist. Nicht zu bezweifeln ist, daß in den neuen Ländern eine von allen bisherigen Erfahrungen abweichende ganz singuläre Situation vorliegt, die auch in bezug auf die Relationen von Rechtseinheit einerseits und öffentlichem Leistungs- und dadurch beeinflußtem Lebensstandard der Bevölkerung andererseits besonderer Würdigung bedarf. Bevor ich hierauf eingehe, zunächst ein kurzer Blick zurück auf den Gang der Rechtsannäherung, wie er sich nach der Wende in schneller Folge vollzog.

11. Rechtseinheit im Übergang 1. Vom "DDR-Recht im Umbruch" über "Deutsch-Deutsche Rechtsangleichung" zum Grundsatz der Einführung des Bundesrechts

Verkürzt kann man von einem 3-Phasen-Vollzug dieser Rechtsannäherung sprechen. Von ihnen lassen sich die erste und zweite Phase in Anlehnung an zwei Aufsatztiteljener Zeit als "DDR-Recht im Umbruch" bzw. "Deutsch-Deutsche Rechtsangleichung" bezeichnen 5 , während die dritte Phase ihrem Grundsatz nach auf die Einführung des Bundesrechts im Beitrittsgebiet ausgerichtet ist. Die erste kurze Phase, nach Öffnung der Mauer mehr Hoffnung der DDR als reales Ereignis, ging noch vor dem entscheidenden Schub durch den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18.5.1990 6 alsbald in die zweite Phase über. Immerhin: Schon in Erwartung dieser Union, andererseits aber wohl noch unter der Annahme staatlichen Fortbestandes der DDR, bestand - weniger bei der Staatsrechtslehre, mehr bei der Ostrechtslehre und Rechtsvergleichung? - sehr wohl eine gewisse Aufnahmebereitschaft auch für ostdeutsches Rechtsgut. So stellte Drobnig in seinem Eröffnungsreferat zur Tagung der Deutsch-Deutschen Juristischen Vereinigung in Berlin (Ost und West) vom 27. bis 28.4.1990 fest: "Die Rechtsangleichung darf keine Einbahnstraße in Fahrtrichtung West-Ost sein; sie darf also nicht allein die Erstreckung des westdeutschen Rechtes auf die DDR in Betracht ziehen. Die Rechtsangleichung muß 4 /sensee , Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), 248 (255 f.). 5 Vgl. Turner I Pflicke, DDR-Recht im Umbruch, NJW 1990, 1637 ff.; Engelhard, Stand und Perspektiven Deutsch-Deutscher Rechtsangleichung nach Inkrafttreten des Staatsvertrages, DtZ 1990, 129 ff. 6 BGB1. 11 S. 537. ? Vgl. die treffenden Feststellungen von Brunner, Was bleibt übrig vom DDR-Recht nach der Wiedervereinigung?, JuS 1991, 353 ff.

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vielmehr im Prinzip nach beiden Richtungen hin möglich sein" 8. Die rasante Entwicklung ist hierüber bekanntlich hinweggegangen. Schon die im Staatsvertrag ausgesprochene Verpflichtung der Vertragspartner zu weitreichender Rechtsangleichung im thematischen Einzugsbereich des Vertrages 9 traf wesentlich nur die DDR - dies um so mehr, als sie auch zu einer grundgesetzkonformen Anwendung ihrer Rechtsvorschriften, auch aus der Zeit vor dem politischen Umbruch, verpflichtet wurde lO • Die durch den Einigungsvertrag 11 eingeleitete dritte Phase bestimmte sodann wenig später sogar, daß die Rechtsangleichung in erster Linie in der Ausweitung der bundesdeutschen Rechtsordnung auf die neuen Bundesländer liegen sollte 12. Dabei ging der Einigungsvertrag mit Recht davon aus, daß staatliche Einheit im Verfassungsstaat zwar in erster Linie die durchgehende Einheit der Verfassung bedingt, es hierbei aber nicht sein Bewenden haben durfte. Staats- und Verfassungseinheit geboten vielmehr darüber hinaus, der Wirtschaftseinheit des ersten Staatsvertrages die grundsätzlich vollständige Rechtseinheit auch unterhalb der Verfassungsebene folgen zu lassen 13. Nicht nur ist das Grundgesetz auf unmittelbare und umfassende normative Gestaltung angelegt und der Realisierung in der unterverfassungsrechtlichen Ordnung bedürftig. Das "einfache Recht" in seiner Ausgestaltung und Anwendung ist auch seinerseits maßgeblich durch die Verfassung geprägt. Einheit der Verfassung zwingt daher auch zur Einheit im sonstigen Recht, die in der gegebenen Situation nur durch Überleitung des Bundesrechts hergestellt werden konnte 14. Auf der Grundlage dieser Einsichten wurde der konstitutionellen Einheit, mit Ausnahme der Übergangsregelung für den bundesstaatlichen Finanzausgleich (Art. 7 EV) 15 und der beitritts bedingten Übergangsbestimmungen insbesondere des Art. 143 GG n. F.16, durch Art. 3 f. EV umfassende Geltung verschafft. Art. 8 EV verfügte sodann die gebotene Überleitung des einfachen Bundesrechts, und zwar des gesamten Bundesrechts, soweit nicht die Anlage I zum Einigungsvertrag ausdrücklich Ausnahmen vorsah, etwa im Sinne einer zeitlich abgestuften, Drobnig, Überlegungen zur innerdeutschen Rechtsangleichung, DtZ 1990, 116 f. Vgl. hierfür den Überblick bei Stern / Schmidt-Bleibtreu, Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, 1990, S. 44 ff.; s. a. Schmidt-Bleibtreu, Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, DtZ 1990, S. 138 ff. 10 Art. 4 I S. 1 Halbs. 2 i. V. mit Art. 2 I Staatsvertrag. 11 Vom 31. 8. 1990 (BGBl. 11 S. 889). 12 Vgl. dazu Stern / Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag, 1990, S. 30, 50 f., 133 ff. 13 Hierzu und zum Folgenden s. instruktiv Degenhart, Deutsche Einheit und Rechtsangleichung - Öffentliches Recht -, JuS 1993,627 f. m. w. N. 14 Vgl. dazu auch P. Kirchhof, Der Auftrag zur Rechtseinheit im vereinten Deutsch8 9

land, in: ders. / E. Klein / H. Raeschke-Kessler (Hrsg.), Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme, 1991, S. 3 (12 ff.). 15 Vgl. zur Übergangsfinanzverfassung des Art. 7 EV krit. etwa Selmer und Wendt, in: Stern (0. Fn. 2), Bd. I, 1991, S. 189 ff. bzw. S. 213 ff., jew. m. w. N. 16 Dazu näher Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991.

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für einen Übergangszeitraum modifizierten Inkraftsetzung. Bundes- und europarechtskonformes DDR-Recht gilt nach näherer Maßgabe des Art. 9 I und 11 EV nur bis zu seiner Ablösung als Landesrecht, hinsichtlich bestimmter in Anlage 11 genannter Materien - im wesentlichen übergangsweise - kompetenzgerecht auch als Bundesrecht fort. Einzelheiten und Vertiefungen können vorliegend auf sich beruhen l7 ; auch hat uns Herr Luchterhandt in Erneuerung einer 1991 von Brunner 18 erstmals aufgeworfenen Frage vor einer Woche anband einer besonderen Problematik näher darüber berichtet, was vom Recht der DDR bleibt. Hier genügt das etwas kursorische Zwischenresümee: Die Rechtseinheit in der erweiterten Bundesrepublik ist - und das gilt gerade auch für das Staats- und Verwaltungsrecht - , in wesentlichem Umfange erreicht; soweit dies noch nicht der Fall ist, wird sie zunehmend durch die Gesetzgebung der neuen Länder zum Abschluß gebracht 19. Als Aufgabe weiterhin gestellt bleibt die Rechtseinheit vor allem hinsichtlich der Umsetzung des Rechts in der Staats- und Verwaltungspraxis. 2. Die Spannungslage von rechtlicher Gleichheit und sozialer Ungleichheit . Können wir also cum grano salis davon ausgehen, daß die Vereinheitlichung der Rechtsordnung wesentlich gelungen ist 20 , so ist doch offensichtlich, daß Bewußtseinslage und reale Befindlichkeit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern dem weithin nicht angemessen entsprechen 21. Hierfür scheinen - auch abgesehen von den Massenphänomenen der Arbeitslosigkeit und De-Industrialisierung - verschiedene Umstände ursächlich zu sein, von denen allerdings einige des weiteren zurückzustellen sind, weil ihnen mit juristischen Mitteln schwerlich beizukommen ist: 17 Vgl. zur Rechtsangleichung nach Art. 8, 9 EV, jew. m. w. N., Stern / SchmidtBleibtreu (0. Fn. 12), S. 133 ff.; Wasmuth, Das Regelungswerk des Einigungsvertrages, DtZ 1990, 294 ff.; Brunner, JuS 1991, 353 f.; Degenhart, JuS 1993, 627 (628). 18 Vgl. Fn. 7. 19 Degenhart, JuS 1993, 627 (633). 20 Vgl. auch den in diese Richtung gehenden Befund bei Leutheusser-Schnarrenberger, Zur Struktur der Rechtsangleichung im vereinten Deutschland, NJW 1993,2465. 21 Vgl. dazu (insb. zu ersterem Aspekt) aufschlußreich etwa Maaz, Der Gefühlsstau - Ein Psychogramm der DDR, 1990; de Bruyn, Jubelschreie, Trauergesänge - Deutsche Befindlichkeiten - , 1991, S. 27 ff.; U. Becker / H. Becker / W. Ruhland, Zwischen Angst und Aufbruch - Das Lebensgefühl der Deutschen in Ost und West nach der Wiedervereinigung - , 1992; P. Franke, Die deutsche Vereinigung - ersehnt, erhofft, belastet-, FAZ v. 9.1.1992, S.6; Fack, Geblieben ist ein sperriger Alltag - Deutschland und die Deutschen im Jahre 1993, FAZ v. 2.10.1993 (Bilder und Zeiten); Ensikat, Ab jetzt geb' ich nichts mehr zu - Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen - , 1993; Thierse, Sprich, damit ich dich sehe - Über die Sensibilität beim Sprechen unter den politischen Bedingungen der DDR, 1993; krit. zur Rolle der Medien im vorliegenden Zusammenhang Walser, Die Einheit mißlingt nicht - Wider die Verdrossenheit der Medien: Ein Stimmungsbericht zum Stand der deutschen Dinge - , FAZ v. 11. 2.1994, S. 35.

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Das gilt etwa einmal für die offenbare und in Ostdeutschland (sei es bewußt oder unbewußt) weithin 22 als Manko empfundene Unfähigkeit freiheitlich-demokratischer Rechtsordnungen, die metaphysische Bedürftigkeit der Menschen angemessen zu stillen 23. Sie hat Joachim Fest im Untertitel seines jüngst erschienenen Essays über "Die schwierige Freiheit" mit gutem Grund als eine "offene Flanke der offenen Gesellschaft" bezeichnet, freilich alsbald mit Recht hinzugefügt, daß es nicht nur die Schwäche, sondern auch die Größe solcher Rechtsordnungen ausmache, eine schlüssige Entgegnung auf jenes Bedürfnis nicht zu haben, ja sie sich sogar prinzipiell selbst zu verbieten: "Denn ihr erster und oberster Grundsatz ist es gerade, keinen Glaubenssatz und keine vorgeblichen Richtigkeiten zuzulassen, sondern um des höchsten Guts überhaupt, des inneren Friedens und der Freiheit des Denkens willen, aus der großen Sache der Wahrheit, in einem Akt ernüchternder Formalisierung, eine Sache der bloßen Mehrheit zu machen 24". In diesem Zusammenhang ist dann überdies, wie hinzuzufügen ist, auch der beredten Klage zu widersprechen: "Wir haben Gerechtigkeit erwartet, bekommen haben wir den Rechtsstaat" 25. Auch ihr gegenüber ist mit einigem Nachdruck darauf zu beharren, daß der im gesetzlich geregelten Verfahren geführte offene Diskurs, die Suche nach einem institutionell gesicherten Ausgleich der unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, geradezu ein Wesensmerkmal des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates ist 26. Ein weiterer hier alsdann zu vernachlässigender Grund für die Unabgestimmtheit von Rechtseinheit und tatsächlichem Lebensgefühl liegt in der merkwürdig ambivalenten Haltung großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber der Autorität des Staates. Einerseits aufgrund der Erfahrungen geprägt durch tiefe Skepsis 27 und mangelndes "Systemvertrauen" selbst in die neue Ordnung, weist sie andererseits nicht selten Anzeichen einer "nachwirkenden Versorgungsideologie des realsozialistischen Staates" auf 28 • Sie betrachtet den Staat nach wie vor Spürbar etwa in den meisten der in Fn. 21 genannten Beiträge; s. a. Fn. 22 und 23. Man darf vermuten, daß die u. a. von H. Mayer, Der Turm von Babel- Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik -, 1991, S. 250, (mit einiger Larmoyanz) registrierte "gar nicht besonders geheime ,Sehnsucht nach der DDR'" (nüchterner der freilich ähnliche Befund von Fack, Fn. 21), sollte sie in verallgemeinerungsfähiger Weise zutreffen, auch hier eine Ursache fmdet. 24 Vgl. Fest, Die schwierige Freiheit - Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft -, 1993, S. 73. 25 Diese (auf eine Äußerung von Bärbel Bohley im Juni 1991 zurückgehende) Sentenz hatte zunächst vor allem die Fähigkeit der Strafjustiz zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts im Auge (vgl. dazu zuletzt Limbaeh, Gerechtigkeit im Rechtsstaat, ZG 1993, S. 289 ff., 290), ist dann aber zunehmend in einem allgemeineren Sinne verwendet worden. 26 Vgl. dazu auch Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit Defizite eines Begriffs -, 2. Auf!. (1993), S. 151-153. 27 Udke, Verfahren und Methoden der Auslegung und deutsch-deutsche Rechtsangleichung, DtZ 1991,52 ff. (53). 28 Vgl. hierzu näher Würtenberger, Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, JZ 1993,745 ff. (748 f.). 22 23

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als jene Institution, auf die sich das Versorgungsdenken vorwiegend bezieht, und reagiert auf jede diesbezügliche Enttäuschung mit politischem Liebesentzug. Insoweit verbindet sie sich mit einem im Westen freilich vorgelebten grundlegenden Wandel im Verständnis von der Rolle des Rechts, als dessen Funktion weithin nicht mehr die Gewährung gleicher Freiheit unter allgemeinen Gesetzen, sondern die Verschaffung der Gleichheit von Vermögen und Einkommen prägend ins Bewußtsein gerückt ist 29 • Läßt man indes dies alles, so vertiefenswert die aufgeführten Gesichtspunkte auch sein mögen, einmal beiseite, so bleibt doch der durchaus reale Befund, daß der weitgehenden Rechtseinheit ungeachtet der immensen Transferleistungen aus dem Westen nach wie vor noch nicht annähernd eine Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in den östlichen und den westlichen Bundesländern entspricht, wie vor allem auf den Gebieten der kommunalen Infrastruktur, der Erwerbsmöglichkeiten und Wohnverhältnisse sowie des Verkehrs-, Bildungs- und Gesundheitswesens unübersehbar ist und hier der näheren Darlegung nicht bedarf. Die formale Erstreckung des Grundgesetzes und der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung auf die neuen Bundesländer verbürgt eben, wie zunehmend deutlich geworden ist, für sich allein weder Identität noch Effektivität des gewonnenen Rechtszustandes 30. Diese Spannungslage von Rechtseinheit, also rechtlicher Gleichheit, und sozialer Ungleichheit war allerdings schon der bundesstaatlichen Ordnung der alten Bundesrepublik nicht fremd. Zwar geht die noch geltende Kompetenzregelung des Art. 72 11 Nr. 3 GG an sich von einer Konkordanz beider Größen aus. Denn sie knüpft das bundeskompetenzbegründende Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung daran, daß "die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert", und begreift damit offenbar die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" als einen Unterfall der ,,Rechts- und Wirtschaftseinheipi". Die bundesstaatliche Wirklichkeit hat indes diesem formalen Gleichklang von rechtlicher und sozialer Einheit zunehmend widersprochen - eine Einsicht, der nach der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages 32 nunmehr auch die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag 29 Hierzu aus jüngerer Zeit überzeugend insb. Mestmäcker, Der Kampf um die Rolle des Rechts, FAZ v. 18.12.1993, S. 13. 30 Würtenberger, lZ 1993, 745 (748); Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Grundrechtserwartungen, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 115 Rdnrn. 20 ff. 31 Ebenso v. Münch, in ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. (1983), Art. 72 Rdnr. 24; s. a. Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog, Grundgesetz, Art. 72 Rdnr. 23; Stern, Staatsrecht 11, 1980, S. 597 f.; Prokisch, Die lustiziabilität der Finanzverfassung, 1993, S. 89; undeutlich Hohmann, Der Verfassungsgrundsatz der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, DÖV 1991, 191 ff. (194); a. A. Gruson, Die Bedürfniskompetenz - Inhalt und lustiziabilität des Art. 72 11 GG - , 1967, S. 49. 32 Vgl. BT-Drucks. 7/5924, S. 123.

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und Bundesrat Rechnung getragen hat, indem sie in dem von ihr beschlossenen Neuregelungsvorschlag auf "die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse" abstellt 33. Daß sich ungeachtet der durch den Bundesgesetzgeber seit jeher forcierten Einheitlichkeit der Rechtsverhältnisse die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse schon in den alten Bundesländern wachsenden Gefährdungen ausgesetzt sah, hatte seine eigenen Ursachen. Sie lagen über die ohnehin unterschiedliche Wirtschafts-, Verkehrs- und Siedlungs struktur der Länder hinaus vor allem darin begründet, daß die Disparitäten in der Leistungsfahigkeit der Länder infolge der Strukturkrisen einiger regional-spezifischer Branchen (Kohle, Stahl, Werften) in den 80er Jahren immer ausgeprägter wurden, ohne daß dem eine entsprechende Ausgabenentlastung gegenüberstand 34. Denn das gemäß Art. 104 aI GG geltende Konnexitätsprinzip, demzufolge grundsätzlich die Finanzierungslast einer Aufgabe der (weithin bei den Ländern liegenden) Verwaltungskompetenz folgt, nahm und nimmt auch die ärmeren Länder (spürbar vor allem bei den Sozialhilfelasten) unterschiedslos für die durch den rechtseinheitsbewußten Bundesgesetzgeber veranlaßten Ausgaben in Anspruch 35. Die aus der Einnahme- und Leistungsschwäche mancher Länder schließlich resultierende Überanstrengung der im Finanzausgleich verkörperten bündischen Solidarität führte zu einer deutlichen Verschärfung des politischen Klimas zwischen Bund und Ländern sowie insbesondere unter den Ländern - gipfelnd in zwei umfangreichen Verfahren vor dem B VerfG 36. Es liegt auf der Hand, daß der Beitritt der fünf neuen Bundesländer und Ost-Berlins mit ihrer tiefgreifenden Wirtschafts- und Finanzschwäche das Problem strukturell bedingter Ungleichgewichte innerhalb der Bundesrepublik und damit das der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" innerhalb derselben nun noch einmal entscheidend ausgeweitet haP7. Hieran darf ich im folgenden anknüpfen.

33 Beschlüsse der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Themenkomplex "Gesetzgebungskompetenzen" vom 15.10.1992, hinsichtlich Art. 72 GG abgedruckt etwa bei Sannwald, Die Reform der Finanzverfassung, ZRP 1993, 103 ff. (105); Hendler, Finanzverfassungsreform und Steuergesetzgebungshoheit der Länder, DÖV 1993,292 ff. (295 f.); s. zuletzt dazu lahn, DVBl1994, 177 ff. (180 f.); Sannwald, ZG 1994, 134 ff. (138 ff.). 34 Vgl. dazu näher Peffekoven, Zur Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, FinArch. n. F. 45 (1987), 181 ff. (insb. 222 f.); vgl. auch Fn. 35. 35 Hierzu und zum Folgenden näher SeImer, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, VVDStRL 52 (1993), S. 10 ff. (15 ff., 29). 36 BVerfGE 72, 330; 86, 148. 37 Selmer (0. Fn. 35), S. 17.

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III. Die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" als Verfassungsgut Davon auszugehen ist, daß sich ein übergreifendes verfassungsrechtliches Vereinheitlichungsgebot im engeren Sinne einer Herstellung ganz einheitlicher Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet dem Grundgesetz nicht entnehmen läßt 38 • Weder aus Art. 72 11 Nr. 3 GG noch aus Art. 106 III S. 4 Nr. 2 GG, die beide allein den Vereinheitlichungsgedanken ausdrücklich aufnehmen, läßt sich ein so weitgehender Grundsatz herleiten. Erstere Bestimmung formuliert, wie sich zeigte, allein für die konkurrierende Gesetzgebung eine zudem als Kompetenzhürde für den Bund angelegte - wenn auch nicht als solche praktizierteVoraussetzung. Art. 106 III S.4 Nr. 2 GG aber bezieht sich, wie immer man seine nur schwer zu deutende Wirkung ansonsten eingrenzt, auf eine vertikale Komponente des Finanzausgleichs. Der Geltungsgrund eines allgemeinen Einheitlichkeitsgebotes sieht sich damit auf die einigermaßen schmale Basis verwiesen, die ihm durch das Bundesstaatsprinzip selbst, das Sozialstaatsprinzip sowie durch die in Art. 20 I GG verwendete Wortkombination vom "sozialen Bundesstaat" immerhin vermittelt wird 39 • Nur in dem so eingegrenzten Umfange ist der Gesichtspunkt der "Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" als übergreifende Zielvorstellung unmittelbar verfassungsschwer. Im übrigen bildet er eine mögliche, keineswegs aber die von Verfassungs wegen einzig in Betracht kommende regionalpolitische Staatszielbestimmung. Als solche ist er Abschwächungen und Umformungen durch den einfachen Gesetzgeber grundsätzlich zugänglich. Dieser ist also im Rahmen der Grenzen, die ihm durch den "sozialen Bundesstaat" gezogen sind, verfassungsrechtlich nicht gehindert, das Schwergewicht je nach Lage der politischen Dinge mehr auf Unitarisierung und soziale Egalisierung im Bundesgebiet oder mehr auf regionale Differenzierung, d. h. föderale Vielfalt zu verlagern, die im Bundesstaatsprinzip ja gleichermaßen ang~legt ist 4O • 38 Die Literatur zum Thema ,,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" ist für die Zeit bis 1992 nachgewiesen bei Selmer (0. Fn. 35), S. 22 Fn. 51-55; vgl. seither noch Arndt, Forum: Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1993, 360 ff.; Prokisch (0. Fn. 31), S. 88 ff.; Schuppert, Maßstäbe für einen künftigen Länderfmanzausgleich, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, 26 ff. (33 ff.); Wendt, Neuorientierung der Aufgabenund Lastenverteilung im "sozialen Bundesstaat", ebd., S. 56 ff. (59 ff.); Birk, Stärkung der Eigenstaatlichkeit der Länder und Finanzierung der deutschen Einheit, ebd., S. 85 ff. (86); Wieland, Maßstäbe für einen künftigen Finanzausgleich, ebd., S. 110 ff. (112); Rennert, Der deutsche Föderalismus in der gegenwärtigen Debatte um eine Verfassungsreform, Der Staat 1993,269 ff. (274 f.); aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Peffekoyen, Finanzausgleich im Spannungsfeld zwischen allokativen und distributiven Zielsetzungen, in: Beihefte der Konjunkturpolitik Heft 41 (1993), S. 11 ff. (19 ff.); K. Schiller, Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft, 1994, S. 43 ff. Vgl. auch Fn. 49. 39 Selmer (0. Fn. 35), S. 25 ff.; zust. Wendt (0. Fn. 38), S. 60. 40 Vgl. dazu näher Selmer (0. Fn. 35), S. 27,52; im Anschluß daran ebenso Wendt (0. Fn. 38), S. 60.

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Was nun bedeutet das für die verfassungsrechtliche Position der neuen Bundesländer? Dürfen sich diese von Verfassungs wegen darauf berufen, daß der Bund bei der Bewältigung der dem Bundesstaatsprinzip innewohnenden Spannungslage von Einheit und Vielfalt seit langem, jedenfalls aber seit der Verfassungsreform von 1969, konsequent nicht nur die weitgehende Einheitlichkeit der Rechtsordnung als solche, sondern mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (Stichworte: Finanzausgleich, Bundesfondswirtschaft, Investitionshilfekompetenz, Gemeinschaftsaufgaben) auch die ,,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" gefördert hat? Oder aber könnten bzw. können die neuen Länder nunmehr, abgesehen von der Sicherung des notwendigen Mindeststandards der Einrichtungen der Daseinsvorsorge, ohne weiteres auf die mangelnde Verfassungskraft eines übergreifenden Einheitlichkeitsgebotes und die Stärkungsbedürftigkeit der Vielfaltskomponente des Bundesstaatsprinzips verwiesen werden? Nach dem Stande der Dinge wird man von diesen Fragen die letztere zu verneinen, die vorangehende dagegen grundsätzlich zu bejahen haben. Der Bund ist auch im Verhältnis zu den neuen Ländern an das aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz folgende föderative Gleichbehandlungsgebot gebunden 41 . Bleibt er also im großen und ganzen bei seiner bisherigen politischen Linie einer weitgehenden Egalisierung der staatlich beeinflußbaren Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, so darf er hiervon die neuen Bundesländer nicht ausnehmen - unbeschadet der vom BVerfG42 schon im Zusammenhang mit dem Beitritt des Saarlandes zugelassenen Möglichkeit, die Annäherung an den verfassungsgewollten Zustand über eine Reihe von Jahren zu strecken 43. Anderes wäre nur bei einem generellen Kurswechsel des Bundesgesetzgebers in eine ausgeprägt länder-autonomiebetonte Richtung in Erwägung zu ziehen. Hiervon kann indes weder für die Zeit vor noch für die Zeit nach dem Beitritt der neuen Bundesländer die Rede sein 44 , wie zuletzt in einer ganzen Reihe von Einzelgesetzen des Gesetzespakets zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms 4S vom 23.6.1993 46 deutlich geworden ist 47 . Daß die Gemeinsa41 BVerfGE 72,330 (404); s. a. BVerfGE 1, 14 (52 f.); 21, 362 (372); 26, 228 (244); 35, 263 (271); zur Entwicklung vgl. näher Isensee. Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders. / Kirchhof. HStR IV, 1990, § 98 Rdnm. 132 ff. 42 Vgl. BVerfGE 4,157 (169); s. ferner in vorliegendem Zusammenhang auch BVerfGE 12, 281 (290 ff.); 14, 1 (7 f.); 15, 337 (348 ff.); 18, 353 (365); 27, 253 (281 f.). 43 In diesem Sinne auch Isensee. Deutschlands aktuelle Verfassungslage - Staatseinheit und Verfassungkontinuität -, VVDStRL 49 (1990), S. 39 (59 f. m. w. N.). 44 Zum Stand der Entwicklung vgl. ausführlich Schultze. Statt Subsidiarität und Ent-

scheidungsautonomie - Politikverflechtung und kein Ende: Der deutsche Föderalismus nach der Vereinigung -, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, 225 ff.; s. a. Selmer (0. Fn. 35), S. 28. 4S Genau: Gesetz über Maßnahmen zur Bewältigung der fmanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, zur langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Entlastung der öffentlichen Haushalte. 46 BGBI. I S. 944.

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me Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, wie Ihnen vielleicht nicht entgangen ist, in Art. 72 11 GG den Begriff "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" durch den der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse"48 ersetzt wissen Will 49 , bildet freilich ein gewisses Indiz dafür, daß sich künftig die Dinge mehr in Richtung einer etwas größeren Toleranzbreite gegenüber föderaler Vielfalt und Verschiedenheit der Lebensbedingungen entwickeln könnten 50. IV. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse durch Uneinheitlichkeit der Rechtsordnung? 1. Die Adressaten der verfassungskräftigen Angleichungspflicht

Mag sich indes auch eine mehr periphere Abschwächung des Grundsatzes andeuten: Bis auf weiteres wird es nach wie vor nicht nur ein Gebot politischer Zweckmäßigkeit, sondern auch eine bedeutsame Verfassungspflicht des inneren Einigungsprozesses sein, der Einheitlichkeit der Rechtsordnung eine angemessene Angleichung des öffentlichen Leistungsniveaus folgen zu lassen. Einige Aspekte dieser Verfassungspflicht möchte ich Ihnen vor Augen führen, wende mich aber vorab der Vorfrage zu, wer denn als Adressat der verfassungskräftigen Angleichungsverpflichtung in Betracht zu ziehen ist. Die auf diese Frage zunehmend gegebene Antwort, ,,kraft seiner Finanzautonomie" - was immer hiermit gemeint sein mag - habe grundsätzlich der Bund die geforderte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu bewirken 51 , scheint naheliegend, ist gleichwohl aber mit dieser Formulierung ebenso unrichtig, wie die von mir gestellte Frage unpräzise ist. Denn man wird bei der Klärung der Angleichungsverantwortung sehr sorgfältig zwischen finanzieller und normativer Verantwortlichkeit unterscheiden müssen. Der Tendenz, dem Bund - d. h. gerade dem Bund und nicht auch den wirtschaftlich überlegenen anderen Ländern die grundsätzliche Aufgabe zuzuweisen, mit eigenen Mitteln und nicht nur als 47 Vgl. insb. die in Art. 32 - 40 FKPG normierten Bundesgesetze. Näher zum Föderalen Konsolidierungsprogramm s. etwa Schultze (0. Fn. 44), S. 248 ff.; Eckertz, Die Aufhebung der Teilung im gesamtdeutschen Finanzausgleich, ZRP 1993,297 ff. (298 f.); für einen Überblick vgl. den Bericht in JuS 1993, 1070 m. w. N. 48 Ähnlich bisher schon das Raumordnungsgesetz, zuletzt i. d. F. der Bekanntmachung v. 25.7.1991 (BGBl. I S. 1726, ber. S. 1883), in § 1 I Nr. 4, § 2 I NI. 4 ("gleichwertige Lebensbedingungen"). 49 Vgl. oben bei und in Fn. 33. 50 Eine noch weitergehende Prognose aus dem Druck der tatsächlichen ökonomischen Gegebenheiten ableitend Schultze (0. Fn. 44), S. 237: Angesichts dieses Drucks werde "der Grundsatz von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, mindestens in der Form, wie er sich in der alten Bundesrepublik herausgebildet hat, nicht aufrechtzuhalten sein". 51 Schuppert (0. Fn. 38), S. 38; Wie land (0. Fn. 38), S. 112 f.; Arndt, JuS 1993,360 (362,364); Heun, Strukturprobleme des Finanzausgleichs, Der Staat 1992, 205 ff. (231); vgl. auch die w. N. bei Selmer (0. Fn. 35), S. 30 Fn. 91.

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einheitstiftender Gesetzgeber die finanziellen Standards zu sichern, deren die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bedarf, ist zu widersprechen. Es existiert im Grundgesetz keine allgemeine Aufgaben- und Lastenverteilungsregel, die dazu zwänge, einheitlichkeitserhebliche Sonderbedarfe einzelner Länder nach Maßgabe der verfasssungsrechtlichen Möglichkeiten gerade auf die Schultern des Bundes zu laden oder unausgeglichen zu lassen 52. Das gilt auch, wenn man für den gegebenen Zusammenhang in Rechnung stellt, daß der Bund unter dem Gesichtspunkt der Natur der Sache eine (ungeschriebene) übergreifende Aufgabengesamtverantwortung für den Vereinigungsprozeß besitzt. Denn auch an dieser staatlichen Aufgabe der Systemliquidierung und Systemumstellung in den neuen Bundesländern haben sich die alten Bundesländer in bündischer Solidarität, d. h. aber: von Bundesstaats wegen, angemessen zu beteiligen 53. In diesem Sinne kann man geradezu von einer neuen "Gemeinschaftsaufgabe ostdeutsche Länder" sprechen 54, zu der die Westländer nach Auslaufen des Fonds "Deutsche Einheit" kraft ihrer zumeist größeren Finanzkraft vor allem über den ab 1.1.1995 gesamtdeutschen horizontalen Finanzausgleich beitragen 55. Darin kommt bereits zum Ausdruck, daß die Ausgestaltung der Bund und Altländern obliegenden Harmonisierung der lastenordnenden Hand des Gesetzgebers bedarf. Nicht schon begründet der Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse aus sich heraus eigene Regelungsbefugnisse, sei es für den Bund oder für bestimmte Länder. Ein solcher unmittelbarer Schluß von der Aufgabe auf die Regelungskompetenz ist der rechtsstaatlichen Verfassung des Grundgesetzes fremd 56; das ergibt sich für den Bund grundsätzlich auch daraus, daß die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" nach Art. 72 11 Nr. 3 GG keine Kompetenz begründet, sondern die durch die Sachmaterie begründete Zuständigkeit tatbestandlieh verengt 57. Indes verfügt kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Zuweisung - durch Art. 91 a, 104a, 105 f. sowie Art. 107 GG - ausschließlich der Bund über die wesentlichen Regelungskompetenzen im Bereich des Finanzrechts und des Finanzausgleichsrechts, im Bereich der Gesetzgebungsmaterien also, die für die Aufteilung der Vereinheitlichungslasten auf Bund und Länder entscheidend sind. Insoweit, allerdings nur insoweit, läßt sich dann in der Tat von einem absoluten Vorrang des Bundes bei der finanzstaatlichen Bewältigung des inneren Einigungsprozesses sprechen. Hierzu und zum Folgenden näher Selmer (0. Fn. 35), S. 29 ff. Selmer (0. Fn. 35), S. 34. 54 Vgl. so Häberle, Aktuelle Probleme des Deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 1991, 169 ff. (177). 55 Vgl. §§ 4 ff. des Finanzausgleichsgesetzes i. d. F. von Art. 33 des Gesetzes zur 52 53

Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (s. o. bei und in Fn. 45). 56 BVerfGE 86, 148 (265); s. a. /sensee (0. Fn. 41), § 98 Rdnr. 125; Arndt, JuS 1993, 360 (362). 57 Vgl. etwa P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 124 Rdnr. 179. 14 Vielfalt des Rechts

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Peter Selmer 2. Schwerpunkte und Verfassungsfragen der Angleichung durch den Bundesgesetzgeber

a) Die vom Bund in diesem Rahmen - vorwiegend auf eigene Kosten entfalteten legislatorischen Angleichungsaktivitäten lassen sich zusammenfassend unter die These ,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse durch Uneinheitlichkeit der Rechtsordnung' stellen. Sachlich umfassen sie alle für die Vereinheitlichungsambition bedeutsamen Regelungszuständigkeiten des Bundes. Sie an dieser Stelle im einzelnen zu benennen, erscheint weder möglich noch von der Sache her geboten; auch darf ich die finanzrechtlichen Feinheiten der Harmonisierungsgesetze außer Betracht lassen. Für eine verfassungsrechtliche Betrachtung interessiert vor allem die Unterscheidung, daß manche Regelungen als länderneutral die neuen Bundesländer nicht dieser Eigenart, sondern zusammen mit schwachen Ländern des Westens ihrer Hilfsbedürftigkeit wegen begünstigen, weitere Regelungen dagegen die Privilegierung, sei es der neuen Länder selbst oder in ihnen wirtschaftender Bürger, ausdrücklich an die Ostländervoraussetzung binden. Die Frage der Verfassungskonformität des ersteren Typus, zu dem ab 1. 1. 1995 insbesondere die Bestimmungen des Länderfinan~ausgleichs sowie viele der auf Art. 91 a oder Art. 104 a IV GG gestützten Finanzhilfen gehören 58, kann als mehr allgemeines Problem hier vernachlässigt werden. Ihre Beantwortung hängt jeweils wesentlich allein davon ab, ob bei der gesetzlichen Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen länderstaatlicher Eigenverantwortung einerseits und dem Ziel der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse andererseits der durch das Bundesstaatsprinzip weit gezogene äußerste Rahmen nicht überschritten ist 59 • Wie aber steht es mit jenen bundesgesetzlichen Regelungen, die als ostländerspezifisch schon tatbestandlich gerade und ausschließlich auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern zielen ? Dabei denke ich über die mannigfachen Förder-,,Präferenzvorsprünge" auf der Grundlage des Art. 28 11 EV hinaus vor allem an die Finanzhilfen, die der Bundesgesetzgeber den neuen Ländern ab 1995 auf der Grundlage der bundesstaatlichen Finanzverfassung besonders zukommen läßt - zum einen als Investitionshilfen nach Maßgabe des auf Art. 104a IV GG gestützten Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost 60 , zum anderen unter Berufung auf Art. 107 11 S. 3 GG als sog. "Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen" (§ 11 IV FAG n. F.) "zum Abbau teilungsbedingter Sonderbelastungen sowie zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft" 61. Gemessen an den für sie bemühten finanz58 Vgl. zum Länderfmanzausgleich Fn. 55. Zu den Finanzhilfen s. den 14. Subventionsbericht der Bundesregierung v. 26.8.1993, BT-Drucks. 12/5580, S. 20 f. 59 Vgl. näher dazu Selmer (0. Fn. 35), S. 51 f. 60 Erlassen als Art. 35 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (s. o. bei und in Fn. 45).

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verfassungsrechtlichen Absicherungen sind diese Gewährungen denkbar problematisch und allenfalls für eine Übergangszeit hinzunehmen: Da die Investitionshilfen auf Ländergebiete und nicht übergreifend auf strukturschwache Regionen abstellen, kann für diesen kaschierten vertikalen "Nebenfinanzausgleich" die Investitionshilfekompetenz des Art. 104 a IV GG an sich nicht herangezogen werden 62 , wie denn auch die sog. "Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen" bei näherer Betrachtung nur der weiteren Behebung der allgemeinen Finanzschwäche der neuen Länder dienen und damit in finanzverfassungsrechtlich fragwürdiger Weise die präzise begrenzten Grundzuweisungen des Bundes an leistungsschwache Länder (§ 11 I FAG n. F.) ergänzen 63 • Um nicht mißverstanden zu werden: Alle diese Sonderleistungen an die neuen Länder sind als solche gewiß nicht zu beanstanden. Sie unterliegen in Anbetracht der in bezug auf sie besonders geforderten "bündischen Solidarität" weder unter dem Gesichtspunkt des Bundesstaatsprinzips im allgemeinen noch dem des föderativen Gleichbehandlungsgebots 64 im besonderen nachhaltiger Kritik 65 • Zu zeigen war aber, daß finanzverfassungsrechtlich das jetzige Instrumentarium des Grundgesetzes gelegentlich nur mit Mühe die immensen Besonderheiten der neuen Länder aufzufangen und damit angemessene Rahmenbedingungen für den finanzwirtschaftlichen Einigungsprozeß zu liefern vermag. Keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Einwänden sehen sich ferner die zahlreichen steuergesetzlichen Vergünstigungen ausgesetzt, die, wie die steuerliche Investitionsförderung durch das Fördergebietsgesetz 66 und das Investitionszulagengesetz 1993 67 , bestimmte Aktivitäten der Steuerbürger ausschließlich 61 Vgl. Fn. 55. Für einen Überblick über die ostländerspezifischen Finanzhilfen s. den 14. Subventionsbericht (0. Fn. 58), S. 21. 62 Vgl. dazu auch, entsprechende Zweifel (für das frühere Strukturhilfegesetz: s. dazu die N. bei Seimer, o. Fn. 35, S. 16 m. Fn. 24) allerdings zu Unrecht erst unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten berücksichtigend Prokisch (0. Fn. 31), S. 206. 63 In der ursprünglichen Entwurfsfassung der Bundesregierung (vgl. BT-Drucks. 12/ 4748, S. 9, i. V. mit BT-Drucks. 12/4401, S. 37, 108 f.) hatte es denn auch unter § 11 III S. 1 FAG n. F. sachlich treffend noch geheißen: "Der Bund gewährt aus seinen Mitteln den Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in den Jahren 1995 - 2004 zusätzlich Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarj's (Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen)". (Hervorhbg. v. Verf.). Offenbar im Hinblick auf die finanzverfassungsrecht liehe Fragwürdigkeit dieser Ambition wurde sie aus dem Gesetzestext gestrichen, und die jetzige Fassung (s. bei Fn. 61) schlicht damit begründet, daß nur auf diese Weise der im Solidarpakt-Kompromiß vereinbarte Gesamttransfer an die neuen Länder in Höhe von 55,8 Mrd. DM im Jahre 1995 erreicht werde (vgl. BT-Drucks. 12/4748, S. 103, 130, 157f., 179; BT-Drucks. 12/4801, S.178). 64 Das im übrigen, ungeachtet seiner spezifischen Ableitung (s. oben bei und in Fn. 41), ebenso wie der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GO als solcher, auch ein Gebot zur Ungleichbehandlung enthält (vgl. zu letzterem etwa Stern, Das Gebot zur Ungleichbehandlung, in: Festschrift für Dürig, 1990, 207 ff., 212 u. passim). 65 Vgl. bereits Selmer (0. Fn. 35), S. 55. 66 Vom 23.9.1993 (BGBI. I S. 1654).

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in den Ostländern favorisieren, um auf diese Weise zur strukturellen Gesundung und damit mittelbar zur Angleichung der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet beizutragen. Die hierin liegende Ungleichbehandlung wird auch gegenüber dem durch Art. 3 I GG verbrieften Grundsatz der Steuergerechtigkeit durch konkrete Gemeinwohlziele der "föderalen Konsolidierung" hinreichend gerechtfertigt 68. Auch kompetenzrechtliche Hindernisse bestehen nicht. Die Zuständigkeit für die Regelung der meisten in Rede stehenden Steuervergünstigungen ergibt sich zugunsten des Bundes aus Art. 105 11 GG, ohne daß es darauf ankommt, ob die besonderen Voraussetzungen des Art. 72 11 GG vorliegen 69. Anderes könnte gelten für die ostländerspezifische Freistellung von nicht (jedenfalls teilweise) dem Bund zustehenden Steuern sowie für eine auf Ostbürger beschränkte gesetzliche Gewährung offener Finanzhilfen 70. Hier fehlte es dem Bundesgesetzgeber jedenfalls dann an der (konkurrierenden) Kompetenz, wenn man mit der allerdings nicht sonderlich überzeugenden Auffassung des BVerfG71 das in Art. 72 11 GG genannte Bedürfnis nach "bundesgesetzlicher Regelung" mit dem Bedürfnis nach "bundeseinheitlicher Regelung" identifizierte 72 und auf diese Weise eine nicht bundeseinheitliche Förderung durch den Bundesgesetzgeber apriori auch für 67 Vom 23.9.1993 (BGBl. I S. 1650). Für einen Überblick über die weiteren ostländerspezifischen Steuervergünstigungen s. den 14. Subventionsbericht (0. Fn. 58), S. 22. 68 Soweit sie in einer Verschlechterung des Rechtszustandes zu Lasten von Steuerpflichtigen in den alten Bundesländern besteht, muß freilich dem Grundsatz des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes Rechnung getragen werden: Dieser Grundsatz ist nicht beachtet worden etwa bei der (erst durch den Vermittlungsausschuß eingefügten) seit dem 1. 1. 1994 wirksamen Streichung der degressiven Abschreibung für neue gewerblich vermietete Immobilien im Privatvermögen (vgl. Art. 1 Nr. 5 des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes vom 21.12.1993, BGBl. I S. 2310). Ob die generelle, ganz unspezifische Nichterhebung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern während der Jahre 1991-1995 (vgl. § 24 c VStG, § 37 GewStG i. V. m. § 136 Nr. 3 BewG) tiefergehender Prüfung an den Maßstäben der Steuergerechtigkeit standhielte, erscheint bereits dem Grunde nach fragwürdig. Schließlich sähe sich auch eine (immer wieder ins Gespräch gebrachte) auf Bürger der Westländer beschränkte Erhebung von ,Umverteilungsabgaben' (Ergänzungsabgaben, einmaligen Vermögensabgaben) zwecks angleichungsorientierter Verwendung im Osten kritischen Einwänden aus Art. 3 I GG ausgesetzt. Der Gedanke des ,,Lastenausgleichs" trägt im vorliegenden Zusammenhang nicht, vgl. bereits Se/mer (0. Fn. 35), S.38; zuletzt K. Schiller (0. Fn. 38), S. 73 f. - Im Hinblick auf obigen Aspekt (noch) hinnehmbar erscheint die ansonsten systemwidrige Halbierung der Verstromungsabgabe ("Kohlepfennig") für das Beitrittsgebiet, die der Wirtschaftsausschuß des BT (Drucks. 12/7448) jüngst vorgeschlagen hat. 69 Vgl. Maunz (0. Fn. 31), Art. 105 Rdnr. 40; s. aber auch Fn. 70. 70 Vgl. für den steuerlichen Bereich die insoweit in Fn. 68 genannten Beispiele, für den Bereich der Finanzhilfen vgl. etwa das Wohngeldsondergesetz i. d. F. der Bekanntmachung v. 16. 12. 1992, zuletzt geändert durch Art. 6 FKPG; s. dazu Schunk, Änderungen des Wohngeldrechts durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms, NJW 1993,3309 ff. 71 Vgl. BVerfGE 18, 407 (415); 26, 338 (383); zust. offenbar Stern, Staatsrecht 11,

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72 Dagegen bereits mit Recht v. Münch (0. Fn. 31), Art. 72 Rdnr. 16; Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee / Kirchhof (0. Fn. 41), § 100 Rdnr. 121.

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den Fall ausschlösse, daß gerade sie der Angleichung der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet dienen könnte. b) Die verfassungsrechtliche Position, die im vorliegenden Zusammenhang den Bürgern der neuen Länder gegenüber dem Bund zukommt, ist ersichtlich nur schwach entwickelt. Der Gesichtspunkt der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" gewährt aufgrund seiner Ansiedelung in der föderativen Verfassung des Grundgesetzes keine Individualrechtspositionen. Dem, wenn auch beschränkten oder doch beschränkbaren Verfassungsauftrag zur Angleichung der Lebensbedingungen im erweiterten Bundesgebiet steht mithin kein entsprechendes Recht der Ostbürger auf Sicherstellung dem Westen vergleichbarer Lebensbedingungen gegenüber. Die Grundrechte ändern an diesem Befund nichts 73. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) gewährt nur einen Anspruch auf gerechte Teilhabe an existierenden Fördermaßnahmen 74, und auch den Freiheitsrechten, etwa denen der Art. 12 I und 14 GG, geht die Kraft ab, den Bürgern in den neuen Ländern ein subjektives Recht auf Schaffung einheitlichkeitsverbürgender Vorkehrungen zu verschaffen. Allerdings ist anzumerken: Die volle Rechtseinheit als Forderung der inneren Wiedervereinigung ist nicht erreichbar ohne substantielle Grundrechtseinheit 75 , die ihrerseits eine Angleichung auch der Grundrechtsvoraussetzungen bedingt, soll nicht die formale Grundrechtsgeltung in den neuen Bundesländern angesichts der grundrechtsunverträglichen Hinterlassenschaft der DDR ein Gefäß ohne rechten Inhalt bleiben. Es ist deutlich, daß damit die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte 76 im Zusammenhange des Einigungsprozesses eine besondere Bedeutung gewinnt - vor allem auch die, den Ostbürgern vermittels Schaffung eines den alten Bundesländern angenäherten Niveaus der öffentlichen Leistungen den Weg zum Erwerb auch der Grundrechtssubstrate nicht nur scheinbar offenzuhalten 77. Die Grundrechtstheorie wird sich dieses bislang eher vernachlässigten Aspekts der deutschen Wiedervereinigung noch näher anzunehmen haben. 3. Angleichungsansätze in den neuen Bundesländern Den neuen Bundesländern scheint ihrerseits der beschriebene Weg, über eine Uneinheitlichkeit der Rechtsordnung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse Vgl. ebenso Arndt, JuS 1993, 360 (361). Vgl. insb. BVerfGE 33, 303 (332). 75 Vgl. auch Isensee (0. Fn. 30), § 115 Rdnr. 22. 76 Zu ihr aus jüngerer Zeit, jew. m. w. N., insb. Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (0. Fn. 30), § 109 Rdnm. 50 ff.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 27,50 ff. 77 Gerade zu dieser Funktion der Grundrechte vgl. eindringlich Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, in: ders., Staatsrecht, Verfahrensrecht, Zivilrecht, 1988, S. 49 ff. (59). 73

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näherzukommen, von vornherein weitgehend verschlossen. Ihre Kompetenzannut verurteilt sie offenbar dazu, ganz auf regionale Sonderregelungen des Bundesgesetzgebers und hiervon unrnittel- oder mittelbar ausgehende Angleichungseffekte zu setzen. Soweit sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, sei es durch Gesetz oder Rechtsverordnung, Ungleichheit der Lebensverhältnisse gar produzieren oder verfestigen, ist hiergegen im allgemeinen kein Kraut gewachsen. Im Rahmen der Homogenitätsforderung des Art. 28 I GG legitimiert die bundesstaatliche Ordnung diese kompetenzspezifische Ungleichheit - und zwar auch gegenüber dem Bürger: Einen Grundrechtsschutz gegen bundesstaatliche Vielfalt gibt es grundsätzlich nicht 78. Freilich entfaltet der elementare Drang nach sozialer Gleichheit und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, der in deutlicher Gegnerschaft zu föderativ bedingten Verschiedenheiten steht 79 , eine politische Dynamik, der sich auch die nach Zuständigkeitsverteilungen und Rechtsgrundsätzen handelnden Länderorgane nur schwer entziehen können 80 • Diese Einsicht hat bereits in der alten Bundesrepublik ihre Spuren hinterlassen 81. Unter dem Eindruck der immensen Disparitäten nach Herstellung der Einheit war und ist eine verstärkte Tendenz zu registrieren, bundesstaatlich bedingte Gefällesituationen zwischen den Ländern auch unter dem Korsett der geltenden Kompetenzordnung nach Möglichkeit kraft Landesgewalt abzuflachen. In diesen Zusammenhang gehört bereits die praktizierte Neigung der neuen Bundesländer, ihre Verfassungen 82 mit sozialen Staatszielbestimmungen - etwa in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Bildung - anzureichern 83 • Diese Neigung ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der berechtigten - und wohl zu bejahenden 78 Vgl. für viele Friedr. Klein, Gleichheitssatz und föderative Struktur der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Scupin, 1973, S. 165 ff. (172 ff., 182); Kisker, Grundrechtsschutz gegen bundesstaatliche Vielfalt ?, in: Festschrift für Bachof, 1984, S. 47 ff. (55 und passim); P. Kirchhof (0. Fn. 57), § 124 Rdnr. 178; s. a. BVerfGE 10, 354 (371) - st. Rspr. -; für eine Ausnahme bei länderübergreifenden Rechtsgewährleistungen s. BVerfGE 33, 303 (352), krit. gewürdigt von Kisker, a. a. O. 79 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog, Grundgesetz, Art. 3 I Rdnrn. 239 ff. 80 Vgl. auch Maunz, Gleichheit der Gliedstaaten im Bundesstaat, in: Gedächtnisschrift für Friedr. Klein, 1977, S. 311 ff. (319). 81 Vgl. dazu insb. Dittmann, Gleichheitssatz und Gesetzesvollzug im Bundesstaat, in: Festschrift für Dürig, 1990, S. 221 ff. m. w. N. 82 Abgedruckt etwa als Anhang zu Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung Die Rechtseinheit - , Bd. III, 1992, S. 185 ff. 83 Vgl. dazu näher GrafVitzthum, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen morgen, ZfA 1991,695 ff.; Franke u. a., in: Stern (0. Fn. 82), S. 1 ff.; Feddersen, Die Verfassunggebung in den neuen Ländern: Grundrechte, Staatsziele, Plebiszite, DÖV 1992,989 ff.; Sommermann, Die Diskussion über die Normierung von Staatszielen, in: Blümel u. a. (Hrsg.), Verfassungsprobleme im vereinten Deutschland, 1993, S. 63 ff.; Bull, Die Verfassungen der neuen Länder - zwischen östlicher Selbstbestimmung und westlichen Vorgaben, in: Festschrift für Thieme, 1993, S. 305 ff. (316 ff.). Vgl. auch Fn.84.

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- Frage zu sehen, ob die östlichen Bundesländer über derartige Bestimmungen "eine eigene (sozio-ökonomische) Identität zu etablieren suchen"84. Hinter ihr steht vielmehr auch das Bestreben, vermittels einer das Grundgesetz überholenden Verbriefung ,,realer Chancen und sozialer Gerechtigkeit"85 der (freilich zunehmend ins Wanken geratenen) Realität westlicher Lebensverhältnisse auf verfassungsautonome Weise ein Stück näher zu kommen. Daß sich der angestrebte Zuwachs an Lebensqualität auf diese Weise zuverlässiger als ohne soziale Staatszielbestimmungen bewirken läßt, mag füglich bezweifelt werden. Zum einen erscheint es wenig sinnvoll, in den Landesverfassungen Freiheitsbereiche zu thematisieren, deren normative Ausgestaltung nicht oder nur am Rande der Souveränität der Landesgesetzgebung unterliegt 86. Zum anderen setzt dort, wo sich in gesetzes ungebundenen Bereichen Einfallstore der Entfaltung bieten, die finanzielle Leistungsfähigkeit der Länder dieser Entfaltung im allgemeinen so enge Grenzen 87 , daß insgesamt die Frage erlaubt sein muß, ob der mit landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen tatsächlich erreichbare Fortschritt im rechten Verhältnis zu dem drohenden Verlust an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, damit aber an Verfassungsakzeptanz steht. Von durchaus handfesterem Gewicht scheint demgegenüber der eigenständige Vereinheitlichungsgewinn, der in den neuen Ländern durch einen regional spezifisch differenzierenden Vollzug von Bundesgesetzen, insbesondere Bundessteuergesetzen, erzielt wird. Insbesondere über abweichende Steuerfestsetzungen (§ 163 AO), Steuerstundungen (§ 222 AO) und Steuererlasse (§ 227 AO) allesamt grundsätzlich gesetzeskonforme Billigkeitsinstrumente des Besteuerungsvollzugs - wird es offenbar auf der Ebene der Finanzverwaltung zunehmend unternommen, die Vollzugskompetenz der Länder (Art. 108 11 GG) als wirtschaftspolitisches Mittel des Erhalts oder gar der Schaffung von Arbeitsplätzen, damit aber als Instrument zur Angleichung der Lebensverhältnisse einzusetzen 88. Die Fragwürdigkeit einer derartigen Steuer(minder)verwaltung liegt auf der Hand. Nicht nur gehen vollzugsbedingte Mindereinnahmen im Finanzausgleich im allgemeinen zu Lasten der zu bündischer Solidarität aufgerufenen anderen Länder sowie des Bundes 89 . Schaden droht vor allem auch der verfassungsrechtlich geforderten Gleichheit vor dem Gesetz. Gewiß: Bei Fehlen voll84 GrafVitzthum, Auf der Suche nach einer sozio-ökonomischen Identität? Staatszielbestimmungen und soziale Grundrechte in Verfassungsentwürfen der neuen Bundesländer - , VBlBW 1991, 404 ff. (405). 85 Bull (0. Fn. 83), S. 318. 86 Vgl. krit. auch Würtenberger, in: Stern (0. Fn. 82), S. 168 (Diskussionsbeitrag). 87 Vgl. auch Feddersen, DÖV 1992,989 (997). 88 Vgl. Färber, Reform des Länderfinanzausgleichs, Wirtschaftsdienst 1993, 305 ff. (309 ff.); für die alte Bundesrepublik s. insb. Dittmann (0. Fn. 81), S. 231 ff.; P. Kirchhof (0. Fn. 57), § 124 Rdnr. 182 m. Fn. 361. 89 Zu den durch das Prinzip der Bundestreue gesetzten Grenzen vgl. Selmer (0. Fn. 35), S. 47 f.

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zugskoordinierender Ingerenzen des Bundes (Art. 83 ff., 108 GG) muß den Ländern als Folge des bundesstaatlichen Aufbaus der Bundesrepublik eine gewisse Variationsbreite des Vollzugs auch gegenüber dem Erfordernis gleichmäßiger Besteuerung zugestanden werden 90. Die differenzierende Kraft der Vollzugskompetenz findet indes eine Grenze an dem Gebot einheitlicher Geltung von Rechtsvorschriften im Bundesgebiet 91 • Diese einheitliche Geltung von Bundesrecht darf nicht dadurch partiell unterlaufen werden, daß die Ausführung des Bundesrechts von Land zu Land erhebliche Verschiedenheiten aufweist 92. Von einer in diesem Sinne erheblichen und damit unzulässigen Vollzugsdivergenz ist aber dort zu sprechen, wo steuerfallorientierte Milderungsvorschriften des Bundes gezielt außerhalb ihrer steuerspezifischen Einzelfallbezogenheit liegenden Zielen, etwa solchen struktureller Art, dienstbar gemacht werden 93 • Daß mit dem Topos "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" ein übergreifend gesicherter Sachgesichtspunkt zur Verfügung steht, ändert hieran nichts. Die Einheitlichkeit der Rechtsordnung im Bundesgebiet zweckverfremdend und dadurch gleichheitsauflösend zu durchbrechen, steht auch unter seiner Geltung nur dem zuständigen Bundesgesetzgeber zu.

V. Schlußbemerkung Gestatten Sie mir zum Schluß einige Worte zu der Frage, wie sich das bislang so durchschlagskräftige Leitbild der Einheitlichkeit von Rechts- und Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik künftig entwickeln könnte. Daran zu erinnern ist, daß Art. 5 EV die Weichen angesichts des in den vergangenen Jahrzehnten eingetretenen Substanzverlustes an föderativer Pluralität unmißverständlich in Richtung einer Stärkung der Länderstaatlichkeit gestellt und den gesetzesgebundenen Organen des vereinten Deutschlands einen entsprechenden Prüfungsauftrag erteilt hat 94 • Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, an welche dieser Auftrag weitergeleitet wurde, hat sich indes - zurückschreckend vor allem vor dem sperrigen Problem einer zu erneuernden FinanzverInsoweit zutreffend BFHE 144, 9 (14). Vgl. Dittmann (0. Fn. 81), S. 230 ff.; P. Kichhoj(o. Fn. 57), § 124 Rdnrn. 181 f., jew. m. w.N. 92 BVerfGE 11, 6 (18). 93 Ähnlich, aber zu Unrecht allzusehr allein auf die Lösung von der ,,Einzelfallbezogenheit" abstellend vgl. Dittmann (0. Fn. 81), S. 239. 94 Art. 5 EV lautet insoweit: "Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5.7. 1990, ... ". Zu diesem sog. Eckpunkte-Beschluß mit seinen Vorschlägen für eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und Finanzautonomie der Länder vgl. Selmer (0. Fn. 35), S. 17 f. 90

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fassung - dem Thema einer grundsätzlichen Fortentwicklung unserer bundesstaatliChen Ordnung weitestgehend entzogen und damit die Erledigung seiner Aufgabe in einem fundamentalen Punkte verfehlt. Der insgesamt dürftige Ertrag, der in der vorgeschlagenen Änderung des Art. 72 11 GG95 liegt, darf dabei außer Betracht gelassen werden - zumal die angestrebte Modifizierung in ihrer Effizienz zugunsten der Länder fragwürdig ist: Die bisherige Zurückhaltung des BVerfG bei der Überprüfung des "Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung" hat weniger in der Fassung des Art. 72 11 GG als in dem funktionellrechtlichen Rollenverständnis des Gerichts gegenüber dem Gesetzgeber seine Ursache. Daran aber dürfte sich auch in Zukunft wenig ändern 96. Die vom Einigungsvertrag signalisierte Hinwendung zu mehr Regelungs- und Finanzautonomie der Länder, damit potentiell aber auch zu größerer föderaler UneinheitliChkeit von Rechts- und Lebensverhältnissen, ist folglich bislang ohne spürbare rechtliche Folgen geblieben. Sie steht aber, wohl zum Unwillen des Bundes, weiterhin auf der Tagesordnung der bundesstaatstheoretischen Diskussion 97 . Das Prinzip bündischer "Einheit" gebietet freilich, vor allem die neuen Länder gegebenenfalls erst dann - ausgestattet mit einer erweiterten Gesetzgebungs- und Finanzautonomie - in einen verstärkten Wettbewerb zwischen den Ländern und damit möglicherweise auch in eine größere Vielfalt der von ihnen gestaltbaren Lebensverhältnisse zu entlassen, wenn zuvor die enormen strukturellen Unterschiede angemessen abgebaut worden sind und damit eine gewisse Annäherung der Startbedingungen erreicht ist 98 . Auch bei einer günstigen EntwiCklung der Wirtschaftsdaten und einem dadurch jedenfalls ermögliChten Grundsatzwechsel des Bundesstaates in Richtung Konkurrenzföderalismus ließe sich eine substantiell entflochtene Ordnung der Bundesrepublik schwerlich noch im laufenden Jahrzehnt verwirklichen 99 . Nicht ausgeschlossen erscheint zudem, 95 Vgl. oben bei und in Fn. 33 und 49. 96 Vgl. zurückhaltend in bezug auf die Effizienz des novellierten Art. 72 11 GG auch Wendt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993,56 (62); Rennert, Der Staat 1993, 269 (274); Badura, Die Verfassung des Bundesstaates Deutschland in Europa, 1993, S. 50; a. A. insoweit Sannwald, ZRP 1993, 103 (lOS); Hendler, DÖV 1993,292 (296); Kriele, Über jeden Grundgesetzartikel einzeln abstimmen - Aktuelle Probleme der Verfassungsreform-, FAZ v. 21.12.1993, S. 7. -Die am 7.2.1994 von den Spitzenverbänden der Wirtschaft geäußerte Befürchtung, bei Umsetzung der vorgeschlagenen Neufassung des Art. 72 II GG könne "die Rechtseinheit im Bundesstaat verloren werden" (s. FAZ v. 8.2.1994, S. 11), erscheint schon im Hinblick auf die obige Erwägung unbegründet; sie verkennt im übrigen, daß die zur Streichung vorgeschlagene "Wirtschaftseinheit" weithin als neben der ,,Rechtseinheit" überflüssig empfunden worden ist. 97 Vgl. zu ihr instruktiv zuletzt Schultze (0. Fn. 44), S. 231 ff. 98 Vgl. bereits Selmer (0. Fn. 35), S. 40; a. A. Wendt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, S. 56 (73), der für eine alsbaldige Reföderalisierung eintritt. 99 Keinen Schritt zur Beschleunigung des Angleichungs- und damit des inneren Einigungsprozesses, vielmehr einen deutlichen (verfassungsrechtlich im Hinblick auf Art. 79 1lI GG höchst fragwürdigen) Ansatz in Richtung einer Teilungserneuerung bedeutet ersichtlich der von der PDS am 1.2.1994 (vgl. FAZ v. 2.2.1994, S. 4 u. 27) gemachte Vorschlag einer "Ostdeutschen Kammer", deren zwingend vorgesehene Mitwirkungsbe-

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daß die zur Zeit nur schlummernde Alternative einer Länderneugliederung 100 die Bundesstaatsdebatte unvermutet noch in eine ganz veränderte Richtung drängt. Aber das ist ein anderes Thema.

fugnis in Angelegenheiten der neuen Länder nach den Vorstellungen der PDS im Einspruchsfalle nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages überwunden werden könnte. 100 Vgl. zum Thema Länderneugliederung seit der Wiedervereinigung Selmer (0. Fn. 35), S. 60 ff. m. w. N.; seither noch R. Kaufmann, Bundesstaat und Deutsche Einheit, 1992, S. 162 ff.; Lenk, Reformbedarf und Reformmöglichkeiten des deutschen Finanzausgleichs, 1993, S. 322 ff.; Rennert, Der Staat 1993, 269 (275); Schultze (0. Fn. 44), S.243, 248; Henke, Maßnahmen zur Stärkung der Eigenstaatlichkeit der Länder und die Finanzierung der deutschen Einheit, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, 10 ff. (19); Wendt, ebd., S. 67; Arndt, JuS 1993, 360 (364).

Einheit der Rechtsordnung: EG-Recht und nationales Recht Von Meinhard Hilf* I. Fragestellung und Eingrenzung 1. Zwei widerstreitende Sichtweisen

Einheit und Vielfalt sind die Pole, zwischen denen sich europäische Einigung vollzieht. Historisch ist Europa nie Einheit, sondern stets Vielfalt gewesen. Versuche aufgezwungener Einheit sind stets gescheitert. Das mir zugewiesene Thema bezieht sich auf die freiwillige Einheitsbildung durch Recht und auf das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaft (EG) 1 zum nationalen Recht. Meine ersten Überlegungen zu diesem gestellten Thema sollten auf eine Gegenüberstellung zweier entgegengesetzter Sichtweisen hinauslaufen: Aus der Sicht der Europäischen Gemeinschaft bzw. der diese nunmehr überwölbenden Europäischen Union (EU), von oben sozusagen, wollte ich die Einheit der Rechtsordnung anband der Verträge und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) mit den Stichworten erläutern: -

Identität der EU bzw. der EG nach Art. B des Maastricht-Vertrages (EUV);

-

Vorrang des Gemeinschaftsrechts;

-

Rechtsprechungsmonopol des EuGH sowie

-

Einheitlichkeit der Rechtsordnung der Gemeinschaft in allen Mitgliedstaaten.

Dieser in den Worten von Horst Dreier 2 offenbar recht naiven Sichtweise hätte ich die Sicht der einzelnen Mitgliedstaaten, sozusagen von unten, gegenübergestellt: Aus dieser Froschperspektive - wenn es überhaupt schicklich ist, einen * Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten. 1 Nach dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) v. 17.2.1992 Vertrag von Maastricht - (ABl. C 191 v. 25.7.1992 = BGBl. 1992 11 S. 1251 ff.) wird die bisherige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft künftig als Europäische Gemeinschaft bezeichnet. Unter ,,EG-Recht" wird im folgenden das Recht dieser Gemeinschaft verstanden unter Einschluß seiner Einbindung in die Europäische Union. 2 Oben in diesem Band S. 118.

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solchen Begriff im Hinblick auf unsere Mitgliedstaaten zu verwenden - würde sich die Einheit der Rechtsordnung nur innerhalb der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vollziehen können - und zwar kraft fortlaufender Zulassungskontrolle des Gemeinschaftsrechts, des durch die freiwillig geöffnete Bresche im Souveränitätspanzer 3 einströmenden Gemeinschaftsrechts. Jüngste Stichworte insbesondere im Anschluß an das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 4 hierzu wären gewesen: -

Die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge;

-

die ungeteilte und fortbestehende Souveränität der Mitgliedstaaten;

-

Bewahrung der nationalen Identität gern. Art. F Abs. 1 EUV sowie

-

gerichtliche Letztentscheidung - etwa des Bundesverfassungsgerichts - zu Fragen der Kompetenzgrenzen sowie des elementaren Grundrechtsschutzes.

-

Kurzum: der Mitgliedstaat als maßgebende politische Entscheidungs-, Zwangs- und Legitimationseinheit.

Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch schnell, daß sich derart idealtypische Sichtweisen kaum durchhalten lassen. Vor allem erscheint die Rechtswirklichkeit viel komplexer, als daß sie einer dieser beiden Sichtweisen ohne Wenn und Aber zugeordnet werden könnte. Zu sehr erscheinen gegenwärtig Gemeinschaftsrecht und nationales Recht miteinander verstrickt bzw. verzahnt zu sein, als daß man ohne weiteres mit wenigen Strichen oben auf der Ebene der Gemeinschaft oder unten auf der Ebene der Mitgliedstaaten eine einheitliche und in sich geschlossene Rechtsordnung ausmachen könnte. Die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung mündet daher in eine dritte Sichtweise: Hat sich nicht unbemerkt eine neue übergreifende Einheit der Rechtsordnung herausgebildet, die Gemeinschaftsrecht und nationales Recht zusammenführt und die Vielfalt der Rechtsordnungen überwindet? Oder bleibt es vorerst noch bei der frühzeitigen Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im 22. Band, daß Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zwei "selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen" darstellen?5 In der Rechtstheorie begegnen uns zahlreiche Modelle, die die Zuordnung verschiedener Rechtsordnungen erklären sollen.

3 4

5

A. Bleckmann. Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rn. 720. Urteil vom 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 ff.

BVerfGE 22,293 (296).

Einheit der Rechtsordnung: EG-Recht und nationales Recht

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2. Monismus - Dualismus Für das Verhältnis des allgemeinen Völkerrechts zum nationalen Recht hält die Theorie das klassische Begriffspaar Monismus-Dualismus bereit. Wer hat sich nicht in seiner Studienzeit schon mit Hans Kelsen und dessen ach so reiner Rechtslehre, mit dem aufgeheizten Streit um Monismus oder Dualismus befaßt. Bis aufs Messer haben sich die Schulen bekämpft, Fakultäten sind unter ihren Fahnen erobert worden! Erst eine Vielzahl von Streithelfern, die mit ungezählten gemäßigten Varianten ihre Dienste anboten, konnten den Streit der Theorien abmildern. 6 Heute fmden wir einen Widerschein dieses Streits allenfalls noch in den Seminaren der Rechtstheorie oder in studentischen Arbeiten auf Grund des Reizes, der nun einmal von Theorien ausgeübt wird - oder vielleicht auch nur auf Grund der überalterten Bibliotheksbestände insbesondere im Bereich der Völkerrechts-Literatur. Denn in der Praxis scheint mir seit langem vorherrschend zu sein, daß allein der Dualismus der Souveränitätsbehauptung der Einzelstaaten entsprechen konnte. Die Staaten waren und sind es, auf deren Willen sämtliche Normen des Völkerrechts zurückgeführt werden können. Nur im Hinblick auf das zwingende Völkerrecht muß ich zögern. Aber bevor jemand von Ihnen aus naturrechtlichen Gründen streitsuchend widerspricht, will ich mit diesen wenigen Bemerkungen die allgemeine Völkerrechtsordnung verlassen. Für das EG-Recht stellen sich zwei vergleichbare Zuordnungsfragen: -

Wie kann man die Zuordnung der EG zum Völkerrecht erfassen?

-

Und wie letztlich die Zuordnung zum nationalen Recht? 3. Europäische Gemeinschaft und Völkerrecht

Monistische Anklänge begegnen uns zunächst bei der Zuordnung der EG zur Rechtsordnung des Völkerrechts. Angesprochen auf die Frage, ob und inwieweit die Gemeinschaftsorgane an das Völkerrecht gebunden seien, hat sich der Gerichtshof schon frühzeitig für einen generellen Vorrang des Völkerrechts zumindest gegenüber dem sekundären Gemeinschaftsrecht ausgesprochen 7 • Als Anhaltspunkt diente dem Gerichtshof schlicht der Wortlaut des Art. 228 des EG-Vertrages (EGV), der die von der Gemeinschaft geschlossenen Abkom6 Zum gegenwärtigen Stand J. Delbrück / R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/l, 2. Aufl. 1989, S. 98 ff. 7 EuGH 12.12.1972 International Froit Company, verb. Rsn. 21/24/72 - Sig. 1972, 1226 ff.

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men sowohl für die Organe der Gemeinschaft als auch für die Mitgliedstaaten für verbindlich erklärt. Zwingend war dies angesichts des Vertragstextes sicherlich nicht, zumal wir in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten unterschiedliche Konzeptionen über den innerstaatlichen Rang völkerrechtlicher Verträge vorfmden 8 • Sicher läßt sich die genannte Auffassung des Europäischen Gerichtshofs nicht zwingend auf eine lupenreine monistische Auffassung zurückführen, da Art. 228 EGV als gemeinschaftsrechtlicher Anwendungsbefehl von sich aus die vorrangige Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Verträge anspricht und dies auch nur für das sekundäre Recht, nicht jedoch für das von den Mitgliedstaaten gesetzte primäre Vertragsrecht. Dennoch hatte diese Rechtsprechung des Gerichtshofs eine einheitstiftende Wirkung: Den Gemeinschaftsorganen ist es seither verwehrt, sekundäres Recht unter Mißachtung entgegenstehenden Völkerrechts zu setzen. Hätte dann nicht etwa die Bananen-Marktordnung gar nicht erst erlassen werden dürfen, da sie nach Auffassung vieler gegen die auch die EG bindenden Regeln des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) verstöBt?9 Lassen wir diese Seitenfrage als noch streitbefangen stehen - zumal das GATT-Panel kürzlich die Regelung der EG zur Überraschung vieler nur in einigen Einzelpunkten beanstandet hat. Jedenfalls hatte die mir als recht rigoros, ja fast als idealistisch erscheinende Rechtsprechung des Gerichtshofs eine wesentliche, und zwar negative Folgewirkung: Weil der Gerichtshof die Gemeinschaftsorgane so strikt an das völkerrechtliche Vertragsrecht bindet und damit offenbar die einheitliche Geltung des Völkerrechts wahren will, ist er selbst in seiner Folgerechtsprechung überaus zurückhaltend gewesen gegenüber der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge. Und dies ausdrücklich auch gegenüber dem GATTJO. Die Folge ist: Das GATT mag zwar die Gemeinschaftsorgane auf Grund dieser Rechtsprechung binden. Kein einzelner, kein Bananenimporteur vermag sich jedoch vor den Gerichten auf einen möglichen Verstoß gegen das GATT-Abkommen zu berufen. Damit ist bereits diesem Abkommen ein wesentliches Element seiner bis in die Rechtsstellung des einzelnen durchschlagenden Wirksamkeit genommen. Hierzu ausf. A. Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl., 1990, Rn. 722 ff. VgI. VO (EWG) Nr. 404 / 93, ABI. Nr. L 47 v. 25.2.1993, S. 1 u. M. J. Hahn / G. Schuster, Zum Verstoß von gemeinschaftlichem Sekundärrecht gegen das GATI - Die gemeinsame Marktorganisation für Bananen vor dem EuGH, EuR 1993, S. 261 ff. ·10 VgI. EuGH 16.3.1983 Amministrazione delle Finanze/ SPI, Rsn. 267-269/ 81 - Slg. 1983,801 sowie EuGH 16.3.1983 - SIOT, Rs. 266/81 - Slg. 1983,731 und M. Hilf, in: M. Hilf / E.-U. Petersmann, GATI und Europäische Gemeinschaft, 1985, S. 11 (42ff.). 8

9

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Wäre der Gerichtshof in der Vorrangfrage flexibler gewesen und hätte er etwa auf Grund der lex posterior-Regel dem Rat einen weiten politischen Handlungsspielraum auch gegenüber dem GATI belassen - etwa auch für GATI-widrige Schutzmaßnahmen - , so hätte vielleicht eine Chance bestanden, ihn auch zur Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit zu bewegen. Verlassen wir die Frage nach der Einheit im Verhältnis der Völkerrechtsordnung zur Gemeinschaft und wenden wir uns der eigentlichen und engeren Fragestellung nach dem Verhältnis des EG-Rechts zum nationalen Recht zu. Müßte man nicht folgerichtig auch hier auf eine entsprechende monistische Sichtweise stoßen? Blickt man einmal noch etwas genauer auf die eingangs gegenübergestellten Sichtweisen, so lassen sich drei Ansätze zur Einheitsbildung erkennen: (1) Zunächst die fortbestehende und in sich abgeschlossene Einheit der Rechts-

ordnung auf nationaler Ebene.

(2) Auf europäischer Ebene das Bestehen einer "einheitlichen Rechtsordnung" der EG. (3) Oder eine einheitliche übergreifende Rechtsordnung, die die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten zusammenfaßt. Der zuletzt genannte Ansatz bringt bereits Assoziationen im Hinblick auf eine werdende Staatsähnlichkeit der Europäischen Gemeinschaft mit sich. Viel häufiger begegnet uns jedoch die Vorstellung, daß der europäische Normenhaufen lediglich aus Laub bestehe, der mit leichten Schwüngen weggeharkt weiterhin die unbeschädigte Staatlichkeit der Mitgliedstaaten zum Vorschein kommen lasse 11. Befürchten Sie nicht, daß ich nunmehr die verschiedenen Sichtweisen von Einheitsbildung nacheinander abhandeln werde. Vor allem um sich wiederholende Gedankenketten zu vermeiden, - möchte ich bei drei grundlegenden Verfassungsprinzipien ansetzen. An ihrem Beispiel soll gezeigt werden, welche Elemente der Einheit und zugleich der Vielfalt hier zum Vorschein kommen. Es handelt sich (1) um die der Gemeinschaft zuerkannte Rechtsnatur, wie sie sich insbesondere im Hinblick auf die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten darstellt; (2) ferner um das Demokratieprinzip: Auf welche Legitimationsquellen können sich Gemeinschaft und Mitgliedstaaten stützen? Und schließlich (3) um das Rechtsstaatsprinzip: Wer hat das letzte Wort? Welche Instanz vermag letztlich über die Geltung von Recht in der Gemeinschaft bzw. in den Mitgliedstaaten zu entscheiden? 11

Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, S. 331; zitiert bei H. Dreier, oben S. [].

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11. Einheit und Vielfalt der Verfassungsstrukturen 1. Zur Rechtsnatur der Europäischen Union und die Kompetenzverteilung

Zunächst zur Rechtsnatur der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaft und zur Zuordnung der jeweiligen Kompetenzen, die zahlreiche Elemente der Einheit und Vielfalt erkennen läßt. Sozusagen zum föderalen Prinzip also. a) Der Begriff der Europäischen Union: Europäische Union? Richtig, ich vergaß, Ihnen die Europäische Union vorzustellen. Die Hauptperson in unserem Stück - sicherlich, aber eigentlich gibt es sie gar nicht. Der Vertrag von Maastricht hat zwar die Europäische Union gegründet, ihr aber keine eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt l2 • Rechtsfahig sollen allein die drei bisherigen Gemeinschaften bleiben und unter dem Dach der Europäischen Union mit den sonstigen Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit verbunden werden. Ein nicht sehr wetterfestes Dach also, keine neue Organisation, sondern nur ein Name für die Gesamtheit der engeren Beziehungen der Mitgliedstaaten untereinander. Die Mitgliedstaaten haben denn auch folgerichtig die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs über das Dach der Europäischen Union ausgeschlossen 13. Der Europäische Rat, nach Art. D EUV Impulsgeber und verantwortlich für die allgemeinen politischen Zielvorstellungen, ist also nur ein gemeinsames Vertragsorgan der Mitgliedstaaten. Es wird viel gerätselt, warum man nun kaum mehr von der uns so vertrauten Gemeinschaft sprechen soll, sondern von dem zwar umfassenden, aber konturlosen Nebelbegriff der ,,Europäischen Union". Frankreich hat seit den FouchetPlänen aus den Jahren 1961/1962 stets den Begriff der Europäischen Union hochgehalten und diesen immer wieder ins Spiel gebracht, um offenbar die kontinuierlich vertretene Vorstellung des Europas der Vaterländer hochzuhalten l4 • Im überaus vielschichtigen Vertragswerk von Maastricht steht nun der Begriff der Europäischen Union an vorderster Stelle und läßt damit naturgemäß die Konturen der bisherigen drei Gemeinschaften verschwimmen. Zu allem Überfluß haben sich jetzt Ende letzten Jaahres auch die bisherigen Gemeinschaftsorgane ohne erkennbaren Anlaß umbenannt: Aus dem traditionellen Rat der Europäischen Gemeinschaften ist der Rat der Europäischen Union geworden, aus der Kommission und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nunmehr die Europäische Kommission bzw. der Europäische Gerichtshofis. Dies alles, BVerfG 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 (441). Vgl. Art. L EUV. 14 U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des GG, DVBI. 1993, S. 936 (939). 12

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als ob es nicht bereits schon eine Europäische Kommission und einen Europäischen Gerichtshof im Rahmen des Europarates gäbe. Beobachter sprechen bereits von einem eingetretenen ideengeschichtlichen Schaden, der mit der Vernebelung der Begriffe eingetreten sei 16. Ich will dies nicht vertiefen: Sie werden es mir erlauben, daß ich mich in der Terminologie weiter am Vertragstext orientiere. So will ich meinem angekündigten Thema entsprechend weiterhin von der Europäischen Gemeinschaft bzw. der EG sprechen. b) Zur Rechtsnatur der Europäischen Union, die die Gemeinschaft umfaßt, gibt es einen klaren Ausgangspunkt: Sie ist weder bloßer Staatenbund noch Bundesstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr in seinem MaastrichtUrteil auf Vorschlag des Berichterstatters den bisher noch unbesetzten Begriff des "Staatenverbundes" zur Diskussion gestellt. Ein offenbar zwischen den Polen Staatenbund und Bundesstaat gleitender Begriff, sozusagen ein Bewegungsbegriff. Erkennbar wird eine bündische Struktur sui generis 17. Dennoch befriedigt der Begriff des "Staatenverbundes" nicht. Denn es sind in der Europäischen Union nicht nur die Staaten, die miteinander verbunden werden, sondern Art. A Abs. 2 des EUV spricht ausdrücklich von einer "immer engeren Union der Völker Europas". Die Union soll sich auf die doppelte Legitimationsbasis der Staaten und der Völker stützen. Es wird damit sichtbar, daß sie weit in die innere Verfassungsstruktur und an die demokratischen Wurzeln der Mitgliedstaaten hineinreicht. Art. B EUV erkennt für die Union eine eigene Identität an, der allerdings die gebotene Achtung der nationalen Identität nach Art. F Abs. 1 EUV gegenübergestellt wird. Die Union wird im Vertrag von Maastricht zwar nicht als unauflöslich bezeichnet, wohl aber als auf unbegrenzte Zeit abgeschlossen angesehen (Art. Q EUV). Für die Währungsunion wird sogar der Begriff der "Unumkehrbarkeit" verwendet l8 • Das Bundesverfassungsgericht hat Schwierigkeiten, mit diesen vertraglichen Festlegungen umzugehen. Es betont, daß die Rolle der Mitgliedstaaten als "Herren der Verträge" es gleichzeitig mit einschließe, die Union durch actus contrarius wieder auflösen zu können. Auch aus der Währungsunion könne ein Mitgliedstaat sich herauslösen, wenn diese die als Vorraussetzung geltende Stabilitätsgemeinschaft nicht erreichen würde 19. 15 Entscheidung des Rates vom 8.11.1993 und der Kommission vom 17.11.1993, vgl. EG-Nachrichten Nr. 46 vom 29.11.1993, S. 2. 16 P. Pescatore, Die ,,neue europäische Architektur" Maastricht und danach?, Europaseminar in Solothum / Schweiz, 10. /11.4.1992, Manuskript, S. 3. 17 BVerfG 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 (439), sowie H.-I. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht- Ein Schritt auf dem Weg zu einem Europäischen Bundesstaat? DÖV 1993, S. 412 (420). 18 Vgl. Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion.

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Diese Sicherheitsventile mögen wichtig sein. Es stellt sich aber doch die Frage, ob eine Lösung etwa der Bundesrepublik Deutschland aus der Union überhaupt denkbar wäre. Lassen wir die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Lösung einmal außer Betracht. Sicher hat uns gerade die jüngere Geschichte gelehrt, auch auf Entwicklungen eingestellt zu bleiben, die zunächst noch als unmöglich erscheinen. Ist nicht auch über einen einseitigen Ausschluß Dänemarks noch in jüngster Zeit nach dem negativen Ausgang des ersten Referendums zum Maastricht-Vertrag geradezu laut nachgedacht worden? Insgesamt scheinen mir heutzutage die Mitgliedstaaten so stark in die Gemeinschaft eingegliedert zu sein, daß sich ihre reale Existenz kaum noch in den ohnehin umstrittenen Begriffen wie Einheit, Autonomie und Souveränität fassen läßt. Im wahrsten Sinne des Wortes sind sie Gliedstaaten - oder in den Worten der Präambel des Grundgesetzes: Gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa. c) Nun zur Au/teilung der Kompetenzen: Eine Verknüpfung läßt sich auf nahezu allen Gebieten der herkömmlichen Staatsaufgaben nachweisen - wenn auch jeweils in unterschiedlicher Intensität. aa) Blickt man auf die Rechtsetzungskompetenzen, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Einerseits hat sich mit dem Vertrag der Kompetenzbestand der Union auf zahlreiche neuartige Bereiche erweitert - genannt seien nur die Bereiche der Kultur, der Bildung, der Währung bis hin zur Verteidigung sowie der Angelegenheiten der Justiz und der Innenpolitik. Damit werden sicherlich nicht nur in Randbereichen Herzstücke nationaler Eigenstaatlichkeit erreicht - wie die Kollegen im Steuer-, Straf- oder auch im Polizeirecht bestätigen mögen. Andererseits begrenzt der Vertrag von Maastricht die Tätigkeit der Union in weiten Teilen auf die klassischen Formen völkerrechtlicher Zusammenarbeit und nimmt in 17 Protokollen und 33 Erklärungen auf eine Vielzahl von Sonderlagen Rücksicht. Zum Teil scheint es so, daß bereits die viel beschworene "Integration in verschiedenen Geschwindigkeiten" schon längst Wirklichkeit geworden ist. Dies gilt für den Sozial- und Währungsbereich, aber auch für das weite Gebiet der äußeren und inneren Sicherheit: Somit tritt uns die Europäische Union anders als die eher hoch geschlossen erscheinende, eng gegürtete frühere Gemeinschaft in wesentlich lockereren und zugleich fülligeren Kleidern gegenüber, die jedoch zum Teil aus recht dünnem Material gefertigt sind und an den Rändern recht ausgefranst erscheinen. Schengen etwa wird nicht auf Grund einer klassischen Verordnung der Gemeinschaft am Tage der Verkündung im Amtsblatt in Kraft treten, sondern letztlich als rein völkerrechtliches Abkommen nur in den wenigen Mitgliedstaaten, die 19

BVerfG 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 (439 u. 443 f.).

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die Verträge Schengen I und 11 bisher ratifiziert haben. Es paßt geradezu ins Bild, daß der für die Zusammenarbeit vorgesehene zentrale Computer immer noch nicht einsatzbereit ist, so daß das Abkommen zum 1. Februar 1994 noch nicht in Kraft gesetzt werden konnte 20 • Dies alles wäre doch sicher nicht passiert, wenn man Schengen in Formen des klassischen Gemeinschaftsrechts vereinbart hätte! Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem jetzigen Urteil, daß ein "Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen" auf der einzelstaatlichen Ebene bleiben müsse, damit dort ein lebendiger demokratischer Prozeß erhalten bliebe 21 • Kann man aber derzeit noch von einem Übergewicht sprechen? Was bleibt denn den Mitgliedstaaten eigentlich? Es bleibt sicherlich die Verantwortung für die Wirtschafts-, Finanz-, Sozialund Kulturpolitik - trotz aller Randdaten, die die Gemeinschaft über Mindeststandards und lose Koordinierungszuständigkeiten setzt. Es bleibt naturgemäß auch die Letztverantwortung in allen Fragen der äußeren und inneren Sicherheit. Wichtig ist letztlich die institutionelle Verfassungshoheit in dem Sinne, daß die Mitgliedstaaten weiterhin selbständig über die primären Vertragsgrundlagen entscheiden und disponieren können. bb) Zur Verwaltung: Die Mitgliedstaaten bleiben im Hinblick auf den Vollzug des Gemeinschaftsrechts nahezu ausschließlich zuständig. Der gemeinschaftsunmittelbare Vollzug ist wie in Wettbewerbssachen oder im Bereich der Beihilfenaufsicht die Ausnahme. An diesen Feststellungen kann auch festgehalten werden angesichts der neueren Ansätze für ein umgreifendes europäisches Verwaltungsrecht 22 • Die Gemeinschaft fordert von den Mitgliedstaaten nur, daß Tragweite und Wirksamkeit des gesetzten Gemeinschaftsrechts durch den mitgliedstaatlichen Vollzug nicht beeinträchtigt werden 23. Bisher hat die Gemeinschaft erst in wenigen Einzelregelungen einheitliches Verwaltungsrecht geschaffen. Trotz des betont dezentralen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts beobachten wir auch hier eine zunehmende Verknüpfung der beteiligten Rechtsordnungen: Sei es kraft gemeinschaftskonformer Auslegung nationalen Verwaltungsrechts, sei es kraft ständiger und unmerklicher Konvergenz der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen oder auch kraft der sich im Gemeinschaftsrecht immer deutlicher herausbildenden allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte, die beim nationalen Vollzug zu beachten sind 24. BT-Drs. 12/2453, S. 8. BVerfG 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 (438). 22 Vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 1988. 23 So etwa EuGH 21.9.1983 Deutsches Milchkontor, Rsn. 205-215/82 - Slg. 1983,2658 (2667, Rn. 24). 20

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Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Feststellung, daß "öffentliche Interessen", auf die in den nationalen Rechtsvorschriften Bezug genommen wird, stets auch Interessen der Gemeinschaft sind, die von den nationalen Behörden mit zu berücksichtigen sind. Paradebeispiele sind insoweit § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im Hinblick auf den einstweiligen Rechtsschutz bzw. § 48 Abs. 2 VwVfG hinsichtlich der Rückforderung von nationalen Beihilfen, die gemeinschaftsrechtswidrig sind. Und weiter: Eine Verweisung schlicht auf anderweitige "öffentlich-rechtliche Vorschriften" schließt nunmehr auch Vorschriften des Gemeinschaftsrechts mit ein. Amtshaftung tritt auch ein bei der Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Pflichten, die dem einzelnen gegenüber begründet worden sind - so etwa das nicht unumstrittene Urteil Francovich des Gerichtshofs im Hinblick auf den mangelhaften Vollzug von Richtlinien 25. Die Bilder der vom Konkurs der Reiseveranstalter betroffenen verzweifelten Touristen stehen Ihnen sicher noch vor Augen. Auch wenn es zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten keine formale Hierarchie im Sinne einer gezielten Fach- oder Rechtsaufsicht gibt, so bestehen dennoch zahlreiche Mittel und Wege auf Seiten der Gemeinschaft, auf die Ordnungsmäßigkeit des mitgliedstaatlichen Vollzugs Einfluß zu nehmen. Zu erwähnen ist naturgemäß das Vertragsverletzungsverfahren, viel subtiler jedoch das Verfahren der Rechnungslegung, indem die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten gegenüber die Erstattung von Verwaltungsausgaben verweigern kann, wenn der Verwaltungsvollzug aus der Sicht der Gemeinschaft zu beanstanden ist 26 • Es verwundert daher nicht, daß sich eine überaus intensive, überwiegend informelle Zusammenarbeit der beteiligten Behörden herausgebildet hat. Es ist diese Zusammenarbeit, die das Verwaltungshandeln sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft heutzutage durchgängig prägt 27. cc) Einheit und Vielfalt zeigen sich letztlich auch bei der Verteilung der Rechtsprechungs/unktionen, auf die ich aber abschließend im Rahmen der Erörterung des Rechtsstaatsprinzips zu sprechen kommen möchte. Zusammengefaßt ergeben die Rechtsnatur der Union sowie die Kompetenzaufteilung bereits eine vielschichtige Verknüpfung der Rechtsordnung der Gemein24 M. Zuleeg, Leitsätze zu: Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Mainz 1993, DVBI. 1993, S. 1248 ff. 25 EuGH 13.11.1991-Rs. C-6 / 90u. a. - Slg. 1991,5357 ff.; vgl. F. Schockweiler, Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten gegenüber dem einzelnen bei Verletzung des Gemeinschaftsrechts, EuR 1993, S. 107 ff. 26 Zu diesem Verfahren vgl. J. Streil, in: B. Beutler u. a., Die Europäische Union: Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl. 1993, S. 231 ff. 27 U. Everling, Die Mitwirkung nationaler Behörden in der EG-Wettbewerbspraxis, WuW 1993, S. 709 (712 f.).

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schaft einerseits mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten andererseits. Vor allem bei der Wahrnehmung der Kompetenzen auf der Ebene der Gemeinschaft kommt eines deutlich zum Ausdruck: Es handelt sich nicht um eine Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft, um eine Aufgabe bzw. ,,Amputation"28, von der gesprochen worden ist, sondern im Grunde genommen um eine Kompetenzumwandlung zur gemeinsamen Wahrnehmung 29 . Nicht ein anonymes, fernes "Brüssel" entscheidet, sondern es sind die Mit~lied­ staaten gemeinsam, die im Rat agieren. Sie sind es, die über den Europäischen Rat die Impulse und politischen Leitentscheidungen festlegen 30. Selbst die nur auf das Gemeinschaftsinteresse verpflichtete Europäische Kommission berät sich mit den Regierungen aller Mitgliedstaaten, bevor sie Vorschläge für die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts vorlegt. Kein herausgehobener Präsident vertritt und verkörpert die Gemeinschaft nach außen, sondern eine halbjährig und turnusmäßig sich abwechselnde Präsidentschaft im Rahmen des Rates, die jeweils von den Mitgliedstaaten gestellt wird. Ich kann das komplexe Bild im einzelnen nicht näher auszeichnen: Wenn ich recht sehe, kann man im Grunde genommen weder auf der Ebene der Gemeinschaft noch auf der der Mitgliedstaaten von einer geschlossenen einheitlichen Kompetenzordnung sprechen. Wollte man Souveränität als die Summe aller materiell-rechtlichen Handlungsbefugnisse verstehen, so würde am ehesten die Vorstellung von einer dualen oder geteilten Souveränität zutreffen. Nach Helmut Steinberger ist die Souveränität in der Gemeinschaft in der Schwebe 31 . Das Bundesverfassungsgericht dagegen stellt eher auf die formale Kategorie der Letztverantwortung ab, wenn es fortfährt davon zu sprechen, daß allein die Mitgliedstaaten souverän seien und blieben und über die Gemeinschaft bzw. die Union als "Herren der Verträge" verfügen könnten 32 . 2. Zum Demokratieprinzip

Lassen Sie mich versuchen, dieses vorläufige Zwischenergebnis an dem zweiten Prinzip, dem Demokratieprinzip, zu verdeutlichen. Wie stellt sich die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung, wenn wir nach der demokratischen Legitimation für die Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten fragen? 28 So K. Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, S. 98 ff. 29 C. O. Lenz, Immanente Grenzen des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 1993, S. 57 (64). 30 Art. D Abs. 1 EUV. 31 H. Steinberger, Aspekte der Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Recht in: Festschr. f. K. Doehring, 1989, S. 951.

32 BVerfG, EuGRZ 1993, S. 429 (439).

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Alle Staatsgewalt geht nach dem Grundgesetz vom Volk aus 33 • Gilt dies auch für die Gemeinschafts- bzw. Unionsgewalt? Natürlich ist die Europäische Union kein Staat, sie hat weder Staatsgewalt noch Staatsvolk. Art. A Abs. 2 EUV spricht folgerichtig auch nicht von einem ,,Europäischen Volk", sondern von einer "immer engeren Union der Völker Europas" . Als Staatsvölker bleiben sie erhalten, verbinden sich aber zur gemeinsamen Legitimierung der Europäischen Union. Übereinstimmend legt Art. 137 EGV für das Europäische Parlament fest, daß dort die Abgeordneten als Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten agieren. Das BVerfG glaubt betonen zu müssen, daß für die Herausbildung eines europäischen Volkes fast alle vorrechtlichen Voraussetzungen fehlten: Von der fehlenden gemeinsamen Sprache bis hin zu einem gemeinsamen politischen Prozeß, der gegenwärtig allenfalls in ersten Ansätzen grenzüberschreitend festgestellt werden könne 34• Ob dies überhaupt jemals anders sein kann, ist sicher offen. Man kann schon fragen, ob das B VerfG mit diesen vorrechtlichen Voraussetzungen nicht allzusehr staatsrechtlichen Vorstellungen anhängt, wie sie bereits Johann Caspar Bluntschli am Anfang des letzten Jahrhundert formuliert hat 35 • Sicher sorgen sich die Bürger sehr feinfühlig um das Fortbestehen der nationalen Identität. Sie würden sich kaum als Mitglied eines europäischen Volkes verstehen können. Gerade der Verlust der als effektiv empfundenen Mitwirkung am nationalen politischen Prozeß war es, der die Bürger Dänemarks in erster Linie zu dem ersten trotzigen Nein zum Maastricht-Vertrag bewogen hat. Was sollte man also vor der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament festhalten? Zurück zu den nationalen Parlamenten - wie es dem BVerfG vorschwebt? Zurück also zur Einheit des politischen Prozesses, der sich offenbar allein auf der Ebene der Mitgliedstaaten vollziehen könne? Werden nicht gerade von dort aus die alles entscheidenden Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten kontrolliert und letztlich auch als Regierungsmitglieder auf nationaler Ebene legitimiert? Ernennen nicht gerade auch die nationalen Regierungen die Mitglieder der Europäischen Kommission, des Europäischen Gerichtshofs sowie gegenwärtig auch die Mitglieder des Regionalausschusses? Ist das Europäische Parlament also letztlich ein Fremdkörper, der dem Phantom eines eigenständigen politischen Prozesses auf europäischer Ebene nachjagt, ohne dieses je erreichen zu können? Ich könnte mich mit diesen Vorstellungen gewiß anfreunden, wenn es in der Tat möglich wäre, den sich in der Gemeinschaft vollziehenden Entscheidungspro33 34 35

Vgl. zu Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zuletzt BVerfGE 83, 37 ff. (Ausländerwahlrecht). BVerfG, EuGRZ 1993, S. 429 (438). H. Prantl, Störfaktor Sprachbarriere, SZ v. 28. 1. 1994, S. 11.

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zeß durch die nationalen Parlamente ausreichend steuern und legitimieren zu können. Aber: Wie sollte denn der Rat von einem nationalen Parlament kontrolliert und gesteuert werden können? Sicher verfügt ein nationales Parlament über alle Vorlagen der Kommission, über alle Berichte des Europäischen Parlamentsstapelweise! Sicher kann auch etwa der Bundestag über den nach Art. 45 GG neu gebildeten Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union versuchen, das von der Bundesregierung benannte Mitglied im Rat zu instruieren - , wenn nicht gerade im Rat der vom Bundesrat entsandte Vertreter der Länder agiert, womit nach dem neuen Art. 146 EGV wohl in Zukunft häufig zu rechnen sein wird. Es wird im übrigen Anlaß geben, der noch völlig offenen Frage nachzugehen, durch wen eigentlich die vom Bundesrat entsandten Vertreter der Länder parlamentarisch legitimiert werden sollen. Wie man es aber dreht und wendet: Es wird sich alsbald zeigen, daß sich der im Rat der Europäischen Union vollziehende umfassende Entscheidungsprozeß von einem einzelnen nationalen Parlament nachvollziehen läßt. In diesem Prozeß werden die unterschiedlichsten Interessen der Mitgliedstaaten in einem langen und zähen Ringen typischerweise kompromißhaft abgeglichen, angenähert und schließlich zur Entscheidung gebracht. Kann dieser umfassende Prozeß jemals in einem nationalen Parlament nachvollzogen werden? Der Bundestag etwa erhält zwangsläufig nur den wie auch immer pointierten Ausschnitt aus den Beratungen des Rates, vermittelt durch die Sicht des jeweiligen je nach Ausgang erfreuten oder verbitterten deutschen Ratsmitglieds. Erfolg, Mißerfolg bzw. Angemessenheit der jeweiligen Kompromisse werden insoweit naturgemäß nur aus deutscher Sicht beurteilt und weitergegeben. Die legitimen Anliegen anderer Mitgliedstaaten dürften insoweit kaum zum Ausdruck kommen. Die Schlußfolgerung kann nur lauten: Will man die sich mehr und mehr ergebenden grenzüberschreitenden Herausforderungen gemeinsam bewältigen, so ist eine unmittelbare Beteiligung der Völker der Mitgliedstaaten am Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft unverzichtbar. Den nationalen Parlamenten bleibt in erster Linie die Festlegung der primären Vertrags grundlagen. Der fortlaufende sekundäre Rechtssetzungsprozeß bedarf dagegen der unmittelbaren Legitimierung durch das gemeinsame Europäische Parlament, dessen Mitwirkung in dem jetzt im EUV eingeführten Modell der Mitentscheidung zusammen mit dem Rat einen adäquaten und - wie man wohl auch sagen muß - einen äußersten Ausdruck gefunden haben dürfte 36 • In der Tat: Das Europäische Parlament wäre weder zur jetzigen Zeit - vielleicht sogar niemals - in der Lage, alleinverantwortlich den Rechtssetzungspro36

Vgl. ArL 189 b EGV.

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zeß in der Gemeinschaft zu gestalten. Das reine parlamentarische Mehrheitssystem könnte für sich genommen nicht die Interessen aller, auch die der kleineren Mitgliedstaaten ausmessen und nach solidarischen Maßstäben ausgleichen. Die luxemburger Quellensteuer wäre schon längst schlicht weggestimmt worden ... Zusammengefaßt zeigt sich auch anhand des Demokratieprinzips: Wir haben es weder auf der Ebene der Gemeinschaft noch auf der Ebene der Mitgliedstaaten mit selbstgenügsamen, in sich abgeschlossenen, autonomen Rechtsordnungen zu tun. Vielmehr verbinden sich die genannten Rechtsordnungen über ihre gemeinsame Legitimationsquelle, nämlich die der Völker der Mitgliedstaaten. Ob sich indes hierdurch schon eine alle Einheiten zusammenfassende neue Rechtsordnung herausbilden kann, sei nunmehr zuletzt beispielhaft an dem dritten ausgewählten Verfassungsprinzip erörtert, dem Rechtsstaatsprinzip. 3. Zum Rechtsstaatsprinzip

Besonders plastisch lassen sich anband des Rechtsstaatsprinzips, und damit an der Frage der Durchsetzung des Rechts, die schon eingangs angesprochenen zwei Perspektiven unterscheiden. a) Aus der Sicht der Gemeinschaft handelt es sich bei ihrer Rechtsordnung um eine zwar noch in der Entwicklung begriffene, dennoch aber bereits in sich geschlossene autonome Rechtsordnung. Für den Europäischen Gerichtshof ist es oberstes Gebot - wie er es oft gesagt hat -, die Einheit des Gemeinschaftsrechts zu wahren und über die Einheit der Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten zu wachen 37. Hierzu dienen die von ihm entwickelten und weithin anerkannten Prinzipien des Vorrangs und der unmittelbaren und einheitlichen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten. Insoweit hat sich der Gerichtshof als der wohl wichtigste Integrationsfaktor erwiesen. Seine Urteile werden, trotz aller zum Teil deutlichen Kritik, nahezu ohne Ausnahme befolgt. Zwar weist der 11. Bericht der Europäischen Kommission über den Stand der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 38 zur Zeit noch etwa 80 Urteile auf, deren Befolgung noch aussteht. Sie datieren jedoch nahezu ausnahmslos aus jüngster Zeit. Die Gemeinschaft lebt sozusagen von der eindeutigen Feststellung, daß sich bisher jedenfalls kein Mitgliedstaat auf Dauer einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs widersetzt hat. Der Gerichtshof - aber auch die übrigen Organe - tragen auf Grund der alltäglichen rechtsvergleichenden Rechtsgespräche dazu bei, daß sich in der 37 M. ZuZeeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft, ZEuP 1 (1993), S. 475 (482). 38 ABI. C 154 v. ~.6.1994, S. 169.

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Rechtsordnung der Gemeinschaft die wichtigsten Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten wiederfinden 39. Wer sich näher mit dem Alltag des Gemeinschaftsrechts befaßt, wird erstaunt sein, welcher Grad an übereinstimmendem Rechtsdenken aus den Mitgliedstaaten an die Gemeinschaft herangetragen wird. Wie auch im Bereich der Verwaltung sind es in erster Linie die Gerichte der Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht auslegen und anwenden. Sie sind sozusagen europäische Gerichte allererster Instanz, die mit dem Europäischen Gerichtshof über das Vorabentscheidungsverfahren verbunden sind und damit für die Einheit des Gemeinschaftsrechts Verantwortung tragen. Es paßt in dieses harmonisch erscheinende Bild, wenn das Bundesverfassungsgericht - fast müßte ich sagen: früher! - den Europäischen Gerichtshof als "gesetzlichen Richter" im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG qualifiziert hat 4O • Anhand der äußerst differenzierten Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ließe sich der Prozeß der Herausbildung der Verfassungsordnung der Gemeinschaft näher umschreiben 41. Festzustellen wäre ein gesicherter Grundrechtsstandard, der bis ins Detail in einer bis hin zur Europäischen Menschenrechtskonvention reichenden europäischen Rechtskultur verankert erscheint. b) Dies ist aber nur eine Sichtweise, d. h. die Sichtweise der Gemeinschaft. Die andere Sichtweise setzt wiederum aus der Perspektive der innerstaatlichen Rechtsordnungen an: Erst abgeleitet und nur von den Mitgliedstaaten legitimiert habe sich die Rechtsordnung der Gemeinschaft herausgebildet und dürfe auch nur innerhalb der von den Mitgliedstaaten gezogenen Grenzen handeln. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in der Maastricht-Entscheidung fast selbstverständlich für sich die letzte Entscheidung in Anspruch, wenn es um die Frage geht, ob die Gemeinschaft ihre Grenzen eingehalten habe. Ein "ultra vires"Handeln könne in der Bundesrepublik Deutschland keine Wirkung entfalten und sei für die innerstaatlichen Gerichte und Behörden schlicht unverbindlich. Nicht dem Europäischen Gerichtshof käme damit das letzte Wort über die Wahrung des Rechts in der Gemeinschaft zu, sondern dem Bundesverfassungsgericht bzw. allen nationalen Gerichten und sogar jeder (?) Behörde 42 • Ich halte diese Sicht nicht für zutreffend, weil sie nämlich die Einheit des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich in Frage stellt. Man sollte jedoch nichts dramatisieren, denn es dürfte letztlich eher bei einem theoretischen Prätendentenstreit bleiben: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof werden über39 M. Hilf, Comparative Law and European Law, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Band I, 1992, S. 695 (697). 40 BVerfGE 75, 223 (233 f.). 41 Überblick bei H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1992. 42 BVerfG, EuGRZ 1993, S. 429 (440).

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einstimmend bemüht sein, Divergenzen über die der Gemeinschaft gezogenen Grenzen wenn irgend möglich zu vermeiden. Die im Recht begründete Legitimation des Europäischen Gerichtshofs und seiner Rechtsprechung sollte nicht ohne Not bestritten und geschwächt werden. Das B VerfG hätte im übrigen auch ohne Eingriff in die Rechtsordnung der Gemeinschaft alle verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, seiner Verantwortung für die Sicherung der Verfassungsordnung nachzukommen: Das BVerfG könnte jederzeit im Hinblick auf die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen feststellen, daß es verfassungsrechtlich nicht mehr hingenommen werden könne, einer Gemeinschaft anzugehören, die trotz Ausschöpfung aller gemeinschaftsrechtlicher Möglichkeiten ihre Kompetenzen in willkürlicher und nicht nachvollziehbarer Weise überschreitet 43. Eine irreale Vorstellung gewiß, wenn man an den fortwirkenden Einflusses aller Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft denkt.

111. Schlußfolgerungen: Einheit oder Vielfalt der Rechtsordnungen - oder Einheit in Vielfalt Was ergibt sich aus allem für unser Rahmenthema zur Frage nach der Einheit der Rechtsordnung? Aus den vielfältigen Struktur- und Verfassungselementen, die ich an- und ausgedeutet habe, könnte man in dreierlei Hinsicht von einer Einheit der Rechtsordnung sprechen: 1. Nach einer ersten Auffassung ist die Einheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ungebrochen. Mit dem Maastricht-Urteil scheint die~· Einheit auf längere Zeit gesichert zu sein. Das von den Mitgliedstaaten geschaffene europäische Recht unterliegt weiterhin der Herrschaft der Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge. Ihre höchsten Gerichte wachen über die Grenzen des europäischen Rechts und über die Wahrung der grundlegenden Verfassungsprinzipien im europäischen Einigungsprozeß.

2. Eine zweite Einheit der Rechtsordnung hat sich in Gestalt der Europäischen Union - oder bescheidener: in Gestalt der gefestigten Europäischen Gemeinschaft ergänzend zu den Mitgliedstaaten herausgebildet. Ich erinnere an die Vorstellungen der Unauflöslichkeit, des Vorrangs, der eigenen Identität sowie an den Europäischen Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, für die Einhaltung der Einheit der Rechtsordnung zu sorgen 44 • Als wie vielfältig sich auch immer die 43

Vgl. im einzelnen M. Hilf, Solange 11: Wie lange noch Solange?, EuGRZ 1987,

S. 1 (7).

44 Vgl. EuGH 19.6. 1990-Finanzverwaltung Simmenthal, Rs. 106/77 -Slg. 1978, 629 (643).

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Mitgliedstaaten erweisen mögen: Sie alle sind nur noch Glieder in einem vereinten Europa - auch wenn sie weiterhin die einzigen Einheiten staatlicher Souveränität bleiben mögen. 3. Die dritte Einheit könnte letztlich Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bzw. Union zusammen erfassen. Maastricht sollte bereits nach Auffassung einzelner Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht, wenn vielleicht auch nicht rechtlich, so doch real einen europäischen Bundesstaat geschaffen haben. Wäre es so gewesen, so hätte ich mich an dieser Stelle notgedrungen dieser dritten Sichtweise angeschlossen. Die Staatswerdung Europas ist aber weder Thema des Vertrages von Maastricht noch steht sie auf der Tagesordnung des letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts - auch wenn der jüngste CDU-Parteitag in Hamburg dies erneut ins Auge gefaßt haben mag. Wir können also diese interessanten Fragen an die Seminare abgeben, wer denn als pouvoir constituant für einen solchen europäischen Staat in Betracht kommen könnte oder müßte, und ob überhaupt das durch Art. 79 Abs. 3 GG so sperrige Grundgesetz die Aufgabe der deutschen Staatlichkeit überhaupt zulassen würde. Wie also sollten wir uns auf die ersten beiden Sichtweisen einlassen? 4. Ich denke, beide Sichtweisen sind vertretbar. Sie erfassen beide einen gültigen Ausschnitt aus der Rechtswirklichkeit und unterscheiden sich insoweit, als sie eher vergangenheits- oder eher zukunftsbezogen ausgerichtet sind. Die Mitgliedstaaten verkörpern jeder für sich sicher noch eine einheitliche Rechtsordnung. Sie allein sind souveräne Staaten. Ihre Gliedstellung in der Gemeinschaft läßt ihre nationale Identität im wesentlichen unberührt. Dennoch erscheint heute mehr denn je der traditionelle Nationalstaat kaum mehr als Endzweck oder Schlußstein der Geschichte in Europa 45 • Aber auch die Europäische Gemeinschaft hat zu einer Einheit der Rechtsordnung gefunden, in der die Mitgliedstaaten miteinander verbunden sind. Sie kann indes nicht unbegrenzt aus einer einzigen Legitimationsquelle schöpfen, sondern leitet sich weiterhin von der fortwährenden Legitimation durch ihre Mitgliedstaaten und zunehmend durch deren Völker ab. Bei allen drei der von mir angesprochenen Verfassungsprinzipien zeigte sich die vielfältige Verknüpfung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Einheit in Vielfalt ist hierfür die geläufige und wie ich meine auch zutreffende Formel. Nur die Vielfalt ermöglicht den inneren Wettbewerb der Systeme. Hier liegt der Kern der erfolgreichen europäischen Einigung, der auf viele reale und ideelle Bedingtheiten zurückzuführen ist, die es anderswo in der Welt offenbar nicht gibt. Insgesamt 82 (!) vergebliche Versuche regionaler Integration sind bislang 45

So zuletzt H. Steinberger, Das Grundgesetz auf dem Weg zur Europäischen Einheit,

in: Festschrift Heimrich, 1994, S. 427.

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weltweit gezählt worden. Eine der Ursachen für die vorerst einzig gelungene europäische Einigung ist sicherlich die in langen geschichtlichen Abläufen entwickelte einheitliche europäische Rechtskultur, von der ich angesichts der erstaunlich leichten Verständigung im Recht nicht zögern würde zu sprechen. Wenn also noch keine Einheit in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung festzustellen ist, wenn also noch eine vorerst zu beachtende Dualität der Rechtsordnungen der Gemeinschaft einerseits und der der Mitgliedstaaten andererseits bestehen bleibt, so bleibt uns doch die Feststellung, daß diese Dualität auf einer Einheit der Rechtskultur beruht. Für die Rechtsordnung der Gemeinschaft wird es auch weiterhin so bleiben, daß ihre Einheit nur in Vielfalt bestehen kann. Ius commune Europae - unitas in diversitate. Wollte jemand dies ändern, so würde er die Einheit nie erreichen.