Versuch einer neuen Theorie des Vorstellungsvermögens: Teilband 1. Vorrede. Erstes Buch: Abhandlung über das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens. 9783787319343

Mit seinem ersten Hauptwerk von 1789 schafft Reinhold die Grundlagen für die Auseinandersetzung mit der Kantischen Philo

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Versuch einer neuen Theorie des Vorstellungsvermögens: Teilband 1. Vorrede. Erstes Buch: Abhandlung über das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens.
 9783787319343

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K A R L LEON H A R D R EI N HOLD

Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens In zwei Teilbänden

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

K A R L LEON H A R D R EI N HOLD

Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens Teilband 1: Vorrede. Erstes Buch

Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

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FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 599 a

Bibliographische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über < http://dnb.d-nb.de > abrufbar. ISBN 978 - 3 - 7873 - 1934 - 3

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT © Felix Meiner Verlag 2010. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz. Druck: Strauss, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

IN HALT

Siglen

......................................

VII

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

1. Historische Situierung: Reinhold und der deutsche Idealismus XI | 2. Reinholds Lebensweg bis nach Weimar XXIII | 3. Der Aufklärer und Philosoph Reinhold XXXIV | 4. Reinholds Weg zur kritischen Philosophie XLI | 5. Reinhold ein Kantianer? LVIII | 6. Von Weimar nach Jena LXVI | 7. Reinhold in Jena LXXV | 8. Zur Entstehung des Versuchs LXXXIII | 9. Zum Drucklegungsprozeß des Versuchs XCV I | 10. Die Einteilung des Versuchs CIII | 11. Kurzer Überblick über den Inhalt des Versuchs CXVII | 12. Editorische Hinweise CXXVIII | 13. Nachwort CXXXIII

Reinholds Vorlesungen in Jena . . . . . . . . . . . . . .

CXXXIV

Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . CXXXVIII Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CXLI

K A R L L EON H A R D R E I N HOL D

Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

E RST ES B UCH : Abhandlung über das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens . . . .

47

Von dem Bedürfnisse einer neuen Untersuchung des Vorstellungsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

VI

Inhalt

Über den Erkenntnisgrund der vornehmsten Grundwahrheit der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Erkenntnisgrund der vornehmsten Grundwahrheit der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Erkenntnisgrund der vornehmsten Grundwahrheit der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 66 73

Äußerlich bestimmter subjektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Innerlich bestimmter subjektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Innerlich bestimmter objektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Äußerlich bestimmter objektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Über den ersten Grundsatz des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Was ist unter Vernunft zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Was ist unter Sinnlichkeit zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Was ist unter Erkenntnisvermögen zu verstehen? . . . . . . . . . . . 145

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

SIG LEN

Merkur-Briefe

Versuch

Briefe I

1. Brief : »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft«, in: Der Teutsche Merkur, 1786, 3. Bd., S. 99–127; – 2. Brief : »Das Resultat der Kantischen Philosophie, über die Frage vom Daseyn Gottes«, ebd. 1786, 3. Bd., S. 127–141; – 3. Brief : »Das Resultat der Kritik der Vernunft über den nothwendigen Zusammenhang zwischen Moral und Religion«, ebd. 1787, 1. Bd., S. 1–39; – 4. Brief : »Ueber die Elemente, und den bisherigen Gang der Ueberzeugung von den Grundwahrheiten der Religion«, ebd. 1787, 1. Bd., S. 117–142; – 5. Brief : »Das Resultat der Kritik der Vernunft über das zukünftige Leben«, ebd. 1787, 2. Bd., S. 167–185; – 6. Brief : »Fortsetzung des vorigen. Vereinigtes Interesse der Religion und der Moral bey der Hinwegräumung des metaphysischen Erkenntnißgrundes für das zukünftige Leben«, ebd. 1787, 3. Bd., S. 67–88; – 7. Brief : »Skizze einer Geschichte des p[s](h)ychologischen Vernunftbegriffes der einfachen denkenden Substanz«, ebd. 1787, 3. Bd., S. 142–165; – 8. Brief : »Fortsetzung des vorigen. – Hauptschlüssel zur rationalen Psychologie der Griechen«, ebd. 1787, 3. Bd., S. 247–278. Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789 (zweite, unveränderte Aufl. Jena 1795). Carl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, erster Band, Leipzig 1790.

VIII

Briefe II Beyträge I

Beyträge II

KA

RL

Akad.-Ausg.

Siglen

Carl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, zweyter Band, Leipzig 1792. Karl Leonhard Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, Jena 1790. Karl Leonhard Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Zweyter Band: Die Fundamente des philosophischen Wissens, der Metaphysik, Moral, moralischen Religion und Geschmackslehre betreffend, Jena 1794. Karl Leonhard Reinhold Korrespondenzausgabe der österreichischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth, Kurt Hiller und Wolfgang Schrader, Bd. 1, Korrespondenz 1773–1788, hrsg. von Reinhard Lauth, Eberhard Heller und Kurt Hiller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983 [nach der Sigle wird vor dem Punkt die Bandnummer angegeben, danach die Seitenzahl]. Ernst Reinhold, Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und anderer philosophirender Zeitgenossen an ihn, in 2 Bdn., Jena 1825. Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der preußischen, später deutschen, jetzt Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I: Werke, Bd. 1–9; Abt. II: Briefwechsel, Bd. 10–13; Abt. III: Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 14–23; Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 24– 29, Berlin 1902 ff. [nach der Sigle wird vor dem Punkt die durchlaufende Bandnummer angegeben, danach die Seite].

Siglen

KrV KpV Prolegomena

Fichte-GA

IX

Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft, Riga 1781 (A), ²1787 (B) [zit. nach Akad.-Ausg.]. Immanuel Kant, Critik der practischen Vernunft, Riga 1788 [zit. nach Akad.-Ausg.]. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783 (A) [zit. nach Akad.-Ausg.]. Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth, Erich Fuchs und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Abt. I: Werke; Abt. II: Nachgelassene Werke; Abt. III: Briefe; Abt. IV: Vorlesungsnachschriften [der Sigle folgt die römische Ziffer für die Abt., nach »/« die Nummer des Bandes und nach dem Punkt die Seite].

Abkürzungen im Apparat TMSKP-1

TMSKP-2

ALZ

TM AG-1

TM AG-2

»Ueber das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie«, in: Der Teutsche Merkur, April 1789, 2. Bd., S. 3–37. »Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie«, Beschluß, in: Der Teutsche Merkur, Mai 1789, 2. Bd., Forts., S. 113–135. »Neue Entdeck.«, in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom 25. September 1788, Nr. 231a, Sp. 831– 832. »Allgemeiner Gesichtspunkt einer bevorstehenden Reformation der Philosophie«, in: Der Teutsche Merkur, 2. Bd., Juni 1789, S. 243–274. »Allgemeiner Gesichtspunkt einer bevorstehenden Reformation der Philosophie«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., Juli 1789, Forts., S. 75– 99.

X

BM

NDM1

NDM2

NDM3

TM F

Siglen

»Von welchem Skeptizismus läßt sich eine Reformation der Philosophie hoffen?«, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 14, 7. Stück, Julius 1789, S. 49–72. »Wie ist Reformazion der Philosophie möglich?«, in: Neues deutsches Museum, 1. Bd., 1. Stück, Juli 1789, S. 31–47. »Wie ist Reformazion der Philosophie möglich?«, in: Neues deutsches Museum, 1. Bd., 2. Stück, August 1789, Forts., S. 204–226. »Wie ist Reformazion der Philosophie möglich?«, in: Neues deutsches Museum, 1. Bd., 3. Stück, September 1789, Beschluß, S. 284– 304. »Fragmente über das bisher allgemein verkannte Vorstellungs-Vermögen«, in: Der Teutsche Merkur, Oktober 1789, 3. Bd., S. 3–22.

EI N LEITUN G

1. Historische Situierung: Reinhold und der deutsche Idealismus Zweifelsohne hatten die kantianisierenden Schriften, die Karl Leonhard Reinhold seit 1786 verfaßt hat, eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Deutung und Rezeption der kritischen Philosophie Immanuel Kants. Der 1789 veröffentlichte Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens ( Jena und Prag) ist sein erstes und unter wirkungsgeschichtlicher Hinsicht sicherlich auch wichtigstes Hauptwerk, in dem sich der neue Umgang mit der kritischen Philosophie defi nitiv durchsetzt. Dieses Buch hat der damaligen Auseinandersetzung um die kritische Philosophie nicht nur einen besonderen Impuls gegeben, sondern auch die um 1789 bestehende Diskussionslage gründlich verändert. Anders als in seinen früheren Schriften zur Kantischen Philosophie ist es Reinhold mit diesem Buche nicht mehr darum zu tun, die damals als dunkel und schwerverständlich erfahrene Philosophie Kants von einer anderen Perspektive aus zu erläutern und zu propagieren, sondern vielmehr darum, diese Philosophie aus einem höheren, bzw. höchsten Prinzip zu rekonstruieren, um so ihre Richtigkeit – von der Reinhold freilich überzeugt ist, die Kant seines Erachtens allerdings nicht überzeugend dargelegt hat – auf neue Weise darzutun. Durch genau diese Absicht zeichnet sich der Versuch vor allem aus, was bis dahin zur kritischen Philosophie gesagt und geschrieben worden ist. Der kritischen Philosophie wirft Reinhold vor, sie entbehre eines (ersten) Grundsatzes, aus dem sich ihre an sich richtigen Resultate insgesamt herleiten ließen. Er ist der erste Denker, der Ernst macht mit dem von Kant in Aussicht gestellten, jedoch nicht eigentlich entwickelten »System der Vernunft«.

XII

Ernst-Otto Onnasch

Reinholds neuer Standpunkt ist im Grunde genommen allerdings alles andere als eine folgerichtige Entwicklung aus den Vorgaben der kritischen Philosophie; vielmehr ist er aus seiner eigenen philosophischen Entwicklung zu verstehen und zu erhellen. Das zumindest ist die These, die in den nächsten Abschnitten dieser »Einleitung« vorgestellt und entwickelt werden soll. Jedenfalls hat Reinholds Versuch zur Folge gehabt, daß die kritische Philosophie unter neue Rezeptionsvoraussetzungen gestellt wird, die die kritische Philosophie schließlich zur Propädeutik oder – allerdings notwendigen – Vorstufe des eigentlichen Systems der Vernunft degradieren, welches System freilich der eigentliche Zweck der Philosophie ist. Daß die unmittelbar im Anschluß an den Versuch entwickelte »Elementarphilosophie« schon sehr rasch der Kritik nicht mehr standhält und sich Reinhold auch letztendlich gezwungen sieht, von dem hochgesteckten Ziel abzusehen, die kritische Philosophie aus einem Grundsatz zu rekonstruieren, tut dem enormen Impact seines Unternehmens keinerlei Abbruch. Tatsächlich hat der bloße Versuch eines solchen Unternehmens die damalige philosophische Landschaft auf eine völlig neue Diskussionsebene gestellt. Dies wird im Verfolg noch genauer zu erläutern sein. Vorläufig genügt die Feststellung, daß Reinhold sein Denken sosehr mit der kritischen Philosophie verquickt hat, daß selbst ihr Begründer nicht vorhersehen konnte, welche Wendung die Diskussion um seine Vernunftkritik nehmen würde. – Blicken wir auf die philosophischen Leistungen Kants zurück, tut sich uns eine Größe auf, die sicherlich auch damals empfunden wurde, die allerdings genau besehen niemals die Zeit bekommen hat, zur Blüte zu gelangen. Denn Wirkung beginnt die kritische Philosophie erst seit etwa 1785 zu entfalten, um bereits nach kaum zehn Jahren von ganz anderen philosophischen Programmen abgelöst zu werden. Zu dieser Ablösung hat die Philosophie Reinholds entschieden beigetragen. Der Universität Jena kommt für die Verbreitung der Kantischen Philosophie eine Schlüsselrolle zu (unten werden wir

Einleitung

XIII

hierauf noch ausführlicher zurückkommen).1 Reinholds Ruf 1787 an die Salana markiert einen ersten Höhepunkt mit Blick auf die Rolle, die die Universität bald nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781) in der akademischen Welt spielen wird. Seine Berufung beruht kaum auf Zufall. Denn mit seinen Briefen über die Kantische Philosophie, die in acht Folgen zwischen August 1786 und September 1787 im Teutschen Merkur erscheinen, zeigt er sich als ein Philosoph, der es versteht, die Bedeutsamkeit der kritischen Philosophie auf hervorragende und nicht zuletzt auch auf eine dem Zeitgeist affi ne Art und Weise darzustellen. Karl Ameriks nennt die Merkur-Briefe sogar »the most influential book ever written concerning Kant«2 (in Buchform erscheinen sie erstmals 1789 als Raubdruck) 3. Die Merkur-Briefe hatten weitreichende Folgen für die damalige Rezeption der kritischen Philosophie, nicht zuletzt deshalb, weil sie ihr eine sehr bestimmte Ausrichtung gegeben haben. Obwohl Kant die Merkur-Briefe begrüßt und auch öffentlich gelobt hat,4 entsprechen sie allerdings kaum den eigentlichen 1 Vgl. dazu das wichtige Buch von Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, und den Sammelband Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, hrsg. von Norbert Hinske, Erhard Lang und Horst Schröpfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. 2 Vgl. Karl Ameriks in der neuen englischen Ausgabe der MerkurBriefe, Letters on the Kantian Philosophy, ed. by K. Ameriks, Cambridge 2005, Buchrücken (historisch richtig ist in der »Introduction«, S. IX , von »most influential work« die Rede. Vgl. ferner RL 1.43, wonach den Merkur-Briefen »das bleibende Verdienst« zukomme, »einer bis dahin in der Geschichte der Philosophie und Cultur unerhörten Einwirkung einer philosophischen Theorie auf ihr Zeitalter den Weg zu brechen und zu bahnen.« 3 Karl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie. Zum Gebrauch und Nuzen für Freunde der Kantischen Philosophie gesammelt, bei Heinrich Valentin Bender in Mannheim 1789 (mit einer Vorrede von vier Seiten vom anonymen Herausgeber). 4 Vgl. »Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie« (1788), Akad.-Ausg., 8.183. – Eine Stelle in den Vorarbeiten

XIV

Ernst-Otto Onnasch

philosophischen Intentionen des Königsbergers. Wahrscheinlich hat sich Kant jedoch sosehr darüber gefreut, daß endlich einmal jemand seine neue Philosophie positiv aufnimmt, daß ihm darüber zunächst die Konsequenzen für ihre Rezeption entgangen sind oder er sie einfach unterschätzt hat.5 Es ist in der Tat nicht übertrieben zu sagen, daß um 1790 die allgemeinen Auffassungen über die kritische Philosophie entscheidend von Reinhold mitbestimmt sind. Doch nicht nur diese Auffassungen, auch die sich um diese Zeit ebenfalls anbahnende Polarisierung der Diskussion in Pro- und Anti-Kantianer geht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dessen Konto. So gesehen kann man den historischen Einfluß der Reinholdschen Philosophie mindestens auch so bestimmen, die Philosophie Kants bald zugunsten anderer philosophischer Tendenzen in den Hintergrund der damaligen Debatte gedrückt zu haben. Wenn sich dann der stark von Reinholds Grundlegungsprogramm beeinflußte Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) mit seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) zum nächsten Hammerschlag gegen die kritische Philosophie anschickt, werden sich ihre Rezeptionsverhältnisse so grundlegend ändern, daß selbst wir nur noch schwer in der Lage sind, die Philosophie Kants isoliert von diesen Entwicklungen zu beurteilen. Die eigentlichen Absichten der kritischen Philosophie geraten nach 1795 jedenfalls so stark auf den Hintergrund der Diskussion, daß, wer dann noch kantianisiert, schon nicht zur »Vorrede« der Kritik der praktischen Vernunft legt die Vermutung nahe, daß Kant bereits diese Publikation für ein Lob der MerkurBriefe aufgreifen wollte, vgl. Akad.-Ausg., 21.416, bes. 21.417. Übrigens hat sich Reinhold ein öffentliches Zeugnis von Kant in seinem Brief vom 12. Oktober 1787 erbeten, vgl. KA 1.275. 5 Daniel Jenisch, Diogenes’ Laterne, Leipzig 1799, S. 367, zufolge soll Kant auf die Frage hin, »[w]arum er sich nicht gegen oder wenigstens über Reinhold öffentlich oder im Druck erklärte […] geantwortet haben: Reinhold hat mir zu viel guts gethan, als daß ich böses von ihm sagen wollte.«

Einleitung

XV

mehr zur philosophischen Avantgarde gehört. – Obwohl in der deutschsprachigen Welt die Auseinandersetzung um die Philosophie des Königsbergers um 1800 fast ganz aus der Diskussion verschwunden ist, hat sie die damalige kulturelle und wissenschaftliche Welt dennoch gründlich neu bestimmt und geordnet. Es gibt in der Philosophiegeschichte wohl keinen Philosophen, der in weniger als zehn Jahren der Rezeption dermaßen mächtige und tiefgreifende Auswirkungen hatte wie Immanuel Kant. In der Regel wird Reinholds Einfluß auf die damalige philosophische Welt mehr oder weniger linear über Fichte zu Schelling und Georg Wilhelm Hegel (1770–1831) dargestellt. Die neuesten Forschungsergebnisse zur Frühgeschichte der klassischen deutschen Philosophie zeigen allerdings ein anderes Bild. Reinholds Einfluß auf jene Denker, die wir gemeinhin die deutschen Idealisten nennen, verläuft nämlich über zwei Rezeptionsstränge: der eine führt zu Fichte und der andere ins Tübinger Stift. Dabei ist ferner die Feststellung wichtig, daß sich Fichte erst mit Reinhold beginnt auseinanderzusetzen, nachdem er schon ein ganzer Kantianer ist. Im Stift zeigt sich dagegen das genau umgekehrte Bild, sofern nämlich die Studenten Kant und dann Fichte erst zu rezipieren beginnen, nachdem sie sich eingehend mit Reinhold beschäftigt hatten. Diese historische Differenzierung, wofür die genaueren Hintergründe hier nicht dargestellt werden können, wirft tatsächlich sehr viel mehr Licht auf die immer noch nicht scharf genug erkannte Entwicklungslinie in der klassischen deutschen Philosophie. Diese Linie kann im folgenden nur in ganz groben Zügen nachgezeichnet werden, wobei das Augenmerk außerdem vornehmlich auf Reinholds Philosophie liegt. Bekanntlich hat Reinholds Grundsatzphilosophie so nachhaltig auf Fichte gewirkt, daß sein philosophisches Programm der Wissenschaftslehre ohne sie kaum denkbar ist. Im Frühjahr 1795 schreibt Fichte rückblickend an Reinhold: »Sie haben etwas in die Menschheit gebracht, was ewig in ihr bleiben wird, sowie Kant. Er, daß man von Untersuchung des Subjekts aus-

XVI

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gehen, Sie, daß diese Untersuchung aus Einem einzigen Grundsatz geführt werden müste«.6 Freilich wird Fichte einen ganz anderen Satz für den Grundsatz der Philosophie erklären als Reinhold.7 Fichtes erneuerte Grundsatzphilosophie degradiert nämlich Reinholds sogenannte Elementarphilosophie zu einer, obwohl »höchst nützliche[n] Propädevtik« der Wissenschaftslehre.8 Reinhold konnte damit leben.9

6 Fichte-GA III/2.275. – Die These, daß die Philosophie als Wissenschaft tatsächlich von einem Grundsatz auszugehen hat, vertritt Fichte bereits Ende 1793. In einem Briefentwurf an den Tübinger Philosophieprofessor Johann Friedrich Flatt schreibt Fichte: »was ich vorher wohl schon ahndete daß selbst nach Kants, u. Reinholds Arbeiten die Philosophie noch nicht im Zustande einer Wißenschaft ist[,] hat mein eignes System in seinen Grundfesten erschüttert, u. hat mich, da sich’s unter freiem Himmel nicht gut wohnt, genöthigt von neuem aufzubauen. Ich habe mich überzeugt, daß nur durch Entwikelung aus einem einzigen Grundsatze Philosophie Wißenschaft werden kann, daß sie aber dann eine Evidenz erhalten muß, wie die Geometrie, daß es einen solchen Grundsaz giebt, daß er aber als solcher noch nicht aufgestellt ist: ich glaube ihn gefunden zu haben, u. habe ihn, soweit ich mit meiner Untersuchung bis jezt vorgerükt bin, bewährt gefunden« (Fichte-GA III/2.18). 7 Bereits im März 1794 meldet Fichte kritisch bei Reinhold an, daß dessen Grundsatz der Vorstellung nicht der höchste sein könne. Er kann diesem »die Merkmale eines ersten Grundsatzes, über die wir völlig einig sind, nicht zuerkennen […] Nach mir ist er ein Lehrsaz, der durch höhere Sätze bewiesen, und bestimmt wird« (Fichte-GA III/2.78). 8 Vgl. Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794), Fichte-GA I/2.149, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), FichteGA I/2.262, und Fichte in einem Brief(entwurf) vom 28. April 1795 an Reinhold, Fichte-GA III/2.308 u. 314. 9 In einem Brief vom 14. Februar 1797 erklärt Reinhold gegenüber Fichte, daß seine Elementarphilosophie vielleicht noch einen Nutzen als Propädeutik für die Wissenschaftslehre haben könnte: »Ich glaube, daß die Wissenschaftslehre zwar nicht an und für sich, aber für die Kantianer und Antikantianer einer Brücke bedarf. Vielleicht läßt sich meine weiland Elementar=Philosophie unter einer

Einleitung

XVII

Die andere wichtige, an Reinhold anknüpfende Entwicklungslinie führt ins Tübinger Stift. Eines der ersten einflußreichen Zeugnisse für die Auseinandersetzung mit der Philosophie Reinholds war die kritische Rezension des Versuchs von dem dortigen Philosophieprofessor Johann Friedrich Flatt (1759–1821) in den Tübingischen gelehrten Anzeigen.10 Doch schon Anfang 1789 sind Reinhold und Flatt miteinander über Reinholds Rezension der Flattschen Fragmentarischen Beyträge in der Allgemeinen Literatur-Zeitung in Konflikt geraten.11 Trotz dieser Konfrontationen werden insbesondere Reinholds Versuch und die Briefe über die Kantische Philosophie 12 von Flatt den Studenten in seiner im Sommer 1790 abgehaltenen Metaphysikvorlesung als »vorzüglichste Schriften […] zur Erläuterung« der Kantischen Philosophie empfohlen (und das nur neben Johann Schultzes Erläuterungen)13. Ganz in diesem Sinne schreibt Immanuel Carl Diez (1766–1796) im Juni 1790, es sei Reinholds berichtigten Gestalt als eine Art von Propädeutik dazu gebrauchen.« (Fichte-GA III/3.51) 10 Tübingische gelehrte Anzeigen vom 17. Mai 1790, 39. Stück, S. 306– 312 (auch in Beyträge I, S. 405–412). 11 Fragmentarische Beyträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Caussalität, und zur Grundlegung der natürlichen Theologie, in Beziehung auf die Kantische Philosophie, Leipzig 1788. Reinholds Rezension erscheint in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 3. Januar 1789, Nr. 3, Sp. 18–22. Gegen sie schreibt Flatt eine »Antikritik« in Eberhards Philosophischem Magazin, 2. Bd., 3. St. (1789), S. 384–390. Zu dieser Fehde vgl. Michael Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996, S. 131 ff. und Wilhelm G. Jacobs, Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 153–172. 12 Es ist nicht klar, ob sich Flatt auf die Briefe im Teutschen Merkur bezieht oder auf den Raubdruck, a. a. O., Anm. 3. – Eine erweiterte Buchausgabe der Briefe erscheint unter dem Titel Briefe über die Kantische Philosophie, 1. Bd., Leipzig 1790. Der 2. Bd., ebd. 1792, enthält neues Material. 13 Johann Schultz, Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1784, ²1791 (die vielzitierte Ausg. Frankfurt und Leipzig 1791 ist ein Raubdruck).

XVIII

Ernst-Otto Onnasch

»vortreffliches Buch« – gemeint ist der Versuch –, das ihn mit der Philosophie Kants »familiarisierte«.14 Allerdings warnt Flatt seine Studenten auch, Reinhold als einen orthodoxen Kantianer zu verstehen, sofern er – im übrigen völlig zu Recht – die Eigenständigkeit von Reinholds Position gegenüber der Philosophie Kants hervorhebt:15 In diesem Werke sind manche Kantische Ideen in ein sehr vorteilhaftes Licht gesezt worden. Allein weder ersteres noch lezteres Werk [d. h. der Versuch und die Briefe Reinholds, E.-O.O. ] sind einem, der die Kantische Philosophie zu studirn Lust hat, gleich anfangs zu empfehlen. Es war auch die Absicht des Verfassers nicht, die Kantische Philosophie so, wie sie Kant lehrte, vorzutragen. Man kann vielmehr s[ein]. System als ein eigenes | betrachten, das zwar auf Kantische Resultate führt, aber aus höhren Prinzipien abgeleitet ist. Oft weicht er sogar von Kant wirklich ab, ohne nur eine Fingerzeig davon zu geben. Man muß daher, wenn man sich dieser Schrift als einer Erläuterung der Kantischen bedienen will, zuvor selbst genug mit Kant bekannt sein. – Reinhold wollte allgemeingeltende Principien aufstellen, sein Versuch ist ihm aber nicht ganz geglükt. – 14 Diez, Briefwechsel, a. a. O., Anm. 15, S. 16. In diesem Brief geht Diez übrigens auch ausführlich auf Flatts Rezension des Versuchs ein (siehe oben Anm. 10). 15 Zit. nach der Nachschrift von August Friedrich Klüpfel, UB Tübingen, Sign. Mh II 235, »Metaphysische Vorlesungen von Prof. Flatt im Sommerhalb-Jahr 1790. gehalten.«, S. 13 f. Vgl. auch Flatts Brief an Karl Heinrich Gros vom 12. Februar 1790: »Was denken Sie von Reinholds Theorie pp.? Die orthodoxen Kantianer sollen sehr böse über ihn seyn; u. Kant selbst hat ihm sicheren Nachrichten zu Folge sein Buch, das ihm R. im Ms. zugeschickt hatte, sehr kalt zurückgesandt [was nicht wahr ist, E.-O.O. ]. – Seine Anmaßungen scheinen mir zum Theil lächerlich u. beleidigend zu seyn, und seiner neuerfundenen Prämissen bedarf, glaube ich, die Kantische Kritik nicht.« (zit. nach Immanuel Carl Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen–Jena (1790–1792), hrsg. von Dieter Henrich, Stuttgart 1997, S. 407)

Einleitung

XIX

Willkührliche Unterscheidung, widersprechende Säze kommen nach Flatts gegenwärtigem Urtheil häufig darinn vor. – Auch Kant selbst ist mit diesem Werk gar nicht zufrieden.

Wichtig ist hier die Feststellung, daß weder die Merkur-Briefe noch der Versuch die Philosophie Kants konzise vortragen, sondern daß vielmehr in beiden Werken eigene Wege beschritten werden, die im Grunde genommen nur vor dem Hintergrund der Lektüre der Kantischen Vernunftkritik selbst erhellen. Historisch besonders folgenschwer sollte aber der Hinweis werden, daß Reinholds höhere Grundsätze, aus denen die Resultate der kritischen Philosophie abgeleitet werden sollen, wenig mit den Intentionen der kritischen Philosophie zu tun haben und außerdem, zumindest teilweise, fehlerhaft sind. Diese Beurteilung des Reinholdschen Grundlegungsprogramms wird sich folgenreich auf das Kant-Studium der Stiftler auswirken. In den folgenden Jahren intensiviert sich im Stift die Auseinandersetzung mit Reinhold. So verfaßt Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) im Herbst 1792 für sein Magisterexamen eine Arbeit über Reinhold unter dem Titel Ueber die Möglichkeit der einer Philosophie ohne Beinamen, nebst einigen Bemerkungen über die Reinholdische Elementarphilosophie.16 Historisch entscheidend sollte dann aber der Umstand werden, daß es eine ganze Truppe ehemaliger Stiftler nach Jena verschlägt, wobei besonders Diez und sein Briefpartner Friedrich Niethammer (1766–1848) zu erwähnen sind, die beide auf ihre Weise der Kantischen, aber auch Reinholdschen Philosophie nahestehen. Insbesondere Diez im Bunde mit Johann Benjamin Erhard (1766–1827) sollen – so die Ansicht der neuesten Forschung – Reinholds neuer Theorie so schwer zugesetzt haben, daß die16 Dieses Magisterspezimen ist nicht überliefert. – Wie nachhaltig Schellings Frühphilosophie von Reinholds Vorgaben geprägt ist, zeigt Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen-Jena (1790–1794), in 2 Bdn., Frankfurt/M. 2004, bes. Kap. XVI im 2. Bd.

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ser sich bald nach dem Erscheinen des Versuchs genötigt sieht, schwerwiegende Eingriffe in sie vorzunehmen. Diese These ist allerdings m. E. zu stark angesetzt. Wir werden nämlich noch sehen, daß die systematischen Probleme des Versuchs auf die von der Forschung bisher kaum beachtete Arbeitsweise an dem Buch zurückzuführen sind und daß sich Reinhold dieser Probleme bei seiner Abfassung durchaus bewußt gewesen ist. Die späteren Umdisponierungen innerhalb seines Grundlegungsprogramms sind also nicht nur durch einen externen Anlaß, d. h. durch die Kritik von Diez und Erhard verursacht. De facto hatten allerdings diese Probleme und jene Kritik, die übrigens in freundschaftlichem Verbund hauptsächlich privat mit Reinhold diskutiert wurde, zur Folge, daß die Grundsatzphilosophie um 1792 in Jena kaum noch Anhänger hat. Es mußte deshalb auch ein großes Maß an Verwunderung wekken, als Fichte 1794 nach Reinholds Weggang nach Kiel mit einer neuen und sogar ausdrücklich auf Reinhold fortbauenden Grundsatzphilosophie in Jena auftritt. Man kann Fichte vorwerfen oder auch zugute halten, daß er wenig Ahnung von den damaligen Verhältnissen der akademischen Philosophie hatte. Die in Jena wesentlich intern geführten Diskussionen um Reinholds Elementarphilosophie konnte er nicht kennen, und das wenige, was in Rezensionen oder anderen Veröffentlichungen an den Tag getreten war, hat er offenbar nicht zur Kenntnis genommen und wenn doch, dann nicht in diesem Diskussionskontext verstehen können. Fichtes Begegnung in Zürich mit dem scharfsinnigen und durch die Auseinandersetzung mit der Grundsatzphilosophie in Jena bereits höchst versierten Erhard hat ihn dann auch so sehr überrascht, daß er ihn inständig darum bittet, sich wenigstens vorläufig nicht in Veröffentlichungen mit seiner Wissenschaftslehre anzulegen.17

17 Vgl. Fichtes Brief vom 3. Mai 1794 an seine Frau, Fichte-GA III/2.102.

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Fichtes philosophisches Rüstzeug besteht bei seinem Antritt in Jena tatsächlich aus nicht viel mehr als einer enormen Auffassungsgabe verbunden mit großem Scharfsinn, womit er sich aus den drei Kritiken Kants, besonders den beiden letzten, Reinholds Versuch, den Beyträgen I, der Fundamentschrift 18 und schließlich Gottlob Ernst Schulzes Aenesidemus eine eigene Philosophie zurechtgemacht hat.19 Bedeutsam ist ferner, daß Fichtes 1790 einsetzende Beschäftigung mit Kant eine ziemlich private ist, d. h. sie fi ndet nicht in einem akademischen Umfeld statt, und ferner, daß er schon ein ganzer Kantianer ist, wenn er Mitte oder Ende 1792 erstmals mit Reinholds Philosophie in Kontakt kommt, die ihn übrigens begeisterte.20 Mit anderen Worten: Fichtes Kant-Studien laufen weder über Reinhold, noch über die Ende der 80er Jahre anschwellende Literatur über die Kantische Philosophie, sondern fußen – von allen deutschen Idealisten am stärksten – in der kritischen Philosophie selbst. Das Kant-Studium der jungen Tübinger fi ndet dagegen insbesondere vermittelt durch Schultzes Erläuterungen und besonders Reinhold statt. Dieser nicht nur primäre Zugang zu Kant ist sicherlich mitverantwortlich dafür gewesen, daß die Studenten von Anfang an für mögliche Kritik an Kant sensibilisiert waren. Und obwohl die jungen Tübinger wissen mußten, daß Reinhold kein orthodoxer Kantianer ist, so muß das auch in dem Lichte gesehen werden, daß diese Feststellung von ei18 Karl Leonhard Reinhold, Ueber das Fundament des philosophischen Wissens, Jena 1791. Dieses Buch nennt Fichte in einem Brief vom 1. März 1794 an Reinhold »das Meisterstük unter Ihren Meisterstüken« (Fichte-GA III/2.78). 19 Anonym, Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik, o. O. [Helmstedt] 1792. 20 Vgl. Daniel Breazeale, »Between Kant and Fichte: Karl Leonhard Reinhold’s ›Elementary Philosophy‹«, in: The Review of Metaphysics 35 (1982), S. 785–821.

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ner Schule verteidigt wird, die der kantianisierenden an ganz entscheidenden Punkten geradewegs entgegensteht. Denn die Storrianer in Tübingen verteidigen in der Hauptsache, daß die Religion die Moral begründe und nicht umgekehrt, wie die kantianisierende Schule. Diese philosophisch im übrigen historisch viel komplexere Situation scheint die Stiftler ermuntert zu haben, sich von Anfang an auf eine eher eigenständige Art und Weise zunächst mit Kant und Reinhold und seit 1792 auch mit Fichte zu befassen. Wie gesagt, können diese Feststellungen im vorliegenden Zusammenhang nicht viel mehr als These bleiben.21 Für ein angemessenes Verständnis der frühesten Reinhold-Rezeption ist es jedoch wichtig, diese beiden Rezeptionslinien genau zu unterscheiden; das heißt einerseits die Linie von Reinhold zu Fichte und anderseits die Linie von Reinhold über die Tübinger Kritik zu Schelling und Hegel. Die besonders von der älteren Forschung für den sogenannten deutschen Idealismus behauptete Kontinuität von Reinhold bis Schelling bzw. Hegel ist also dringend der Revision bedürftig. Von der Forschung viel zu stark hervorgehoben sind allerdings auch die vermeintlichen Kontinuitäten zwischen Kant und Reinhold. Viele Interpreten der Weimarer und Jenaer Philosophie Reinholds versuchen diese nämlich von Kants Vorgaben aus zu erschließen. Solche Versuche entstellen aber den wirklichen historischen Sachverhalt, sofern nämlich Reinhold, wenn er erstmals mit der kritischen Philosophie in Kontakt kommt, bereits über ein relativ fest umrissenes philosophisches Profi l und philosophisches Programm verfügt. Diese These soll im folgenden etwas näher herausgearbeitet werden, indem Reinholds philosophischer Entwicklungsgang, seine Auf21 Etwas detaillierter mit Bezug auf Hegels frühe Fichte-Rezeption herausgearbeitet habe ich das in meinem Beitrag »Hegel zwischen Fichte und der Tübinger Fichte-Kritik«, in: Hegel und die Geschichte der Philosophie, hrsg. von Dietmar Heidemann und Christian Krijnen, Darmstadt 2007, S. 171–190.

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nahme und anschließende Verarbeitung der Kantischen Philosophie in Weimar und in den ersten Jenaer Jahren nachgezeichnet werden.

2. Reinholds Lebensweg bis nach Weimar Karl Leonhard Reinhold wird am 26. Oktober 1757 in Wien als ältester Sohn von sieben Kindern geboren (gestorben ist er am 10. April 1823 in Kiel).22 Seine Mutter Franziska, geborene Briedl (oder Bründl, geb. 1731) heiratet am 1. Juni 1755 den Arsenalinspektor Ägidius Karl Johannes Nepomuk (geb. 1724). Der Vater ist im österreichischen Erbfolgekrieg als Subalternoffi zier invalide geworden, weshalb die Kinder unter ökonomisch bescheidenen Umständen aufwachsen.23 Beide Eltern versterben früh, der Vater 1779 und die Mutter 1776. Dem Vater ist sehr an einer guten Bildung seiner Kinder gelegen. Seinen ältesten Sohn läßt er in Wien das Gymnasium besuchen, das er mit vierzehn Jahren mit den besten Zeugnissen verläßt. Bald darauf – im Spätherbst 1772 – wird er Novize im Jesuitenkollegium zu St. Anna in Wien. Nach der Auflösung der Gesellschaft Jesu durch Papst Clemens XIV. wird im September 1773, trotz heftiger Proteste der österreichischen Geistlichkeit beim Papst, auch der Wiener Jesuitenorden 22 Vgl. KA 1. IX. Das immer noch weitverbreitete Geburtsjahr 1758 ist falsch, vgl. dazu auch Hans Gliwitzky, »Carl Leonhards erster Standpunktwechsel«, in: Philosophie aus einem Prinzip – Karl Leonhard Reinhold, hrsg. von Reinhard Lauth, Bonn 1974, S. 10–85, S. 11 bes. auch Anm. 4. Allerdings fi ndet sich das Geburtsjahr 1758 in RL 1.3, in dem Aufnahmeprotokoll der Loge »Zur wahren Eintracht« (das Manuskript ist abgedruckt in KA 1.12), sowie in Reinholds eigenhändigem Lebenslauf im Professorenverzeichnis der philosophischen Fakultät Jena, vgl. Universitätsarchiv Jena, Sign. A 2547a, Dok. 13r. 23 Vgl. den Artikel »Reinhold, Karl Leonhard« in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 25, 1873, S. 222–230, bes. S. 222 f.

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aufgehoben.24 In einem Brief vom 19. September 1773 an den Vater Ägidius schildert der fünfzehnjährige Novize die Ereignisse um die Ordensauflösung mit Befangenheit und großer religiöser Ehrfurcht. Er erfährt sie als »das Racheschwert der Göttlichen Gerechtigkeit«.25 Nach einem kurzen Aufenthalt im elterlichen Haus bittet der junge Reinhold am 17. November 1773 um Aufnahme in den Orden der Barnabiten zu St. Michael. Dieser Orden hatte eine große Tradition, was die Förderung der Wissenschaften betrifft, weshalb diese Wahl sicher etwas über die damaligen Interessen des jungen Reinhold verrät. Sechs Tage später wird er als Novize zum Klerus zugelassen, zunächst im Kolleg St. Martin in Mistelbach, wo er den Ordensnamen Pius erhält, und seit Juli 1775 im Kolleg St. Michael in Wien. Bei den Barnabiten studiert Reinhold, wie es das Curriculum des theologischen Studiums vorschreibt, zunächst drei Jahre Philosophie und anschließend drei Jahre Theologie. Besonders in der Philosophie tritt er als hervorragender Student hervor. Anscheinend werden ihm von der Ordensleitung auch kaum irgendwelche Auflagen gemacht, weshalb er sich in denkerischer Hinsicht frei entwickeln und entfalten kann. Rückblickend spricht er über seine Zeit bei den Barnabiten von einem »unmönchischen, und sowohl durch seine vernünftige Verfassung, als durch seine Verdienste um die Wissenschaften schätzbaren Orden«, in dem er bei seiner »Geistesbildung durchaus kein äusseres Hinderniß, sondern vielmehr die erwünschlichste Musse, nicht nur keine Verfolgung, sondern sogar Aufmunterung und Belohnung gefunden habe.«26 24

Durch das Breve »Dominus ac redemptor noster« vom 21. Juli

1773. 25

KA 1.2. Reinhold, Ehrenrettung der Lutherischen Reformation gegen zwey Kapitel in des K. K. Hofraths Herrn I. M. Schmids Geschichte der Teutschen nebst einigen Bemerkungen über die gegenwärtige katholische Reformation im Oesterreichschen, Jena 1789 [de facto 1788], S. 4 ff. des unpaginierten Vorberichts. 26

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Am 7. August 1780 verteidigt der fast dreiundzwanzigjährige Student öffentlich Thesen aus der gesamten Theologie, womit er sein Studium abschließt. Zwanzig Tage später wird er zum Priester geweiht. Im Herbst geht er als Lehrer für Kirchengeschichte, Mathematik und Eloquentia sacra zurück ans Kolleg St. Martin in Mistelbach, von wo er 1782 ins Wiener St. Michael als Novizenmeister und Lektor der Philosophie zurückversetzt wird. Hier lehrt er »Eloquentiam sacram, Logicam, Metaphysicam, Ethicam, Mathesin ac Physicam« und wird als ein Mann charakterisiert, der »in omnibus suis muneribus« nicht nur eine große wissenschaftliche Bildung zeige, sondern auch religiöse Gesinnung.27 Nach der Auflösung des Jesuitenordens herrscht in Wien ein relativ starker Wolffianismus, insbesondere wie dieser durch Baumgarten vermittelt war.28 Hiervon ist auch Reinhold geprägt. In seinen philosophischen Vorlesungen, die er seit 1780 hält, lehrt er »nach dem leibnizischen Systeme«, was wegen des Zusatzes »und d[en] Schriften des großen Stifters desselben« nur heißen kann, daß er Vorlesungen nicht nur nach Wolff, Baumgarten, sondern auch nach Leibniz selbst hält.29 Außerdem ist an dieser Stelle davon die Rede, er sei zu diesem Zeitpunkt ebenfalls mit der Philosophie »des würdigen Gegners Lockes« vertraut. Seine beachtlichen Kenntnisse der englischen Philosophie, Geschichtsschreibung und Literatur sind ihm von seinem freisinnigen philosophischen und theologischen Ziehvater Paul Pepermann (1745–1788) vermittelt, der seine Jugend in England verlebt hat und seine große Vertrautheit mit der englischen Aufklärung mit seinen Studenten 27 Nach einem Zeugnis von Don Martinus aus Juni 1783, überliefert bei Robert Keil, Wiener Freunde, 1784–1808. Beitraege zur Jugendgeschichte der Deutsch-Oesterreichischen Literatur, Wien 1883, S. 4. 28 Vgl. Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Würzburg /Amsterdam 1982, S. 45. 29 Versuch, S. 51 f.

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teilte. Auf seinen Unterricht gehen auch Reinholds englische Sprachkenntnisse zurück.30 Wie das unter Geistlichen so oft geschieht, hat auch Reinholds Beschäftigung mit der Philosophie verheerende Auswirkungen auf seine Glaubensauffassung. Im Philosophieunterricht wird nämlich bald die Metaphysik zum Schwerpunkt, mit der Folge, daß der junge Dozent »auf dem Felde der Spekulation« die Ruhe des Herzens verliert und sie anschließend »auf allen ihm bekannt gewordenen Wegen vergebens« versucht wiederzugewinnen, wobei der Weg über die Religion selbst offenbar nicht mehr in Frage kommt.31 Spätestens im April 1783 sucht er dann Anschluß bei der Wiener Freimaurerei.32 Dieser Schritt muß wohl auch so verstanden werden, daß er mit Kirche und Religion schon nicht mehr viel für die eigene Seelenruhe und das eigene Leben anzufangen wußte. Er wird in die unter illuminatischem Einfluß stehende Wiener Loge Zur wahren Eintracht aufgenommen. Diese Loge hat sich der Aufklärung und dem Kampf gegen Aberglauben und Schwärmerei verschrieben, die man insbesondere im Mönchtum erblickte. Viele prominente Vertreter des Wiener kulturellen und politischen Lebens gehörten dieser Loge an. Sie galt als »eine Art der Akademie der Wissenschaft«33 im aufklärerischen Geiste. Freilich war Reinholds Logentätigkeit gegenüber der kirchlichen Autorität nur unter Geheimhaltung möglich. Trotzdem scheint er von Anbeginn an ein reges Mitglied zu sein. Seit Juli 1783 hält er mehrere 30 RL 1.16. Von Pepermann sind auch einige Englische Briefe an Reinhold überliefert; er scheint diese jedoch nicht auf Englisch beantwortet zu haben. 31 Versuch, S. 52. 32 Vgl. dazu seinen brieflichen Antrag zur Proponierung an Aloys Blumauer (der Brief ist vor dem 16. April 1783 verfaßt), KA 1.9–12; aufgenommen in die Loge wird er am 30. April 1783, vgl. KA 1.13 Anm. 2. 33 So Friedrich Münster im Jahre 1784 in Hans-Joseph Irmen, Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht« (1781–1785), Frankfurt/M. 1994, S. 15 f.

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Reden, die teilweise in dem von der Zensur nicht so stark geknebelten Journal für Freymaurer veröffentlicht werden.34 Seit 1781, vielleicht aber auch erst seit 1782 verficht Reinhold als Mitarbeiter der einflußreichen Wiener Realzeitung, oder Beiträge und Anzeigen von gelehrten und Kunstsachen, herausgegeben von dem Freimaurer Aloys Blumauer (1755–1798), die aufgeklärten Ziele der josephinischen Kirchen- und Gesellschaftsreform.35 Für die Realzeitung verfaßt er – freilich anonym – eine Vielzahl von Rezensionen und Anzeigen hauptsächlich philosophischer und theologischer Schriften.36 Die unübersehbare 34 Für eine inhaltliche Bewertung dieser Reden vgl. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph. Eine Studie über den Zusammenhang seines Engagements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und philosophischen Wirken, Frankfurt/M. 1994, S. 37–40, und Hans Gliwitzky, a. a. O., Anm. 22, S. 39–41. Die ersten zwei noch erhaltenen Reden Reinholds, nämlich die vom 18. Juli 1783, »Rede über die Kunst des Lebens zu genüssen«, und die vom 5. September 1783, »Der Wehrt einer Gesellschaft hängt von der Beschaffenheit ihrer Glieder ab«, werden von Karianne Marx und dem Hg. unter dem Titel »Zwei Wiener Reden Reinholds. Ein Beitrag zu Reinholds Frühphilosophie« erstmals in kritischer Edition vorgelegt in dem Band Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment, in der Reihe: Studies in German Idealism, Vol. 9, Springer-Verlag, Dordrecht 2009, hrsg. von George di Giovanni (die am 14. August vorgetragene »Rede über die Pfl icht des Maurers sich zu freuen« ist bislang verschollen). 35 Die verschiedenen Aspekte dieser Reformbewegung erläutert auch Zwi Batscha in der »Einleitung« zu Karl Leonhard Reinhold. Schriften zur Religionskritik und Aufklärung 1782–1784, hrsg. von dems., Bremen-Wolfenbüttel 1977, S. 9–93; vgl. auch RL 1.17–19. 36 Für eine Übersicht vgl. KA 1.399–408 und Alexander von Schönborn, Karl Leonhard Reinhold. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 101 ff., welche die nicht ganz fehlerfreien Angaben von Hans Gliwitzky, a. a. O., Anm. 22, S. 68–81 ersetzt; zu den von Reinhold behandelten Themen in seinen Rezensionen vgl. auch ebd. S. 25 ff. und S. 32–38, und Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, a. a. O., Anm. 34, S. 26–32. Nachdrucke der mit »Dr.« signierten, d. h. Reinhold zugeschriebenen Arbeiten bringt Zwi Batscha, Schriften zur Religionskritik und Aufklärung 1782–1784, a. a. O., Anm. 35, S. 113–349.

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Tendenz dieser Beiträge besteht in dem Anspruch, Vernunft und Glauben zu reinigen und so zu wahrer Vernunft und wahrem Glauben zu erheben, bzw. in der Vereinigung von Glauben und Vernunft.37 Besonders scharf wendet er sich gegen Zölibat und Mönchsgelübde.38 Der in Anbetracht der kirchlichen Doktrin stets radikaler denkende und damit nicht zuletzt auch von derselben stets mehr entfremdete Reinhold manövriert sich, so dürfte klar sein, in eine persönlich und geistlich widerspruchsvolle Situation. Aber auch die sich langsam festigende Auffassung, daß seine aufgeklärten Ideale nur unter den Bedingungen des Protestantismus zu verwirklichen sind, wird den jungen Theologen und Philosophen bedrängt haben (hierauf wird unten noch zurückgekommen). Einen Ausweg aus dieser geistig bedrängenden Lage erblickt Reinhold letztendlich nur in der Flucht aus dem Orden und dem katholischen Wien bzw. Österreich.39 Man muß sich heute vergegenwärtigen, daß man sich mit einer solchen Aktion damals in gewisser Weise für vogelfrei erklärte. An eine Rückkehr nach Wien oder Österreich war nicht mehr zu denken, aber auch polizeiliche Übergriffe blieben einem nicht erspart. Es kommt allerdings noch ein nicht ganz unwichtiger Umstand hinzu, weshalb Reinhold den radikalen Entschluß faßt, am 37 In Reinholds »Die Wissenschaften vor und nach ihrer Sekularisation. Ein historisches Gemählde«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., Juli 1784, S. 35–43, wird das Ziel und der Zweck der Aufklärung so bestimmt, daß sie Synthese von Glauben und Vernunft sei. 38 Seine ablehnende Kritik weitet Reinhold später auf den gesamten Mönchsgeist aus, den er in »Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland«, in: Der Teutsche Merkur, 1784, 3. Bd., S. 171–186, Beschluß, S. 246–264, ein »Opiat« nennt – Karl Marx wird ähnliches fast 60 Jahre später für die Religion überhaupt behaupten –, das »allenthalben in den Geist der öffentlichen Anstalten in Österreich eindringt« (S. 185). 39 Offensichtlich bestand für Reinhold nicht die Möglichkeit, sich vom Gelübde dispensieren zu lassen, vgl. dazu seine Darlegungen in »Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutschland«, a. a. O., Anm. 38, bes. S. 250.

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19. November 1783 aus Wien und Österreich zu fliehen. Ihn erläutert Friedrich Schiller (1759–1805) nach seiner ersten Begegnung mit Reinhold. In einem Brief vom 29. August 1787 an Christian Gottfried Körner (1756–1831) schreibt er enthüllend: »Ein Mädchen, das er heirathen wollte, raubte ihn dem geistlichen Stande (welchen Theil seiner Geschichte er mir aber noch schuldig ist)«.40 Daß also eine Frauengeschichte für Reinhold vielleicht der wichtigste Fluchtanlaß gewesen ist, bestätigt auch ein späterer Bericht von Karl August Böttiger (1760–1835), der auf mündliche Informationen der Ehefrau des Jenaer Professors für Poesie und Beredsamkeit Christian Gottfried Schütz (1747–1832) zurückgeht: »Wieland trug Reinholden seine Tochter an, als dieser von seiner geliebten Baderstochter in Wien aus Bigoterie ihrer Eltern losgegeben worden war. Reinhold wollte dieß Wiener Mädchen erst entführen. Aber sie fürchtete den Fluch ihrer Eltern«.41 – Reinholds Flucht ist somit nicht nur eine Sache der Vernunft, das Herz hat dafür eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle gespielt. Und beide miteinander zu vereinen ist, wie wir noch sehen werden, das große Thema seiner frühen philosophischen Arbeiten. Und wenn Reinhold bereits in 1783 schreibt, es gäbe keine Güter, »die wir schlechterdings so wenig veräußern können als unser Leben selbst«42, ist damit sein bald später gefaßter Entschluß schon legitimiert, sich aus den Fesseln des Ordensgelübdes zu befreien. 40 Vgl. Schillers Briefwechsel mit Körner, von 1784 bis zum Tode Schillers, hrsg. von Karl Goedeke, 1. Theil, Leipzig 1874, S. 162. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, a. a. O., Anm. 34, S. 153 Anm. 77, weist auf einen undatierten französischsprachigen Brief, bzw. Gedichtbrief an eine »Tres chere Therese« hin, der im Goethe-Schiller-Archiv Weimar, Bestand Reinhold, Sign. GSA 93/323a, aufbewahrt wird und möglicherweise mit dieser Affäre zusammenhängt. Dieser Brief ist weder aufgenommen in der KA, noch wird er dort erwähnt. 41 Zit. nach KA 1.15 Anm. 4. 42 So Reinhold in einer Rezension in der Wiener Realzeitung vom 11. März 1783, S. 166.

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Im Sommer 1783 besucht der Leipziger Professor für Logik und Theologie Christian Friedrich Pezold (1743–1788) Wien.43 Unterstützt durch einige Vertraute aus der Loge nimmt dieser Reinhold im Morgengrauen des 19. November in seinem Wagen heimlich mit nach Leipzig.44 Dort immatrikuliert sich der Flüchtling am 28. Februar 1784, womit er zugleich das akademische Bürgerrecht erhält, das ihn vor eventuellen polizeilichen Zugriffen aus Wien schützt.45 Er hört die Vorlesung über Logik, Metaphysik und Moral von Ernst Platner (1744–1818) nach seinem bekannten Lehrbuch Philosophische Aphorismen.46 Platner ist zu diesem Zeitpunkt Rektor der Universität und als außerordentlicher Professor der medizinischen Fakultät verbunden. Seit dieser Zeit sind Reinhold und Platner freundschaftlich miteinander verbunden. Anfang der 90er Jahre trübt sich dieses Verhältnis allerdings zunehmend.47 Hieran wird Platners distanzierte Haltung gegenüber der kritischen Philosophie einen Anteil gehabt haben, aber sicher auch dessen Einflußnahme gegen einen Ruf Reinholds nach Kopenhagen, 43 Fichte hat zwischen 1781 und 1784 in Leipzig bei Pezold gehört (vermutlich Dogmatik). Er scheint Fichte auch irgendwie unterstützt zu haben, vgl. Fichte-GA III/1.17. Ironischerweise hat der orthodoxe lutherische Theologe später dem Einfluß der kritischen Philosophie entgegengearbeitet, vgl. etwa De argumentis nonnullis, quibus, Deum esse, philosophi probant, observationes quaedam adversus Imman. Kantium, Leipzig 1787. 44 Zu den äußeren Umständen der Flucht vgl. RL 1.21. Daß die Wiener Loge Zur wahren Eintracht über die Fluchtpläne informiert war, geht aus den Logenbüchern hervor, vgl. KA 1.13 Anm. 2. 45 Vgl. KA 1.15 Anm. 2. 46 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, erster Theil Leipzig 1776, zweiter Theil ebd. 1782. 47 Am 27. August 1790 fragt Platner in einem Brief bei Reinhold nach: »Schreiben Sie mir doch einmal und unter andern auch darüber, ob Sie mich noch lieben.« (Ernst Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1913, S. 356 f.)

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worauf sich Reinhold seit 1790 große Hoffnungen machte. Jedenfalls schlägt der Leipziger Reinhold 1793 noch vor, gemeinsam einen Briefwechsel über die neue Ausgabe seiner Philosophischen Aphorismen zu verfassen.48 Vereitelt wird dieses Unternehmen durch die vernichtende Rezension dieses Buches in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die Platner berechtigterweise Reinhold zuschreibt.49 Von besonderem Einfluß auf Reinhold sind wahrscheinlich die in Platners Lehrbuch ausgebreitete Vorstellungslehre und seine Methode der Philosophiegeschichte gewesen. Platner behandelt Philosophiegeschichte nämlich nicht als bloße Aufreihung von Lehrmeinungen, sondern als systematisch zueinander in Bezug stehende Systeme, weshalb in diesem Zusammenhang auch mindestens ein Ansatz zu einer philosophischen Philosophiegeschichte vorliegt.50 Tatsächlich ist die philosophiege48 Vgl. den Brief vom 21. Oktober 1793 an Reinhold, RL 2.357– 359, bes. S. 358 f. 49 Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 379 u. 380 vom 2. und 3. Dezember 1794, Sp. 473–487. Diese Rez. ist nicht verzeichnet in der Bibliographie von Alexander von Schönborn, a. a. O., Anm. 36, Reinhold bekennt sich allerdings als deren Verfasser, vgl. dazu Reinholds Brief vom 30. März 1796 an Jens Baggesen in: Jens Baggesen’s Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi, 2. Bde., 1. Bd., Leipzig 1831., bes. S. 88 und Alexander Košenia, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, S. 20 Anm. 39 zusammen mit S. 37 Anm. 106. – In 1796 fordert Platner von Reinhold eine öffentliche Ehrenerklärung (die nicht erfolgt), vgl. dazu ebenfalls den Brief an Baggesen. 50 Vgl. dazu besonders Platners Ausführungen in den Philosophischen Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, erster Theil, neue durchaus umbearbeitete Aufl., Leipzig 1784, §§ 862–928, S. 281–323. Die Grundlagen dieser Methode der Philosophiegeschichte sind erstmals von Jacob Brucker (1696–1770) herausgearbeitet, vgl. den Beitrag von Leo Catana, »The Concept ›System of Philosophy‹: The Case of Jacob Brucker’s Historiography of Philosophy«, in: History and Theory 44/1 (2005), S. 72–90.

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schichtliche Auseinandersetzung mit der Philosophie eine der ersten systematischen Neuerungen, die in Reinholds Schriften bald nach seiner Flucht aus Wien auftauchen. In Weimar wird er diese Methode weiter entwickeln, obwohl dabei die Randnotiz zu machen ist, daß diese Entwicklung augenscheinlich nicht besonders bewußt vonstatten geht. Die Methode einer philosophischen Behandlung der Philosophiegeschichte impliziert allerdings letztendlich auch einen Standpunkt, der gewissermaßen über alle anderen Standpunkte steht und diese unter sich vereint; und einen solchen Standpunkt konnte Reinhold leicht in der kritischen Philosophie Immanuel Kants erkennen.51 Ferner scheint Reinhold von Platner den Vorstellungsbegriff aufgegriffen zu haben, weil er diesen in Weimar sehr bald mit seiner aus Wien mitgenommen Auffassung von Aufklärung verbindet. Zwar ist Platners und damit zunächst auch Reinholds Vorstellungsbegriff durch die Vorgaben der leibniz-wolffischen Schulphilosophie geprägt, dennoch ist es schon eine wesentliche Neuerung, wenn Reinhold in 1784 die Auflösung verworrener Begriffe in ihre Merkmale »Aufklärung« und damit »wirkliche Vernunft« nennt.52 Für seinen Lebensunterhalt ist der Flüchtling zunächst von Zuwendungen seitens der Wiener Loge abhängig.53 Ferner ver51 Zu Reinholds kaum untersuchten philosophiegeschichtlichen Auffassungen vgl. Wilhelm G. Jacobs, Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, bes. Kap. 7, S. 152–172, Marion Heinz, »Untersuchungen zum Verhältnis von Geschichte und System der Philosophie in Reinholds ›Fundamentschrift‹«, in: Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds, hrsg. von Martin Bondeli und Alessandro Lazzari, Basel 2004, S. 334–346, und Günter Zöller, »Ancilla sensus communis. Reinhold über Metaphysik und ihre Fortschritte«, in: ebd., S. 347–369. 52 »Gedanken über Aufklärung«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd. vom Juli 1784, S. 3–22, Fortsetzung ebd. im Juli, S. 122–133, Beschluß ebd. im September, S. 232–245, zitiert ist hier nach S. 123. 53 Vgl. Ignaz von Borns Brief vom 19. April 1784 an Reinhold, KA 1.15–19, bes. S. 19. Wahrscheinlich hat er auch 150 Gulden erhalten

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dient er sich etwas Geld mit schriftstellerischen Tätigkeiten für diverse Wiener Zeitungen.54 Als in Wien sein Aufenthalt in Leipzig bekannt zu werden droht, verläßt Reinhold, wiederum unterstützt von seinen Wiener Logenfreunden, Ende April 1784 die Stadt. Auf Fürsprache des Freimaurers und Illuminaten Ignaz von Born (1742–1791) geht er nach Weimar, wo er sich unter den Schutz des in der Loge höchst geschätzten Christoph Martin Wieland (1733–1813) stellt. In Wielands Haus fi ndet der Flüchtling freundliche Aufnahme.55 Reinholds überstürzter Weggang aus Leipzig scheint besonders dadurch motiviert, daß ein Studium an einer lutherischen Universität alle Aussichten auf eine mögliche Rückkehr nach Wien defi nitiv zerschlüge. Für seine Rückkehr setzen sich einige seiner Wiener Freunde ein im Zuge der von Kaiser Joseph II . eingeleiteten Klosterreform, die solche Hoffnungen realistisch machte. Doch geht die Reform an dem Orden der Barnabiten geräuschlos vorbei. Reinhold wird Wien niemals wiedersehen. Die Tür nach Wien verschließt sich ihm endgültig, wenn er im Mai 1784 beim Weimarer Generalsuperintendenten Johann Gottfried Herder (1744–1803) zum Protestantismus konvertiert. Im Juni 1784 nimmt Wieland Reinhold in die Redaktion der von ihm herausgegebenen und sehr erfolgreichen Zeitschrift Der Teutsche Merkur auf.56 In dieser Stellung avanciert er bald zum wichtigsten Mitarbeiter. Im Sommer 1786 erhält er außer(vgl. KA 1.19 Anm. 25), wovon man als Student so gerade eben ein Jahr den Kopf über Wasser halten konnte. 54 Siehe oben die Anm. 34 bis 36. Das Wiener Journal für Freymaurer zahlt Reinhold zwei Dukaten pro Bogen, vgl. KA 1.19. 55 Vgl. RL 1.24. 56 Vgl. Hans Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im 18. Jahrhundert, Berlin 1914, S. 7, und ferner, mit bezug auf Reinhold, Thomas Bach, »Karl Leonhard Reinhold (1757–1823). Philosophie und Kulturmorphologie im ›Teutschen Merkur‹«, in: »Der Teutsche Merkur« – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hrsg. von Andrea Heinz, Heidelberg 2003, S. 254–275.

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dem die Anteile des stillen Mitherausgebers Friedrich Justin Bertuch (1747–1822).57 Diesem Handel vorausgegangen war Reinholds Verlobung und darauffolgende Heirat am 16. Mai 1785 mit Wielands ältester Tochter Sophie Katharina Susanne (geb. am 19. Oktober 1768, gest. am 1. September 1837), auf die sich auch Bertuch Hoffnungen machte.

3. Der Aufklärer und Philosoph Reinhold Reinhold ist einer der ersten, der sich die von dem Prediger Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) im Dezember 1783 aufgeworfene Frage »Was ist Aufklärung?« zu Herzen genommen hat. »Diese Frage, die«, so Zöllner, »beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfi nge!«58 Noch vor Moses Mendelssohn und Kant verfaßt Reinhold für den Teutschen Merkur einen ausführlichen Aufsatz.59 Anders als den beiden großen Denkern zufolge läßt sich nach Ansicht Reinholds keine Defi nition von Aufklärung geben.60 Man kann sich des Ausdrucks »Aufklä57 Vgl. Hans Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur, a. a. O., Anm. 56, S. 168 ff., und ferner KA 1.48 f. Anm. 2 und 4, sowie KA 1.110 Anm. 17. – Bertuch wird sich mit seinem Geld an der extrem erfolgreichen Allgemeinen Literatur-Zeitung beteiligen. 58 Johann Friedrich Zöllner [anonym], »Ist es rathsam, das Ehebündniß ferner durch die Religion zu sancieren?«, in: Berlinische Monatsschrift, 1783, 2. Bd., S. 508–516, S. 516 Anm. 59 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52. – Unabhängig voneinander erscheinen in der Berlinischen Monatsschrift Kants Abhandlung »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung«, 4. Bd., 6. Stück, Dezember 1784, S. 481–494 (=Akad.-Ausg., 8.35–42) und die von Moses Mendelssohns, »Ueber die Frage: was heißt aufklären?«, 4. Bd., 3. Stück, September 1784, S. 193–200. 60 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, Juli 1784, S. 21. – Für eine ausführlichere Darstellung von Reinholds früher Aufklärungsphilosophie vgl. Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, a. a. O., Anm. 28, bes. S. 57–106.

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rung« allerdings zur Beschreibung eines historischen Prozesses bedienen, der »aus vernunftfähigen vernünftige Menschen« macht.61 Obzwar dieser Prozeß in der Menschheitsgeschichte vielleicht niemals zum Abschluß gebracht werden kann, kann und soll ein solcher Prozeß immer dann und überall dort stets aufs neue einsetzen, wenn Aberglauben und Despotismus – »die Bruten der Unwissenheit und des Irrthums«62 – den freien Vernunftgebrauch des Menschen einzunebeln drohen oder gar schon eingenebelt haben. Überhaupt versteht Reinhold den unaufgeklärten Menschen als ein Produkt äußerer, d. h. durch Erziehung und dumpfe Gewohnheit bedingter Umstände, aus welchen ihn letztendlich eine dialektisch wirksame Vernunft befreit (dazu gleich mehr). Den Philosophen kommt dabei die Aufgabe zu, aus den künstlichen Vernunftbegriffen deren natürliche Deutlichkeit zu entwickeln und dem Volke durch deutliche Erklärung beizubringen.63 Ein Volk vermag sich nämlich nicht selbst aufzuklären, wenn es dazu nicht auch angeleitet bzw. gebildet wird. Die Rolle, die Reinhold den Philosophen zuweist, läßt sich allerdings nur dann erfüllen, wenn institutionell die Voraussetzungen für eine solche Bildung geschaffen werden. In dieser Hinsicht vertritt Reinhold ein von Kant sehr verschiedenes Aufklärungskonzept, sofern er nicht den individuellen Vernunftgebrauch ins Zentrum der Aufklärung stellt, sondern eine institutionell geleitete Bildung zur Vernunft. Reinholds Aufklärungskonzept ist das einer von »oben« geleiteten Volksaufklärung. Nun wandelt, worauf hier nur kurz hingewiesen sei, Reinhold mit solchen Maximen in gewisser Weise auf Pfaden, wie sie zum gleichen Zeitpunkt auch von der sogenannten Popular61 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, August 1784, S. 123. 62 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, Juli 1784, S. 20. 63 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, August 1784, S. 128 f.

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philosophie betreten werden. Deshalb haben etwa Max Wundt und viele nach ihm gemeint, Reinholds philosophischer »Ursprung« müsse »aus den Kreisen der Popularphilosophie« erklärt werden.64 Das kann er jedoch nicht. Denn erstens bestehen in seiner Leipziger und Weimarer Zeit weder engere Verbindungen zu noch irgendwelche Auseinandersetzungen mit den Vertretern den sogenannten Popularphilosophie.65 Zweitens ist Reinholds Aufklärungsdenken nachhaltig durch die stark zentralistisch orientierten politischen und kulturellen Auffassungen der österreichischen Aufklärung beeinflußt, die oberflächlich betrachtet tatsächlich einige Übereinstimmungen mit popularphilosophischen Aufklärungsauffassungen haben, doch ursprünglich auf ganz andere Motive zurückzuführen sind. Außerdem muß man feststellen, daß Reinhold seinen Begriff der Popularphilosophie so unpräzise defi niert hat, daß – zumindest seit dem Versuch – so gut wie jeder Gegner der kritischen Philosophie unten ihn fällt.66

64 Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932, S. 180. Wundt attestiert – im übrigen zuunrecht – auch Schütz, »in den Kreis der Popularphilosophie« zu gehören, ebd. S. 144 Anm. 1. Auch George di Giovanni, »Die Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität von 1798 oder Reinhold als Philosoph des gemeinen Verstandes«, in: Philosophie ohne Beynamen, a. a. O., Anm. 51, S. 373–392, verteidigt, Reinhold sei ein Popularphilosoph, allerdings mit der Pointe, er habe die Popularphilosophie nicht verstanden. 65 Eine längst überfällige und vortrefflich gelungene Würdigung der Popularphilosophie hat vor kurzem Christoph Böhr vorgelegt, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003; zum späteren Reinhold siehe ebd. S. 203 ff. 66 Im Versuch, S. 139, spitzt Reinhold die Feder erstmals gegen die »Popularphilosophie« mit dem Zweck, »das synkretistische übelzusammengestoppelte Aggregat unbestimmter vieldeutiger Sätze, mit dem« sie »unter dem Namen eklektischer Weltweisheit prahlt«, mit Stumpf und Stiel auszurotten.

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Nun ist Aufklärung nach Reinhold keine Selbstemanzipation oder, wie nach Kant, eine »Reform der Denkungsart«67, sondern die Folge eines dialektischen Prozesses, der auf natürliche Weise und nicht spontan durch Vernunft zur Emanzipation der Vernunft führt. In Reinholds Worten: »Die Natur hat es zum Besten der Menschheit also veranstaltet, daß sich das Reich der Dummheit selbst zerstören, und der Verfi nsterer der menschlichen Vernunft endlich wider seinen Willen Beförderer der Aufklärung seyn muß«.68 Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Begriff von Natur, sofern es nämlich die Natur ist, aus der die Vernunft nicht nur hervortritt, sondern auch zu diesem Hervortreten auffordert. Die Dialektik besteht nun darin, daß eine völlig abstrakt gewordene Vernunft, also eine Vernunft, die alle Naturverhaftung verloren hat, sich gegen sich selbst kehren muß, sich aufhebt und damit die Vernunft, wie sie aus der Natur lebt und webt, wieder zu Ehren kommen läßt. Mit dieser Methode arbeitet Reinhold nebenbei gesagt jener Methode vor, wie sie fast ein viertel Jahrhundert später in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zum Tragen kommt. Den Hintergrund für Reinholds Aufklärungsdenken bildet, wie Werner Sauer herausgearbeitet hat, die josephinesche Maxime »alles für das Volk, nichts durch das Volk«.69 Sofern Aufklärung jedoch Volksaufklärung ist, muß – um jene Dialektik von einer etwas anderen Perspektive auszuführen –, was dem Volke Gutes getan werden kann, auch immer schon im Volke selbst beschlossen liegen. Folglich kann ein Volk nur soweit aufgeklärt werden, wie es seine natürliche Veranlagung und Empfänglichkeit, mithin das Maß seiner Kultur zuläßt.70 67

Vgl. Akad.-Ausg., 8.36. »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, September 1784, S. 245. 69 Vgl. Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, a. a. O., Anm. 28, S. 68. 70 Vgl. »Ueber die neuesten patriotischen Lieblingsträume in Teutsch land«, a. a. O., Anm. 38, S. 246. – Es ist klar, daß das, was hier Natur oder natürliche Veranlagung heißt, völlig unterbestimmt 68

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Im Prinzip geht es Reinhold also um den Brückenschlag zwischen »künstlicher« Vernunft einerseits und ihrer faktischen Realisierbarkeit anderseits, die ihre Grenzen, aber auch ihre Möglichkeiten in der Volksnatur bzw. Kultur selbst hat. Und damit wären wir bei einem weiteren bedeutsamen Themenkreis des aufgeklärten Denkens von Reinhold angelangt. Denn die Volksnatur ist seines Erachtens durch Religion gebildet, das heißt die Religion ist Bestandteil der natürlichen menschlichen, mithin auch völkischen Veranlagung. Reinholds These ist nämlich – womit er wieder eine wichtige Thematik der Philosophie Hegels vorwegnimmt –, daß die Maximen der Aufklärung letztendlich am tiefsten nur in einem solchen Volke Fuß fassen können, das von den heilsamen Früchten der lutherische Reformation genährt worden ist. Doch es gilt diesbezüglich auch eine Einschränkung zu machen. Denn obzwar die Reformation »eine der wirksamsten Anstalten sey, die Vernunft vom Joche des blinden Glaubens zu erledigen«71, und auch allein durch sie »Geschmack und wissenschaftliche bleibt. Auf diesen Hintergrund erklärt sich dann auch Hegels – und vielleicht auch Schellings – systematisch konsequenter Schritt, die Natur selbst als vernünftig auszuweisen. Ferner kommt in Hegels frühesten philosophischen Arbeiten der Kultur eines Volkes eine wichtige Rolle für seine moralische Entwicklung zu. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Reinholds Aufklärungsphilosophie Hegel beeinflußt, es ist jedoch unbekannt, ob Hegel diese aus direkter Lektüre gekannt hat oder ob er sie von dem Tübinger Repetenten und Reinholdianer Gottlob Christian Rapp vermittelt bekommen hat. Vgl. dazu auch Martin Brecht, »Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Rezeption Kants in Tübingen (1788–1795)«, in: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477–1977, hrsg. von Hansmartin Decker-Hauff, Tübingen 1977, S. 381–428. 71 Vgl. »Ehrenrettung der Reformation, gegen zwey Kapitel in des k. k. Hofraths und Archivars, Hrn. M. I. Schmidts Geschichte der Teutschen, 6. Band«, in: Der Teutsche Merkur, Februar 1786, 1. Bd., S. 116–142, fortgesetzt ebd., S. 193–228, Beschluß im 2. Bd., April 1786, S. 42–80., S. 117.

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Aufklärung in der einen Hälfte von Teutschland einheimisch geworden«72 ist, muß man ebenfalls der Tatsache Rechnung tragen, daß Reinhold auch die Reformation selbst als einen historischen Prozeß versteht, der – genau wie die Aufklärung – seinen Abschluß bislang noch nicht erreicht hat. In der zur Rede stehenden Abhandlung »Ehrenrettung der Reformation« unterscheidet Reinhold zwischen einem Prinzip der Reformation und einem Prozeß der Reformation. Das heißt, wir verdanken der Reformation nicht bloß »das Gute, das sie wirklich gestiftet«, nämlich das Prinzip, »sondern auch, und vorzüglich dasjenige, das sie möglich gemacht hat, und sehen sie daher als die Stuffe zu neuen und ferneren Verbesserungen an.«73 Tatsächlich vermag nach Reinhold nur die protestantische Religion und Theologie »mit dem Gange des menschlichen Geistes gleiche Schritte [zu, E.-O.O.] halten, und als Wissenschaft auf[zu]treten«, weshalb die »katholische ewig Mythologie bleiben« muß.74 Die von der lutherischen Reformation gestiftete Religion ist somit insofern in den Prozeß der Aufklärung hineingenommen, als ein reformiertes Volk vorausgesetzt ist, um die Aufklärung zur höchsten Ausgestaltung zu bringen; und zwar einer solchen Ausgestaltung, nach der sogar die Theologie als Wissenschaft wird auftreten können. Im Prozeß der Aufklärung schreiten Vernunft und Religion Hand in Hand dem Endzweck, nämlich der Vernunftreligion entgegen, »die weder offenbare noch verborgene Widersprüche enthält« – mithin keine Mythologie ist – und über sich keine »Offenbarung« anerkennt, »die nicht an sie selbst [d. h. an die Vernunft, E.-O.O. ] gerichtet, für ihren Gebrauch bestimmt, und folglich ihren Kräften angemessen wäre; sie ist sich ihres ausschliessenden Vorrechtes bewußt, den Ausspruch zu tun, ob, wo, wenn, und durch wen die Gottheit gesprochen

72 73 74

»Ehrenrettung der Reformation«, ebd., 1. Bd., S. 120. »Ehrenrettung der Reformation«, ebd., S. 196. »Ehrenrettung der Reformation«, ebd., S. 215.

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hat.«75 Deshalb auch besitzt die protestantische Theologie »das Ausschliessende Recht der Vernunft[,] über den Bibelsinn zu entscheiden, […] mit dessen Anerkennung der ganze Protestantismus steht oder fällt.«76 Angesichts solcher Positionen nimmt es kaum wunder, daß sich Reinhold bald den von der Kantischen Philosophie gestifteten »heilsamen Revolutionen« aufschließen wird.77 Dazu getrieben wird er durch die widerstreitenden Ergebnisse des Ende 1785 ausbrechenden Pantheismusstreits mit dem zentralen Streitpunkt, ob der Vernunftgebrauch bestimmte Grenzen in bezug auf Religionssachen kenne oder nicht.78 Reinhold zufolge kann allein die Kantische Philosophie das Bedürfnis nach einer Lösung dieses Widerstreites befriedigen.79 Das Kantische »Evangelium der reinen Vernunft« hat nämlich »den Einzigen Erkenntnißgrund« festgesetzt, »der von Moral zur Religion

75 Nach der anonym erschienenen Schrift Reinholds Herzenserleichterung zweyer Menschenfreunde, in vertraulichen Briefen über Johann Caspar Lavaters Glaubensbekenntnis, Frankfurt / Leipzig 1785, S. 13 f. 76 So Reinhold im ersten Merkur-Brief, S. 101. 77 Die Rede von der »Revolution«, welche die kritische Philosophie Kants gestiftet hat und die »eine neue Epoche der Philosophie« einleitete, ist erstmals von Christian Gottfried Schütz verwendet in seiner Rezension von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, die am 7. April 1785 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erscheint. 78 Zu den Hintergründen des Pantheismusstreits siehe etwa Frederick C. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge, Mass. 1987, S. 44–126. Für die Bedeutung des Streites für Reinhold vgl. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, a. a. O., Anm. 34, S. 64–70. 79 Vgl. dazu etwa auch Reinholds Brief an den Weimarer Regierungsrat Voigt von November 1786: »Der kantische Vernunftglauben allein erfüllt einerseits die gerechten Forderungen, und weist andererseits die übertriebenen Ansprüche der beyden streitenden Parteyen ab; indem er die eine nöthiget die Scheingründe ihres vorgeblichen Wissens fahren zu lassen, die andere – aber die wahren Gründe ihres Glaubens in der Vernunft allein aufzusuchen.« (KA 1.154)

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durch den Weg der Vernunft führt«.80 Doch bis zu diesem Bekenntnis zu Kant führt unseren Philosophen zunächst ein Weg gegen Kant.

4. Reinholds Weg zur kritischen Philosophie Im Januar 1785 erscheint in der gerade gegründeten Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung eine kritische Rezension des im Vorjahr erschienenen ersten Teils von Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784).81 Obwohl die Rezension dem Verfahren dieses Organs entsprechend anonym erscheint,82 weiß Herder sehr bald, wer ihr Verfasser ist, nämlich sein ehemaliger Lehrer Immanuel Kant.83 Kants mindestens aus seiner Sicht sachliche Kritik trifft in der Tat einige erhebliche Schwachstellen der Ideen. Dennoch ist Herder über die Rezension höchst aufgebracht; und nur unter erheblichem äußerlichem Druck hat er sich davon abbringen lassen, selbst gegnerisch auf sie zu antworten. Das hat ihn al80

Dritter Merkur-Brief, S. 39. Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 4 vom 6. Januar 1785, Sp. 17–20, auch in Akad.-Ausg., 8.45–55. 82 Über die Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung und ihre Bedeutung für die Verbreitung der kantischen Philosophie in Deutschland ist jetzt grundlegend Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit, a. a. O., Anm. 1, bes. Kap. III für den hier zur Rede stehenden Zeitabschnitt; für Kants Tätigkeit als Rezensent vgl. S. 133 ff. 83 Daß Kant der Autor dieser Rezension ist, weiß Herder spätestens seit Mitte Februar, wie Herders Briefe an Hamann und Jacobi belegen, vgl. Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 1979, 5. Bd., S. 104 ff. und 108 ff. Übrigens empfand Herder auch Kants kurz vorher – unter eigenem Namen – erschienenen Aufsatz »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, 4. Bd., 11. Stück, S. 385–411 (Akad.-Ausg., 8.17–31) als Angriff auf seine Ideen. – Herder studierte von 1762 bis 1764 in Königsberg und pflegte freundschaftlichen Umgang mit Kant. 81

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lerdings nicht daran gehindert, einen anderen, ihm wohlgesonnenen Verteidiger für seine Sache zu gewinnen, nämlich den Schützling seines Freundes Wieland. Reinhold hat sich des Geschäfts einer Gegenrezension wohl nicht nur deswegen angenommen, weil er die Ideen bereits im Anzeiger des Teutschen Merkur günstig besprochen hat,84 sondern offenbar auch deshalb, weil er dem im Hause Wielands sehr geschätzten Herder gern einen Gegendienst beweisen wollte. Außerdem darf man davon ausgehen, daß Reinholds damaliges Bild der Kantischen Philosophie durch Herders ablehnende Haltung beeinflußt gewesen sein wird.85 Seine überaus kritische Haltung gegenüber der Kantischen Philosophie wird der Hofprediger anläßlich der geselligen Treffen im Hause Wielands sicher unverblümt thematisiert haben, weshalb Reinhold zweifellos damit vertraut war. Es gibt jedoch auch philosophische Gründe, weshalb Wielands Protegé die Ideen interessant fi nden konnte. Ihr Hauptmotiv ist nämlich, daß in der Natur bestimmte organische Kräfte vorwalten, die diese zur Hervorbringung des Menschen als Krone der Natur vorangetrieben hat. Dieser Nachdruck auf eine naturverbundene Prozessualität liegt, wie oben gesehen, in gewisser Weise auch dem Reinholdschen Aufklärungskonzept zugrunde. Denn diesem zufolge bilden die natürlichen Möglichkeiten eines Volkes die Grundlage für den Erfolg und das Ausmaß möglicher Aufklärung. Dennoch sollte man diese Übereinstimmung auch wieder nicht überbewerten, denn schon in seiner Anzeige der Ideen im Teutschen Merkur 84

Anzeiger des Teutschen Merkur, 1784, 2. Bd., S. LXXXI–LXXXIX . Vgl. Kurt Röttgers, »Die Kritik der reinen Vernunft und K. L. Reinhold. Fallstudie zur Theoriepragmatik in Schulbildungsprozessen«, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Teil II/1, hrsg. von Gerhard Funke und Joachim Kopper, Berlin / New York 1974, S. 789– 804, S. 793, ferner Günter Arnold, »Herder und die Philosophen des deutschen Idealismus nach den biographischen Quellen«, in: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, hrsg. von Marion Heinz, Amsterdam /Atlanta 1997, S. 189–202. 85

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fragt Reinhold, wie jene organischen Kräfte genau zu verstehen sind.86 Jedenfalls wird er Herders spinozistisch inspirierter natura naturans kaum zugestimmt haben können, zumal ja seiner Ansicht nach die natürlichen Bedingungen des Menschen in der konkreten Religion ihre Beschränkung finden und nicht, wie bei Herder, in Gott selbst. Kritisches Potential gegen Herder ist somit schon da, das Kants Herder-Kritik schließlich noch nähren wird. Unmittelbar nach dem Erscheinen von Kants Rezension der Ideen veröffentlicht Der Teutsche Merkur im Februar 1785 anonym eine Gegenrezension von Reinholds Hand unter dem Titel »Schreiben des Pfarrers zu *** an den H[erausgeber]. des T[eutschen]. M[erkur]. Ueber eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«.87 In ihr lobt Reinhold einerseits Herder, die »ungeheure Kluft […], die unsre Metaphysik von der Geschichte, unsre Spekulation von unsern Erfahrungen trennt […] auszufüllen«88, nämlich die erkenntnistheoretische Kluft zwischen apriorischer und empirischer Erkenntnis, die Herder zufolge – was Reinhold auch positiv an den Ideen hervorhebt – nur vom Konkreten her, d. h. aus Erfahrung und in Analogie mit der Natur zu überbrücken ist. Anderseits bezichtigt er Kant in seiner Gegenrezension der »metaphysischen Orthodoxie«, besonders weil er Herders neue Idee einer organischen Kraft so vehement und seines Erachtens

86

A. a. O., oben Anm. 84, S. LXXXIX . Der Teutsche Merkur, 1785, 1. Bd., S. 148–174 [auch in Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991, S. 119–132]. – Zum Titel der Rez. vgl. Alfred Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie. Eine Studie über den Ursprung des spekulativen deutschen Idealismus, Hamburg 1958, S. 7. – Einen umfassenden Bericht über das Verhältnis Kant-Herder-Reinhold bietet Martin Bondeli, »Von Herder zu Kant, zwischen Herder und Kant, mit Herder gegen Kant – Karl Leonhard Reinhold«, in: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, a. a. O., Anm. 85, S. 203–234. 88 »Schreiben des Pfarrers zu ***«, ebd., S. 159. 87

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auch unberechtigt kritisiert.89 Das Motiv für das besondere Interesse, das Reinhold an Herders Ideen hat, scheint somit in ihrem Anspruch zu liegen, das polare Verhältnis von Metaphysik und Geschichte, bzw. von Apriorischem und Aposteriorischem vereinigt zu haben. Und genau dieses Motiv hat Reinholds späteres Denken tiefgreifend mitbestimmt. Anfang 1785 besitzt Reinhold noch keine genaueren Kenntnisse der kritischen Philosophie. Aus seiner Gegenrezension ist leicht ersichtlich, daß er das Neue der Kantischen Philosophie nicht einmal auch nur ahnt. Er hält Kants Denken für eine Metaphysik nach leibniz-wolffischem Zuschnitt. Allerdings ventiliert er diese Charakterisierung, sofern sie kritisch gemeint ist, auch mit Vorsicht; möglicherweise deshalb, weil er wußte, gegen wen er es aufnahm, und nicht wußte, was dessen Philosophie genau beinhaltet. Jedenfalls wird das »Schreiben eines Pfarrers zu ***« nicht ganz unzutreffend – vor allem deshalb, weil das dem Naturell seines Verfassers entspricht – in der Literatur auch als ein »Versöhnungsversuch« zwischen Kant und Herder gedeutet.90 89 Vgl. »Schreiben des Pfarrers zu ***«, ebd., S. 164. – Es sei hier allerdings darauf hingewiesen, daß Kant um 1798 in seinem »Übergangswerk«, bekannter unter dem Titel Opus postumum, die Idee einer organischen Kraft auf produktive Weise wieder aufnimmt, vgl. etwa Akad.-Ausg., 22.252, 300, 373. Inwiefern er damit auf Herder zurückgreift, ist bislang noch nicht untersucht. – Bei Martin Bondeli, »Von Herder zu Kant«, a. a. O., Anm. 87, wird nicht mitgeteilt, daß das Theorem der organischen Kräfte nicht nur bei Kant, sondern auch bei Herder informiert ist durch Johann Friedrich Blumenbach, Ueber den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781, ²1789 (die beiden Hauptteile des Buches erscheinen separat im Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur unter dem Titel »Ueber den Bildungstrieb (nisus formativus) und seinen Einfluss auf die Generation und Reproduction«, 1. Bd., Nr. 5 (1780), S. 247–66, und »Ueber eine ungemein einfache Fortpflanzungsart«, 2. Bd., Nr. 1 (1781), S. 80–89). 90 So Kurt Röttgers, »Die Kritik der reinen Vernunft und K. L. Reinhold«, a. a. O., Anm. 85, S. 793.

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Bald ist nun auch Kant darüber informiert, wie aufgebracht Herder auf seine Rezension reagiert hat,91 aber auch darüber, daß in Weimar inzwischen jeder weiß, wer der Verfasser der »boshaften« Rezension der Ideen ist. Nun war Herder ein politisch mächtiger Mann, dessen Urteil, insbesondere auch in Angelegenheiten, die die Jenaer Universität betreffen, dem Weimarer Herzog Carl August (1757–1828) wichtig war. Und weil zu dieser Zeit an der Salana mit vielem Geschick die Etablierung der Kantischen Philosophie vorangetrieben wird, ist es mehr als verständlich, weshalb der Königsberger in dieser Angelegenheit plötzlich vorsichtiger verfährt. Er greift Reinholds Gegenrezension dazu auf, sich mit Herder so gut es noch geht zu versöhnen. Seine Antwort auf das »Schreiben des Pfarrers zu ***« erscheint im März 1785 in der Allgemeinen LiteraturZeitung,92 und sein Urteil ist ausnehmend milde, ja fast freundlich (über Reinholds Verfasserschaft war Kant durch Schütz aufgeklärt) 93. Geschickt geht der Königsberger darüber hinweg, daß es seine Philosophie war, die von Reinhold als orthodoxe Metaphysik an den Pranger gestellt wurde, indem er einwendet: »Der Pfarrer zankt in seinem Schreiben viel mit einem Metaphysiker […] Der Recensent [nämlich Kant, E.-O.O.] kann sich diesen Zank recht wohl gefallen lassen, denn er ist hierin mit dem Pfarrer völlig einerlei Meinung«.94 Mit andern Worten ist Kant mit Reinhold ganz einer Meinung, daß die Karikatur, die dieser von der kritischen Philosophie gemacht 91 Vgl. etwa die Bemerkung von Christian Gottfried Schütz in einem Brief vom 18. Februar 1785 an Kant: »Hr. Herder soll indessen sehr empfi ndlich darüber [die Rezension, E.-O.O. ] gewesen seyn. Ein junger Convertit Nahmens Reinhold, der sich in Wielands Hause zu Weimar aufhält, und bereits im Mercur eine gräuliche Posaune über Herders Werke angestimmt hatte, will gar eine (si diis placet) Widerlegung Ihrer Recension in dem Februarstück des d. Mercur einrükken.« (Akad.-Ausg., 10.398) 92 Jetzt in Akad.-Ausg., 8.56–58. 93 Siehe oben Anm. 91. 94 Akad.-Ausg., 8.56.

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habe, tatsächlich nichts als »orthodoxe Philosophie« sei. Doch auch mit Herder verfährt Kant nun äußerst gemäßigt. Er fordert ihn nur noch dazu auf, »zu leisten, was der Titel versprach, welches man denn auch von seinen Talenten und seiner Gelehrsamkeit zu hoffen Ursache hat.«95 Kants Rezension des zweiten Teils der Ideen für die Allgemeine Literatur-Zeitung ist im Vergleich zur ersten Rezension ein lascher Abklatsch; in Kants eigenen Worten eine »trockene Anzeige […] des Inhalts, nicht Darstellung des Geistes von diesem Werke.«96 Infolge seiner Rezensionstätigkeit für die Allgemeine LiteraturZeitung ist Kant offenbar klar geworden, sich damit in eine Lage zu begeben, die der Verbreitung seiner Philosophie nicht gerade förderlich ist und diese unter Umständen auch stark behindern könnte. Und genau dieser Verbreitung galt zu dieser Zeit Kants Hauptinteresse. Wie gesagt rezensiert er zwar noch den zweiten Teil der Ideen, versucht sich aber im September 1785 von dem ein Jahr zuvor – und wie es scheint begeistert – eingegangenen Engagement für die neue Allgemeine LiteraturZeitung beim Herausgeber Schütz zu lösen. Durch Erfahrungen weiser geworden, setzt der Königsberger ab jetzt verstärkt auf die Strategie, seine Philosophie durch die Rezensionstätigkeit anderer Autoren zu fördern.97 In seinem überaus behutsamen Taktieren in der Angelegenheit um seine Herder-Rezension zeigt sich Kant als jemand, der die politischen Konstellationen und nicht zuletzt auch die Gefahren, die daraus für seine – wie man bedenken muß – kaum vier Jahre alte kritische Philosophie erwachsen könnten, genau im Auge hat und auch einzuschätzen weiß, wann und wo es gilt zurückzustecken. Denn sicherlich hat sein geflissentliches Auftreten das drohende Schisma abgewendet, das latent exi95

Akad.-Ausg., 8.58. Akad.-Ausg., 8.60. 97 Vgl. dazu Werner Stark, »Kant und Kraus. Eine übersehene Quelle zur Königsberger Aufklärung«, in der Reihe: Kant-Forschungen, 1. Bd., Hamburg 1987, S. 165–200, bes. 170 ff. 96

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stieren mußte zwischen der sich gerade als prokantisch profi lierenden Jenaer Universität einerseits und der Weimarer Humanitätsphilosophie anderseits, der sich die mächtigen Weimars verschrieben hatten, wie Johann Wolfgang von Goethe (1749– 1832), Herder und nicht zuletzt Herzog Carl August selbst. Der Schaden für die Verbreitung der kritischen Philosophie wäre tatsächlich kaum auszudenken gewesen, wenn in dem Streit zwischen Kant und Herder persönliche Interessen die Oberhand gewonnen hätten. Daß die Angelegenheit letztendlich nicht zu einem offenen Streit geführt hat, ist ohne jeden Zweifel als ein großes historisches Glück zu werten, woran nicht zuletzt auch das umsichtige Vorgehen Reinholds entscheidend beigetragen hat. Wie gesagt ist es ein wichtiges Anliegen der Reinholdschen Gegenrezension, der Metaphysik das Eigenrecht zu bestimmen, ohne damit der leibniz-wolffischen Metaphysikauffassung das Wort zu reden. Diese Philosophie ist ihm tatsächlich schon in Wien suspekt geworden. Es stören ihn an ihr insbesondere die hohlen Abstraktionen, durch die diese Metaphysik für das gemeine menschliche Leben im Grunde genommen unbrauchbar geworden ist. Die Metaphysik und mit ihr die Philosophie ist zur reinen Schulweisheit verworden, fernab vom gewöhnlichen Leben. In einer solchen Beurteilung, die auch den damaligen akademischen Philosophiebetrieb tangieren, schwingen freilich auch die Leitsätze der sogenannten Popularphilosophie mit, insofern auch Reinholds Spitze gegen die leibnizwolffische Schulphilosophie ist, sie habe sich von den »individuellen Empfi ndungen, den Triebfedern aller Thätigkeit des Menschen«98 weit entfernt, weshalb sie sich nur noch in lebensfremden Abstraktionen ergießt. Trotzdem gibt es, wie schon gesagt, keinen Grund, hier an eine konkrete Beeinflussung insbesondere durch die Göttinger Popularphilosophie zu denken, die dem englischen Empirismus und schottischen common sense nahesteht. Denn Reinhold wird seine Kritik in nuce bereits in 98

»Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, S. 5.

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Wien entwickelt haben. Wichtig für seine kritische Einschätzung der Schulphilosophie und damit auch für seine spätere Hinwendung zu Kant scheint jedenfalls zu sein, daß ihn der Königsberger in genau dieser Diagnose der leibniz-wolffischen Schulphilosophie bestätigt. In seiner Antwort auf das »Schreiben des Pfarrers zu ***« ist er nämlich einer Meinung mit Reinhold, sofern auch seinem Dafürhalten nach die »Materialien zu einer Anthropologie« nicht in der abstrakten Metaphysik der Schulphilosophie, sondern nur in den »Handlungen« des Menschen gesucht und gefunden werden können.99 Freilich muß Reinhold die kritische Pointe, die in dieser Bemerkung auch liegt, noch entgehen, da er ja zu diesem Zeitpunkt wie gesagt noch nicht mit Kants Philosophie vertraut ist. Jedenfalls ist Reinholds Metaphysikkritik scharf von der Metaphysikkritik der Popularphilosophie abzugrenzen. Obwohl auch letztere ihren Ursprung in der Kritik an der »verakademisierten«, d. h. abstrakt gewordenen leibniz-wolffischen Schulphilosophie hat, weshalb diese das Potential eingebüßt habe, noch sein zu können, was sie zuerst sein soll, nämlich Philosophie für die Welt und den Menschen,100 so ist die Stoßrichtung der Popularphilosophie dennoch eine ganz andere als die Reinholds. Ihm geht es nämlich darum, Metaphysik und Empirie miteinander zu vereinen. Und durch diese Pointe unterscheidet sich sein Ansatz grundlegend von der Popularphilosophie, die die Lösung für die philosophischen Probleme in der Popularisierung, d. h. Vermenschlichung der Metaphysik sucht. Diese synthetisierende Grundvision Reinholds zeigt sich bereits anläßlich der Anzeige der Herderschen Ideen im Teutschen Merkur, sofern er hier die spinozistisch inspirierte Maxime »Alles in Einem und Eines in Allem zu sehen« positiv hervorhebt.101 99

Akad.-Ausg., 8.56. Vgl. dazu Christoph Böhr, Philosophie für die Welt, a. a. O., Anm. 65, S. 19 ff. 101 A. a. O., Anm. 84, S. LXXXVI . 100

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Obwohl er sich auch bald wieder von den aus der Parteinahme für Herder erwachsenen spinozistischen Prämissen lösen wird, bleibt in seinem Denken diese vereinigende Grundvision vorherrschend. Sie manifestiert sich brieflich im November 1786 mit dem Bestreben, einen Frieden auf dem Gebiet der Philosophie stiften zu wollen, indem er die verschiedenen und einander widerstreitenden philosophischen Systeme nicht nur auf ihre jeweiligen Grundannahmen zurückführt, sondern deren Einseitigkeit auch von einer systematisch höheren oder grundsätzlicheren Ebene her beansprucht darzutun und einsichtig zu machen.102 Diese Verfahrensweise basiert – vermittelt über Platner – im Grunde genommen auf der von dem Philosophiehistoriker Jacob Brucker (1696–1770) erstmals, obzwar noch im Ansatz entwickelten Methode einer philosophischen Philosophiegeschichtsschreibung, die den Systemcharakter der einzelnen Philosophien zum Ausgangspunkt und Gegenstand der Beschreibung nimmt. Reinhold vollzieht dann erstmals den weiteren Schritt, daß auch der Standpunkt, von dem aus die philosophiehistorische Beschreibung vorgenommen wird, ein System sein muß, allerdings ein solches System, aus dem die Grundsätze der beschriebenen Philosophien deshalb erhellen, weil diese in jenem »Metasystem« der Philosophie als seine eigenen, obzwar noch einseitigen Momente einleuchten. Doch hiermit sind wir schon einen Schritt weiter in der philosophischen Entwicklung Reinholds, die bereits Kantische Ideen voraussetzt. Mitte der 80er Jahre geht es ihm vornehmlich noch darum, das eigene Recht der Metaphysik durch eine an der Erfahrung orientierte Metaphysik zu bestimmen, ohne damit die Eigenansprüche der Vernunft und den apriorischen Charakter der Metaphysik aufzugeben. Der Schriftwechsel über Herders Ideen konnte Reinhold kaum irgendwelche tieferen Einsichten in die kritische Philosophie bieten. Für eine Beschäftigung mit ihr ist deshalb An102 Vgl. Reinholds Brief vom November 1786 an von Voigt, bes. KA 1.147.

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fang 1785 nur eine, obzwar nicht ganz unwichtige Bedingung eingelöst, daß Reinhold es durch Kants Antwortschreiben einerseits mit dem Begründer der kritischen Philosophie selbst zu tun bekam, der ihn anderseits aber auch nicht schwer attakkiert oder gar kränkt, sondern ihn vielmehr durch behutsame und teilweise auch geschickte Formulierungen dazu einlädt, sich näher mit seiner kritischen Philosophie zu befassen. Letzteres wird noch etwas dauern. Reinhold schreibt nämlich in seinem ersten Brief vom 12. Oktober 1787 an Kant,103 seine Beschäftigung mit der kritischen Philosophie sei veranlaßt durch Christian Gottfried Schütz’ ausführliche Rezension der Kritik der reinen Vernunft, zusammen mit den Prolegomena und Johann Schultzes Erläuterungen, in den Juli-Nummern der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1785.104 In diesem Zusammenhang muß man sich allerdings auch vergegenwärtigen, daß Anfang 1785 noch kaum eine nennenswerte öffentliche Auseinandersetzung mit dem neuen Denken aus Königsberg existiert.105 Die einzige 103 Vgl. KA 1.270–276, bes. S. 271 f. (= Akad.-Ausg., 10.497–500, bes. 498), vgl. dazu auch Versuch, S. 51. 104 Allgemeine Literatur-Zeitung von 1785, Nr. 162, Sp. 41–44; Nr. 164, Sp. 53–56; Nr. 178, Sp. 117–118; Nr. 179, Sp. 121–124 und 125–128 [auch in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, a. a. O., Anm. 87, S. 147–182]. Zu Schütz’ Verfasserschaft der Rezension vgl. Kants Brief an ihn vom 13. September 1785, Akad.-Ausg., 10.406–407 mit den Anmerkungen in Akad.-Ausg., 13.148. Zu den Hintergründen dieser Rezension vgl. Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit, a. a. O., Anm. 1, bes. S. 257–272. – Meines Erachtens ist es aus den angegebenen Gründen unwahrscheinlich, daß Reinhold, wie Alessandro Lazzari meint, der – wie man tatsächlich zugeben muß – mit der Kantischen Philosophie vertraute Verfasser der Rezension der zweiten Auflage des ersten Teils von Ernst Platners Philosophischen Aphorismen ist, die am 2. September 1785 in der Allgemeinen LiteraturZeitung erscheint, Sp. 265–267, vgl. »Zur Genese von K. L. Reinholds ›Satz des Bewußtseins‹«, in: Philosophie ohne Beynamen, a. a. O., Anm. 51, S. 21–38, bes. S. 25–27. 105 Hiermit soll keineswegs behauptet werden, daß es vor 1785 keine nennenswerte Rezeption der Kantischen Philosophie gegeben

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große Publikation sind die im Vorjahr erschienen Erläuterungen des Königsberger Hofpredigers Johann Schultz (1739–1805). Der Einfluß dieses Kommentars auf das damalige Kant-Verständnis kann in der Tat nicht hoch genug veranschlagt werden.106 Auch Reinhold hat ihn zweifelsohne für seine ersten Kant-Studien herangezogen. Im Spätsommer 1787 empfiehlt er ihn auch seinem Schwiegervater zur Einführung in die Kantische Philosophie,107 was darauf hindeutet, daß er auch selbst viel Vorteil aus der Lektüre gezogen hat. Nun scheint Reinhold anfangs nicht besonders viel von Kants erster Kritik verstanden zu haben. Denn rückblickend auf Schütz’ Rezension schreibt er in seinem ersten Brief an Kant, daß »das einzige Morceau das mir aus dem ganzen in der Litteraturzeitung gelieferten Auszuge Ihres Werkes verständlich war«, der »von Ihnen entwickelte moralische Erkenntnißgrund der Grundwahrheiten der Religion« gewesen sei.108 Nun erstreckt sich dieses »Morceau« über kaum mehr als eine Spalte der Allgemeinen Literatur-Zeitung, wo die moraltheologischen Implikationen der ersten Kritik außerdem nur auf eine eher nur oberflächliche Weise zur Darstellung kommen. Man wird darum sehr daran zweifeln dürfen, ob Reinhold sie in hätte, die gab es nämlich sehr wohl. Das vielleicht beredteste Zeugnis hierfür ist die Neuorientierung der Jenaer philosophischen Fakultät Mitte der 80er Jahre zugunsten der Kantischen Philosophie (siehe unten Abschn. 7), die freilich nur möglich war, weil es in Jena bereits vor 1785 eine bedeutsame Auseinandersetzung mit Kant gegeben hat, nur hat diese nicht dieselbe Breitenwirkung entfaltet wie Reinholds Merkur-Briefe und die Debatte, die sie nach sich zogen. 106 Zu Schultzes Rezeption der Kantischen Philosophie vgl. auch Christina Bonelli Munegato, Johann Schultz e la prima recezione del criticismo kantiano, Trento 1992, und Tanja Gloyna, Kosmos und System. Schellings Weg in die Philosophie, in der Reihe: Schellingiana, Bd. 15, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 155–172. 107 Vgl. Reinholds Brief vom 12. Oktober 1787 an Kant, KA 1.273 (= Akad.-Ausg., 10.498). 108 Brief vom 12. Oktober 1787 an Kant, KA 1.271 (= Akad.-Ausg., 10.498).

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dieser Knappheit überhaupt hat verstehen können. Aus diesem Grunde ist es auch eher nicht wahrscheinlich, daß Reinhold das zur Rede stehende Morceau, daß die Grundwahrheiten der Religion nur von einem moralischen Erkenntnisgrund her zu erhellen sind, aus dem Text der Schützeschen Rezension zugefallen sei. Dafür ist tatsächlich mehr nötig, als dieser Text für jemanden hergibt, der mit der Kantischen Philosophie noch kaum vertraut ist. Weil nun aber die entsprechenden Ausführungen in der Rezension stark den Erläuterungen Schultzes angelehnt sind, wo sie außerdem viel ausführlicher sind, wird man davon ausgehen müssen, daß sich das Morceau in Wahrheit aus Schultz und nicht aus der Schützeschen Rezension herschreibt. Nun gibt es dafür, daß Reinhold dies gegenüber Kant in seinem Brief vertuscht, allerdings einen guten Grund. Hätte er nämlich die Erläuterungen als seine Quelle angegeben, müßte man ihm vorwerfen, diese relativ einfachen und gut geschriebenen Ausführungen vor dem Hintergrund seiner brieflichen Erklärung gegenüber Kant nicht verstanden zu haben. Denn so lapidar, wie Reinhold das Morceau erklärt, fi ndet es sich in den Erläuterungen nicht. Der springende Punkt ist allerdings, daß er solche Nuancierungen gar nicht brauchen kann, denn in Wahrheit verfolgt er mit jenem Morceau einen ganz eigenen Zweck, der kaum etwas mit Kants Absichten zu tun hat. Aus diesem Grunde muß er den »Störsender«, den die Erläuterungen für seinen eigenen Zweck darstellen, wegmassieren, und zwar genau damit, daß er das Morceau, wegen der Knappheit der dortigen Ausführungen, der Schützeschen Rezension zuschreibt. Mit anderen Worten und vorausgreifend auf das folgende ist das, was Reinhold in seinem Brief als ein Kantisches Morceau ausgibt, in Wahrheit nichts anderes als das Morceau seiner eigenen Philosophie. Was er in die Rezension hineinliest, ergibt sich nämlich primär aus seinen eigenen philosophischen Auffassungen, die allerdings von genau jener allgemeinen Thematik bestimmt sind. Denn schon in seinem Aufsatz »Gedanken über Aufklärung« von Juli 1784 argumentiert Reinhold, daß die »Moral […] von der Religion weiter nichts

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als eine höhere Sanction erhalten könne«; und in der kaum ein Jahr später fertiggestellten Herzenserleichterung zweyer Menschenfreunde kommt er zu dem Schluß, »daß man Religion auf Moral, nicht diese auf jene gründen müsse«.109 Diese Thematik, die in dieser allgemeinen und von Reinhold nur oberflächlich erläuterten Hinsicht tatsächlich der Intention der Moraltheologie Kants entspricht, modelliert er nun geschickt in sein Morceau der Kantischen Philosophie um. Das Morceau in Schütz’ Rezension, das wie gesagt in Schultzes Erläuterungen sehr viel ausführlicher zur Darstellung kommt, besagt nun: »Ohne einen Gott, und eine für uns itzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beyfalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung«, weshalb die praktische Vernunft in ihrem Gebrauche das Dasein von Gott und ewigem Leben voraussetzen muß.110 Die sittlichen Ideen erfüllen folglich »nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich, und durch eben dieselbe Vernunft a priori bestimmt und nothwendig ist«.111 Deshalb ist es für die Anwendung der (praktischen) Vernunft auch unumgänglich, Religion als Triebfeder für das moralische Handeln vorauszusetzen. Seinen natürlichen Zweck fi ndet der Mensch somit in der Religion, obzwar dieser Zweck auf der anderen Seite durch die Vernunft a priori bestimmt ist. Nach Reinholds Deutung dieser Stelle ist somit die Triebfeder für moralisches Handeln etwas, das unserer Natur irgendwie entspricht. Nun hatte Reinhold den Gedanken, die Religion sei ein irgendwie natürlich zu verstehendes Bedürfnis, wofür er 109 »Gedanken über Aufklärung«, a. a. O., Anm. 52, S. 4, und Herzenserleichterung, a. a. O., Anm. 75, S. 13 f. (das Manuskript ist im März 1785 fertiggestellt, vgl. KA 1.74 Anm. 8). 110 Zit. nach Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, a. a. O., Anm. 87, S. 180; Schütz folgt hier – wie auch sonst im Schlußteil seiner Rezension – Schultzes Erläuterungen, a. a. O., Anm. 13, S. 176, bzw. KrV, A 813 / B 841. 111 Ebd., mit meinen Hervorhebungen.

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allerdings auch einen Rückhalt in der Kritik der reinen Vernunft fi nden kann,112 bereits in seinen vorkantischen Schriften verteidigt. Mit anderen Worten enthält die Religion gegenüber der Vernunft ein gewisses Surplus, das sich nicht restlos unter die Vernunft subsumieren läßt. Und das ist sicher nicht was Schütz, Schultz oder Kant verteidigen, obwohl man diese Folgerung, ohne dem Buchstaben der Schütz-Rezension Zwang anzutun, in die Rezension hineinlesen kann. Und kraft eines solchen Hineinlesens wäre dann Reinholds Morceau geboren, daß der Antrieb moralischen Handelns in der uns natürlichen Religion beschlossen liegt. Die Begegnung mit der Kantischen Philosophie gibt Reinhold ferner eine Präzisierung seines bisherigen Begriffs von Vernunft an die Hand, sofern er jetzt ausdrücklich zwischen praktischer und theoretischer Vernunft unterscheidet. Diese Präzisierung betrifft insbesondere die theoretische Vernunft, denn sein vorkantischer Vernunftbegriff ist im Grunde genommen ein praktischer, den er wie gesagt begrifflich noch nicht von dem der theoretischen Vernunft unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ist nun deshalb so bedeutsam für Reinhold, weil sie es ihm ermöglicht, den eigentlichen Fehler der gesamten vorkritischen Philosophie genau zu benennen. Denn eine bloß theoretische Vernunft ist letztendlich nicht in der Lage, die entscheidenden Religionswahrheiten zu beweisen, wie etwa die Existenz Gottes und das ewige Leben. Nach Reinhold ist ein solcher Beweis der praktischen Vernunft vorbehalten. Dies ist freilich keine Pointe der kritischen Philosophie, denn einen Beweis der Religionswahrheiten beansprucht Kant überhaupt nicht zu liefern. Doch zweifelsohne hat Kants Vernunftprojekt Reinholds latent bestehende Einsicht bekräftigt, daß mit der praktischen Vernunft dem spekulativen Religionsbeweis der 112 Vgl. dazu auch KrV, A 15 / B 29: »Denn alles Praktische, so fern es Bewegungsgründe [B schreibt : Triebfedern] enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnißquellen gehören.«

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leibniz-wolffischen Schule einerseits den Garaus gemacht werden kann, und die Religionswahrheiten anderseits von einem neuen, nämlich praktischen Vernunftfundament her trotzdem zu begründen sind. Doch die zunächst wichtigste Einsicht, die sich für Reinhold aus dem Morceau ergibt, ist wohl die, daß damit die Quelle für den Gebrauch der praktischen Vernunft wieder genau dort installiert ist, wo sie ihren angestammten Platz hat, nämlich im Herzen des individuellen Menschen. Genau besehen ist es deshalb auch die praktische Vernunft, die die Verbindung zwischen Gefühl und Vernunft herstellt, was das eigentlich entscheidende Thema der vorkantischen Philosophie Reinholds ist, für das sich weder bei Schultz noch bei Kant und schon gar nicht in der knappen Darstellung der Schütz-Rezension ein Rückhalt fi nden läßt. Nun kann sich Reinhold für die Feststellung, daß die Religion Triebfeder für unser moralisches Handeln ist, in der Tat auch auf Kant berufen, doch geht das nur unter Absehung von der Wende, die Kant angesichts der Triebfedern für das moralische Handeln spätestens seit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 vorgenommen hat.113 Denn gegenüber der ersten Kritik ist es nicht länger die Religion, sondern die Achtung vor dem Sittengesetz, worin nach Kant nunmehr die Triebfeder für das moralische Handeln liegt.114 Reinhold hat diese Wende im Denken Kants sicher wahrgenommen, denn die Grundlegung hat er gelesen.115 Doch konnte er diese Wende für sein eigenes 113 Vgl. KrV, A 813 / B 841, leider hat Kant diese Stelle in der zweiten Aufl. nicht gestrichen oder abgeändert. 114 Zu den Hintergründen dieser Wende vgl. Eberhard Günter Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung über Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkungen auf Reinhold, Schiller und Fichte, Köln / Wien 1975. – Von vielen Zeitgenossen Kants ist dessen Wende nicht oder nur bedingt nachvollzogen, Reinhold ist darin also keineswegs eine Ausnahme. 115 Ohne jeden Zweifel kannte er auch die von Schütz verfaßte Rezension der Grundlegung in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, a. a. O., Anm. 77.

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Verständnis der Philosophie Kants überhaupt gar nicht brauchen. Und zwar deshalb nicht, weil er Kant vor dem Hintergrund seines eigenen philosophischen Programms versteht, das bereits gefestigt war, als er sich erstmals mit der kritischen Philosophie beschäftigte. Aus diesem Grunde leuchtet auch ein, weshalb Reinhold sowohl die Grundlegung als auch die spätere Kritik der praktischen Vernunft (1788), in der sich jene Wende noch prägnanter bestätigt findet, in seinen Schriften bis 1790 weder ausdrücklich erwähnt noch unter ausdrücklichem Hinweis aus ihnen zitiert. Alle Referenzen finden gewissermaßen stillschweigend statt, wobei außerdem nur solche Stellen in Betracht gezogen werden, die Reinholds eigenen Auffassungen nicht widersprechen. In diesem Zusammenhang wird ihn insbesondere die Kritik August Wilhelm Rehbergs (1757–1836) an Kants Konzept der Achtung vor dem Sittengesetz in seinen eigenen Auffassungen gestärkt haben. Bei der Achtung geht es nämlich um das Problem, ob sie ein sinnliches Gefühl – wofür Rehberg plädiert – oder ein Gefühl sui generis sei (ein nichtsinnliches Gefühl, was freilich ein spannungsvoller, wenn nicht sich selbst widerstreitender Begriff ist), wofür Kant plädiert und wogegen Rehberg argumentiert.116 Mit Blick auf die Briefe II schreibt Reinhold in der »Vorrede«, ihm seien die Rehbergschen »Untersuchungen über die Freyheit fruchtbare Winke geworden«,117 was sicherlich auch für die Jahre vor 1792 gilt, sofern er mit dem Kantischen Morceau in der Hand festhält an einem von der »praktischen Vernunft gebothenen Glauben«, aufgrund wovon sich ein »neues System« stiften lasse, »in welchem die Vernunft anmassend, und der Glaube blind zu seyn aufhören, und […] in ewiger Eintracht sich wechselseitig unterstützen.«118 116 Vgl. Rehbergs Rezension der Kritik der praktischen Vernunft in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 188, vom 6. August 1788, Sp. 345–360 [auch in: Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer, Frankfurt 1975, S. 179–186]. 117 Briefe II, S. IX . 118 Zweiter Merkur-Brief, S. 134 f.

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Mit diesen Ausführungen dürfte einigermaßen ersichtlich geworden sein, daß Reinhold in Kant ein Programm hineinlesen konnte, das er selbst verfolgte, nämlich die Religion auf der Grundlage der praktischen Vernunft von ihren unvernünftigen, d. h. von der theoretischen Vernunft nicht zu legitimierenden Ansprüchen zu befreien und sie so als ein gleichsam vorreflexives natürliches Bedürfnis auszuweisen, das der Vernunft deshalb nicht widerstreitet, weil sie der Zweck aller moralischen Gesetzmäßigkeit ist, der in einer präreflexiven, weil natürlichen Religion seinen Grund hat. Diese Grundeinsicht bildet den eigentlichen Hintergrund für Reinholds Verständnis der kritischen Philosophie. Es kann in der Tat nicht oft genug wiederholt werden, daß Reinhold, wenn er sich im Sommer 1785 erstmals mit Kant befaßt, schon über ein ausgereiftes philosophisches Profi l verfügt, in das er – denn so funktioniert das in der Regel psychologisch – die kritische Philosophie lieber einpaßt, statt es aufgrund derselben schwerwiegend zu revidieren. Dieses Einpassen verläuft allerdings auch so flüssig, daß es von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wird, und womöglich wollten viele es auch gar nicht wahrnehmen, entsprach es doch auch einem allgemeinen Bedürfnis, dem die kritische Philosophie allein schon wegen ihrer hohen Abstraktheit nicht entsprechen konnte. Die Rede von einem Kantischen Morceau kann und sollte man deshalb auch so verstehen und auslegen, daß es Reinhold in seinem Brief an Kant offenbar gezielt darum zu tun ist zu vertuschen, die Kritische Philosophie in seinen zu diesem Zeitpunkt gerade sämtlich erschienenen Merkur-Briefen für sein eigenes philosophisches Anliegen gebraucht zu haben (egal ob als Mittel oder als Zweck, denn das läuft bei solchen Sachen sowieso aufs selbe hinaus). Man darf es für bemerkenswert halten, daß große Teile, auch der modernen Reinhold-Forschung Reinholds Philosophie immer noch als Kantianismus handeln, obwohl ein bereits flüchtiger Blick in die Briefe über die Kantische Philosophie jemanden eines Besseren belehren müßte. Die Merkur-Briefe

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sind nämlich weder Erläuterung noch Exegese der kritischen Philosophie, sondern verfolgen ein ganz eigenes philosophisches Programm, das zwar aufbaut auf einigen, teilweise auch ganz Kantischen Morceaux, doch eben nur auf Morceaux. In die tieferen Gründe der kritischen Philosophie dringen die Merkur-Briefe nicht ein. Und das geht physisch gesehen auch gar nicht anders:

5. Reinhold ein Kantianer? Im Teutschen Merkur erscheint im August 1786 der erste der Briefe über die Kantische Philosophie (der letzte und achte Brief erscheint im September 1787).119 Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, daß sich Reinhold erst seit Mitte 1785 mit der Philosophie Kants beginnt zu befassen. Bis zum Erscheinen des ersten Merkur-Briefes hatte er somit kaum ein Jahr, um sie sich eigen zu machen! Und das ist bei dem hohen Schwierigkeitsgrad der ersten Kritik – denn um sie geht es hier vornehmlich – eigentlich unmöglich. 119 Die spätere Buchausgabe der Merkur-Briefe von 1790 ist de facto ein neues Buch. Der zweite, 1792 erschienene Band besteht gänzlich aus neuem Material, ohne allerdings den Inhalt stärker zu vermischen mit Elementen seiner neuen Elementarphilosophie. Die 1789 bei Heinrich Valentin Bender (Mannheim) erschienene Buchausgabe der acht Merkur-Briefe ist ein Raubdruck, dasselbe gilt für deren Publikation unter dem Titel Auswahl der besten Aufsäzze über die Kantische Philosophie, Frankfurt und Leipzig (in Wahrheit Marburg bei Johann Christian Krieger) 1790 [ND: Kessinger Publishing, Montana 2009). Eine Bemerkung Reinholds im 1. Bd. seiner Auswahl vermischter Schriften, Jena 1796, suggeriert, daß dieser Raubdruck kurz vor 1796 erschienen sei; die Existenz des Bandes ist allerdings schon belegt bei Karl Gottlieb Hausius, Materialien zur Geschichte der critischen Philosophie. In drey Sammlungen, Leipzig 1793, S. X , mit kurzer Inhaltsanzeige und der Bemerkung: »[e]in bloßer früherer Abdruck der Reinholdischen ersten 8. Briefe […], ehe sie der Verf. selbst vermehrt zusammen drucken ließ«.

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Diesen Eindruck verstärkt ein Blick auf die äußeren Umstände, die Reinhold bei der Aneignung der kritischen Philosophie begleitet haben. In der Periode zwischen Sommer 1785 und der Veröffentlichung des ersten Merkur-Briefes schreibt unser Philosoph nämlich außerdem kräftig Rezensionen und Aufsätze für den Teutschen Merkur, dessen Sekretariat er ebenfalls praktisch allein führt. Er übersetzt – »des lieben Brodes willen«120 – 1785 die ersten drei Bände der Allgemeinen Damenbibliothek aus dem Französischen, schreibt ferner einen sehr ausführlichen Aufsatz über die Mysterien der Hebräer,121 heiratet, zieht mit seiner Frau bei seinem Schwiegervater aus, dessen üble Launen er sowieso kaum mehr ertragen kann,122 plagt sich zwischendurch mit Existenznöten usw. usf.123 Sozusagen zwischendurch soll er dann auch noch die Kritik der reinen Vernunft studiert und noch dazu erfaßt haben. Noch ein paar Fakten. Die Arbeit an dem Aufsatz über die Mysterien der Hebräer, die von der späten zweiten Hälfte des Jahres 85 bis in die erste Hälfte des Jahres 86 währt, also genau jene Zeitspanne, in 120

KA 1.183. Der erste Teil erscheint unter dem Titel »Ueber die Mysterien der alten Hebräer«, in: Journal für Freymaurer, 1. Quartal 1786, S. 5–79, der zweite Teil, »Ueber die größern Mysterien der Hebräer«, ebd., 3. Quartal 1786, S. 5–98. 122 Schiller schreibt am 29. August 1787 an Körner, Wieland habe Reinhold »durch üble Launen und abwechselndes Anziehen und Zurückstoßen eigentlich aus Weimar getrieben«, vgl. Schillers Briefwechsel mit Körner, a. a. O., Anm. 40, S. 165; ferner schreibt Schiller in demselben Brief: »Wieland, sagte er [Reinhold, E.-O.O. ] mir, sei der schlechteste Menschenkenner, und dieses wird mir von allen, die ihn kennen, bestätigt. […] Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, durch welchen wenigen Aufwand er [Wieland, E.-O.O. ] zu erobern ist. Diese Inconsequenz und diese Wandelbarkeit der Laune erkennt er selbst, und kann, wie mir Reinhold sagt, in der folgenden Stunde abbitten und schmelzen wie ein Kind.« 123 Vgl. zu den Aktivitäten zwischen der Herder-Rezension und den ersten Merkur-Briefen auch Reinholds Brief vom 26. Januar 1787 an Nicolai, KA 1.176–190. 121

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der er sich die erste Kritik beginnt anzueignen, hat ihm nachweislich erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Am 23. März 1787 schreibt Reinhold an Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811): »Die Erudition, die ich dazu [nämlich für den Aufsatz über die Mysterien der Hebräer mit seinen gelehrten Ausführungen, E.-O.O. ] sehr mühsam auftreiben mußte, hat mir so viel Zeit geraubt, daß ich meine Arbeiten für den Merkur und die Damenbibliothek zum Nachtheil meiner Oeconomie merklich vernachlässigen mußte.«124 Das Zitat spricht schon allein insofern für sich, als das Studium der kritischen Philosophie hier nicht einmal erwähnt wird! Angesichts dieser Tatsachen muß man sich fragen, woher Reinhold die nötige Muße hätte nehmen sollen, quasi zwischendurch die Kritik der reinen Vernunft studiert und noch dazu ergründet zu haben? Auch wenn es wahr wäre, wie der Versuch schildert, daß er sich »über ein Jahr lang […] fast aller andern Lektüre« enthalten hätte – was angesichts der Arbeit an den Mysterien-Aufsätzen schlicht falsch ist – und die Kritik der reinen Vernunft mindestens fünfmal gelesen haben will, ist es dennoch glattweg die Wirklichkeit bagatellisieren, wenn er behauptet, dies bei »vollkommenste[r] Muße« getan zu haben, denn das Gegenteil ist wahr.125 Von großer Bedeutung 124 KA 1.198. – Zu den Aufsätzen siehe die »Einleitung« zu ihrer Neuausgabe von Jan Assmann, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, hrsg. und kommentiert von Jan Assmann, Neckargemünd 2001. Und ferner Jan A. M. Snoek, »What does the Word ›Religious‹ mean in Reinholds ›Religious Freemasonry‹?«, in: Egypt: Temple of the World. Studies in Honour of Jan Assmann, hrsg. von Sibylle Meyer, Leiden 2003, S. 409–420, und Markus Meumann, »Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Karl Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurerloge ›Zur wahren Eintracht‹«, in: Aufklärung und Esoterik, hrsg. von Monika Neugebauer-Wölk, in der Reihe: Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 24, Hamburg 1999, S. 288–304. 125 Versuch, S. 54 f. Im November 1786 behauptet er, die erste Kritik schon dreimal gelesen zu haben, vgl. KA 1.153. – Noch 1812 wiederholt Reinhold in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi: »Ich habe,

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ist in diesem Zusammenhang auch ein Brief, in dem Reinhold Ende März 1787 vermutlich an Schütz schreibt, er habe erst während »der Pause von August 786 bis Jener 787« – während dieser Monate wird nämlich die Publikation der Merkur-Briefe, wie Wieland bedeutungsvoll schreibt, »durch zufällige Ursachen unterbrochen«126 – »Zeit und Lust genug gehabt in den Geist meines grossen Meisters tiefer einzudringen.«127 Er schreibt »Zeit« und »Lust« fürs tiefere Eindringen! Es fehlte also bis August 1786 die Zeit, sich intensiver mit der kritischen Philosophie zu befassen, aber auch die Lust. Das kann nur heißen, daß ihm die Informationen über die kritische Philosophie, die ihm über Schütz’ Rezension und Schultzes Erläuterungen greifbar waren, zunächst für seine Absichten in den Merkur-Briefen völlig ausreichten, und daß er sich erst, nachdem die ersten zwei Briefe auf so viel Beifall stießen, vor die Notwendigkeit gestellt sah, tiefer in die kritische Philosophie einzudringen. Außerdem legt dieser Brief nahe, daß auch Voigt erst nach August 1786 mit Reinhold ins Gespräch kommt, wodurch der weitere Verlauf der Merkur-Briefe erst seine eigentliche Gestalt erhält (in Abschn. 6 wird hierauf ausführlich zurückgekommen). Kurzum: Was sich Reinhold hier rückblickend leistet, ist mehr als bloße rhetorische Floskel, sich im Nachhinein eine irgendwie besonders befugte Urteilsfähigkeit über die Kantische Philosophie beizumessen; es ist Selbststilisierung auf Kosten der historischen Wahrheit. als ich die Critik der reinen Vernunft studirte, über ein ganzes Jahr kein anderes Buch, und dieses viermal […] hinter einander gelesen« (F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, hrsg. von Rudolf Zoeppritz, 2 Bde., Leipzig 1869, Bd. 2, S. 95). 126 Vgl. Der Teutsche Merkur, Dezember 1786: »Die im August angefangenen Briefe über die Kantische Philosophie, welche durch zufällige Ursachen unterbrochen, und zum Theil durch andere Artikel […] verdrängt worden sind, sollen in dem bevorstehenden Jahrgang […] fortgesetzt werden«. (S. 294, meine Hvh.) 127 KA 1.206 mit meinen Hvh.

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Deshalb auch sollte man besonders Reinholds frühen Kantianismus nicht überschätzen und sich bei allem, was er über die kritische Philosophie schreibt, genau fragen, ob und inwiefern damit Kant oder eher dem eigenen philosophischen Engagement Rechnung getragen wird. In vielerlei Hinsicht ist Reinholds sogenannter Kantianismus tatsächlich nichts als bloßer Reinholdianismus, verbrämt mit Kantischen Philosophemen, deren systematische Pointen Reinhold oftmals entweder absichtlich nicht wahrnimmt oder vielleicht auch einfach nicht richtig versteht. Oft kommt es einem tatsächlich so vor, daß ihm die kritische Philosophie ein Buch mit sieben Sigeln geblieben ist. Ob er sich wirklich darum bemüht hat, sie ihrem Buchstaben nach zu verstehen, ist gar nicht einmal so wahrscheinlich.128 Denn trotz seiner zweifelsohne mehr als gewöhnlichen Auffassungsgabe hat er die kritische Philosophie immer nur so verstanden, wie sie ihm in den eigenen Kram paßte oder besser, wie er es vermochte, sie seinem eigenen, bereits bestehenden philosophischen Verständnis einzuverleiben und anzugleichen. Hinzukommt, daß Reinhold für eine wirkliche Auseinandersetzung mit der ersten Kritik niemals die Zeit noch die dafür nötige Ruhe gehabt hat. Das erste Resultat seiner Auseinandersetzung mit ihr sind die MerkurBriefe, von denen hier behauptet wird, daß sie alles andere als genuin Kantische Philosophie sind. Ihr Verfasser verwendet Kants Philosophie vielmehr für seine eigenen philosophischen Zwecke, wofür die systematischen Ursprünge in seiner vorkantischen Zeit liegen. Um sie bloßzulegen, müßte man sich dazu entschließen, Reinhold nicht mehr nur vor dem Hintergrund der kritischen Philosophie zu lesen. Und das ist nicht einfach nach über zweihundert Jahren der Rezeption, die uns auf Gedeih und Verderb eingebleut hat, Reinhold sei Kantianer. 128 In diesem Sinne schreibt später, anonym, Friedrich Carl Forberg, Fragmente aus meinen Papieren, Jena 1796, S. 41: »Es ist schwer zu glauben, daß diejenigen, die am meisten von dem Geist der Kantischen Philosophie sprechen – Reinhold und Fichte – mit dem Buchstaben am ehrlichsten zu Werke gehen.«

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Auch die Art und Weise, wie sich Reinhold die Kritik der reinen Vernunft angeeignet hat, gibt uns einige Aufschlüsse darüber, wie viele Schwierigkeiten sie ihm anfangs gemacht hat. Seine Arbeitsweise bestand nämlich zunächst darin, Auszüge von ihr angefertigt zu haben, die allerdings auch, wie er berichtet, im Zeichen jener philosophischen Systeme standen, die ihm bis dahin geläufig waren.129 Dieses Selbstzeugnis unterstreicht nicht nur die Schwierigkeiten, die er mit dem neuen Denken hatte,130 es weist außerdem auf die Methode hin, nach der er sich seinen Zugang erarbeitet. Und um es gleich vorweg zu nehmen, besteht hierin seine vielleicht eigentliche philosophische Originalität. Wie gesagt erarbeitet er sich die kritische Philosophie anhand von solchen philosophischen Systemen, die ihm geläufig waren (dazu zählt freilich auch sein eigenes bis dahin erarbeitetes philosophisches System). Das heißt, schon gleich beim ersten Kontakt gibt er sich gar nicht mit den Details der kritischen Philosophie ab, sondern versucht sie nach ihren gröberen Umrissen oder nach ihrem Systemcharakter zu verstehen. Oben in Abschn. 2 hatten wir gesehen, daß Reinhold, vermittelt durch Platners philosophiehistorische Auffassungen, in Weimar verstärkt einen Zugang zur Philosophie entwickelt, der auf die allgemeinen systematischen Strukturen und Strukturvoraussetzungen der jeweiligen philosophischen Positionen geht. Und diese Methode wendet er nun auch auf die kritische Philosophie an. 129 Vgl. Versuch, S. 55: »Alles, was er [nämlich Reinhold, E.-O.O. ] auf diese Weise anfangs herausbrachte, waren Bruchstücke, die ihm teils aus andern Systemen entlehnt, teils schlechterdings unvereinbar schienen.« 130 Illustrativ für die Schwierigkeiten, die Reinhold überhaupt mit Kants Philosophie hatte, ist vielleicht auch, daß er die Kritik der Urteilskraft (1790) – sicherlich das am besten geschriebene Werk Kants – zwei Jahre lang nicht verstanden und anschließend sechs Wochen gebraucht hat, um für die Allgemeine Literatur-Zeitung ihre Rezension abzufassen, vgl. Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes Johann Benjamin Erhard, hrsg. von Carl August Varnhagen von Ense, Stuttgart 1831, S. 362 f.

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Wie Reinhold im Versuch berichtet, hatte er bereits in Wien als junger Philosophiedozent ein philosophisches System nach dem anderen angenommen und für ein anderes verworfen, was ihn zuletzt in ein geistiges und philosophisches Vakuum stürzt. In Leipzig und vermittelt durch Platner kommt er dann auf die Idee einer Systematisierung der verschiedenen philosophischen Positionen, worin er einen Ausweg aus dem entstandenen Vakuum erkennen konnte. Nun beansprucht die kritische Philosophie in der Tat, einen ewigen Frieden in der Philosophie und auf dem Gebiete der Spekulation herbeizuführen.131 Und diese Idee kann Reinhold mit seinem philosophischen Hintergrund nur fasziniert haben, nicht zuletzt deshalb, weil man sie in irgendeiner Form in fast allen frühen kantianisierenden Schriften bis hin zum Versuch antrifft.132 In ihr liegt nämlich ein entscheidendes Potential für die Möglichkeit einer Synthetisierung der systematisch verschiedenen philosophischen Positionen, was seit Wien sein großes, obzwar zunächst noch unartikuliertes philosophisches Bedürfnis ist. Der Anspruch der kritischen Philosophie, Frieden auf dem Gebiete der Spekulation zu stiften, wird aller Wahrscheinlichkeit nach bei Reinhold die bis dahin noch schlummernde Einsicht geweckt haben, daß die Einseitigkeit eines Systems, die sich immer nur vom Standpunkt eines anderen Systems dartun läßt, nicht auf einen unendlichen Regreß philosophischer Systeme führen kann, sondern selbst eine philosophische Einsicht darstellt, die einen Standpunkt voraussetzt, von dem aus die Einheit aller wirklicher und möglicher philosophischer Standpunkte erhellen muß. Mit anderen Worten unterstellt die Einsicht in einen philosophischen Widerstreit immer schon eine höhere Position, von der aus sich ein solcher Widerstreit 131

Vgl. KrV, A 752 / B 780 und A 777 / B 805. Versuch, S. 21; ferner heißt es im ersten Merkur-Brief vom August 1786, daß die Kantische Philosophie zum ersten Mal einen »ewigen Frieden im Reiche der Spekulation« (S. 123) ermögliche; vgl. dazu auch Reinholds Brief an Voigt von November 1786, bes. KA 1.146 f. 132

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überhaupt als widerstreitend erklären läßt. Seine frühen KantStudien eröffnen ihm somit einen Standpunkt und eine Methode, wie sich die ihm bis dahin bekannten, allerdings auch allesamt einseitigen Systeme unter ein allumfassendes System der Philosophie bringen lassen, das sie in ihrer – obzwar einseitigen – Geltung begreift. Nun macht zwar auch Kant in seiner ersten Kritik klar, daß die Transzendentalphilosophie in gewisser Weise die einseitigen Gestalten Dogmatismus und Skeptizismus überwindet. Doch geschieht dies nicht, jedenfalls nicht so profi liert wie bei Reinhold, auf der Grundlage eines höchsten Prinzips. Hier geht Reinhold methodisch einen neuen Weg, der letztendlich schnurstracks in die Systemphilosophie des ausgehenden 18ten und frühen 19ten Jahrhunderts führen wird. Kurz, Reinholds erste Kant-Studien werden ihm bald gezeigt haben, daß sich die kritische Philosophie nicht in die ihm bekannten Systeme einordnen und aus ihnen verstehen läßt, sondern vielmehr auf das Metasystem der Vernunft selbst hinweist, durch das sich alle philosophischen Systeme in ein umfassendes Vernunftsystem unterbringen lassen. Reinholds Systemdenken beschränkt sich allerdings in erster Anlage noch darauf, die einander widerstreitenden Systeme von einem höchsten Standpunkt aus miteinander zu versöhnen, indem sich die Prinzipien der unterschiedlichen Standpunkte von einem höchsten Standpunkt her nicht nur in ihrer Einseitigkeit verstehen, sondern auch herleiten lassen. Zur Zeit der Merkur-Briefe glaubt Reinhold dieses System noch in der Kantischen Vernunftkritik gefunden zu haben. Im Versuch bildet er dann einen Ansatz, ja eigentlich schon mehr als ein Ansatz heraus, der – auch was die Prinzipien der ersten und allumfassenden Philosophie betrifft – über die Vernunftkritik hinausgeht. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die MerkurBriefe in einem bis dahin noch nicht gehörten Ton über die Philosophie des Königsbergers sprechen. Im Nachhinein ist das als ein »Popularisieren« Kantischer Lehren gedeutet oder auch gescholten. So einfach liegen die Dinge allerdings nicht.

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Denn im Vorhergehenden sind hoffentlich einige gute Gründe dafür geliefert – obwohl das noch viel genauer und ausführlicher getan werden sollte –, daß sich Reinhold bereits Anfang der 80er Jahre durchaus eigenständig ein philosophisches Programm erarbeitet hat, das er schließlich in Weimar in einen ebenfalls durchaus originären Zusammenhang mit der Kantischen Philosophie setzt. Daß er damit zum Vorsprecher und Wegbereiter für viele sich zum Kantianismus bekennende Philosophen wird, kann man freilich nicht ihm anlasten; denn das liefe faktisch auf bloße Geschichtsverfälschung hinaus, der sich übrigens in der Vergangenheit nicht wenige Interpreten mit ihren philosophiehistorisch unüberlegten Interpretationen und gar Verurteilungen schuldig gemacht haben. Zugute halten wird man diesen Interpretationen allerdings auch müssen, daß sich ein genaueres Bild der Umstände der damaligen Kant-Aneignung erst in den letzten Jahren genauer beginnt abzuzeichnen. Die von Norbert Hinske initiierte Forschung zur deutschen Aufklärung und das von Dieter Henrich initiierte Forschungsprogramm Tübingen-Jena zwischen 1790 und 1794 haben unsere historischen Einsichten ungemein vertieft. Es bleibt deshalb nur zu hoffen, daß die über 4000 Textseiten allein von Henrich die gewöhnlichen menschlichen Auffassungsgaben nicht überstrapazieren und für die Forschung ein Impuls sein werden, anstatt unüberbietbares Monument philosophiehistorischer Gelehrsamkeit.

6. Von Weimar nach Jena Im Vorhergehenden ist unter anderem dargelegt, daß ein tieferes textkritisches Eingehen in die Philosophie Kants selbst einem versierten Philosophen wie Reinhold kaum in knapp einem Jahr gelingen konnte, das zwischen der ersten Lektüre Kants – frühestens August / September 1785 – und den ersten Merkur-Briefen – August 1786 – liegt. Daß ihn die Merkur-Briefe trotzdem zum ersten Kantianer unter Kantianern machen, er-

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klärt sich mindestens auch aus der dürftigen Diskussionslage, in der sich die Auseinandersetzung mit der neuen Philosophie aus Königsberg in der Mitte dieses Jahrzehnts befi ndet. Die Merkur-Briefe erscheinen folglich in einem relativen Vakuum publizistischer Auseinandersetzung mit Kants Philosophie, von der viele wenigstens werden geahnt haben, daß sie bedeutsam sei. Außerdem treffen die Merkur-Briefe mit ihrer vornehmlich moraltheologischen Ausrichtung die damalige Vorstellung von »guter« Philosophie, was ihren Verfasser sozusagen übernacht zur Berühmtheit macht. Besonders wichtig ist ihr Einfluß allerdings auf das humanistische Lager in Weimar.133 Und damit ist Reinhold ein wichtiger Brückenschlag zwischen der damaligen politischen Macht einerseits und der Akademie anderseits, nämlich der Universität Jena, gelungen, was in diesen politisch unruhigen Zeiten mindestens auch eine Voraussetzung für die Stabilität des Gemeinwesens war (außerdem steckt in Studenten von jeher ein potentielles politisches Unruhearsenal). Damit sind wir bei einem der wichtigsten Dokumente für die Hintergründe von Reinholds frühen KantStudien angekommen. Es handelt sich um einen langen Brief von Anfang November 1786 an den Weimarer Regierungsrat und Kurator der Jenaer Universität Christian Gottlob von Voigt (1743–1819).134 Dieser 133 Goethes intensivere Beschäftigung mit Kant nach Rückkehr von seiner ersten Italienreise im Sommer 1788 ist durch Reinholds Merkur-Briefe veranlaßt, vgl. dazu auch Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, a. a. O., Anm. 34, S. 96 f. Auch Schillers um 1787 einsetzendes Kant-Studium ist durch sie initiiert (er hört sogar bei Reinhold über Kant, vgl. Akad.-Ausg., 11.62). Zu Schillers Beschäftigung mit Reinhold vgl. Sabine Röhr, »Zum Einfluß K. L. Reinholds auf Schillers Kant-Rezeption, in: Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, hrsg. von Martin Bondeli und Wolfgang Schrader, in der Reihe: Fichte-Studien Supplementa 16, Amsterdam / New York 2003, S. 105–122. Auch Wieland hat erst durch die MerkurBriefe eine günstigere Meinung über Kant entwickelt, vgl. KA 1.273 (= Akad.-Ausg., 10.498). 134 KA 1.145–157. Der Brief ist leider nicht vollständig überliefert.

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Brief ist das wichtigste Zeugnis dafür, daß Reinholds Parteiergreifung für die kritische Philosophie nicht nur mit einem von ihm selbst getragenen und ausgebildeten philosophischen Engagement zusammenhängt. Mindestens genauso wichtig dafür sind nämlich auch bestimmte politische Motive gewesen. Denn offenbar hat Voigt Reinhold persönlich dazu aufgefordert, sich über den Einfluß der Kantischen Philosophie »auf die wissenschaftliche Aufklärung überhaupt, und insbesondere auf Zerstreuung bisheriger metaphysischer Blendwerke« zu erklären.135 Freilich waren zu diesem Zeitpunkt – also Anfang November 1786 – schon die ersten zwei Merkur-Briefe erschienen, weshalb sich fragt, ob Voigt Reinhold erst aufgrund der weiten Zustimmung, auf die die beiden Merkur-Briefe stießen, oder ob er ihn bereits vor ihrer Veröffentlichung zur Auseinandersetzung mit Kant angespornt hat. Der oben (S. LXI ) erörterte Brief an Schütz von Ende März 1787 legt ersteres nahe; das hieße dann aber, daß die Merkur-Briefe erst im Zuge der Besprechungen mit Voigt ihre späteren Kontouren erhalten.136 Weshalb nun Voigts Aufforderung ausgerechnet an Reinhold ergeht, erklärt sich unkompliziert aus den oben (Abschn. 4) dargelegten Umständen im Zusammenhang mit Kants Rezension der Herderschen Ideen. Diese Debatte hat die bis dahin nur latent bestehenden Divergenzen freigelegt, die zwischen dem humanistisch orientierten Weimarer Hof einerseits und der spätestens 1784 einsetzenden Neuorientierung des Studiums an der Jenaer philosophischen Fakultät unter Zugrundelegung der Philosophie Kants anderseits bestanden. Die Reaktionen auf Kants Rezension der Ideen müssen allen Beteiligten gezeigt 135 KA 1.146. – Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Kurt Röttgers, »Die Kritik der reinen Vernunft und K. L. Reinhold …«, a. a. O., Anm. 85. 136 Kurt Röttgers, ebd., S. 794 f., meint dagegen, die Tatsache des relativ späten Briefes an Voigt, erlaube keine Rückschlüsse darauf, daß die Sache nicht schon im Frühjahr desselben Jahres zwischen Voigt und Reinhold besprochen sei. M. E. ist diese These eher nicht wahrscheinlich.

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haben, wie viel Zündstoff in diesen Divergenzen lag, weshalb der weitsichtige Voigt zur Wahrung der kulturpolitischen Stabilität ein Interesse daran haben mußte, sie frühzeitig zu neutralisieren. Für die Rolle eines möglichen Vermittlers wird sich dem Regierungsrat Reinhold geradezu aufgezwungen haben, zumal ja dessen umsichtiges Vorgehen in der angespannten Situation, die durch Kants Rezension der Ideen entstanden war, die aufschlagenden Wellen einigermaßen hat glätten können. Allerdings hatte sich Reinhold 1786 akademisch noch nicht ausreichend qualifiziert, eine solche Vermittlerrolle an der Universität selbst auf sich nehmen zu können. Voigt setzt ihn aller Wahrscheinlichkeit daran, diese Qualifizierung irgendwie zu erwerben. Reinholds Novemberbrief an Voigt stellt das Programm dazu vor. Der Brief bringt einerseits eine ziemlich genaue Inhaltsangabe der teilweise noch kommenden Merkur-Briefe und erhellt anderseits die Methodologie und allgemeine Struktur dieses Programms. Der allgemeinen Grundstruktur zufolge sollen die Merkur-Briefe die äußeren Gründe, d. h. den Nutzen der kritischen Philosophie darlegen. In einem folgenden Teil, an dieser Stelle bricht der Brief allerdings leider ab, sollen dann die inneren Gründe der kritischen Philosophie, d. h. ihre Realität, ihre Prinzipien oder Organisation dargelegt werden. Diese Einteilung in äußere und innere Gründe ist von großer systematischer Wichtigkeit für Reinholds Umgang mit Kant. Er behält sie bis in die Zeit seiner Elementarphilosophie aufrecht. Im Gegensatz zu den äußeren Gründen, die die Merkur-Briefe darlegen, hat sich Reinhold mit der Darstellung der inneren Gründe der Kantischen Philosophie allerdings viele Jahre abgemüht. Sie kommen nämlich erstmals im Versuch zur Darstellung. Wie wir noch sehen werden, ist sich Reinhold nämlich über die Methode, nach der die inneren Gründe dargelegt werden sollten, lange Zeit nicht im klaren. Die Richtung der Aufgabestellung ist jedoch in dem Sinne vorgegeben, daß es dabei um die Prinzipien der kritischen Philosophie geht, die Kant selbst nicht genau angegeben habe. Doch befassen wir

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uns zunächst mit den äußeren Gründen, die von den MerkurBriefen dargelegt werden. In dem Novemberbrief wird die Philosophie Kants insbesondere deshalb gerühmt, weil sie »[a]lles, was die Vernunft über die Fragen von Gott, Seele, Freyheit und Moralität ausmachen und nicht ausmachen kann, vollständig und bis zur höchsten möglichen Evidenz bestimmt; die ersten Grundsätze der Religion, Moral von allen Scheingründen gereiniget, gegen alle Einwürfe gesichert, und zugleich mit den übrigen Grundbegriffen aller Vernunftwissenschaften aus dem Wesen der Vernunft selbst hergeleitet, und bis zur Allgemeingiltigkeit apodiktischer Erkenntnisse, und der Unveränderlichkeit der mathematischen Wahrheiten erhoben« hat.137 Reinhold charakterisiert die Vernunftkritik ferner als »das neue Evangelium der reinen Vernunft«138, das alle bisherigen philosophischen Exerzitien in den Schatten stellt und der Philosophie einen völlig neuen Orientierungshorizont eröffnet. Entscheidend ist nun allerdings, daß sich dieser Horizont Reinhold zufolge »keines wegs aus dem Kantischen Werke«, sondern nur aus den »moralischen Bedürfnissen unsrer Zeit« erschließen lasse.139 Mitunter liegen die äußeren Gründe für eine Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie nicht in dieser selbst, sondern vielmehr in den Zeitumständen oder in der Kultur. Diese Auffassung eröffnet Reinhold dann genau jenes Feld, das die Merkur-Briefe mit viel Verve zur Darstellung bringen und wofür ihr Autor weniger Kant selbst als seinen eigenen philosophischen Scharfsinn bemüht. In einer Fußnote im vierten Merkur-Brief bemerkt ihr Verfasser außerdem, daß die »unphilosophischen, – und philosophischen Vorurtheile«, die den Resultaten der kritischen Philosophie »entgegen stehen, und mit denen es der Verf. [Reinhold, E.-O.O. ] eigentlich zu thun hat, […] aus den inneren Gründen des kritischen Vernunftsystems um so weniger widerlegt 137 138 139

KA 1.147. KA 1.157. KA 1.153, vgl. die ähnlichen Argumente im Versuch, S. 57 f.

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werden [können, E.-O.O. ], als sie theils den Willen abgeneigt, theils den Verstand mehr oder weniger unfähig machen, sich auf die Prüfung jener inneren Gründe einzulassen.«140 Mithin bedarf die Vernunftkritik einer äußeren Rechtfertigung, die sie mit ihren eigenen Mitteln, ja nicht einmal kraft ihrer inneren Gründe zu liefern vermag. Dieser Anspruch eröffnet im Grunde genommen schon einen Ausblick auf das erstmals im Versuch zum Tragen kommende Grundlegungsprogramm, das aus den äußeren Gründen eine Vorstellungstheorie entwickelt, die die eigentliche Grundlage für die systematische Darstellung der inneren Gründe abgibt. Weil nun aber der Novemberbrief genau bei den inneren Gründen abbricht und Reinhold sie bis zum Versuch nicht näher erläutert, wissen wir nicht genau, wie er diese Ende 1786 verstanden hat und noch weniger, wie er sie und was er von ihnen zunächst darzustellen gedachte. Es scheint jedoch, daß er ihrer Darstellung zu diesem Zeitpunkt keinen größeren Beitrag zur Klärung des Wesentlichen der kritischen Philosophie abzugewinnen vermochte. Und das ist an sich bemerkenswert, weil das nämlich hieße, daß er sich ausdrücklich nicht als Popularisator der Kantischen Philosophie versteht, weil ja gerade diese inneren Gründe ihre innere Organisation betreffen, während die in den Merkur-Briefen dargelegten äußeren Gründe nicht im Werke Kants zu fi nden sind, sondern im moralischen Bedürfnis der Zeit liegen. Im Grunde genommen wird allerdings der Versuch die inneren Gründe schon nicht mehr in der Organisation der kritischen Philosophie suchen, sondern sie aus der eigenen Vorstellungstheorie hernehmen. Dazu gleich mehr. Der Anspruch der Merkur-Briefe ist nun näher der, die Grundwahrheiten der Religion und Moral, worüber es in der vorkritischen Philosophie aus grundsätzlichen Gründen keinen Konsens geben konnte, ansprechender darzustellen, als Kant selbst das getan habe. Nun spricht der Königsberger freilich nirgends von irgendwelchen Grundwahrheiten der Reli140

Vierter Merkur-Brief, S. 118 Anm.

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gion und der Moral, noch wird er solche Wahrheiten jemals öffentlich behaupten, geschweige denn vertreten.141 Deshalb handelt es sich hierbei auch um nichts anderes als um Reinholds eigene Grundwahrheiten, an denen er sich schon seit seinem Studium in Wien abmüht und die er sich gewiß nicht erst in Weimar erarbeitet hat. Der Brief an Voigt zeigt klar, daß Reinhold in den Merkur-Briefen philosophisch eigene Wege einschlägt, die bloß dem Namen nach mit der Kantischen Philosophie in Zusammenhang gebracht werden. Jedenfalls ist das gegenüber Voigt eröffnete Programm weder der ausdrücklichen Intention Reinholds nach noch dem Inhalt nach mit dem philosophischen Programm des Königsbergers systematisch auf einen Nenner zu bringen. Die Merkur-Briefe qualifizieren Reinhold nicht nur für eine außerordentliche Professur, sie sind außerdem ein großer publizistischer Erfolg, der sich nicht zuletzt auch darin widerspiegelt, daß sie einen beträchtlichen Beitrag zur Verbreitung der Kantischen Philosophie leisten. Schon ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der ersten beiden Merkur-Briefe berichtet der Kant-Schüler Daniel Jenisch (1762–1804) seinem Lehrer am 14. Mai 1787 aus Braunschweig, daß »die Briefe über ihre Philosophie im Merkur […] die eindringlichste Sensation gemacht« haben, und daß durch sie »alle philosophische[n] Köpfe Teutschlands […] zu der lebhaftesten Theilnehmung für Sie, mein Herr Prof., aufgewekt« seien.142 Nun wäre der Erfolg der Merkur-Briefe bestimmt anders ausgefallen, wenn sie sich, wie etwa Schütz’ Rezension und Schultzes Erläuterungen, auf den 141 In einer Reflexion zur Metaphysik aus den späten 70er Jahren spricht Kant seine Bedenken gegen solche Grundwahrheiten unumwunden aus: »Die wichtigen Grundwahrheiten der moral und religion sind auf den natürlichen Gebrauch der Vernunft gegründet, welcher ein Gebrauch nach der analogie des empirischen Gebrauchs ist […] Dieser natürliche Gebrauch ist nicht frey von Verirrungen der speculation, er bringt einen Glauben hervor und kein Wissen.« (Akad.-Ausg., 18.14) 142 Akad.-Ausg., 10.486.

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Boden eher technischer Erörterungen bestimmter Finessen insbesondere der theoretischen Philosophie Kants gestellt hätten. Tatsächlich werden die anerkannt schwierigen Kernstücke der ersten Kritik in den Merkur-Briefen gar nicht erst berührt, sondern betrifft ihr Inhalt vornehmlich Themen der Religionsphilosophie und der praktischen Philosophie. Hinzukommt, daß Kant zum Zeitpunkt des Erscheinens der Merkur-Briefe über Religionsphilosophie kaum nennenswertes publiziert hat und über Moralphilosophie nur die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 vorliegt (die Reinhold für seine Darlegungen in den Merkur-Briefe aus bereits angegebenen Gründen allerdings nicht berücksichtigt). Mit den moraltheologischen Themen hat Reinhold den Zeitgeist überdies genau getroffen. Tatsächlich ist er überhaupt einer der ersten, der die moraltheologischen Implikationen der kritischen Philosophie in die damalige Diskussion einbringt. Ob damit jedoch auch der Nerv der zur selben Zeit einsetzenden akademischen Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie getroffen wird, darf füglich bezweifelt werden. Ein wichtiges Zeugnis für die damalige Aneignung der Kantischen Philosophie in Deutschland ist ein Brief des Rigaer Ratsherrn Johann Christoph Berens (1729–1792) vom 5. Dezember 1787 an Kant.143 Aus diesem Brief geht implizite das große Ressentiment unter den akademischen Philosophen gegen die Art und Weise hervor, wie Reinhold mit Kant umgeht. So berichtet der Brief über Platner, er wolle sich »in Unterredungen über die Kantische Phylosophie nicht auslassen – wir lesen Kanten – war alles was er sagte«. Dieses »wir lesen Kanten« ist zweifelsohne eine offene Kritik an all jene Kantianer, die Kant nicht lesen, sondern dessen Philosophie nach ihrem Geiste nehmen, womit zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur Reinhold gemeint sein kann. Dieses Urteil bestätigt auch ein späterer Brief Platners an Prinz Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg (1765–1814), in dem er kei143

Vgl. Akad.-Ausg., 10.507 f., alle folgenden Zitate von S. 507.

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neswegs leugnet, daß »Kant ein tiefer Denker« sei, doch sehr bestimmt – womit freilich nur Reinhold selbst gemeint sein kann –, daß dessen Philosophie »ein bisher unbekannt gewesenes Resultat des menschlichen Forschungsgeistes« sei und daß Kants »Nachgänger« aus ihm »einen philosophischen Wunderdoctor« machen, »der den ganzen menschlichen Geist zu heilen, d. h. von allen Irrthümern sicher zu stellen im Stande sey.«144 Von Johann August Eberhard (1738–1809) würde, so Berens, gesagt, er »befürchtete« von der kritischen Philosophie »Nachtheil für die Moral«, welche Kritik ebenfalls nur vor dem Hintergrund der stark moraltheologisch motivierten Merkur-Briefe einleuchten kann, zumal ja Kants Kritik der praktischen Vernunft zum Zeitpunkt dieses Briefs noch nicht erschienen und es auch sonst keine nennenswerte Auseinandersetzung über Kants Moralphilosophie gibt. Über den Jenaer Philosophieprofessor Johann August Heinrich Ulrich (1746–1813) werde schließlich berichtet, er wolle nur deshalb zum »Gegner« Kants werden, »weil ihm Reinhold die Lorbern von der ersten Rolle geraubet« hätte.145 Ob Ulrich den großen Erfolg der Merkur-Briefe des144 Vgl. Ernst Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1913, S. 323. 145 Am 12. Oktober 1786 schreibt Reinhold an Kant, daß Ulrich »von der Zeit an daß ich hier bin«, nämlich in Jena, »täglich häufigere Widersprüche in der Kritik der V. entdeckt, und der Beurtheilung seines Auditoriums unterwirft.« (KA 1.274 ohne Hvh.) Vgl. ferner Reinholds Brief vom 1. März 1788 an Kant: »U[lrich]. arbeitet mir aus allen Kräften entgegen – und schlägt alle (physisch) möglichen Wege ein, mir meinen einzigen geraden abzuschneiden. Faßt alle seine sechs täglichen Vorlesungen sind nichts als Kampfübungen gegen die Kr. d. V. die er doch vor meiner Ankunft nach Jena, bis auf (: wie er sich ausdrückte :) einige Kleinigkeiten für den wahren und einzigen Kodex der eigentlichen Philosophie erklärt hatte.« (KA 1.339) Dazu Kants Antwort: »Herr Vlrich arbeitet durch seine oppositions-Geschäftigkeit wieder seine eigene Reputation; wie denn seine letztere Ankündigung, eines mit den alten gewöhnlichen Sophistereyen aufgestutzten Naturmechanismus, unter dem leeren Nahmen von Freyheit, seinen Anhang gewiß nicht vergrößern wird.« (Akad.-

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halb nicht nachvollziehen konnte, weil er die darin ausgebreiteten Thesen und philosophischen Tendenzen kaum mit seinem eigenen Verständnis der kritischen Philosophie in Einklang zu bringen wußte, ist bislang nicht geklärt. Es scheint jedoch, daß seine gegnerische Gesinnung eher dem kantianisierenden und überaus populären Reinhold als Kant selbst gilt. Jedenfalls zeichnet sich unmittelbar nach dem Erscheinen der Merkur-Briefe eine zunehmende Polarisierung der Lager in Pro- und Anti-Kantianer ab. Hierbei ist weiter zu berücksichtigen, daß eigentlich alle sogenannten Kantianer der ersten Stunde den Königsberger in der Regel nicht einfach nachbeten, sondern mehrheitlich mit Kant an der Hand philosophisch eigene Wege einschlagen (man denke etwa an Ludwig Heinrich Jakob (1759–1827), Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812) und Jacob Sigismund Beck (1761–1840)). Dieser Tendenz hat Reinhold sicherlich vorgearbeitet.

7. Reinhold in Jena Die Universität Jena entwickelt sich seit Mitte der 80er Jahre rasant zum Zentrum der kantischen Philosophie in Deutschland.146 Diese Entwicklung konkretisiert sich Anfang 1784, wenn nämlich die Kantische Philosophie erstmals in Jena auf dem Lehrplan der philosophischen Fakultät auftritt.147 Ihren Ausg., 10.531) Über Ulrich in diesem Zusammenhang vgl. Frederick C. Beiser, The Fate of Reason, a. a. O., Anm. 78, S. 203–210. 146 Für diese Neuorientierung des philosophischen Lehrgangs ist grundlegend Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit …, a. a. O., Anm. 1, bes. S. 279–316. 147 Vgl. dazu die Ankündigung in der Jenaischen gelehrten Zeitung vom 21. Mai 1784, 41. St., S. 327, Ulrich sei der »erste«, der würkliche Anstalt macht, die Aufklärungen eines Kants in seiner Kritik der reinen Vernunft zu benutzen, einem Werke, darinne er mit männlichen Muthe dem Heer der Philister Hohn spricht, so daß diese Ehrenhalben sich mit ihm einlassen, oder ihm huldigen müssen.«

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vorläufigen Abschluß fi ndet sie, wenn im Oktober 1785 die Kritik der reinen Vernunft in der philosophischen Fakultät ausdrücklich zum Lehrstoff erklärt wird.148 Besonders der Professor für Poesie und Beredsamkeit Christian Gottfried Schütz setzt sich spätestens seit 1784 für eine neue Studienordnung an der Salana ein, in der der Kantischen Philosophie ein vorrangiger Platz zukommt (Schütz hatte sich übrigens schon während seines Studiums und anschließender Lehrjahre in Halle intensiv mit der Philosophie des vorkritischen Kant befaßt). Doch sicherlich hätten Schütz’ Bemühungen nicht diesen Erfolg gehabt, wenn sich in Jena nicht auch die historisch glückliche Konstellation beobachten ließe, daß viele Professoren Kants Philosophie aus eigener Lektüre kannten und auch zu schätzten wußten, wie etwa die einflußreichen Theologen Ernst Jakob Danovius (1741–1782)149, Johann Jakob Griesbach (1745–1812) und Johann Wilhelm Schmid (1744– 1798). Im Bunde mit Schütz gehört auch der Philosophieprofessor Ulrich – jedenfalls bis zum Erscheinen der Merkur-Briefe – zu den Fürsprechern der neuen Studienordnung,150 sowie der Moralphilosoph und seit 1784 Adjunkt der philosophischen Fakultät Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812).151 Aber 148 Vgl. dazu die »Anweisung die zur philosophischen Fakultät gehörigen Wissenschaften und deren Endzweck, Wichtigkeit und Studium betreffend«, § 23, jetzt fotomechanisch nachgedruckt in Der Aufbruch in den Kantianismus, a. a. O., Anm. 1, S. 14. 149 Übrigens war Schütz mit der Tochter Danovius’, Anna Henriette, verheiratet. 150 Schon in seinem Lehrbuch Institutiones logicae et metaphysicae, Jena 1785, bezieht sich Ulrich oft auf die kritische Philosophie. Die zweite Aufl. von 1792 bekommt sogar den Untertitel Scholae suae scripsit perpetua Kantianae disciplinae ratione habita. – Sehr kritisch über die Art und Weise seiner Aufnahme Kants ist Reinhold in seinem Novemberbrief an Voigt, insbesondere weil Ulrich versuche, die »Kritik der Vernunft mit der alten metaphysischen Dogmatik [zu] vereinigen« (KA 1.151). 151 Schmid liest ebenfalls über Kantische Philosophie, zunächst nach den Erläuterungen Schultzes, die allerdings, wie sich ihm heraus-

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auch die »alten« Professoren wie Justus Christian Hennings (1731–1815) und Johann Andreas Grosch (1717–1796) haben sich mit Kant in ihren Vorlesungen befaßt.152 Außerdem ist Kant ein alter Bekannter in Jena. Der persönlich mit ihm bekannte Danovius sondiert nämlich 1770, ob der Königsberger eventuell einen Ruf nach Jena annehmen würde.153 Das Resultat ist bekannt. – Die neueren Untersuchungen über die Jenaer Verhältnisse mit Rücksicht auf die Kantische Philosophie haben jedenfalls eingehend gezeigt, daß das von Kant selbst, aber auch von Schultz und Reinhold genährte Vorurteil einfach falsch ist, daß die Kritik der reinen Vernunft um 1784 noch »ein versiegeltes Buch« sei, »das niemand öfnen kann«154, – in Jena war es nämlich schon bald nach dem Erscheinen geöffnet. – Es gibt also an der Salana eine langjährige und offenbar auch stabile Verbindung mit Kant und seiner Philosophie, die Mitte der 80er Jahre insbesondere durch Schütz’ Anstrengungen eine neue und genau besehen auch unerwartete Ausgestaltung bekommt: zunächst in der neuen Studienordnung für die philosophische Fakultät und schließlich in dem Ruf Reinholds an die Universität. Über die politischen Hintergründe von Reinholds Berufung ist oben schon einiges gesagt. Sie wird vom Weimarer Hof stellte, »nicht für den academischen Gebrauch geschrieben sey[en]«, und dann nach seinem eigenen Kompendium Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen, Jena 1786, vgl. ebd., S. 1 f. – Zu Schmid vgl. Horst Schröpfer, »Carl Christian Schmid – der ›bedeutendste Kantianer‹ an der Universität Jena im 18. Jahrhundert«, in: Der Aufbruch in den Kantianismus, a. a. O., Anm. 1, S. 37–83. 152 Vgl. Norbert Hinske, »Das erste Auftauchen der kantischen Philosophie im Lehrangebot der Universität Jena«, in: Der Aufbruch in den Kantianismus, a. a. O., Anm. 1, S. 1–14, und die tabellarische Übersicht der Vorlesungen über Kant in Jena von Horst Schröpfer, »Rezeption und Verbreitung der Philosophie Kants durch Gelehrte der Universität Jena«, in: ebd., S. 224–229. 153 Vgl. Danovius’ Brief vom 12. Januar 1770 an Kant, Akad.Ausg., 10.87 f. 154 Johann Schultz, Erläuterungen, a. a. O., Anm. 13, S. 6.

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Ende 1786 faktisch eingeleitet. Inwiefern die Berufung auch vom Jenaer Kollegium gewünscht und unterstützt wurde, ist nicht genau bekannt. Es hat jedoch den Anschein, daß es sich dabei eher um einen Alleingang der Weimarer Regierung handelt. Das bestätigen vielleicht auch die leider nur oberflächlich greifbaren Verwickelungen hinsichtlich der erst sehr spät erfolgten Verleihung der Magisterwürde an Reinhold. Diese erfolgt nämlich unmittelbar vor seiner Installation im September 1787 und geht auch nicht rite vonstatten, also ohne Inauguraldissertation und disputatio pro loco. Dieser Vorgang scheint seitens der Fakultät zunächst nicht beabsichtigt. Denn Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) berichtet nach seinem Besuch im Juni 1787 an Reinhold: »Der Herr Rath wird über Spinozismus seine Inauguraldissertation schreiben.«155 Reinhold hat eine solche oder auch eine andere Dissertation nie verfaßt, denn am 20. September ersucht er die Fakultät brieflich um die Magisterwürde,156 die ihm dann unverzüglich und unkonventionell vom Dekan der philosophischen Fakultät Schütz mit folgendem Antrag an die Fakultät verliehen wird: »In beyliegendem Schreiben [siehe oben Anm. 156, E.-O.O. ] sucht Hr. Reinhold um die Magisterwürde nach. Da er sich durch seine Ehrenrettung der Reformation, durch seine Briefe über die Kantischen Philosophie p. p. bereits unstreithig als 155 Karl Alexander von Reichlin-Meldegg, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit nach dessen literarischem Nachlasse, bisher ungedrucktem Briefwechsel und mündlichen Mittheilungen dargestellt, in 2 Bdn., Stuttgart 1853, 1. Bd., S. 97. Paulus verfolgt jene Mitteilung: »Er [d. h. Reinhold] stellt sich die Reihe der spinozistischen Raisonnements so vor: Alles, was wir wissen, sind nur Prädicate. Das Subject selbst kennen wir nicht. Was wir von ihm auffassen, ist nur phaenomenon für unsere Vorstellungsart. Vom absoluten Subject können wir nichts behaupten, oder verneinen. Woran nichts, und was nicht unterschieden werden kann, ist Eines, sagt Spinoza. Also das absolute Subject aller Phänomene ist Eines. Gott ist nicht theilbar; aber Alles ist Modifi kation des absoluten Subjects, der einzigen Substanz.« 156 KA 1.267 f.

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ein Mann von Kenntnissen und Talenten gezeigt hat, so wird er wohl von andern specimin[it]a, und seine Investitur selber auch noch von den Formalitäten des examinirens zu dispensiren seyn.« Auf der Rückseite des Blattes bemerkt Ulrich noch: »Gott schenke uns viele solche Candidaten«.157 Angesichts des sehr eiligen und mit Hinsicht auf die notwendigen akademischen Formalitäten auch eher unkonventionellen Berufungsverfahrens liegt es nahe, leichten Druck seitens des Kurators Voigt zu vermuten und eher nicht, daß die Fakultät auf ein bloßes Gesuch Reinholds hin per Eilverfahren plötzlich andere Regeln gelten läßt. Es scheint also, daß die Fakultät und insbesondere ihr Dekan eher wenig Einfluß auf Reinholds Berufung hatten. Seines Rufes ziemlich sicher ist sich Reinhold seit spätestens Ende Januar 1787. Dann schreibt er an Nicolai, daß er »vielleicht in einem halben Jahr in Jena existiren«158 werde; und Ende April bemerkt er lapidar gegenüber dem offensichtlich informierten Schütz: »Ich freue mich wirklich auf meinen künftigen Aufenthalt in Jena«.159 Ausgerechnet von dem Kant-Gegner Herder liegt am 4. Januar 1787 ein überaus positives Berufungsgutachten vor, in dem es vielsagend heißt: »Ohne mich auf den Werth der Kantischen Philosophie Theils an sich und für andre Wissenschaften, Theils als akademische Lehrwissenschaft einlassen zu dürfen […], besitzt der Rath Reinhold so entschiedne philosophische Einsichten und Talente, daß es für die Universität Jena nicht anders als sehr nützlich seyn kann, wenn er auf derselben einen anständigen Fuß bekommt.«160 Der Generalsuperintendent hat offenbar ganz besondere Gründe für die Ernennung eines ausgewiesenen Kantianers, denn einige Jahre später blockiert er die Berufung des viel gemäßigte157 UAJ, M, Nr. 188 Bl. 1, zit. nach Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit …, a. a. O., Anm. 1, S. 182. 158 KA 1.189. 159 KA 1.208. 160 Zitiert nach KA 1.200 Anm. 4.

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ren Kantianers Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) für eine theologische Professur.161 Wie dem auch sei, Goethe freut sich bereits in einem Brief vom 3. Februar 1787 an Voigt – die Nachricht war selbst bis nach Rom durchgedrungen – über »Reinholds Verpflanzung« nach Jena.162 Auch für die Berufung eines außerordentlichen Professors mußte Herzog Carl August von den ernestinischen Höfen, die gemeinsam die Trägerschaft über die Universität inne hatten, d. h. neben Sachsen-Weimar-Eisenach, die Höfe Sachsen-Gotha, Sachsen-Coburg und Sachsen-Meiningen, das Plazet einholen. Anfang Mai geht in Weimar das letzte entsprechende Schreiben ein.163 Am 22. Mai erfolgt die formelle Berufung durch herzogliches Reskript.164 Die Gothaischen gelehrten Zeitungen melden am 27. Juni 1787 Reinholds Berufung »als Professor der Ästhetik«, am 29. August 1787 folgt die Allgemeine Literatur-Zeitung.165 Ende Juni zieht Reinhold mit Frau und fast einjähriger Tochter nach Jena, wo er zu Beginn des Wintersemesters am 4. Oktober seine Antrittsrede hält: »Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten«.166 Diese Rede bildet zugleich den Auftakt zu Reinholds ab Montag, den 22. Oktober, privatim veranstalteten Vorlesung über Ästhetik »Theorie der schönen Wissen161 Vgl. Günter Arnold, »Herder und die Philosophen des deutschen Idealismus …«, a. a. O., Anm. 85, S. 194. 162 Vgl. Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt, in 4 Bdn., hrsg. von Hans Tümmler, Weimar 1949–1962, Bd. 1, S. 62. 163 Vgl. dazu KA 1.217 f. Anm. 2. 164 Zum Text vgl. KA 1.233 Anm. 15 165 Im Intelligenzblatt, Nr. 207a, Sp. 533: »Hr. Rath Reinhold, der sich bisher in Weimar aufhielt, ist zum außerordentlichen Professor der Philosophie auf der Universität zu Jena ernannt worden«. Ferner gibt auch die Allgemeine deutsche Bibliothek in Bd. 77, 2. St., S. 617, Reinholds Berufung bekannt. 166 Mit dem Zusatz »Aus einer akademischen Antrittsrede« ist sie auszugsweise veröffentlichet im Teutschen Merkur, 1. Bd., Februar 1788, S. 167–183.

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schaften, nach Eberhard’s Leitfaden und eigenen Zusätzen«.167 Diese Vorlesung beginnt mit der Auseinandersetzung seiner neuen Theorie des Vergnügens, die, so Reinhold, auf Kants »Theorie der Sinnlichkeit und des Verstandes« basiert.168 Ab Freitag, den 26. Oktober, liest er »öffentlich über die Kantische Theorie des Erkenntnisvermögens zur Einleitung in die Kritik für Anfänger«.169 Seit dem Sommersemester 1788 liest Reinhold nur noch privatim, und zwar in diesem und im folgenden WS 1788/89 über Ästhetik nach Eberhard, über die Kritik der reinen Vernunft und über Logik und Metaphysik erst, d. h. im SS nach Platners Philosophischen Aphorismen und im anschließenden WS nach eigenem Diktat. Noch vor ihrer Veröffentlichung steht dann im SS 1789 die kritische Philosophie nach seiner neuen Theorie des Vorstellungsvermögens auf dem Studienplan, ferner Logik und Metaphysik nach Kant, Leibniz, Locke und anderen, und wiederum Ästhetik nach Eberhard. Seit dem WS 1789/90 liest Reinhold erstmals über Geschichte der Philosophie170 und das bis zu seinem letzten Semester in Jena im Semesterturnus abwechselnd mit Ästhetik.171 167 Jenaische gelehrte Anzeigen vom 12. Oktober 1787, 82. Stück, S. 647. – Reinhold liest nach dem Lehrbuch von Johann August Eberhard, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, zum Gebrauche seiner Vorlesungen, 2. verb. Aufl., Halle 1786. 168 Vgl. Reinholds Brief vom 19. Januar an Kant, KA 1.313. Diese neue Theorie des Vergnügens erscheint unter dem Titel »Ueber die Natur des Vergnügens« im Teutschen Merkur, 4. Bd. 1788, S. 61–79, Forts. 144–167 und Beschluß 1 Bd. 1789, S. 37–52. 169 Vgl. Jenaische gelehrte Anzeigen vom 12. Oktober 1787, 82. Stück, S. 647. 170 Und zwar nach dem Lehrbuch von Johannes Gurlitt, Abriß der Geschichte der Philosophie, zum Gebrauch der Lehrvorträge, Leipzig 1786. Dieses Buch hatte Reinhold schon einige Jahre vorher sehr positiv besprochen im Anzeiger des Teutschen Merkur, 1786, 4. Bd., S. CLXXXIII–CLXXXV. 171 Zu Reinholds Jenaer Vorlesungstätigkeit siehe die Übersicht unten im Anhang.

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Die, wenn man so sagen darf, »Spezialisierung« der Salana auf die kantische Philosophie und die Installation von Reinhold als Extraordinarius hat der Universität viel Nutzen gebracht. So steigt die Zahl der Studenten rapide, was nicht zuletzt für das wirtschaftliche Leben der kleinen Stadt wichtig ist, deren Einwohner um 1790 zu fast einem Viertel aus Studenten besteht. Das rhetorische Talent Reinholds und sein freundlicher Umgang mit den Studenten machen ihn fast auf Anhieb zu einem der beliebtesten Lehrer. Seine Vorlesungen sorgen für prall gefüllte Hörsäle. Über seine zweite öffentliche Vorlesung im SS 1788 über Wielands Oberon 172 schreibt der Dozent seinem Schwiegervater: »Niemand konnte sitzen – man stand nicht nur dicht auf den Fußboden sondern auch auf den Tischen, den Sitz- und Schreibbänken, und hockte sogar auf dem Ofen – Die Fenster von aussen herein (: denn es ist Parterre :) waren angefüllt, und über ein halbes Hundert mußten zurückkehren weil sie nicht zukommen konnten – und doch waren wohlgezählt über 400 im Saale.«173 In seinen drei Veranstaltungen des letzten Semesters seiner Jenaer Professur zählte er gegen sechshundert Hörer, bei welchen Zahlen man sich zu vergegenwärtigen hat, daß die Universität zu diesem Zeitpunkt etwa 850 Studenten zählte.174 Die außerordentliche Popularität Reinholds bezeugen auch die Bekundungen der 172 Die öffentliche Vorlesung Ästhetik begann mit einer akademischen Rede, mit der Reinhold die »Vorlesungen über den Oberon eröfnet«, vgl. »Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen G[e]dichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studierende«, in: Der Teutsche Merkur, 2. Bd. 1788, S. 385–404, S. 385 (auch als Separatdruck: Carl Leonhard Reinhold, Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erholung für Gelehrte und Studierende eine Akademische Rede, Jena 1788). 173 Vgl. Reinholds Brief vom 30. April 1788 an Wieland, KA 1.360 und »Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten …«, a. a. O., Anm. 166, S. 385: »es waren weit über vierhundert Studierende dabey zugegen.« 174 Vgl. RL 1.66.

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Studenten, wenn im Sommer 1793 bekannt wird, daß er einen Ruf nach Kiel als Ordinarius – »mit fünffachem Gehalt« – angenommen hat.175

8. Zur Entstehung des Versuchs Nicht bei und seit der Abfassung der Merkur-Briefe, sondern erst infolge seines Rufs nach Jena sieht sich Reinhold genötigt, »über die Methode nachzudenken, die er für den Vortrag der Anfangsgründe der Philosophie nach den neuen Prinzipien [nämlich der der kritischen Philosophie, E.-O.O. ] zu wählen hätte«.176 Erst seine Vorlesungstätigkeit erfordert es, genauer über die Anfangsgründe der kritischen Philosophie nachzudenken, was deshalb nicht einfach ist, weil sie ja gerade eine Philosophie nach neuen Prinzipien ist. Und diese Prinzipien sind Reinhold zufolge alles andere als klar und deutlich von der kritischen Philosophie dargetan. Man kann das soeben gegebene Zitat also dahingehend auslegen, daß die kritische Philosophie nach einer Begründung verlangt, wie nach den neuen Prinzipien in bezug auf die Anfangsgründe der Philosophie vorgegangen werden kann. Doch scheinen diese Verhältnisse gegen Ende 1787 noch überhaupt nicht Reinholds Anliegen zu sein. Es gibt nämlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß er in seinen ersten Jenaer Vorlesungen einen Standpunkt bezieht, der dem der Kritik der Vernunft in irgendeiner Hinsicht überhoben wäre. Das bezeugt unter anderen ein Brief an Kant vom 19. Januar 1788, wonach es »die Kritik der Vernunft« ist, die »den höchsten Gesichtspunkt, von welchem aus allen unteren sich 175 Vgl. RL 1.61–66. – Im damals dänischen Kiel wird er Nachfolger von Johannes Nikolaus Tetens (1736–1807). Obwohl der Ruf schon Mitte 1793 erfolgt, tritt Reinhold die Professur wegen der Schwangerschaft seiner Frau erst im Sommer 1794 an. – Übrigens hat sich Reinhold schon Anfang der 90er Jahre Hoffnungen auf einen Ruf nach Kopenhagen gemacht. 176 Vgl. Versuch, S. 58.

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übersehen lassen, angegeben habe.«177 Auch die Methode, nach der Reinhold seine Studenten im WS 1787 in Kants Theorie des Erkenntnisvermögens einführt, hat augenscheinlich noch nicht jene systematischen Konturen, wie sie der Versuch herausarbeitet. Von seinem frühen methodischen Vorgehen können wir uns ein genaueres Bild machen, weil es auch seine Vorlesung über Ästhetik bestimmt, die Reinhold in einer relativ umfangreichen Publikation veröffentlicht hat.178 Knapp umreißt er diese Methode außerdem in einem Brief vom 19. Januar 1788 an Kant: »Ich diktire die Theorien der Sinnlichkeit, des Verstandes, und der Vernunft in Aphorismen; in welchen ich von einer getreuen Schilderung des Zustandes in welchem die Kr. d. V. unsre spekulative Ph[ilosoph]ie natürliche Theologie und Moral gefunden hat, ausgieng, die Nothwendigkeit einer Beylegung des Misverständniß das die Philosophische Welt in vier Partheyn 1 Supernaturalisten 2 (: Naturalisten :) Skeptiker, 3 (: Dogmatiker :) Pantheisten oder Atheisten. 4 Theisten trennt; so wie den Grund und Ursprung des Misverständnisses, die unbestimmten und falschen Vorstellungsarten vom Erkenntnißvermögen, z. B. von der Sinnlichkeit die man bald mit dem Verstand identificirte, bald auf den Körper übertrug u. s. w. zeigte.«179 Seine Methode besteht folglich in einer Analyse der fundamentalen Streitigkeiten in der Philosophie, und zwar aufgrund des Standpunkts der kritischen Philosophie, sofern nur sie das Richtige, aber auch Einseitige dieser widerstreitenden philosophischen Positionen charakterisieren und so positionieren kann, daß sie aus dem »höchsten Gesichtspunkt« der kritischen Philosophie als diesem subsumiert »sich übersehen lassen«. 177

KA 1.314. In dem Aufsatz »Ueber die Natur des Vergnügens«, a. a. O., oben Anm. 168. Hierin fi nden sich auch erste Ansätze zu einer Vorstellungstheorie; bemerkenswerterweise sind diese allerdings angeregt durch die französische Aufklärungsphilosophie. 179 Vgl. KA 1.313–315, bes. 1.315. 178

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Es geht also genau genommen um eine historiologische Methode, die noch nichts von dem im Versuch herausgearbeiteten Standpunkt der Vorstellungstheorie erkennen läßt. Und weil diese Theorie ihn überhaupt erst auf einen Standpunkt führt, der dem der kritischen Philosophie überhoben ist, wird man a fortiori auch feststellen müssen, daß unser Philosoph in Jena anfangs nicht einmal im Ansatz daran denkt, in irgendeiner Weise über Kant hinausgehen zu müssen. Die Notwendigkeit dazu eröffnet sich ihm erst, wenn er sich – wie er im Versuch rückblickend bemerkt – erstmals auch mit den Gegnern und Anhängern der Kantischen Philosophie näher befaßt.180 Jene historiologische Vorgehensweise entwickeln erstmals die zwei letzten Merkur-Briefe anhand der »rationale[n] Psychologie« der antiken Schulhäupter.181 In seinen ersten Jenaer Vorlesungen baut er diese Methode weiter aus und das offenbar ohne jede nähere Erörterung der inneren Gründe der kritischen Philosophie. Die Vorlesungen zielen noch ganz auf deren äußere Gründe ab, obwohl inzwischen mehr als zwei Jahre vergangen sind, seitdem sich Reinhold erstmals mit der kritischen Philosophie befaßt hat und die Darlegung der inneren Gründe bereits seit dem Novemberbrief von 1786 auf dem Programm steht.182 Erstmals zur Darstellung kommen die inneren Gründe erst im dritten Buch des Versuchs. Und dieses Buch ist 1789, und zwar erst in den Sommermonaten geschrieben.183 180 Vgl. Versuch, S. 58 ff., siehe ferner auch Reinholds Brief vom 9. April 1789 an Kant, bes. Akad.-Ausg., 11.18. 181 Vgl. dazu auch Reinholds Brief vom 19. Januar 1788 an Kant, KA 1.314. 182 Öffentlich angekündigt fi nden sich die inneren Gründe im vierten Merkur-Brief, S. 117 f. Anm. Hier heißt es, Reinhold begnüge sich vorerst damit, »wenn seine Leser ihr Urtheil über die inneren Gründe derselben [der Resultate der kritischen Philosophie, E.-.O.O. ] bis auf diejenige Prüfung aufschieben, zu welcher er [Reinhold, und zwar mit den Merkur-Briefen, E.-O.O. ] einzuladen und vorzubereiten wünscht.« 183 Vgl. dazu auch Alessandro Lazzari, »Das Eine, was der Mensch-

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Reinhold nimmt seine Vorlesungen allerdings auch zum Anlaß für ein neues Buchprojekt, das von der Forschung in der Regel für eine Vorarbeit des Versuchs angesehen wird. Wie immer man diese visierte Arbeit beurteilen will, im Zeichen der inneren Gründe steht sie nicht. Er arbeitet nämlich, wie er im Januar 1788 an Kant schreibt, an einem Buch, das »unter andern zum Zwecke hat der Kritik der r. V. vorbereitete Leser zu verschaffen«, – es geht also noch immer um die äußeren Gründe; er hofft es dem Königsberger außerdem bald zur »Prüfung vorlegen zu dürfen.«184 In seinem nächsten Brief vom 1. März 1788 konkretisiert Reinhold: »Meine Einleitung in die Kritik der Vernunft, die bis zu dem nahen Ende des Kurses fleissig besucht worden, wird auf Michaelis im Verlage meines Freundes Blumauer in Wien […] erscheinen; und, wie ich hoffe zu einem Leitfaden für akademische Vorlesungen nicht ganz unbrauchbar seyn.«185 Es geht bei diesem Buchprojekt – aus dem letztendlich nichts werden sollte – also um Einleitung oder Hinführung auf den Standpunkt der kritischen Philosophie; also immer noch um die äußeren Gründe der kritischen Philosophie, nur irgendwie anders vorgetragen als in den MerkurBriefen. Und diesem neuen Vortrag gilt offenbar zunächst sein Interesse und nicht der Darstellung der inneren Gründe. heit Noth ist«. Einheit und Freiheit in der Philosophie Karl Leonhard Reinholds (1789–1792), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 154. 184 KA 1.315. 185 KA 1.339. – Im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 26, von Sommer 1788, Sp. 233, fi ndet sich folgende Ankündigung: »Prof. Reinhold in Jena arbeitet gegenwärtig an einer Allgemeinen Theorie des Erkenntnißvermögens, in welcher er die vornehmsten Resultate der Kritik der Vernunft systematisch vorzulegen, die beträchtlichsten unter den bisher dagegen vorgebrachten Einwürfe (ohne zu polemisiren) aufzulösen, und dem Misverständnisse der Prinzipien, als der gemeinschaftlichen Quelle derselben, in einem leicht verständlichen Vortrage zuvorzukommen hofft. Gegen die Besorgniß, daß er selbst vielleicht den Sinn der Kritik der Vernunft verfehlt haben dürfte, glaubt er sich durch Herrn Kants Zeugniß im Januar und Februar des deutschen Merkurs von diesem Jahre, gesichert.«

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Alles weist somit darauf hin, daß Reinhold bis weit ins Jahr 1788 hinein mit den inneren Gründen der Kantischen Philosophie – wenn überhaupt dann – eher gerungen hat, als daß er darüber genauere Klarheit besessen hätte, die sich noch dazu für den akademischen Vortrag eignete. Und das ist bei genauerem Hinsehen auch gar nicht so merkwürdig. Denn zu diesem Zeitpunkt fehlt ihm noch das entscheidende Gelenkstück, das ihm die inneren Gründe der Kantischen Philosophie erst erschließt, nämlich die Theorie des Vorstellungsvermögens. Was er Ende 1787 und Anfang 1788 in Händen hält, ist nur eine Methode, philosophisch widerstreitende Ansprüche von einem höheren Standpunkt aus zu überblicken und zu verstehen. Mit Blick auf den Versuch ist das inhaltlich nicht viel mehr, als Teile der »Vorrede« und des ersten Buchs darstellen. Zwar bemerkt Alessandro Lazzari, daß »die Theorien der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft […] den ältesten Kern des Versuchs« bilden, weil Reinhold nach diesem Schema 1788 in Jena »in Aphorismen« über die Kritik der reinen Vernunft diktiere,186 doch ist dagegenzuhalten, daß auch das erste Buch des Versuchs in § 4 Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft ausdrücklich thematisiert, ohne daß damit eine Darstellung der inneren Gründe geleistet oder auch nur beansprucht würde. Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft lassen sich mit anderen Worten auch, wie Reinhold vorführt, auf der Ebene der äußeren Gründe erörtern. In seinen ersten Jenaer Jahren legt der Professor seinen Studenten die Kantische Theorie des Erkenntnisvermögens offenkundig noch dar anhand einer Analyse der Streitigkeiten unter den vier möglichen Systemen der Philosophie, d. h. Rationalismus (Leibniz-Wolff), Empirismus (Locke), Materialismus (die französischen Materialisten, wie etwa Helvétius) und Supernaturalismus ( Jacobi). Frühestens seit 1788 bezieht er diese Methode dann auch auf die Streitigkeiten bezüglich der kritische Philosophie selbst. Und erst diese Analyse zeigt ihm, daß 186 Alessandro Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, a. a. O., Anm. 183, S. 86, Anm. 24.

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jene ihren Grund in der Vernunftkritik selbst haben und zwar deshalb, weil Kant den Begriff der Erkenntnis nicht eindeutig genug bestimmt habe. Reinhold zufolge hat die Vernunftkritik die Streitigkeiten in der vorkantischen Philosophie beendet, indem sie dargetan habe, daß hier fälschlicherweise die Prädikate des Erkennens, »die der bloßen Vorstellung angehören, auf Dinge selbst« übertragen worden sind.187 Die Streitigkeiten, die dann die Vernunftkritik selbst ausgelöst hat, liegen nach Reinhold konsequenterweise in dem »von Kant und seinen Prüfern verschieden gedachte[n] Begriff von Vorstellung«.188 Der richtige Vorstellungsbegriff liegt freilich – so Reinhold – bereits implizite in der Vernunftkritik selbst beschlossen, sofern der in ihr aufgestellte »Begriff der Erkenntnis« den der Vorstellung voraussetzt. Dieser von der Kantischen »Theorie des Erkenntnisvermögens bloß vorausgesetzt[e]« Begriff der Vorstellung ist dann die Ursache dafür, »warum dieselbe bisher so wenig verstanden wurde.«189 Nach Reinholds Interpretation der kritischen Philosophie muß sie nämlich Erkenntnis immer schon als Vorstellung verstehen: »Man nehme was immer für einen Begriff der Erkenntnis an, so setzt er den Begriff der Vorstellung voraus. Nicht jede Vorstellung ist Erkenntnis, aber jede Erkenntnis ist Vorstellung. Ist also aus dem Begriffe der Vorstellung ein demselben wesentliches Merkmal weggelassen oder in denselben ein fremdes oder gar widersprechendes aufgenommen, so ist auch der Begriff der Erkenntnis in einem seiner Hauptmerkmale (nämlich der Vorstellung) unrichtig«.190 Ist jede Erkenntnis eine Vorstellung, liegt es auf der Hand, daß der Grund für alle im Begriff der Erkenntnis lokalisierten Probleme im Begriff der Vorstellung gesucht werden muß. Und damit wäre dann der Schlüssel für den Umgang mit der kritischen Philosophie einerseits und ihren Kritikern ander187 188 189 190

Versuch, S. 62. Versuch, S. 64. Versuch, S. 63. Versuch, S. 189.

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seits gefunden. Denn nach Reinhold liegt der Grund, weshalb Kants Erkenntnisbegriff letztendlich unterbestimmt bleibt, darin, daß die kritische Philosophie genau jenen Begriff der Vorstellung ungenügend genau bestimmt habe. Sie setzt ihn mit anderen Worten voraus, ohne ihn näher zu explizieren. Der Versuch ist deshalb der Aufgabe gewidmet, den Vorstellungsbegriff genauer zu entwickeln und zu bestimmen, was die Unbestimmtheit in der Kantischen Theorie der Erkenntnis behöbe, denn deren Resultate hält Reinhold nach wie vor für richtig. Großen Wert legt Reinhold außerdem darauf, die Schlüsselfunktion des Vorstellungsbegriffs unabhängig von der kritischen Philosophie entwickelt zu haben. So hat er, wie er schreibt, nachdem der Stellenwert des Vorstellungsbegriffs entwickelt war, die Kritik der reinen Vernunft noch einmal genau auf diesen Punkt hin durchgelesen, was ihn dann »vollkommen überzeugt, daß er sich des Begriffes von Vorstellung, den der berühmte Verfasser dieses Werkes vorausgesetzt hatte, wirklich bemächtigt habe.«191 Hat sich unser Philosoph seinen Vorstellungsbegriff tatsächlich relativ unabhängig von der ersten Kritik erarbeitet, stellt sich freilich die Frage nach den Quellen für diesen neuen Begriff. Diesbezüglich bietet sich zunächst Schütz’ Rezension der Kritik der reinen Vernunft in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1785 an, insbesondere wegen der der dort prominent vorgetragenen Stufenleiter der Vorstellungen; prominent nicht nur wegen ihrer graphischen Darstellung, sondern auch deshalb, weil sie im Gegensatz zur Kritik der reinen Vernunft noch vor der Erörterung der Urteils- und Kategorientafel und der Amphibolie der Reflexionsbegriffe zur Darstellung kommt. An der Spitze dieser »Stufenleiter unsrer Vorstellungen ihrem Inhalt u. Ursprunge nach betrachtet« steht die Gattung »Vorstellung überhaupt, (repraesentatio)«192. Unter diesem Gattungsbegriff 191

Versuch, S. 63. Allgemeine Literatur-Zeitung, a. a. O., Anm. 104, Sp. 55, Schütz folgt hier KrV, A 320 / B 376. 192

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ressortieren dann in einer baumartigen Darstellung alle anderen Vorstellungsbegriffe, wie Perzeption, Empfi ndung und Erkenntnis, Anschauung und Begriff, Kategorien und Ideen. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang Ernst Platner und der vornehme Platz zu erwähnen, den er der Vorstellung in seinen Aphorismen einräumt. Obwohl Platners Vorstellungsbegriff stark von der leibniz-wolffischen Philosophie geprägt ist, ist nicht sosehr von einer inhaltlichen Beeinflussung auszugehen, sondern dürfte Reinhold eher durch die prominente Rolle des Vorstellungsbegriffs in den Aphorismen auf eine Spur gebracht sein. Daß Platners Überlegungen zum Vorstellungsbegriff Reinhold inspiriert haben, ist allein schon deshalb naheliegend, weil er diesen Begriff bereits in seinen ersten Weimarer Publikationen auf seinen damals zentralen Aufklärungsbegriff anwendet. Was Reinhold an Platners Philosophie genau interessiert und wie er sie für sich fruchtbar gemacht hat, ist allerdings noch immer ein Desiderat der Reinhold-Forschung. Jedenfalls geht die erste Verwendung und anschließende systematische Weiterentwicklung des Vorstellungsbegriffs ohne Zweifel in Reinholds vorkantische Zeit zurück, weshalb er von Kants eigener Vorstellungstheorie – sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann – eher nur Anregungen wird erhalten haben. Ein größerer Einfluß seitens der Kantischen Philosophie liegt auch wegen der systematischen Orientierung des Vorstellungsbegriffs bei Reinhold nicht sehr nahe. Schon im Versuch avanciert die Gattung der Vorstellung im Grunde genommen schon zum Grundsatz der gesamten Philosophie. Terminologisch vollzogen wird dieser Schritt allerdings erst 1790, wenn der sogenannte »Satz des Bewußtseins« auch ausdrücklich als Grundsatz eingeführt wird.193 Außerdem ver193 Vgl. Beyträge I, S. 144. Die früheste Form des »Satz des Bewußtseins« fi ndet sich vielleicht im siebten Merkur-Brief vom August 1787, S. 142. Eine schon fast ausgereifte Fassung bringt Reinhold in »Ueber die Natur des Vergnügens«, a. a. O., Anm. 168, S. 42. – Zur Genese dieses Grundsatzes vgl. Alessandro Lazzari, »Zur Genese

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wendet Kant den Ausdruck »Grundsatz« bzw. »Grundsätze« niemals in irgendeinem Zusammenhang mit seinem Vorstellungsbegriff. Die ersten Ansätze der Reinholdschen Grundsatzphilosophie gehen in seine vorkantische Zeit zurück. Bereits in dem Aufsatz »Gedanken über Aufklärung« von 1784 stellt er die Forderung nach einem allgemeinen und schlechthin allgemeinverbindlichen Prinzip auf, das alle unsere Überzeugungen vermag zu tragen. Diese Forderung wird allerdings noch nicht mit dem dort ebenfalls zur Rede stehenden Vorstellungsbegriff verbunden; genausowenig in den Merkur-Briefen, in denen das, was sich in dieser Zeit als die spätere Grundsatzphilosophie herauszukristallisieren beginnt, zunächst nur ein methodisches Hilfsmittel zur Beschreibung und schließlich auch Tilgung der Streitigkeiten in der Philosophie ist.194 Quasi unter der Hand entwickelt sich dann aus dieser Methode ein Prinzip, das Reinhold zufolge sogar von der kritischen Philosophie vorausgesetzt wird und aus dem sich die an sich richtigen Resultate derselben rekonstruieren lassen.195 Diese Pointe vertritt von K. L. Reinholds ›Satz des Bewußtseins‹«, in: Philosophie ohne Beynamen, a. a. O., Anm. 51, S. 21–38. Für Reinholds Rückgriff bezüglich des höchsten Grundsatzes der Vorstellungstheorie auf Vorgaben der leibniz-wolffi schen Philosophie vgl. Bernhard Mensen, »Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie«, in: Philosophie aus einem Prinzip, hrsg. von Reinhard Lauth, Bonn 1974, S. 108–128. Aufschlußreich ist ferner Wolfgang Schrader, »Systemphilosophie als Aufklärung. Zum Philosophiebegriff K. L. Reinholds«, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 72–81. 194 Erster Merkur-Brief, S. 122: »Da nun jeder Theil seine Kenntniß der Vernunft vor seinem Gegentheile rechtfertigen muß, so sieht er sich genöthiget, ausser den Gründen, die bisher nur ihm selbst befriediget hatten, neue zu fi nden, die auch seinem Gegner einleuchten müssen. Er muß also über seine bisherige Kenntniß hinausgehen, und Grundsätze aufsuchen, die er bis dahin noch nicht entdeckt hat, mit einem Worte, er muß seine bisherigen Kenntnisse von der Vernunft neu begründen.« 195 Vgl. Beyträge I, S. 265 ff.

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freilich schon der Versuch, obwohl der Ausdruck »Satz des Bewußtseins« dort noch nicht vorkommt.196 Nach Martin Bondeli soll sich ferner auch noch etwas von Herders Erbe in Reinholds neuer Vorstellungstheorie widerspiegeln. Denn unser Philosoph versteht die Vorstellung nicht nur als höchstes Prinzip der Erkenntnis und damit auch des Bewußtseins, sondern auch als ein primäres Vermögen, das nicht nur einen Zusammenhang mit all seinen Folgeprinzipien bildet, sondern diese, wie Bondeli meint, auch erzeugt.197 Tatsächlich versteht nun Herder die Idee seiner Grundkraft als eine erzeugende Originalgattung aller Kräfte. Reinholds Vorstellungsvermögen kann nun zwar als eine Theorie der verschiedenen Funktionen des menschlichen Gemüts verstanden werden, doch nicht in dem Sinne, daß diese Theorie jene Funktionen als Gemütskräfte erzeugte. Hier hält Reinhold sich an Kants Pointe der Rezension der Ideen, daß wir die Gemütskräfte nicht erkennen können, da ihnen keine – wie bei Herder – konstitutive, sondern nur regulative Funktionen zukommen. Die Pointe von Kants Vorwurf gegen Herder besteht ja darin, daß dieser dogmatische Metaphysik betreibe, weil wir die in der Natur wirksamen Kräfte nur als Wirkung und eben nicht, wie Herder es will, als Ursache verstehen können. Reinhold greift nun genau diese Pointe auf, indem er im Versuch die Vorstellung ausdrücklich nicht, wie bei Herder oder in der leibniz-wolffischen Philosophie allgemein der Fall ist, als eine Kraft, sondern – ganz im Kantischen Sinne – als Vermögen auffaßt. Und dieses Vermögen ist nicht – in diesem Sinne müssen die Ausführungen Bondelis m. E. nuanciert werden – mit Herders erzeugender Originalgattung zu vergleichen, denn 196 Martin Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803, Frankfurt/M. 1995, S. 56, spricht diesbezüglich von einer Vorform des später so bezeichneten »Satz des Bewußtseins«. 197 Vgl. Martin Bondeli, »Von Herder zu Kant«, a. a. O., Anm. 87, bes. S. 227 ff.

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es folgen aus ihm nicht die verschiedenen wirklichen Kräfte des menschlichen Gemüts, sondern lediglich die Theorie des Vorstellungsvermögens. Die nicht nur historisch höchst bedeutsame Theorie des Vorstellungsvermögens beansprucht, wie gesagt, das der kritischen Philosophie selbst fehlende Prinzip nachzuliefern. In der Hauptsache das dritte Buch des Versuchs rekonstruiert die Kantische Erkenntnistheorie auf der Grundlage dieses Prinzips. Eine genauere Betrachtung dieses Buches zeigt allerdings auch, daß im Grunde genommen nicht viel von der eigentlichen Erkenntnistheorie Kants heil bleibt. Nicht umsonst kann Kant mit besonders diesem dritten Buch wenig anfangen. In seinem wichtigen Brief vom 21. September 1791 an Reinhold lobt er insbesondere das zweite Buch als »großes Verdienst um die Critik der Vernunft« und hält das dritte Buch für zu abstrakt.198 Kant bemängelt also nicht sosehr Reinholds Vorstellungstheorie mit ihrem Prinzip, die vornehmlich das zweite Bucht entwickelt, sondern vielmehr die Folgen oder die »Rekonstruktion« der kritischen Erkenntnistheorie auf der Grundlage dieser Vorstellungstheorie. Mit anderen Worten bemängelt er die Darstellung der inneren Gründe der kritischen Philosophie. Daß diese Kenntnisse Kants über den Versuch offenbar auf die Unterrichtungen Erhards zurückgehen, werden wir nachher noch sehen, wenn noch einmal auf diesen Brief zurückgekommen wird. Obwohl es eher nicht wahrscheinlich ist, daß Kant den Versuch und insbesondere das dritte Buch aus eigener Lektüre gekannt hat, läßt sich diese Kritik – wenn sie überhaupt eine Kritik ist, wozu später mehr – im großen und ganzen gut nachvollziehen. Denn obwohl sich Reinhold hinsichtlich seiner Darstellung im dritten Buch dem äußeren Eindruck nach an den formalen Aufbau der ersten Kritik hält, nimmt er in Wirklichkeit eine wesentlich andere Bestimmung der Kantischen Erkenntnistheorie vor. Besonders hinsichtlich dieses Buches 198

Vgl. Akad.-Ausg., 11.288 f.

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besteht für uns die Interpretationsschwierigkeit darin, daß Reinhold sich hier – wie übrigens auch sonst im Versuch – mit offener Kritik an Kant und an seine Philosophie diplomatisch zurückhält, obwohl ihm die Differenzen hinsichtlich der Vernunftkritik zweifelsohne bewußt gewesen sein müssen. Die oft sehr schwierig zu entwirrenden Argumentationsstränge und Auseinandersetzungen im dritten Buch besitzen auch deshalb ein hohes Maß an verräterischem Potential, weil sie uns unwillkürlich stets nach Entsprechungen zur kritischen Philosophie suchen lassen. Reinhold verquickt seine Darlegungen tatsächlich so sehr mit der kritischen Philosophie, daß es einerseits unmöglich ist, das dritte Buch nicht gegen den Hintergrund der Kritik der reinen Vernunft zu lesen, obwohl anderseits auch kein Weg daran vorbei führen darf, die kritischen Spitzen gegen Kant, die mehr oder weniger gravierenden Differenzen, aber auch Übereinstimmungen genau zu analysieren, um überhaupt verstehen zu können, was Reinhold besonders im dritten Buch leistet. Solange uns diese Differenzierungen nicht genauer gelingen, d. h. solange es uns nicht gelingt, Reinholds eigenes philosophisches Interesse mit Blick auf seinen Umgang mit der kritischen Philosophie genauer zu bestimmen, so lange muß uns der Versuch letztendlich ein versiegeltes Buch bleiben. Zuweilen kann es für die Interpretation des Versuchs hilfreich sein, bestimmte Lehrstücke vor dem Hintergrund der ein Jahr später erschienenen Beyträge I zu interpretieren. Sie argumentieren nämlich mit Rücksicht auf den Versuch weniger kompliziert; außerdem löst sich ihr Autor dort selbstbewußter von Kants Vorgaben und hält sogar mit ausdrücklicher Kritik an dessen Adresse weniger zurück, was Reinholds Position klarer von der des Königsbergers abhebt.199 Verkehrt wäre es aller199 Für Reinholds Kant-Kritik vgl. auch Martin Bondeli, »Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie«, in: Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, a. a. O., Anm. 133, S. 1–24. Neben den in diesem Aufsatz angeführten Kritikpunkten kritisiert Reinhold in den Beyträgen I außerdem den von Kant eingenommenen Stand-

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dings, den Versuch lediglich als Durchgangspunkt zur späteren und letztendlich nur fragmentarisch dargestellten Elementarphilosophie aufzufassen. Denn schon im Versuch beansprucht Reinhold sicher auch eine eigenständige Position gegenüber der kritischen Philosophie einzunehmen, obwohl er auch vor der Schwierigkeit steht, nicht allzusehr von den Vorgaben der kritischen Philosophie abrücken zu können, da er ja als deren designierter Vorsprecher gilt und auch gelten wollte. Hinzukommt, daß Reinhold auch 1789 noch ein relativer Neuling auf der akademischen Bühne ist, der viel zu gewinnen, doch auch nicht wenig zu verlieren hat. Wie wichtig ihm der Versuch tatsächlich für seine akademische Karriere gewesen ist, bezeugt sein Brief vom 11. November 1792 an Erhard, in dem er schreibt, er »werde Gott danken müssen, wenn ich in Jena mein Stückchen Brod – das ich nach Erscheinen meiner Theorie gewiß nicht empfangen haben würde – bis an mein Ende behalten kann.«200 Allerdings sind dies nicht die einzigen Probleme, vor die uns die Interpretation des Versuchs stellt; sein größtes Defizit besteht vielleicht darin, einfach zu hastig verfaßt zu sein. Besonders das dritte Buch, also die Darstellung der inneren Gründe zeigt Unausgewogenheiten, bzw. stellt teilweise Behauptungen auf, die schlecht oder nicht mit den früheren Büchern zu vereinbaren sind. Es ist außerdem unwahrscheinlich, daß sich Reinhold über diese Probleme und über die daraus erwachsenden Implikationen für den gesamten Versuch nicht im klaren war. Seine Arbeitsweise hat es ihm jedoch von vornherein unmöglich gemacht, Einsichten, die sich erst im Laufe des Schreibprozesses genauer herauskristallisierten, noch in die früher geschriebenen Teile einzuarbeiten. Diese Arbeitsweise ist von der Forschung bislang nicht angemessen berücksichtigt. Doch punkt der Erfahrung, die Kantische Einheit der transzendentalen Apperzeption als höchsten Standpunkt der kritischen Philosophie und den fehlenden Nachweis für die Vollständigkeit der Kategorien. 200 Denkwürdigkeiten des Philosophen …, a. a. O., Anm. 130, S. 345.

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erklärt gerade sie vieles über die Gründe der Inkonsistenzen und Interpretationsschwierigkeiten des Versuchs, weshalb auch näher auf diese Arbeitsweise einzugehen ist.

9. Zum Drucklegungsprozeß des Versuchs Zunächst einmal muß ein weitverbreiteter Fehler hinsichtlich des Erscheinungsdatums des Versuchs korrigiert werden. Der Versuch liegt nämlich nicht im Frühjahr, wie fälschlicherweise bislang immer wieder behauptet wurde, trotz der Tatsache, daß die Michaelismesse an verschiedenen Stellen als Erscheinungsdatum des neuen Werkes angegeben wird,201 sondern erst im Spätherbst 1789 gedruckt für das Publikum vor.202 Das bislang früheste Zeugnis für die Fertigstellung des Buches ist Reinholds Brief vom 12. Oktober an Nicolai in Leipzig, dem 201 Vgl. »Fragmente über das bisher allgemein verkannte Vorstellungs-Vermögen«, in: Der Teutsche Merkur, Oktober 1789, 4. Bd., S. 1–22, S. 1 Anm., und Reinholds Brief vom 9. April an Kant, Akad.Ausg., 11.18. 202 Die Behauptungen von Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1975), Stuttgart 1992, S. 23 u. S. 771, und von Manfred Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997, S. 106 u. 297 f., daß der Versuch bereits im Frühjahr 1789 soll erschienen sein, sind falsch. Ohne auf die frühere falsche Datierung zurückzukommen, verbessert sich Henrich erstmals in Immanuel Carl Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften, a. a. O., Anm. 15, S. 370 Anm. 17 und S. 377 Anm. 7, diese Anm. bezieht sich auf folgenden Brieftext von Diez: »Ich fi ng im Herbste [von 1789, E.-O.O. ] die Lesung der Kantischen Kritik an, zu einer Zeit, wo noch keine Reinholdische Theorie zu haben war« (S. 17, meine Hvh.). Auch in Grundlegung aus dem Ich, a. a. O., Anm. 16, Bd. 1, S. 232, bringt Henrich das richtige Erscheinungsdatum, allerdings verquickt mit der falschen Mitteilung, Reinhold habe Kant die erste im April-Heft des Teutschen Merkur erschienene Lieferung seiner Abhandlung »Ueber das bisherige Schicksal …« zugeschickt (vgl. dazu unten Anm. 208).

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das fertige Buch beigelegen hat.203 Wahrscheinlich am 14. Oktober geht ein Brief zusammen mit einem Exemplar des Versuchs an Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801) 204 und am 18. Oktober nach Pempelfort an Friedrich Heinrich Jacobi (1743– 1819).205 Der Versuch ist somit Ende des ersten Oktoberdrittels erschienen. Am 21. November bringt das Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung die Nachricht über das Erscheinen,206 obwohl die Rezension des Buches bereits in den Blättern des 19. und 20. November vorliegt.207 Die falsche Fixierung des Erscheinungsdatums des Versuchs ist offenbar durch die auf den 8. April 1789 datierte »Vorrede« veranlaßt. Der Text dieser »Vorrede« ist nämlich ebenfalls im Frühjahr 1789 als ein separates Buch unter dem Titel Ueber die

203

Vgl. KA 2.168. Vgl. dessen Antwortschreiben vom 22. Oktober 1789, in dem es heißt, er habe Reinholds Brief »erst vor acht Tagen« erhalten, KA 2.175. 205 KA 2.172 f. – Jacobi beginnt auch bald mit der Lektüre des Buches, die ihn, wie er am 14. Dezember an Graf Stolberg schreibt, mit »Ekel und Abscheu« erfüllte, obwohl ihm sein »Genius gebietet«, es ganz durchzulesen, F. H. Jacobi’s Nachlaß, a. a. O., Anm. 125, 1 Bd., S. 123. 206 Nr. 134, Sp. 1111. 207 Allgemeine Literatur-Zeitung vom 19. November 1789, Nr. 357, Sp. 417–424, fortgesetzt am 20. November 1789, Nr. 358, Sp. 425– 429, jetzt in Faustino Fabbianelli, Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, Hildesheim u. a. 2003, S. 1–10. Der Rezensent ist August Wilhelm Rehberg. Die Schnelligkeit, womit diese Rezension erscheint, kann nur darauf zurückgehen, daß die Herausgeber Rehberg die Druckbogen des Versuchs zugespielt haben, die Reinhold ja mit Sicherheit Gottlieb Hufeland, vgl. unten Anm. 214, hatte zukommen lassen. – Reinhold vermutet schon am 14. Juni 1789 in einem Brief an Kant (Akad.-Ausg., 11.61), daß Rehberg den Versuch für die Allgemeine Literatur-Zeitung rezensieren werde, worüber er wenig glücklich ist, wie tatsächlich nachher auch über die Rezension selbst. 204

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bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie erschienen.208 Druckidentisch ist dieses Büchlein dann als »Vorrede« dem Versuch beigegeben, d. h. auch ohne Änderung der Datumssignatur,209 welcher Umstand dann die Ursache für die falsche Datierung des Erscheinungsdatums des Versuchs wurde. Den konkreten Plan zur Abfassung des Versuchs hat Reinhold offenbar Ende 1788 gefaßt. In einem Brief vom 21. Dezember an Wieland ist nämlich davon die Rede, daß er kurz vorher einen »Accord« mit den Verlegern »Hrn. Maucke (und 208 Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie, Jena 1789. Das Buch ist dem Titelblatt zufolge nur bei Mauke [auch Maucke] in Jena erschienen und nicht auch – wie der Versuch – bei Widtmann in Prag. Es ist dieses Büchlein, das Reinhold am 9. April Kant zum 65. Geburtstag am 22. April schickt, vgl. Akad.-Ausg., 11.17 und 11.60, womit zugleich das faktische Erscheinungsdatum klar ist. Im April 1789 erscheint diese Schrift mit zahlreichen stilistischen, inhaltlich allerdings kaum relevanten Veränderungen unter dem Titel »Ueber das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie« auch im Teutschen Merkur, 2. Bd., S. 3–37, fortgesetzt unter dem Titel »Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie«, ebd., Mai 1789, S. 113–135. Der Aufsatz ist mit »R.« signiert und auf den »1. Merz 1789« datiert. Das Manuskript liegt Wieland am 18. Februar vor, wie er am selben Tage sowie am 3. März schreibt, vgl. Wielands Briefwechsel, hrsg. von Siegfried Scheibe, Bd. 10/1, Berlin 1992, S. 153 und S. 161. Übrigens berichtet Reinhold in einem Brief vom 30. April 1789 an Schack Hermann Ewald, daß das Büchlein gegenüber der im Teutschen Merkur erschienen Version den besseren, bzw. defi nitiven Text enthält, KA 2.80. 209 Allerdings sind im Druck des Versuchs auf dem letzten Blatt der »Vorrede« unter der Datumssignatur zwei Verbesserungen von Druckfehlern nachgedruckt und sind außerdem die Kopfzeilen ausgewechselt, d. h. im Versuch gegen »Vorrede«. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Druckschrift Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie und die spätere »Vorrede« des Versuchs in einem Druckverfahren erstellt sind. In dem Brief an Ewald (siehe vorherige Anm.) schreibt Reinhold, das Büchlein »liefert wirklich die ersten Blätter zu meinem Versuche einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, nämlich die Vorrede – die hier nur mit einem besondern Titel als Avantcoureur die Ostermesse erscheint.« (KA 2.80)

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Compagnie)« abschlossen hat, – mit »Compagnie« ist zweifelsohne der Prager Mitherausgeber Caspar Widtmann gemeint.210 Am 26. Februar 1789 schreibt Reinhold dem Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen, er habe wegen der weiten Entfernung den anfänglichen Plan aufgegeben, sein neues Buch bei Blumauer in Wien zu verlegen (siehe zu diesem Plan oben S. LXXXVI ), weshalb er mit »Mauke negotierte« über den Druck der »Theorie des Vorstellungsvermögens«; 211 es ist hier nicht länger die Rede von einer Einleitung in die Kritik der Vernunft, wie ursprünglich für die Buchausgabe bei Blumauer beabsichtigt, sondern von einem neuen Buchprojekt: dem des Versuchs. An Kant schreibt Reinhold am 14. Juni 1789 übrigens, sein Honorar für den Versuch betrage drei Louisdor pro Bogen (d. i. 16 Druckseiten), was sehr gut bezahlt ist.212 Nach Vertragsabschluß scheint sich Reinhold unverzüglich an die Arbeit gemacht zu haben, denn jener Text, der die »Vorrede« zum Versuch werden sollte, liegt spätestens am 9. April gedruckt vor (vgl. oben Anm. 208). Wie diesbezüglich die Absprachen mit den Verlegern waren, ist unklar, denn Ueber die bisherigen Schicksale erscheint nur bei Mauke. Der weitere Druckverlauf gibt zu erkennen, daß die folgenden drei Bücher des Versuchs nach Fertigstellung der entsprechenden Manuskripte unverzüglich gedruckt werden. Am 30. April schreibt Reinhold Schack Hermann Ewald (1745–1822) nach Gotha, daß »der erste Bogen unter den Händen des Setzers« ist und das fertige Buch »ungefähr 30 Bogen betragen wird«, d. h. etwa 480 Seiten (es sollten schließlich 37 Bogen werden).213 Käuflich sind diese 210 Vgl. Reinholds Brief vom 21. Dezember 1788 an Wieland, Wielands Briefwechsel, a. a. O., oben Anm. 208, S. 127, bzw. KA 2.44–46. 211 Vgl. KA 2.63. 212 Vgl. Akad.-Ausg., 11.62. Der Louisdor ist eine aus 22-karätigem Gold geprägte Münze und wiegt 6,7 Gramm, sie entspricht einem Gegenwert von 5 Reichstalern. In dem in Anm. 210 erwähnten Brief an Wieland ist die Rede von 15 Reichstalern, was die Angabe gegenüber Kant bestätigt. 213 KA 2.81.

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Teile des Versuchs dann allerdings nicht; sie kursieren lediglich in einem sehr auserwählten Kreis.214 Wie er Ewald schreibt, verwendet er sie für seine Vorlesung im SS 1789 über kritische Philosophie nach dem Versuch; ob sich seine Zuhörer die Bogen beschaffen konnten, ist nicht bekannt. Das erste Buch des Versuchs liegt spätestens am 14. Juni gedruckt vor, denn an diesem Tag schickt Reinhold es Kant zur Durchsicht.215 Dieses Buch besteht außerdem fast ganz aus Material, das in gesonderte Stücke aufgeteilt zwischen Juni und August ebenfalls auch im Teutschen Merkur, in der Berlinischen Monatsschrift und im Neuen deutschen Museum erscheint.216 Diese 214 Aus einem undatierten Brief an Gottlieb Hufeland geht hervor, daß Reinhold auch ihm die Bogen des ersten Buchs des Versuchs hat zukommen lassen, vgl. KA 2.122. 215 Vgl. Akad.-Ausg., 11.17 und 11.60. – Trotz dieser völlig eindeutigen Briefstellen behauptet Dieter Henrich, »aus der überlieferten Korrespondenz« zwischen Reinhold und Kant ginge nicht hervor, daß Kant vor dem Erscheinen des Versuchs das Manuskript erhalten hätte (Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften, a. a. O., Anm. 15, S. 406); zumindest für das erste Buch ist diese Behauptung nachweislich falsch. – Auch Wieland hat das erste Buch vorgelegen, wie Nikolai Karamsin in einem Brief vom 21. Juli 1789 nach einem Besuch an ihn berichtet: »Er [Wieland, E.-O.O. ] zeigte mir eine neue Schrift seines Schwiegersohnes, des Professors Reinhold: ›Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens‹, die soeben die Presse verlassen hatte und die Erläuterung der Kantschen Philosophie beabsichtigt. ›Lesen Sie das Buch durch‹, sagte Wieland, ›wenn Sie an dergleichen Sachen Geschmack fi nden.‹« (Nikolai Michailowitsch Karamsin, Briefe eines russischen Reisenden, hrsg. von Walter Markov, Berlin ²1981, S. 162). Übrigens weist nichts darauf hin, daß Karamsin das Angebot angenommen hat. 216 Es handelt sich um folgendes Material: 1.) »Allgemeiner Gesichtspunkt einer bevorstehenden Reformation der Philosophie«, in: Der Teutsche Merkur, Juni 1789, S. 243–274 und ebd. Juli 1789, S. 75–99 (= Versuch, 1. Buch, § 1, S. 71–120). Wieland erhält den ersten Teil des Aufsatzes Ende April, wie aus seinem Brief vom 2. Mai an Reinhold hervorgeht, vgl. Wielands Briefwechsel, a. a. O., Anm. 28, S. 192, den zweiten Teil erhält er am 10. Juni, vgl. ebd., S. 219. – 2.) »Von wel-

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Vorpublikationen weichen nur in Einzelheiten vom Text des Versuchs ab. Ob den Druckern dieser Aufsätze die Fahnen des Versuchs als Druckvorlage gedient haben, ist unbekannt, die Aufsätze bieten allerdings oftmals bessere Lesarten als der Versuch. Ferner scheint das zweite Buch zum Zeitpunkt des Briefes vom 14. Juni an Kant bereits beim Setzer zu liegen. Reinhold weiß ihm nämlich zu berichten, es werde »wohl auch in sechs Wochen gedruckt seyn«; außerdem weiß er, es werde »nicht viel über sechs Bogen betragen«, es sollten schließlich acht Bogen werden.217 Er verspricht Kant dieses zweite Buch ebenfalls zuzuschicken. Der Briefwechsel mit Kant nach dem 14. Juni ist allerdings lückenhaft, weshalb unklar ist, ob und wenn ja, wann er es bekommen hat.218 Interessant ist außerdem die Tatsache, daß Reinhold im zur Rede stehenden Brief an Kant diesen nicht nur bittet, ihm ein Zeugnis dafür auszustellen, die kritische Philosophie richtig verstanden zu haben, welches er dann in einem »Vorberichte« zum Versuch einzurücken gedenkt, sondern ebenfalls sondiert, ob sein Königsberger Kollege Christian Jakob Kraus (1753– 1807) den Versuch für die Allgemeine Literatur-Zeitung rezensieren chem Skeptizismus läßt sich eine Reformation der Philosophie hoffen?«, in: Berlinische Monatsschrift, Juli 1789, 14. Bd., 1. Stück, S. 49–72 (= Versuch, 1. Buch, § 2, 120–141). Der Aufsatz ist auf den 20. Mai datiert und mit »Reinhold« unterschrieben. – 3.) »Wie ist Reformazion der Philosophie möglich?«, in: Neues deutsches Museum, 1. Bd., 1. Stück, Juli 1789, S. 31–47, ebd. 2. Stück, August 1789, S. 204–226 und ebd. 3. Stück, S. 284–304 (mehrere Seiten sind dem 1. Brief der Briefe über die Kantische Philosophie entnommen) (= Versuch, 1. Buch, §§ 3, 4 u. 5, S. 141–192). – Schon früher ist erschienen: »Neue Entdeck.«, in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom 25. September 1788, Nr. 231a, Sp. 831–832 (= Versuch, S. 76–82, allerdings erweitert und anders eingeteilt). 217 Akad.-Ausg., 11.61. 218 Es ist möglich, daß Wieland sich bei Reinhold am 26. August bedankt für die Zustellung des zweiten Buchs, bzw. für einen Brief »u seine Beylagen«, vgl. Wielands Briefwechsel, a. a. O., Anm. 28, S. 250. Daß er die Fahnen des ersten Buches besaß, geht aus einem Bericht von Nikolai Karamsin hervor, siehe oben Anm. 215.

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wolle. Kraus würde dann, so Reinhold, »die einzelnen Stücke davon [des Versuchs, E.-O.O. ] so frühzeitig« erhalten, sodaß »die Recension bey Erscheinung des Buches um Michaelis fertig seyn« könne.219 Hiermit wird der bevorstehende Drucklegungsprozeß des Versuchs von Reinhold ziemlich genau erläutert. Übrigens sollte weder Kraus den Versuch rezensieren noch Kant das begehrte Zeugnis ausstellen. Kurz vor dem Erscheinen des Versuchs publiziert das Oktoberheft des Teutschen Merkurs von 1789 außerdem den ersten Abschnitt des zweiten Buchs.220 Diese Publikation unterscheidet sich wegen vieler Umstellungen erheblich von dem entsprechenden Abschnitt im Versuch. Sie ist ausdrücklich mit dem Zweck verfaßt, das baldige Erscheinen des Buchs zu propagieren, weshalb man guten Grundes davon ausgehen darf, daß es sich hierbei um eine spätere, d. h. auf der Grundlage des Versuchs verfaßte Überarbeitung handelt. In einer Fußnote auf der ersten Druckseite des Aufsatzes heißt es sofort – damit sicherlich bestimmten Gerüchten entgegenwirkend –, daß der für die Michaelismesse angekündigte Versuch nicht den Zweck habe, »wie hie und da angekündiget wurde, blosse Erläuterung der Kritik der Vernunft oder eine Paraphrase des kantischen Systems [zu sein, E.-O.O. ], sondern die bisher noch nirgends aufgestellten eigentlichen Elemente der kritischen Philosophie und in derselben den Schlüssel zur Kritik der Vernunft liefern soll.«221 In seinem Brief vom 14. Juni an Kant bestimmt er den Inhalt ähnlich: »Das zweyte Buch welches die eigentliche Theorie des Vorstellungsvermögens überhaupt enthält, sehe ich für die eigentlichen Prämissen Ihrer Theorie des Erkenntnißvermögens, 219

Akad.-Ausg., 11.61. »Fragmente über das bisher allgemein verkannte VorstellungsVermögen«, in: Der Teutsche Merkur, Oktober 1789, S. 3–22 (= Versuch, § 6–16, S. 196–244, anders eingeteilt und erweitert). Erwähnt wird dieser Aufsatz von Martin Wieland am 26. August: »Ihr versprochener Auszug pp soll mir sehr willkommen seyn« (Wielands Briefwechsel, a. a. O., Anm. 28, S. 251). 221 Ebd. S. 3. diese Fußnote fi ndet sich freilich nicht im Versuch. 220

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und den Schlüssel zur Kritik der Vernunft an. […] Merkwürdig ist es immer, daß alle wesentliche Resultate ihrer Kritik der Vernunft in jener auf das blosse Bewußtseyn gebauten Theorie ihre vollkommste Bestättigung fi nden, und die für sich selbst feststehende Theorie des Erkenntnißvermögens auf einen ganz verschiedenen Wege eben so unerschütterlich befunden wird. Ich nenne sie Schlüssel zur Cr. d. V. in wie ferne alles was den Gegnern davon bisher Geheimniß war, durch den blossen Begrif der blossen Vorstellung aufgeschlossen wird.«222 Das Programm ist klar! Es gibt keinen Grund, an Reinholds Mitteilung zu zweifeln, daß das zweite Buch Anfang August, spätestens jedoch Ende August gedruckt vorliegt. Außerdem ist es wahrscheinlich, daß er das Manuskript Mitte, aber spätestens Ende Juni fertiggestellt hatte. Das bedeutete, er habe am dritten Buch, das fast die Hälfte des gesamten Versuchs ausmacht, kaum mehr als drei Monate gearbeitet. Weil der Versuch im Oktober ausgeliefert wird und die Drucklegung auch einiges an Zeit veranschlagt, ist davon auszugehen, daß Reinhold dem Drucker die Manuskripte der einzelnen drei Abschnitte des dritten Buches nach ihrem jeweiligen Abschluß unverzüglich zugestellt hat. Besonders das dritte Buch ist somit unter erheblichem Zeitdruck zustande gekommen.

10. Die Einteilung des Versuchs Werfen wir nun einen Blick auf die allgemeine Einteilung des Versuchs. Wie oben dargelegt, besteht diese in der Erörterung der inneren und äußeren Gründe der Kantischen Philosophie. Die äußeren Gründe kommen im ersten Buch zur Darstellung. Strenggenommen handelt es sich hierbei allerdings nicht um die äußeren Gründe der kritischen Philosophie, sondern – so der Titel dieses Buches – um »das Bedürfnis einer neuen Un222

Akad.-Ausg., 11.60 f.

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tersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens«. Und das ist etwas anderes als in den Merkur-Briefen der Fall ist, in denen es um die moralischen Bedürfnisse unserer Zeit geht, und die sich, wie gesagt, nicht aus der kritischen Philosophie herschreiben. Was nun das Bedürfnis einer Untersuchung über das menschliche Vorstellungsvermögen betrifft, ist im Grunde genommen das Gegenteil der Fall, sofern dieses Bedürfnis Reinhold zufolge auf die ungenaue Bestimmung des Erkenntnisbegriffs innerhalb der kritischen Philosophie zurückgeht. Das dritte Buch behandelt dagegen die seit dem Novemberbrief von 1786 noch ausstehende Erörterung der inneren Gründe der kritischen Philosophie. Wie aber ist die systematische Hauptabsicht des zweiten Buches zu bestimmen? Nach dem oben bereits erwähnten Brief vom 14. Juni an Kant enthält es »die eigentlichen Prämissen« der Kantischen »Theorie des Erkenntnißvermögens, und den Schlüssel zur Kritik der Vernunft.« In Anbetracht dieser Absicht müßte es zum einen die inneren Gründe der Theorie des Vorstellungsvermögens darstellen, die zum anderen ihrerseits der Darstellung der inneren Gründe der Erkenntnistheorie zugrunde liegen. Das führt allerdings zu einer Spannung im Reinhold überaus wichtigen Einteilungskriterium. Und diese Spannung wird ihm kaum entgangen sein, wozu im folgenden etwas weiter ausgeholt werden muß. In den Beyträgen I von 1790 bemerkt Reinhold, der Titel »Theorie des Erkenntnisvermögens überhaupt« des dritten Buches sei höchst unglücklich gewählt. Er spricht sogar von einer »unrichtigen Überschrift«, wofür eine Berechtigung allerhöchstens in dem Haupttitel des ganzen Buches gefunden werden kann, nämlich ein Versuch über das Vorstellungsvermögen zu sein.223 Der Grund für diesen unrichtigen Titel – wofür übrigens keine Alternative angeboten wird – liegt nun darin, daß im dritten Buch Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft mit Rücksicht auf das Vorstellbare überhaupt untersucht werden 223

Vgl. Beyträge I, S. 276 f.

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und somit nicht bloß mit Rücksicht auf das Erkennbare allein. In letzterer Rücksicht sind nämlich die Formen der Vorstellungen mit den Vorstellungen auf die Objekte derselben verknüpft; de facto werden sie allerdings auch auf das Subjekt bezogen, weshalb dieselben Formen ebenfalls die Formen des Begehrens ausmachen müssen. Deshalb gehören die Theorien des sinnlichen, verständigen und vernünftigen Vorstellungsvermögens nicht nur zur Theorie des Erkenntnisvermögens, sondern auch zur Theorie des Begehrungsvermögens. Im Versuch bleibt diese Theorie des Begehrungsvermögens allerdings unterbestimmt, sofern, wie Alessandro Lazzari überzeugend darlegt, weder das Begehrungsvermögen durch die Vernunft bestimmt noch die Idee der absoluten Ursache als absolut freies vorstellendes Subjekt abgeleitet wäre.224 Der systematische Ort letzterer Ableitung muß freilich das zweite Buch sein. Und dieses Buch liegt bei der Abfassung des dritten Buchs bereits gedruckt vor, weshalb Reinhold nicht mehr ins Manuskript eingreifen konnte. Das bestätigt wiederum unsere These, daß Reinhold bei der Abfassung des Versuchs die gesamte Vorstellungstheorie sowie ihre systematischen Folgen noch nicht genau vor Augen gestanden haben. Die eigentliche Schwierigkeit, die sich mit Rücksicht auf Reinholds Einteilungskriterium auftut, besteht somit darin, daß entscheidende Theoriestücke, die die inneren Gründe der Kantischen Philosophie betreffen, nicht im dritten, sondern im zweiten Buch ihren systematischen Ort haben bzw. haben müßten. Es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Reinhold dieser Gedanke auch gekommen ist; denn bei der Behandlung des Begehrungsvermögens stellt er uns eine Theorie des Begehrungsvermögens in Aussicht, die er auf die Theorie des Vorstellungsvermögens gedenkt folgen zu lassen.225 Eine solche Theorie wird er jedoch tatsächlich niemals vorlegen. Jedenfalls scheint er hiermit zu224 Vgl. Alessandro Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, a. a. O., Anm. 183, S. 90. 225 Vgl. Versuch, S. 575 mit Anm.

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nächst eine Notlösung vorzuschieben, die sich unmittelbar aus kompositorischen Problemen der Vorstellungstheorie und ihres Einteilungskriteriums ergeben, die besonders am Ende des dritten Buches virulent werden (besonders jedoch, wenn er in § 86 noch schnell meint, auf die praktische Vernunft und das Begehrungsvermögen eingehen zu müssen). Auch hier wird augenfällig, wie wenig sich unser Autor bei der Abfassung seiner neuen Vorstellungstheorie noch über ihre systematischen Folgen insbesondere hinsichtlich der kritischen Philosophie Kants im klaren war. Eine weitere Schwierigkeit muß in diesem Zusammenhang auch darin bestehen, daß, wenn er diese Folgen auch nur ansatzweise berücksichtigt hätte, die Umstellung der Gewichte in den letzten beiden Büchern des Versuchs für das dritte Buch zwangsläufig die Degradierung zu einem bloßen Appendix oder einem Beispiel der Anwendung des zweiten Buches zur Folge hätte. Mit anderen Worten ist die Darstellung der inneren Gründe der Vorstellungstheorie im zweiten Buch, die nach der Gesamtstruktur des Versuches ja strenggenommen noch zu den äußeren Gründen gehören, so eng mit den inneren Gründen der Kantischen Philosophie verknüpft, daß ihre relativ unabhängige Darstellung im zweiten Buch das gesamte Projekt der Vorstellungstheorie von vornherein in erhebliche systematische Bedrängnis bringt. Denn systematisch liegt das Hauptgewicht bei der Darstellung der inneren Gründe der Vorstellungstheorie und nicht bei der der inneren Gründe der Erkenntnistheorie im dritten Buch, das folglich auch nicht viel mehr als bloßes Anwendungsbeispiel oder ein Appendix ersterer Gründe ist. Somit zeigt sich, wie sehr sich Reinhold in der Darstellung seiner neuen Vorstellungstheorie verstrickt, sofern er sie bis ins Detail mit der kritischen Philosophie versucht zu verschmelzen. Das Einteilungskriterium gibt allerdings noch ein weiteres systematisches Problem auf. Unterstellt nämlich die Darstellung der inneren Gründe der Kantischen Philosophie eine Theorie des Vorstellungsvermögens, dann könnte man legi-

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timerweise auch fragen, wo wiederum die inneren Gründe dieser Theorie selbst zur Darstellung kommen. Im Versuch kommen sie auf der Ebene dieser Theorie selbst zur Darstellung – zumindest teilweise, sofern sie nämlich die theoretische Philosophie betreffen, freilich nicht, sofern sie die inneren Gründe der praktischen Philosophie betreffen, weil die inneren Gründe des Begehrungsvermögens, sofern sie das Vorstellungsvermögen betreffen, hier nicht entwickelt werden. Die Behandlung der inneren Gründe der Vorstellungstheorie auf der Ebene dieser Theorie selbst führt letztendlich zur Aufhebung des Einteilungskriteriums, wenigstens wenn man daran festhält, daß das zweite Buch zu den äußeren Gründen der Kantischen Vernunftkritik gehört. Hinsichtlich der äußeren Gründe der Vorstellungstheorie hatte Reinhold bemerkt, daß sie in dem von Kant bloß vorausgesetzten, mithin nicht näher erläuterten Erkenntnisgrundsatz liegen. Diese Tatsache soll dann Anlaß für die Probleme gewesen sein, die die erste Kant-Rezeption mit der kritischen Philosophie hatte. Aus diesem Grunde ist es nicht abwegig, die äußeren Gründe der Vorstellungstheorie in dem Bedürfnis nach einem ewigen Frieden in der Philosophie zu suchen, den die kritische Philosophie zwar herbeizuführen beabsichtigt, tatsächlich jedoch, wie Reinhold meint, ohne eine Theorie des Vorstellungsvermögens niemals herbeiführen kann, weil nur sie der Kantischen Erkenntnistheorie die Grundsätze vermag zu verschaffen. Mit dieser Überlegung wäre zum einen eine andere Bestimmung der äußeren Gründe als in den MerkurBriefen gegeben, doch wird damit zum anderen auch die kritische Philosophie selbst – zumindest teilweise – den äußeren Gründen zugeschlagen. Eine solche Umstellung nimmt Reinhold dann in der Tat 1791 in seiner Fundamentschrift vor, wo er der kritischen Philosophie nur noch den Rang einer »Propädeutik für die wahre einzig mögliche Elementarphilosophie« zuspricht.226 Die kritische Philosophie funktioniert somit bloß 226

Ueber das Fundament, a. a. O., Anm. 18, S. 115. – Für den propä-

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noch als Ein- und Hinleitung auf den Standpunkt der Elementarphilosophie. Letztere hat somit nicht mehr zum Zweck, der kritischen Philosophie die fehlenden Prinzipien nachzuliefern, sondern vielmehr entwickelt sie ausgehend von einem ersten und obersten Grundsatz, nämlich dem »Satz des Bewußtseins« ihre eigenen Gründe, Elemente und Prinzipien. Die Vorstellungstheorie des Versuchs, die anfangs nur die Elemente und Prinzipien der kritischen Philosophie nachzuliefern beanspruchte, entwickelt sich also bald zu einer selbstreflexiven und sich selbst begründenden philosophischen Theorie. Spätestens mit dieser Entwicklung ist dann der anfängliche Plan, wie er sich zuerst im Novemberbrief an Voigt und zuletzt in der »Vorrede« der Beyträge I von 1790 fi ndet, aufgegeben, nämlich die an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie von einer grundsätzlicheren Grundlage aus zu begründen.227 Infolge der in der Fundamentschrift vollzogenen Umorientierung fällt im Grunde genommen der Boden unter Reinholds anfänglichem Programm weg. Lokalisiert man nämlich die inneren Gründe der Vorstellungstheorie, wie in der reiferen Elementarphilosophie, in der Vorstellungstheorie selbst, gibt es für diese keinen Gegenstand mehr, auf den sie angewandt werden könnte; denn im Gegensatz zur Methode im Versuch, wo die Vorstellungstheorie die kritische Philosophie zum Gegenstand hat, gibt es keine Elementarphilosophie, deren indeutischen Charakter der kritischen Philosophie kann sich Reinhold freilich auch auf bestimmte Aussagen in der ersten Kritik berufen, vgl. etwa KrV, B 25: »so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen«, oder KrV, A 841 / B 869. 227 Vgl. Beyträge I, S. IV: »Der Plan meiner künftigen Arbeiten hat nun zwey Haupttheile, wovon mich der eine in den Briefen über die Kantische Philosophie, der andere in den Beyträgen beschäfftigen wird. In jenen werde ich die Folgen, die Anwendbarkeit, und den Einfluß; in diesen die Gründe, die Elemente, und eigentlichen Principien der Kritischen Philosophie zu entwickeln suchen.«

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nere Gründe einer Erklärung oder Erläuterung bedürften, sofern die Elemente und Prinzipien der Elementarphilosophie in dieser selbst liegen und folglich auch von ihr selbst entwikkelt werden müssen. Die Elementarphilosophie ist allerdings im großen und ganzen bloß Programm geblieben, von dem man vielleicht sagen kann, daß Fichte es letztendlich auf seine Weise zur Ausführung gebracht hat. Mit diesen Erörterungen sind wir etwas über den philosophischen Rahmen des Versuchs hinausgegangen, einerseits um die weitere Entwicklung von Reinholds Philosophie zu erhellen, aber anderseits auch, um die systematische Problemgeladenheit aufzuzeigen, die mit dem anfänglichen Anspruch zusammenhängt, der kritischen Philosophie die fehlenden Prämissen nachzuliefern, um so deren an sich richtige Resultate als begründet auszuweisen. Die Abfassung der »Vorrede« und des ersten Buchs hat Reinhold vermutlich keine größeren Schwierigkeiten bereitet. Denn die Methode der Darstellung der äußeren Gründe, die dort in der Gestalt der vornehmsten Resultate der kritischen Philosophie entwickelt werden, hat Reinhold in seinen Merkur-Briefen, aber auch in seiner Einleitung zur Ästhetik »Ueber die Natur des Vergnügens« von 1788/89 schon ausführlich erprobt (in letzterer Schrift allerdings ohne direkten Bezug auf Kant). Die Entfaltung der inneren Gründe der kritischen Philosophie nimmt Reinhold dagegen erstmals im dritten Buch des Versuchs vor. Wie gesagt kann er sich mit ihrer Darlegung in seinen ersten Jenaer Vorlesungen deshalb noch nicht befaßt haben, weil er noch nicht über eine Methode für deren Darstellung verfügte. Diese Methode eröffnet sich ihm erst, wenn er auf die Idee der Vorstellungstheorie kommt, was nicht vor der zweiten Hälfte des Jahres 1788 gewesen sein wird. Wenn diese Theorie im Sommer 1789 ausgearbeitet vorliegt, verfügt er endlich über das notwendige Rüstzeug, sich mit den inneren Gründen der Kantischen Philosophie zu befassen. Und dafür bleibt ihm dann nicht viel Zeit, denn der Versuch ist für Michae-

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lis 1789 angekündigt. Genaugenommen wenig mehr als drei, aber höchstens vier Monate, wenn, wie Reinhold am 14. Juni an Kant schreibt, das Manuskript des zweiten Buchs zu diesem Zeitpunkt tatsächlich so gut wie fertig ist oder vielleicht schon beim Drucker liegt. Das dritte Buch, das übrigens zwei Fünftel des Gesamtumfangs ausmacht, ist somit in erheblicher Eile geschrieben. Diese Eile in Kombination mit der Tatsache, daß Reinhold im Juni 1789 offensichtlich noch nicht viel mehr als die äußere Form des dritten Buches klar vor Augen gestanden hat, wird als Ursache dafür anzumerken sein, daß sich mit Hinblick auf das gesamte Werk im dritten Buch die größten systematischen Probleme auftun. Wir wollen zwei dieser Probleme erörtern. Im zweiten Teil des dritten Buches, d. h. in der »Theorie des Verstandes«, steht die Herleitung der Urteilsformen und Kategorien zentral. Dieses zentrale Theoriestück der kritischen Philosophie ist Reinhold nachweislich besonders lange verschlossen geblieben. Bereits in seinem ersten Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 klagt er darüber, die entsprechenden Ausführungen in dessen Werken nicht zu verstehen. Deshalb bittet er ihn auch darum, sich darüber in einem speziellen Beitrag für den Teutschen Merkur genauer und ausführlicher zu erklären.228 Diese Briefstelle bestätigt zunächst noch einmal, daß sich Reinhold in seinen ersten Jenaer Vorlesungen kaum mit den inneren Gründen der kritischen Philosophie wird befaßt haben können, wenn ihm ein so entscheidender innerer Grund, wie der der Urteile und Kategorien, so wenig klar ist. In den Beyträgen I bemerkt er dann ferner, er habe die »Hauptidee« der Herleitung der Urteilsformen erst sehr spät, vermutlich erst 1789 erfaßt, wobei sie ihm überdies im Traum eingefallen sei.229 Nun ist diese Hauptidee, wie sie im Versuch zur Darstellung kommt, alles andere als die der Kantischen Deduktion. Denn tatsächlich haben die Ausführungen dazu kaum etwas 228 229

KA 1.275 f. Vgl. Beyträge I, S. 316.

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mit denen Kants gemein. Das zeigt sich besonders hinsichtlich der Ableitung der Urteilsformen, die »durch lauter dichotomische Einteilungen« vorgenommen wird (leitend ist die SubjektPrädikat-Struktur des Urteils), was weder terminologisch noch systematisch mit den entsprechenden Darstellungen in der ersten Kritik in Übereinstimmung zu bringen ist. Trotzdem hat Reinhold gemeint, seine Darstellung habe die »von Kant zuerst aufgestellte(n), aber freilich noch nicht so ganz bestimmt deduzierte(n) Tafel der ursprünglichen Formen der Urteile«, mit anderen Worten den von Kant nicht gelieferten Beweis für die Vollständigkeit der Urteilstafel erstmals nachgetragen.230 Hinsichtlich des drittens Teils des dritten Buchs, der »Theorie der Vernunft«, ist kritisch festzustellen, daß letztendlich unklar bleibt, wie dort die Ideen aus der Vorstellungstheorie entwickelt werden können, da weder in der Vorstellungstheorie des zweiten Buches noch aufgrund derselben im dritten Buch ein besonders Vermögen der Vorstellung entwickelt wäre, aus dem sie folgten. Ferner ist auf die bereits erwähnten Konsequenzen hinzuweisen, die aus den »Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens«231 für das (bereits gedruckte) zweite Buch erwachsen, auch sofern wichtige Theoriestücke der »Grundlinien« früheren Behauptungen geradezu widersprechen.232 Wie gesagt werden Reinhold diese Widersprüche schon bei der Abfassung des dritten Buchs mehr oder weniger deutlich vor Augen gestanden haben. Deshalb sollte man die 230 Versuch, S. 448. Auch in den Beyträgen I rühmt er sich dafür, erstmals den Vollständigkeitsbeweis der Urteilsformen und Kategorien geliefert zu haben (vgl. S. 316 f.). – Über Reinholds Deduktion der Urteilsformen und Kategorien (den Ausdruck »Deduktion« vermeidet Reinhold übrigens tunlichst im Zusammenhang mit den Kategorien) vgl. meinen Beitrag, »Vorüberlegungen zur Herleitung der Urteilsformen und Kategorien in Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens«, in: Archivio di filosofi a 83 (2005), S. 93–113. 231 Versuch, S. 560–575. 232 Vgl. Alessandro Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, a. a. O., Anm. 183, bes. Kap. 3.

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teilweise gravierenden Umdisponierungen, die Reinhold später mit Hinblick auf seine Vorstellungstheorie vornimmt, zunächst vor dem Hintergrund der systematischen Diskrepanzen innerhalb des Versuchs selbst versuchen zu verstehen. Das ist bislang kaum geschehen (das Buch von Alessandro Lazzari ist eine der wenigen Ausnahmen). Aus diesem Grunde kann die Reinhold-Kritik, die Dieter Henrich besonders seinem Protagonisten Diez zuschreibt und um 1792 zum Fall von Reinholds Grundsatzphilosophie in Jena geführt haben soll, vorläufig höchstens eine plausible Antwort sein. Diese Kritik berücksichtigt nämlich den Drucklegungsprozeß des Versuchs nicht.233 Daß der Drucklegung für die systematischen Probleme des Versuchs eine Schlüsselrolle zukommt, ist oben erörtert. Vor diesem Hintergrund müssen m. E. Reinholds spätere Reparationsversuche zunächst erklärt werden. Daß diese These einiges an Plausibilität besitzt, kann uns vielleicht Kants erste und eigentlich auch einzige Stellungnahme zum Versuch zeigen. In seinem Brief vom 21. September 1791 an Reinhold bemerkt Kant über das zweite Buch positiv, »daß die aufwärts noch weiter fortgesetzte Zergliederung des Fundaments des Wissens, sofern es in dem Vorstellungsvermögen als einem solchen überhaupt und dessen Auflösung besteht, ein großes Verdienst um die Critik der Vernunft sey«, Kant nimmt sich sogar vor, dieses Verdienst bei Gelegenheit öffentlich zu gestehen; das dritte Buch dagegen, das »die abwärts fortgesetzte Entwickelung der Folgen, aus den bisher zum Grunde gelegten

233 Dieter Henrich und Manfred Frank wissen – wenn überhaupt – erst seit kaum zehn Jahren, daß der Versuch nicht im Frühjahr, sondern erst im Herbst 1789, also ein halbes Jahr später erschienen ist. Henrich hat daraus für sein chef d’œuvre Grundlegung aus dem Ich, a. a. O., Anm. 16, keine Rückschlüsse mehr für Reinholds Denken gezogen, was seine Helden Diez und Erhard in noch hellerem Licht glänzen läßt, obwohl mindestens teilweise auf Kosten Reinholds, der, zieht man die Konsequenzen aus Henrichs Darlegungen, letztendlich bloß wieder der »Trottel« der Philosophiegeschichte ist.

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Principien« darlegt, hält er für zu abstrakt.234 Nun stützt sich Kant für diese im Grunde genommen sehr präzise Charakterisierung des zweiten und dritten Buches offenbar auf die Unterrichtung des von ihm sehr geschätzten Reinhold-Schülers Erhard, der den Königsberger Sommer 1791 besuchte.235 Daß Reinholds Philosophie anläßlich dieses Besuches ein intensiver Gegenstand der Besprechungen gewesen sein muß, bestätigt auch der in Kants Papieren überlieferte und von Erhard verfaßte Auszug des Versuchs.236 Jedenfalls spricht wenig dafür, daß Kant den Versuch genauer studiert hätte.237 Berücksichtigt man ferner, daß sich Kant weder in Briefen noch sonstwo jemals wirklich kritisch über Reinholds Philosophie geäußert hat,238 234 Vgl. Akad.-Ausg., 11.288 f., mit meinen Hvh. Reinholds Verdienst um die Begründung der kritischen Philosophie hebt Kant auch in seinem Brief vom 1. Juli 1794 an Johann Heinrich Tieftrunk hervor, vgl. Akad.-Ausg., 12.205. Abstraktion wirft Kant der Vorstellungstheorie in seinem Brief vom 2. November 1791 an Jacob Sigismund Beck vor, weshalb »es unmöglich wird das Gesagte in Beyspielen darzustellen, so, daß wenn sie auch in allen Stücken richtig wäre (welches ich wirklich nicht beurtheilen kan, da ich mich noch bis jetzt nicht habe hineindenken können) sie doch eben dieser Schwierigkeit wegen unmöglich von ausgebreiteter oder daurender Wirkung seyn kann« (Akad.-Ausg., 11.304). 235 Vgl. dazu Reinholds Brief vom 9. Dezember 1791 an Jens Baggesen, in Jens Baggesen’s Briefwechsel, a. a. O., Anm. 49, 1. Theil, S. 109 f. 236 Vgl. Akad.-Ausg., 12.348–350. 237 Allerdings ist zu bemerken, daß sich Kant am 29. April 1790 mit der Bitte an seinen Verleger Friedrich Nicolovius wendet, ihm den Bogen »Bb« nachzuschicken, der in seiner Ausgabe des Versuchs fehlt (vgl. Akad.-Ausg., 11.163). Dieser Bogen entspricht den S. 385– 400 der »Theorie der Sinnlichkeit«. 238 In seinen Briefen vom 9. April und 14. Juni 1789 bittet Reinhold Kant darum, sich öffentlich über seine Philosophie und den Ansatz seines Versuchs, dessen erstes Buch Reinhold ihm am 14. Juni zuschickt, zu erklären (vgl. Akad.-Ausg., 11.18 und 11.60). Auf diese Bitte ist Kant zwar nicht eingegangen, das bedeutet allerdings nicht, daß er dem Versuch deshalb auch gegnerisch gegenüberstünde. – Als

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liegt es nahe, daß er genausowenig in seinem Brief vom 21. September Kritik am Versuch übt, sondern vielmehr ein Problem berührt, von dem er von Erhard wissen konnte, daß es den Jenaer ebenfalls beschäftigte. Denn durch Erhard wird Kant sicherlich auch erfahren haben, daß Reinhold mit Rücksicht auf die Begründung der kritischen Philosophie durch die Vorstellungstheorie inzwischen – d. h. seit dem Erscheinen der Fundamentschrift im Frühjahr 1791 – einen anderen und vom Versuch abweichenden Weg eingeschlagen hat. Somit spricht der Königsberger in seinem Brief eine Schwierigkeit an, über deren Behebung Reinhold sich bereits neue und vom Versuch und seinem Anspruch, die inneren Gründe der Kantischen Philosophie nachzuliefern, abweichende Gedanken macht. Und das ist völlig richtig. Reinhold geht es dann tatsächlich schon nicht mehr um eine Begründung der an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie. Und dies weiß auch Kant, wie aus dem späteren Brief vom 1. Juli 1795 an Reinhold hervorgeht; denn Reinholds Gedanken gehen tatsächlich darauf, »die critische Philosophie, aufwärts, bis zu der Gräntze ihrer Principien vollständig zu machen«, was Kant für ein sinnvolles Unternehmen hält, und nicht mehr darauf, »die abwärts fortgesetzte Entwikkelung der Folgen«, folglich die inneren Gründe der kritischen Philosophie darzulegen.239 Wie oben nur kurz angedeutet, beabsichtigt Reinhold seit seiner Fundamentschrift in der Tat eine reflexive Grundlegung seiner Elementarphilosophie auf der Grundlage der Vorstellung. Und dieses neue Programm liegt im Grunde genommen schon in den Problemen beschlossen, vor die sich Reinhold durch sein Einteilungskriterium gestellt sah, welche ihm seit oder kurz nach Abfassung des dritten Jacob Sigismund Beck Kant eröffnet, sich mit Reinholds Vorstellungstheorie anlegen zu wollen, macht ihm der Königsberger zwar einige Erklärungen, besteht allerdings ausdrücklich darauf, daß Reinhold aus einer eventuellen Streitschrift »nicht den Verdacht ziehe als hätte ich Sie dazu aufgemuntert oder angestiftet« (Akad.-Ausg., 11.304). 239 Vgl. Akad.-Ausg., 12.27.

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Buchs seines Versuchs klar geworden sind. Wer deshalb bloß in äußerer Kritik am Versuch die Ursachen für Reinholds spätere Umstellungen in seiner Vorstellungstheorie sucht, mißkennt dessen philosophisches Talent. Der Königsberger muntert Reinhold in seinen Briefen von 1791 und 1795 also letztendlich dazu auf, den eingeschlagenen und vom Versuch abweichenden Weg weiterzuverfolgen. Über diesen neuen Weg ist Kant im großen und ganzen durch Erhard informiert. Und Kants Engagement wäre tatsächlich bloße Ironie – die ihm wohl eher nicht zu unterstellen ist –, wenn er Erhards Kritik an Reinholds fortgeschrittener Vorstellungstheorie, die dieser ihm zweifelsohne wird dargelegt haben, für überzeugend oder gar für tödlich gehalten hätte. Um 1792 als zerschlagen ansehen wird man also sicherlich dasjenige Programm Reinholds, das auf der Grundlage der Vorstellungstheorie die an sich richtigen Resultate der kritischen Philosophie meint begründen zu müssen. Das neue elementarphilosophische Programm, wie es in der Fundamentschrift erstmals zum Tragen kommt und die kritische Philosophie nicht länger zum Explanandum (innere Gründe), sondern zur Propädeutik (äußere Gründe) hat, scheint zumindest von Kant unterstützt zu werden. – In diesem Zusammenhang ist ferner zu bemerken, daß Reinhold in seinem Brief vom 18. Juni 1792 an Erhard den Versuch schon nicht mehr zur Elementarphilosophie rechnet, sofern »er wirklich noch nicht die Wissenschaft des Vorstellungsvermögens vorträgt, sondern eigentlich nur vorbereitet und in einigen ihrer Hauptmomente andeutet.«240 Mit dieser Bestimmung tritt wieder das alte Einteilungskriterium auf den Plan, demzufolge nunmehr der ganze Versuch zum äußeren Grund der Elementarphilosophie wird. Diese Probleme gehen allerdings über den hier abgesteckten Rahmen hinaus. Hinsichtlich Kants Bestimmung des neuen Reinholdschen Programms sei abschließend noch auf einen bemerkenswerten 240 Vgl. den Abdruck des Briefes in Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften, a. a. O., Anm. 15, S. 911.

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Umstand hingewiesen. Kant wird nämlich in seinen Gesprächen mit Erhard kaum entgangen sein und möglicherweise hat Erhard es ihm gegenüber sogar konkret benannt, daß die kritische Philosophie dem neuen Projekt Reinholds zufolge zur bloßen Propädeutik der Elementarphilosophie herabsinkt.241 Bedeutsam ist dieser Umstand deshalb, weil sich Kant dagegen nirgends zur Wehr setzt, auch nicht als er dazu die Gelegenheit bekam. In seiner berühmten »Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre« vom 7. August 1799 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung,242 wehrt er sich nämlich energisch gegen Fichtes Diktum, seine Transzendentalphilosophie sei noch nicht das System der Vernunft, sondern bloß eine Propädeutik.243 Daß Kant in diesem Zusammenhang auch Jacob Sigismund Beck, nicht aber Reinhold erwähnt, ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil nicht Fichte, sondern Reinhold Urheber der Ansicht ist, daß die kritische Philosophie Propädeutik des Systems der Vernunft oder der Philosophie sei.244 Angesichts dieser Tatsache muß man sich fragen, was denn das System 241 Reinholds Brief an Jens Baggesen zufolge soll Erhard Kant dahin gebracht haben, »daß er die Schrift über das Fundament las, und Kant gestand ihm, daß er die erste Hälfte verstände und billige, die zweite aber ganz unverständlich gefunden habe« (vgl. oben Anm. 235, S. 110). In der zweiten Hälfte dieser Schrift fi nden sich Reinholds Bemerkungen über den propädeutischen Staus, den die kritische Philosophie in bezug auf die Elementarphilosophie bekleide. 242 Akad.-Ausg., 12.370–371. 243 Fichte hat nur an einer veröffentlichten Stelle, nämlich in einer Fußnote der Grundlage von 1794/95 öffentlich die Behauptung aufgestellt, die Kritik der reinen Vernunft stelle nicht »die Wissenschaft«, »sondern nur die Propädeutik derselben« auf, vgl. Fichte-GA I/2.335 Anm. 244 Propädeutik nennt Reinhold die Kritik der reinen Vernunft erstmals in den Beyträgen I, S. 278 (auch unter Bezugnahme auf KrV, A 841 / B 869). In Ueber das Fundament, a. a. O., Anm. 18, ist Reinhold vollends deutlich, sofern die Kritik der reinen Vernunft allen Kantianern zufolge nur eine »Propädeutik für die wahre einzig mögliche Elementarphilosophie« sei (S. 115).

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war, das Reinhold in Kants nota bene von Erhard selbst geöffneten Augen verfolgte und zumindest zum Teil den großen Königsberger, jedoch seit 1792 Erhard und den »Kantischen enragé« Diez nicht mehr enragieren konnte. Diese Frage kann uns jedoch hier nicht weiter beschäftigen.

11. Kurzer Überblick über den Inhalt des Versuchs Das erste Buch des Versuchs geht der Frage nach, warum es überhaupt notwendig ist, die Resultate der kritischen Philosophie neu zu begründen. Es geht, wie die Titelseite angibt, um das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens, d. h. um eine Darstellung der äußeren Gründe, bzw. des Nutzens der kritischen Philosophie. Reinhold bemängelt allgemein, daß die bisherige und damit auch die kritische Philosophie »weder allgemeingeltende Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität, noch allgemeingeltende Erste Grundsätze der Moral und des Naturrechts aufgestellt« habe.245 Allgemeingeltende Erkenntnisgründe sind solche Gründe, die sowohl allgemeingültig sind als auch allgemein anerkannt werden. Obwohl die Frage nach den Grundwahrheiten von Religion und Moral schon in den Merkur-Briefen zentral stand, wird sie im Versuch noch ausdrücklicher unter den systematischen Aspekt des Erkennens gestellt. Diesbezüglich ist kurz auf eine terminologische Änderung in der Neubearbeitung der Merkur-Briefe, d. h. in den Briefen I hinzuweisen (dieser Band erscheint um Ostern 1790). Hier sind nämlich fast alle Passagen, wo in den Merkur-Briefen von Erkenntnisgründen jener Grundwahrheiten die Rede ist, geändert und damit auch systematisch umfunktioniert in »Überzeugungsgründe«. Diese terminologische Änderung verrät, wie Reinhold zum Zeitpunkt der Abfassung des Versuchs über seine frühere Darlegung der äußeren 245

Versuch, S. 71.

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Gründe in den Merkur-Briefen denkt. Denn vermittelst dieser terminologischen Änderung soll offenbar klargestellt werden, daß die in den Merkur-Briefen bzw. Briefen I vorgetragenen äußeren Gründe nicht länger – wie jetzt im Versuch – die Erkenntnisgründe, sondern vielmehr die Überzeugungsgründe der Grundwahrheiten der Moral und Religion thematisieren. Durch diese Umorientierung wird offenbar der Weg für die neue Darstellung der äußeren Gründe unter den Bedingungen einer Erkenntnistheorie im Versuch freigemacht. Im ersten Buch des Versuchs legt Reinhold dar, wie und weshalb das Vorstellungsvermögen das allgemeinere Vermögen ist, das vom Erkenntnisvermögen vorausgesetzt wird und diesem folglich auch vor- oder übergeordnet ist. Zwar führt Reinhold Argumente für die Primordialität der Vorstellung gegenüber der Erkenntnis an, doch an sich betrachtet bleibt, ähnlich wie Kant in der der ersten Kritik, diesbezüglich auch der Versuch bei einer Tatsache stehen, sofern nämlich die Vorstellung »das einzige« ist, »über dessen Wirklichkeit alle Philosophen einig sind«.246 Ein wichtiger Unterschied gegenüber der Kritik der reinen Vernunft ist allerdings, daß im Versuch die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und damit nach der Möglichkeit von Metaphysik kaum eine Rolle spielt. Im Gegenteil ist die Methode des Versuchs analytisch, sofern nämlich nur eine Analyse des Vorstellungsvermögens darüber aufklären könne, worin die eigentlichen Prämissen der kritischen Philosophie bestehen, die den – so Reinhold – an sich richtigen Resultaten derselben zugrunde liegen. Der grundlegende Gedanke ist hier der, daß eine Analyse legitimerweise nur dann statthaben kann, wenn bereits etwas Verbundenes vorliegt.247 Ein solches vor aller Reflexion Verbundenes ist die bloße Vorstellung überhaupt als letzte und höchste Tatsache und nicht weiter analysierbarer Grund alles Analysierbaren. Nach Reinholds An246 Versuch, S. 190. Kant hat bekanntlich ähnliches für die Erfahrung vertreten, vgl. KrV, A 1 / B 1. 247 Vgl. dazu auch KrV, B 130 f.

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sicht unterstellt die Kantische Erkenntnistheorie diesen Grund, sofern jedes Erkenntnisurteil die grundsätzlicheren Operationen des Verbindens und Unterscheidens vollzieht, die deshalb auch die Grundstruktur einer jeden und für alle Erkenntnis unterstellten Vorstellung ausmachen. Das zweite Buch des Versuchs enthält dann die »eigentliche Theorie des Vorstellungsvermögens überhaupt«, die, so Reinhold am 14. Juni 1789 an Kant, »die eigentlichen Prämissen« der Kantischen »Theorie des Erkenntnisvermögens, und den Schlüssel zur Kritik der Vernunft« darlegt.248 Das zweite Buch ist der Bestimmung des im ersten Buch als Grundbegriff aller Philosophie herausgearbeiteten Vorstellungsbegriffs gewidmet. In der weiteren Bedeutung ist im Vorstellungsvermögen all dasjenige zusammengefaßt, »was zunächst zu den Bedingungen der Vorstellung gehört«.249 Ferner werden vermittelst des »Merkmal[s] des Begriffs der Vorstellung« die inneren und äußeren Bedingungen der Vorstellung unterschieden. Aus diesem Merkmal entwickelt der Versuch dann jenes bedeutsame Kriterium, das später und terminologisch nur leicht abgewandelt zum »Satz des Bewußtseins« avanciert, nämlich: »Man ist, durch das Bewußtsein genötigt, darüber einig, daß zu jeder Vorstellung ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt gehöre, welche beide von der Vorstellung, zu der sie gehören, unterschieden werden müssen«.250 248

Akad.-Ausg., 11.60. Versuch, S. 195. 250 Versuch, S. 200. – In diesem Zusammenhang ist auf folgende Bemerkung Kants hinzuweisen: »Nun ist das Allgemeine aller Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können: 1.) die Beziehung aufs Subject, 2.) die Beziehung auf Objecte und zwar entweder als Erscheinungen, oder als Gegenstände des Denkens überhaupt. Wenn man diese Untereintheilung mit der oberen verbindet, so ist alles Verhältniß der Vorstellungen, davon wir uns entweder einen Begriff oder Idee machen können, dreifach: 1. das Verhältniß zum Subject, 2. zum Mannigfaltigen des Objects in der Erscheinung, 3. zu allen Dingen überhaupt.« (KrV, A 333 f. / B 390 f.) 249

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Subjekt und Objekt gehören hier zu den äußeren Bedingungen der Vorstellung, weil sie den Vorstellungsbegriff nicht selbst konstituieren. Zu den inneren Bedingungen der Vorstellung gehören die Merkmale, ohne welche sich die Vorstellung nicht denken läßt, diese sind Stoff und Form der Vorstellung.251 Folglich konstituieren Stoff und Form die Vorstellung, da deren Trennung unmittelbar zur Aufhebung der Vorstellung führte. Für jede Vorstellung ist der Stoff gegeben und muß die »Form an demselben hervorgebracht werden«.252 Das heißt, unser Vorstellungsvermögen ist für den Stoff empfänglich (Rezeptivität), es vermag diesen jedoch nur zu besitzen, d. h. mit Bewußtsein zu besitzen, indem es ihm kraft eines spontanen Vermögens eine Form gibt oder an ihm die Bewußtseinseinheit hervorbringt. Mit dem Gegebensein eines Stoffes sind deshalb auch »Rezeptivität und Spontaneität […] dem vorstellenden Subjekte in und mit dem Vorstellungsvermögen gegeben und in demselben vor aller Vorstellung bestimmt vorhanden«.253 Wir können somit schlechthin nicht von Stoff und Form, aber genausowenig von Rezeptivität und Spontaneität absehen, ohne dabei der Vorstellung selbst verlustig zu werden. Diese Grundstrukturen und -funktionen sind von jedem Erkenntnis- und Vorstellungsakt immer schon vollzogen, weshalb es auch in der Theorie des Vorstellungsvermögens nur darum gehen kann, gewisserweise phänomenologisch auf das Funktionieren unseres Vorstellungsvermögens acht zu geben, um aus jenem dieses – und zwar auf analytischem Wege – zu verstehen. Wir müssen mit anderen Worten den Begriff der Vorstellung zur »völligen Erschöpfung«254 zergliedern. Mit dieser Aufgabenstellung ist wiederum auf Reinholds Grundgedanken vorgestoßen, daß sich wissenschaftlich nur dasjenige erörtern läßt, was immer schon gedacht ist, wenn eine solche Er251 252 253 254

Vgl. Versuch, S. 232 und S. 235. Versuch, S. 255. Versuch, S. 292. Versuch, S. 229.

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örterung statthat.255 Und von einer solchen Bestimmung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der von Fichte bis in die letzten Finessen durchgeführte reflexive Methode der Selbstoder Letztbegründung.256 Das dritte Buch steht unter dem Titel »Theorie des Erkenntnisvermögens« und ist in drei Abschnitte untergliedert, nämlich »Theorie der Sinnlichkeit«, »Theorie des Verstandes« und »Theorie der Vernunft«. Diesen drei Abschnitten voran geht eine »Theorie des Bewußtseins«, die allerdings nicht eigens als eine solche Theorie ausgezeichnet ist. Das mag sich vielleicht daraus erklären, daß es nach Reinhold keine Vorstellung ohne Bewußtsein geben kann.257 Von dieser Theorie des Bewußtseins werden die drei möglichen Bezugsmomente der Vorstellung, nämlich Objekt, Subjekt und deren Beziehung thematisiert als: 1.) Bewußtsein der Vorstellung, 2.) Bewußtsein des Vorstellenden, was näher als Selbstbewußtsein bezeichnet wird, und 3.) Bewußtsein des Gegenstandes, d. h. den von der Vorstellung unterschiedenen Gegenstand oder wie die Vorstellung auf den bestimmten Gegenstand bezogen wird. Mit letzter Bezeichnung des Bewußtseinsgegenstandes wird der Übergang zur eigentlichen Theorie der Erkenntnis gemacht. Eine jede Vorstellung eines Gegenstandes setzt nämlich Rezeptivität (Anschauung), Spontaneität (Begriff), sowie die Vermögen von Anschauung und Begriff voraus, was zusammengenommen das Erkenntnisvermögen konstituiert. Denn so, wie die Natur des Vorstellungsvermögens durch Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichnet ist, ist die Natur des Erkenntnisvermögens 255 In Ueber das Fundament, a. a. O., Anm. 18, S. 39, faßt Reinhold diese Methode unter den Begriff des »Schongedachtseyns« zusammen, d. h. jedes »Prädikat, welches ihm gemäs einem Subjekte zukommen soll, [muß, E.-O.O. ] schon in dem Begriffe des Subjektes gedacht« sein, vgl. auch ebd. S. 82. 256 Vgl. dazu Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde., Hamburg 1987, bes. S. 22–38. 257 Versuch, S. 321–351.

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durch die Form, die sich aus den »Wirkungen der beim Erkennen beschäftigten Vermögen« ergibt, nämlich Anschauungen und Begriffe, gekennzeichnet.258 Nun besteht nach Reinhold das entscheidende Problem der bisherigen Philosophie darin, daß das Erkennen bislang ausschließlich dem Verstande zugeschrieben wurde. Und wegen dieser Ungenauigkeit war es ihm zufolge bisher unmöglich, »bestimmt anzugeben, worin denn eigentlich das Geschäft des Verstandes beim Erkennen bestünde.«259 – Kommen wir nun zu einem kurzen Abriß der drei Theorien der Sinnlichkeit, des Verstands und der Vernunft. Äußerlich betrachtet folgt die »Theorie der Sinnlichkeit« in mancherlei Hinsicht der »transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft. Ähnlich wie Kant bestimmt Reinhold die Tätigkeit der sinnlichen Vorstellung als »ersten Grad der Spontaneität«260, weil sie an einem gegebenen Stoff einer Vorstellung die Form hervorbringt, – obwohl dieses Hervorbringen eher als Leiden, denn als ein Wirken verstanden werden muß, sofern nämlich Hervorbringen in diesem Zusammenhang »ein durch Einwirkung auf die Rezeptivität abgedrungenes Entgegenwirken« ist.261 Hier ist auch Reinholds kritische Feststellung bedeutsam, daß Kants »Synthesis der Apprehension« in der transzendentalen Ästhetik im Grunde genommen erst dann als eine Form von Spontaneität ausgelegt und verstanden werden kann, nachdem die Einbildungskraft entwickelt ist, d. h. im Zusammenhang mit der Anwendung der Kategorien auf Sinnengegenstände überhaupt. Interessanterweise erkennt Kant Anfang der 90er Jahre in dem Briefwechsel mit Jacob Sigismund Beck tatsächlich selbst an, daß die Tätigkeit 258

Versuch, S. 350. Ebd. – Mit Blick auf Hegel ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung interessant, daß die Vorstellungstheorie erstmals den »Begriff des Begriffes überhaupt« (S. 350) bestimmt angebe. 260 Versuch, S. 357. 261 Versuch, S. 358. 259

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der Anschauung ihre Erklärung nicht in der transzendentalen Ästhetik erhalten kann. Inwiefern Reinhold zu dieser neuen Auffassung Kants beigetragen hat, ist ungeklärt. In der »Theorie des Verstandes« (zweiter Grad der Spontaneität) 262 geht Reinhold im Vergleich zu Kants Vorgaben in der »transzendentalen Analytik« der ersten Kritik verstärkt eigene Wege, allerdings mit ungefähr denselben Resultaten (obwohl in der Philosophie dieselben Resultate, jedoch auf anderem Weg erreicht, bei genauerem Hinsehen oftmals ganz andere Resultate sind). In diesem Teilstück des dritten Buchs steht die Herleitung der Kantischen Urteilsformen und Kategorien zentral. Dieses Theoriestück ist so ungefähr das einzige, das Reinhold im Versuch mehr oder weniger offen in dem Sinne kritisiert, daß Kant der Nachweis der Vollständigkeit der Urteils- und Kategorientafel nicht gelungen sei. Reinholds Versuch, diesen Nachweis – obzwar auf der Grundlage seiner eigenen Vorstellungstheorie – nachzuliefern, ist der erste in einer seitdem bis in unsere Zeit hinein nicht mehr abgebrochenen Reihe solcher Vollständigkeitsnachweise (die freilich auch negativ ausgefallen sind, das letzte Wort scheint darüber jedoch noch längst nicht gesprochen).263 In Anbetracht der Ableitung im Versuch fällt zunächst auf, daß Reinhold die grundlegende Unterscheidung der Kritik der reinen Vernunft in eine metaphysische und eine transzendentale Deduktion der Kategorien aufgibt. Der Versuch entwickelt die Kategorien in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herleitung der Urteilsformen, so daß die Reinholdschen Kategorien eher als Epiphänomene der Urteilsfunktion erscheinen; nicht zufällig spricht Reinhold nur von einer »Deduktion der Formen der Urteile«264, wohingegen im Zusammenhang mit den Kategorien der Ausdruck »Deduktion« 262

Versuch, S. 423. Mit Blick auf Reinhold vgl. Martin Bondeli, Apperzeption und Erfahrung. Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kritik, Basel 2006. 264 Versuch, S. 492 und 506. 263

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nicht vorkommt. Auffallend an Reinholds Vorgehen ist ferner, daß er zwar einerseits an Kants trichotomischer Gliederung der Urteils- und Kategorientafel festhält, diese Tafel jedoch aus der dichotomischen Struktur des Urteils (S–P) ableitet.265 Die Titel der Urteilstafel ergeben sich aus der logischen Materie des Urteils, d. h. das »jedem Urteile wesentliche Prädikat und Subjekt«, und aus der »logische[n] Form der Urteile«, d. h. aus dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil.266 Dieses Bezugsfeld ergibt im ganzen vier mögliche Beziehungen, die den vier Titeln zugrunde liegen: 1.) die Beziehung von S auf P, 2.) die Beziehung von P auf S, welche die Bestimmungen der Quantität und Qualität ausmachen; 3.) wie sich S und P zusammengefaßt (Relation) und 4.) wie sich S und P zum sie zusammenfassenden Subjekt verhalten (Modalität). Die Vollständigkeit der Urteils- und Verstandestafel bezieht sich somit auf den ersten Blick in der Tat »auf eine vollendete Zergliederung des Begriffs eines Urteils […] durch lauter dichotomische Einteilungen.«267 Die »Theorie der Vernunft« (dritter und zugleich höchster Grad der Spontaneität) 268 hat wahrscheinlich die wenigsten Entsprechungen mit der korrespondierenden »transzendentalen Dialektik« der ersten Kritik. Insbesondere fehlen alle Erörterungen zum transzendentalen und dialektischen Schein. Es geht in diesem letzten Abschnitt hauptsächlich um die Herstellung eines Reichs von Ideen, das im Grunde genommen nicht viel mit den Kantischen Vernunftideen zu tun hat. Im Versuch liegen dem Ideenreich die drei »Ideen in engster Bedeutung«, nämlich die »Idee des absoluten Subjektes, der absoluten Ursache und der absoluten Gemeinschaft«269 zugrunde und zwar unter265 Für die Einzelheiten siehe meinen oben in Anm. 230 angeführten Beitrag, bes. S. 108–113. 266 Versuch, S. 443. 267 Beyträge I, S. 316. 268 Versuch, S. 498. 269 Versuch, S. 522.

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schieden in einer Beziehung entweder auf das Subjekt oder auf das Objekt. Dies ergibt dann sechs mögliche Ideen, drei der subjektiven und drei der objektiven Vernunfteinheit.270 In § 84 setzt die Darstellung ein mit der Idee des absoluten Subjekts als Grundlage der Erscheinungen des äußeren und inneren Sinnes. Resultat ist einerseits die Idee des Körpers und anderseits die Idee der Seele. In § 85 geht es dann um die Idee der absoluten Ursache, durch die »die Vernunft den in der Sinnenwelt erkennbaren Ursachen vollständige Einheit gibt«, d. h. um die Idee einer ersten Ursache überhaupt. § 86 entwickelt die Idee der absoluten Ursache, sofern durch sie »das vorstellende Subjekt als freie Ursache vorgestellt« wird, was sich sachlich noch am meisten mit der Kantischen Idee des freien Willens deckt. Diese Gedanken werden dann in den »Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens« weitergeführt, sofern dort eine genauere Bestimmung von Trieb, Glückseligkeit, Wollen, Moralität oder Sittlichkeit, freier Wille, und höchstes Gut vorgenommen wird. Mit § 86 und den »Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens« unterbricht Reinhold den Gang seiner Argumentation, sofern er die Vernunft hier nicht im Zusammenhang mit dem Erkenntnisvermögen, sondern mit dem Begehrungsvermögen erörtert, das ja ausdrücklich kein Gegenstand des Versuchs ist. Wie Karianne Marx hat zeigen können, handelt es sich bei diesem Paragraphen um einen Einschub, womit Reinhold im Voraus eine mögliche Kritik Rehbergs immunisieren wollte.271 Reinhold vermutete nämlich schon im Frühsommer 1789, daß Rehberg den Versuch für die Allgemeine Literatur-Zeitung rezensieren würde (welche Vermutung tatsächlich eintref270 Vgl. Versuch, S. 525 f. – Die folgenden Ausführungen lehnen sich dem von Alessandro Lazzari gegebenen Schema der »Theorie der Vernunft« an, vgl. »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, a. a. O., Anm. 183, S. 87. 271 Karianne Marx, The Usefulness of the Kantian Philosophy. How Karl Leonhard Reinhold’s Commitment to Enlightenment Influenced his Reception of Kant, Diss. Amsterdam 2010, siehe bes. chap. 5, section 2.4.4.

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fen sollte, obwohl Reinholds Gründe für diese Vermutung auf der falschen Unterstellung beruhen, daß Rehberg auch die Bisherigen Schicksale für dasselbe Organ rezensiert hätte, siehe dazu unten S. CXXXVIII , Anm. 2). Rehberg hatte in seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft kritisch gegen Kant vorgebracht, daß die reine Vernunft das Begehrungsvermögen nicht bestimmen könne und daß mithin komparative Freiheit für die Moralbegründung zureiche, bzw. daß die reine praktische Vernunft die Moral nicht begründen könne. Dieser Vorwurf könnte nun tatsächlich auch Reinholds Idee des absoluten Grundes treffen, denn der Versuch hat bis zu diesem zur Rede stehenden § 86 lediglich die logische Möglichkeit von Freiheit, nicht aber auch ihre Wirklichkeit dargetan. Reinhold gerät deshalb in Zugzwang zu zeigen, wie die Vernunft das Begehrungsvermögen so zu bestimmen vermag, daß es dabei, und zwar durch absolute Freiheit bestimmt, in unserer Sinnlichkeit wirkt. Zu diesem Zweck unterscheidet er im Aphorismus des § 86 eine freie und eine komparativ-freie Ursache, wobei erstere das Begehrungsvermögen a priori und letztere a posteriori bestimmt. Hiermit zusammenhängend führt er einen rein-vernünftigen oder moralischen und einen vernünftig-sinnlichen Trieb ein. Ersterer ist eine Wirkung der absoluten Selbsttätigkeit und unterstellt einzig und allein Vernunft, die ihre Handlungsweise kraft des rein-vernünftigen Triebes realisiert. Letzterer, d. h. der vernünftig-sinnliche Trieb benötigt, um wirken zu können, ein Affi ziertwerden von außen. Im Gegensatz zum moralischen Trieb haben wir hierbei das Objekt dieses Triebes nicht in unserer Gewalt und handeln beim Befolgen dieses Triebes eigennützig, bzw. streben nach Glückseligkeit. Die Pointe Reinholds ist nun die, daß der reinvernünftige Trieb den vernünftig-sinnlichen zu bestimmen vermag, sofern unser Wille bei jeder Handlung vor der Entscheidung steht, den moralischen Trieb dem Eigennutzen oder umgekehrt, den Eigennutzen dem moralischen Trieb zu unterstellen. Das moralische Gesetz der praktischen Vernunft fordert von uns letzteres, weshalb sich die praktische Vernunft

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bei jeder faktischen Handlungsentscheidung – also in unserem sinnlichen Dasein – als ein moralisches Sollen darstellt. Auf diese Weise meint Reinhold dem Vorwurf Rehbergs ausgewichen zu sein, daß die praktische Vernunft unser Handeln nicht bestimmen könne. Das Problem dieser Antwort ist allerdings, daß in den »Grundlinien« in § 86 die Rede ist von einer absoluten Freiheit oder absoluten Spontaneität, was sich nicht vereinbaren läßt mit dem Vorstellungsvermögen, das Reinhold zufolge per defi nitionem Stoff und Form, bzw. Spontaneität und Rezeptivität involviert; absolute Spontaneität kommt dagegen, eben weil sie absolut ist, ganz ohne Stoff und Rezeptivität aus. Dieses spannungsgeladene Verhältnis versucht Reinhold in den Briefen II zu lösen, indem er hier – und zwar ganz unkantisch – die praktische Vernunft vom Willen trennt, den er verbindet mit der absoluten Spontaneität und trennt vom Verstellungsvermögen. Der Wille ist dann diejenige Instanz, die darüber entscheidet, ob wir dem Sittengesetz folgen und moralisch handeln oder nach Glückseligkeit streben. In den letzten beiden §§ 87 und 88 geht es um die Idee der absoluten Gemeinschaft: bezogen auf die Subjekte der Erscheinungen des äußeren Sinnes, was die Idee der physischen Welt bestimmt, bezogen auf die Subjekte der Erscheinungen des inneren Sinnes (die Vorstellenden), was die Idee der moralischen Welt bestimmt, und bezogen auf die Ideen dieser beiden Welten, was die Idee der intelligiblen Welt oder des Universums bestimmt. Die Idee der absoluten Gemeinschaft nicht auf Subjekte, sondern auf bloße durch reine Vernunft bestimmte, d. h. denkbare absolute Realitäten bezogen, bestimmt schließlich die Idee des allerrealsten Wesens.

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12. Editorische Hinweise Die vorliegende Ausgabe von Karl Leonhard Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens beruht auf der Erstausgabe von 1789 (Prag und Jena bei Caspar Widtmann und Johann Michael Mauke). Die zweite, unveränderte Auflage von 1795 ( Jena: Johann Michael Mauke) ist nicht berücksichtigt. Wohl berücksichtigt sind dagegen die Vorveröffentlichungen von Teilen des Versuchs in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, im Teutschen Merkur, in der Berlinischen Monatsschrift und im Neuen deutschen Museum. Damit wäre mit dieser Ausgabe der Status quo aller Textvarianten des Versuchs bis zur Erstausgabe in Buchform gegeben. Da es sich hier nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, sondern um eine textkritische Ausgabe handelt, sind im textkritischen Apparat nur solche Varianten verzeichnet, die Bedeutungsrelevanz besitzen. Weil die Varianten insbesondere hinsichtlich der Vorpublikation der späteren »Vorrede« des Versuchs im Teutschen Merkur sehr zahlreich sind, ist zur Entlastung des Apparats das Prinzip der Bedeutungsrelevanz hier noch strenger gehandhabt als bei den anderen Vorpublikationen. Der Apparat versetzt den Leser somit nicht in die Lage, den Text der Vorpublikationen restlos zu rekonstruieren. Das im Frühjahr 1789 unter dem Titel Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie ( Jena bei Johann Michael Mauke) 272 erschienene Büchlein ist – abgesehen von den Kopfzeilen – druckidentisch mit der späteren »Vorrede« des Versuchs (allerdings verzeichnet die »Vorrede« zwei Verbesserungen von Druckfehlern auf S. 68; ferner ist das Motto auf der Titelseite des Büchleins dasselbe wie das des ersten Buches des Versuchs). Der Versuch ist gedruckt in Antiqua. Rechtschreibung und Zeichensetzung vorliegender Textausgabe ist nach Duden 20. Aufl. modernisiert. Zweck ist es, einen 272 Also nicht auch bei Caspar Widtmann in Prag, der zusammen mit Mauke den Vertrag für den Versuch im Dezember 1788 mit Reinhold ausgehandelt hat, siehe oben Anm. 211.

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authentischen Text zu bieten, der den Anforderungen eines modernen Lesers genügt. Besonders was die zu Reinholds Zeit noch nicht normalisierte Zeichensetzung betrifft, ist stärker in den Text eingegriffen als etwa von Faustino Fabbianelli in seiner Ausgabe der ebenfalls in diesem Verlag erschienenen Beyträge I und II. Die lateinische Paragraphenzählung des Originals ist überall in die modernere arabische aufgelöst. Alle Querverweise beziehen sich auf die Originalpaginierung. Aus drucktechnischen Gründen war es nicht möglich, die kurzen einleitenden Paragraphentexte wie im Original in etwas größer Schriftgröße darzustellen; deshalb erscheinen diese Texte in einer anderen Schrifttype. Bei der Modernisierung des Textes sind folgende Richt linien betrachtet. 1. Die Schreibweise von Eigennamen ist stillschweigend dem heute üblichen Gebrauch angepaßt, z. B. »Wolff« statt »Wolf«, »Leibniz« statt »Leibnitz«, »Descartes« statt »DesCartes« oder »Deutschland« statt »Teutschland«. Dasselbe gilt für adjektivisch gebrauchte Formen von Eigennamen »Lockesche[ ]« statt »Lockische[ ]«, »deutsche[ ]« statt »teutsche[ ]« (ausgenommen in Titeln, wie Der teutsche Merkur). Beim adjektivischen Gebrauch von Eigennamen konnte Reinhold noch nicht nach unserem Verständnis konsequent verfahren, es oblag deshalb dem Hrsg., jeweils zu entscheiden, ob dabei unmittelbar die Person (Großschreibung) bezeichnet oder etwas nach dieser Person benannt wird (Kleinschreibung). Personennamen erscheinen im Original als Kursivdruck, entsprechende Druckversehen sind in diesem Sinne stillschweigend normalisiert. 2. Korrekturen von Fehlern offensichtlicher drucktechnischer Natur sind nur dann im Apparat ausgewiesen, wenn sie bedeutungsrelevant sein können. Stillschweigend vorgenommen sind Korrekturen, die auf das Verzeichnis der Druckfehler zurückgehen (für die »Vorrede« auf S. 68 und für die drei Bücher des Versuchs die unpaginierte S. 580). Zur Entlastung des Lesers ist der Text an manchen Stellen ergänzt, solche Ergän-

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zungen stehen immer in eckigen [ ] Klammern, die das Original niemals verwendet. In jenen Fällen, wo die Vorausgaben einen nach Ermessen des Hrsg. »besseren« Text bringen, wird dieser der Ausgabe zugrunde gelegt, was allerdings immer im Apparat ausgewiesen ist. Die öfter vorkommende Schreibweise großes »I« statt großes »J«, wie z. B. in »Iahre« oder »Ie«, ist immer modernisiert, weil sie auf die Verwendung der Antiqua im Satz zurückgeht. 3. Ansonsten gilt das Prinzip der Lautstandswahrung in all den Fällen, wo die historische Schreibart lautlich eine Relevanz besitzt. Insofern im historischen Text bei Substantiven neue und alte Schreibweise nebeneinander vorkommen (auch in Zusammensetzungen), ist durchweg für die neue entschieden: z. B. »Popularphilosoph« statt »Populärphilosoph«, »gültig« statt »giltig«, »hängen« statt »hangen«, »Repräsentant« statt »Repräsentent« usw. Bei Adjektiven und Adverbien ist verzichtet auf Eingriffe in die Wortform, auch wenn neue neben alten Formen stehen. Normalisiert ist allerdings das heute unübliche Zwischen-e in Partizipien sowie Konjugationen der dritten Person Singular wie in »aufgelöset«, »bestätiget«, »nötiget« usw. Außerdem sind einige heute als archaisch empfundene Wortformen modernisiert: »simplen« statt »simpeln«, »Forderung« statt »Foderung«, »Jahrzehnte« statt »Jahrzeh(e)nde«, »allmählich« statt »allmälig«, »abermals« statt »abermal«, »ehemalig« statt »ehmalig«, »mühsam« statt »mühesam« usw. Bei Wortformen, wo die Modernisierung keinen Eingriff in den Lautstand bedeutet, ist sie vorgenommen: z. B. »Grenze« statt »Gränze« oder »leugnen« statt »läugnen«. 4. Hinsichtlich Groß- und Kleinschreibung, der Zusammenund Getrenntschreibung folgt Reinhold keinen klar erkennbaren Regeln. Eindeutig als Adjektiv verwendete Worte werden klein geschrieben. Groß geschrieben werden die von Reinhold eindeutig nominal verwendeten Adjektive, die in keinem strikten Beziehungskontext stehen. In den Fällen, wo Adjektive im modernen Deutsch nicht als feste Fügungen verstanden werden – etwa »Natürliche Theologie« –, wird das Adjektiv klein

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geschrieben. Die Großschreibung des Indefi nitpronomens »Ein« zur Hervorhebung ist in der Regel beibehalten. Hinsichtlich der Auflösung von getrennt geschriebenen Fügungen wird vorsichtig verfahren. Getrenntschreibung ist jedenfalls beim Indefi nitpronomen »irgend ein« und bei infi niten Wortformen immer aufgelöst. Zusammengeschrieben werden auch: »zu erst« und »zu teil / Teil«, »gewisser maßen«, »ebendas / der / die / selbe« »so gar«, »so wohl«, »eben so« und alle Verbindungen mit ungebeugtem Adjektiv, wie »eben so viel / wenig / bald / oft« usw., die Konjunktionen »in dem«, »so lange«, »ob zwar«, »so bald« und »nach dem«, das unbetonte »so wie« und »so eben«, alle Wortformen mit »einander« verbunden mit Präfi x »auf«, »von«, »gegen«, »zu«, »unter« usw., alle eindeutig als Adverb verwendeten Verbindungen mit »-weise«, oder »-maßen«. Eindeutig nominal verwendete Fügungen, wie »das Vorstellungen haben«, »das Gegeben sein«, werden zusammengeschrieben oder mit Bindestrich zusammengefügt. 5. Abkürzungen sind den heute üblichen Gepflogenheiten angepaßt, wie »z. B.« statt »zum B.«, »Dr.« statt »D«. Die vielen unterschiedlichen Abkürzungen der Kritik der reinen Vernunft – etwa »Kr. d. V.« oder »Kritik der r. V.« – bleiben beibehalten, werden allerdings, wie auch alle anderen heute nicht mehr üblichen Abkürzungen, im Apparat aufgeschlüsselt oder in eckigen Klammern [ ] ergänzt. 6. Bei den Hervorhebungen wird dasselbe System wie im Original verwendet, d. h. einfache Hervorhebungen kursiv, doppelte Hervorhebungen k u r s i v - g e s p e r r t , dreifache Hervorhebungen K A PI TÄ LCH EN . 7. Die Zeichensetzung ist durchweg nach Duden 20. Aufl. normalisiert. Normalisierung ist nur in solchen Fällen unterblieben, wenn dadurch eine Änderung der Bedeutung auftritt oder auftreten könnte. Im übrigen ist Reinholds Zeichensetzung oft eigenwillig und wenig konsistent. Das gilt besonders für die Verwendung des Semikolons und des Doppelpunkts. Wird das Semikolon, was regelmäßig vorkommt, im Sinne eines Doppelpunkts verwendet, wird es stillschweigend in die-

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sem Sinne korrigiert. Beibehalten wird das Semikolon, wo es zur Aufzählungen längerer Satzteile verwendet wird. Wo es nach heutigem Verständnis zu stark in den normalen Satzaufbau eingreift, ist es in ein Komma aufgelöst. In einigen Fällen sind auch Kommas in Semikolons aufgelöst. Ferner ist die Häufung von Fragezeichen in einem Satz aufgelöst, d. h. Sequenzen von Fragesätzen werden mit nur einem Fragezeichen abgeschlossen. Die manchmal mitten im Satz zur Hervorhebung gesetzten Ausrufezeichen sind in Klammern gesetzt (!). Den Gedankenstrich verwendet Reinhold auch zur Kennzeichnung eines ausgelassenen Satzteils; in den Fällen, wo solche Satzteile in eckigen Klammern [ ] ergänzt sind, konnte der Gedankenstrich nicht beibehalten bleiben. Ebenfalls wenig konsequent verfährt Reinhold bei der Verwendung von Anführungszeichen. Auf einen Eingriff ist in der Regel verzichtet, es sei denn bei Einschüben, die eindeutig nicht zum Redeteil gehören. In den Anmerkungen sind alle als solche von Reinhold kenntlich gemachten direkten Zitate oder Anspielungen ausgewiesen. Für indirekte Zitate oder Anspielungen – sei es auf bestimmte Texte, historische Umstände, Begebenheiten, Figuren usw. – erheben die Anmerkungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ebensowenig die Angaben zur einschlägigen Forschungsliteratur. Bei Zitaten aus in Fraktur gesetzten Schriften wird der Antiquadruck mit serifenloser Schrifttype wiedergegeben. Alle Zitate sind in Originalorthographie den angegebenen Ausgaben entnommen. Bei längeren griechischen Zitaten wird eine Übersetzung gegeben, bei anderssprachigen Zitaten nicht. Zu allen von Reinhold erwähnten historischen Personen gibt es kurzbiographische Anmerkungen. Verweise innerhalb des Versuchs geschehen immer nach der Originalpaginierung. Bei der Verwendung von eckigen Klammern [ ] in Worten liegt ein Eingriff vom Hrsg. vor, auf Satzebene sind solche Eingriffe spezifiziert mit dem Zusatz »Hg.«. Verweise auf den Apparat werden mit denselben Siglen vorgenommen, wie im Apparat selbst.

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13. Nachwort Nach getaner Arbeit ist es immer eine schöne Freude, all denjenigen zu danken, die mir beim Zustandekommen dieser Edition großzügig geholfen haben. Zuallererst danken möchte ich meinem leider viel zu früh verstorbenen Lehrer Prof. Dr. Ludwig Heyde (Universität Nijmegen), der meinen Plan einer neuen Edition des Versuchs kraftvoll unterstützt hat. Seinem Andenken ist diese Edition gewidmet. – Viele hilfreiche Hinweise habe ich von meiner Doktorandin Frau drs. Karianne Marx bekommen, von der wir bald eine Monographie zum Verhältnis zwischen Kant und Reinhold erwarten dürfen, sowie von Herrn PD Dr. Michael Franz und Herrn drs. Job Zinkstok. Herrn Dr. Faustino Fabbianelli, Mitherausgeber der Korrespondenzausgabe (KA), danke ich für Auskünfte über einige Reinhold-Briefe (wegen Abschluß des Manuskripts konnte der 2007 erschienene 2. Band der KA nur noch vereinzelt berücksichtigt werden). Für die Geduld beim Zustandekommen dieser Edition möchte ich last but not least Herrn Horst D. Brandt vom Felix Meiner Verlag herzlich danken. Herrn Simon-Gadhof vom Felix Meiner Verlag danke ich für die sorgfältige Betreuung der Drucklegung. Zustande gekommen ist dieser Band dank der Unterstützung des Verfassers durch die Niederländische Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO ).

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WS 1787/88 öffentlich: »Über die Kantische Theorie des Erkenntnisvermögens zur Einleitung in die Kritik für Anfänger«. Privatim: [Ü]ber die Theorie der schönen Wissenschaften, nach Eberhard’s Leitfaden und eigenen Zusätzen«.1 SS 1788 öffentlich: Wielands »Oberon« (nicht öffentlich gehalten). Privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach Ernst Platners Philosophischen Aphorismen, 2.) Ästhetik nach Eberhard, 3.) Kritik der reinen Vernunft. WS 1788/89 öffentlich: Wielands »Oberon« (nicht öffentlich gehalten). Privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 2.) Ästhetik nach Eberhard. Privatissimum: Kritik der reinen Vernunft. SS 1789 öffentlich: Wielands »Oberon« (nicht öffentlich gehalten). Privatim: 1.) Kritik der reinen Vernunft nach dem Versuch, 2.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 3.) Ästhetik nach Eberhard. WS 1789/90 privatim: 1.) Kritik der reinen Vernunft nach dem Versuch,2 2.) über die gesamte Geschichte der Phi1 Vgl. Jenaische gelehrte Anzeigen vom 12. Oktober 1787, 82. Stück, S. 647. – Reinhold liest nach Johann August Eberhard, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, zum Gebrauche seiner Vorlesungen, 2. verb. Aufl., Halle 1786. Dieses Buch liegt aller Wahrscheinlichkeit nach auch den späteren Jenaer Ästhetikvorlesungen zugrunde. 2 Nach einem Lektionszettel vom 9. Oktober 1790 (Universitätsarchiv Jena, M 193, Dok. 77) ebenfalls nach Carl Christian Erhard Schmid, Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, und zwar wohl nach der 2., verbesserten Aufl., Jena 1788, vgl. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, a. a. O., Anm. 34, S. 172.

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losophie nach eigenen Diktaten, 3.) Logik und Metaphysik. SS 1790 privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 2.) Theorie der Wissenschaften und schönen Künste oder Ästhetik nach Eberhard. WS 1790/91 privatim: 1.) Kritik der reinen Vernunft nach dem Versuch nach dem Versuch und Schmids Kritik der reinen Vernunft im Grundrisse, 2.) über die gesamte Geschichte der Philosophie nach Johannes Gurlitt, Abriß der Geschichte der Philosophie, Leipzig 1786,3 3.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten. SS 1791 privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 2.) Ästhetik oder Theorie der schönen Wissenschaften nach der Theorie vom Begehren und Schönen. WS 1791/92 privatim: 1.) Elemente der kritischen Philosophie nach der eigenen Methode des Versuchs und nach einer Synopsis der Kritik der reinen Vernunft,4 2.) über die gesamte Geschichte der Philosophie bis einschließlich der neuesten kritischen Epoche, 3.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten. SS 1792 privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 2.) Theorie der schönen Wissenschaft oder Ästhetik, nach der neueren Theorie von dem Begehren, dem Schönen und Erhabenen an auserwählten Beispielen unserer klassischen Dichter erklärt. 3 Reinhold hatte Gurlitts Buch im November 1786 sehr positiv im Anzeiger des Teutschen Merkur rezensiert, vgl. S. CLXXXIII–CLXXXV. 4 Nach einem Lektionszettel vom 28. September 1791 (Universitätsarchiv Jena, M 195, Dok. 84) auch nach der Kritik der praktischen Vernunft, vgl. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold, a. a. O., »Einleitung«, Anm. 34, S. 172.

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WS 1792/93 privatim: 1.) die Elemente der kritischen Philosophie nach dem Versuch und nach der Kritik der reinen Vernunft, 2.) Geschichte der Philosophie einschließlich der neuesten kritischen Epoche, 3.) Logik und Metaphysik nach eigenem Diktat. SS 1793 privatim: 1.) Logik und Metaphysik nach eigenen Diktaten, 2.) Theorie der schönen Wissenschaften oder Ästhetik. WS 1793/94 privatim: 1.) Elemente der kritischen Philosophie, 2.) Geschichte der Philosophie, 3.) Logik und Metaphysik. Zu einigen Vorlesungen Reinholds sind inzwischen auch Nachschriften aufgefunden. So fi nden sich im Nachlaß des Bremer Bürgermeisters Johann Smidt (1773–1857), der ab dem SS 1792 bis Ende September 1793 in Jena Theologie studiert hat,5 Reinhold-Nachschriften über Geschichte der Philosophie (1792), Metaphysik (1792/93), Logik (1792/93) (allerdings hat Reinhold niemals Logik und Metaphysik gesondert voneinander vorgetragen), Kants Kritik der reinen Vernunft (1792/93), drei verschiedene Nachschriften über Ästhetik und eine Nachschrift über Moral und Naturrecht, die allerdings auf 1794/95 datiert ist, und deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf eine Jenaer Vorlesung zurückgeht.6 5 Zur Biographie Smidts vgl. den Beitrag von Monika M. Schulte in Bremerhavener Persönlichkeiten aus vier Jahrhunderten – ein biographisches Lexikon, hrsg. von Hartmut Bickelmann, Bremerhaven, 2003, 2. erw. und korr. Aufl., S. 327 ff. Hier wird allerdings fälschlicherweise angegeben, daß Smidt bis 1794 in Jena studiert habe; in Wirklichkeit ist er zwischen September 1793 und Mai 1794 in Bremen, kommt im Sommer 1794 dann aber wieder nach Jena, um dort 1795 sein Theologiestudium abzuschließen, vgl. Erich Fuchs, »Reinhold und Fichte im Briefwechsel zweier Jenenser Studenten 1793/94«, in: FichteStudien 7 (1995) S. 143–171. 6 Die Nachschriften verwahrt das Bremer Staatsarchiv (Bestand

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Weitere Nachschriften sind gefunden im Nachlaß von Wilhelm Josef Kalmann (1759–1842).7 Er wurde am 19. Oktober 1792 in Jena immatrikuliert, wo er bis zu Reinholds Weggang nach Kiel blieb. In seinem bzw. in dem Hugelmann-Nachlaß fi nden sich eine »Allgemeine Einleitung in die Logik und Metaphysik« (nur Diktate Reinholds, vermutlich SS 1793) und die »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft« (vor WS 1793/94). Ferner sind in dem Dresdener Nachlaß von Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) Nachschriften aufgefunden über »Logik und Metaphysik« (nach dem Verzeichnis der Dresdener Bibliothek vom WS 1793/94, was allerdings nicht sicher ist), über die »Kritik der reinen Vernunft« (vermutlich WS 1793/94) und über »Die Logik von Emmanuel Kant«.8 Krause hat Reinhold allerdings nicht selbst gehört.

7.20), vgl. Monika M. Schulte und Nicola Wurthmann, Nachlass Johann Smidt (1773–1857), Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen (Staatsarchiv Bremen, Bestand 7,20), Bremen 2004. 7 Diese und folgende Angaben hat mir dankenswerterweise Herr Dr. Erich Fuchs zur Verfügung gestellt. Nähere Angaben zu den Nachschriften sind in seinem Beitrag in dem Band Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment, in der Reihe: Studies in German Idealism, Vol. 9, Springer-Verlag, Dordrecht 2009, hrsg. von George di Giovanni, zu erwarten. 8 Einige der erwähnten Nachschriften werden von Faustino Fabbianelli und Erich Fuchs in der Ausgabe Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften, hrsg. von Martin Bondeli, Schwabe Verlag, veröffentlicht werden.

ZEIT GEN ÖSSISCHE REZ EN SION E N 1

a) Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie − Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 25. Mai 1789, 84. St., S. 841–843 (Rezensent: Johann Gottlieb Buhle). − Gothaische gelehrte Zeitungen, 3. Juni 1789, 44. St., S. 381–384. − Tübingische gelehrte Anzeigen, 8. Juni 1789, 46. St., S. 366–368 (Rezensent: Johann Friedrich Flatt). − Beytrag zu den Erlangischen gelehrten Anmerkungen, 25. Woche, Sonnabends, den 20. Juni 1789, S. 357–358. − Neue Leipziger gelehrte Anzeigen, 22. Juni 1789, Nr. 50, S. 396–397 (Rezensent: Karl Heinrich Heydenreich). − Allgemeine Literatur-Zeitung, 23. Juni 1789, Nr. 186, Sp. 673–676.2 − Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, vom 25. August 1789, 35. St., S. 307–309. − Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 7. Oktober 1789, 117. Stück, Sp. 633–636. − Allgemeine deutsche Bibliothek, 1794, Bd. 116. 2. St., S. 448–450.

1 Eine Neuausgabe dieser Rezensionen ist veranstaltet von Faustino Fabbianelli (Hrsg.), Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, Hildesheim [u. a.] 2003. 2 Fabbianelli, ebd., meint, August Wilhelm Rehberg sei der Rezensent; Anlaß zu dieser Vermutung gibt Reinholds Brief vom 14. Juli 1789 an Kant, vgl. Akad.-Ausg., 11.59 f. Allerdings gibt Rehberg in seiner Rezension des Versuchs ausdrücklich zu erkennen, daß die »Vorrede über die bisherigen Schicksale […] in der A. L. Z. von einem anderen Recensenten bereits angezeigt« war, vgl. Allgemeine LiteraturZeitung, Nr. 357 vom 19. November 1789, Sp. 417.

Zeitgenössische Rezensionen

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b) Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens − Allgemeine Literatur-Zeitung, 19. November 1789, Nr. 357, Sp. 417– 424, fortgesetzt in Nr. 358, 20. November 1789, Sp. 425–429 (Rezensent: August Wilhelm Rehberg).3 − Gothaische gelehrte Zeitungen, 16. Dezember 1789, 100. St., S. 881– 888. − Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 23. Januar 1790, 14. St., S. 129–139 (Rezensent: Johann Georg Heinrich Feder). − Annalen der neuesten Theologischen Litteratur und Kirchengeschichte, 2. Jhrg. 1790, 6. Woche, S. 86–92, Fortsetzung 7. Woche, S. 97–99 (Rezensent: Carl Gottfried Fürstenau). − Erlangische gelehrte Zeitung, 17. Februar 1790, 7. St., S. 118–124, fortgesetzt 24. Februar 1790, 9. St., S. 133–136. − Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 5. März 1790, 28. St., Sp. 433–447. − Tübingische gelehrte Anzeigen, 17. Mai 1790, 39. St., S. 306–312 (Rezensent: Johann Friedrich Flatt).4 − Neue Leipziger gelehrte Anzeigen, 7. Juni 1790, Nr. 46, S. 362–366 (Rezensent: Karl Heinrich Heydenreich).5 − Frankfurter gelehrte Anzeigen, 29. Juni 1790, Nr. 52, S. 419–423. − Würzburger gelehrte Anzeigen, 24. Juli 1790, 59. St., S. 580–582. − Philosophische Bibliothek, hrsg. von Johann Georg Heinrich Feder und Christoph Meiners, 3. Bd., 1790, S. 142–194 (Rezensent: Johann Georg Heinrich Feder).

3 Auf diese Rezension reagiert Reinhold unter eigenem Namen im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 137 vom 2. Dezember 1789, Sp. 1138–1140, worauf Rehberg am 30. Januar 1790, ebd., Nr. 15, Sp. 118–120, antwortet. 4 Reinhold reagiert auf diese Rezension in Beyträge I, S. 412–423. 5 Auf diese Rezension reagiert Reinhold im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 80 vom 26. Juni 1790, Sp. 653–655. Woraufhin Heydenreich seine Kritik noch einmal kurz darlegt, ebd., Nr. 88 vom 14. Juli 1790, Sp. 718–720 (von Heydenreich signiert). Die von Reinhold ebd., Nr. 91, Sp. 744, angekündigte Gegenerklärung erscheint in Beyträge I, S. 424–446.

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Zeitgenössische Rezensionen

− Philosophisches Magazin, hrsg. von Johann August Eberhard, 3. Bd., 3. St., 1790, S. 358–376 (Rezensent: Eberhard). − Allgemeines Magazin für kritische und populaire Philosophie, 1791, 1. Bd., 1. St., S. 186–210. − Allgemeine deutsche Bibliothek, 1791, Bd. 101, 2. St., S. 295–318 (Rezensent: Hermann Andreas Pistorius). − Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 8. April 1796, 43. St., Sp. 691–692 (Rezension der 2. Aufl. von 1795).

BI BLIOG RAPHIE 1

a) Übersetzungen des Versuchs − Latein: Caroli Leonhardi Reinholdi Pericvlvm Novae Theoriae Facvltatis Repraesentativae Hvmanae, übs. von Friedrich Gottlob Born, Lipsiae (Leipzig) 1797. − Französisch: Essai d’une nouvelle théorie de la faculté humaine de représentation (Extraits), in: K. L. Reinhold, Philosophie élémentaire, présentation et traduction par François-Xavier Chenet, Paris 1989. − Italienisch: Saggio di una nuova teoria della facoltà umana della rappresentazione, a cura di Faustino Fabbianelli, in der Reihe: I Biancospini, 7, Firenze 2006. − Niederländisch: §§ 6–12 des 2. Buchs, in: Daniël van Spanje, Een kommentaar bij de voorstellingstheorie van Karl Leonhard Reinhold, uitleg en achtergronden bij de paragrafen VI tot XII van boek II van de Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Praag, 1789, Magisterarbeit Universität Utrecht 1988. − Englisch: Eine integrale Übersetzung ins Englische wird z. Z. vorbereitet von Tim Mehigan.

b) Sekundärliteratur 2 Adam, Herbert (1930), Carl Leonhard Reinholds philosophischer Systemwechsel, Heidelberg. 1 Eine Bibliographie der Schriften Reinholds bietet Alexander von Schönborn, Karl Leonhard Reinhold. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. 2 Beachtet ist in der Regel nur solche Literatur, die Reinholds Philosophie bis etwa 1790 zum Gegenstand hat. Vollständigkeit wird nicht beansprucht. – Nachtrag: 2009 erschienen sind noch die beiden Sammelbände Am Rande des Idealismus. Studien zur Philosophie Karl Leon-

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Bibliographie

Ahlers, Rolf (2003), »Fichte, Jacobi und Reinhold über Spekulation und Leben«, in: Fichte-Studien 21, S. 1–25. Ameriks, Karl (2005), »Reinholds’s fi rst Letters on Kant«, in: Archivio di filosofi a 83/1–3, S. 13–33. – (2005), »Introduction« zu Karl Leonhard Reinhold, Letters on the Kantian Philosophy, ed. by K. Ameriks, Cambridge. – (2003), »Reinholds’s Challenge: Systematic Philosophy for the Public«, in: Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, hrsg. von Martin Bondeli und Wolfgang Schrader, in der Reihe: FichteStudien Supplementa 16, Amsterdam / New York, S. 77–103. – (2000), Kant and the Fate of Autonomy. Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge Mass., bes. S. 79–160. – (1989), »Reinhold and the Short Argument to Idealism«, in: Proceedings of the Sixth International Kant Congress, vol. II/2, ed. by Gerhard Funke and Thomas Seebohm, Washington D. C., S. 441–453. Amrhein, Hans (1909), Kants Lehre vom »Bewusstsein überhaupt« und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart, Berlin, bes. S. 95 ff. Bach, Thomas (2003), »Karl Leonhard Reinhold (1757–1823). Philosophie und Kulturmorphologie im »Teutschen Merkur««, in: »Der Teutsche Merkur« – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hrsg. von Andrea Heinz, in der Reihe: Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, Bd. 2, Heidelberg, S. 254–275. Baggesen, August (1824), Carl Leonhard Reinhold’s Todtenfeier, den 15. April 1823. Ein maurerisches Denkmal, Kiel. Batscha, Zwi (1981), »Reinhold und die Französische Revolution«, in: Studien zur politischen Theorie des deutschen Frühliberalismus, Frankfurt/M., S. 91–127. – (1977), »Einleitung«, in: K. L. Reinhold, Schriften zur Religionskritik und Aufklärung 1782–1784, hrsg. von dems., Bremen / Wolfenbüttel, S. 9–93. Baum, Günther (1974), »K. L. Reinholds Elementarphilosophie und die Idee des transzendentalen Idealismus«, in: Reinhard hard Reinholds, hrsg. von W. Kersting und D. Westerkamp, Paderborn, und Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment, in der Reihe: Studies in German Idealism, Vol. 9, hrsg. von G. di Giovanni, SpringerVerlag, Dordrecht.

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K A R L LEON H A R D R EIN HOLD

Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens

Mit Churfürstl. Sächs. gnädigsten Privilegio. P r a g und J e n a , bey C. Widtmann und I. M. Mauke, 1789.

Seinen väterl ic hen Freu nden Ignaz von Born in Wien, Immanuel Kant in Königsberg und Christoph Martin Wieland in Weimar, zum Denkmal seiner Dankbarkeit, Verehrung und Liebe

der Ve r f a s s e r.

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Über die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie Da die Periode, welche in der Geschichte der deutschen Philosophie unmittelbar auf die leibnizisch-wolffi sche folgte, gegenwärtig noch nicht vorüber ist, so darf es um so weniger befremden, daß ihre Vorzüge sehr verschieden beurteilt werden, und daß man ebensowenig darüber einig ist, ob man ihr den Namen der eklektischen oder im Gegenteile der empirischen beizulegen, als ob man ihr bevorstehendes Ende zugleich auch für das Ende oder vielmehr für den Anfang des goldenen Zeitalters der Wissenschaft anzusehen habe.2 Sonderbarer dürfte es beim ersten Anblicke scheinen, daß die Meinungen auch über die vorhergegangene Periode nicht weniger | geteilt sind, und daß selbst dasjenige Verdienst ihres Stifters, wodurch derselbe den Grund zur gegenwärtigen gelegt hatte, sogar von den Verteidigern und Lobrednern der letzteren so oft und so sehr verkannt wird. Wolff 3 hatte dadurch, daß er den Entdeckungen des großen Leibniz 4 wissenschaftliche Form gab, ein vollendetes System dogmatischer Metaphysik aufgestellt, dem kein Dogmatiker nach ihm etwas Beträchtliches zu nehmen oder hinzu5 In der separaten Ausgabe dieser »Vorrede« unter dem Titel Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie von Karl Leonhard Reinhold, Jena bei Joh. Michael Mauke 1789, folgt folgendes Motto: »It is ambition enough to be employed as an Under-labourer in clearing the ground a little, and remove some of the rubbish that lies in the way to knowledge. L o c k e’ s Essay on human understanding Epistle to the Reader.« Dieses Motto ist fast identisch mit dem Motto des ersten Buches, siehe unten S. 69 mit der Anm. 49. 16 Periode ] eingefügt nach TMSKP-1 22 f. dem kein … Beträchtliches ] TMSKP-1: dem noch kein Dogmatiker bis auf den heutigen Tag etwas Wesentliches

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Vorrede

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zufügen gewußt hat, und von welchem die späteren Eklektiker nur dann erst abzuweichen anfi ngen, als sie beim Vortrag der Metaphysik die wissenschaftliche Form für die rhapsodische aufgaben. Noch nie hat ein philosophisches System eine so schnelle und so allgemeine Aufnahme gefunden als das leibnizisch-wolffische. Es wurde nach einem heftigen, aber nur sehr kurzdaurenden Widerstand5 von den besten Köpfen der Nation und von den mittelmäßigsten angenommen, und der größere Teil der akademischen Lehrer wetteiferte mit dem bessern, sich für eine Philosophie zu erklären, in welcher man die schwersten und wichtigsten Aufgaben der Spekulation mit noch nie gesehener Gründlichkeit und Klarheit aufgelöst und das Interesse der Religion und der Moralität mit den kühnsten Ansprüchen der | Vernunft vereinigt fand. Allein eben darum und fast ebensobald verloren die wesentlicheren Grundsätze dieser allgemein beliebten Philosophie den Reiz der Neuheit. Sie erhielten durch ihren vielfältigen Gebrauch die Popularität gemeiner und alltäglicher Maximen, und die Selbstdenker waren im Kurzen genötigt, sich am Leitfaden derselben auf das Feld der Beobachtung6 hinauszuwagen, nachdem ihnen Wolff auf dem Felde der Spekulation so wenig zu tun übrig gelassen hatte. Nichts war natürlicher, als daß der zergliedernde Scharfsinn seine Arbeit an den konkreten Erfahrungsbegriffen fortsetzte, nachdem sie an den abstrakten Notionen vollendet schien, und daß man zu beobachten anfi ng, nachdem man zu

3 f. Metaphysik … aufgaben ] TMSKP-1: Metaphysik Ordnung, Zu-

sammenhang und Bestimmtheit aufgaben 6–14 Es wurde … fand ] TMSKP-1: Unsere philosophischen Schrift-

steller, zumal die bestellten Lehrer unter ihnen, die gewissermaßen durch ihren Beruf auf eine einzige Art des Dogmatismus [mit folgender Anm.: des Deistischen nämlich.] eingeschränkt sind, erklärten sich, wenige ausgenommen, für die Philosophie, in welcher sie mit einer bis dahin noch nie gesehenen Gründlichkeit das Interesse der Religion und der Moral mit den kühnsten Ansprüchen der speculirenden Vernunft vereinigt fanden

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defi nieren aufhören mußte. Einige neuere Schriftsteller haben das Verdienst der beobachtenden Philosophie dadurch in ein helleres Licht zu setzen geglaubt, daß sie dieselbe mit der herabgewürdigten wolffischen in den schärfsten Kontrast stellten, ohne zu bedenken, daß die Probleme, welche von der erstern der Natur vorgelegt wurden, größtenteils durch die so sehr verschrieenen Defi nitionen der letztern entweder zuerst aufgeworfen oder doch näher bestimmt worden sind; daß das Studium der Erfahrung keineswegs dem gemeinen auch | noch so gesunden Verstande, sondern nur der durch Prinzipien geleiteten und durch Spekulation geübten Vernunft gelingen konnte,7 und daß die durch planloses Herumtappen aufgegriffenen und durch bloße Zufälle erworbenen Sachkenntnisse, ohne das wissenschaftliche Gepräge, das ihnen der systematische Geist aufdrückt, rohe und meistens unbrauchbare Schätze bleiben müßten. Die philosophische Welt ist durch die Schule der neuern Empiriker mit Kompilatoren bevölkert, aber durch die wolffische sind ihr die Stifter der eigentlichen Psychologie und Ästhetik gebildet worden,8 durch welche die glücklichsten Versuche der Engländer in diesen Fächern an Gründlichkeit und Vollständigkeit so weit übertroffen wurden. Aus der wolffischen Schule sind die Stifter der gereinigten Theologie und des geläuterten Geschmackes hervorgetreten, philosophische Theologen und philosophische schöne Geister, durch welche die Fackel der Philosophie in Gegenden gebracht wurde, wo sie in Deutschland bis dahin noch nie geleuchtet hatte, – von dem geheimnisvollen Dunkel des Allerheiligsten bis in die Kabinette der Minister und Fürsten und an die Putztische der 1 neuere ] verbessert aus: neueren 1–3 Einige … helleres ] TMSKP-1 beginnt mit einem neuen Absatz: Noch

vor kurzem hat man das Verdienst dieser neuen beobachtenden Philosophie dadurch in das hellste 4–6 größtenteils durch … näher ] TMSKP-1: größtentheils in den nachmals so verschrienen Wolfi schen Defi nitionen entweder zuerst aufgeworfen oder wenigstens näher 10 Verstande ] TMSKP-1: Menschenverstande

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Vorrede

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Damen. Ein Zusammenfluß günstiger Umstände, deren Aufzählung nicht hieher gehört, schien | den Einsturz der alten leidigen Scheidewand zwischen Welt und Schule vollendet zu haben, und die wolffischen Grundsätze wirkten ungehindert auf dem neueröffneten unermeßlichen Felde fort, während die auf sie gebauten metaphysischen Dogmen der Wolffi aner einerseits über die neuen und vielfältigen Anwendungen jener Grundsätze aufs Empirische in Vergessenheit, andererseits aber durch die immer weiter um sich greifende Freiheit des Denkens in Verfall gerieten und der streng systematische Vortrag in eben dem Verhältnisse sein voriges Ansehen einbüßte, als die Beispiele fesselfreier und geschmackvoller Einkleidung philosophischer Untersuchungen unter uns zahlreicher wurden. Es wurde nun über jede menschliche, bürgerliche, häusliche Angelegenheit von der größten bis zur kleinsten in Prosa und in Versen philosophiert. Um die neue Ausbeute aufzunehmen und nur einigermaßen in Ordnung zu bringen, wurden die neuen Fächer vervielfältigt; Anthropologie, Geschichte der Menschheit, Philosophie der Geschichte, der Sprache, der Erziehungskunst usw. wurden in den Rang der Wissenschaften und neueroberter Provinzen der Philosophie eingesetzt. | Was würden Leibniz, Wolff [und] Baumgarten 9 von demjenigen gedacht haben, der ihnen vorhergesagt hätte, daß eine Zeit kommen würde, wo die Metaphysik in eben dem Verhältnisse verlieren, als die Philosophie gewinnen müßte? Diese Zeit ist wirklich dagewesen und sie ist noch lange nicht vorüber. Aber freilich hat sich die Bedeutung des Wortes Philosophie während derselben sehr verändert. Das eigentliche Gebiet dieser Wissenschaft wurde immer unbestimmter, je weiter die Philosophen ihre Eroberungen ausbreiteten. Das Ansehen und der Einfluß der ehemaligen Königin aller Wissenschaften sank um so tiefer, je weniger man ihr und je mehr man der Erfahrung zu verdanken anfi ng, welcher man endlich auch sogar die unentbehrlichsten Prinzipien zueignete, je mehr diese nach und nach ihr wissenschaftliches gelehrtes Gepräg verloren und den Namen der Aussprüche des gesunden Menschenverstan-

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des angenommen hatten. Indessen, daß die positive Theologie und die Volksreligion durch allmähliche Reinigung der Mythologie an Sittlichkeit und Vernunftmäßigkeit zunahm, die Kenntnis unsres Planeten durch physische Geographie, Länder- und Völkerkunde außerordentliche Fortschritte tat, und die empirische Seelenlehre von allen Sei | ten her mit den wichtigsten Aufschlüssen über die verborgensten Eigenheiten des menschlichen Geistes und Herzens bereichert wurde, wurden die r at iona le Theologie, Kosmologie und Psychologie teils vernachlässigt, teils gemißhandelt. Diese Teile der Metaphysik, die kurz vorher durch das, was Descartes 10 und Leibniz für den Inhalt, Wolff und Baumgarten aber für die Form derselben getan hatten, auf den unerschütterlichen Grund einer allgemeingültigen Ontologie für die Ewigkeit gebaut und die vollendete Schutzwehre der Religion und der Moral gegen Aberglauben und Unglauben auszumachen schienen, wurden nun auf einmal, selbst von Verteidigern der Religion und Moral, als unhaltbar und entbehrlich aufgegeben.11 Es war dem größeren Teile des philosophischen Publikums, der mit Aufsammeln und Zusammenordnen von Tatsachen alle Hände beschäftigt hatte, um so weniger zu verdenken, daß er das heiligste Interesse der Menschheit durch sich selbst und den gesunden Menschenverstand ebensosehr gesichert als durch die Metaphysik gefährdet glaubte, da die letztere unter den Händen der Wenigen, die ihr noch aus Beruf oder Neigung oblagen, das Systematische und Allgemeingültige, wodurch sie allein ihre vorigen Ansprüche zu | rechtfertigen vermocht hätte, immer mehr und mehr verlor. Auch die Metaphysik sollte auf Erfahrung gegründet und Leibniz durch Locke 12 berichtigt oder vielmehr die Theorien von beiden sollten miteinander vereinigt werden. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit der ontologischen Prinzipien wurde in eben dem Verhältnis verdächtiger, als der Versuch, sie von der Erfahrung abzuleiten, allgemeinern Beifall fand. Aus den Grundsätzen waren nun Meinungen geworden; sie erschienen in jedem neuen philosophischen Werke in eine andere Formel eingekleidet, jeder denkende Kopf suchte sie nach seiner Weise zu

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bestimmen, baute sich ein eigenes System und benutzte dabei die Bruchstücke älterer, einander entgegengesetzter Systeme, die ihm in das seinige zu passen schienen. Man hatte nach und nach alle großen Geister, die sich eigene Bahnen gebrochen hatten, beschworen. Allein die Antwort eines jeden war von jedem seiner verschiedenen Beschwörer anders verstanden worden*, weil man über den Sinn der Fragpunkte nicht ei | nig und derselbe durch nichts Allgemeingeltendes bestimmt war. Die auf diese Weise entstandenen philosophischen Versuche, von denen manche noch vor zwanzig Jahren das größte Aufsehen gemacht haben würden, fanden itzt ebenso wenige und nur ebenso kalte Tadler als Bewunderer. Die Widersprüche, mit welchen jedes der neuen Lehrgebäude behaftet war, konnten bei dem immer mehr überhandnehmenden Ekel an metaphysischen Untersuchungen, bei der Ungewohntheit, über anschauungslose Vorstellungen zu philosophieren, und bei der Schwierigkeit, sich aus den Labyrinthen so vieler entgegengesetzten und mit gleichem Scharfsinn unterstützten Meinungen herauszufi nden, kaum dem kleinsten Teile der kleinen Anzahl von Lesern sichtbar werden, die noch an Schriften dieser Art einiges Interesse fanden.14 Auch die Scharfsichtigsten unter ihnen mußten nicht selten durch Genieschwünge und schimmernde Diktion, am öftesten aber durch die rhapsodische Form der Einkleidung geblendet werden, die eine notwendige Folge unbestimmter Begriffe und unzusammenhängender Grundsätze ist, Schriftstellern aber, denen sie Bequemlichkeit, und Lesern, denen sie Unterhaltung gewährt, die gesegnete Frucht des echten philosophischen | Geistes und des gebildeten Geschmackes heißt.

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* Man vergleiche zum Beispiel, was in der neusten Zeit Mendelsohn, 30 Jacobi, Rehberg und Herder über den Spinozismus geschrieben haben.13

2 entgegengesetzter ] nach TMSKP-1 verbessert aus: entgegengesetzten 15 bei ] nach TMSKP-1 eingefügt 17 bei ] nach TMSKP-1 eingefügt

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In den Lehrbüchern nahm die Philosophie in eben dem Verhältnisse die Form der Geschichte an, als sie sich von der Form der strengen Wissenschaft entfernte. In der Logik wurde überhaupt Vorstellungen-haben mit Denken verwechselt, größtenteils nur empirische Psychologie abgehandelt und der eigentlichen Gesetze des Denkens gemeiniglich nur im Vorbeigehen, nicht selten mit Mißbilligung unter der Rubrike verjährter Spitzfi ndigkeiten erwähnt. Der Raum, welcher der Metaphysik bestimmt blieb, wurde gewöhnlich durch die Aufzählung der berühmtesten metaphysischen Lehrmeinungen, und die Beurteilung derselben nach den sogenannten Aussprüchen des gesunden Verstandes ausgefüllt. Man fuhr freilich noch immer fort, die Grundwahrheiten der Religion und der Moral zu demonstrieren, aber mit Beweisen, denen kaum mehr der lächerlichste Kathederstolz selbst Allgemeingültigkeit zutraute. Der eine Verfasser stellt ein ganzes Heer von Argumenten auf, deren jedes er schon darum für unüberwindlich hält, weil die Wahrheit, von der die Rede ist, nicht bezweifelt werden darf. Ein anderer, überzeugt, daß nur ein einziger Beweis gelten | könne, widerlegt alle übrigen und glaubt dadurch, den seinigen genug erhärtet zu haben, der aber leider von einem mißgünstigen Kollegen als erschlichen und widersprechend befunden wird. Ein dritter endlich hilft sich aus der Verlegenheit, in welche ihn die Kollision seines Skeptizismus mit seiner Amtspflicht versetzt, dadurch, daß er alle bisher bekannt gewordenen Beweise historisch vorlegt, ohne sich ausschließend für einen derselben oder zusammengenommen für alle zu erklären. Was Wunder, daß die breite Heerstraße der neuen Schulphilosophie, auf welcher sich die Anführer selbst unaufhörlich einander in den Weg treten, von Selbstdenkern, die durch 4 Denken ] nach TMSKP-1 verbessert aus: denken 4 Denken verwechselt ] TMSKP-1: Denken im strengsten Sinne verwech-

selt 7 f. Spitzfi ndigkeiten ] nach TMSKP-1 verbessert aus: Spitzfündigkeiten 22 Kollegen ] nach TMSKP-1 verbessert aus: Kollega

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keinen näheren Beruf auf dieselbe verschlagen werden, immer mehr und mehr verlassen wird! Einige dieser letztern haben neuerlich mit Spinoza 15 den entgegengesetzten, aber viel konsequenteren Dogmatismus, andere mit Pascal 16 den Supernaturalismus, andere endlich mit Hume 17 den dogmatischen Skeptizismus vorgezogen, während der große Haufen von Halbdenkern, der gleichwohl nicht blödsinnig genug ist, um das immer zunehmende Schwanken der erschütterten Metaphysik nicht wahrzunehmen, an allem, was sich nicht mit Händen greifen läßt, zu zweifeln anfängt, und auf seine unphilosophische Gleichgültig | keit, die alles, was nicht ohne Schwierigkeit zu erklären ist, dahingestellt sein läßt, unter dem gemißbrauchten Namen des kritischen Skeptizismus stolz tut. Indessen, daß sich der Mangel allgemeingültiger Prinzipien durch die angeführten Erscheinungen in der philosophischen Welt ebensolaut ankündigte, als das Bedürfnis derselben bei der übrigens so hoch gestiegenen Kultur immer dringender wurde, erschien das berühmte Werk des königsbergischen Philosophen18, welches nichts geringeres zum Zwecke hat, als jenem Mangel auf immer abzuhelfen, und welches, wie einige dafürhalten, diesen Zweck unmöglich verfehlen kann. Noch nie ist wohl ein Buch, ein einziges ausgenommen,19 so angestaunt, bewundert, gehaßt, getadelt, verketzert und – mißverstanden worden. Einige Jahre hindurch schien man kaum das Dasein desselben bemerkt zu haben, und wenn es gegenwärtig die allgemeine Aufmerksamkeit des philosophischen Publikums beschäftigt, so ist ihm diese Ehre nur sehr allmählich und nicht so viel durch sich selbst als durch außerordentlich anpreisende und verschreiende Berichte zuteil geworden.20 Bisher haben sich noch sehr wenige Schriftsteller von Bedeu | tung für das Kantische System erklärt, das sich von allen bisherigen auch dadurch auszeichnet, daß es entweder durchgängig angenommen oder verworfen werden muß. Aber diese wenigen haben in demselben die vollendete, völlig befriedigende Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens, die einzig mögliche Quelle allgemeingültiger Grundsätze und das in der Natur des

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menschlichen Geistes gegründete System aller Systeme gefunden.21 Nichts war natürlicher als daß diese und ähnliche Urteile, die von den Freunden der Kritik der Vernunft denjenigen, die das Werk selbst nicht gelesen oder nicht verstanden hatten, auch nicht bewiesen werden konnten, von dem größten Teile als stolze Anmaßungen und lächerliche Übertreibungen aufgenommen wurden. Es fehlte nicht an einigen unbärtigen und bärtigen Schriftstellerchen, die teils um etwas Neues zu Markte zu bringen, teils um ihren Tiefsinn bewundern zu lassen, sich zu Aposteln des alleszermalmenden 22 Kant aufwarfen und durch die Art, wie sie sich dabei benahmen, den Unwillen und den Spott wirklich verdienten, gegen den die denkenden Verehrer des Kantischen Verdienstes durch alles, was sie zur Bestätigung ihrer Urteile vorbringen konnten, kaum ge | sichert waren. Eine beträchtliche Anzahl philosophischer Köpfe, auf welche Deutschland mit Recht stolz ist, und unter diesen die meisten der berühmtern akademischen Lehrer, haben sich entweder gegen das ganze neue System oder, welches in der Tat eben dasselbe ist, gegen wesentliche Teile desselben erklärt, und die Natur der Sache brachte es mit sich, daß diese Männer die Kritik der Vernunft23 durch ihre Einwürfe und Bedenklichkeiten um so tiefer herabsetzen mußten, je erhabener der Rang gewesen wäre, den sie ihr eingestanden haben würden, wenn sie ihre Prüfung ausgehalten hätte. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl aus dem Schriftstellertrosse ergriff auch bald bei der Behandlung des neuen Modeartikels lieber die Partei gegen Kant; denn hier hatten sie ungleich berühmtere Namen auf ihrer Seite und die gewisse Aussicht, nicht etwa zu den Nachbetern, sondern zu den Widerlegern und Belehrern des Mannes zu gehören, dem selbst seine angesehensten Gegner ihre Bewunderung nicht versagen konnten.24 Sie wiederholten daher die Angriffe ihrer hohen Alliierten oder ahmten dieselben vielmehr mit den von jenen abgeborgten Waffen nach, die das, was sie in solchen Händen an voriger Schärfe verloren an 10 Kant ] verbessert aus: Kants

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dem schweren Nachdruck | gewannen, der dem bleiernen Witze eigentümlich ist. Die allgemeinste unter den vielen Klagen, die bisher über die Kritik der Vernunft vorgebracht worden sind, legt ihr Unverständlichkeit zur Last.25 Diese Klage wird auch sogar von denjenigen geführt, welche das Kantische System widerlegt zu haben glauben, und die sich eben darum billig zutrauen sollten, daß sie es verstanden hätten. Gleichwohl ist noch keiner unter den zahlreichen Gegnern desselben aufgestanden, der behauptet hätte, er habe den Sinn davon durchgängig gefaßt; keiner, der nicht wenigstens sich selbst gestehen müßte, er habe an vielen Stellen unüberwindliche Dunkelheit gefunden. Die meisten halten diese Dunkelheit für eine natürliche Folge der offenbaren Widersprüche, die sie an den ihnen verständlichen Stellen gefunden zu haben meinen; während die Anhänger des neuen Systems die Quelle dieser Widersprüche in jener Dunkelheit entdeckt zu haben behaupten, die ihnen wenigstens nicht unüberwindlich gewesen sein soll, so schwer sie auch ihrem Geständnisse nach zu überwinden war. Ihre Antworten auf alle bisherigen Einwürfe sowie die Erklärungen, die Herr Kant selbst über einige derselben bekannt gemacht hat, haben keinen andern | Inhalt, als daß sie die Gegner über den mißverstandenen Sinn der Kr. d. V. zurechtweisen; wodurch sie aber auch gewiß den Vorwurf vielmehr eingestehen als ablehnen, daß eine Schrift, die von so vielen scharfsinnigen Köpfen und sonst so ganz kompetenten Richtern mißverstanden wird, äußerst dunkel sein müsse.26 Diese Hauptanklage gegen ein Werk, das wenigstens in Rücksicht auf das, was von ihm verheißen wird, von so allgemein anerkannter Wichtigkeit ist, verdient um so mehr eine nähere Beleuchtung, je mehr es sich in der Folge zeigen wird, daß sie mit dem von mir geschilderten Zustande der herrschenden, sogenannten eklektischen Philosophie innigst zu20 bisherigen ] nach TMSKP-1 verbessert aus: bisherige 23 Kr. d. V. ] Abk. für: Kritik der Vernunft

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sammenhängt, daß von ihren eigentlichen Gründen das ganze bisherige Schicksal der neuen Kantischen bestimmt worden ist und daß sich aus diesen Gründen alle übrigen gegen Kant lautgewordenen Anklagen über Wiederherstellung scholastischer Spitzfi ndigkeiten 27, unnütze Spracherneuerungen, Einführung des trostlosen Skeptizismus, Aufstellung eines neuen Idealismus, Umsturz der Grundwahrheiten der Religion und der Moral vollkommen befriedigend erklären lassen. | Gesetzt, die Kritik der r. V. hätte das große Problem der Entdeckung allgemeingültiger Prinzipien wirklich aufgelöst; [gesetzt] sie enthielte bereits das durch die Natur unsres Erkenntnisvermögens bestimmte und in seinen Gründen bis an die Grenzen alles Begreiflichen zurückgeführte, einzig mögliche System aller spekulativen Philosophie? – »O! So müßte ja dieses System selbst von allen Schwierigkeiten frei sein, alle Irrwege der Spekulation vermeiden, nicht neue Unbegreiflichkeiten an die Stelle der Alten setzen; es müßte höchst faßlich sein und durch eine über alle Sophismen spitzfi ndiger Grübelei siegende Analytik alle Einwürfe zu Boden schlagen und allen unfreiwilligen Täuschungen des wahrheitsuchenden Forschers abhelfen. – Wie können wir andern, die wir dasselbe kennen oder nicht kennen, uns so große Dinge von einem dogmatischen Systeme versprechen, dessen Beweise äußerst abstrus und den wenigsten Menschen faßlich sind, und dessen Resultate sich von den Prinzipien der bekannten Metaphysik und den simplen Lehren der schlichten Menschenvernunft gleich weit entfernen!«* |

* Was ich hier aus dem Versuch über Gott, die Welt und die menschliche Seele, Berlin bei Nikolai 1788, entlehnt habe, dürfte wohl von den 30 meisten, wo nicht gar von allen Gegnern des Kantischen Systems unterschrieben werden.28

3 übrigen ] nach TMSKP-1 verbessert aus: übrige 9 r. V. ] Abk. für: reinen Vernunft 28–31 Diese Anm. nach TMSKP-1: Was ich hier aus Herrn Corrodi’s Ver-

such über Gott, die Welt und die menschliche Seele, Berlin bey Ni-

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Es würde zu nichts nützen, wenn ich diesem beweislosen Tadel die ebenso beweislosen Lobsprüche derjenigen, die in der Kr. der Vernunft alle die angeführten Forderungen wirklich erfüllt oder gar übertroffen glauben, entgegenstellen wollte. Ich bedarf aber auch, um meine Betrachtungen aller jener Einwendungen ungeachtet fortsetzen zu können, keines günstigen Vorurteils für die Partei, zu der ich mich bekenne. Es ist genug, wenn mir meine Leser, wie ich wohl sicher annehmen darf, einräumen: Es fi nde keine absolute Unmöglichkeit statt, daß die Kritik der Vernunft ebensowohl von ihren Gegnern als von ihren Verteidigern mißverstanden sei; ungeachtet bisher die erstern sowohl an Zahl als an Zelebrität den letztern überlegen waren. Es war nicht nur der größere, sondern auch sogar der bessere Teil von Newtons 29 gelehrten Zeitgenossen, der (zumal in den erstern Jahrzehnten nach der Bekanntmachung der neuen Entdeckungen desselben) in der nunmehr allgekolai 1788. entlehnt habe, dürfte wohl von den meisten, wo nicht von allen Gegnern des Kantischen Systems unterschieden werden. Allein, wenn eben derselbe Verfasser S. 421 schreibt: »die Kritik der reinen Vernunft stelle ein neues metaphysisches System auf, das der un metaphysi sche Denker sowohl als die übrigen für ein fein gesponnenes Gewebe von Sophistereyen halten muß, das dahin abzielt uns alle Erkenntniß von wirklichen Dingen zu entreißen, und allen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Erkenntniß zu vernichten:« so dürfte wohl ein beträchtlicher Theil jener Gegner mir beystimmen, wenn ich behaupte (was ich zu seiner Zeit beweisen werde) daß Herr Corrodi, was er hier so hart und so entscheidend beurtheilt, in der That nicht verstanden habe. Hat er doch den so bestimmt angegebenen und leichtfaßlichen Sinn verfehlt, in welchem ich in meinem zweyten und dritten Briefe über die Kantische Philosophie behauptete »die Kritik der Vernunft habe den alten Streit zwischen Metaphysik und Hyperphysik auf immer beygelegt.« Er meynt S. 418 »Selbst Kant würde über diese meine Behauptung – lächeln müssen.« Nach Hrn. Kants Erklärung im teutschen Merkur Jenner und Februar 1788 kann es wohl nicht zweifelhaft seyn, über wen von uns beyden Herr Kant gelächelt haben würde, wenn hier etwas zu belächeln wäre. 3 Kr. ] Abk. für: Kritik

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meingeltenden Theorie dieses großen Mannes Entfernung | von allen bis dahin bekannten Prinzipien der Physik sowohl als den simplen Lehren des schlichten Menschenverstandes Widersprüche, Unbegreiflichkeiten und vor allen Dingen unüberwindliche Dunkelheit in den Beweisen gefunden hat. Fast ein halbes Jahrhundert hindurch würde man in Frankreich über den Newtonianer gelächelt und mit ebensoviel Bitterkeit, aber nur mit etwas mehr Feinheit als unsre gegenwärtigen Popul a r philosophen, 30 über die kritischen [Philosophen] gespottet haben, der seinen Zeitgenossen vorhergesagt hätte, die Attraktionslehre würde von ihren Nachkommen ebenso allgemein angenommen und bewundert werden, als sie ein Menschenalter vorher verworfen und herabgesetzt wurde. Was würde man vollends in Rom über die Behauptung geurteilt haben, Newton habe Mittel gefunden, die von der täglichen Erfahrung widerlegte, der Heiligen Schrift widersprechende, vom apostolischen Stuhle verdammte Lehre von der Bewegung der Erde zu einer so unwidersprechlichen Gewißheit zu erheben, daß sie einige Jahrzehnte nachher auf allen philosophischen Kathedern dieses Hauptsitzes der Rechtgläubigkeit mit Vorwissen und guter Bewilligung des obersten | Glaubensregenten selbst gelehrt und verteidigt werden würde? – »Das Newtonsche System hat diesen Triumph seiner mathematischen Evidenz zu verdanken, auf welche doch wohl das Kantische keinen Anspruch zu machen hat.« Gleichwohl hat selbst durch diese mathematische Evidenz die beinahe allgemeine Empörung der gleichzeitigen Philosophen gegen Newton, welche mit der gegenwärtigen gegen Kant eine so auffallende Ähnlichkeit hat, nicht verhindert werden können.31 Denn auch diese Evidenz hing von Beweisen ab, die selbst für den größten Teil der damaligen Mathematiker unverständlich waren oder wenigstens von ihnen dafür erklärt wurden. Wie? wenn nun die Kantischen Beweise für die wenigen, 7 ebensoviel ] nach TMSKP-1 verbessert aus: so viel 31 Mathematiker ] nach TMSKP-1 verbessert aus: Mathematikern

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welche sie bisher verstanden haben, eine logische Evidenz hätten, die in Rücksicht auf ihre überzeugende Kraft der mathematischen, die Anfangs auch nur von einigen wenigen an den Newtonschen [Beweisen] wahrgenommen wurde, wirklich zur Seite stünde? – Welcher Philosoph ist nicht gegenwärtig von der falschen Spitzfi ndigkeit der vier syllogistischen Figuren und der sechzehn Schlußformeln überzeugt? 32 Allein | wer erinnert sich nicht der Zeit, wo man die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit dieser logischen Spielwerke mit eben der logischen Evidenz einzusehen wähnte, mit der man gegenwärtig das Gegenteil wirklich einsieht? Den vielen und berühmten Verteidigern jener vier syllogistischen Figuren mußte die gegenwärtige Übereinstimmung über die Nichtigkeit derselben ebenso unmöglich vorkommen, als den heutigen Verteidigern der vier metaphysischen Systeme (des Spiritualismus, Materialismus, dogmatischen Skeptizismus und Supernaturalismus) der unvermeidliche Umsturz dieser einander entgegengesetzter Systeme, und der dadurch erhaltene Friede auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie, unbegreiflich und ungereimt scheinen muß.33 Gesetzt nun, das in der Kritik der Vernunft vorhandene System der Prinzipien der eigentlichen Philosophie wäre wirklich allgemeingültig, es wäre so ganz in der Natur des menschlichen Geistes gegründet, daß es von jedem, der dasselbe durchgängig verstanden hätte, als wahr befunden werden müßte (eine Voraussetzung, von der ich hier nichts weiter behaupte, als daß sie keine absolute Unmöglichkeit habe), so behaupte ich: »daß er |stens in der Natur eines solchen Systemes zusammengenommen mit dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie, zweitens in der Art, wie dieses System in dem Kantischen Werke vorgetragen ist und vorgetragen werden mußte«, Gründe vorhanden sind, aus welchen sich vollkommen begreifen läßt, warum die Kritik der Vernunft nicht nur von dem größten, sondern auch von dem bessern Teile gleichzeitiger Philosophen mißverstan18 Friede ] nach TMSKP-1 verbessert aus: Frieden 28 dem ] nach TMSKP-1 verbessert aus: den

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den werden mußte; Gründe aus welchen sich, wie ich hoffen darf, das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie auf eine Art erklären läßt, die ebensowenig etwas der Ehre ihres Stifters vergibt als dem Ruhme ihrer verdienstvollen Gegner zu nahe tritt. Sollten die neuen Prinzipien wahrhaft allgemeingültig und ihrer Natur nach dazu gemacht sein, allgemeingeltend zu werden, so müßten sie jeder bisherigen philosophischen Sekte volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, mit der größten Bestimmtheit das Wahre, das in den respektiven Grundsätzen jeglichen Systems enthalten ist, in sich fassen, das Falsche ausschließen und dadurch ein System aufstellen, welches jedem Selbstdenker das, was er aus seinem Gesichtspunkte rich | tig gesehen hat, wiederfi nden ließe. Indem nun zu diesem Behufe bei der Entwicklung der neuen Prinzipien manche der paradoxesten Behauptungen hervorgesucht und in Schutz genommen, manche der ausgemachtesten hingegen bezweifelt und widerlegt werden müßten, so ist nichts natürlicher, als daß es der erste Versuch dieser Art, und wäre er auch noch so meisterhaft ausgefallen, sowohl mit denen, welche dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie seine Form gegeben, als auch mit den übrigen, welche von demselben die Form ihres Philosophierens erhalten haben, verderben müßte, oder, welches ebensoviel heißt, daß er sowohl von den unter sich einigen Popular-Philosophen als von den untereinander streitenden Metaphysikern mißverstanden und – widerlegt werden müßte. Um zu seinem erhabenen Ziele zu gelangen, müßte der neue Versuch einen Weg einschlagen, der demjenigen gerade entgegengesetzt ist, auf welchem der große Haufen der Popular philosophen bequem und unbesorgt fortzuschlendern gewohnt ist. Anstatt des leichten und unterhaltenden Herabsteigens vom Allgemeinen zum Besondern, vom Abstrakten zum Konkreten, von ununter | suchten für ausgemacht angenommen Grundsätzen zu Tatsachen müßte er nicht nur das 30 fortzuschlendern ] nach TMSKP-1 verbessert aus: fortzuschleudern

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Vorrede

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mühsamere und langweiligere Hinaufsteigen wählen, sondern, sollte anders etwas auf immer Entscheidendes bewirkt werden, dasselbe bis zu einer Höhe fortsetzen, die noch von keinem der tiefsinnigsten Forscher erreicht wurde. Um seine auszufi ndenden Prinzipien mit dem Wahren an allen bisherigen Systemen zu vereinigen, müßte er von Behauptungen, welche von keiner Sekte bezweifelt werden können, ausgehen; das heißt, das Allgemeinste, was die bisherige Philosophie aufzuweisen hat, müßte ihm das Besondere werden, von dem er sich zu dem Allgemeinern bis an die Grenze alles Begreiflichen erheben müßte, von der er alsdann zu erweisen hätte, daß sie wirklich die Grenze alles Begreif lichen wäre. Wie sollte ihm der Popularphilosoph ohne Schwindel folgen können? – Was sollte aber auch den Popularphilosophen bewegen können, die ungeheuren Schwierigkeiten zu überwinden, die eine Untersuchung dieser Art für ihn haben muß? Ihm kann es nicht einmal im Traume einfallen, daß es der Philosophie an unentbehrlichen Prinzipien mangeln sollte. Die seini | ge ist auf Formeln gebaut, die durch die für sich feststehenden praktischen Grundwahrheiten, zu deren Beweis sie auf allen Akademien gebraucht worden, geheiligt und bewährt aus der Schule ins gemeine Leben übergegangen sind und nun, als Aussprüche des allgemeinen Menschensinnes gestempelt, aus dem gemeinen Leben wieder in die Schule aufgenommen werden; Formeln, die man nicht bezweifeln darf, ohne nicht dadurch seinen Anspruch an den sensus communis und mit demselben sein Recht an den Namen eines Philosophen einzubüßen. Wie abgeschmackt muß ihm nun jeder Versuch vorkommen, den Sinn jener Formeln zu prüfen, die er für unerklärbar hält, weil sie seiner Meinung nach jeder Erklärung für unerweislich, weil sie jedem Beweise zum Grunde liegen müssen? Trifft er endlich gar auf Resultate, die sich mit diesen für ihn ewigen Wahrheiten oder vielmehr mit dem Sinne, in welchem er die Formeln derselben genommen hat, nicht vereinigen lassen, o! so muß ihm schon 9 f. Allgemeinern ] TMSKP-1: Allgemeinen

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dieser Umstand allein für die gründlichste Widerlegung des neuen Versuches gelten. Er muß es für die leichteste Sache von der Welt halten, solche ausgemachte und nur durch seine Sophisterei unterstützte Ungereimtheiten vor den Augen | des Publikums in ihrer ganzen Blöße darzustellen. Er hält dies für seine heiligste Pflicht, da er überzeugt ist, daß mit jenen Formeln zugleich die Fundamente der Religion und Moralität erschüttert und durch die ungeheure Anmaßung, Verstand und Vernunft selbst zu kritisieren, eine bisher unerhörte Zweifelsucht eingeführt werden müsse. In dieser Meinung wird er gerade durch den Umstand bestärkt, der das vornehmste Kriterium für die Richtigkeit des neuen Versuches ist, »daß dieser nämlich das Wahre, das jedem Systeme eigen ist, aufnimmt«, und in dieser Rücksicht die eigentümlichen Entdeckungen, die der dogmatische Skeptizismus, der Materialismus und der Supernaturalismus aus ihren einseitigen Gesichtspunkten gemacht haben, wieder aufstellt und bestätigt. In den Augen des Popularphilosophen ist dieses das gewisseste Merkmal der Verwerflichkeit der neuen Prinzipien. Er ist gewohnt, jene drei Systeme für längst widerlegte Irrtümer, für unglückliche Folgen der leidigen Abweichung vom gefunden Menschensinne und der Verirrung in das bodenlose Land der Schimären zu halten. Die neue Philosophie wird ihm nun für die ganze Summe der Ketzereien und des Unheils verantwortlich, | wodurch ihm jedes jener einzelnen Systeme verabscheuungswürdig geworden ist. Noch schlimmer, womöglich, müßte die Aufnahme ausfallen, welche unsren allgemeingültigen Prinzipien von den Metaphysikern oder, weil doch die meisten unter ihnen gegen diesen Namen protestieren dürften, von den selbstdenkenden Philosophen, die sich mit Auflösung spekulativer Probleme beschäftigen, bevorstünde. Die bisherige Ontologie, welche den Materialisten wie den Spiritualisten, den Spinozisten wie den Theisten, den Fatalisten wie den Deterministen bisher mit ihren Grund25 verabscheuungswürdig geworden ] TMSKP-1: verabscheuungs-

oder bedauernswürdig geworden

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Vorrede

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sätzen versehen hat und eben darum auf den Schutz von allen zusammengenommen sicher zählen kann, müßte durch den neuen Versuch von dem Range der Wissenschaft der ersten Erkenntnisgründe entsetzt und in ihren ausgemachtesten Grundsätzen als die Quelle eines gemeinschaftlichen Mißverständnisses der Vernunft angegeben und überführt werden. Wie sollte dieses durch ein einziges Buch einem Manne begreiflich gemacht werden, der von den Prinzipien seiner bisherigen Vorstellungsart um so lebendiger überzeugt ist, je mehr ihm die letztere Zeit und Mühe gekostet und | je mehr er sie durch die Gründlichkeit und den Reichtum seines Talentes zu unterstützen und auszuschmücken gewußt hat. Seine Grundsätze haben ihm ihre Festigkeit schon dadurch genugsam bewährt, daß sie sein Lehrgebäude durch so lange Zeit getragen haben. Ihre Unumstößlichkeit kann ihm um so weniger verdächtig gemacht werden, je weniger sie ihm entweder bei dem Überblick des vollendeten Gebäudes selbst als die Grundfeste desselben sichtbar sind, oder auch je mehr er sich bewußt ist, daß sie bei der Grundlegung selbst durch seinen Scharfsinn und Fleiß eigentümliche Bestimmungen erhalten haben, wodurch sie gegen die gewöhnlichen Einwürfe, welche sonst die Grundsätze seiner Partei treffen, gesichert wären. Je mehr der geübte Denker für die Metaphysik, und je mehr sie für ihn getan hat, desto unmöglicher wird es ihm werden, dieselbe neben dem neuen Versuche vor dem Richterstuhle seiner Vernunft als bloße Partei auftreten zu lassen. Er hat diesen Richterstuhl seiner Metaphysik eingeräumt, das heißt, einem Richter, vor welchem notwendigerweise jede Partei, die sein richterliches Befugnis in Anspruch nimmt, vor aller | Untersuchung verloren haben muß. Hierdurch wird unsrem Philoso10 je mehr ] nach TMSKP-1 verbessert aus: jemehr 13 daß ] nach TMSKP-1 verbessert aus: das 14 durch ] TMSKP-1: schon 18 je mehr ] verbessert aus: jemehr 29 f. Untersuchung verloren ] TMSKP-1: Untersuchung schon verlohren

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phen alle unparteiische Prüfung der neuen Lehre unmöglich, und es ist im Grunde nicht viel mehr als eine leere Formalität, wenn er ihre Rechtfertigung über eine Behauptung, die seinen Grundsätzen widerspricht, vernimmt und gegen alle Parteilichkeit protestiert. Denn er versteht diese Rechtfertigung nicht, und er lernt sie um so weniger verstehen, je mehr er überzeugt ist, daß dasjenige, was irgendeinem Menschen verständlich ist, auch ihm verständlich sein müsse. Die Gründe seines Gegners müssen ihm ungereimt vorkommen, weil sie auf das, was er für ausgemacht hält, auf seine Prinzipien, die er alle Augenblicke auch dort, wo er von ihnen abstrahieren sollte und wollte, unvermerkt unterschiebt, zurückgeführt, wirklich einen ganz andern Sinn erhalten müssen, als sie in der Tat haben, und weil er diesen Sinn nur dann rein und unverfälscht auffassen könnte, wenn er sein Urteil über einzelne Teile so lange aufzuschieben vermöchte, bis er das Ganze, in welchem allein jeder Teil seine eigentliche Bedeutung und Bestimmung erhält, übersehen hätte. Diese Übersicht wird aber in demselben Augenblicke unmöglich, | wo das Vorurteil auch nur in einen einzigen der Hauptsätze einen fremden Sinn hineingetragen hat. Wer z. B. der Behauptung: »die Grundwahrheiten der Religion und der Moral lassen sich nicht demonstrieren«, den Sinn unterlegt: Es gäbe keine allgemeingültige Gründe für sie; den Satz: »Raum und Zeit, rein vorgestellt, sind bloße Formen der Anschauung«, für gleichlautend hält mit: Raum und Zeit sind nichts als bloße Vorstellungen; »die Dinge außer uns können nur als Erscheinungen erkannt werden« mit: Die Dinge an sich selbst sind nichts als Erscheinungen u. d. m., der kann freilich ein System, das aus solchen Hauptsätzen besteht, nicht anders als höchst abgeschmackt, abenteuerlich und, wenn man will, auch sogar gefährlich fi nden.

11 Augenblicke ] nach TMSKP-1 verbessert aus: Augenblick 26 bloße ] TMSKP-1: leere 28 u. d. m. ] Abk. für: und dergleichen mehr

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Wenn der Beurteiler einem wahrhaft zusammenhängenden Systeme auch nur einen einzigen ungereimten Bestandteil auf diese Weise aufgebürdet hat, so mag er bei der darauf folgenden Prüfung noch so unparteiisch, arglos, sorgfältig zu Werke gehen, das Verstehen des Ganzen wird ihm gleichwohl schlechterdings unmöglich bleiben. Man vergesse nicht, daß sich die neuen allgemeingültigen Prinzipien mit keiner Me | taphysik, sie mag in ihrer eigentümlichen Gestalt vorgetragen oder durch eine poetische Imagination in schöne Bilder eingehüllt werden, vertragen könne, daß aber auch durch sie jedes metaphysische System auf eine bisher unerhörte Art gewürdigt und gegen die Angriffe von jeder metaphysischen Sekte geschützt werden müsse. Der neue Versuch wird also jeden offenbaren und maskierten Metaphysiker überzeugen müssen, daß seine Philosophie nur halbwahr, die Philosophie seiner Gegner aber nur halbfalsch und folglich – um nichts besser als die seinige wäre. Sei auch hier seine Vernunft über allen Einfluß empörter Selbstliebe erhaben, wird er auch mit dem besten Willen seiner langgewohnten, mühsam erworbenen Vorstellungsart auf einmal entsagen können? Solange aber diese auf sein Studium des neuen Versuches einwirkt, so lange wird er dasjenige, was in demselben gegen das versteckte Falsche seiner Grundsätze vorgebracht wird, für eine Verteidigung des offenbaren Falschen an den Grundsätzen seiner Gegner, und was zur Rechtfertigung des versteckten Wahren an den Grundsätzen seiner Gegner gesagt wird, für eine Bestreitung des Unstreitigen an den seinigen halten müssen. Ist er daher | ein Dogmatiker, so wird er die neue Philosophie für den Versuch eines Skeptikers halten, der die Gewißheit alles Wissens untergraben soll; ist er ein Skeptiker – für die stolze Anmaßung, auf den Trümmern der bisher einander entgegengesetzten dog1 f. fi nden. neuer Absatz Wenn … Systeme ] TMSKP-1: fi nden; und wenn

er dem Systeme 20 auf einmal ] verbessert aus: aufeinmal 30 soll ] TMSKP-1: will

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matischen Systeme einen neuen und alleinherrschenden Dogmatismus einzuführen; ist er ein Supernaturalist – für einen feinangelegten Kunstgriff, die Unentbehrlichkeit historischer Urkunden der Religion zu verdrängen und den Naturalismus ohne Polemik zu begründen; ist er ein Naturalist – für eine neue Stütze der sinkenden Glaubensphilosophie; ist er ein Materialist – für eine idealistische Widerlegung der Realität der Materie; ist er endlich ein Spiritualist – für eine unverantwortliche Beschränkung alles Wirklichen auf die unter dem Namen des Gebietes der Erfahrung versteckte Körperwelt.* Und nun lasse man diese Beurteiler ihre Berichte an das philosophische Publikum abstatten, so wird ein beträchtlicher Teil desselben in seinen Meinungen über das neue sonderbare Werk 34 in | ebenso viele Parteien zerfallen, als dasselbe berühmte Gegner gefunden hat; in Parteien, die teils durch das Urteil ihrer Anführer abgehalten, das Werk selbst zu lesen, teils durch dasselbe bestimmt werden, darin zu fi nden, was jene gefunden haben. Ein kleinerer Teil, dem das Widersprechende in den verschiedenen Aussprüchen gleich kompetenter Richter auffällt, hütet sich, seine Zeit und seinen Verstand an ein Buch zu wagen, aus welchem selbst die Philosophen von Profession nicht klug werden können. Aber nur der allerkleinste Teil ist scharfsichtig und gerecht genug, um die Widersprüche in den beschuldigenden Aussagen der Zeugen als eine günstige Vorbedeutung für die Unschuld der angeklagten neuen Philosophie anzusehen. Den heftigsten und hartnäckigsten Widerstand würde die Einführung allgemeingültiger Prinzipien auf Universitäten erfahren müssen. Der größte Teil unsrer lebenden Zeitgenossen hat noch kein Beispiel einer Reformation der Philosophie erlebt, die den ganzen Lehrbegriff betroffen hätte; sonst dürfte hier die Erinnerung wohl überflüssig sein, daß auch die philosophische Innung ebensogut ihre Orthodoxie als die theologische ebenso | gut ihren Schlendrian als die juristische ebensogut ih* Lauter wirkliche über die Kritik der Vernunft von ihren berühmten Gegnern in öffentlichen Druckschriften gefällte Urteile.

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ren Empirismus als die medizinische habe, ein Übel, das jeder Reformation in eben dem Verhältnisse den Eingang erschwert, als es das Bedürfnis derselben herbeiführt. Wer die Geschichte der cartesianischen und der leibnizisch-wolffi schen Revolution auch nur obenhin kennt, der wird nicht leicht eine gleichzeitige Universität angeben können, auf welcher nicht die neuen Lehren anfangs ebenso unbedingt verworfen als nachmals aufgenommen und befördert worden wären. Die Namen Cartesius 35, Leibniz, Wolff, welche in der Folge im Munde so manches akademischen Lehrers die Stelle der Beweise vertreten mußten, waren auf einem und eben demselben Katheder von seinem Vorfahrer nie ausgesprochen worden, als wenn es darum zu tun war, irgendeine Behauptung als eine grundlose und gefährliche Neuerung zu verschreien. Wie weit das Mißverstehen und Mißhandeln von Lehrsätzen, deren Gründlichkeit gegenwärtig allgemein anerkannt ist, von den akademischen Anticartesianern und Antiwolffi anern getrieben wurde, muß jedem unglaublich vorkommen, der nicht Gelegenheit und Muße hatte, sich durch den Augenschein an den zahllosen widerlegenden | Dissertationen, Diatrieben, Disputationen usw. zu überzeugen, die damals die philosophische Welt überschwemmten, gegenwärtig aber freilich nur noch in Winkeln öffentlicher Bibliotheken aufgeschichtet, in der Ausfüllung des leeren Raums ihre letzte Bestimmung gefunden haben. Gleichwohl war durch die cartesianischen, leibnizischen und wolffischen Bemühungen eigentlich mehr ein in der philosophischen Welt längst angelegtes System ausgeführt und zur Vollkommenheit gebracht, als ein ganz neues eingeführt. Die neuen Entdeckungen und Verbesserungen jener Reformatoren gereichten alle zum Vorteil derjenigen unter den philosophischen Sekten, die ihrer Natur nach dazu gemacht war, auf Akademien zu herrschen, nicht nur darum, weil sie sich so entscheidend für die Grundwahrheiten der Religion und der Moral erklärt, sondern weil sie für dieselben diejenige Form der Überzeugung aufstellt, wel3 derselben herbeiführt ] TMSKP-1: derselben unaufhörlich herbey

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che die menschliche Wißbegierde am meisten zu befriedigen scheint, wenigstens dem menschlichen Stolze unter allen am meisten schmeichelt; eine Sekte, welche von einem Professor der Philosophie, der den entgegengesetzten Dogmatismus der Materialisten und Spinozisten, den dogmatischen Skeptizismus | und den Supernaturalismus so oft aus dem Gebiete seiner Wissenschaft förmlich und feierlich verbannt hat, für das einzig echt philosophische Publikum, sowie ihr System für die einzig wahre unfehlbare Philosophie gehalten wird. Man denke sich nun eine Reformation, die dieser Sekte mit nichts geringerm als dem gänzlichen Untergange droht, die nicht anders als durch diesen Untergang durchgesetzt werden kann, und die dabei keineswegs auf den Beistand der übrigen Sekten zählen kann, weil sie jeder derselben ein gleiches Schicksal bereitet; eine Reformation, durch welche das von den Philosophen von Profession angenommene System zu dem in ihren Augen so niedrigen Rang einer bloßen Vorübung des menschlichen Geistes und eines einstweiligen Behelfes herabgewürdigt wird; eine Reformation endlich, welche dem Lehrer der Metaphysik sogar das Dasein der alten Wissenschaft, durch welche er sich bisher Verdienste und Ruhm erworben hat, streitig und ihm das Studium einer neuen, deren Möglichkeit ihm so gar unbegreiflich ist, zur Pflicht macht! – So sehr mich die bloße Idee einer solchen Reformation vor dem größten Teile meiner Leser lächerlich machen muß, so ist doch nichts gewisser, als | daß diese so abenteuerlich scheinende Idee aufhören müßte, eine bloße Idee zu sein, wenn die spekulative Philosophie Prinzipien erhalten sollte, die ihre Allgemeingültigkeit dadurch bewährten, daß sie wirklich allgemeingeltend würden.36

3 schmeichelt ] nach TMSKP-1 verbessert aus: schmeuchelt 9 wird. Man ] TMSKP-1: wird. es folgt neuer Absatz: Man 10 f. geringerm ] verbessert aus: geringern 16 dem ] nach TMSKP-1 verbessert aus: den 17 niedrigen ] nach TMSKP-1 verbessert aus: niedriger

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Man lasse hier die Leidenschaften des akademischen Lehrers ganz aus dem Spiele*; kein Ehrgeiz blende ihn durch die falsche Vorspieglung, daß sein wohl gegründeter Ruhm mit seinem bisherigen Systeme dahinstürzen müsse; kein heimlicher Neid erschwere es ihm, einer Erfi ndung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die nicht die seinige ist; keine Eifersucht über einen jüngern Kollegen, dem es natürlicherweise leichter werden muß, eine ganz neue Vorstellungsart anzunehmen, reize ihn, an derselben nichts als schwache Seiten aufzusuchen; und gleichwohl wird das | Studium der neuen Philosophie noch immer Schwierigkeiten für ihn haben, die sich selbst auf seine unstreitigsten Verdienste gründen, und nur sehr wenigen in seiner Lage überwindlich sein können. Je öfter und je besser er sein bisheriges System mündlich und schriftlich vorgetragen hat, desto einleuchtender, geläufiger, teurer hat ihm dasselbe werden müssen. Er besitzt eine große Fertigkeit, die Beweise für dasselbe zu erhärten und die Einwürfe dagegen zu widerlegen; denn beides ist das Hauptgeschäft seines Lebens gewesen; und da er sich bewußt ist, alles, was von seinen Gegnern bis dahin eingewendet worden ist, abgefertigt zu haben, so ist er um so geneigter anzunehmen, daß auch überhaupt nichts dagegen eingewendet werden könne, was sich nicht auf ein Mißverständnis seines Systemes, das nur sehr wenige so genau, wie er, kennengelernt haben, zurückführen lasse. Je mehrere Felder der Philosophie er bearbeitet hat, desto mehr haben seine Prinzipien ihre Fruchtbarkeit und Harmonie vor seinen Augen gerechtfertigt, desto inniger sind sie

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* in welchem sie doch immer keine unbeträchtliche Rolle zu haben scheinen, wenn z. B. eben derselbe berühmte Mann, der dadurch das Verdammungsurteil über ein philosophisches Werk ausgesprochen 30 zu haben glaubt, wenn er erklärt: er habe dasselbe nicht verstanden, unwillig darüber wird, wenn man ihm beweist, daß er es wirklich nicht verstanden habe, wenn usw.

9 ihn ] nach TMSKP-1 verbessert aus: ihm 9 derselben ] TMSKP-1: demselben

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mit seiner gesamten Ideenmasse verwebt worden, desto mehr sind sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, in die Natur seiner Vernunft übergegangen. Ich | glaube daher eben nichts Paradoxes zu behaupten, wenn ich es für ausgemacht halte, daß das Studium oder vielmehr das Verstehen des neuen kritischen Versuches nicht nur bei den meisten, sondern auch wohl bei manchen der verdienstvollsten akademischen Philosophen mehr Eifer, Anstrengung und Zeitaufwand voraussetze als bei bloßen Liebhabern der Wissenschaft, ja auch nur bei manchem talentvollen jungen Anfänger. Woher sollte bei gewissen älteren Lehrern der Eifer kommen, sich in eine neue Untersuchung über ihr längst vollendetes bewährtes System einzulassen und bei dieser Untersuchung einem Führer zu folgen, von dem sie gehört haben, daß er auch ihre gewissesten Überzeugungen verwerfe? Die Anstrengung so vieler Jüngeren gehört ihren überhäuften Amtsgeschäften, zahlreichen Vorlesungen und schriftstellerischen Arbeiten, die durch keine fremde Ideenreihe unterbrochen werden dürfen. Bei vielen endlich sind es aufs höchste einzelne abgerissene Stunden der Erholung, die sie mit eingenommenem Kopfe und zerstreuter Aufmerksamkeit einem Studium widmen, dem kaum der volle Aufwand eines geschäftefreien Jahres gewachsen wäre. Andere mögen endlich allen Eifer, alle Anstren | gung und alle die Zeit, die auch nur eine einzige tägliche Vorlesung übrig läßt, darauf verwenden, und sie werden wider ihren Willen genötigt sein, das in den Stunden der Meditation mühsam verfertigte Gewebe neuer Überzeugungen in der jedesmaligen Vorlesungsstunde wieder aufzulösen. Das System, das sie vom Katheder herab erklären und beweisen müssen, steht im Widerspruche mit den neuen Prinzipien, die notwendig den kürzern ziehen müssen, sobald sie vor ihrer völligen Entwicklung und durchgängigen 12 längst vollendetes ] nach TMSKP-1 verbessert aus: längstvollendetes 20 eingenommenem ] verbessert aus: eingenommnen | TMSKP-1: ein-

genommenen 30 notwendig den ] TMSKP-1: nothwendig in ihren Augen den 31 ihrer ] TMSKP-1: der

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Bestimmung mit den bewährten Lehrsätzen eines längst angenommenen Systemes verglichen werden; und so werden jedesmal die zarten Keime des künftigen Baumes allgemeingültiger Erkenntnisse durch die schweren Grundsteine des alten Lehrgebäudes zerdrückt. Wer die Betrachtungen, die ich hier mehr durch Winke veranlassen als ausführen konnte, mit kaltem Blute verfolgt, der dürfte sich wohl mit mir in dem Resultate vereinigen, daß der erste auch noch so wohlgelungene Versuch, allgemeingültige Prinzipien aller spekulativen Philosophie aufzustellen, nicht nur von dem großen Haufen, sondern auch von | vielen des bessern Teiles des philosophischen Publikums eine geraume Zeit hindurch mißverstanden werden müßte. Daß die Kritik der reinen Vernunft wirklich diese Prinzipien enthalte, behaupte ich um so weniger, da ich es weder hier beweisen noch weniger aber erwarten kann, daß mir auf mein Wort geglaubt werde. Aber daß die Kritik d. r. V. wirklich jenes Schicksal bisher erfahren habe, welches sie erfahren mußte, wenn sie zuerst allgemeingültige Prinzipien aufgestellt hätte, ist eine Tatsache, die dem ganzen philosophischen Publikum vor Augen liegt. Wer den Mangel allgemeingültiger Prinzipien in der spekulativen Philosophie für ausgemacht oder auch nur für wahrscheinlich hält, dürfte mir wohl ohne vieles Bedenken beipflichten, daß dieser Mangel mit einem allgemeinen, allen Sekten gemeinschaftlichen Mißverständnisse zusammenhängen müsse, wodurch es auch den scharfsichtigsten und unparteiischten Forschern unmöglich wurde, über die Prämissen, welche der Auflösung ihrer Probleme zum Grund gelegt werden sollten, 2–5 und so … zerdrückt ] TMSKP-1: und so zerdrückt auch der sub-

tilste Metaphysiker die zarten Keime des künftigen Baumes allgemeingültiger Erkenntnisse, durch die schweren Grundsteine seines alten Lehrgebäudes 17 d. r. V. ] Abk. für: der reinen Vernunft 20 dem ] nach TMSKP-1 verbessert aus: den 20 Augen liegt. ] hier endet TMSKP-1, signiert: R.

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unter sich einig zu werden. Umsonst beruft sich der Leibnizianer auf ein in der Vernunft jedes Menschen vorhande | nes System ewiger Wahrheiten, umsonst der Lockeaner auf das unveränderlichen Gesetzen unterworfene Zeugnis der Erfahrung.37 Bisher ist noch kein Orakel weder aus dem nur so wenigen zugänglichen Heiligtume der reinen Vernunft noch aus dem allen Augen offenliegenden Buche der Erfahrung ausgegangen, das auch nur die wichtigsten, die gesamte Menschheit am meisten interessierenden Fragen allgemein verständlich oder auch nur auf eine die geübtesten Denker befriedigende Weise beantwortet hätte. Die philosophische Welt hat sich über jede dieser Fragen in vier Hauptparteien getrennt, die sich um die Wahrheit herum in einem Vierecke gelagert haben, wo die einander gegenüberstehenden ihren Gegenstand aus gerade entgegengesetzten, die sich angrenzenden aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachteten, die erstern untereinander in unaufhörlicher Fehde begriffen waren, die letztern bald auf der einen, bald auf der andern Seite fochten. So erklärten sich die Theisten und Pantheisten für das Wissen, die Supernaturalisten aber und dogmatischen Skeptiker für das Nichtwissen einer Antwort auf die Frage vom Dasein Gottes; die Theisten und Supernaturalisten hingegen für das Dasein eines von der Natur | verschiedenen Gottes; während die Pantheisten und dogmatischen Skeptiker die Grundlosigkeit dieser Erklärung einzusehen glaubten. Bald kämpfte der Supernaturalist mit dem ihm von der einen Seite angrenzenden Theisten gegen den Pantheisten, und bald rief er gegen seinen alten Bundesgenossen den dogmatischen Skeptiker zu Hülfe; und so verewigte jede Partei, so viel an ihr lag, den Streit, indem sie bald für die Bundesgenossen ihrer Gegner und bald wider ihre eigenen zu Felde zog. Wie? wenn diese Fehde, die bei der nur allmählichen Entwicklung des menschlichen Geistes ebenso unvermeidlich als 21 vom ] nach TMSKP-2 verbessert aus: von 27 Bundesgenossen ] verbessert aus: Bundsgenossen 29 f. Bundesgenossen ] verbessert aus: Bundsgenossen

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für dieselbe unentbehrlich war, im Grunde bloß von der Einseitigkeit des Gesichtspunktes abhinge, aus welchem jede Partei den ihnen allen gemeinschaftlichen Gegenstand ansieht? Wenn von jeder Partei Wahrheit, aber nur eine Seite derselben, gesehen wird, so zeigt sich diese Seite nur, in wieferne sie mit einer gegenüberstehenden im Gegensatz, aber nicht, wie sie mit derselben zugleich vereinbar, sogar notwendig verknüpft ist. Solange nun jede Partei die ihr in die Augen fallende Seite für volle Wahrheit ankündigt, muß sie von der ihr gegenüberstehenden, die eine entgegengesetzte volle Wahrheit im Au | ge hat, geradezu widerlegt werden. Das jeder Sekte einleuchtende zum Teil unstreitig Wahre enthält dann den Grund, warum keine von allen übrigen verdrängt werden und das Einseitige im Gesichtspunkte einer jeden, – warum keine, auch unter den vorteilhaftesten äußern Umständen einen entscheidenden Sieg über die übrigen davontragen konnte. Sollten sie nicht bisher durch irgendein gemeinschaftliches Mißverständnis gehindert worden sein, auf den gemeinschaftlichen Gesichtspunkte zusammenzutreffen, aus welchem sich alle besondern und einseitigen vereinigen ließen? Wie? Wenn es dem Verfasser der Kritik der reinen Vernunft aufbehalten wäre, dieses Mißverständnis zu entdecken und, so viel dieses durch die Kräfte eines einzelnen Menschen möglich war, hinwegzuräumen? So viel ist wenigstens unleugbar, daß er, wenn er diesen großen Zweck wirklich vor Augen hatte, und, wenn es ihm gelingen sollte, denselben zu erreichen, gerade das tun mußte, was er wirklich getan hat. Er mußte dann einen ganz neuen von jeder Sekte bisher verfehlten, aber die eigentümlichen Pfade einer jeden [Sekte] durchkreuzenden Weg | einschlagen; und daher, wie es wirklich geschehen ist, auch von jeder bald auf dem ihrigen, bald auf dem ihrer Gegner angetroffen werden; er mußte jedes bisherige System für unhaltbar erklären und 10 Auge ] nach TMSKP-2 verbessert aus: Augen 11 f. einleuchtende … Wahre ] TMSKP-2: einleuchtende unstreitig

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gleichwohl auch jedes einzelne gegen alle übrigen in Schutz nehmen, vor allem aber mußte er die große Reformation der Philosophie durch eine bisher noch nie versuchte Zergliederung des Erkenntnisvermögens beginnen. Da der Streit der Parteien vorzüglich die Erkennbarkeit übersinnlicher Gegenstände betrifft, so mußte der Versuch gemacht werden, den Begriff der Erkennbarkeit überhaupt näher, genauer, vollständiger als bisher geschehen ist, zu bestimmen. Bei dieser neuen Bestimmung durften weder angeborne Wahrheiten mit Leibnizen noch außer unserm Gemüt befi ndliche Gegenstände mit Locken als unstreitige Objekte des Erkennens vorausgesetzt und keineswegs, nach der bisherigen Gewohnheit, die Bedingungen oder Gesetze der Erkennbarkeit entweder von den einen oder von den andern (oder auch von beiden zugleich, ohne den Beitrag eines jeden insbesondere angeben zu können) abgeleitet werden. Die neue Bestimmung konnte nur | dann besser als die vorigen gelingen, wenn sie nichts als unstreitige Prämissen voraussetzte. In dieser Rücksicht durfte sie sich weder auf die Realität jener angebornen übersinnlichen Wahrheiten, die von den dogmatischen Skeptikern, Materialisten usw., noch auf die Wirklichkeit der Gegenstände der Erfahrung, die von den Idealisten und unter gewissen Einschränkungen sogar von den Spiritualisten geleugnet wird, berufen. Jeder Versuch, die Natur und die Grenzen der Erkennbarkeit neu zu bestimmen, bei welchem die in der philosophischen Welt zum Teil noch streitigen Gegenstände des Erkennens als unstreitig angenommen worden wären, hätte schon dadurch allein seinen Zweck verfehlen müssen; er würde vorausgesetzt haben, was zu erweisen war, und die Hoffnung eines künftigen Einverständnisses über Prinzipien vielmehr weiter entfernt als näher herbeigeführt haben. Anstatt also die Natur und den Umfang des Erkenntnisvermögens durch erkannte 15 insbesondere ] nach TMSKP-2 verbessert aus: ins besondere 16 werden. Die ] TMSKP-2: werden. Denn die 23 wird, berufen ] TMSKP-2: wird, als auf etwas Erwiesenes berufen

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Objekte zu bestimmen, mußte er vielmehr die Erkennbarkeit der Gegenstände selbst aus dem bloßen Erkenntnisvermögen zu bestimmen suchen. | Wirklich hat die Kritik der reinen Vernunft zuerst den Begriff des bloßen Erkenntnisvermögens aufgestellt und entwickelt, und das Erkenntnisvermögen erscheint durch diese Entwicklung in einer Gestalt, von der man sich bisher in der philosophischen Welt nicht einmal die Möglichkeit träumen ließ; nämlich: einerseits unabhängig sowohl von der Erfahrung als von angebornen Grundwahrheiten, anderseits aber auf das Gebiet der Erfahrung in theoretischer Rücksicht ebensosehr eingeschränkt, als in praktischer über dasselbe erhaben. Lauter Rätsel, die so lange für unauflöslich gelten müssen, bis sie wirklich aufgelöst sind, und deren Sinn sogar vielen nur durch die wirkliche Auflösung begreiflich werden kann. Durch eine Zergliederung, die noch immer von manchem unsrer scharfsinnigsten Köpfe für unmöglich gehalten wird, sollte in diesem kühnen Versuche das, was beim Erkennen bloß dem Gemüte, von dem, was den Dingen außer dem Gemüte angehört, aufs genauste abgesondert und dadurch das bloße Vermögen des Gemütes von dem bei der äußern Empfindung wirksamen Vermögen der Außendinge völlig unterschieden werden. Wer kann zweifeln, daß durch eine solche Zergliede | rung, wenn sie wirklich gelungen hat, an [den] Tag kommen müßte, wie das bisher allen Systemen der spekulativen Philosophie gemeinschaftliche Mißverständnis mit dem unbestimmten Begriffe des Erkenntnisvermögens zusammenhängt? Und welcher denkende Kopf kann es unbegreiflich finden, daß man, bevor es ausgemacht war, was beim Erkennen der bloßen Beschaffenheit des bloßen Gemütes allein, und was dem Eindruck auf dasselbe von außen angehörte, die ursprünglichen und beiden eigentümlichen Prädikate verwechseln und bald dasjenige, was teils nur durch, teils nicht ohne Eindruck von außen in unsrem Gemüt entstehen kann und in soferne den Außendingen angehört, mit Leibnizen für ein ursprüngliches Eigentum unsres Gemüts ansehen, bald aber das, was vor allem Eindruck im Gemüte vorhanden sein und das eigentliche

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Vermögen desselben ausmachen muß, mit Locke dem Eindrucke zueignen und für eine durch denselben bekanntgewordene Beschaffenheit, die den Dingen unabhängig von unsrem Vorstellungsvermögen zukäme, halten mußte? – Hat es nun mit diesem Mißverständnisse seine Richtigkeit, so ist durch dasselbe nicht | nur der alte immer fortdaurende Streit der Philosophen über die Grenzen des Erkenntnisvermögens, die Spaltung der Sekten über die großen, die Grundwahrheiten der Religion und der Moral betreffenden Fragen und der Mangel allgemeingeltender Prinzipien in der spekulativen Philosophie sehr begreiflich, sondern auch selbst das leidige Schicksal der Kritik der Vernunft, auch sogar von vielen unsrer vorzüglichsten Denker mißverstanden zu werden, ohne viele Mühe erklärbar. Jenes allgemeine Mißverständnis des Erkenntnisvermögens mußte nämlich auf den Sinn aller bisher aufgestellten Grundsätze, auf die Bestimmung aller metaphysischen Notionen, auf die Bedeutung aller Kunstworte entscheidenden Einfluß haben. Der Mann, der sich zuerst über dasselbe erhoben hatte und nun das Erkenntnisvermögen aus einem ganz neuen Gesichtspunkte ansehen und zeigen mußte, war dadurch genötigt, vielen von den bisherigen Formeln und Ausdrücken einen ganz neuen Sinn unterzulegen, manche der gewöhnlichsten darunter als unbrauchbar zu verwerfen, und an ihrer Stelle sich ganz neue zu schaffen. Er mochte sich über diese notwendigen Neuerungen noch so behutsam erklären, er mochte den Sinn seiner neuen | Kunstworte noch so sorgfältig bestimmen, er mochte in seinen Erörterungen noch so ausführlich sein, so konnte dieses alles gleichwohl nur durch Worte geschehen, die in der von dem alten Mißverständnisse affizierten Vorstellungsart seiner Leser einen ganz andern Sinn haben mußten, den sie nur nach gänzlich hinweggeräumtem Mißverständnis verlieren konnten, und durch welchen auch die scharfsinnigsten Beurteiler genötigt wurden, in jenen Erörterungen bald auf schlechterdings unverständliche Stellen, 31 hinweggeräumtem ] nach TMSKP-2 verbessert aus: hinweggeräumten

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bald auf offenbare Ungereimtheiten zu stoßen. Dieser neue Wortsinn, der in der Kritik der Vernunft weder vermieden noch durch Erklärungen der einzelnen Worte bestimmt werden konnte, mußte dann freilich nur durch langwieriges, vielfältiges und mühsames Vergleichen der einzelnen Stücke des ganzen Werkes herausgebracht, mußte gewissermaßen erraten und selbst gefunden werden; welches alles wohl nur durch einen ungemeinen Aufwand von Zeit und Mühe und über dieses vielleicht nur denjenigen allein möglich sein dürfte, die entweder noch gar kein metaphysisches System angenommen haben oder mit ihrem angenommenen unzufrieden sind. | Der Verfasser sieht sich hier genötigt, ein paar Worte über seine eigenen Erfahrungen zu sagen, durch welche er die Schwierigkeit, in den eigentlichen Sinn der Kritik der Vernunft einzudringen und die Gefahr, denselben zu verfehlen, vielleicht näher als die meisten Leser dieses Werkes kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Er würde sich des unangenehmen Geschäftes, vor dem Publikum von sich selbst zu sprechen, gerne überhoben haben, wenn er nur einigermaßen hätte hoffen können, außerdem sich über das, was er noch von der Unverständlichkeit des Kantischen Systems zu sagen hat, verständlich genug erklären zu können. Er glaubt, die Vorkenntnisse, die bei einer metaphysischen Lektüre vorausgesetzt werden, besessen zu haben, als er 1785 dieses System zu studieren anfi ng. Zehn Jahre hindurch war spekulative Philosophie sein Hauptstudium gewesen, dem er seine Verwendung auf Mathematik und schöne Wissenschaften mit einer Art von Gewissenhaftigkeit unterordnete. Drei Jahre hindurch hatte er philosophische Vorlesungen nach dem leibnizischen Systeme gehalten, und die Schriften des großen Stifters desselben, so | wie seines würdigen Gegners Locke, waren ihm keineswegs nur aus den neuern philosophischen Produkten unsrer Landesleute bekannt. Zu dieser Vorbereitung des Kopfes, in Rücksicht auf welche er gleichwohl vor den we13 eigenen ] nach TMSKP-2 verbessert aus: eigene

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nigsten Lesern der Kantischen Schriften etwas voraushaben mochte, kam bei ihm noch ein dringendes Bedürfnis hinzu, auf einem neuen Wege seinem Herzen die Ruhe wiederzufi nden, die er auf dem Felde der Spekulation verloren und auf allen ihm bekannt gewordenen Wegen vergebens gesucht hatte. Durch seine Erziehung war ihm Religion nicht nur zur ersten, sondern gewissermaßen zur einzigen Angelegenheit seiner früheren Lebensjahre gemacht.38 Asketisch zum Asketen gebildet, trieb er das, was er das Werk seines Heils nannte, mit aller jugendlichen Lebhaftigkeit seines Temperaments; und so wurden Gefühle, die wohl keinem menschlichen Herzen ganz fremde sind, aber die von den äußern Umständen der Personen so ungleich begünstigt werden, in dem seinigen zu festen und unvertilgbaren Neigungen. Die philosophische Kritik des Geschmackes, welcher er sehr frühzeitig zum Vorteil seiner Lieblingsneigung für Dichtkunst oblag,39 verleitete ihn unvermerkt auf das Gebiet | der spekulativen Philosophie, und er hatte kaum einige Schritte auf demselben zurückgelegt, als er den Grund seiner bisherigen Glückseligkeit mit Schrecken erschüttert fühlte. Vergebens versuchte er sich hinter die Bollwerke der Asketik zurückzuziehen und dem Kampfe mit den Zweifeln auszuweichen, die ihn drohend und einladend von allen Seiten bestürmten. Es war ihm unmöglich geworden, blind, wie vorher, zu glauben, und er sah sich bald genug gezwungen, sich auf Diskretion den Feinden seiner Ruhe zu überlassen, die ihm mit Wucher wiederzugeben verhießen, was sie ihm genommen hatten. Nun war Metaphysik die Hauptangelegenheit seines einsamen, sorge- und geschäftefreien Lebens geworden. Allein am Ende einer vieljährigen Periode, während welcher er alle vier Hauptsysteme der Reihe nach angenommen und aufgegeben hatte, war er nur darüber mit sich selbst einig geworden, daß ihm die Metaphysik zwar mehr als einen Plan, sich bald mit seinem Kopfe, bald mit seinem Herzen abzufi n18 demselben ] verbessert aus: derselben | TMSKP-2 : denselben 33 seinem ] nach TMSKP-2 verbessert aus: seinen

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den, aber keinen einzigen vorzulegen hatte, der die ernsthaften Forderungen von beiden zugleich zu befriedigen vermochte. Der peinliche Gemütszustand, der bei ihm eine sehr natürliche Folge dieser Über | zeugung war, und die Begierde desselben, es koste auch, was es wolle, loszuwerden, waren die ersten und stärksten Triebfedern des Eifers und der Anstrengung, womit er sich dem Studium der Kritik der reinen Vernunft hingab, nachdem er an derselben unter andern auch den Versuch wahrzunehmen glaubte, die Erkenntnisgründe der Grundwahrheiten der Religion und der Moral von aller Metaphysik unabhängig zu machen. Die vollkommenste Muße, die ihm bei seinem Aufenthalt in Weimar40 zuteil wurde, bestätigte ihn in dem Entschlusse, nicht eher nachzugeben, als bis er sich alle Rätsel, die ihm fast auf jeder Seite jenes tiefsinnigen Werkes aufstießen, gelöst hätte. Je mehr er an die ungeheuren Schwierigkeiten zurückdenkt, die er bei dieser Arbeit zu bekämpfen hatte, und von denen er sich fast ebensooft niedergeschlagen als gereizt fühlte, desto mehr wird er überzeugt, daß er denselben ohne diese Muße und ohne jenes Bedürfnis seines Kopfes und Herzens durchaus nicht gewachsen gewesen wäre. Bei der ersten äußerst aufmerksamen Durchlesung sah er nichts als einzelne schwache Lichtfunken aus einem Dunkel hervorschimmern, das sich kaum bei der fünften ganz verloren hatte. Über ein Jahr | lang enthielt er sich fast aller andern Lektüre,41 zeichnete sich die Hauptsätze des Werkes, die er verstanden zu haben glaubte, sowohl als die er wirklich nicht verstanden hatte, besonders auf und verfertigte mehr als einen mißlungenen Auszug des Ganzen. Alles, was er auf diese Weise anfangs herausbrachte, waren Bruchstücke, die ihm teils aus andern Systemen entlehnt, teils schlechterdings unvereinbar schienen.* Allein so, * Ihm ist es daher sehr begreiflich, warum gewisse Gegner der Kr. d. V. dasjenige, was sie in derselben verstanden zu haben glauben, für alt, und was sie nicht verstanden zu haben fühlen, für ungereimt erklären.

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wie er rastlos fortfuhr, einerseits durch wiederholtes Lesen aus dem Werke selbst neuen Stoff auszuheben, andererseits aber das Ausgehobene aneinander zu rücken, ergänzten sich die Bruchstücke allmählich zu aneinander passenden Teilen, verschwanden Dunkelheiten, die ihm vorher unüberwindlich, und Ungereimtheiten, die ihm ganz entschieden deuchten, und am Ende stand das Ganze im vollen Lichte einer Evidenz vor ihm da, die ihn um so mehr überraschte, je weniger er sie seinen vorigen Erfahrungen und Grundsätzen zufol | ge in der spekulativen Philosophie für möglich gehalten hatte. Wenn er auch mit der gewissenhaftesten Unparteilichkeit, durch die trockenste Erzählung und in den eigentümlichsten Ausdrücken angeben wollte, was er am Ende seiner Untersuchungen an dem Kantischen Systeme und durch dasselbe gefunden habe, würde er gleichwohl für die meisten seiner Leser nichts als Redefiguren und panegyrische Deklamationen eines sanguinischen Schwärmers vorgebracht haben. Er begnügt sich also, hier zu bekennen, daß ihm durch die neuerhaltenen Prinzipien alle seine philosophischen Zweifel auf eine Kopf und Herz vollkommen befriedigende, für immer entscheidende, obwohl ganz unerwartete Weise beantwortet sind; und daß er für seine Person völlig überzeugt ist, durch die Kritik der V. müsse eine der allgemeinsten, merkwürdigsten und wohltätigsten Revolutionen, die je unter den menschlichen Begriffen vorgegangen sind, bewirkt werden; eine Revolution, welche durch die zahlreichen und berühmten Gegner dieses Werkes nicht nur nicht aufgehalten, sondern weit nachdrücklicher als durch die Bemühun | gen seiner bisherigen Freunde befördert und beschleunigt werden wird. Seine eigenen Angelegenheiten waren ins reine gebracht, und es erwachte in ihm der Wunsch, etwas beizutragen, daß ein Gut, in dessen Besitze er sich so glücklich fühlte, auch von andern erkannt und benutzt würde. Er suchte in seinen Brie4 aneinander ] TMSKP-2: in einander 23 V. ] Abk. für: Vernunft

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fen über die Kantische Philosophie auf die Kritik der Vernunft vorzüglich durch diejenigen Resultate aufmerksam zu machen,42 die sich aus derselben für die Grundwahrheiten der Religion und der Moral ergeben.43 Er hatte bald genug eingesehen, daß diese Resultate aus den neuen Prinzipien nur für diejenigen streng bewiesen werden konnten, welche das Kantische Werk selbst studiert und durchgängig verstanden hätten. Da er nun dieses Studieren und Verstehen vielmehr erst zu befördern wünschte, als schon voraussetzen durfte, so blieb ihm nichts als der Versuch übrig, diese Resultate unabhängig von den Kantischen Prämissen aufzustellen, sie an bereits vorhandene Überzeugungen anzuknüpfen, ihren Zusammenhang mit den wesentlichsten wissenschaftlichen und moralischen Bedürfnissen unsrer Zeit, ihren Einfluß auf die Beilegung alter und bisher unentschie | dener Zwiste in der philosophischen Welt und ihre Übereinstimmung mit dem, was die größten philosophischen Köpfe über die großen Probleme der spekulativen Philosophie gedacht haben, sichtbar zu machen. Er hatte dabei weder die Männer, von denen er gewohnt ist, belehrt zu werden, noch diejenigen, die alles Belehrtwerden verwöhnt sind, – aber darum gleichwohl eine nicht weniger schätzbare als zahlreiche Klasse des Publikums vor Augen, wie er sie unter den Lesern des Teutschen Merkurs vermuten konnte.44 Er war mit dieser Arbeit kaum eine Strecke vorgerückt, als er sich durch seinen Ruf an die Universität zu Jena genötigt sah, dieselbe auf eine Zeitlang zu unterbrechen, um über die Methode nachzudenken, die er für den Vortrag der Anfangsgründe der Philosophie nach den neuen Prinzipien zu wählen hätte.45 Bei diesem Geschäfte, das dem ersten Studium des Kantischen Werkes selbst an Schwierigkeit wenig nachgab, zog er nun die Schriften der ihm bis dahin bekannt gewordenen Freunde und Gegner der Kantischen Philosophie zu Rat. Er ist noch nicht mit sich selbst darüber einig geworden, welchen von | beiden er mehrere und hellere Aufschlüsse über die Auflö25 seinen ] TMSKP-2: einen

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sung seines schweren Problemes zu verdanken habe. Freilich fand er auch von den scharfsichtigsten Gegnern den Sinn der Kritik der Vernunft durchgängig mehr oder weniger verfehlt, fand auch keine einzige Einwendung, bei der ihm nicht das Mißverständnis, das ihr zum Grunde lag, eingeleuchtet hätte, keine Widerlegung, die es nicht mit Behauptungen zu tun gehabt hätte, an welche der Verfasser der Kr. d. r. V. nie im Ernste gedacht haben konnte; und es war ihm kein angenehmes Schauspiel, manchen ihm sehr verehrungswürdigen Veteranen mit voller Rüstung gegen einen Schatten kämpfen oder mit bitterm Spotte eine Ungereimtheit bestrafen zu sehen, die doch nur sein eigenes Werk war. Freilich sah er auf der andern Seite die meisten Verteidiger der Kr. d. r. V. mit Maßregeln zu Werke gehen, die ihren Zweck notwendig vielmehr vereiteln als befördern mußten, sah sie Behauptungen als ausgemacht vortragen oder voraussetzen, die von ihren Gegnern unmöglich zugegeben werden konnten, und ihre Erörterungen in eine Sprache einkleiden, die höchstens nur ihren Miteingeweihten verständlich sein konnte; auch war es kein er | bauliches Schauspiel für ihn, wenn er hin und wieder auf einen Knaben stieß, der mit der neuen, ihm übelanpassenden Rüstung angetan gegen Männer zu Felde zog oder auf einen unbedeutenden Vorteil, der ganz auf die Rechnung seiner erborgten Waffen gehörte, übermütig stolz tat. – Allein es war für die Absicht des Verfassers von äußerster Wichtigkeit, auf der einen Seite gleichsam durch die Stimme einiger der vornehmsten Repräsentanten des philosophischen Publikums auf die Punkte aufmerksam gemacht zu werden, welche an dem neuen Systeme am meisten einer Erörterung bedurften, auf der andern Seite aber durch so manches Beispiel gewarnt zu sein, eine Vorstel7 Kr. d. r. V. ] Abk. für: Kritik der reinen Vernunft 11 bitterm ] verbessert aus: bittern 12 sah ] nach TMSKP-2 verbessert aus: sahe 13 Kr. d. r. V. ] Abk. für: Kritik der reinen Vernunft 26 f. Repräsentanten ] nach TMSKP-2 verbessert aus: Repräsententen 28 neuen ] TMSKP-2: neuesten

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lungsart, die einem nach vieler Mühe endlich geläufig geworden ist, nicht sofort auch für allgemeineinleuchtend anzusehen oder Prinzipien als ausgemacht vorauszusetzen, die erst durch dasjenige, was durch sie bewiesen werden sollte, ausgemacht werden konnten. Je mehr er die Schriften der beiden Parteien miteinander verglich, desto gewisser wurde er überzeugt, daß ihr Streit, so wie er bis itzt geführt wurde, ebensowenig jemals geendigt werden könnte als der Streit zwischen den bisherigen dogmatischen Syste | men selbst, und daß derselbe immer verwickelter und für die Zuschauer unverständlicher und unausstehlicher werden müsse, indem er mit ganz entgegengesetzten Grundbegriffen und Grundsätzen über Fragen geführt wurde, die, ohne das vollkommenste Einverständnis über Prinzipien und ohne die äußerste Nüchternheit der Spekulation abgehandelt, notwendig auf unnütze Subtilitäten und mehr als scholastische Spitzfi ndigkeiten hinauslaufen müssen. Es wurde ihm endlich aus unzähligen Beispielen einleuchtend, daß beide Parteien auch mit denjenigen Sätzen, über welche sie selbst unter sich einig zu sein glaubten, sehr verschiedene, oft auch entgegengesetzte Bedeutungen verbanden, und daß sowohl diese ihnen selbst verborgene Verschiedenheit der Vorstellungsart als die erklärten Streitpunkte ihrer Fehde sich auf ebendasselbe alte und allgemeine Mißverständnis des Erkenntnisvermögens zurückführen ließen, welches dem Mangel allgemeingültiger Prinzipien und allen Spaltungen in der philosophischen Welt zum Grunde liegt, und das zwar durch die Kritik der r. V. zuerst und völlig aufgedeckt wurde; allein so, wie es in derselben entwickelt worden ist und werden konnte, auch noch auf | die behutsamsten Leser dieses Werkes selbst seinen alten Einfluß behalten und sowohl den Gegnern das Verstehen als den Verteidigern das Erklären desselben äußerst erschweren mußte. Durch diese Bemerkungen hatte das Problem, dessen Auflösung seine ganze Geisteskraft beschäftigte, folgenden nä26 r. V. ] Abk. für: reinen Vernunft

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herbestimmten Sinn erhalten: »Einen leichteren Weg ausfi ndig zu machen, das alte allgemeine Mißverständnis, welches zuerst nur auf dem beschwerlicheren Wege einer vollständigen Zergliederung des Erkenntnisvermögens entdeckt werden konnte,46 wenigstens in soferne hinwegzuräumen, als dasselbe dem Verstehen und Erklären der neuen Theorie des Erkenntnisvermögens im Wege stünde.« – Die Natur jenes Mißverständnisses, welches seiner Überzeugung nach darin besteht, daß man bei der bisherigen Vorstellungsart vom Erkennen Prädikate, die der bloßen Vorstellung von Dingen angehören, auf Dinge selbst übertrug, veranlaßte ihn, über den Unterschied zwischen dem in der Kr. d. V. aufgestellten Begriff der Erkenntnis und dem in derselben bloß vorausgesetzten Begriff der Vorstellung nachzudenken. Er wurde | äußerst überrascht, als er an den auf diesem Wege gefundenen Resultaten gewisse bisher allgemein verkannte Merkmale fand, welche, vollständig entwickelt und systematisch geordnet, einen Begriff von der Vorstellung überhaupt ausmachten, der durch seine Natur durchgängig gegen das bisherige Mißverständnis gesichert und der Kantischen Theorie des Erkenntnisvermögens zum Grunde gelegt, auch dieser ebendieselbe Sicherheit zu verschaffen schien. Er las die Kritik d. V. in dieser Rücksicht noch einmal durch und wurde vollkommen überzeugt, daß er sich des Begriffes von Vorstellung, den der berühmte Verfasser dieses Werkes vorausgesetzt hatte, wirklich bemächtigt habe. Allein er glaubte ebenso deutlich einzusehen, daß gerade der Umstand, daß jener Begriff bei der ersten Darstellung der neuen Theorie des Erkenntnisvermögens bloß vorausgesetzt werden mußte, unter andern die Ursache sei, warum dieselbe bisher so wenig verstanden wurde. Er untersuchte von neuem unter den merkwürdigsten Einwendungen der Gegner diejenigen, von denen die Freunde des Kantischen Systems am 12 Kr. d. V. ] Abk. für: Kritik der Vernunft 22 d. V. ] Abk. für: der Vernunft 23 wurde ] nach TMSKP-2 verbessert aus: war

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wenigsten begreifen konnten, wie der ihrer | Meinung nach so bestimmt angegebene Sinn so ganz zu verfehlen möglich war, und er fand, daß es bloß der von Kant und seinen Prüfern verschieden gedachte Begriff von Vorstellung war, der in allen diesen Fällen das Mißverständnis unterhielt. In wieferne nun eine vollständige, über alles Mißverständnis erhabene Erörterung dieses Begriffes nur erst durch die Kritik der Vernunft selbst möglich war, in soferne konnte wohl kein einziger Leser derselben bestimmt denken, was von diesem Begriffe im Werke selbst vorausgesetzt wurde, und es hing bloß vom Zufalle ab, ob sich der eine Leser den Begriff der Vorstellung, der in demselben auf allen Seiten vorkömmt, bloß unbestimmt und folglich weder mit ebendenselben noch mit verschiedenen Merkmalen wie Kant gedacht habe (wo er dann durch das Studium des Ganzen unvermerkt dahin gebracht werden konnte, daß er mit Kanten ungefähr ebendasselbe voraussetzte) oder ob sich ein anderer jenen Begriff bestimmt, aber mit ganz andern Bestimmungen als Kant beim Lesen vorgestellt habe, in welchem Falle es ihm unmöglich werden mußte, vieles, was in der Kritik der Vernunft | vom Erkennen gesagt wurde, nicht unverständlich oder gar ungereimt zu fi nden. Oder wie sollte es möglich sein, über das Erkennen je gleich zu denken, solange man nicht über das Vorstellen, wo nicht gerade ebendasselbe, doch wenigstens nicht schlechterdings verschieden denkt? Je mehr nun der Verfasser überzeugt war, daß das alte und allgemeine Mißverständnis aus dem Begriffe der Vorstellung hinweggeschafft werden müsse, wenn die Kritik der Vernunft selbst gegen die Folgen desselben gesichert werden sollte, desto mehr ließ er sich’s angelegen sein, die von ihm gefundenen Merkmale dieses Begriffes mit aller ihm möglichen Sorgfalt und Behutsamkeit zu entwickeln. Hieraus entstand ein Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, bei welchem es der Verfasser mit dem Begriffe der bloßen Vorstellung allein zu tun hatte, der sich der geringeren Anzahl seiner Merkmale wegen viel leichter erschöpfen ließ als der viel kompliziertere Begriff der Erkenntnis,

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zu dessen völliger Erörterung in der Kantischen Kritik Sinnlichkeit, Verstand | und Vernunft untersucht werden mußten. Der Grund, auf welchem die neue Theorie aufgeführt werden konnte und mußte, besteht allein aus dem bei allen Menschen nach einerlei Grundgesetzen wirkenden Bew usstsein und dem, was unmittelbar aus demselben erfolgt und von allen Denkenden wirklich eingeräumt wird. Der Begriff der Vorstellung mußte völlig entwickelt werden, ohne daß dabei eine einzige Behauptung gebraucht werden durfte, die der Philosoph, von was immer für einer Sekte, seinen bisherigen Grundsätzen zufolge nicht unterschreiben könnte. In der ganzen Abhandlung durfte daher kein einziger in der Kritik der Vernunft aufgestellter Satz als erwiesen oder auch als wahrscheinlich angenommen werden, so wenig als irgendein metaphysischer Lehrsatz unter was immer für einer Bedeutung. Mit einem Worte, der Verfasser mußte sich der Allgemeingültigkeit seiner Theorie dadurch zu versichern suchen, daß er durchaus nichts als allgemeingültig voraussetzte, was nicht wirklich allgemeingeltend ist. | Daß die eigentlichen Prämissen einer Wissenschaft erst nach der Wissenschaft selbst gefunden werden, ist nichts Neues, sondern eine notwendige Folge des analytischen Ganges, der den Fortschritten des menschlichen Geistes durch die Natur desselben vorgeschrieben ist. Die Theorie des Vorstellungsvermögens, welche die Prämissen zur Theorie des Erkenntnisvermögens liefern soll,47 sei es die des Verfassers oder eine andere, konnte nur nach der letztern gefunden werden, obwohl sie, wenn sie ihres Namens wert sein soll, unabhängig von derselben feststehen und auch denjenigen, welche die Kantischen Schriften entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben, durchaus verständlich sein muß. Da sie bloß das Allgemeingeltende aus dem Schatten hervorhebt, in welchem dasselbe teils durch das Zwitterlicht metaphysischer Sophismen, 1 völliger ] nach TMSKP-2 verbessert aus: völligen 5 nach ] TMSKP-2: auf

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teils durch die Staubwolken metaphysischer Kämpfe versetzt wurde, so muß sie sogar auch leicht zu verstehen sein und dem aufmerksamen Leser die Miene des längst Bekannten zu haben scheinen. Durch sie müssen endlich die wesentlichsten Resultate der Kritik der Vernunft unabhängig | von den tiefsinnigen Betrachtungen, durch welche sie im Kantischen Werke aufgestellt worden sind, ihre volle Bestätigung und einen Sinn erhalten, von welchem die Gegner der Kantischen Philosophie vielleicht sich selbst gestehen dürften, daß sie ihn bei ihren Widerlegungen keineswegs vor Augen gehabt haben. Jena, den 8. April 1789.48 __________

11 Jena, den 8. April 1789. ] TMSKP-2: Jena den 1. Merz 1789. | si-

gniert: R.

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erstes buch Abhandlung über das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des menschlichen Vorstellungsvermögens

It is ambition enough to be employed as an under-labourer in clearing the ground a little, and removing some of the rubbish, that lies in the way to knowledge. Lockes Essay on human understanding Epist. to the Reader.49

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Erstes Buch50 Von dem Bedürfnisse einer neuen Untersuchung des Vorstellungsvermögens

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§1 Die Philosophie hat bisher weder allgemeingeltende Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität noch allgemeingeltende Erste Grundsätze der Moral und des Naturrechtes 51 aufgestellt.

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Das allgemeingeltende Prinzip in der Philosophie unterscheidet sich von dem allgemeingültigen dadurch, daß es nicht nur, wie 2–4 Von dem … Vorstellungsvermögens ] Titel nach TM AG-1: Allgemei-

ner Gesichtspunkt einer bevorstehenden Reformation der Philosophie | Titel nach NDM1: Wie ist Reformazion der Philosophie möglich 5 § 1 ] fehlt in TM AG-1 6 f. Erkenntnisgründe ] NDM1: Erkenntnißgründe 7 Religion ] NDM1: Religion 7 Moralität ] NDM1: Moralität 8 Erste ] TM AG-1: erste | NDM1: erste 9 In NDM1 folgt die Anm.: Die hier vorgetragene Thatsache ist im teutschen Merkur. Junius und Julius d. J. umständlich beleuchtet. | Der Haupttext von NDM1 verfolgt mit neuem Abs.: § 2. Es läßt sich daher mit Grund vermuthen, daß diesem Mangel des Allgemeingeltenden, Mangel des Allgemeingeltenden zum Grund liege, und diese Vermuthung führt auf den Zweifel: Ob die Philosophie solche allgemeingültige Erkenntnißgründe und Grundsäze auch wirklich aufzustellen vermöge. angeschlossen ist folgende Anm.: Die Unentbehrlichkeit dieses Zweifels zur Reformazion der Philosophie, und der Unterschied desselben von dem dogmatischen und unphilosophischen Zweifel sind in der Berl. Monatschr. Julius abgehandelt. | NDM1 verfolgt unten § 3, S. 141. 10 Das allgemeingeltende Prinzip in ] TM AG-1: Das Allgemeingeltende in

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dieses, von jedem, der es versteht, als wahr befunden, sondern auch von jedem gesunden und philosophierenden Kopfe wirklich verstanden wird. Eine Erkenntnis, die unter den Philosophen noch nicht allgemeingeltend ist, | kann freilich an sich allgemeingültig sein. Dies waren z. B. die Lehrsätze, womit Newton die Naturwissenschaft bereichert hat, von dem Augenblick ihrer Entdeckung an, jenes wurden sie erst, nachdem sie lange genug mißverstanden und bestritten worden waren. Allein die allgemeingültige Erkenntnis muß doch wenigstens die Möglichkeit mit sich führen, allgemeingeltend zu werden. Jeder Philosoph, der irgendein Problem seiner Wissenschaft aufgelöst zu haben glaubt, jeder Urheber eines neuen und jeder Verbesserer eines alten Systems hält die Prämissen, die er ausdrücklich oder stillschweigend zum Grund gelegt hat, für allgemeingültig und sucht die Ursache, warum sie etwa noch nicht allgemeingeltend sind, sonst allenthalben nur nicht in den Prämissen selbst auf. Sollte er auch dabei den letztern zu viel zutrauen, so ist doch seine Voraussetzung unwidersprechlich, daß der Grund, warum ein an sich richtiges und richtig vorgetragenes Prinzip nicht verstanden wird, unmöglich in ihm selbst, sondern in gewissen äußern von dem Schriftsteller und seiner Kunst ganz unabhängigen Umständen liegen müsse. Hieher gehören z. B. die Vorurteile, die durch die Regierungsformen und herrschenden Religionen bei allen kultivierten Nationen, selbst bei denjenigen, unter welchen am meisten philosophiert wird, unterhalten werden. Man hat die Hindernisse dieser Art im ganzen genommen für so ganz unveränderlich und ihren Einfluß auf die Philosophie für so überwiegend gehalten, daß man alle Hoffnung allgemeingeltender Prinzipien für immer aufgeben zu müssen geglaubt hat; und der Vorzug des Allgemeingeltenden in der Philosophie ist dadurch bei dem größten Teile des philosophischen Publikums in eine sehr merkliche Geringschätzung gera | ten. Einige halten 8 bestritten worden waren ] nach TM AG-1 verbessert aus: bestritten wa-

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ihn für eine bloße Schimäre, andere aber für ein zweideutiges Merkmal, das sich ebensogut mit dem Irrtume als mit der Wahrheit vertrüge. Ich will hier nicht darauf bestehen, daß durch diese letzte Beschuldigung die erste widerlegt würde und daß durch die angebliche oder ausgemachte Tatsache, daß es in der Philosophie allgemeingeltende Irrtümer gegeben habe, die äußere Möglichkeit des Allgemeingeltenden überhaupt erwiesen wäre. Ich berufe mich nur auf die in der philosophischen Welt allgemein bekannte Tatsache, daß es nicht nur in der Mathematik und der Naturwissenschaft, sondern auch in einer von allem anschaulichen Stoffe ganz entblößten Wissenschaft, in der Logik, allgemeingültige Prinzipien gebe, die wirklich allgemeingeltend geworden sind. Wenn es also ausgemacht wäre, daß gewisse andere philosophische Wissenschaften, z. B. die Metaphysik, diesen Vorzug auf immer entbehren müßten, so könnte der zureichende Grund dieses Entbehrenmüssens unmöglich in den äußern Hindernissen allein, er müßte in den Wissenschaften und in ihren allgemeingültigen Prinzipien selbst aufgesucht werden, – oder es müßte diesen Wissenschaften bisher an solchen Prinzipien gebrochen haben. Jeder schreibende Philosoph setzt wenigstens bei der Klasse von Lesern, für die er schreibt, etwas Allgemeingeltendes voraus; denn wie könnte er sonst hoffen, verstanden zu werden? Auch selbst dann, wenn er damit umgeht, über eine gewisse Materie bisher noch nicht gefundene allgemeingültige Prinzipien festzusetzen, muß er von etwas ausgehen, das er für bereits allgemeingeltend hält; und | wenn er seinen Zweck verfehlt, so lag die Schuld wohl größtenteils darin, daß er sich in der letztern Meinung geirrt hat. Der dogmatische Skeptiker, der über das Allgemeingeltende in der Philosophie spottet, wider11 12 13 27 30

allem ] nach TM AG-1 verbessert aus: allen allgemeingültige ] nach TM AG-1 verbessert aus: allgemein gültige allgemeingeltend ] TM AG-1: allgemein geltend allgemeingeltend ] TM AG-1: allgemein geltend Allgemeingeltende ] TM AG-1: Allgemein geltende

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legt sich selbst, indem er seine Spottschrift drucken läßt. Der Supernaturalist, der nur den geoffenbarten Wahrheiten den Vorzug des Allgemeingültigen einräumt und die Ursache, warum sie nicht allgemeingeltend sind, in dem erblichen Verderbnisse der menschlichen Natur aufsucht, muß, wofern er die Gegner nicht etwa durch ein Wunder oder durch Scheiterhaufen bekehren kann, zu Prämissen seine Zuflucht nehmen, worüber die Kinder der Finsternis mit den Kindern des Lichtes einig sind.52 Wenn endlich Dogmatiker von noch so entgegengesetzten Grundsätzen, Theisten und Atheisten, Spiritualisten und Materialisten, Fatalisten und Äquilibristen gegeneinander zu Feld ziehen, so müssen sie sich wenigstens einbilden, ihre beiderseitigen Waffen wären aus dem unzerstörbaren Stahl des Allgemeingeltenden geschmiedet. Mit einem Worte, das Allgemeingeltende ist die einzige Grundlage, auf welche der Philosoph die Überzeugung anderer von einem allgemeingültigen Satz gründen zu können hoffen kann. Ich behaupte nichts Allgemeingeltendes, obgleich etwas von einem sehr beträchtlichen und sehr ehrwürdigen Teil des philosophischen Publikums Angenommenes, wenn ich behaupte: daß es der vornehmste Zweck der Philosophie sei, der Menschheit über die Gründe ihrer P f l i c h t e n und R e c h t e in diesem und ihrer Erwartung für das z u k ü n f t i g e L e b e n allgemeingültige Aufschlüsse zu geben. Dieser erhabene Zweck wird der Phi | losophie von mehr als einer philosophischen Sekte streitig gemacht; er würde ihr aber von jedem denkenden Kopfe eingeräumt werden müssen, wenn es ihr bis itzt schon gelungen wäre, allgemeingeltende Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität und allgemeingeltende erste Grundsätze der Moral und des Naturrechtes aufzustellen.

1 läßt. Der ] nach TM AG-1 verbessert aus: läßt, der 4 allgemeingeltend ] TM AG-1: allgemein geltend 16 allgemeingültigen ] TM AG-1: allgemein gültigen 27 wäre ] nach TM AG-1 verbessert aus: hätte

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Ich kann mich keinesweges auf die Frage einlassen, ob die Philosophie der Menschheit diesen wichtigen Dienst jemals zu leisten vermöge; ich betrachte nur den bisherigen Mangel des Allgemeingeltenden in Rücksicht auf die angeführten höchstwichtigen Gegenstände als eine allgemein bekannte, aber vielleicht eben darum nur um so weniger erwogene Tatsache. Es war von jeher die Erbsünde der spekulativen Philosophen, daß sie die Erwägung desjenigen, was sie gewiß wußten, fahren ließen, um sich über das, wovon sich nichts wissen läßt, zu zanken, und daß sie das Ausgemachte als etwas Altes beiseite setzten, um das Neue in dem Unbeantwortlichen, Unbegreiflichen, Nichtvorstellbaren aufzusuchen. Er bedarf wohl kaum erinnert zu werden, daß hier unter Religion und Moralität kein wissenschaftliches System der Theologie und der Moral, sondern die Inbegriffe gewisser Neigungen und Tätigkeiten des Willens verstanden werden, die man mit diesen Namen bezeichnet. Die Überzeugungen, durch welche diese Neigungen und Tätigkeiten zunächst möglich werden, nenne ich Grundwahrheiten, und die zureichenden Gründe dieser Überzeugungen Erkenntnisgründe (nicht der Gegen | stände, sondern) der Grundwahrheiten der Religion und der Moralität.

Über den Erkenntnisgrund der vornehmsten Grundwahrheit der Religion 25

Die große Frage: ob ein Gott sei, und was man sich unter diesem so viel gebrauchten und gemißbrauchten Namen zu denken habe? Diese Frage, welche nach einer so uralten, so weit verbreiteten und jedem Gutgesinnten von was immer 7 der spekulativen ] TM AG-1 : der meisten spekulativen 15 die Inbegriffe ] TM AG-1 : der Inbegriff 17 diesen ] TM AG-1: diesem 17 bezeichnet ] TM AG-1: bezeichnete

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für einer Sekte ehrwürdigen Meinung mit dem allgemeinsten und heiligsten Interesse der Menschheit so innig zusammenhängt, und bis zu deren Entscheidung die Realität aller natürlichen und positiven Theologie schlechterdings unentschieden bleibt, diese Hauptfrage ist in der philosophischen Welt nicht nur nicht allgemeingeltend beantwortet, sondern die Philosophen sind nicht einmal über die Möglichkeit einer künftig zu entdeckenden allgemeingeltenden Antwort auf dieselbe oder auch nur über den Weg einig, auf welchem selbst über diese Möglichkeit etwas Allgemeingeltendes ausgemacht werden könnte. Man hat es der philosophierenden Vernunft sehr oft und sehr hart zur Last gelegt, daß sie über diese Frage mit sich selbst nicht einig geworden sei, während | der gemeine Menschenverstand dieselbe durch die Stimme aller gesitteten Nationen mit einer sehr auffallenden Einhelligkeit bejahend beantwortet habe. Allein, hat man auch wohl dabei bedacht, daß die ganze Frage für den gemeinen Menschenverstand einen anderen Sinn habe als für die philosophierende Vernunft? Für jenen heißt sie: gibt es einen Gott? Für diese hingegen: gibt es einen Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes, der von jedem denkenden Kopfe verstanden werden kann und von jedem, der ihn verstanden hat, als wahr befunden werden muß? Der gemeine Menschenverstand (der sensus communis) ist sich keineswegs der eigentlichen Gründe bewußt, durch welche seine Aussprüche bestimmt werden, die nicht sowohl Resultate der räsonierenden Vernunft als durch gefühlte Bedürfnisse abgedrungene Voraussetzungen und Wirkungen gewisser in der Einrichtung des menschlichen Gemütes vorhandener Triebfedern sind. Die Menschheit wäre übel geborgen gewesen, wenn sie ihre unentbehrlichsten Überzeugungen räsonierten Vernunftgrün6 allgemeingeltend ] TM AG-1: allgemein geltend 14 während ] der abgebrochene Silbenteil: -rend nur als Kustode 26 sowohl ] nach TM AG-1 verbessert aus: so viel 28 Wirkungen gewisser in ] nach TM AG-1 verbessert aus: Wirkungen in

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den hätte verdanken müssen. Welchen Schaden würden nicht manche spekulativen Philosophen sich und andern durch ihre Handlungen zugefügt haben, wenn sie nicht durch entgegengesetzte, stärker wirkende Überzeugungen des Gefühls genötigt gewesen wären, den seltsamen Grundsätzen ihrer Spekulation zuwider zu handeln! Und was würden Religion und Moralität dem menschlichen Geschlecht genützt haben, wenn nicht ihre wohltätigsten Folgen von der philosophischen Erkenntnis ihres Wesens ebensowenig abgehangen hätten, als die Wirkungen des Lichtes auf unsre Augen von unsern Meinungen über dessen ursprüngliche Beschaffenheit? | Die gewöhnlich mehr warmen als hellen Köpfe, die den gemeinen Menschenverstand auf Unkosten der philosophierenden Vernunft so gerne lobpreisen,53 vergessen aber auf der andern Seite fast immer, daß bei der unaufhaltsam fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Geistes die klaren, aber undeutlichen und durch heterogene Merkmale zum Teil verfälschten Vorstellungen notwendig in mehr oder weniger deutliche Begriffe aufgelöst und geläutert werden müssen, und daß bei denjenigen Klassen von Menschen, bei denen einmal das Bedürfnis eingetreten ist, sich über irgendeine wichtige Überzeugung strenge und auf deutliche Begriffe zurückgeführte Rechenschaft zu geben, eben diese Überzeugung unmöglich mehr bloße Wirkung unbekannter Triebfedern sein könne und dürfe. Sie bedarf alsdann schlechterdings eines philosophischen Erkenntnisgrundes, von dessen Wahrheit oder Falschheit, Stärke oder Schwäche, Reinigkeit oder Unlauterkeit die Beschaffenheit der Überzeugung selbst abhängt, und der über kurz oder lang aus der philosophischen Welt, wo er eigentlich zu Hause ist, ins gemeine Leben hinübergehen muß. Die philosophierende Vernunft hat über den Erkenntnisgrund für die Überzeugung vom Dasein Gottes (und, in wieferne die philosophierende Vernunft ihre Überzeugung nur auf den Erkenntnisgrund gründen kann, über diese Über15 unaufhaltsam ] nach TM AG-1 verbessert aus: unaufhaltsamen

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zeugung selbst) bisher nichts entschieden. »Nichts entschieden?«, höre ich hier manchen mir sehr verehrungswürdigen Lehrer der natürlichen Theologie nicht ohne Befremden und Unwillen mir in die Rede fallen. Nichts entschieden? »Und was wären denn | die scharfsinnigen und vergebens angefochtenen Beweise *, mit welchen die weisesten und besten Männer aus allen Zeiten und Völkern das Dasein Gottes erwiesen haben, vom Anaxagoras 54 herunter bis auf den unsterblichen Moses Mendelssohn 55?« – Vergebliche Versuche der ihre Kräfte verkennenden Vernunft! antwortet nicht ein einzelner Philosoph – nicht der Verfasser dieses Buches –, sondern eine Menge, die, genau besehen, drei Vierteile des philosophischen Publikums ausmachen dürfte. Wenn sich nämlich die dogmatischen Theisten nicht etwa eines ausschließenden Besitzes der philosophierenden Vernunft anmaßen wollen, so müssen sie eingestehen, daß die Besitzer dieser Vernunft über die Frage: Gibt es einen Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes? in zwei Hauptparteien zerfallen, in eine bejahende und in eine verneinende. Die letztere teilt sich freilich wieder in zwei entgegengesetzte Parteien, wovon die eine jeden Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes verwirft, weil sie die ganze Frage über das Dasein Gottes für unbeantwortlich hält, die andere aber, weil sie diese Frage verneinend beantworten zu müssen glaubt; [weil] die eine den Begriff der Gottheit für grundlos, die andere aber für widersprechend erklärt (dogmatische

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* Unter den Vernunftbeweisen oder, wie sie auch vielen ihrer Verteidiger heißen, Demonstrationen verstehe ich hier und im folgenden jeden von der spekulativen Vernunft gebrauchten Erkenntnisgrund der Grundwahrheit der Religion, der mehr a l s b l o ß e s Glauben des 30 Daseins Gottes bewirken soll.

5 und ] eingefügt nach TM AG-1 6 mit welchen ] nach TM AG-1 verbessert aus: mitwelchen 10 antwortet ] nach TM AG-1 verbessert aus: Antwortet 29 f. der … Daseins ] TM AG-1: der mehr als blosser Glauben an das

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Skeptiker und Atheisten). | Allein, leider hat die bejahende Hauptpartei diesfalls nichts vor der verneinenden voraus; denn auch sie trennt sich in zwei ebensosehr entgegengesetzte Parteien, wovon die eine den Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes innerhalb, die andere aber außerhalb des natürlichen Gebietes der Vernunft gefunden zu haben vorgibt, [wovon] die eine denselben Vernunftbeweis, die andere aber Offenbarung nennt, die eine das Glauben der andern, die andere das Wissen der einen bestreitet (dogmatische Theisten und Supernaturalisten). Von dem Streite, den die beiden Hauptparteien (die bejahende und die verneinende) miteinander zu führen genötigt sind, läßt sich ohne Vermittlung eines ganz parteilosen Dritten (der sie etwa überzeugen dürfte, daß sie sich beiderseits über den Begriff eines E r k e n n t n i s g r u n d e s mißverstehen) um so weniger ein Ende absehen, da die erste Hälfte der bejahenden mit der zweiten Hälfte der verneinenden und die erste Hälfte von dieser mit der zweiten von jener gegen ihre eigenen Hälften über gewisse Behauptungen gemeine Sache machen; der Theist nämlich mit dem Atheisten gegen den Supernaturalisten über die Behauptung, »daß die Vernunft wirklich über die Frage vom Dasein Gottes 19–1 Die letztere teilt sich freilich … Atheisten) ] ALZ: Die verneinende Hauptparthey zerfällt ebenfalls in zwey einander widersprechende Partheyen, wovon die Erste jeden Erkenntnißgrund für das Daseyn Gottes verwirft, weil sie die Frage an sich selbst für schlechterdings unbeantwortlich erklärt, und die zweyte, weil sie die Frage verneinend beantworten zu müssen glaubt. Die eine erklärt den Begriff der Gottheit für grundlos; die andere für widersprechend. Dogmatische Skeptiker und Atheisten. 8 der einen ] TM AG-1: der ersten 1–9 Allein, leider … Supernaturalisten) ] ALZ: Die bejahende Hauptparthey zerfällt wieder in zwey besondere einander entgegengesetzte Partheyen, wovon die eine den Erkenntnißgrund für das Daseyn Gottes innerhalb, die andere ausserhalb des Gebiethes der Vernunft gefunden zu haben glaubt. Die Eine nennt ihren Erkenntnißgrund Vernunftbeweis, die Andere – Offenbarung. Dogmatische Theisten, und Super naturalisten. 12 Dritten ] nach TM AG-1 verbessert aus: dritten

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entscheiden könne und müsse«, der Supernaturalist aber mit dem dogmatischen Skeptiker gegen den Theisten über die Behauptung, »daß sich durch Vernunft schlechterdings nichts über jene Frage entscheiden lasse«.* | * Der kritische Skeptizismus, von dem in der Folge die Rede sein wird, allein kann einen denkenden Kopf der Notwendigkeit überheben, sich zu einer dieser Parteien zu halten und es mit allen drei | übrigen aufzunehmen. Er hebt die jeder Partei eigentümliche Behauptung aus und vergleicht sie mit den Behauptungen der übrigen, wo es sich dann ergibt, daß: a) Die den dogm[atischen]. Skeptikern eigentümliche Behauptung: »daß die Frage vom Dasein Gottes schlechterdings unbeantwortet bleiben müsse«, von allen drei übrigen Parteien einstimmig verworfen werde. b) Dies gilt ebensosehr von der den Supernaturalisten eigentümlichen Behauptung: »daß die Gründe der Beantwortung jener Frage außerhalb des Gebietes der Vernunft lägen«. c) Von der Behauptung der dogmatischen A t h e i s t e n : »daß sich das Nichtsein Gottes beweisen lasse«. d) Von der Behauptung der dogmatischen Theisten: »daß sich das Dasein Gottes beweisen lasse«. Die Gegensätze dieser Behauptungen, über deren jeglichen in der philosophischen Welt drei Parteien gegen eine einzige einig sind, heißen nun:

11–4 Von dem Streite, … lasse « ] ALZ: Die streitenden Hauptpar-

theyen können sich um so weniger vereinigen, da sich von jeder derselben die eine Hälfte gegen ihre eigene andere Hälfte mit der einen Hälfte ihrer Gegner verbindet; die Supernaturalisten mit den Skeptikern in der Behauptung: daß sich über die Frage nach dem Daseyn Gottes durch Vernunft nichts entscheiden liesse; und die der dogmatischen Theisten mit den Atheisten über die Behauptung, daß die Vernunft wirklich über diese Frage entschieden habe 5 f. von … wird, ] nicht in ALZ 7 zu halten ] ALZ: zu schlagen 8 jeder Partei ] ALZ: jeder einzelnen Parthey 9 f. und vergleicht … daß: ] ALZ: und vernimmt über dieselbe die Stimmen der übrigen, wo es sich dann ergiebt, daß: 11 den … Skeptikern ] ALZ: den Skeptikern

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In unsern Tagen sollte ich wohl kaum befürchten dürfen, von Philosophen über das Dasein der | atheistischen Partei s c h i k a n i e r t (man erlaube mir dies fremde Wort, dessen Bedeu-

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a) »Die Frage über das Dasein Gottes läßt sich befriedigend beantworten«. Dies wird gegen die Skeptiker von den drei übrigen Parteien behauptet. b) »Die Frage über das Dasein Gottes läßt sich nicht durch Offenbarung beantworten«, – gegen die Supernaturalisten von den drei übrigen. c) »Die Frage über das Dasein Gottes läßt sich nicht verneinend beantworten«, – gegen die Atheisten von den drei übrigen. d) »Die bejahende Antwort auf die Frage über das Dasein Gottes läßt sich nicht demonstrieren«, – gegen die dogmatischen Theisten von den drei übrigen. | Wenn diese meines Wissens von niemand bisher bemerkte und bei der sonst so durchgängigen Uneinigkeit höchst auffallende Einhelligkeit von drei Parteien gegen eine einzige über die angeführten wichtigen Hauptsätze jedem merkwürdig sein muß, der je in seinem Leben über Religion selbst gedacht und für Religion gefühlt hat, so muß ihm dieselbe noch viel merkwürdiger werden, wenn er bedenkt, daß diese Hauptsätze genau die Resultate sind, die sich aus der Kantischen Untersuchung des Erkenntnisvermögens ergeben und die Bedingungen ausmachen, welche die Kritik der Vernunft für den einzig möglichen Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes fordert, Bedingungen, die nur in dem Fundamente des moralischen Glaubens vereinbar sind. Dieses so leicht verständliche Resultat eines mühsamen Nachdenkens ist, seitdem es No. 231 a der Allgem[einen]. Literatur-Zeitung 8 beantworten«, – gegen ] ALZ: beantworten. Dies wird gegen 9 übrigen. ] ALZ: übrigen Partheyen behauptet. 10 f. beantworten«, – gegen ] ALZ: beantworten. Dies wird gegen 11 die Atheisten ] ALZ: die dogmatischen Atheisten 11 übrigen. ] ALZ: übrigen Partheyen behauptet. 13 sich nicht demonstrieren ] ALZ: sich durch keine apodiktischen Be-

weise darthun 13 demonstrieren«, – gegen ] ALZ: darthun. Dies wird gegen 13 Theisten ] ALZ: Deisten 14 übrigen. ] ALZ: übrigen Par theyen behauptet. 15–25 Wenn diese meines … sind. ] ALZ: Bey der sonst so durchgän-

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tung sich vielleicht zur Ehre unsers Vaterlandes mit keinem deutschen Worte geben läßt) 57 zu werden. Es gab Zeiten, wo der theoretische Atheismus für ein des zeitlichen und ewigen Feuers würdiges moralisches und politisches Verbrechen gehalten wurde, und | wo es freilich unter die Gewissenspflichten eines christlichen Philosophen gehörte, an dem Dasein, ja auch sogar an der bloßen Möglichkeit des Atheismus zu zweifeln. Ich glaube an der undankbaren Mühe, die sich noch vor kurzem einige berühmte Schriftsteller gegeben haben, den Spinoza 58 gegen den Namen eines Atheisten zu verwahren,59 ebensosehr Spuren jenes unphilosophischen Zeitalters als des Zwanges wahrzunehmen, den man in der Periode der eklektischen Philosophie den Bedeutungen der Worte anzutun genötigt ist, um sich gegen die in die Augen springenden Folgen des Mangels allgemeingeltender, fester und mit sich selbst zusammenstimmender Prinzipien zu sichern. – Doch heiße Spinoza, wie es jedem ge-

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bekannt gemacht wurde, mannig faltig mißverstanden worden. So gefiel es z. B. einem Professor der Philosophie (auf seinem Katheder), darüber als über einen seinsollenden neuen Beweis für das Dasein Gottes, und einem andern (in einer Antikritik), [darüber] als über einen 20 lächerlichen Versuch, philosophische Behauptungen durch Mehrheit der Stimmen zu erhärten, zu spotten. Es ist daher wohl nicht überflüssig (wie ich sonst, wenigstens in Rücksicht auf die Philosophen von Profession und zumal die scharfsinnigen unter ihnen, vermutet hätte) zu erklären, daß jenes historische Resultat weder das eine 25 noch das andere sein sollte. 56 gigen Uneinigkeit waren also immer drey Partheyen gegen eine über eben dieselben Hauptsätze einig, welche Kant, als Resultate seiner Untersuchung des Erkenntnißvermögens, aufgestellt hat, und welche in dem von ihm entwickelten moralischen Erkenntnißgrunde ihre volle Bestätigung erhalten. Die philosophierende Vernunft hat also nicht weniger einhellig als der gemeine Menschenverstand durch Mehrheit der Stimmen entschieden; nur daß man sie vor der Kritik der reinen Vernunft nicht verstanden hat. 8 kurzem ] verbessert aus: kurzen

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fällt. Mir liegt gegenwärtig daran, über den Sinn, in welchem in meinem Buche die Worte Theist und Atheist genommen werden, mit meinen Lesern übereinzukommen. Theist heißt mir derjenige Philosoph, der eine von der Welt wesentlich verschiedene, vernünftige und freie Ursache der Welt bewiesen zu können glaubt; Atheist aber jeder, der Beweise des Nichtseins oder der entgegengesetzten Beschaffenheit einer solchen Ursache zu besitzen glaubt, er mag übrigens, wenn er vor einem Worte zu zittern Ursache hat, sich lieber an den Namen der besondern Sekte, zu der er gehört, halten, und Spinozist, Pantheist oder Deist heißen. Ich nehme hier das Wort Atheist, in wieferne es das Gegenteil des Theisten bedeutet; eine Bedeutung, welche diesem Worte sowohl im gemeinen als philosophischen Sprachgebrauche zukömmt. Ich weiß, daß es im letztern noch mehr Bedeutungen hat; aber ich verdiene aufs wenigste Entschuldigung, wenn ich mich an die eigentlichste halte. | Der dogmatische Theist, welcher das Dasein Gottes durch Vernunftbeweise vollkommen erwiesen glaubt, kann wenigstens die Tatsache nicht leugnen, daß es nur für seine Partei erwiesen ist, nicht für die drei anderen, welche diese Vernunftbeweise einhellig verwerfen. Mit einem Manne, der mir hierauf erwidern könnte: »O! diese Skeptiker, Atheisten und Supernaturalisten sind längst widerlegt, man sehe nur mein Kompendium nach!«, kann ich mich freilich nicht weiter einlassen. Er würde sich manche vergebliche Unannehmlichkeit ersparen, wenn er mein Buch ungelesen ließe. Aber jeden andern, der den Sieg seiner Partei über alle übrigen nicht in eigner Person erfochten zu haben glaubt, würde ich zu bedenken bitten, daß jede der drei übrigen Parteien ebensofest überzeugt ist, die Vernunftbeweise wären längst widerlegt, und ihr eigenes System habe durch jeden Angriff an Festigkeit und Evidenz gewonnen. Ich würde ihn zu bedenken bitten, daß jede [Partei] von Zeit zu Zeit ihr nur in den Augen der Gegner eingestürztes System mit neuen Verzierungen aufstellt und von Zeit zu 20 für die drei anderen ] nach TM AG-1 verbessert aus: für drei andere

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Zeit neue wichtige Verteidiger erhält; [würde ihn] zu bedenken bitten, ob es nicht wenigstens möglich sei, daß es den Vernunftbeweisen an Allgemeingültigkeit fehle, da sie nur für ein Vierteil der philosophischen Welt gelten, [und] an siegender Kraft der Überzeugung [fehle], da sie bisher drei Teile aus vieren nicht zu überzeugen vermocht haben, ob nicht durch das Dasein und die Fortdauer der drei alle Vernunftbeweise verwerfenden Parteien wenigstens so viel ausgemacht sei, daß jene Vernunftbeweise keine unwiderstehlichen, jedem denkenden Kopfe verständlichen Demonstrationen sind? Durch alle Wendungen, Erörterungen und Verstärkungen, | welche diese Beweise unter den Händen der Philosophen von Profession des ganzen ehrwürdigen Standes der akademischen Lehrer durch ganz Europa erhalten haben, ist es mit ihnen nicht einmal so weit gebracht worden, daß sie auch nur den aufgeklärtesten und edelsten Forschern der Wahrheit allgemein eingeleuchtet hätten. Ich weiß, daß man sich dieses Schicksal der Vernunftbeweise bald aus der Hartnäckigkeit, bald aus der Unwissenheit der Gegner zu erklären gesucht hat. Allein außerdem, daß die eine Erklärungsart eine abscheuliche Lieblosigkeit, die andere lächerlichen Eigendünkel verrät, sind auch beide in Rücksicht auf Gründlichkeit so unphilosophisch, daß man denken sollte, es wäre endlich die Zeit da, sie den Antipoden aller Philosophie zu überlassen. In dem kleinen Kreise meiner eigenen Erfahrung habe ich von jeder Partei Männer kennengelernt, die mir nicht nur durch ihre Talente und Einsichten höchst schätzbar, sondern auch durch ihren moralischen Charakter ebenso verehrungswürdig sind. In der Tat würden diese Parteien längst aufgehört haben, wenn sie nicht durch Anführer, die einander gewachsen waren, emporgehalten und fortgepflanzt worden wären. Jede derselben hätte sonst entweder durch die übrigen aufgerieben werden oder auch sogar für sich selbst eingehen müssen. Der Pöbel aus jeder philosophischen Zunft, der nur durch Ansehen und fremde Leitung zusammengehalten werden kann, würde, sich selbst überlassen, auseinander-

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gegangen sein, er würde sich unter die Zünfte verteilt haben, an deren Spitze er die stärksten und berühmtesten Führer angetroffen hätte. | Seit ungefähr zwanzig Jahren sind in unsrem Vaterlande große und kleine Schriftsteller mit allen Arten von Waffen gegen den Supernaturalismus zu Feld gezogen, es sind nicht unbeträchtliche Siege über ihn davongetragen worden, und er ist darüber nicht ganz unverdienterweise zum Spott der übrigen Sekten geworden. Gleichwohl hat es ihm unter seinen Anhängern nie an Männern von wahrem Genie und echtem philosophischem Geiste gefehlt; und noch erst seit kurzem sind Jacobis und Schlossers zu seiner Verteidigung aufgetreten und haben wenigstens unbefangene Zuschauer davon überzeugt, daß unter allen jenen Siegen kein einziger eine entscheidende Niederlage gewesen sei.60 So haben auch der dogmatische Skeptizismus und der Atheismus weder durch das ihnen entgegenwirkende Interesse der Religion und der Moralität noch durch die positiven Gesetze der Staaten, noch durch die Intoleranz der privilegierten Philosophen und Theologen, ebensowenig als durch die theistischen Beweise bis auf den heutigen Tag unterdrückt werden können. Sollten, wie nicht anders zu vermuten ist, die Verteidiger der Vernunftbeweise für sich anführen wollen: »auf ihrer Seite befänden sich die besseren philosophischen Köpfe in einer so ungleich größeren Anzahl, daß vielmehr die, von allen drei übrigen Parteien zusammengenommen, mit ihnen verglichen, kaum den vierten Teil des philosophischen Publikums ausmachen dürften«, so würde es vor allen Dingen darauf ankommen, ob sich diese größere Zahl nicht aus ganz anderen 4 Jahren sind ] nach TM AG-1 verbessert aus: Jahren her sind 10 echtem ] nach TM AG-1 verbessert aus: ächten 10 f. philosophischem ] verbessert aus: philosophischen 14 f. daß … sei ] TM AG-1: daß alle jene Siege zusammen genommen

keine entscheidende Niederlage gewesen seyn konnten

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Gründen erklären ließe, als aus der Gründlichkeit jener Vernunftbeweise. Ein vom Staate vorzüglich zur Er | örterung und Befestigung der Grundwahrheiten der Religion und der Moralität bestellter und besoldeter Lehrer der Philosophie hatte schon darum keine andere Wahl, als sich für die Überzeugung von dem Dasein Gottes zu erklären. Er mußte sich also zur bejahenden Partei, und zwar zu demjenigen Teile der bejahenden Partei halten, der seine Überzeugung auf Vernunftgründe baut, wenn er nicht bei seinen Kollegen den Namen eines Philosophen verwirkt haben wollte. Weit entfernt, daran zu zweifeln, ob sich das Dasein Gottes überhaupt demonstrieren ließe, bot er daher seinen ganzen Scharfsinn auf, um dasselbe wirklich zu demonstrieren und es an Strenge und Evidenz seiner Demonstration wo möglich allen übrigen zuvorzutun. So allgemein aber auch die akademischen Lehrer den Weg der Demonstration eingeschlagen haben mögen, so uneinig sind sie über die Frage, welche denn die eigentliche und unumstößliche Demonstration wäre. Einige lassen mehr als Einen Beweis, ja(!) eine Menge, die eines immer größeren Zuwachses fähig sein soll, gelten, während andere fest darauf bestehen, daß nur ein einziger mit Ausschluß aller übrigen der echte sein könne; nur daß sie sich nicht darüber vergleichen können, welcher denn dieser echte sei. Der eine stellt den ontologischen als den einzig möglichen auf, den der andere, welcher den physikotheologischen verficht, für ein bloßes Hirngespinst erklärt. Ein dritter endlich widerlegt die beiden vorigen und sucht den von ihnen angefochtenen kosmologischen als den allgemeingültigen zu erhärten. Ich berufe mich auf die seit dreißig Jahren in Deutschland erschienenen Kompendien, indem ich zuversichtlich behaupte, | daß es keinen einzigen Vernunftbeweis gebe, der nicht selbst von den Verteidigern der Vernunftbeweise bestritten und verworfen worden wäre. Wem die stolzen Ansprüche der dogmatisch-theistischen Partei noch nicht verdächtig geworden sind, und wer die Mühe nicht scheut, eine 5 darum keine ] TM AG-1: darum allein keine

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auch nicht ganz vollständige Sammlung besagter Kompendien zu durchgehen und die in denselben aufgestellten Demonstrationen gegeneinander zu halten, der wird bald gewahr werden, wie sich dieselben so rein untereinander aufheben, daß auch nicht die Spur eines einzigen übrig bleibt. Auch dürfte man einen denkenden jungen Mann, um ihn gegen den Dogmatismus zu verwahren oder davon zu heilen, nur mehrere Akademien bereisen lassen, um einige der berühmtesten Professoren das Dasein Gottes beweisen zu hören. Wenn man nun von der freilich sehr beträchtlichen Anzahl der akademischen Lehrer der Philosophie diejenigen aushebt, die über den echten Beweis vom Dasein Gottes unter sich einig sind, diejenigen, welche nicht bloß darum beweisen, weil sie zum Beweisen berufen zu sein glauben, weil sie das Beweisen von ihren Lehrern gelernt haben, weil sie es einem Philosophen für schimpflich halten, nicht beweisen zu können; mit einem Worte, wenn man sich nicht an den größern, sondern den bessern Teil, an die wenigen allein hält, die als wahre Selbstdenker aus Antrieb ihres eigenen Genius beweisen, würde dann wohl die Zahl und das Gewicht dieser wenigen noch viel größer sein als die Zahl und das Gewicht der Selbstdenker an der Spitze der drei übrigen Parteien? | Und was hätte denn also die philosophierende Vernunft über den Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes durch ihre vornehmsten Repräsentanten bisher entschieden? Die nicht minder unstreitige Tatsache, daß die zweite Grundwahrheit der Religion, nämlich die Überzeugung von einem zukünftigen Leben, in der philosophischen Welt mit der ersten gleiches Schicksal habe, bedarf hier um so weniger einer Erörterung, da alles bisher Gesagte auch von ihr gilt. Desto mehr aber scheint mir dasjenige, was ich unter der Grundwahrheit der Moralität und dem Erkenntnisgrunde derselben verstehe, einer kurzen und genau bestimmten Erklärung zu bedürfen. 8 das ] nach TM AG-1 verbessert aus: daß 30 Desto mehr ] verbessert aus: Destomehr

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Über den Erkenntnisgrund der Grundwahrheit der Moralität Moralität oder Sittlichkeit heißt die beabsichtigte Übereinstimmung willkürlicher Handlungen mit den Gesetzen der Vernunft. Eben dieselbe Übereinstimmung ohne die Rücksicht, ob sie beabsichtigt worden ist oder nicht, heißt Legalität oder Gesetzmäßigkeit überhaupt.61 In wieferne diese Übereinstimmung von der Willkür des Handelnden abhängen soll, muß | derselbe das Vermögen haben, die Gesetze der Vernunft gegen die denselben in so manchen Fällen entgegenstehenden Forderungen der Sinnlichkeit durchzusetzen. Dieses Vermögen heißt Freiheit, in wie ferne der Handelnde bei der Ausübung desselben weder durch die Vernunftgesetze noch durch die Forderungen der Sinnlichkeit gezwungen handelt.62 Nicht gezwungen durch die Gesetze der Vernunft kann er, wenn er will, der Sinnlichkeit –, und nicht gezwungen durch Forderungen der Sinnlichkeit kann er, wenn er will, der Vernunft den Vorzug geben. (Da ihm beides gleich möglich ist, kömmt es bloß auf ihn an, woran er sich halten will.) Er hat freie Wahl, entweder seinen Entschluß durch seine Vernunft selbst zu bestimmen, oder ihn durch die Objekte der Sinnlichkeit bestimmen zu lassen. In wieferne sich der Mensch dieses Vermögens, zwischen zwei verschiedenen Gesetzen zu wählen, bewußt ist (in wieferne er weiß, daß er es in seiner Gewalt hat, gut oder böse zu handeln), in soferne kann er durch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Vernunftgesetze keineswegs im Bewußtsein jener Freiheit gestört werden. Denn diese Notwendigkeit ist zwar der Vernunft, aber nicht ihm selbst, der nicht lauter Vernunft ist, unüberwindlich; so wie die Notwendigkeit des 8 Übereinstimmung von ] TM AG-1: Übereinstimmung in so man-

chen Fällen von 11 denselben … entgegenstehenden ] TM AG-1: denselben entgegen-

stehenden

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Instinktes zwar dem Instinkte selbst, aber nicht dem Wesen, das neben Instinkt auch noch Vernunft hat, unvermeidlich ist. Aus der Notwendigkeit des Vernunftgesetzes folgt, daß der Mensch keine andere Wahl habe – als zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, daß er zwischen beiden wählen m ü s s e , aber keineswegs, daß er keine Wahl habe, nicht frei sei. | Ich will hier nicht untersuchen, ob eine noch so genaue Beobachtung der Vernunftgesetze, wenn sie gezwungen wäre, moralisch heißen könnte; ich behaupte nur, daß der Glaube, unser Wille handle auch selbst durch Vernunftgesetze gezwungen, unmöglich mit der Überzeugung von der durchgängigen Verbindlichkeit und Möglichkeit des Sittengesetzes bestehen kann. Denn dieser Glaube müßte notwendig von dem Bewußtsein begleitet sein, daß es eine Menge Fälle gebe, wo der Zwang der Vernunft durch den Zwang der Sinnlichkeit vereitelt würde. Der Mensch könnte daher das Sittengesetz nur für jene Fälle für verpflichtend, (oder, welches eins ist) seine Beobachtung nur für jene Fälle für möglich halten, in welchen der Zwang der Vernunft nicht durch den stärkern Zwang der Sinnlichkeit überwogen würde. Er würde also die Gesetzmäßigkeit seiner Handlungen auf die von seinem Willen und ihm selbst gleich unabhängige Stärke seiner Sinnlichkeit ankommen lassen müssen; sie würde nur in wenigen, von ihm selbst unabhängigen Fällen zufälligerweise möglich sein. Dies ist die Ursache, warum ich die Überzeugung von der Freiheit die Grundwahrheit der Moralität genannt habe.63 Ich habe noch stärkere Gründe, die ich nur in der Folge, nachdem ich mit meinen Lesern über allgemeingültige Prinzipien einig sein werde, das heißt, nur nach der Theorie des Vorstellungsvermögens vortragen kann. Wer nie über die Freiheit philosophiert hat, der ist von ihrer Wirklichkeit wie von seinem eignen Dasein überzeugt. Sie ist ihm eine Tatsache, die er aus seiner inneren Erfahrung kennt, 5 beiden ] nach TM AG-1 verbessert aus: zweien 24 möglich sein ] TM AG-1: möglich, in allen übrigen unmöglich seyn

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deren | er sich durch das Selbstgefühl bewußt ist, und wovon er sich selbst neue Proben zu geben jeden Augenblick in seiner Gewalt hat.64 Die Wirklichkeit der Freiheit ist ihm der vollgültigste Beweis von ihrer Möglichkeit. Dasjenige, was so manchem Philosophen an dieser Möglichkeit unbegreiflich ist, fällt ihm nicht auf oder bekümmert ihn so wenig als das Unbegreifliche bei tausend andern Fällen, wo er sich mit Recht durch die Evidenz des Daseins alles Grübelns über die Möglichkeit überhoben glaubt. Allein, in der philosophischen Welt ist sogar die Wirklichkeit der Freiheit zum Problem geworden, nachdem man es bisher vergebens versucht hat, über die Möglichkeit derselben einig zu werden. Über keinen andern Gegenstand haben auch die scharfsinnigsten Köpfe bei vielem Vortrefflichen so viel Spitzfi ndiges, Unverständliches und Unlesbares geschrieben; und die Philosophie hat wohl keine andere Frage aufzuweisen, die schwerer zu beantworten und gleichwohl weniger abzuweisen wäre. Neuere Schriftsteller, die sonst nichts weniger als Skeptiker sind, haben die Frage über die Möglichkeit der Freiheit für schlechterdings unbeantwortlich gehalten; 65 und nur daraus läßt sich erklären, wie sie diese Frage in Rücksicht auf die Moralität für ganz entbehrlich und gleichgültig ansehen und dreist behaupten konnten: Alle Zweifel an der Möglichkeit der Freiheit würden durch die Evidenz des Selbstgefühls, welches der Wirklichkeit der Freiheit ein unwidersprechliches Zeugnis gebe, vollkommen zum Schweigen gebracht. Läßt sich aber dann auch das Dasein von Philosophen leugnen, welche, aus was immer für Grün | den von der Unmöglichkeit der Freiheit überzeugt, das Zeugnis des Selbstgefühls für eine bloße Täuschung erklären?

5 an ] nach TM AG-1 verbessert aus: in 10 Problem ] nach TM AG-1 verbessert aus: Probleme 23 dreist ] nach TM AG-1 verbessert aus: dreust 27 dann ] TM AG-1: denn

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Die Philosophie muß über den Erkenntnisgrund für die Überzeugung von der Freiheit des Willens Rechenschaft geben, er mag im Selbstgefühle oder sonst wo immer vorhanden sein. Ist die Freiheit eine unbegreifliche Tatsache, so muß wenigstens diese Unbegreiflichkeit allgemeingültig erörtert werden, wenn sie nicht mit der Unmöglichkeit verwechselt, wenn aus ihr keine Unmöglichkeit gefolgert werden soll. Man muß darüber einig geworden sein, daß nur die erkennbare, nicht die denkbare, [nur] die physische, nicht die logische Möglichkeit der Freiheit unbegreiflich sein könne. Sei es dann, daß sich (aus sehr begreiflichen Gründen) nicht begreifen lasse, wie die Freiheit möglich sei, so muß doch wenigstens vollkommen begriffen, allgemeingültig dargetan werden, daß sie nicht unmöglich sei, daß sie keinen Widerspruch in sich fasse, daß sie wenigstens unter die denkbaren Dinge gehöre. Nur durch einen allgemeingültigen Beweis dieser Nichtunmöglichkeit kann das Zeugnis des Selbstgefühls (auf welches sich zwar die Wirklichkeit der Freiheit annehmen, aber aus welchem sich keineswegs die Möglichkeit derselben begreifen läßt) gegen alle Grübeleien und Zweifel der Spekulation gesichert und zum philosophischen Erkenntnisgrunde für die Grundwahrheit der Moralität erhoben werden.66 Der gemeine Menschenverstand kann und muß die Nichtunmöglichkeit der Freiheit ohne allen Beweis annehmen; ihm kann und muß das Zeugnis des Selbstgefühls, unabhängig von Vernunftbeweisen, ein vollgültiger Erkenntnisgrund sein. | Allein die philosophierende Vernunft kann und muß sich Beweise der Denkbarkeit abfordern, bevor sie dem Zeugnisse eines bloßen Gefühls trauen kann, das ihr so lange verdächtig sein muß, als sie nicht über die Nichtunmöglichkeit des Bezeugten mit sich selbst einig ist. Bis dahin gibt es keinen allgemeingeltenden Erkenntnisgrund für die Freiheit, und in wieferne die philosophische Überzeugung mit dem Erkennt9 physische ] nach TM AG-1 verbessert aus: metaphysische 25 Selbstgefühls, …, ein ] nach TM AG-1 verbessert aus: Selbstgefühls …

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nisgrunde steht oder fällt, ist es auch bis dahin in der philosophischen Welt nicht ausgemacht, ob es Freiheit überhaupt gebe oder nicht. Die dogmatischen Philosophen, welche bisher das Zeugnis des Selbstgefühls für die Freiheit durch ihre Beweise gegen alle Einwürfe gerettet zu haben glauben, können sich unmöglich einfallen lassen, die philosophierende Vernunft habe durch s i e die große Frage von der Freiheit des Willens befriedigend beantwortet, ohne nicht vorher drei Parteien, welche das Gegenteil behaupten, von der Ungültigkeit ihrer Ansprüche auf philosophierende Vernunft überwiesen zu haben. Auch über die Frage, ob es überhaupt einen Erkenntnisgrund für die Freiheit gebe, zerfällt das philosophische Publikum in eine verneinende und in eine bejahende Hauptpartei, die sowohl durch ihren Streit gegeneinander, als durch ihre innern Spaltungen das Schauspiel der vier Hauptsekten und des sonderbaren Kampfes derselben fortsetzen, das aus eben so vielen Akten besteht, als die spekulative Philosophie wichtige Probleme bisher aufzuweisen hatte. Gegen allen Erkenntnisgrund für die Freiheit erklären sich die dogmatischen Skeptiker, welche von der Grundlosigkeit des Begriffes der Freiheit überzeugt zu sein glauben. Mann hat leugnen | wollen, daß diese Überzeugung aus den Prinzipien des dogmatischen Skeptizismus notwendig erfolge, indem dieser doch wenigstens subjektive Wahrheit zulasse und folglich dem Zeugnisse des Selbstgefühls insoferne den Beifall nicht versagen könne. Freilich gibt der dogmatische Skeptiker subjektive Wahrheit zu; das heißt, Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande, in wieferne derselbe gedacht wird. Allein er erklärt diese subjektive Wahrheit so lange für eine mögliche Täuschung, als es nicht erwiesen ist, daß der Gegenstand so gedacht werden müsse, wie er in der Vorstellung vorkömmt. Diesen Beweis, und die von demselben abhängige Erkenntnis der objektiven Wahrheit, hält er für unmöglich. Wenn er daher auch nicht die Vorstellung der Freiheit leugnen kann, so kann er doch ebensowenig mit sich selbst einig werden, ob die Freiheit mehr als eine bloße Vorstellung, ob sie als etwas von der

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Vorstellung Verschiedenes denkbar, ob sie mehr als eine bloße Einbildung sei. In wieferne er aber die Denkbarkeit der von der bloßen Vorstellung verschiedenen Freiheit als unerweislich ansieht, leugnet er doch wohl allen philosophischen Erkenntnisgrund für die Freiheit. Der Fatalist geht noch weiter. Er fi ndet den Begriff der Freiheit nicht nur grundlos, sondern sogar widersprechend, weil er sich keine Willenshandlung denken kann, die nicht durch unvermeidliche absolute Notwendigkeit bestimmt würde. Hieher gehört z. B. der Materialist, der alles Wirken und Leiden des Gemütes den Gesetzen der Bewegung, und der Pantheist, der alles Sein und Handeln der hypostasierten Notwendigkeit, die | er für den Grundstoff aller Realität ansieht, unterwirft. Die bejahende Hauptpartei wird kaum durch die unbestimmte Behauptung, daß es überhaupt einen Erkenntnisgrund für die Freiheit gebe, zusammengehalten; so sehr ist sie mit sich selbst über die Frage uneinig, ob dieser Erkenntnisgrund in der natürlichen Vernunft oder in der übernatürlichen Offenbarung aufzusuchen sei. Der Supernaturalist hält alle Vernunftgründe für die Denkbarkeit der Freiheit für Täuschungen des Eigendünkels der verkehrten Vernunft. Die natürliche Freiheit ist ihm gerade das Gegenteil von dem, was sie dem dogmatischen Theisten ist. Dieser hält sie für das Vermögen, das Beste, jener für das Vermögen, das Schlimmste zu wählen –, ein Unvermögen der geschwächten, sich selbst oder vielmehr der Sinnlichkeit hingegebenen Vernunft, die nur durch übernatürlichen Beistand Erleuchtung von oben herab, [nur durch] theologische Gnade in die Freiheit der Kinder Gottes wieder eingesetzt werden kann, seitdem sie Sklavin der Sünde geworden ist. Diese Freiheit ist nur durch Offenbarung erreichbar und wird den Gläubigen mit dem Lichte derselben zuteil. Vergebens ist diese Lehre von der übernatürlichen Freiheit durch die Verteidiger der natürlichen als äußerst unphilosophisch erklärt worden. Die älteren Supernaturalisten haben den Namen eines Philosophen als einen Schimpfnamen von sich abgelehnt,

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und einige neuere glauben ihn dadurch in einen Ehrentitel umzuschaffen, daß sie sich desselben ausschließend bemächtigen. Der Umstand, | daß sie sich aller Untersuchung über die Möglichkeit der Freiheit, die ihnen Glaubensartikel ist, enthalten, verschafft ihnen den Vorteil, daß sie über diese Möglichkeit unter sich einig sind, während die guten Köpfe unter ihnen allen philosophischen Scharfsinn aufbieten, um das Unphilosophische an den Blößen der Partei sichtbar zu machen, welche die Freiheit durch Vernunftgründe zu erkennen vorgibt. Leider(!) sind die Verteidiger der Freiheit durch Vernunftgründe, welche über diese Streitfrage die vierte Partei ausmachen, eigentlich nur noch darüber nicht einverstanden, was sie sich unter der Freiheit zu denken haben. So findet z. B. der Determinist die Freiheit nur in der Abhängigkeit des Willens von Gesetzen, die durch Vernunft erkannt sind, und in soferne denselben von der Sinnlichkeit unabhängig machen; der Äquilibrist hingegen [fi ndet sie] in der gänzlichen Unabhängigkeit des Willens von der Vernunft sowohl als von der Sinnlichkeit. Beide beschuldigen sich gegenseitig des Fatalismus, den dieser in der moralischen Notwendigkeit und dem notwendigen Bestimmtwerden, jener aber in dem gänzlichen Gleichgewichte und der blinden Willkür zeigen zu können glaubt. So wird z. B. dem Deterministen vorgeworfen, seine Freiheit sei ein leeres Wort, womit er sich und andere täusche, und seine moralische Notwendigkeit nur ein milderer Name für den unüberwindlichen Zwang. Es sei ganz einerlei, ob der Wille durch Sinnlichkeit oder durch Vernunft genötigt würde, wenn er nur durch etwas, was nicht er selbst ist, bestimmt werde. In beiden Fällen sei dasjenige, wodurch | er bestimmt werde, das von ihm unabhängige Naturgesetz. Die Vernunft oder das Vermögen, den notwendigen Zusammenhang unter den Dingen an sich einzusehen, hinge ganz von dem notwendigen Zusammenhange der Dinge und durch sie der Wille von ebendemselben ab. Durch diesen notwendigen Zusammenhang bestimmt [zu] werden, könne doch unmög1 neuere ] verbessert aus: neueren

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lich frei handeln heißen. Durch Sinnlichkeit bestimmt werden, wäre ebensoviel als durch einzelne Eindrücke der Dinge, durch Vernunft bestimmt werden, ebensoviel als durch den Zusammenhang der Dinge genötigt sein. Warum soll der Zusammenhang der Dinge meinem Willen weniger Gewalt antun als der einzelne Eindruck, warum dieser meine Freiheit aufheben, jener aber sie sogar ausmachen helfen usw.? Es dürfte freilich nicht den Deterministen an Antworten fehlen, ob sie aber auch allgemein befriedigend sein würden, muß hier unentschieden bleiben. Keine der bisherigen wenigstens hat auch nur die übrigen dogmatischen Verteidiger der natürlichen Freiheit, viel weniger aber die drei andern Parteien überführt, deren Dasein und Fortdauer laut genug zeugt, daß in der philosophischen Welt über die Grundwahrheit der Moralität so wenig als über die Grundwahrheit der Religion etwas Allgemeingeltendes feststeht. | ___________________ Über den ersten Grundsatz der Moral 67

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Wenn unter dem Sittengesetz die Richtschnur verstanden wird, welche von der Vernunft für gewisse menschliche, die willkürlichen genannte, Handlungen bestimmt (vorgeschrieben oder nur erkannt?) wird, so sind die Philosophen ziemlich unter sich einig, daß es in dieser weiten Bedeutung des Wortes, die jeder nach seiner Weise näher erklärt, ein Sittengesetz gebe. Versteht man aber ein Gesetz darunter, das sich unter allen möglichen dadurch unterscheidet, daß es nur in so ferne beobachtet werden kann, als es keinem andern Zwecke untergeordnet wird, ein Gesetz, welches nur in so ferne erfüllt werden kann, als es lediglich um seiner selbst willen erfüllt wird, ein

5 meinem ] verbessert aus: meinen 16 feststeht ] TM AG-1: fest stehe | Schluß von TM AG-1

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Gesetz, das sich mit keiner Sanktion, bei der die Abhängigkeit des menschlichen Willens von Lust und Unlust zum Grunde liegt, verträgt, so wird man nur von sehr wenigen verstanden, von den meisten für einen grillenhaften Schwärmer angesehen,68 und fast alle werden darüber einig sein, daß es in diesem Sinne kein Sittengesetz gebe.*69 So verschieden man auch in der philosophischen Welt über das Wesen des Sittengesetzes, d. h. über den Grund der Verbindlichkeit desselben gedacht hat, so sehr scheint man bisher darüber ein | verstanden gewesen zu sein, daß jener Grund keineswegs unabhängig von Lust und Unlust gedacht werden und daß dasjenige, was man bisher Sittengesetz genannt hat, entweder nur durch oder wenigstens nicht ohne die Sanktion von Lust und Unlust Gegenstand unsres Willens sein könne. Allein eben diese Einhelligkeit dürfte wohl als ein gemeinschaftliches Mißverständnis verdächtig werden, wenn man den Streit der Philosophen über den Grund der sittlichen Verbindlichkeit oder, welches ebensoviel heißt, über die Frage, mit welcher das Sittengesetz steht oder fällt, als unparteiischer Zuschauer genau ins Auge faßt und am Ende gewahr wird, daß eben jene Unentbehrlichkeit von Lust und Unlust zur Verbindlichkeit des Sittengesetzes die Scheidewand ist, durch welche die philosophische Welt über den Grundbegriff der Sittlichkeit selbst in zwei entgegengesetzte Parteien getrennt wird, die, solange diese Scheidewand besteht, sich unmöglich vereinigen können. Die eine dieser Parteien glaubt den Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes in der Empfänglichkeit des Gemütes für Lust und Unlust gefunden zu haben. Sie hält die Vernunft bloß für die Auslegerin oder höchstens für die Konzipistin des Sittengesetzes, nicht für die Gesetzgeberin, welchen Rang sie dem Triebe * Wenigstens alle mir bekannten Philosophen bis auf Kant und alle mir bekannten Theologen bis auf J e s u s Christus.

1 das ] nach TM AG-2 verbessert aus: daß 11 werden ] TM AG-2: worden 20 jene ] TM AG-2: diese

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zum Vergnügen einräumt, der denselben nach der Meinung einiger dieser Partei höchstens mit der Natur der Dinge außer uns in so ferne teilt, als diese mehr oder weniger geschickt sind, ihn zu befriedigen. Die andere Partei sucht den Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes in der Vernunft auf und erkennt die Vernunft für die gesetzge|bende, den Trieb nach Vergnügen aber nur für die ausübende Gewalt im Regimente des menschlichen Geistes. Man kann es dieser Partei nicht wohl verdenken, wenn sie die theoretische Tugend der erstern für bloße Klugheit erklärt und den Namen der Weisheit ausschließend für die ihrige vorbehält. Allein ebensowenig dürften die Gründe ganz verwerflich sein, mit welchen jene gegen alle Trennung der gesetzgebenden und ausübenden Gewalt bei dem moralischen Bestimmungsgrunde des Willens protestieren. Wenigstens haben sich die vorzüglichsten Köpfe dieser Partei bisher durch keine Antwort überzeugt gefunden, welche ihnen die Gegenpartei auf die Frage gegeben hat: »Ob die Vernunft und ihre Gesetze ohne Dazwischenkunft vom Vergnügen und Mißvergnügen auch wohl das Vermögen hätte, den Willen zu bestimmen, und wenn sie dasselbe erst durch den Trieb nach Vergnügen erhielten, ob nicht dann von demselben alle gesetzliche Kraft des Sittengesetzes abhinge?«70 Ohne hier zwischen diesen Parteien entscheiden zu können und wollen, müssen wir uns gegenwärtig begnügen, die innere Verfassung derselben und ihr Verhältnis gegeneinander historisch zu beleuchten. Das moralische Gesetz ist durch den Grund seiner Verbindlichkeit, worin derselbe auch immer bestehen mag, sowohl gegeben, als vermittelst desselben allein erkennbar. Die Frage: »gibt es einen Erkenntnisgrund für das moralische Gesetz?« müßte also ebensoviel heißen als: »gibt es einen Grund der Verbind1 der denselben ] TM AG-2: den derselbe 11 ihrige ] verbessert aus: Ihrige 13 dem ] nach TM AG-2 verbessert aus: den 17 Frage ] nach TM AG-2 verbessert aus: Fragen 21 ob nicht … demselben ] TM AG-2: ob dann nicht von diesem

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lichkeit«, oder auch sogar: »gibt es überhaupt ein moralisches Gesetz?« Nichts kann meines Erachtens der Menschheit zur | größeren Ehre gereichen, nichts die Heiligkeit des moralischen Gesetzes in ein auffallenderes Licht setzen und den Primat der praktischen Vernunft über die theoretische einleuchtender dartun als der höchst merkwürdige Umstand, daß es in der philosophischen Welt nie die Frage war und sein konnte, ob es ein moralisches Gesetz gebe, sondern daß dasselbe immer als vorhanden vorausgesetzt wurde, daß über die Frage: gibt es einen Erkenntnisgrund für das moralische Gesetz? keine verneinende Partei aufgestanden ist, und daß die wirklich streitige Frage über den Grund der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes nie den Sinn hatte: ob es einen solchen Grund gebe, sondern nur, worin derselbe bestehe.* Die eine Hauptpartei, welche diesen Grund in der Empfänglichkeit für Lust und Unlust aufsucht, fi ndet denselben entweder in einer ursprünglichen und natürlichen oder aber in einer erworbenen und erkünstelten Einrichtung dieser Empfänglichkeit, und trennt sich hierüber in zwei sehr entgegengesetzte Parteien.

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Äußerlich bestimmter subjektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit 71 Der Trieb nach Vergnügen, behauptet die eine dieser Parteien, würde sich selbst und seiner | ursprünglichen Einrichtung überlassen, einzig und allein dem Gesetze der Sinnlichkeit folgen, wie dieses wirklich bei allen übrigen Tieren und bei al* Von einzelnen frechen und aller Sittlichkeit offenbar Hohn sprechenden Schriftstellern kann unter der Rubrike einer besondern Partei so wenig die Rede sein, als von Mißgeburten und Auswüchsen in der Klassifi kation der Naturgattungen.

14 höchst merkwürdige ] verbessert aus: höchstmerkwürdige 21 Äußerlich ] TM AG-2: a) Äußerlicher

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len Völkern in eben dem Verhältnisse der Fall ist, in welchem sich dieselben dem ursprünglichen Stande der Natur nähern. Wenn also gegenwärtig der Trieb nach Vergnügen bei kultivierten Nationen außerdem noch einem andern und ihm so ganz fremden Gesetze, als das moralische sei, Sanktion gäbe, so müsse er diese ihm unnatürliche Richtung von außen her, durch künstliche Bildung oder Zwang erhalten haben, und der Grund der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, sowie der durch ihn bestimmte Unterschied zwischen Tugend und Laster wäre der menschlichen Natur vielmehr aufgedrungen als eigentümlich und angeboren. Wirklich könne das Sittengesetz unmöglich Naturgesetz für den menschlichen Willen sein; denn sonst müßte es von allen befolgt oder doch wenigstens von allen erkannt werden; es könnten unmöglich sogar unter den kultiviertesten Nationen Gewohnheiten und positive Gesetze eingeführt sein, die dem Sittengesetze geradezu widersprechen; was bei einem Volke Laster ist, könnte nicht beim andern Tugend und umgekehrt heißen usw. Nur hierüber sind die Anhänger dieser Meinung noch nicht ganz unter sich einig geworden, ob sie ihren künstlichen Grund der moralischen Verbindlichkeit mehr in der Erziehung und Gewohnheit (wie z. B. Montaigne) oder mehr in der bürgerlichen Gesellschaft (wie z. B. Mandeville) oder in beiden zugleich aufsuchen sollen.72 Die Scharfsinnigsten halten sich gemeiniglich an das | letztere; doch so, daß sie dabei Erziehung und Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft unterordnen. Sie halten die moralischen Gesetze für Einschränkungen des sinnlichen Triebes der einzelnen Menschen durch ebendieselben sinnlichen Triebe der ganzen Gesellschaft, und glauben, daß die Gesellschaft durch ihr bloßes Übergewicht an physischer Stärke und Klugheit über jedes einzelne Mitglied in Stand gesetzt sei, mit den Handlungen, die zu ihrem Nachteil 6 so … unnatürliche ] TM AG-2: so müßten sie diese unnatürliche 14 werden; es könnten ] TM AG-2: werden; denn sonst könnten 24 Scharfsinnigsten ] verbessert aus: scharfsinnigsten

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gereichen, erkünstelte physische Übel (Strafen), und mit den Handlungen, die ihren Vorteil befördern, erkünstelte Vorteile (z. B. Ehre) zu verbinden, und auf diese Weise mit Beihülfe von Erziehung und Gewohnheit eine künstliche Vorstellungsart hervorzubringen, die man für natürlich zu halten versucht würde, wenn [sich] nicht der unaufhörliche Widerspruch zwischen den Forderungen des Eigennutzes und der Gesellschaft, auch an dem kultiviertesten Menschen so auffallend unterscheiden ließe, was der Natur eigentümlich angehöre, und was ihr durch äußere Umstände aufgedrungen wäre. Gemeiniglich erklären sich die dogmatischen Skeptiker für diese Meinung, wenn sie sich über den Grund der moralischen Verbindlichkeit diejenige Auskunft geben wollen, die sie ihren Grundsätzen gemäß bloß unter den Bedingungen der subjektiven Wahrheit, Gewohnheit, Erziehung, Erfahrung usw. aufsuchen können. Übrigens wird die Partei, welche sich für den künstlichen Grund der moralischen Verbindlichkeit erklärt, von allen übrigen beschuldigt, daß sie allen eigentlichen Unterschied zwischen Tu | gend und Laster aufhebe, und das Sittengesetz zwar dem Namen nach behaupte, aber in der Sache selbst leugne. Am meisten wird es ihr von der zweiten Partei, welche den Grund der moralischen Verbindlichkeit in dem natürlichen Triebe nach Vergnügen entdeckt zu haben glaubt, verdacht, daß sie die Sittlichkeit für einen unnatürlichen und gewaltsamen Zustand des Menschen erkläre, da doch der menschlichen Natur nur durch Unsittlichkeit Gewalt angetan würde, und der Mensch nach dem Zeugnisse der Erfahrung sich in eben dem Verhältnisse besser befände, als er moralischer geworden wäre. Allein sie stellen ihren Gegnern mit genau so vieler Zuversicht ebenfalls das Zeugnis der Erfahrung entgegen, durch welches sie erhärten zu können glauben, daß es unter allen kultivierten Nationen, zumal unter denjenigen, bei denen am 15 Wahrheit ] Kursivdruck ergänzt 21 dem ] nach TM AG-2 verbessert aus: den

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meisten von Moralität gesprochen würde, weit mehr Laster als Tugend gebe; daß der Weise und seine Glückseligkeit ein bloßes Ideal wäre, der wirklich existierende Freund der Tugend aber, nicht nur meistens durch das schlimmste äußere Schicksal gedrückt, sondern auch durch zahllose innere Leiden und den qualvollsten Kampf mit sich selbst um den Genuß seines Lebens gebracht würde, und daß endlich das Laster ein ebensosehr erkünstelter Zustand als die Tugend selbst, und die traurigen Folgen desselben dem Menschen in eben dem Verhältnisse fremde wären als dieser, ohne etwas von einem moralischen Gesetze gehört zu haben, seiner Natur überlassen, von dem Zwange, der ihm in der bürgerlichen Gesellschaft angetan würde, frei lebte usw. | Ohne mich in den Streit dieser Parteien mischen zu können, glaube ich hier nur anmerken zu dürfen, daß die äußere Erfahrung wohl von beiden mit ziemlich gleichem Rechte für ihre Behauptungen angeführt werden dürfte, die innere aber, die sich nicht mitteilen, auch nicht auf Treu und Glauben annehmen läßt, nur jeden für sich zu überzeugen vermöge, ob ihm der Zustand der Moralität natürlich sei oder nicht.

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Zerfällt doch aber auch selbst jene zweite Partei, welche die Sittlichkeit von einem auf die ursprüngliche Empfänglichkeit für Vergnügen und Mißvergnügen gegründeten Naturgesetze ableitet, in zwei andere entgegengesetzte Parteien, wovon die eine den durch Vernunft geleiteten Trieb nach Vergnügen überhaupt so wenig für den echten Grund der moralischen Verbindlichkeit anerkennt, daß sie diesen Grund vielmehr durch einen besondern dem Menschen eigentümlichen Sinn, den sie den moralischen nennt, erklären zu müssen glaubt, während die an21 Innerlich ] TM AG-2: b) Innerlich

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dere diesen Sinn für schlechterdings überflüssig hält und dem bekannten von seinen Gegnern vielleicht zu sehr herabgesetzten und von seinen Verteidigern zu sehr erhobenen Systeme des Epikurs 73 beipflichtet.74 Da die neuen Epikureer auf der einen Seite überzeugt sind, daß jedes Vergnügen, so geistig auch immer der Gegenstand davon sein möge, nur durch Sinnlichkeit genossen werden könne, da sie auf der andern Seite die Sinnlichkeit entweder für eine | bloße Eigenschaft der Organisation ansehen oder doch wenigstens dieselbe nicht unabhängig von der Organisation zu denken vermögen, so ordnen sie alle Arten von Vergnügen dem Physischen, als der einzig möglichen Gattung, unter und erkennen den Zustand des Körpers für die einzige oder doch [für] die erste und letzte Quelle aller Glückseligkeit und alles Elendes.75 Dieses vorausgesetzt, erklären sie, die im moralischen Gesetze bestimmte Weise zu handeln, oder die Tugend für das einzige Mittel zu dem notwendigen Zwecke des menschlichen Willens, nämlich der Glückseligkeit, oder der größten möglichen Summe angenehmer Empfi ndungen in dem höchsten Grade und der längsten Dauer. Da nun jedes Mittel nur durch den Zweck bestimmt und notwendig gemacht würde, so wäre der Trieb nach Glückseligkeit der wahre und einzige in der menschlichen Natur vorhandne Grund der moralischen Verbindlichkeit, zumal da die Vernunft eigentlich nichts anders als eine Modifi kation der Sinnlichkeit, das Vermögen, den Zusammenhang der Dinge wahrzunehmen, sei. Den Anhängern dieses Systems, zu welchem sich unter andern vorzüglich die Materialisten bekennen, wird von den Verteidigern des moralischen Sinnes Schuld gegeben, ihre Theorie wäre nichts weiter als ein wohlberechnetes System des Eigennutzes und der verfeinerten Wollust.76 Die eigentliche Moral, die sich mit jener Theorie durchaus nicht vertrage, müsse zwar auch Vergnügen als Triebfeder des Willens annehmen, aber ein Vergnügen von ganz anderer Art, welches sich durchaus nicht 5 neuen ] TM AG-2: neuern

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auf das Physische zurückführen ließe. Es sei zwar nicht zu leugnen, daß selbst auch die For | derungen des wohlverstandenen Eigennutzes durch die Beobachtung des moralischen Gesetzes erfüllt würden. Allein wenn der Eigennutz als der Grund der moralischen Verbindlichkeit angenommen würde, so würde selbst die Beobachtung des Sittengesetzes in den meisten Fällen, wo nicht gar durchgängig, unmöglich sein. Denn es würde, um aus den Folgen einer Handlung seine Pflicht zu erkennen, eine Berechnung erfordert werden, welcher auch der aufgeklärteste Verstand selten oder gar nie gewachsen sein würde. Diese Berechnung könne nur durch ein natürliches Gefühl erspart werden, welches die Pflichtmäßigkeit einer Handlung durch Vergnügen, die Pfl ichtwidrigkeit aber durch Mißvergnügen ankündigte; und zwar durch ein Vergnügen, das sich von allem gröberen und feineren Sinnlichen dadurch unterscheidet, daß es kein Gefühl unsers eigenen verbesserten Zustandes, das heißt, daß es ganz uneigennützig sei. Es müßten also im menschlichen Gemüte zwei ganz verschiedene Grundtriebe angenommen werden, wovon der eine eigenes, der andere aber fremdes Wohlbefi nden zum Zwecke hätte; so wie die der menschlichen Natur angemessene Glückseligkeit nur in der Befriedigung dieser beiden Triebe bestehen könne, in einer Befriedigung, die nur in soferne möglich wäre, als der eigennützige Trieb dem uneigennützigen untergeordnet, mit demselben harmonisch zusammenwirke. Dieser uneigennützige Trieb, erwidert der Epikureer, ist nichts anders als der eigennützige selbst, aber durch Vernunft modifiziert.77 Alles Vergnügen ist Gefühl des eigenen verbesserten Zustan | des, und ich kann mich für den verbesserten Zustand eines andern nur in soferne interessieren, als mir derselbe Vergnügen, das heißt, Empfi ndung meines eigenen verbesserten Zustandes gewährt. Es lassen sich auch bestimmt genug die Wege angeben, auf welchen der eigennützige Trieb zu dieser Verfeinerung gelangt, durch die er keineswegs seine vorige Natur ablegt. Mit dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft hat der einzelne Mensch sein Wohl und Weh größ-

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tenteils in die Hände der Gesellschaft niedergelegt. Sein Bestes hängt von dem Besten der Gesellschaft ab. Er kann seinen Genuß nur in soferne sicher stellen, als er den Genuß anderer ungestört läßt, und er kann für die Vervielfältigung seines Genusses nicht besser sorgen, als wenn er den Genuß anderer befördert. In eben dem Verhältnisse als er sich selbst zu vergessen scheint, wird er der ganzen Gesellschaft wichtiger, und erwirbt er sich Ansprüche auf Vorteile, die ihm nur die ganze Gesellschaft zu gewähren mächtig genug ist; Vorteile, aus deren Wichtigkeit sich das Aufopfern mancher kleineren Güter und das freiwillige Aufsichnehmen größerer, aber ungewisser Übel sehr wohl erklären läßt. Geschieht es endlich, daß der Tugendhafte bei den zum Vorteil anderer Menschen unternommenen Handlungen aufhöre, sich alles eigennützigen Zweckes bewußt zu sein, und daß er die Tugend nicht mehr für ein bloßes Mittel, sondern für den Zweck selbst anzusehen anfängt, so verliert er nichts dabei, und er gelangt auf ebendemselben Wege dazu, wie der Geizige, der sein Geld allen Vorteilen vorzieht, die ihm der Gebrauch desselben als eines bloßen Mittels verschaffen könnte. |

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Innerlich bestimmter objektiver Grund der moralischen Verbindlichkeit Diesen Streit glaubt eine dritte Partei entschieden zu haben, die den Grund der moralischen Verbindlichkeit in der Vernunft entdeckt zu haben vorgibt. Dieser Grund, meint sie, kann weder in einem künstlichen noch in einem natürlichen Triebe, weder in dem physischen noch auch in dem moralischen Gefühle, sondern nur in demjenigen Objekte liegen, das dem Willen nicht durch die Sinnlichkeit, sondern einzig durch die Vernunft vorgehalten wird, und dieses Objekt heißt Vollkommenheit. Die Vernunft kann ihrer Natur zufolge nichts anderes billigen 21 Innerlich ] TM AG-2: c) Innerlich

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als das Vollkommene. In wieferne daher der Wille nach Vollkommenheit strebt, handelt er dem Naturgesetze der Vernunft und nicht dem Instinkte gemäß, von keinem eigennützigen Triebe, sondern durch die uneigennützige Schätzung des innern Wertes bestimmt. Schade nur, daß sich die Anhänger dieser Partei über die Bedeutung des Begriffes von Vollkommenheit bisher so wenig vereinigen konnten! 78 Einige verstehen nichts anderes als diejenige Beschaffenheit der Dinge darunter, wodurch dieselben Gegenstände angenehmer Empfi ndungen werden, die Einheit des Mannig faltigen im Objekte, wodurch dasselbe unser Vorstellungsvermögen zugleich leicht und stark, das heißt, angenehm beschäftigt. Freilich hängt diese Beschaffenheit, in wieferne sie an den Dingen vorhanden sein soll, nicht von unserer Sinnlichkeit, aber auch ebensowenig von unsrer Vernunft ab. Als bloße Vollkommenheit, ein Abstraktum, kann sie freilich nur | durch Vernunft vorgestellt, das heißt gedacht werden; aber in wieferne sie als Beschaffenheit eines Gegenstandes, als Konkretum, Vergnügen erwecken soll, muß sie empfunden, durch Sinnlichkeit vorgestellt werden. Das Vermögen der Vollkommenheit, uns zu gefallen, hängt also ebensosehr von dem Empfi ndungsvermögen als von der Vollkommenheit selbst ab. Das Streben nach Vollkommenheit würde also im Grunde ebensoviel als der Trieb nach Vergnügen heißen, und der Verteidiger des Grundsatzes der Vollkommenheit würde bei seiner Fehde mit dem Epikureer, mit dem er in der Sache selbst einverstanden wäre, über nichts als Worte zanken.79 Wirklich würde es ganz unbegreiflich sein, wie Philosophen, welche jedem Gegenstande, in wieferne er Vergnügen gewähren kann, Vollkommenheit einräumen und in ihren Schriften bei jeder Gelegenheit die grobsinnliche Lust undeutliche Vorstellung von der Vollkommenheit des Körpers nennen (z. B. selbst der vortreffliche Moses Mendelssohn) 80, gleichwohl die Vollkommenheit zu einem ausschließend der 7 wenig vereinigen ] nach TM AG-2 verbessert aus: wenigvereinigen 20 zu gefallen ] verbessert aus: zugefallen

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Vernunft angehörigen Objekte machen können, wenn man nicht durch tausend ähnliche Fälle gewohnt wäre, unsre neuern philosophischen Schriftsteller mit den Bedeutungen der Worte sehr willkürlich verfahren zu sehen. Um dem Worte Vollkommenheit einen Sinn zu geben, in welchem es wenigstens bei der Frage über den Grund der moralischen Verbindlichkeit etwas von der Vernunft allein Abhängiges bedeuten soll, erklären andere die Vollkommenheit, welche dem moralischen Gesetze zum Grunde liegen soll, für Übereinstimmung des Willens mit den Gesetzen der Vernunft. Sie nehmen also die Folge | der moralischen Verbindlichkeit für den Grund derselben an und drehen sich unvermerkt im Zirkel herum. Andere endlich glauben sich bequemer auszudrücken, indem sie die Vollkommenheit für die Zusammenstimmung aller unserer Neigungen und Fähigkeiten sowohl untereinander selbst, als zu ihrem gemeinschaftlichen Zweck erklären; eine Zusammenstimmung, welche durch Vernunft allein möglich und notwendig gemacht würde. Sie können zwar, wie sie sich ausdrücken, über den Namen nicht so wohl einig werden, den sie diesem Zwecke zu geben hätten, ob er ebenfalls wieder Vollkommenheit, ob er größte mögliche Entwicklung unsrer Fähigkeiten, ob er größte mögliche Wirksamkeit unsrer Kräfte, ob er größtes mögliches Wohl des menschlichen Geschlechtes u. d. m. heißen soll. Dafür aber sind sie unter sich (und, ohne es selbst zu wissen, mit ihren Gegnern) einverstanden, daß alle diese Zwecke sich dem Willen nur durch das Vergnügen, das sie ihm verheißen, empfehlen und folglich für denselben weiter nichts als Mittel zu seinem obersten Zwecke – dem Vergnügen – sein können.

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so wohl ] TM AG-2: so recht ob er ] TM AG-2: oder ob er ] TM AG-2: oder u. d. m. ] Abk. für: und dergleichen mehr

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Der philosophierende Supernaturalist, der zwar auch den Grund der moralischen Verbindlichkeit in der Vollkommenheit, aber in der Vollkommenheit als Substanz vorgestellt, d. h. in der Gottheit aufsucht, lächelt mitleidig über diese vergeblichen Versuche der blinden Heiden, sich eine | Moral ohne Gott, ein Gesetz ohne Gesetzgeber erkünsteln zu wollen, und fi ndet in der Uneinigkeit der Naturalisten über den Grund des Sittengesetzes die notwendige Folge der verkehrten Anschläge der sich selbst überlassenen Vernunft. Ihm ist es unbegreiflich, wie die Bestimmung eines Gesetzes, von dem die Glückseligkeit der Menschen oder vielmehr die Verherrlichung der Gottheit abhängt, der menschlichen Vernunft, die erst durch Beobachtung dieses Gesetzes zum Gebrauch ihrer Kräfte gelangen sollte, überlassen sein könnte; der menschlichen Vernunft, die ihre gänzliche Untüchtigkeit zur moralischen Gesetzgebung schon dadurch genugsam bewiese, daß sie nicht einmal durch ihre vornehmsten und berühmtesten Repräsentanten über den Grund der moralischen Verbindlichkeit mit sich selbst einig werden könnte; und wenn sie endlich auch noch so sehr mit sich selbst darüber einig wäre, ob und was sie den Menschen vorzuschreiben hätte, dennoch erst von dem Triebe nach Vergnügen erwarten müßte, daß er ihre Vorschriften zu wirklichen Gesetzen erhübe. Dem Supernaturalisten ist daher der Wille der Gottheit die einzige Quelle der moralischen Gesetze und die Abhängigkeit des Menschen von Gott der eigentliche Grund der Verbindlichkeit jener Gesetze. Ein Glück, wenn der Supernaturalist philosophisch genug denkt, um den Willen 1 Äußerlich ] TM AG-2: d) Äußerlich 22 den ] TM AG-2: dem 23 nach ] TM AG-2: noch | nach Druckfehlerverzeichnis ist statt noch nach

zu lesen 25 erhübe. ] TM AG-2 verfolgt mit neuem Absatz

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der Gottheit durch eine Vernunft bestimmen zu lassen, welche, nur die Schranken abgerechnet, menschlich ist. Denn gibt er der göttlichen Ve r n u n f t eine ganz andere Natur, die teils unbegreiflich, teils das Gegenteil der menschlichen sein soll, so ist er genötigt, den göttlichen W i l l e n unfehlbare Ausleger seiner unbegreiflichen Ratschlüsse aufstellen [zu lassen], | Unterdrükkung der menschlichen Vernunft, Glauben an Widersprüche gebieten und an allem, was der menschlichen Natur zuwider ist, Wohlgefallen fi nden zu lassen. Die Moral, die auf diesem Wege gefunden wird, ist noch heut zu Tage die sittliche Richtschnur von mehr als der einen Hälfte der christlichen Welt. Aber auch der aufgeklärteste Supernaturalist muß den Knoten durch ein Wunder der übernatürlichen Gnade zerhauen lassen, wenn er den menschlichen Willen durch das, was er den Grund der moralischen Verbindlichkeit nennt, nämlich durch die Abhängigkeit von dem göttlichen [Willen], ohne Dazwischenkunft von Liebe, Hoffnung, Furcht, und also vom Triebe nach Vergnügen unabhängig, bestimmen lassen will.

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_____________ Bei aller Verschiedenheit der bisher angeführten Meinungen über den Grund der moralischen Verbindlichkeit oder, welches ebensoviel ist, über das Wesen der Sittlichkeit ist man gleichwohl in der philosophischen Welt ziemlich einig darüber, daß die Moral eine Wissenschaft im strengsten Sinne des Wortes sei, welche an Evidenz ihren Rang gleich nach der Mathematik einnähme. Da man es nun für ausgemacht annimmt, daß jede eigentliche Wissenschaft einen ersten Grundsatz haben müsse, so hat man auch für die Moral einen solchen Grundsatz aufgesucht, – und genau so viele voneinander abweichende erste Grundsätze aufgefunden, als man Gründe der Verbind10 Tage ] nach TM AG-2 verbessert aus: Tag 19 fehlt in TM AG-2 30 aufgefunden ] TM AG-2: gefunden

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lichkeit entdeckt hat. Jede Partei versichert von | dem ihrigen, daß derselbe allen Bedingungen eines wissenschaftlichen ersten Grundsatzes entspreche, daß er einzig, allgemein und für sich selbst, ohne eines Beweises aus der Wissenschaft, die er begründen soll, zu bedürfen, einleuchtend sei, und widerlegt bis auf den heutigen Tag die ebenfalls einzigen, allgemeinen und einleuchtenden Grundsätze aller andern Parteien. Es ist begreiflich genug, w a r u m sich die meisten akademischen Lehrer der Moralphilosophie über den Grundsatz vereinigt haben, der das moralische Gesetz (angeblich oder wirklich) durch Vernunft bestimmen läßt, dasselbe nicht offenbar dem Eigennutze unterwirft und, wie Kant sich irgendwo ausdrückt, »der Tugend die Ehre erweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, um ihr nicht gleichsam ins Gesicht zu sagen, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur unser Vorteil sei, der uns an sie knüpfe«81. – »Die neuere Philosophie« (schreibt einer unsrer verdienstvollsten akademischen Lehrer,* der hier nur noch hätte hinzusetzen sollen: die neuere Philosophie der deutschen Professoren) »hat das erste Principium der Sittenlehre so ausgedrückt: Wir müssen uns so vollkommen machen als möglich. Der kürzeste Weg, sich von dieser Grundwahrheit zu überzeugen, ist der, den die meisten gewählt haben, nämlich es aus der Natur des Willens herzuleiten. Wir können nichts begehren, sagen sie, was uns nicht gefällt, | oder was wir uns nicht anschauend als gut, und nichts verabscheuen, was uns nicht mißfällt, oder was wir uns nicht anschauend als böse vorstellen. Wenn also (?) das gut ist, wodurch unsre Vollkommenheit vermehrt oder unsre Unvollkommenheit vermindert wird, so müssen wir unsre Vollkommenheit wollen und unsre Unvollkommenheit nicht wollen. Die Sache hat ihre Richtigkeit.«83 – Sie hat * Herr Eberhard in der in seinen neuesten vermischten Schriften, Halle 1788, befi ndlichen Abhandlung, »Ueber den moralischen Sinn«, S. 208 und 209. 82

1 ihrigen ] verbessert aus: Ihrigen

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freilich ihre Richtigkeit, in wie ferne keine der vier Parteien, die über den Grund der moralischen Verbindlichkeit getrennt sind, Bedenken tragen kann, dieses ganze Räsonnement zu unterschreiben, und es gleichwohl der einen unbenommen bleibt, den innern Unterschied zwischen Tugend und Laster, der andern [Partei], die Uneigennützigkeit der sittlichen Handlungen und der dritten, den natürlichen Ursprung des Sittengesetzes zu leugnen. Denn es kömmt bei der angeführten Erörterung alles darauf an, was unter Gut und Böse, Vollkommenheit und Unvollkommenheit gedacht wird, d. h. gerade auf die Punkte, über welche sich die vier Parteien bis auf diesen Augenblick nicht vereinigen konnten. Der berühmte Schriftsteller versteht unter unsrer Vollkommenheit, wie aus dem folgenden erhellt, angemessene Tätigkeit unsrer Kräfte, welches, wenn der Zweck dieser Tätigkeit moralisch ist – denn dies soll wohl durch angemessen ausgedrückt werden? –, allerdings eine sehr edle Bedeutung des Wortes ist. Allein leider(!) kann er, solange er mit den drei übrigen Parteien über den Begriff des Angemessenen, des mit der Natur unsres Willens Übereinstimmenden, den er voraussetzt, nicht einig geworden ist, nicht verhindern, daß die Formel: mache dich selbst so vollkommen | als möglich, nicht für die eine Partei ebensoviel heiße als: verhalte dich so, daß dein eigennütziger Trieb durch den Zwang, den ihm die Gesellschaft antut, so wenig als möglich beschränkt werde; für die andere [Partei]: mache dich so genußfähig als du kannst, und für die dritte : tue, was der Wille der Gottheit durch seine unfehlbaren Ausleger, die Bibel oder die Kirche von dir fordert. – Ohne mich hier für oder wider eine dieser vier Parteien erklären zu können und zu wollen, vermag ich gleichwohl nicht das Geständnis zurückzuhalten, daß mir jeder erste Grundsatz der Moral, der den Grund der sittlichen Verbindlichkeit nicht unabhängig vom Triebe nach Vergnügen festsetzt, nur durch eine moralische Erklärung seines Wortsinnes derjenigen Bedeutung fähig scheint, die er begründen, nicht voraussetzen sollte. 12 Augenblick nicht ] TM AG-2: Augenblick noch nicht

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Über den ersten Grundsatz des Naturrechts

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Noch größer womöglich ist die Uneinigkeit der Philosophen über den Grundbegriff des Naturrechts.84 Allein, ich glaube mich der historischen Erörterung darüber schon aus dem Grunde überheben zu können, weil sich die verschiedenen bisher aufgestellten ersten Grundsätze dieser Wissenschaft mit denen der Moral in eine und ebendieselbe Haupteinteilung zusammenfassen lassen. Wer indessen die sehr beträchtliche Anzahl derselben der Reihe nach kennenzulernen wünscht, kann seine Neugierde aus neueren Schriften über das Natur | recht befriedigen.* In einer derselben** wird nach einer sehr treffenden Prüfung aller bisher bekannt gewordenen ersten Grundsätze das Resultat aufgestellt, »daß das Naturrecht entweder gar nicht oder doch nicht in dem Umfang und in der Form, die es itzt habe, zur Zahl der Wissenschaften gehöre«.87 Ich glaube fast, jeder Leser, der nicht selbst einen neuen ersten Grundsatz gefunden hat, dürfte durch die Gründe des Verfassers überzeugt werden. Man ist nicht einmal über den Begriff von Recht überhaupt einig, verwechselt bald das Naturrecht mit der Moral und hält es bald für ganz unabhängig von derselben, bald so genau mit ihr ineinanderfließend, daß man auf die genaue Bestimmung ihrer beiderseitigen Grenzen Verzicht tun zu müssen glaubt.

* Ich würde hiezu den scharfsinnigen Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig bei Göschen 1785, von einem unsrer vorzüglichsten philosophischen Rechtsgelehrten, Herrn Professor Dr. Hufeland, vorschlagen.85 ** In Flatts vermischten Versuchen, »Ideen zur Revision des Na86 turrechts«. 30

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1 Über ] TM AG-2: d) Ueber 22 und ] TM AG-2: oder 23 ganz ] fehlt in TM AG-2

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Am aller auffallendsten aber äußert sich der Mangel eines durchgängig bestimmten allgemeingeltenden ersten Grundsatzes an dem äußerst mißlichen Zustande des Naturrechtes; und dieser mißliche Zustand [äußert sich] an den noch ganz unentschiedenen höchst wichtigen Fragen über Leibeigenschaft, Todesstrafen, Fürstenrechte usw. und an der noch immer fortdauernden Gleichgültigkeit und Verachtung, womit das Naturrecht von den meisten Rechtsgelehrten angesehen und behandelt wird; | wofür dasselbe schrecklich genug durch die Barbarei gerächt wird, in welcher die positive Jurisprudenz, im ganzen genommen, hinter den übrigen Fakultätswissenschaften zurückgeblieben ist, und aus welcher sie selbst nach dem einstimmigen Geständnisse unsrer wenigen philosophischen Rechtsgelehrten schlechterdings nur durch ein vollendetes und auf allgemeingültigen Prinzipien feststehendes Naturrecht emporgehoben werden kann. Seitdem die religiösen Vorurteile an Zahl und Einfluß verloren haben, sind die politischen, wo nicht zahlreicher doch wenigstens viel bedenklicher geworden; und der weltliche Despotismus beginnt, in eben dem Verhältnisse die Menschheit mit Skorpionen zu peitschen, in welchem der geistliche aufhört, sie mit Ruten zu züchtigen. Unsre unphilosophischen Rechtslehrer scheinen dabei die alten Rollen der orthodoxen Theologen übernommen zu haben, indem sie mit ebendemselben Geiste die Urkunden des positiven Rechts, wie jene die Urkunden der positiven Theologie, verfechten. Sie glauben an den leidigen Buchstaben von Gesetzen, an deren Dasein Unwissenheit und Übermacht wenigstens ebensoviel Anteil hatten als das Streben der dämmernden Vernunft und das dunkle Gefühl des Rechtes in fi nsteren Zeitaltern, das Palladium der Menschheit aufzubewahren, während der Despot diese Gesetze nur in so ferne gelten läßt, als er in ihnen Mittel zu seinem letzten Zwecke, der willkürlichen Gewalt 4 dieser ] TM AG-2: der 26 den ] TM AG-2: dem 31 in ] TM AG-2: an

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antrifft; und – wenn er die heiligsten Verträge der Nationen umstößt, die Güter seiner Untertanen wie sein Eigentum behandelt und das Leben von Hunderttausenden seinem Ehrgeize, seiner Ländersucht oder auch nur seinem Zeitvertreibe aufopfert – er bei allem die | sem weder Schande noch Widerstand zu besorgen hat, solange die natürlichen Rechte der Menschheit selbst unter dem Lehrstande noch unentschieden sind, und jene Hunderttausende vor den Tieren, auf denen sie reiten und die ihnen zur Speise dienen, nicht viel mehr voraushaben als das leidige Bewußtsein, daß sie dazu bestimmt sind, zum Vorteil der Stärkern Lasten zu tragen und sich bei Gelegenheit abschlachten zu lassen.

§2 15

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Es läßt sich mit Grund vermuten, daß diesem Mangel des Allgemeingeltenden Mangel des Allgemeingültigen zum Grund liege; und diese Vermutung führt auf den kritischen Zweifel, ob die Philosophie solche allgemeingültige Erkenntnisgründe und Grundsätze aufzustellen vermöge. Wenngleich88 daraus, daß eine Erkenntnis in der philosophischen Welt nicht allgemeingeltend ist, keineswegs folgt, daß es 1 und – wenn ] nach TM AG-2 verbessert aus: und wenn 5 er ] fehlt in TM AG-2 5 allem ] nach TM AG-2 verbessert aus: allen 9 viel mehr ] nach TM AG-2 verbessert aus: vielmehr 12 lassen. ] Schluß von TM AG-2 signiert mit: R. 19 Wenngleich ] Anfang von BM, vorher die Überschrift: Von welchem

Skeptizismus läßt sich eine Reformation der Philosophie hoffen? anschließend folgender Haupttext: Ich setze als Thatsache voraus, daß die Philosophie bisher weder allgemein geltende Erkenntnißgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität, noch allgemein geltende erste Grundsätze der Moral und des Naturrechtes aufgestellt habe. es folgt als Fußnote: Diese zwar bekannte, aber sehr wenig erwogene Thatsache habe ich im Deutschen Merkur d. J. Junius und Julius näher beleuchtet.

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ihr an sich an Allgemeingültigkeit gebrechen müsse, so wird es doch dadurch wenigstens denkbar, daß es ihr daran gebrechen könne. Im gegenwärtigen Falle wird dieses sogar zur gegründeten Vermutung. Denn hier ist nicht die Rede von Entscheidungsgründen über Fragen, welche entweder von bloßer Neugierde aufgeworfen oder von müßigen Köpfen zum Zeitvertreib oder von Scharfsinnigen zur Übung ihres Talentes abgehandelt werden; nicht von ersten Grundsätzen solcher Wissenschaften, die nur von gewissen Klassen von Gelehrten und nur für gewisse Berufsgeschäfte getrieben werden; | nicht von bloßen Nebenfragen über sonst allgemein interessante Gegenstände oder von Folgesätzen, die zwar in das Gebiet der unentbehrlichsten Wissenschaften gehören, aber von den ersten Elementen und Hauptgrundsätzen derselben sehr entfernt liegen und nur wenigen Schärfersehenden erreichbar sind. Man begreift in allen diesen Fällen sehr leicht, wie gewisse Sätze, die an sich von jedem, der sie versteht, als wahr befunden werden müssen, auch von manchen der redlichsten und eifrigsten Forschern nicht verstanden und daher auch nicht als wahr befunden werden. Allein, wenn diese Forscher über die unentbehrlichsten Bedingungen von Problemen unter sich uneinig sind, deren Auflösung kein Philosoph, der nicht entweder an seinem Kopfe oder an seinem Herzen, oder an beiden zugleich gänzlich verwahrlost ist, von sich abweisen kann, wenn sie untereinander sogar über die bloße Möglichkeit jener Bedingungen streiten: sollte es da nicht möglich, nicht wahrscheinlich sein, daß jene 1 ihr an sich an Allgemeingültigkeit ] BM: ihr an Allgemeingültigkeit 1 f. es doch … wenigstens ] BM: es doch durch jenen Umstand we-

nigstens 3 Im gegenwärtigen Falle ] BM: In gegenwärtigem Fall 6 aufgeworfen ] BM: entworfen 15 Schärfersehenden ] nach BM verbessert aus: schärfersehenden 16 f. an sich … auch ] BM: an sich allgemeingültig sind (d. h. von je-

dem, der sie versteht, als wahr befunden werden müssen), auch 20 f. unentbehrlichsten Bedingungen von Problemen ] BM: unentbehr-

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Bedingungen noch in keiner der bisher angenommenen Formen, dem Gedanken sowohl als dem Ausdrucke nach, richtig (allgemeingültig) aufgefaßt wären ? Wie sollte es zugehen, daß Erkenntnisgründe, von deren Gewißheit oder Ungewißheit, Gründlichkeit oder Falschheit die Erwartung eines künftigen Lebens abhängen soll, daß Sätze, mit welchen die wichtigsten und unentbehrlichsten aller Wissenschaften stehen oder fallen sollen, daß die ersten Grundsätze aller unserer Pflichten und Rechte von drei Vierteilen des eigentlichsten philosophischen Publikums verworfen würden, wenn es nur darauf ankäme, sie zu verstehen, um sie wahr zu fi nden, d. h., wenn sie wirklich allgemeingültig wären. | Man muß hier den bereits oben angemerkten Unterschied zwischen den philosophischen Erkenntnisgründen und Grundsätzen und den im gemeinen Menschenverstande wirksamen Triebfedern der religiösen und moralischen Überzeugung nicht aus den Augen verlieren. Es ist hier keineswegs die Frage, ob nicht durch die ursprüngliche Einrichtung des menschlichen Gemütes dafür gesorgt sei, daß sich die unentbehrliche Erkenntnis unsrer Rechte und Pflichten in diesem und des Grundes unsrer Erwartung für ein zukünftiges Leben im Ganzen genommen, zumal unter gesitteten Nationen, immer erhalten und vervollkommnen müsse. Sondern es ist die Frage: Ob es die philosophierende Vernunft bisher schon zu einem deutlich entwickelten Bewußtsein jener Einrichtung des menschlichen Gemütes gebracht habe und über die Gründe jener Erkenntnis unsrer Rechte und Pflichten usw. schon itzt mit sich selbst einig sei? Es ist die Frage: Ob diese Gründe bereits auf deutliche, 5 künftigen ] BM: zukünftigen 7 sollen, daß ] BM: sollen, – daß 8 Rechte von ] BM: Rechte, – von 13 den … Unterschied ] BM: den Unterschied 14 philosophischen ] BM: philosophischen 15 gemeinen Menschenverstande ] BM: gemeinen Menschenverstande 21 Leben im ] BM: Leben, im

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durchgängig bestimmte, in ihren Merkmalen erschöpfte Begriffe zurückgeführt und in Sätzen aufgestellt seien, deren Sinn von keinem denkenden Kopfe, der anders mit dem Sprachgebrauch bekannt ist, verfehlt werden könnte? Es ist die Frage: Ob die eigentliche philosophische Form jener höchstwichtigen Überzeugungen in bereits vorhandenen Erkenntnisgründen und Grundsätzen entdeckt und ins reine gebracht sei? »Es wäre denn also auch den Freunden der neuen Philosophie um F o r m e l n zu tun«, höre ich hier einen unsrer Popularphilosophen mit spöttischem Lächeln mir in die Rede fallen. – Ja, mein | Herr, um Formeln wohl; aber wahrlich nicht um Formeln der Popularphilosophie, die von der Schule irgendeiner herrschenden Partei der Vorstellungsart der ungelehrten höheren Volksklassen aufgedrungen und, nachdem sie in derselben gang und gäbe geworden sind, von der später entstandenen Schule der Empiriker als (über allen Beweis erhabene) Aussprüche des gesunden Menschenverstandes aufgenommen werden, weil sie durch den Untergang der Schule, in welcher sie entstanden waren, um ihre vorige Erweislichkeit gekommen sind. – Um keine Formeln also, deren Wahrheit nur demjenigen einleuchtet, der darüber nachzudenken oder, nach der Sprache der Popularphilosophie, zu grübeln, Verzicht getan hat. Sondern es ist uns um Formeln zu tun, die der eigentlichste Ausdruck eines durchgängig bestimmten und an sich gegen alles Mißverständnis gesicherten Begriffes sind; um Formeln, die nur eines einzigen Sinnes fähig, alle widersprechenden Bedeutungen durch den Sprachgebrauch ausschließen. Wie viel auf solche Formeln ankomme, kann freilich niemand besser 4 könnte ] BM: könne 8 »Es … auch ] BM: »So wäre es denn auch 10 spöttischem ] BM: philosophischem 11 Formeln wohl; aber ] BM: Formeln; aber 15 gang ] verbessert aus: gäng 16 f. als … Aussprüche ] BM: als über allen Beweis erhabene Aus-

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wissen als der Mathematiker. Allein, wie sollte sich auch der Philosoph schmeicheln können, eine allgemeingültige Behauptung aufgestellt zu haben, solange er für dieselbe keine solche Formel gefunden hat? Muß er nicht das Wahrbefundenwerden seiner Behauptung auf das Verstandenwerden und dieses auf die Zeichen seiner Gedanken ankommen lassen? Jeder Grund von was immer für einer Überzeugung, er mag noch so tief und innig in die ursprüngliche Einrichtung des menschlichen Gemütes verwebt sein, ist für die philosophierende | Vernunft so lange problematisch, bis er nicht durch eine vollendete Zergliederung in seine letzten vorstellbaren Bestandteile aufgelöst und auf seine eigentliche Quelle zurückgeführt ist. Er geht nicht eher ins Eigentum der Philosophie über, bis nicht ein deutlicher, das heißt, ein solcher Begriff aus ihm geworden ist, der sich jedem denkenden Kopfe mitteilen läßt, und die Philosophie kann sich dieses Eigentums nur durch eine allgemeinverständliche Formel versichern. Solange eine Formel, ohne dem Sprachgebrauch Gewalt anzutun, mehr als eine Bedeutung zuläßt, so lange ist sie zuverlässig kein allgemeingültiger erster Grundsatz, so lange sind eine Reihe solcher Formeln zusammengenommen zuverlässig kein allgemeingültiger Erkenntnisgrund, so lange sind diese Formeln (zwar vielleicht die passendsten) Ausdrücke unentwickelter Begriffe, in welche entweder nicht hineingehörige Merkmale aufgenommen oder wesentliche Merkmale weggelassen sind. – Sollten nun die bisher aufgestellten sogenannten ersten Grundsätze der Moral und des Naturrechtes, sollten die demonstrativen

1 Mathematiker ] BM: Mathematiker 1 Allein, wie ] nach BM verbessert aus: Allein wie 2 Philosoph ] BM: Philosoph 4–6 Muß er … lassen? ] fehlt in BM 13 f. über, bis ] BM: über, als bis 14 f. das heißt … sich ] BM: d. h. ein solcher, der sich 15 f. läßt, und ] BM: läßt, aus ihm geworden ist; und 25 oder wesentliche ] BM: oder wo wesentliche

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Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität nicht zu den Formeln dieser Art gehören, sollten sie nicht in was immer für einem Ausdruck, ohne daß dem Sprachgebrauch Gewalt geschehe, mehr als einer Bedeutung fähig sein? – Ihre Verteidiger leugnen es freilich. Aber da diese Verteidiger unter sich selbst uneinig sind, und jeder den Sprachgebrauch für seine Formel und für seine Beweisart anführt, sollte derjenige, der zu keiner Partei gehört, nicht vermuten dürfen, daß in allen jenen Grundsätzen und Erkenntnisgründen noch unbestimmte, schwanken | de, unentwickelte Begriffe enthalten wären, die durch keinen Sprachgebrauch festgehalten, durch keinen Ausdruck gegen Vieldeutigkeit gesichert werden können? Den Grundsätzen aller andern Parteien, der seinigen ausgenommen, Allgemeingültigkeit absprechen, und seine Partei für das einzig echt philosophische Publikum ansehen, setzt wahrlich eben keinen Scharfsinn voraus. Wer sich von der unumstößlichen Wahrheit seiner Behauptung überzeugt hält, der braucht nur zu wissen, daß die Behauptung eines andern das Gegenteil der seinigen ist, um dieselbe für falsch und durch die Gründe seiner eigenen Behauptung für widerlegt zu halten. Jene Dame auf der Sternwarte, die sich mit dem Mönche über einen Flecken in der Mondscheibe stritt, bedurfte eben keines Kopfbrechens, um sich zu überzeugen, daß sich ihr Gegner, der ein Paar Glockentürme gesehen haben wollte, geirrt hätte; denn sie hatte auf ebenderselben Stelle ein Paar Liebende bei einer Umarmung überrascht, welche eben darum keine Glok10 f. unbestimmte … Begriffe ] BM: unbestimmte und schwankende

Begriffe echt philosophische ] verbessert aus: ächtphilosophische seinigen ] verbessert aus: Seinigen dieselbe ] BM: jene zu halten ] nach BM verbessert aus: zuhalten Paar ] BM: paar hätte ] BM: habe Paar ] BM: paar

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kentürme sein konnten. Auch dürfte jener Bewohner von Bedlam 89, der den Wahnsinn seines sich für Gott-Vater haltenden Nachbars bedauerte, eben nicht gesünder als dieser sein. Es war genug, daß er als Gott-Sohn am besten wissen konnte, wie ungereimt und ungeheuer die Anmaßung jenes armen Sterblichen wäre. Ich gestehe es, daß ich mich dieser wirklich unhöflichen Vergleichung kaum erwehren kann, wenn ich einen auch sonst noch so guten Kopf von was immer für einer Partei im Kampfe mit andern Parteien gewahr werde, wie er über Stumpfsinn oder Hartnäckig | keit seiner Gegner klagt, es so ganz unbegreiflich fi ndet, daß sich dieselben so einleuchtenden Gründen, als die seinigen sind, nicht ergeben wollen, und mit triumphierender Miene, das Feld behauptet zu haben, prahlt, wenn sie ihm das letzte Wort gelassen haben. Der echte philosophische Kopf respektiert seinen Geistesverwandten unter was immer für einer Sekte; er weiß, daß kein denkender Kopf einen Irrtum behaupten könne, ohne nicht denselben auf eine zwar einseitig aber darum gleichwohl nicht ganz unrichtig gesehene Wahrheit zu stützen. Solange er nun nicht das Wahre ausfi ndig gemacht, auf welches die Hauptsätze der übrigen Parteien hindeuten, solange er nicht den Punkt des gemeinschaftlichen Mißverständnisses entdeckt hat, welches die Parteien hindert, das Gegründete, das jeder eigentümlich ist, gemeinschaftlich einzusehen, so lange vermutet er, daß auch sein Hauptsatz, bei allem Unstreitigen, das er enthält,

2 Gott-Vater ] verbessert aus: Gott Vater 4 Gott-Sohn ] verbessert aus: Gott Sohn 6 wäre. Ich … daß ] BM: wäre. – Ich gestehe, daß 12 seinigen ] verbessert aus: Seinigen 17 ohne nicht denselben ] BM: ohne denselben 18 f. gleichwohl … gesehene ] BM: gleichwohl richtig gesehene 20 f. auf welches … hindeuten ] BM: welches den Hauptsätzen der

übrigen Parteien zum Grunde liegt 23 Gegründete ] BM: Wahre 23 jeder ] nach BM verbessert aus: jeden

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etwas Falsches mit sich führen könne, welches andere gute Köpfe hindert, seinen Hauptsatz anzunehmen; so lange sieht er sich selbst nur für bloße Partei an, die, nicht durch eine Fehde, welche alle übrigen [Parteien] aufreiben soll, sondern durch Ausmittelung, welche allen Gerechtigkeit widerfahren läßt, mit den übrigen ausgeglichen werden kann. Wer seine Untersuchung über die großen Hauptfragen der spekulativen Philosophie noch nicht abgeschlossen und einstweilen nur dasjenige System angenommen hat, das er für das wahrscheinlichste und in praktischer Rücksicht für das beste hält, dem kann es ohnehin nicht einfallen, die Allgemeingültigkeit dieses seines einstweiligen | Systems für ausgemacht zu halten. Wenn aber das endliche Resultat seiner vollendeten Untersuchung die Annahme eines der bisher (v o r der Kritik der Vernunft) aufgestellten, die Erkenntnisgründe der Grundwahrheiten der Religion und der Moral betreffenden Systems, oder eines der bisher sogenannten ersten Grundsätze der Moral und des Naturrechts sein soll, so wird er notwendig zu einer der vier Hauptparteien gehören und seine Überzeugung (wenigstens für sich selbst) gegen die Einwürfe aller drei übrigen Parteien rechtfertigen müssen. Er mag noch so feierlich protestieren, daß er keiner Partei angehöre; er mag sein System von jedem bisher angenommenen noch so sorgfältig auszuzeichnen suchen; er mag seiner Überzeugung eine noch so eigentümliche unsystematische Form geben und die metaphy1 Falsches ] BM: Falschheit 2 hindert, … Hauptsatz anzunehmen ] BM: hindert, denselben an-

zunehmen 8 f. abgeschlossen … dasjenige ] BM: abgeschlossen, sondern nur

einstweilen dasjenige 12 einstweiligen ] BM: einstweiligen 14 f. bisher … aufgestellten ] BM: bisher aufgestellten 16 Moral ] BM: Moralität 17 ersten Grundsätze ] BM: ersten Grundsätze 19 vier Hauptparteien ] BM: vier bisherigen Hauptparteien 20 Überzeugung … gegen ] BM: Ueberzeugung gegen

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sischen Grundlinien derselben durch Künste des Witzes und Zauberei der Phantasie noch so unkenntlich machen, so wird er gleichwohl seine Antwort, z. B. über die Frage vom Dasein Gottes, auf das Fundament entweder des dogmatischen Theismus oder des Atheismus oder des Supernaturalismus oder des dogmatischen Skeptizismus gründen müssen. Denn entweder hat er jene Frage durch Vernunftgründe beantwortlich gefunden oder nicht. Im ersten Falle glaubt er entweder das Dasein eines oder keines von der Natur verschiedenen Gottes zu wissen, und ist dann entweder Theist oder Atheist;* im zweiten | Falle nimmt er entweder Gründe für das Dasein Gottes an, die außer dem Gebiete der Vernunft liegen, oder schlechterdings gar keine und ist folglich entweder Supernaturalist oder dogmatischer Skeptiker. Ein denkender Kopf, der noch zur Zeit keine dieser Parteien ergriffen hat und folglich von der gänzlichen Niederlage aller, die einzige, zu der er gehört, ausgenommen, noch nicht überzeugt ist, muß sich durch die Notwendigkeit, einer dieser vier Hauptparteien angehören zu müssen, in keine geringe Verlegenheit versetzt fühlen.** Denn für welche derselben er sich auch erklären mag, so hat er nicht etwa den großen Haufen des philosophischen Publikums, sondern drei Vierteile des hohen Rates der Selbstdenker gegen sich, und er hat Sätze zu verteidigen, die in der philosophischen Welt durch eine sehr auf* Oder seine Phantasie müßte eine Schöpfungskraft besitzen, die man bisher selbst der Gottheit absprach, nämlich das Vermögen, das Widersprechende z. B. in dem Begriffe eines Gottes zu verein|baren, der zugleich Natur und nicht-Natur wäre. In diesem Falle würde aber dies Produkt der Phantasie in einer noch so schön gedichteten Rhapsodie sowohl die Philosophen von Profession als auch Leser von einem bloß gesunden, aber nicht ganz unkultivierten Menschenverstande, wenigstens denjenigen Gegenstand vermissen lassen, für welchen der Sprachgebrauch die Benennung Gott festgesetzt hat. ** Von der Aushülfe, welche die Popularphilosophie in dieser Verlegenheit anzubieten hat, wird ein paar Seiten weiter unten die Rede sein.

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fallende völlig entschiedene Mehrheit unter gleich wichtigen Stimmen verworfen sind. Sei es, daß diese Mehrheit der Stimmen keine Widerlegung des von ihm angenommenen Systemes ist, so ist sie doch offenbar | ein merkwürdiger, höchst bedenklicher äußerer Grund gegen dasselbe, den er so lange gelten lassen muß, bis er nicht durch eine vollendete Untersuchung, bei welcher er aber jede Partei abgehört haben müßte, überzeugt ist, daß sich die philosophierende Vernunft nur durch das eine Vierteil ihrer Repräsentanten erklärt habe. Bis dahin muß er es als möglich annehmen, daß sie über jene großen Fragen zur Zeit noch gar nichts entschieden habe, indem sie sich unmöglich selbst widersprechen kann; oder daß sie sich nur durch dasjenige, worüber drei Parteien gegen eine einzige einig sind, habe vernehmen lassen. Es wird aber jedes der vier Hauptsysteme nur von einer einzigen Partei behauptet und von dreien einstimmig verworfen. Es wäre also insoferne durch einen Ausspruch der philosophierenden Vernunft selbst allen bisher aufgestellten Systemen Allgemeingültigkeit abgesprochen. _________________ Wer sich noch nicht im unstreitigen Besitze allgemeingültiger Erkenntnisgründe und Grundsätze zu befi nden glaubt, der kann wenigstens nicht von der Wirklichkeit solcher Erkenntnisgründe und Grundsätze auf die Möglichkeit derselben schließen. Wer hingegen diese Möglichkeit aus inneren Gründen so deutlich erkennt, daß er sich selbst und andern darüber Rechenschaft zu geben vermag, der muß eben darum und dadurch diese Erkenntnisgründe und Grundsätze gefunden haben. Denn indem sie notwendige Sätze sein würden, so müßte ihre Wirklichkeit durch ihre bloße Möglichkeit eingesehen werden. Sie müß | ten in dem bestimmten Begriffe ihrer Möglichkeit als 1 gleich wichtigen ] BM: gleichwichtigen 6 er nicht durch ] BM: er durch 15 dreien einstimmig ] BM: dreien aber einstimmig 20 Wer ] in BM folgt dieser Absatz ohne Trennlinie unmittelbar auf den

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Bestandteile desselben selbst vorkommen, oder dieser Begriff würde unbestimmt und folglich zu einer deutlichen Erkenntnis ganz untauglich sein. Die Überzeugung von der Wirklichkeit und der Möglichkeit allgemeingültiger Prinzipien ist so ganz unzertrennlich, daß sich unmöglich die eine ohne die andere denken läßt. Wer also noch nicht von der Wirklichkeit allgemeingültiger Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität und allgemeingültiger erster Grundsätze der Moral und des Naturrechtes überzeugt ist, der kann auch nicht von der Möglichkeit derselben durch innere Gründe überzeugt sein, sondern er muß sie, in wieferne er vom Gegenteil ebensowenig überzeugt ist, b e z w e i f e l n . Dieser Zweifel, welchen ich den kritischen nenne, und der durch die nähere Betrachtung des bisherigen Zustandes der Philosophie gewiß in jedem parteilosen Gemüte entsteht, kann sowohl nach seinem Wesen als auch nach dem wohltätigen Einflusse, den er auf eine bevorstehende Reformation der Philosophie haben muß, nicht bestimmter erkannt werden, als wenn man ihn von zwei anderen Arten von Zweifeln, dem dogmatischen und dem unphilosophischen, genau unterscheidet und mit beiden kontrastieren läßt. Der dogmatische Skeptizismus macht selbst eine der vier Hauptparteien der philosophischen Welt aus, die durch ihren Streit untereinander zu jenem wichtigen Zweifel des kritischen Skeptizismus Veranlassung geben. Er führt den Namen des dogmatischen, weil er es zu demonstrieren | unternimmt, daß man an der objektiven Wahrheit, das heißt, an der reellen Übereinstimmung unsrer Vorstellungen mit den Gegenständen derselben ewig zweifeln müsse.* Die Unerweislichkeit der objektiven

* Der konsequente dogmatische Skeptiker leugnet eigentlich nichts als die Erweislichkeit der objektiven Wahrheit, und also insoferne nicht einmal die objektive Wahrheit selbst, wenn nicht etwa dieser Ausdruck für Erkenntnis der objektiven Wahrheit genommen wird. Die objektive Wahrheit selbst wird von ihm bloß bezweifelt, 35 aber mit einem seinem Grunde nach unauflöslichen Zweifel.

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35 nach ] nach BM verbessert aus: noch

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Wahrheit ist das Dogma dieser Sekte, welches, sobald es einmal angenommen ist, nur durch eine offenbare, aber darum nicht weniger gewöhnliche Inkonsequenz mit philosophischen Überzeugungen bestehen kann, bei welchen Notwendigkeit und Allgemeinheit vorausgesetzt wird. So ist z. B. die Notwendigkeit und Allgemeinheit des moralischen Gesetzes und folglich das moralische Gesetz selbst, ohne die Erweislichkeit seiner objektiven Wahrheit ebenfalls unerweislich. Der kritische Skeptizismus bezweifelt, was der dogmatische für ausgemacht hält; er sucht Gründe für die Erweislichkeit der objektiven Wahrheit auf, während dieser Gründe der Unerweislichkeit derselben zu besitzen glaubt; der eine führt und nötigt zur Untersuchung, die der andere für vergeblich und überflüssig erklärt und folglich, soviel [es] an ihm liegt, unmöglich macht. So viel sich auch gegen den dogmatischen Skeptizismus, sowohl in Rücksicht seiner Gründe als seiner Folgen (die, wenn er je allgemein werden könnte, für alle Philosophie verderblich wer | den müßten), mit Recht einwenden läßt, so wenig kann man ihm den Namen eines wirklich philosophischen Systemes absprechen; und der kritische Skeptiker ehrt an dem dogmatischen eine der vier Zünfte, in welche das eigentliche philosophische Publikum sich bisher teilen mußte, und die aus vier, teils entgegengesetzten, teils verschiedenen Gesichtspunkten diejenige Wahrheit erforscht und entdeckt haben, die der kritische Skeptiker nur so lange bezweifelt, bis er den gemeinschaftlichen, alle vier einseitigen [Gesichtspunkte] vereinigenden Gesichtspunkt gefunden hat. Von ganz anderer Beschaffenheit ist der Zweifel, den ich durch den Namen des Unphilosophischen bezeichne. Er hat mit dem dogmatischen nichts gemein, als daß er bisweilen die philosophische Erweislichkeit der objektiven Wahrheit leugnet, und mit dem kritischen nichts, als daß er die philosophischen Gründe der bisherigen Systeme bezweifelt. Er protestiert gegen jedes 8 unerweislich. Der ] BM: unerweislich. – Der 11 dieser Gründe ] BM: der letztere schon Gründe

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derselben, ungeachtet er sich wirklich mit jedem verträgt, indem er es eigentlich nicht soviel mit den Systemen selbst, als mit ihren Gründen zu tun hat, denen er keine Gründe, sondern das ihm selbst unerklärbare Etwas, das ihm gesunder Menschenverstand heißt, entgegensetzt. Die sich selbst so nennenden Skeptiker dieser Art machen daher keine abgesonderte Partei in der philosophischen Welt, aber doch eine besondere Klasse von jeder Partei aus, die größtenteils aus dem Pöbel besteht. Sie beweisen den Theismus, Atheismus, Supernaturalismus und dogmatischen Skeptizismus durch Aussprüche des gesunden Menschenverstandes und sind nur darüber unter sich einig, daß die philosophie | rende Vernunft oder, wie sie es nennen, die grübelnde Metaphysik, nichts aufzubringen vermöge, was nicht widerlegt oder wenigstens bezweifelt werden könnte, während von dem gesunden Menschenverstande, der alles Metaphysizieren entbehrlich machte, keine Appellation stattfände. Es ist dies der so sehr gerühmte und so eifrig gepredigte Skeptizismus der Popularphilosophie, die, seitdem die wolffische Schule zu herrschen aufhörte, auf unsren Akademien so vielen Eingang gefunden hat und von ihren Aposteln für den eigentlichen Vorzug ausgerufen wird, der unsrem Zeitalter den Ehrennamen des Philosophischen verschafft hätte. Die fortdaurenden, mit jedem Fortschritt des menschlichen Geistes zunehmenden Streitigkeiten der Parteien, die durch so viele schätzbare, von tiefsinnigen Köpfen zum Vorteil ihrer Systeme geschriebene Werke überhandgenommene Schwierigkeit, diese Systeme zu verstehen, geschweige dann zu widerlegen; die Verzweiflung, allgemeingeltende Prinzipien je aufstellen zu können; das Be2 nicht soviel mit ] BM: nicht sowohl mit 4 Etwas ] nach BM verbessert aus: etwas 8 Pöbel besteht ] BM: Pöbel derselben besteht 15 f. Metaphysizieren ] nach BM verbessert aus: metaphysiziren 24 f. so viele … zum ] BM: so viele tiefsinnige zum 25 ihrer Systeme ] BM: jedes Seystemes 26 Werke … Schwierigkeit ] BM: Werke größer gewordene Schwie-

rigkeit

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streben, bei der sich durch alle Stände verbreitenden Kultur, von einem zahlreichen Publikum gelesen zu werden, und in einem Zeitalter, wo Sachkenntnis, Erfahrung, Beobachtung die Losungsworte dieses leselustigen Publikums geworden sind, sich und seinen Lesern das Denken zu ersparen –, haben mit noch einigen Umständen zusammengenommen den Skeptizismus der Popularphilosophie erzeugt und großgezogen, der die Möglichkeit allgemeingeltender Grundsätze der Philosophie geradezu leugnet, dafür aber an dem gesunden Menschenverstande ein untrügliches Orakel entdeckt zu haben glaubt, dessen Aussprü | che sich eben durch ihre Unerklärbarkeit und Unerweislichkeit in seinen Augen als die echten Prinzipien alles Erklärens und Erweisens rechtfertigen. Was er leicht verstehen zu können glaubt, ist ihm entweder selbst ein solcher Ausspruch oder wenigstens ein aus demselben abgeleiteter Folgesatz; alles hingegen, was mehr als gewöhnlichen Aufwand der Denkkraft zu fordern scheint, und wäre es auch selbst ein Beweis von einer seiner eigenen Behauptungen, ist für ihn Gegenstand seines Zweifelns und wird von ihm als eine dem gesunden Menschenverstande widersprechende Grübelei abgewiesen. Daher sein Haß und seine Verachtung gegen die Metaphysik, in wieferne dieselbe mehr als ein Katechismus seiner Popularphilosophie ist und sich nicht bloß mit dem Gedächtnisse studieren läßt; daher sein ewiges Deklamieren gegen Spitzfi ndigkeit, Spekulation und Systeme; wobei er aus sehr begreiflichen Ursachen den großen Haufen der Halbgelehrten und Halbwisser, die sich gerne die große Welt nennen hören, auf seiner Seite hat. Man fühlt sich zwar zur Satire gereizt, wenn man sich so manchen schulgerechten Metaphysiker vorstellt, der, sein Kompendium unter dem Arme, in seinem Hörsaale oder vor dem gesamten Publikum mit einer Miene auftritt, die den wichtigen Einfluß ankündigen soll, den der Mann im Kabinette der Königin aller Wissenschaften zu besitzen glaubt. Mir fällt dann der kleine Nabob von Natches ein, der mit jeder Morgenröte, den 34 Natches ] BM: Natsches

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Szepter in der Hand, vor dem Tore seines Palastes erscheint, um in Kraft seiner Machtvollkommenheit der Sonne den Pfad vorzuzeichnen, den sie den | Tag über durchlaufen soll.90 Auch wünschte man wohl ein Juvenal 91 zu sein, wenn man das Schicksal der Metaphysik auf unsren zahllosen Marktplätzen der Wissenschaften, Universitäten genannt, bedenkt, wo sie von so manchem ihrer Verkäufer als der vornehmste Warenartikel ausgerufen wird, vorausgesetzt, daß sie in der Bude desselben, wo sie allein aufrichtig zu haben ist und nicht in der Bude seines Nachbarn gekauft wird. Die Metaphysik, die von solchen Männern in den Rang der Universalarzneien erhoben wird, belohnt diese ihre Fabrikanten und Faktoren mit der Würde der Quacksalber. Allein ebenso schwer wird es mir, dieser Gemütsstimmung zu widerstehen, wenn ich den regen Eifer betrachte, womit gewisse seinwollende Sokrate 92 unsrer Zeit beschäftigt sind, die Metaphysik durch gesunden Menschenverstand aus der Philosophie zu verdrängen, alles Wissenschaftliche zu popularisieren und, was sich nicht popularisieren läßt, als ungereimt zu verspotten oder als gefährlich zu verschreien. Sie nötigen freilich die Philosophie aus den höheren Gegenden der Spekulation herunter, indem sie ihr nichts weiter zu tun geben, als gewisse von Staat und Kirche privilegierte Dogmen unter dem Vorsitz des gesunden Menschenverstandes zu demonstrieren; wobei ihnen dann Muße genug übrig bleibt, um über die verschiedenen Einkleidungen nachzusinnen, unter welchen sie ihren Zögling, die popularisierte Philosophie, in die Kotterien der feinen Welt und in die Werkstätte der Handwerker, an die Putztische der Damen und in die Spinnstuben einzuführen hoffen. Umsonst würde man diese Reformatoren zu bedenken bitten, ob es denn nicht gleichwohl ratsam wäre, wenigstens eine gewisse Art | von Philosophie in 4 über … soll ] BM: über zu durchlaufen hat 8 vorausgesetzt, ] BM: vorausgesetzt nemlich, 8 daß ] nach BM verbessert aus: das 8 f. sie in … wo ] BM: sie in seiner Bude, wo

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den höheren Gegenden der Spekulation verweilen zu lassen, indem man von dort aus allein im Stand wäre, das ganze Gebiet des menschlichen Wissens zu überschauen und allenfalls den Gesichtspunkt ausfi ndig zu machen, aus welchem sich alles Richtige, was von den einzelnen Parteien einseitig gefunden wurde, zusammenfassen ließe. Der Versuch, den Streitigkeiten der Parteien ein Ende zu machen oder vielmehr das Mißverständnis der Vernunft, durch welches diese Streitigkeiten unterhalten wurden, zu heben, scheint diesen Welt- und Menschenkennern ein Vorhaben zu sein, dem sie noch zu viel Ehre erwiesen, wenn sie es mit dem Projekte einer Vereinigung der im H. R. Reiche privilegierten Glaubensbekenntnisse in eine Klasse setzten. Sie sehen jene Streitigkeiten als wirklich beendigt an, seitdem sie auf den glücklichen Einfall geraten sind, die Entscheidung derselben dem von ihnen aufgestellten Gerichtshofe des gesunden Menschenverstandes zu übertragen, und seitdem dieser oberste Richter in Sachen der Vernunft und des Glaubens zum Vorteil ihrer Kompendien entschieden hat, wie dies aus dem Stempel der Popularität zu ersehen wäre, der besagten Kompendien zum Zeichen ihres ausschließenden Privilegiums so sichtbar aufgedrückt sei. Der Umstand, daß die drei übrigen Parteien gegen diese Entscheidung protestieren, hat in den Augen der Popularphilosophen soviel als nichts zu bedeuten, indem durch den erwähnten Richterspruch des gesunden Menschenverstandes das gesamte Gebiet der eigentlichen Philosophie von den drei differenzierenden und als unphilosophisch erklärten Parteien gereinigt und den berühmten Stiftern der Popularphilosophie samt ihren | Erben und Anhängern auf ewige Zeiten eingeräumt sein soll.

2 wäre ] BM: sei 12 H. R. ] nach BM verbessert aus: h. r. |

Römischen 22 drei übrigen ] BM: übrigen drei 29 sein soll ] BM: worden ist

H. R. ] Abk. für: Heiligen

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So p o p u l ä r nun aber auch diese Gründe an sich selbst sein mögen, so können sie gleichwohl nur diejenigen befriedigen, die nicht wissen, daß auch sogar ebenderselbe Weg der Appellation an den gesunden Menschenverstand von jeder der drei übrigen Parteien eingeschlagen ist, und daß jede derselben von diesem Richterstuhle eine für ihre Sache gleich vorteilhafte Entscheidung aufweist. In der Tat kann der Supernaturalismus mit Grund auf den Besitz einer überwiegenden Mehrheit der Stimmen trotzen, die er dem gesunden Menschenverstande, der sogenannten orthodoxen von allen christlichen Sekten verdankt. Was aber dem Atheismus und dogmatischen Skeptizismus an der Zahl seiner Anhänger gebricht, das behaupten die letztern durch das Gewicht der Stimmen zu ersetzen, womit sich der gesunde Menschenverstand der feinen und g r o ß e n Welt für die Hauptlehren dieser Systeme erklärt, seitdem diese unter den Händen der französischen Starkgeister einen Grad von Popularität erhalten haben, durch welchen sie auch in diesem Punkte dem Theismus den Vorzug streitig machen dürften.* Wenn es nun mit diesen etwas bedenklichen Umständen seine volle Richtigkeit hätte, so dürfte der popularisierte Theis | mus dadurch, daß er unsre Damen in Stand setzt, ohne alles Kopfbrechen das Dasein Gottes zu demonstrieren, und durch alle Reize, die er für den gerechten Stolz unsers philosophischen Zeitalters haben muß, gleichwohl nicht so ganz gesichert sein, als unsre Demagogen zu glauben scheinen, – weil sich die Schnellgläubigkeit, die Abneigung vor Demonstration und aller Schulform, und der Freiheitssinn, drei nicht weniger als jener Stolz entschiedene Vorzüge unsers Zeitalters, mit gleichem Nachdruck und Erfolg für * In der Hauptstadt der feinen Welt ist der popularisierte dogmatische Skeptizismus, der vor dem Atheismus so manches an Bequemlichkeit und Sicherheit voraus hat, ungefähr zu gleicher Zeit mit seinem Landesgenossen, dem Redingot, Mode geworden.93

12 die letztern ] BM: diese 15 diese ] BM: dieselben 32 Redingot ] BM: Ridingcoat

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die popularisierten Reize des Supernaturalismus, des dogmatischen Skeptizismus und des Atheismus erklären müssen. So sehr ich daher geneigt bin, den gesunden Menschenverstand unsrer Popularphilosophen, der, von allen Parteien zu Hülfe gerufen, jeder Partei zu Hülfe kömmt, für die Seele derjenigen Philosophie zu halten, die, wie man mit Recht von ihr anrühmt, alle Formen und Gestalt anzunehmen, geschickt ist, so wenig kann ich mich überreden, daß er darum, weil er sich mit jeder Sekte so wohl verträgt, den durch ihn erwarteten Frieden unter denselben herbeizuführen vermöge. Er scheint vielmehr den Streit lebhafter und allgemeiner machen zu müssen, indem er die Gründe von jeder Partei durch das Gewicht seines Ansehens und die Zahl ihrer Anhänger durch seine Popularität verstärkt. Der Ton wenigstens, der in den Schriften der Popularphilosophen herrscht, ist in eben dem Verhältnisse, als unsre Philosophie an Popularität gewonnen hat, bitterer, leidenschaftlicher, kriegerischer geworden. Man hat es nicht mehr, wie sonst, mit der Metaphysik seines Gegners, man | hat es mit dem Kopfe desselben zu tun, und wenngleich nicht zu leugnen ist, daß die populäre Art zu disputieren an Nachdruck und Kürze vieles vor der metaphysischen voraushat, so würde sie gleichwohl schon darum weniger geschickt sein, den Streit seiner Entscheidung näher zu bringen, weil der größere Teil der Kämpfer von jeder Seite (zumal bei dem gegenwärtigen hohen Ansehen des gesunden Menschenverstandes) geneigter sein müßte, seine Metaphysik als seinen gesunden Menschenverstand preiszugeben. Man wird mir hoffentlich diese kleine Herzenserleichterung vergeben, zu welcher sich im Verfolg dieses Werkes nicht leicht eine schicklichere Gelegenheit fi nden dürfte. Es ist nicht meine Schuld, wenn sich der Popularphilosoph in dem Spiegel, den ich ihm hier vorgehalten habe, mißfällt. Wirklich ist der Geist seiner Philosophie kaum einer andern Darstellung fähig. Er hat kein System, das zergliedert, keine Grundsätze, 9 so wohl ] nach BM verbessert aus: sowohl

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die in irgendeiner Ordnung aufgeführt, kein Ganzes, das aus was immer für einem Gesichtspunkte zusammengefaßt werden könnte. Das synkretistische übelzusammengestoppelte Aggregat unbestimmter vieldeutiger Sätze, mit dem er unter dem Namen eklektischer Weltweisheit prahlt, und das er durch seine ewigen Protestationen gegen Spitzfi ndigkeit und Grübelei vor aller Prüfung zu verwahren sucht, kann wohl von keinem, dem Philosophie am Herzen liegt und der Spitzfi ndigkeit von Gründlichkeit, Grübeln von Denken zu unterscheiden weiß, ohne Spott oder Unwillen beleuchtet werden. Gleichwie nun der dieser Unphilosophie eigentümliche Zweifel an allem, was Nachdenken | kostet, alle Untersuchung tötet, der Zweifel des dogmatischen Skeptizismus aber seinem Grunde zufolge ewig unauflöslich bleiben muß, so macht hingegen der kritische Zweifel, der durch eine philosophische Vergleichung der vier bisherigen Hauptsysteme entsteht, eine Untersuchung von ganz neuer Art unvermeidlich und führt das dringendste Bedürfnis seiner Auflösung mit sich. Während der dogmatische Skeptiker sich nur für eine einzige Partei erklärt, der unphilosophische aber alle viere zugleich bestreitet und verteidigt, und folglich beide alles beim Alten bewenden lassen, erhebt sich der kritische über jede Partei, nicht um eine derselben oder alle zu bestätigen, oder um drei derselben oder alle zu widerlegen, sondern um von ihnen allen zu lernen und durch die genauste Vergleichung ihrer Vorstellungsarten das Übereinstimmende sowohl als das Widersprechende in denselben hervorzuziehen. Ob dieses Übereinstimmende durch nähere Bestimmung zu einer Evidenz gebracht werden könne, bei deren Lichte die Scharfsichtigern von jeder Partei das durch Einseitigkeit entstandene Widersprechende ihrer bisherigen Vorstellungsarten einzusehen und hinwegzuräumen in Stand gesetzt würden; oder, welches ebensoviel heißt, ob sich 9 Grübeln von Denken ] BM: Denken von Grübeln 29 Scharfsichtigern ] nach BM verbessert aus: scharfsichtigern 31 hinwegzuräumen ] BM: wegzuräumen

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die Streitfragen der Parteien durch künftig zu entdeckende allgemeingültige Prinzipien entscheiden lassen, kann der kritische Skeptiker v o r jener Untersuchung weder bejahen noch verneinen, sondern er bezweifelt es, aber wie gesagt mit einem Zweifel, der so wenig der Untersuchung Hindernisse in den Weg legt, daß diese vielmehr ohne ihn ganz unmöglich sein würde. Denn wer sucht, was er ent | weder schon zu besitzen oder niemals fi nden zu können glaubt?

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§3 Das Interesse der Wissenschaften von unseren Pflichten und Rechten in diesem und [von] dem Grunde unsrer Erwartung für ein zukünftiges Leben, und folglich auch das höchste Interesse der Menschheit, schafft diesen kritischen Zweifel in die bestimmte Frage um: Wie sind jene allgemeingültigen Erkenntnisgründe und Grundsätze möglich? Man hat den Verfasser der Kritik der Vernunft und die Freunde seiner Philosophie beschuldigt, daß sie die Glaubwürdigkeit der Grundwahrheiten der Religion und der Moralität einzig auf das Interesse gründeten, welches die Menschheit an diesen Grundwahrheiten nehmen müßte. Ich kann mich hier keineswegs auf eine Erörterung der Frage einlassen, ob und in wieferne diese Beschuldigung die kritischen Philosophen treffen könne. Ich erinnere hier nur, daß man das allgemeine und notwendige Interesse der Menschheit, in wieferne dasselbe Untersuchung gebietet, und wovon hier allein die Rede ist, von ebendemselben Interesse, in wieferne es irgendeinen Glauben notwendig machen soll, wohl unterscheiden müsse. Ich habe gewiß den besseren Teil meiner philosophierenden Zeitgenossen auf meiner Seite, wenn ich das Interesse der 8 glaubt? ] Schluß von BM signiert mit: Jena, d. 20 Mai. Reinhold 10–15 NDM1 hebt Absatz nicht besonders hervor 23 daß ] nach NDM1 verbessert aus: das

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Sittlichkeit (oder, welches ebendasselbe ist, das Interesse der Menschheit, das nur insoferne nicht mißverstanden werden kann, | als dasselbe durch Sittlichkeit bestimmt wird) für den Kompaß halte, ohne welchen man sich nicht ungestraft auf den Ozean menschlicher Meinungen beim Studium der Philosophie wagen kann; und wenn ich behaupte, daß Prinzipien, die mit jenem Interesse der Menschheit streiten, weder allgemeingültig sein noch allgemeingeltend werden können. Noch viel gewisser aber werden mir alle philosophischen Parteien (die dogmatischen und unphilosophischen Skeptiker ausgenommen, deren Platz aber durch die kritischen sehr ehrenvoll ersetzt wird) beistimmen, wenn ich hier als ausgemacht annehme, daß die Entdeckung allgemeingültiger Prinzipien (die ihre Allgemeingültigkeit dadurch bewährten, daß sie wirklich allgemeingeltend würden) die Wissenschaften unsrer Pflichten und Rechte usw. in den Rang der eigentlichen Wissenschaften, den sie bisher nur dem Namen nach besaßen, erheben und denselben einen Einfluß und eine Würde verschaffen müßte, die auch ihre eifrigsten Sachwalter bis jetzt kaum für möglich gehalten haben, – und daß folglich diese Entdeckung vielleicht das wichtigste Geschenk sein dürfte, das der Menschheit von einem Menschen gemacht werden kann. Man vergesse nicht, daß hier auch nur von Prinzipien die Rede ist. Selbst diejenigen, welche den Frieden auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie für eine Schimäre und den Streit der Philosophen für notwendig endlos ansehen, gestehen doch wenigstens so viel ein, daß unter den Streitenden selbst Einverständnis über Prinzipien möglich und notwendig sei,* wenn nicht der ganze | Streit zwecklos und ungereimt sein * Wer unterschreibt nicht das alte Sprichwort: Contra principia negantem non est disputandum? 94

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dem ] nach NDM1 verbessert aus: den müßte ] NDM1: müßten hier auch nur ] NDM1: hier nur Prinzipien ] verbessert aus: Principen

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und durch die Fortdauer desselben, anstatt der ewigen Annäherung zur Wahrheit, vielmehr immer zunehmende Entfernung von derselben bewirkt werden soll. Jeder Streit, der nur durch den Mangel des Einverständnisses über Prinzipien unterhalten wird, fällt mit diesem Mangel nach und nach von selbst weg, und er führt den Frieden von dem Zeitpunkte an herbei, wo er die glückliche Wendung gewonnen hat, durch welche die Streitenden auf den Punkt des Mißverständnisses aufmerksam gemacht und zum Einverständnis über Prinzipien gelenkt werden. Man besorge übrigens nicht, daß das Ende der Streitigkeiten unter den vier Hauptparteien, oder vielmehr das Ende dieser Parteien selbst, den Gang der Entwicklung des menschlichen Geistes, der durch diese Streitigkeiten bisher befördert wurde, hemmen dürfte. Diese Streitigkeiten waren nur so lange unentbehrlich und unvermeidlich, als sich der menschliche Geist noch nicht bis zum Erkenntnisse allgemeingültiger Prinzipien emporgeschwungen hat. Sobald er aber über diese mit sich selbst einig ist, hat er sich durch diesen Besitz selbst seines künftigen Fortschreitens versichert. Er hat dann die Bestimmung seines Ganges in seiner eigenen Gewalt, ohne die Beförderung desselben, wie sonst, von zufälligen Entdeckungen und ungewissen Versuchen allein erwarten zu dürfen. Am Leitfaden seiner Prinzipien durchwandert er dann das grenzen-, aber nicht bodenlose Feld der Erfahrung, welches ihm eine seinen Kräften angemessene Beschäftigung für eine ganze Ewigkeit anzubieten hat, von der er sich umso größeren Erfolg versprechen kann, je weniger er durch unsicheres Herumtappen und vergebliches Streiten auf dem Felde | der bloßen Spekulation Zeit und Kräfte versplittern wird. Ob und was die Moral und das Naturrecht durch allgemeingültige erste Grundsätze, Religion und Moralität, durch allgemeingültige Erkenntnisgründe gewinnen würden, kann hier wohl keine Frage sein; zumal keine Frage für diejenigen, welche mit mir überzeugt sind, daß alle unsere bisherigen sogenannten Systeme der Moral und des Naturrechtes nichts weiter als bloße wissenschaftliche Versuche, systemartig geord-

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nete Aggregate, mehr oder weniger bearbeitete Materialien für künftige Wissenschaften und nichts weniger als eigentliche Systeme und bereits vorhandene Wissenschaften sind, die auf inneren Zusammenhang, unerschütterliche Festigkeit und allgemeine Überzeugung Ansprüche machen könnten, – und daß endlich die Grundwahrheiten der Religion und der Moral aus Mangel allgemeingültiger Erkenntnisgründe bisher nur bloße Probleme und Streitfragen gewesen sind, bei welchen die Streitenden nicht einmal über den Begriff des Gegenstandes, worüber sie stritten, einig waren. Ich darf also ohne weitere Erörterungen und Beweise die Behauptung aufstellen, daß das höchst wichtige, notwendige und eben darum ewig fortwirkende Interesse, welches die Menschheit an den Wissenschaften der Moral und des Naturrechtes und an den Grundwahrheiten der Religion und der Moralität nimmt, hier alle Gleichgültigkeit, alles Dahingestelltseinlassen moralisch unmöglich mache und den Zweifel, ob auch allgemeingültige erste Grundsätze jener Wissenschaften und allgemeingültige Erkenntnisgründe jener Grund | wahrheiten möglich sind, in die bestimmte Frage umschaffe: W i e sind sie möglich? Ich sage: solange die Unmöglichkeit solcher Prinzipien nicht allgemeingültig erwiesen ist, so lange macht es jenes höchste Interesse jedem denkenden Kopfe zur Pflicht, die Möglichkeit derselben zu untersuchen, nicht vor aller Untersuchung als ausgemacht anzunehmen. Da in der philosophischen Welt über die wirkliche Allgemeingültigkeit bisher gefundener erster Grundsätze und Erkenntnisgründe nichts ausgemacht ist, so läßt sich (wenigstens von jemandem, der keiner Partei angehört) die Möglichkeit derselben keineswegs aus der Wirklichkeit schließen, sondern sie muß an sich selbst untersucht und erst gezeigt werden. Es frägt sich also nicht: sind solche Grundsätze und Erkenntnisgründe möglich? sondern: W i e sind sie möglich?

29 jemandem ] verbessert aus: jemand

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Und dieses Problem ist der Punkt, bei welchem die beiden schief entgegengesetzten Wege, welche die bisherigen philosophischen Untersuchungen über jene wichtigen Gegenstände genommen haben, sich endigen und gleichsam ineinander verlieren, der eine, auf welchem man den wirklichen Besitz jener Erkenntnisgründe und Grundsätze, und der andere, auf welchem man ihre Unmöglichkeit erweisen zu können glaubte. Wer sich mit der Auflösung jenes großen Problems beschäftigen will, muß auf eine Zeitlang aufhören, sowohl zur bejahenden als verneinenden Partei zu gehören; er muß weder Theist noch Supernaturalist, weder dogmatischer Skeptiker noch Atheist sein; er muß mit allen bisherigen Systemen brechen, ohne jedoch die Hoffnung aufzugeben, daß ein Sy | stem zu Stand kommen könne, welches alles Brauchbare und Wahre, das in den bisherigen enthalten ist, in sich vereinige. Indem er sich auf dem merkwürdigen, bisher von allen Philosophen (die kritischen Skeptiker ausgenommen) verfehlten Punkte befi ndet, von welchem jeder Schritt rückwärts auf einen der beiden Abwege führt, die sich immer weiter vom Ziele entfernen und ins unendliche Leere verlieren, so nötigt ihn das heiligste und wichtigste Interesse, das es für Menschen geben kann, den v o r ihm liegenden noch nie betretenen Weg vorwärts anzutreten oder, welches ebensoviel ist, den Versuch zu machen, jenes Problem aufzulösen. §4

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Um dieses Problem auflösen zu können, muß man vorher eine allgemeingültige Antwort auf die Frage: Was läßt sich überhaupt erkennen? oder: Welches sind die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens? gefunden haben. Wer überzeugt ist, daß das Problem: Wie sind allgemeingültige Erkenntnisgründe usw. möglich? durch das höchste Interesse der 26–29 NDM1 hebt Absatz nicht besonders hervor 31 usw. möglich? durch ] nach NDM1 verbessert aus: u. s. w. durch

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Menschheit in Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie aufgegeben sei, der muß auch annehmen, daß die Bedingungen (Data), die zur Auflösung desselben gehören, gegeben seien und gefunden werden können. Auch sogar derjenige, dem es an jener Überzeugung fehlt, muß, wenn anders sein Skeptizismus kritisch ist, wenigstens die Nichtunmöglichkeit dieser Bedingungen zugeben. | Diese Bedingungen nun können keineswegs außerhalb der Grenzen der Erkennbarkeit, im Gebiete des blinden Glaubens, auf dem Felde der Hyperphysik 95 gelegen sein. Denn gesetzt, auch die kritische Untersuchung fiele ganz zum Vorteil des Supernaturalismus aus, so müßten doch wenigstens die Data, aus welchen sich die Unentbehrlichkeit der Offenbarung ergäbe, im Umfange des Begreiflichen enthalten sein. Ebensowenig dürfen jene Bedingungen selbst in dem Gebiet des Erkennbaren, in wieferne dasselbe von der spekulativen Philosophie bisher bearbeitet worden ist, oder in der Metaphysik aufgesucht werden. Der kritische Skeptiker hat sich von allem bejahenden und verneinenden Dogmatismus losgesagt, dieser mag nun Theismus oder Supernaturalismus, Atheismus oder dogmatischer Skeptizismus heißen. Ihm ist auf dem gesamten Gebiete der Metaphysik kein Raum denkbar, der nicht von einer jener vier Hauptparteien eingenommen wäre. Er ist der einander widersprechenden und gleichwohl auf einem und ebendemselben Grund und Boden gefundenen angeblichen Wahrheiten überdrüssig geworden und hat auf immer das Feld verlassen, auf welchem keine anderen als solche Wahrheiten gefunden werden. Sein gerechtes Mißtrauen in die Metaphysik, welche die Spaltung der Selbstdenker in Parteien unterhält oder wenigstens nicht zu hindern, nicht zu beendigen vermag, hat ihn auf jenes wichtige Problem gebracht; wie könnte, wie dürfte er dasselbe durch Metaphysik aufzulösen hoffen? 25 und ebendemselben Grund ] NDM1: und eben denselben Grund 31 ihn ] nach NDM1 verbessert aus: ihm

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Da also die Data zur Auflösung unsers Problems weder außerhalb des gesamten Gebietes | der Erkennbarkeit noch innerhalb desselben, in wieferne es bisher bearbeitet worden, aufgesucht werden dürfen, müssen wir sie in bisher noch unbearbeiteten und in soferne noch unbekannten Gegenden dieses Gebietes aufsuchen.* Wenn man sich nun bei diesem Aufsuchen nicht außerhalb des Gebietes der Erkennbarkeit in den leeren Spielraum der Phantasie verirren will, so müssen vorher die Grenzen dieses Gebietes genau und bestimmt angegeben werden oder, welches ebensoviel heißt, man muß eine allgemeingültige Antwort auf die Frage ausfi ndig machen: Was ist überhaupt erkennbar? oder: Was ist unter Erkenntnisvermögen zu verstehen, und wie weit erstreckt sich dieses Vermögen? Vielleicht daß schon durch die Antwort auf dieses neue Problem auch das vorige aufgelöst wird. Soviel aber ist gewiß, daß dieses ohne jenes unmöglich aufgelöst werden kann. Ich gestehe gerne, daß die Aufgabe, die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens allgemeingültig zu bestimmen, für die meisten meiner Leser ziemlich abschreckend klingen müsse. Desto angenehmer, hoffe ich, sollen sie von der Leichtigkeit überrascht werden, welche sie bei der Auflösung selbst antreffen werden, die schon halb gefunden ist, wenn man nur den Sinn der Aufgabe richtig gefaßt hat und mit sich selbst darüber einig ist, was man unter Erkenntnisvermögen zu verstehen habe. | Den scheinbarsten Einwurf, der gegen die Möglichkeit einer völlig befriedigenden Auflösung dieser Aufgabe gemacht werden könnte, habe ich bei einer anderen Gelegenheit** erörtert; und da diese Erörterung hieher gehört, und ich keine bessere zu geben weiß, so mag sie hier mit einigen Veränderungen noch einmal vorkommen.97 *

Also weder Hyperphysik noch Metaphysik, sondern Kritik. Im ersten Briefe über die Kantische Philosophie, Teutscher Merkur, August 1786. 96 **

6 aufsuchen.* ] nach NDM1 ist Fußnote vom Ende des nächsten Absatzes, Z. 14, hierhin umgestellt.

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Alle wesentlicheren Schicksale, die unsre spekulative Philosophie bisher erfahren hat, mußten vorhergegangen sein, ehe man daran denken konnte, jenes Problem in seinem eigentlichen Sinne auch nur aufzuwerfen, geschweige denn aufzulösen. Alle diejenigen Philosophen, welche die Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und der Moralität, sowie die ersten Grundsätze der Moral und des Naturrechts bereits gefunden zu haben glaubten, konnten sich wohl nie einfallen lassen, sich selbst zu fragen, ob es der Vernunft möglich wäre, allgemeingültige Erkenntnisgründe und erste Grundsätze aufzustellen, – da sie ihre Vernunft im wirklichen Besitze solcher Erkenntnisgründe und Grundsätze glaubten. Und wäre ihnen diese Frage von andern vorgelegt worden, so würden sie statt aller Antwort ihre angeblichen Besitzungen aufzuweisen haben. Auf ebendieselbe Weise würden die Atheisten und Supernaturalisten verfahren sein, welche ebenfalls jener Frage durch entscheidende Antworten, wiewohl von ganz anderer Art, zuvorgekommen sind. Gleichwohl bestand die philosophische Welt bisher größtenteils aus Dogmatikern, so daß man vielleicht | auf einen Skeptiker hundert Dogmatiker zählen dürfte. Allein dieser so breite und so stark betretene Weg des Dogmatismus war vor der Vorlegung und Auflösung unsers Problems nicht nur unvermeidlich, sondern sogar als eine entfernte Vorbereitung desselben unentbehrlich. Ohne den durch die süße Einbildung gefundener Wahrheit unterstützten und belebten Eifer der Dogmatiker würden jene zahlreichen und zum Teil bewundernswürdigen Vorübungen des menschlichen Geistes nicht zu Stand gekommen sein, denen die Vernunft den Grad von Entwicklung verdankt, der bei größeren Unternehmungen vorausgesetzt wird. Während dieser langwierigen Periode bestand das Verdienst des Skeptizismus größtenteils darin, daß er die Dogmatiker teils ihre Beweise zu schärfen zwang, teils aber gewissermaßen in Schranken erhielt. Nie aber vermochte er’s, 14 aufzuweisen ] NDM1: aufgewiesen 33 vermochte ] NDM1: vermogt

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ihnen ihre angeblichen Erkenntnisse zu entreißen. Er hatte ihnen nichts besseres dafür zu geben und würde auf die Frage: was ist erkennbar? geantwortet haben: Nichts! oder aufs höchste: Ich weiß es nicht! So metaphysisch die Frage klingt: Was vermag die Vernunft? so laut ertönt sie gegenwärtig durch die Stimme unsres sonst so wenig zum Metaphysizieren aufgelegten Zeitalters. Wir haben fast keine theologischen Kämpfe mehr als solche, welche ausdrücklich für und gegen das Vermögen und Recht der Vernunft, in Religionssachen zuerst zu sprechen, geführt werden. Durch Vernunft allein ist wahre Erkenntnis Gottes wirklich, – durch Vernunft ist sie unmöglich, heißen die Losungen der streitenden Naturalisten und Supernaturalisten, und die wirklichen oder angeblichen Beweise für | diese beiden Behauptungen sind die Waffen, womit sie gegeneinander zu Feld ziehen.98 Man bestrebt sich also, ohne sich ausdrücklich diese Frage vorgelegt zu haben, auszumachen, was die Vernunft vermöge. Man appelliert gewissermaßen von seinem angefochtenen Systeme an das Vermögen oder Unvermögen der Vernunft, aus welchem man unstreitige Prämissen für seine streitigen Behauptungen zu erhalten hofft. Der Mangel an solchen Prämissen ist also die Schwierigkeit, worauf die Parteien selbst stoßen, die in soferne dem eigentlichen Punkte des Mißverständnisses weit näher sind als sie selbst wissen. Ein dunkles, aber lebhaftes Gefühl dieser Schwierigkeit äußert sich merklich genug an der in unsren Zeiten so sichtbar gewordenen Verzweiflung, seine Meinung durch Vernunftbeweise durchsetzen und seine Zweifel durch Vernunftgründe auflösen zu können. Diese Verzweiflung hat so manchen neuerlich veranlaßt, seine wankende Metaphysik durch Mystik und Kabbalistik zu unterstützen; so manchen verleitet, den Einladungen geheimer Gesellschaften Gehör zu geben, die ihm durch Offenbarungen und Traditionen die Fragen zu beantworten versprachen, wel7 Metaphysizieren ] NDM1: metaphysiren 16 sich also, ohne ] NDM1: sich sogar, ohne

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che ihm durch Vernunft unbeantwortlich schienen; so manchen genötigt, von der Vernunft an gesunden Menschenverstand, Wahrheitsgefühl, Intuitionssinn, und wie die Winkeltribunale alle heißen mögen, zu appellieren. Noch nie hat man der Vernunft so augenscheinlich zu viel und zu wenig zugemutet als gegenwärtig. Die Abgötterei, welche mit ihr getrieben, und die Verachtung, die ihr bezeugt wird, gehen bis zum Lächerlichen, ohne daß man sich | auf der anderen Seite verbergen könnte, daß sowohl die übertriebenen Lobsprüche als die Verleumdungen der Vernunft zu keiner Zeit so geschickt widerlegt worden sind. Die Freunde sowohl als die Feinde der Vernunft, Naturalisten, die durchaus kein Glauben, Supernaturalisten, die durchaus kein Wissen in der Religion dulden wollen, beschuldigen sich wechselseitig des Verkennens der Vernunft. Da nun jeder Teil seine Bekanntschaft mit der Vernunft vor seinem Gegenteile rechtfertigen muß, so sieht sich jeder genötigt, zu den Gründen, die bisher ihn und seine Partei befriedigt hatten, Beweise aufzufi nden, die auch seinen Gegnern einzuleuchten vermögen. Jeder muß also über seine bisher für die ersten gehaltenen Grundsätze hinausgehen, Merkmale der Vernunft aufsuchen, die er bisher noch nicht gefunden hat, und seine Kenntnis des Vermögens und der Befugnisse der Vernunft allgemein – d. h. für sich und seine Gegner – gültig zu begründen streben. Keine der streitenden Parteien kann also mit ihrer eigenen bisherigen Kenntnis der Vernunft zufrieden sein, sowenig als sie es mit der ihres Gegners ist; keine kann es beim Alten bewenden lassen, und das Bedürfnis einer neuen Untersuchung des Erkenntnisvermögens müßte also (auch wenn keine Kritik der Vernunft erschienen wäre) 99 von den denkenden Köpfen auf beiden Seiten endlich ebenso allgemein eingesehen werden, als man schon itzt auf beiden Seiten überzeugt ist, daß die Vernunft (von den Gegnern) verkannt wird. 29 müßte ] NDM1: mußte 32 itzt ] NDM1: jezt 32 beiden ] nach NDM1 verbessert aus: Beyden

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Das Problem: Was vermag das Erkenntnisvermögen? kündigt sich also durch eine Menge unzweideutiger Symptome dem unparteiischen Zu | schauer nicht weniger auffallend an, als es sich dem kritischen Skeptiker durch die Vergleichung der philosophischen Systeme aufdringt. Es würde schon kein kleines Verdienst unsres Jahrhunderts sein, das alte unselige Mißverständnis der sich selbst verkennenden Vernunft, welches, so unvermeidlich dasselbe auch dem menschlichen Geiste auf dem langen und beschwerlichen Wege, den er bis zur Erkenntnis seines theoretischen Vermögens zurücklegen mußte, gewesen ist, gleichwohl unter die größten Übel gehört, womit die Menschheit heimgesucht werden konnte; jenes Mißverständnis der Vernunft, welches Jahrtausende unter allerlei Gestalten in der Welt Unheil gestiftet hat, die kultivierten Nationen den blutigen und unblutigen Fehden der Orthodoxie und Heterodoxie preisgab, Unglauben und Aberglauben notwendig machte, die Kräfte so vieler vorzüglichen Köpfe mit unnützen Spitzfi ndigkeiten und Zänkereien verschwendete, und in allen diesen seinen traurigen Folgen immer fortdauren zu müssen schien; dieses Mißverständnis aus der Dunkelheit verworrener Begriffe hervorgezogen, auf seine einfachsten Punkte gebracht und dadurch ein Problem herbeigeführt zu haben, dessen Auflösung nichts geringeres als allgemeingültige Erste Grundsätze unsrer Pfl ichten und Rechte in diesem und einen allgemeingültigen Grund unsrer Erwartung für das zukünftige Leben hoffen läßt, das Ende aller philosophischen und theologischen Ketzereien und wenigstens im Gebiete der spekulativen Philosophie einen ewigen Frieden verspricht, von dem noch kein gutherziger Kosmopolit geträumt hat.100 Aber wie, wenn auch die Auflösung dieses Problemes unsrem sich zu Ende neigenden Jahrhunderte vor | behalten wäre? Wenn noch vor dem völligen Ausgang desselben in Deutschland der größere Teil guter 19 diesen ] nach NDM1 verbessert aus: diesem 22 dadurch ] nach NDM1 verbessert aus: damit 29 geträumt hat. Aber ] NDM1: geträumt. Aber

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sich mit Philosophie beschäftigender Köpfe über allgemeingültige Prinzipien einig würde? Und wenn diese, die von nun an aufhörten, sich, ohne es zu wissen und zu wollen, entgegenzuarbeiten, mit (ohne alle Verabredung) vereinigten Kräften anfi ngen, das Allgemeingültige allgemeingeltend zu machen? – Eine glänzendere Krone könnte wohl kaum den Verdiensten unsres Jahrhundertes aufgesetzt werden, und Deutschland könnte das Geschäft seines erhabenen Berufes als die künftige Schule Europens * mit keinem gründlicheren Eingang eröffnen.

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1. Was ist unter Vernunft zu verstehen

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Die Frage: Welche sind die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens? kann unmöglich allgemeingültig beantwortet werden, bevor man nicht über das, was man unter Erkenntnisvermögen zu verstehen habe, einig geworden ist. »O, darüber ist man doch wohl längst einig«, wendet hier der Popularphilosoph ein, »jeder denkende Kopf, Philosoph oder Nicht-Philosoph, versteht mich, wenn ich ihm das Erkenntnisver | mögen auch nur nenne«. Der berühmte Schriftsteller, der die Kritik der Vernunft in ihren beiden Hauptmomenten durch eine besondere Schrift über Raum und Kausalität widerlegt hat, Herr Feder,101 sagt daher ganz richtig in seinem beliebten und allgemeinverständlichen Lehrbuche der Logik und Metaphysik in dem Abschnitte, der vom Erkenntnisvermögen handelt: * Die Konstitution unsres deutschen Vaterlandes, zu welcher hier vorzüglich unter andern der Mangel einer Hauptstadt gehören dürfte, der gemäßigte Nationalcharakter, das eifrige Studium der Geistesfrüchte aller übrigen Nationen u.[nd] d.[ergleichen] U.[m stände] mehr können wohl, ohne daß man sich von patriotischer Eitelkeit blenden läßt, für Merkmale dieses Berufes angesehen werden.

5 allgemeingeltend ] nach NDM1 verbessert aus: Allgemeingeltend 9 eröffnen. ] Schluß von NDM1 10 1. Was … verstehen ] NDM2: Was … verstehen

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»Was dies heiße, sich eine Sache vorstellen, eine S a c h e e r k e n n e n , etwas denken ; was Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, Ideen heißen, m u ß e i n j e d e r v o n s i c h s e l b s t w i s s e n . Man kann hier weiter nichts erklären, als daß man, wenn etwa ein Wort jemanden nicht verständlich genug sein sollte, ein anderes ihm verständliches wählt, um durch die bekannten Namen an Sachen zu erinnern, die man aus eigenen E m p f i n d u n g e n kennen muß. Wohl aber kann man durch gesuchte künstliche Defi nitionen die Begriffe verwirren und zu Streitigkeiten Anlaß geben, deren man hätte überhoben sein können.«102 – Was haben auch die gesuchten künstlichen Defi nitionen, welche die Kritik der Vernunft von allen diesen durch Empfi ndung genugsam bekannten Sachen geliefert hat, für einen Erfolg gehabt? – – Sie wurden, wie die Kantianer selbst eingestehen, ja sogar behaupten, von den berühmtesten Philosophen unsrer Nation, die sich bisher über die Kantische Philosophie erklärt haben, von einem Platner *, | Eberhard **, Tiedemann ***, Reimarus +, Feder ++, Meiners +++, Selle † †† u. a. m. mißverstanden; ja, | sie haben in ih-

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*

In den wenigen Rücksichten, welche in den philosophischen Aphorismen, erst[er]. Teil, neue Ausgabe 1784 auf das Kantische Werk genommen sind. 103 ** In dessen Philosophischem Magazin. 104 *** In den Hessischen Beyträgen. 105 + Ueber die Gründe der menschlichen Erkenntniß, und der natürlichen Religion. 106 ++ Ueber Raum und Kaussalität zur Prüfung der kantischen Philosophie. 107 +++ Grundriß der Seelenlehre, in der Vorrede. 108 † Grundsätze der reinen Philosophie. 109 †† Ich glaube berechtigt zu sein, mir, sowie allen nicht beim Buchstaben der Kritik der Vernunft stehenbleibenden Freunden der kritischen Philosophie, den sektirisch klingenden Namen eines Kantianers zu verbitten. Gleichwohl bin ich genötigt, die hier angeführte Behauptung der sogenannten Kantianer zu unterschreiben. Auch glaube ich meiner aufrichtigen Hochachtung gegen die genannten verdienstvollen Schriftsteller keineswegs zu nahe zu treten, wenn ich 18 u. a. m. ] Abkürzung für: und andere mehr

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ren Erläuterungen und Folgen, wie der berühmte Philosoph Meiners erzählt, hoffnungsvollen Jünglingen die Ruhe ihres Gemüts und wahrscheinlich noch mehr, einem derselben aber gar seinen Verstand geraubt, haben Herrn Meiners, und wie dieser vermutet, mehreren seines Gleichen peinliche Empfi ndungen verursacht usw.111 So gerne ich hier unsren Popularphilosophen ganz ausreden lassen wollte, so muß ich ihn gleichwohl um der übrigen Leser willen, die nicht Popularphilosophen sind, ersuchen, mich erst meine Behauptung vortragen und beweisen zu lassen, bevor er seine Einwürfe dagegen vorbringt. Ich bin im Begriffe zu zeigen, daß man sich über das Erkenntnisvermögen lange nicht genug verstanden habe, und daß der Mangel allgemeingültiger Prinzipien der Philosophie und alle Übel, welche von demselben unzertrennlich sind, und zum Teile selbst das Mißverstehen der Kantischen Untersuchung des Erkenntnisvermögens, sich unter andern daraus erklären lasse, daß unsre Philosophen von Profession so gerne voraussetzten, ihre Leser müßten von sich selbst wissen, was das hieße, sich eine Sache vorstellen, eine Sache erkennen.

hier laut und öffentlich gestehe, daß ich alle von denselben gegen die Kantische Philosophie vorgebrachten Bedenklichkeiten, Zweifel und Einwürfe für Folgen des unrichtig aufgefaßten Sinnes der Kritik der Vernunft erkenne. Ich kann hier freilich nicht beweisen. Aber dieje25 nigen Leser, die durch meine in der »Vorrede« versuchte Erklärung dieses sonderbaren Phänomens nicht befriedigt sind, haben ja freie Wahl, ob sie dafür halten wollen, daß die Gegner der Kantischen Philosophie, zu denen ich hier noch die Herren Weishaupt, Flatt, Maaß, Tittel, Stattler (in seinem drei Bände starken Antikant) u. a. m. zähle, – 30 oder daß ich, der von allem, was diese Männer in der Kritik der Vernunft Anstößiges fanden, gerade das Gegenteil gefunden | hat –, den Philosophen von Königsberg nicht verstanden haben. 110 8 ihn ] nach NDM2 verbessert aus: ihm 29 seinem ] verbessert aus: seinen 30 allem ] nach NDM2 verbessert aus: allen

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Die Vernunft wird meines Wissens von allen bisherigen Philosophen zum Erkenntnisvermögen gezählt. Ob auch die Sinnlichkeit dazu gehöre, ist unter ihnen bei weitem nicht ausgemacht, von vie | len wird sie von aller Funktion beim eigentlichen Erkennen ausgeschlossen, von vielen auf das sogenannte untere Erkenntnisvermögen eingeschränkt usw., wovon in der Folge ein mehreres. Zuerst also von der Vernunft. Man ist in der philosophischen Welt keineswegs darüber einig, was man unter Ve r n u n f t zu verstehen habe. Dies ließe sich schon aus dem Streit über das Vermögen der Vernunft in den Angelegenheiten der Religion schließen, der sich ohne Mühe auf die Verschiedenheit der Begriffe, welche die streitenden Parteien von der Vernunft haben, zurückführen läßt. Das Schlimmste dabei ist, daß man sich gerade dort am wenigsten versteht, wo man sich am meisten zu verstehen glaubt; und daß man, indem man sich über gewisse Merkmale des Begriffes wirklich versteht, um so mehr entfernt ist, ein Mißverständnis überhaupt zu vermuten. So denken z. B. alle, welche Freiheit des Willens nennen hören, etwas Gemeinschaftliches bei diesem Worte, ungeachtet der eine die bloße Unabhängigkeit des Willens von äußerm Zwange, ein andrer die Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Triebe und ein dritter die Unabhängigkeit von den Gesetzen der Vernunft darunter versteht. Dies ist um so mehr bei dem Wort Vernunft der Fall, da dieses selbst durch den Sprachgebrauch mehr als eine Bedeutung erhalten hat. Ich unterscheide hier drei dieser Bedeutungen, die weitere, wenn durch das Wort Vernunft das dem Menschen eigene und ihn von den Tieren unterscheidende Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen überhaupt angedeutet und folglich auch | die zusammengesetztere oder künstlichere dem Menschen eigentümliche Organisation oder Beschaffenheit der sinnlichen 3 weitem ] nach NDM2 verbessert aus: weiten 20–22 der eine die bloße Unabhängigkeit des Willens … ein drit-

ter ] NDM2: der eine die bloße Unabhängigkeit von der Nöthigung durch sinliche Triebe, und ein dritter

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Werkzeuge mit in den Begriff aufgenommen wird, – die engere, wenn man damit dasjenige Erkenntnisvermögen, das insgemein das obere heißt, bezeichnet, um dasselbe von der Sinnlichkeit, dem sogenannten untern Erkenntnisvermögen zu unterscheiden, und wo folglich in dem Begriff der Vernunft auch der Verstand oder das Vermögen zu urteilen enthalten ist; – und endlich die engste, welche allein einen Teil des obern Erkenntnisvermögens, nämlich das Vermögen zu schließen, begreift und dasselbe vom Verstande unterscheidet.112 Ich bleibe bei der letzten unter diesen drei Bedeutungen stehen, welche unter allen die bestimmteste ist, über welche, soviel ich weiß, das vollkommenste Einverständnis herrscht,113 und die das eigentliche Wesen der Vernunft im Gegensatze nicht nur mit der Sinnlichkeit, sondern auch mit dem Verstande angeben soll und in dem Vermögen zu schließen wirklich anzugeben geglaubt wird. Was ist denn nun aber dieses Vermögen zu schließen ? Die Logik gibt uns die kurze und bündige Antwort: Das Vermögen des Gemütes, die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Vorstellungen durch Vergleichung derselben mit einer dritten einzusehen.114 In der Syllogistik mag man sich allerdings mit dieser Antwort begnügen können, die weiter nichts als eine logische Funktion unsres Vorstellungsvermögens angibt, ohne zu bestimmen, in welchen Fällen, bei welcher Art von Vorstellungen diese logische | Funktion, dieses Vermögen zu schließen gebraucht werden könne.115 Aber was kann mir diese Antwort helfen, wenn nicht von bloßen Vorstellungen überhaupt die Rede ist? Ist die Übereinstimmung unter Vorstellungen, welche durch diese logische Funktion herausgebracht wird, darum auch schon Übereinstimmung unter den Gegenständen dieser Vorstellungen? Kann nicht ein Vernunftschluß seiner Form nach (in Rücksicht der logischen 5 dem ] nach NDM2 verbessert aus: den 19 f. Nichtübereinstimmung ] nach NDM2 verbessert aus: nicht Ueber-

einstimmung

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Funktion) vollkommen richtig sein, ohne daß er darum seinem Inhalt nach wahr und einer Anwendung auf wirkliche Gegenstände fähig wäre? Z. B. der Reiche kann viele Werke der Wohltätigkeit ausüben: nun ist der König von Eldorado reich, also kann er viele Werke der Wohltätigkeit ausüben. Dieser Vernunftschluß ist seiner Form nach vollkommen richtig. Der Schlußsatz ergibt sich aus den Vordersätzen, die beide an sich wahr sind, mit aller möglichen Evidenz, und es fehlt dem ganzen Vernunftschlusse nichts als die Wirklichkeit des Subjektes, von dem die Rede ist. Die Vernunft, in wieferne sie nichts weiter als das Vermögen zu schließen heißt, vermag nichts als formelle Wahrheit, Formen der Vernunftschlüsse, den Bau der Syllogismen aufzustellen, welches alles bei aller Regelmäßigkeit mit materieller Unwahrheit bestehen kann. Die materielle Wahrheit, die Beziehung der im Vernunftschlusse verknüpften Vorstellungen auf einen Gegenstand in der Wirklichkeit, auf etwas, das nicht bloße Vorstellung ist, hängt keineswegs von der Form des Vernunftschlusses ab und kann folglich durch das bloße Vermögen zu schließen nicht erhalten werden. Durch dieses Vermögen müßte es ewig un | entschieden bleiben, ob es ein Königreich Eldorado gebe oder nicht. Man mag noch so viele Vernunftschlüsse aufeinander häufen, so wird man gleichwohl der Antwort auf diese Frage um keinen Schritt näher kommen, solange man es bei der Richtigkeit der Form allein bewenden und die Richtigkeit der Materie, des Stoffes, der verknüpften Vorstellungen, den außer jener Form gelegenen Grund der objektiven Gültigkeit derselben unausgemacht läßt. Woher nimmt nun die Vernunft den Stoff, den sie zur materiellen Wahrheit ihrer, der Form nach richtigen Funktionen nötig hat, und den sie nicht erschaffen kann? – Wenn von sinnlichen Gegenständen die Rede ist, so ist die Antwort leicht und 12 heißt ] NDM2: ist 18 bloße ] NDM2: wirkliche 23 aufeinander ] nach NDM2 verbessert aus: auf einander

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verständlich genug: Aus der Sinnenwelt! So liefert z. B. die gemeine sowohl als die gelehrte Erfahrung Data genug, aus welchen sich das Nichtsein des Landes Eldorado ergibt. In diesem Falle und in allen ähnlichen, wo den Vorstellungen sogenannte sinnliche Gegenstände entsprechen, gründet die Vernunft die materielle Wahrheit ihrer richtigen und leeren Schlußformen auf einen Stoff, der ihr von ihrer Gefährtin, der Sinnlichkeit, geliefert und vorgehalten wird. Nicht so leicht ist die Antwort auf die Frage: wie kommt die Vernunft zu dem Stoff, den sie zur materiellen Wahrheit derjenigen Schlüsse nötig hat, deren Inhalt Vorstellungen betrifft, die sich auf übersinnliche Gegenstände beziehen? In der gesamten Sinnenwelt kömmt z. B. kein Gegenstand vor und kann keiner vorkommen, auf den die Vorstellung der ersten Ursache oder des unendlichen Dinges paßte. In allen Erfahrungen, die uns von unsrem Gemü |te möglich sind, können immer nur Vorstellungen, kann nie das Vorstellende selbst vorkommen, immer nur Wirkungen des vorstellenden Subjektes, nie das Subjekt selbst, das wir nur als ein unbekanntes Etwas zu denken, keineswegs aber als eine bestimmte Substanz selbst durch den innern Sinn anzuschauen vermögen.116 Wenn nun die Vernunft über die Natur solcher Subjekte, bei welchen sie von dem Zeugnisse der Sinne verlassen wird, etwas Bestimmtes herausbringen will, wie gelangt sie denn zu dem übersinnlichen Stoff, wovon die materielle Wahrheit ihrer Schlüsse abhängt? »Durch göttliche Offenbarung« antwortet der Supernaturalist, »welche das natürliche oder durch Erbsünde entstandene Unvermögen der Vernunft ersetzt«. Diese Antwort kann freilich Leute befriedigen, die starkgläubig genug sind, um die Überzeugung, daß die durch ein Wunder in dem menschlichen Gemüte hervorgebrachte Vorstellung der Gottheit mehr als eine leere Vorstellung (keine Einbildung) sei, durch ein zweites Wunder bewirken zu lassen, und sich auf diese Weise über die Bedenklichkeit hinwegzusetzen, daß eine Vorstellung von 9 dem ] nach NDM2 verbessert aus: den

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der Gottheit vor aller Offenbarung im Gemüt vorhanden sein müßte, wenn der Mensch eine noch so außerordentliche Erscheinung (Wunder) für untrüglich, übernatürlich, göttlich erkennen, das heißt, mit dem richtigen Begriffe von der Gottheit zusammenstimmend fi nden sollte; mit einem Worte, daß jede historische Offenbarung die Vernunftidee der Gottheit voraussetzen müsse, nie geben könne. – Aber drei Parteien der philosophischen Welt, die gegen allen Supernaturalismus protestieren, ja | auch sogar viele Supernaturalisten selbst fi nden diese Antwort ganz unbefriedigend und sind unter sich darüber einig, daß die Wahrheit der übersinnliche Gegenstände betreffenden Schlüsse, wenn sie ja einer philosophischen Erklärung fähig wäre, sich natürlich erklären lassen müsse. Es müßte sich also aus dem eigentümlichen Wesen, den Merkmalen der Natur der Vernunft erklären lassen, wie sie zum Stoffe ihrer übersinnlichen Vorstellungen gelange und dies umso mehr, da diese Vorstellungen vorzugsweise und ausschließend der Vernunft angehören. Indem dieses aber aus ihrer logischen Natur, d. h. in wieferne sie nichts weiter als das Vermögen zu schließen bedeutet, schlechterdings unerklärbar ist, so müßte sie außer diesem noch ein besonderes Vermögen haben, den Stoff übersinnlicher Vorstellung zur materiellen Wahrheit ihrer Schlüsse herbeizuschaffen, welches, mit dem Vermögen zu schließen zusammengenommen, ihre Natur ausmachen würde. Da das Vermögen zu schließen eigentlich ein bloß logisches Vermögen ist, so wollen wir jenes andere Vermögen durch den Namen des metaphysischen unterscheiden. Die Defi nition der Vernunft, welche die engste Bedeutung des Wortes und mit derselben, das Wesen der Vernunft zu enthalten, geglaubt wird, ist also ganz unzulänglich und so unvollständig, daß sie nur die eine Hälfte des Begriffes enthält, der das Wesen der Vernunft zum Gegenstand haben soll.117 Man hat bis auf Kanten in der philosophischen Welt noch nie (in dem soeben angegebenen Sinne) | die Frage aufgeworfen: besitzt die Vernunft ein metaphysisches Vermögen?118 Und

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gleichwohl ist es nichts weniger als ausgemacht gewesen, ob die Vernunft ein solches Vermögen besitze oder nicht. Durch die Hauptsätze der vier Hauptparteien wird dasselbe ohne Untersuchung der Vernunft teils zu-, teils abgesprochen. Die Theisten glaubten durch ihre Vernunftschlüsse das Dasein und die Beschaffenheit übersinnlicher Gegenstände, die Atheisten hingegen das Nichtsein und die Unmöglichkeit derselben erwiesen zu haben. Diese beiden Parteien haben sich bisher die Untersuchung der Frage: ob die Vernunft wohl über das Dasein oder Nichtsein übersinnlicher Gegenstände zu entscheiden vermöge, dadurch unmöglich gemacht, daß sie die Antwort auf dieselbe durch den Gebrauch, den sie von einem angenommenen metaphysischen Vermögen gemacht haben, als entschieden voraussetzten. Wozu die Frage: ob die Vernunft das Dasein oder Nichtsein des Übersinnlichen zu erkennen vermöge, für Leute, in deren Augen die Vernunft dieses Dasein oder Nichtsein wirklich erkannt hat? Aus den Grundsätzen der dogmatischen Skeptiker sowohl als der Supernaturalisten folgt unwidersprechlich, daß die Vernunft kein metaphysisches Vermögen besitzen könne. Wozu also diese Frage für die einen, bei denen es ausgemacht ist, daß sich die Übereinstimmung menschlicher Vorstellungen mit ihren Gegenständen (diese mögen sinnlich oder übersinnlich sein) durch nichts erweisen lasse? Wozu diese Frage für die andern, welche derselben durch ihr Glaubensbekenntnis zuvorkommen, und aus dem von ihnen für erwiesen gehaltenen [und] nie bezweifelten Unvermögen der Vernunft auf die Un | entbehrlichkeit eines übernatürlichen Surrogats zu schließen gewohnt sind? Anstatt sich vor allen Dingen die Frage vorzulegen und es vor der Untersuchung derselben ganz unentschieden zu lassen, ob die Vernunft ein metaphysisches Vermögen besitze oder nicht, hat die eine Hälfte der philosophischen Welt diesen Be4 Untersuchung der Vernunft teils ] NDM2: Untersuchung theils 6 Atheisten ] NDM2: Theisten | Druckfehlerverzeichnis statt Theisten

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sitz aus Gründen behauptet und die andere aus Gründen geleugnet, die nur dadurch einiges Gewicht haben konnten, daß bei ihnen dort die Wirklichkeit, hier die Nichtigkeit des metaphysischen Vermögens als ausgemacht vorausgesetzt wurde. In wieferne nun das metaphysische Vernunftvermögen von zwei Hauptparteien behauptet und von zweien geleugnet wird, in soferne ist es offenbar, daß es unter den Philosophen nichts weniger als ausgemacht sei, ob es ein solches Vermögen gebe oder nicht, während das logische Vermögen der Vernunft wirklich allgemeingültig durch die allgemeinste Übereinstimmung anerkannt und folglich sogar allgemeingeltend ist. Solange über das metaphysische Vermögen der Vernunft nichts Allgemeingültiges ausgemacht ist, so lange ist man nur über die Hälfte des Wesens der Vernunft einig, so lange versteht man sich nur halb, wenn von der Vernunft im strengsten Sinne die Rede ist, und die Parteien der philosophischen Welt müssen ihren Streit über die Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände fahren lassen, bis sie sich über das metaphysische Vermögen der Vernunft auf einem bisher noch nie betretenen Wege vereinigt haben. | Dieses nun vorausgesetzt, ist die Wissenschaft, welche die entscheidende, allgemeingültige, von allen Philosophierenden anzuerkennende Antwort auf die Frage über dieses problematische Vermögen der Vernunft enthält, wenn es anders eine solche Wissenschaft geben sollte, eine Entdeckung aus dem bisher unbearbeiteten und unbekannten Gebiete der Vernunft. Man wird mir hier ohne Zweifel einwenden, die Frage: besitzt die Vernunft ein metaphysisches Vermögen, wäre nichts weniger als neu; Plato119 und Aristoteles 120 unter den Alten, Leibniz und Locke unter den Neuern, mehrere andere zu geschweigen, haben sie nur mit anderen Worten aufgeworfen und wirklich in ihren vortrefflichen Untersuchungen über den Ursprung der menschlichen Vorstellungen beantwortet.121

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Ich halte dafür, daß die Frage, welche Leibniz und Locke (und ebendasselbe gilt von ihren griechischen Vorgängern) bei ihren Untersuchungen über den Ursprung der Begriffe vor Augen hatten, weit mehr dem Ausdruck als dem Sinne nach mit der unsrigen zusammentreffe. Leibniz und Locke waren dogmatische Theisten, und eben darum war das metaphysische Vermögen für sie nichts weniger als problematisch, sondern die ausgemachteste Sache von der Welt. Ihnen war es nicht darum zu tun, erst bei sich selbst auszumachen, ob die Vernunft ein metaphysisches Vermögen besitze oder nicht, sondern vielmehr, worin dieses Vermögen, das sie als wirklich voraussetzten, bestehe ? Sie nahmen das Dogma ihrer Partei gleichsam als die Basis ihres Lehrgebäudes | über den Ursprung der Vorstellungen an, indem sie von einer als wirklich angenommenen übersinnlichen Erkenntnis ausgingen und dann untersuchten, nicht ob überhaupt übersinnliche Erkenntnis möglich, sondern wie der menschliche Geist zur übersinnlichen Erkenntnis gelangt sei? Wenn vorausgesetzt wird, was für uns noch bloße Frage ist, daß die Vernunft ein metaphysisches Vermögen habe und folglich ihren übersinnlichen Vorstellungen reellen und keinen bloß eingebildeten Stoff verschaffen könne, so sind im Leibnizischen und im Lockeschen Systeme alle mögliche Fälle, wie die Vernunft zu diesem Stoffe gelangen könne, erschöpft. Sie kann nämlich denselben keineswegs aus Nichts hervorbringen, er muß ihr also gegeben sein; und da er ihr weder durch das logische Vermögen zu schließen (wodurch die bloße Schlußform erhalten wird) noch unmittelbar durch sinnlichen Eindruck gegeben sein kann, so muß sie ihn entweder mit sich auf die Welt bringen oder erst in diesem Leben erhalten; er muß ihr entweder unmittelbar in einer Reihe angeborner Vorstellungen (und wie sich einige Leibnizianer ausdrücken, in einem Systeme angeborner Wahrheiten) oder wenigstens 25 denselben keineswegs aus Nichts ] NDM2: denselben aus nichts

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mittelbar in dem Stoffe sinnlicher Vorstellungen gegeben sein. Im ersten Falle besteht ihr metaphysisches Vermögen in einem der Seele eingepflanzten Stoff für ihre, das Übersinnliche betreffende Schlüsse, und im zweiten in der besondern Fähigkeit, aus dem sinnlichen Stoffe den übersinnlichen abzuleiten. | Jener angeborne, der Seele eingepflanzte Stoff übersinnlicher Vorstellungen muß auch durch seine Verteidiger von den übersinnlichen Gegenständen selbst, die er im Gemüte nur repräsentieren soll, genau unterschieden werden. Denn sonst wäre Gegenstand und Vorstellung ein und ebendasselbe Ding, und daher entweder der Gegenstand eine bloße Vorstellung, ein Gedankending, oder die Vorstellung wäre der Gegenstand selbst, unser Begriff von der Seele, die Seele von der Gottheit, die Gottheit selbst. Indessen hat der Stoff einer Vorstellung nur dadurch Realität, daß ihm ein Gegenstand, der nicht die Vorstellung selbst ist, entspricht. Woran sollte nun die Realität des Stoffes übersinnlicher Vorstellungen erkannt werden? Durch den ihm außer der Vorstellung entsprechenden Gegenstand? – Unmöglich! Denn dieser soll ja der Voraussetzung zufolge selbst nur durch die Vorstellung und deren angebornen Stoff erkannt werden. Also durch das wirkliche Gegeben- das Vorhandensein jenes Stoffes selbst, dem, wenn er wirklich gegeben ist, auch wirklich ein Gegenstand entsprechen muß. Aber woraus soll sich dieses wirkliche Vorhandensein erweisen lassen? Daraus etwa, daß er in wirklichen Vorstellungen vorkömmt, das heißt, wirklich vorgestellt wird? Keinesweges. Denn wir haben unzählige wirkliche Vorstellungen, denen kein wirklicher Gegenstand entspricht, und die folglich einen bloß eingebildeten oder erkünstelten Stoff haben. Man würde hier vergebens einwenden, »solche Vorstellungen wären aber auch nicht angeboren, und wenn es einmal ausgemacht wäre, daß irgendeine Vorstellung oder auch nur ihr Stoff der Vernunft | eingepflanzt und folglich wirklich vernünf21–25 Also durch das … Daraus ] NDM2: Also durch das wirkende

Gegeben das Vorhandensein erweisen lassen? daraus

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tig sei, so sei sie schon hierdurch von allen täuschenden und unvernünftigen Vorstellungen genug ausgezeichnet«. – Freilich! wenn es ausgemacht ist? Aber eben das ist die Frage. Und welche wären dann die untrüglichen, allgemein anerkannten Data, durch welche sich ausmachen ließe, irgendeine Vorstellung oder ihr Stoff wären der Vernunft wirklich eingepflanzt? Doch wohl die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Vorstellung, das unvermeidliche Anerkennen eines ihr entsprechenden Gegenstandes, die Evidenz der Erkenntnis? Aber woher denn der Streit zwischen den vier Hauptparteien über die unter denselben unentschiedene Frage, ob unsre Vorstellungen von der Gottheit, Seele, Freiheit auch richtige, wirklichen Gegenständen entsprechende Vorstellungen wären oder nicht, – wenn die bejahende Antwort auf diese Frage der menschlichen Vernunft unvermeidlich notwendig, allgemein einleuchtend wäre? Selbst mehrere Verteidiger der angebornen Begriffe haben sich genötigt gefunden, zur Erfahrung oder, welches hier ebensoviel heißt, zur sinnlichen Erkenntnis ihre Zuflucht zu nehmen, um sich zu erklären, wie diese angebornen Vorstellungen, welche sie für bloße Anlagen, Grundbestimmungen des Gemüts, bloß mögliche Vorstellungen hielten, zur Wirklichkeit eigentlicher Vorstellungen gelangen könnten. Sie glauben, die ganze Sache begreiflich gemacht zu haben, wenn sie annehmen, daß die sogenannten geistigen Ideen bei Gelegenheit und auf Veranlassung sinnlicher Eindrücke aufgeweckt, belebt, entwickelt werden.* | Der ungleich größere Teil der neueren philosophischen Schriftsteller hingegen hat sich von der platonischen oder leibnizischen Lehre von den angebornen Begriffen gänzlich losgesagt und glaubt mit Locke den Ursprung der

* Eines dieser Worte sagt hier so wenig als das andere, und jedes steht nur eigentlich in dieser Hy|pothese da, um die Lücke eines mangelnden Begriffes auszufüllen, nicht um einen Begriff zu bezeichnen.

26 f. der neueren philosophischen ] NDM2: der philosophischen

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Vorstellungen übersinnlicher Gegenstände aus den durch die Sinnlichkeit gelieferten, aber durch Vernunft modifizierten, bearbeiteten Materialien erklären zu können oder vielmehr zu müssen. Sie glauben, daß das Gemüt nur vermittelst der sinnlichen Eindrücke zu was immer für einen Stoff seiner Vorstellungen gelangen könne, und ungeachtet keinem unter ihnen meines Wissens bisher eingefallen ist, Gott, Seele, Freiheit für Gegenstände der Sinnlichkeit auszugeben, so behaupten sie gleichwohl, dasjenige, was die Sinnlichkeit nicht unmittelbar durch sich selbst könne, werde ihr durch Vernunft möglich, die ein Vermögen besäße, aus dem sinnlichen Stoffe den Stoff übersinnlicher Vorstellungen zu ziehen, oder vielmehr selbst dieses Vermögen wäre.122 Wenn das Vermögen, das Übersinnliche aus dem Sinnlichen abzuleiten, wirklich in der Vernunft vorhanden wäre, so müßte dasselbe von dem bloß logischen Vermögen verschieden, so müßte es das metaphysische Vermögen sein, das, wenn es mit jener Ableitung seine Richtigkeit hätte, bisher zwar nicht in seiner ursprünglichen in der Einrichtung der Vernunft gegründeten Beschaffenheit, aber doch wenigstens aus seiner Wirkung, nämlich der übersinnlichen Erkenntnis genugsam bekannt wä | re. Allein eben das Unentschiedene, Streitige, Problematische dieser Wirkung ist es, wodurch bisher jenes metaphysische Vermögen selbst unentschieden, streitig, problematisch geblieben ist. Wir haben leider (!) noch keine Ableitung des Übersinnlichen aus dem Sinnlichen aufzuweisen, die auch selbst von den Metaphysikern von Profession und [von] den vortrefflichsten Köpfen unter ihnen allgemein anerkannt wäre. Während die eine Hauptpartei der philosophischen Welt, diese Ableitung wirklich vorgenommen zu haben vorgibt (und, wohlgemerkt (!) über die Art und Weise derselben selbst unter sich uneinig ist), tut die andere Hauptpartei gerade das Gegenteil und leitet das Nichtsein des Übersinnlichen von dem Sinnlichen ab; die dritte erklärt diese beiden Ableitungen für gleich grundlos und für eine der Natur des menschlichen Geistes unangemessene vergebliche Arbeit. Die vierte endlich hält jene

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Ableitung nicht nur für etwas Unmögliches, sondern sogar für einen Eingriff in die göttlichen Rechte, indem es der Gottheit allein zukäme, das Dasein übersinnlicher Gegenstände zu offenbaren. Wer also da vorgibt, seine Ableitung des Übersinnlichen aus dem Sinnlichen wäre etwas Ausgemachtes, der behauptet das Ding, das nicht ist, der will uns sein kleines Wissen für das Wissen des menschlichen Geistes aufdringen und verkauft seinen Lesern oder Zuhörern eine Unwahrheit, von der sich jedermann, der nicht durch die metaphysische Brille jenes Mannes, sondern mit seinen eigenen Augen sieht, auch nur durch einen Blick auf das, was in der philosophischen Welt wirklich vorgeht, überzeugen kann. Wenn das Dasein der Ursache bloß aus dem Dasein der Wirkung geschlossen werden soll, so ist | jenes so lange nicht ausgemacht, als dieses nicht ausgemacht ist. Es ist also wirklich nicht ausgemacht, ob es ein metaphysisches Vermögen der Vernunft gebe, weil es nicht ausgemacht ist, ob eine richtige Ableitung des Übersinnlichen aus dem Sinnlichen möglich sei. Wenn die, also erst auszumachende Frage, ob es ein metaphysisches Vernunftvermögen gebe, nicht wieder aus den streitigen Grundsätzen der vier Hauptparteien beantwortet und folglich nicht wieder auf dem alten Kampfplatze der Metaphysik abgehandelt werden soll, so muß sie mit einem ganz andern Sinne, als bisher geschehen ist, aufgestellt werden. Sie muß nicht von der Wirklichkeit oder Unmöglichkeit der übersinnlichen Erkenntnis ausgehen, sondern beides ganz dahingestellt sein lassen und sich mit dem bloßen Ve r m ö g e n der Vernunft beschäftigen. Daher denn auch bei ihrer Beantwortung vor allen Dingen untersucht werden muß, nicht w i e , sondern o b eine Ableitung des Übersinnlichen aus dem Sinnlichen möglich sei oder nicht; d. h., ob sie keinen Widerspruch enthalte, ob sie nicht allgemeingültigen Gesetzen des menschlichen Vorstellungsvermögens widerspreche. Denn im Falle ein solcher Widerspruch allgemeingültig erwiesen werden könnte, wäre es eben dadurch entschieden, daß die Vernunft kein metaphysisches Vermögen besitze.

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Da die Vernunft bei der Ableitung des Übersinnlichen aus dem Sinnlichen den Verstand oder das Vermögen zu urteilen voraussetzen würde, so wird auch der Verstand besonders untersucht werden müssen. Der Verstand ist es, welcher zu | erst die rohen durch die Sinnlichkeit erhaltenen Materialien bearbeitet und der Vernunft überliefert. Die von ihm gefällten Urteile machen zunächst den Stoff der Vernunftschlüsse aus. Es muß also gezeigt werden, was der Verstand vermöge, was durch seine Bearbeitung des sinnlichen Stoffes möglich sei. Mit einem Worte, es muß das Verhältnis des Verstandes zur Sinnlichkeit genau und bestimmt angegeben werden. Auch der Verstand kann, in wieferne unter diesem Namen das bloße Vermögen zu urteilen verstanden wird, nichts als ein logisches Vermögen sein, aus einem gegebenen Stoffe Urteile zu erzeugen. Der Stoff, den er zu seinen Handlungen nötig hat, kann nicht von ihm aus nichts erschaffen, er muß ihm gegeben sein. Ist es mit diesem Gegebensein des Stoffes nicht richtig, so mag ein Urteil seiner Form nach noch so richtig sein, so wird es der Materie nach gleichwohl falsch sein. Z. B.: Ein goldner Berg ist etwas Wirkliches, der König von Eldorado ist reich. Auch bei dem Verstande hängt die materielle Wahrheit nicht von der bloßen Form, sondern von dem außer der Form gegebenen Stoffe ab. Der Verstand kann nichts bearbeiten, was ihm nicht gegeben ist, und er kann es nur in soferne bearbeiten, als es ihm gegeben ist. Um also genau bestimmen zu können, was der Verstand aus den Materialien der Sinnlichkeit herauszubringen vermöge, muß vorher untersucht werden, was denn eigentlich dem Verstande durch die Sinnlichkeit geliefert werden könne, und wie es durch die Sinnlichkeit geliefert werde; das heißt, es muß das Verhältnis der Sinnlichkeit zum Verstande ausgemacht werden. |

31 werden. ] Schluß von NDM2

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2. Was ist unter Sinnlichkeit zu verstehen?

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Nichts, denke ich, kann einleuchtender sein, als daß es vorher ausgemacht sein müsse, was man unter der Sinnlichkeit verstehe und was durch das Vermögen, welches diesen Namen führt, überhaupt möglich sei, bevor man darüber einig werden kann, ob durch die Sinnlichkeit ein Stoff geliefert werden könne, aus welchem sich durch die Operationen des Verstandes und der Vernunft der Stoff übersinnlicher Vorstellungen ziehen lasse. Was dem Vermögen der Sinnlichkeit widerspricht, kann durch keinen Verstand und keine Vernunft, auch nicht einmal der Gottheit selbst aus der Sinnlichkeit geschöpft werden. Um aber angeben zu können, was der Sinnlichkeit widerspreche oder nicht, muß man das Wesen, die Natur, die eigentümlichen Merkmale der Sinnlichkeit erschöpft haben. Über die Sinnlichkeit ist in der philosophischen Welt bis itzt noch weit weniger ausgemacht als über Verstand und Vernunft. Wir wollen hier nur bei zwei Hauptparteien stehen bleiben. Die Materialisten lassen keine anderen als Sinnenwesen gelten, das heißt, sie halten die sinnlichen Vorstellungen für die einzigen, denen wirkliche Gegenstände entsprächen. Alles Wirkliche ist ihnen Körper oder Eigenschaft und Beschaffenheit des Körpers; und da der Verstand und die Vernunft vom Dasein und der Beschaffenheit der Körperwelt (außer welcher für die Materialisten nichts Wirkliches da ist) nur nach dem Zeugnisse | der Sinnlichkeit urteilen und schließen kann, so ist ihnen dieses Zeugnis die einzige Grundlage aller Erkenntnis des Wirklichen und des Möglichen. Noch mehr! Da die Körperlichkeit, die nach diesem System das Wesen aller für sich bestehenden Dinge ausmacht, nur durch die Sinnlichkeit erkannt werden kann, so ist ihnen die Sinnlichkeit die Erkenntnisquelle nicht 1 2. Was ist ] NDM3: 2. Wie ist Reformazion der Philosophie mög-

lich? B e s c h l u ß . 3. Was ist 3 sein ] NDM3: werden 15 itzt ] NDM3: jetzt

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nur von den Beschaffenheiten gewisser Dinge, sondern von dem eigentlichen Wesen aller Dinge selbst, und sogar Verstand und Vernunft sind ihnen nichts als Modifi kationen der Sinnlichkeit, wie diese bloßes Empfi ndungsvermögen, nur mit dem Unterschied, daß Verstand und Vernunft nichts als die Übereinstimmung und den Widerstreit zwischen den Materialien der Sinnlichkeit empfi nden können. Die Spiritualisten hingegen halten gerade das Gegenteil von der Sinnlichkeit. Ich spreche hier nicht von einzelnen spiritualistischen Sekten; nicht von den Idealisten, die außer einer bloßen Ideen- oder Geisterwelt nichts Wirkliches zulassen und der Sinnlichkeit alles Vermögen absprechen, einen Stoff zu liefern, dem ein wirklicher Gegenstand außer der Vorstellung entspräche; nicht von den Leibnizianern, welche in der ganzen Natur keine andern als einfache Substanzen annehmen, [welche] die Ausdehnung von einer verworrenen Vorstellung der Aggregate jener unausgedehnten Substanzen ableiten und die Sinnlichkeit im Grunde für eine bloße Einschränkung des Verstandes halten.123 Ich nehme hier vielmehr alle Spiritualisten überhaupt zusammen. Sie mögen übrigens in ihren besondern Meinungen noch so sehr voneinander abweichen, so sind sie doch hierüber unter sich einig, | daß das Wesen der Dinge nur dem Verstande und der Vernunft erkennbar sei, daß die Sinnlichkeit nicht einmal das Wesen der Körper selbst anzugeben vermöge und daß alles, was sie uns von diesen ihren eigentümlichen Objekten liefern könne, nichts weiter als zufällige, veränderliche, zur bloßen Außenseite gehörige Beschaffenheiten wären. Die Spiritualisten sind ebensowenig darüber einverstanden, wohin sie das Vermögen sinnlicher Vorstellungen versetzen, als was sie aus demselben machen sollen. Einige weisen ihm seinen Sitz im Körper an und halten es für ein bloßes Vermögen der Organisation, Eindrücke zu empfangen und der unkörperlichen Seele mitzuteilen. Andere suchen es in der Seele auf und halten es für ein Vermögen der Seele, die in der Organisation vorhandenen Eindrücke zu empfangen; und wie-

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der andere endlich [suchen es] in der Seele und im Körper zugleich [auf] und halten es für das Vermögen, von äußeren Gegenständen durch das Medium der Organisation affi ziert zu werden. Die ersten sehen die Sinnlichkeit für nichts als die bloße Reizbarkeit der Organisation an und sprechen sie der Seele schlechterdings ab als eine Eigenschaft, die nur Körpern zukäme und der Natur eines einfachen Wesens widerspräche; die andern erkennen sie zwar für eine Beschaffenheit der Seele, aber nur für eine zufällige und vorübergehende Beschaffenheit, die das bloße Resultat der Verbindung der Seele mit dem Körper wäre und nur so lange als diese dauren könne; die letzten endlich glauben an der Sinnlichkeit eine bloße Einschränkung der Seele durch den Körper entdeckt zu haben, wodurch sie auf das Anschauen so gemeiner und nie | driger, täuschender Gegenstände, als die Sinnenwesen wären, beschränkt würde, während ihre Denkkraft für das Anschauen erhabnerer und würdigerer Gegenstände bestimmt wäre. So verschieden dachten und denken die Spiritualisten über die Natur der Sinnlichkeit. Der einzige Punkt, worüber sie untereinander einig sind, besteht darin, daß sie* die Seele nur durch den organischen Körper sinnlicher Vorstellungen fähig glauben und folglich (obzwar auf verschiedene Art) die Sinnlichkeit von der Organisation abhängen lassen. Sie glauben dadurch, die Unkörperlichkeit der Seele gerettet zu haben. Allein unglücklicherweise gestehen ihnen die Materialisten jene Unentbehrlichkeit der Organisation zu sinnlichen Vorstellungen nicht nur ein, sondern beweisen sie mit noch stärkeren Gründen und schließen aus denselben, indem sie die sinnlichen Vorstellungen für die einzigen halten, denen reelle Gegenstände entsprächen, daß ohne Organisation nicht nur kein Vorstellungsvermögen überhaupt möglich, sondern daß jedes *

Gewisse Idealisten unter ihnen ausgenommen.

14 niedriger ] nach NDM3 verbessert aus: niedrige 14 täuschender ] nach NDM3 verbessert aus: täuschende

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Vorstellungsvermögen nur eine Eigenschaft einer gewissen Organisation sei. Eine natürliche Folge des ganz verkehrten Ganges, den man bisher bei der Untersuchung des Erkenntnisvermögens genommen hat! Anstatt daß man gesucht hätte, vorher darüber einig zu werden, was man unter Erkenntnisvermögen | und Erkennbarkeit verstünde und dann erst zu bestimmen, in wieferne das Subjekt des Erkenntnisvermögens (die Seele) erkennbar wäre, ging man von dem als einfache oder zusammengesetzte Substanz angenommenen Subjekte aus, um aus den Begriffen, die man sich von demselben gemacht hatte, das Erkenntnisvermögen zu bestimmen; und so nahmen sowohl die Materialisten als die Spiritualisten ihre Dogmen unter die Prinzipien ihrer Untersuchung über die Sinnlichkeit auf. Das Wort Seele hatte für diese Parteien einen dreifachen Sinn, indem sie bald das bloße Erkenntnisvermögen allein, bald aber das Subjekt desselben allein, bald beide zusammengenommen darunter verstanden, gleichwohl aber alle diese verschiedenen Bedeutungen, so oft es zum Vorteil ihrer Hypothesen erfordert wurde, untereinander verwirrten. So geschah es, daß sie bald dasjenige, was bloß vom Erkenntnisvermögen gelten konnte, auf das Subjekt desselben, bald dasjenige, was sie von dem letztern erwiesen zu haben glaubten, auf das erstere übertrugen. Materialist und Spiritualist waren darüber einig, daß dem Gemüte nur durch Organisation Sinnlichkeit zukäme. Da nun der eine das Subjekt des Gemütes an dem organischen Körper selbst entdeckt zu haben glaubte, so galt ihm dasjenige, was er vom Subjekte des Erkenntnisvermögens angenommen hatte, auch vom Erkenntnisvermögen selbst, und er glaubte, die Sinnlichkeit mache ebensogewiß das eigentliche Wesen des Erkenntnisvermögens als die Organisation das Wesen der Seele aus. Der Spiritualist hingegen, der das Subjekt des Erkenntnisvermögens für unkörperlich erklärt hatte, über | trug die Einfachheit des Subjektes auf das Erkenntnisvermögen und behauptete daher, dieses bestünde eigentlich in dem bloßen Verstande, dem Vermögen, Einheit in das Mannigfaltige der Vorstellungen zu bringen oder,

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wie man sich gemeiniglich ausdrückte, den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen; und so, wie die Einfachheit das Wesen des Subjektes ausmache, so mache der Verstand das Wesen des Erkenntnisvermögens aus, dem die Sinnlichkeit nur zufällig, nur durch die Verbindung jenes einfachen Subjektes mit dem organischen Körper zukäme. In beiden Fällen wurden zwei wesentlich verschiedene Fragen verwechselt. Die Frage: Worin besteht das Erkenntnisvermögen, mit der Frage: Was ist das Subjekt des Erkenntnisvermögens (des Verstandes, der Sinnlichkeit)? Die erste Frage ist eigentlich logisch und betrifft Gesetze, die nicht die Natur des Dinges, welches ein Erkenntnisvermögen hat, sondern die Natur des bloßen Erkenntnisvermögens ausmachen: die Bedingungen, durch welche das Erkennen möglich ist, welche zusammengenommen das Erkenntnisvermögen heißen und in dem Erkenntnisvermögen selbst gegeben sein müssen. Die zweite Frage hingegen ist eigentlich metaphysisch ; sie betrifft Gesetze, welche die Natur eines wirklichen Dinges ausmachen sollen, Bedingungen, durch welche ein vom bloßen Erkenntnisvermögen verschiedener Gegenstand möglich sein soll, von dem es nur dann ausgemacht werden kann, ob und in wieferne er erkennbar ist, wenn man vorher das bloße Erkenntnisvermögen untersucht | und die eigentlichen Grenzen desselben gefunden hat. Durch eine Verwirrung der Begriffe, deren Möglichkeit vielleicht unsren spätern Nachkommen schwer zu begreifen sein dürfte, hat man bisher wesentlich verschiedene Gegenstände der Untersuchung verwechselt, das vorstellbare Erkenntnisvermögen mit dem nicht vorstellbaren Subjekte desselben, Verstand (Vermögen der Einheit in den Vorstellungen) mit absoluter Einheit (Einfachheit) des vorstellenden Subjektes, Sinnlichkeit (Vermögen des Mannigfaltigen in der Vorstellung) mit der Zusammensetzung (Ausdehnung) der Organisation. So wurde dasjenige, was an sich bloß logisches Gesetz des Erkennens 33 wurde ] NDM3: würde

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ist, zur metaphysischen Eigenschaft der erkennenden Substanz, das logische Gesetz der Verstandeshandlung zur metaphysischen Beschaffenheit des verständigen Subjektes, das logische Gesetz der Sinnlichkeit zur metaphysischen Beschaffenheit des unverständigen Subjektes, das mit dem verständigen verbunden wäre. Man bedachte nicht, daß die streitige Erkenntnis dieser problematischen Substanzen, der einfachen und der zusammengesetzten, von der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt abhänge: daß ein Erkenntnisvermögen v o r jeder wirklichen Erkenntnis dasein und in demselben die Bedingungen, welche zusammengenommen die Möglichkeit des Erkennens ausmachen, gegeben sein müssen, und daß sich eben darum das Erkenntnisvermögen nicht von als wirklich erkennbar angenommenen Dingen (Gegenständen des Erkenntnisvermögens), sondern vielmehr die Erkennbarkeit der Dinge allein von dem Erkenntnisvermögen ableiten lasse. | Man tat gerade das Gegenteil von dem, was man hätte tun sollen, indem man die Natur der Sinnlichkeit und des Verstandes von der Organisation und der Seele ableitete, da man vielmehr die beiden letztern, in wieferne sie erkennbar, Gegenstände des Erkenntnisvermögens sein sollen, mit einem Worte ihre Erkennbarkeit von dem Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes hätte ableiten müssen. Indem man das Subjekt des Erkenntnisvermögens (die Substanz der Seele), welches ebensowenig sich selbst zu erkennen, als das Auge sich selbst zu sehen vermag,124 kennenzulernen bestrebt war, vernachlässigte man, eine Bekanntschaft zu machen, die nicht nur an sich möglich, sondern auch, wenn unser Philosophieren kein Herumtappen unter Begriffen aufs Geratewohl, sondern ein sicherer, bestimmter Fortschritt des Geistes sein soll, notwendig ist, – nämlich die Bekanntschaft mit dem Erkenntnisvermögen. Je mehr man über denjenigen Teil des Erkenntnisvermögens, der in dem logischen Vermögen des Ver29 aufs ] verbessert aus: auf 32 f. des Erkenntnisvermögens ] NDM3: desselben

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standes und der Vernunft besteht, in der ganzen philosophischen Welt einig war, desto geneigter wurde man anzunehmen, daß man das Erkenntnisvermögen überhaupt kenne, wenigstens, daß man sich untereinander gar wohl verstünde, wenn vom Erkenntnisvermögen die Rede war. Nichts war natürlicher, als daß man über die Begriffe des logischen Vermögens von Verstand und Vernunft früher als über den Begriff der Sinnlichkeit einig werden mußte. Da Verstand und Vernunft bei jeder Erkenntnis, der sinnlichen sowohl als der übersinnlichen, ihr logisches Geschäft verrichten müssen, so mußte | jeder, der nur irgendeinen Gegenstand als erkannt, irgendein Erkenntnis überhaupt annahm, die Unentbehrlichkeit des Verstandes und der Vernunft einräumen; und dieses Einverständnis über diese Unentbehrlichkeit mußte zu einer allgemeinen gemeinschaftlichen Untersuchung der Funktionen führen, welche dem Verstande und der Vernunft beim Erkennen überhaupt zukämen. Da man aber die Sinnlichkeit eigentlich nur bei der sinnlichen Erkenntnis beschäftigt glaubte, so mußten diejenigen Philosophen, welche übersinnliche Gegenstände zu erkennen meinten und also ein übersinnliches Erkennen zuließen, notwendigerweise auf den Gedanken geraten, daß die Sinnlichkeit zur Erkenntnis überhaupt entbehrlich wäre, kein logisches* Geschäft beim Erkennen habe und folglich keinen Teil des Erkenntnisvermögens ausmache. Andere hingegen (die Materialisten), welche bloß sinnliche Gegenstände nicht nur für einzig erkennbar, sondern sogar für einzig möglich (denkbar) hielten, mußten

* Logisch im strengsten Sinne heißt zwar nur, was zum Denken gehört. Ich nehme es hier in einem weitern Sinne für alles, was zu der in der Natur des Erkenntnisvermögens bestimmten Art und Weise 30 des Erkennens gehört, für jedes Gesetz des Erkenntnisvermögens, im Gegensatze mit den Gesetzen der Gegenstände des Erkenntnisvermögens.

22 entbehrlich ] NDM3: entbehrlich 22 kein logisches* ] verbessert aus: kein* logisches 28 einem ] nach NDM3 verbessert aus: einen

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der Sinnlichkeit nicht nur Unentbehrlichkeit zu jeder Erkenntnis überhaupt einräumen, sondern dieselbe sogar zur obersten Bedingung alles Denkens und zum Kriterium aller Möglichkeit erheben, sie zum ganzen Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen machen und ihr Verstand und Vernunft als bloße Modifi kationen unterordnen. | Indem nun die Sinnlichkeit auf diese Weise von der einen Partei ganz von dem Erkenntnisvermögen ausgeschlossen, von der andern aber für das Erkenntnisvermögen selbst angenommen wurde, hatten sich diese beiden Parteien selbst allen Weg zur Untersuchung der Sinnlichkeit im Verhältnisse auf das Erkenntnisvermögen unmöglich gemacht, und es würde ohne die gegen die Grundsätze von beiden gerichteten Einwürfe der dogmatischen Skeptiker wohl nie zu dieser Untersuchung gekommen sein.* Die bei ihrem Streit sich selbst überlassenen Spiritualisten und Materialisten würden sich von dem Wege zu derselben immer weiter entfernt haben, je länger ihr Streit gedauert haben würde. Wirklich haben es die Eiferer auf beiden

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* Sogar Locke, welcher so viel Vortreffl iches von der Unentbehrlichkeit der Sinnlichkeit im menschlichen Erkenntnisvermögen ge- 20 sagt hat und seinen Grundsätzen soweit getreu geblieben ist, daß er das Dasein eines Geistes für indemonstrabel hält, weil ein Geist kein Gegenstand der Sinnlichkeit wäre (»Our senses not being able to discover them, we want the means of knowing their particular existences. We can no more know that there are fi nite spirits really 25 existing by the Idea we have of such beings in our minds, than by the Ideas any one has of fairies or centaurs, we can come to know that things answering those Ideas do really exist.« Essay concerning human Understanding, V[ol]. ii, C[ap]. x i, § 12). Locke sogar ist keineswegs über den eigentlichen Anteil der Sinnlichkeit am Erkenntnis- 30 vermögen, ja (!) nicht einmal über die Unentbehrlichkeit derselben zum Erkennen überhaupt mit sich selbst einig geworden, wie sich in der Folge deutlich zeigen wird und zum Teil schon daraus erhellen würde, daß er das Dasein Gottes für erkennbar angab. 125

17 f. Streit gedauert haben würde. ] NDM3: Streit noch gedauert

hätte.

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| Seiten nicht dabei bewenden lassen, daß sie der Sinnlichkeit beim Erkennen nichts oder – alles einräumten, sondern die einen gaben die Sinnlichkeit mit Plato für ein leidiges Hindernis der Erkenntnis, [für] eine notwendige Quelle des Irrtums, [für] eine bloße Einschränkung des Vorstellungsvermögens aus;126 die andern aber erklärten mit Epikur jede Vorstellung nur in soferne für wahr, als sie von dem sinnlichen Eindrucke bestätigt würde,127 und sahen den reinen Verstand für ein Unding und die ihm eigentümlichen Notionen für Blendwerke des Schulwitzes an.

3. Was ist unter Erkenntnisvermögen zu verstehen?

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Daß man über die Antwort auf diese Frage nicht einig ist, erhellt schon aus der von mir beleuchteten ungeheuren Verschiedenheit der Bedeutungen, die man bisher mit den Worten Vernunft und Sinnlichkeit zu verbinden gewohnt war. Kaum diejenigen, welche Sinnlichkeit und Vernunft in ihren Begriff des Erkenntnisvermögens aufzunehmen schienen und das Erkenntnisvermögen in das sinnliche oder untere und in das vernünftigere oder obere einteilten,128 fanden es für nötig, sich selbst zu fragen oder zu erklären, was sie unter erkennen verstünden.129 Ich habe weder von dem unsterblichen Leibniz noch von seinen würdigen Anhängern Wolff, Bilfi nger,130 Baumgarten eine bestimmte Erörterung hierüber auffi nden können.131 Der letztere beginnt seine Metaphysik mit folgender Defi nition: »die Metaphysik ist die Wissen | schaft der ersten Erkenntnisgründe der menschlichen Erkenntnis«132, ohne sich in dem ganzen Werke, in welchem er sonst mit Erklärungen so freigebig ist, nicht einmal in denjenigen Teilen desselben, wo er vom Erkenntnisvermögen handelt,133 auch nur ein Wörtchen darüber ent11 3 ] verbessert aus: 2 | NDM3: 4 28 f. Erkenntnisvermögen handelt ] NDM3: Erkenntnißvermögen

ausdrücklich handelt

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fallen zu lassen, was er unter diesem Vermögen gedacht wissen wolle.134 Gleichwohl dürfte es äußerst schwer, ich wage es zu sagen, unmöglich sein, dasselbe durch Vergleichung seiner einzelnen Äußerungen und aus dem Zusammenhang des Ganzen herauszubringen. Wo er sich z. B. über den Unterschied zwischen sinnlicher und verständiger Erkenntnis erklärt, den er in der bloßen Undeutlichkeit der einen und Deutlichkeit der andern oder, wie er sich selbst ausdrückt, in einem größern und kleinern Grade der Erkenntnis fi ndet, spricht er in der Erörterung bloß von Vorstellung, die er mit der Erkenntnis verwechselt.135 Gleichwohl mußte Baumgarten einen Unterschied zwischen Erkenntnis und Vorstellung angenommen haben. Aber welchen? Locke hielt es keineswegs [für] überflüssig anzugeben, was er unter Erkenntnis verstünde. »Erkenntnis«, sagt er, »scheint mir nichts anderes zu sein, als die Wahrnehmung des Zusammenhangs und der Übereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung und des Widerstreits zwischen einigen (in der Aufschrift am Rande heißt es zweien) unsrer Vorstellungen«*. Allein man darf sich nicht | wundern, daß dieser Begriff der Erkenntnis in der philosophischen Welt keinen Eingang gefunden hat, da er äußerst mangelhaft und unbestimmt ist und mit den Bedingungen, die Locke selbst zur Erkenntnis als unentbehrlich festsetzt, durchaus nicht zusammenstimmt. »Unsre Erkenntnis«, sagt der scharfsinnige Denker **, »ist nur in soferne reell, als zwischen unsren Vorstellungen und der Realität der Dinge (den Gegenständen) Übereinstimmung stattfi ndet«.137 Diese Übereinstimmung ist doch wohl bei jeder Erkenntnis wesentlich, und eine Erkenntnis, die nicht in diesem Sinne reell wäre, würde ebensoviel sein als eine Vorstellung, die nichts vorstellt. Gleichwohl ist gerade diese wesentli* Knowledge seems to me to be nothing but the perception of the connexion and agreement, or dis|agreement and repugnance of any of our Ideas. V[ol]. ii. B[ook]. i v. Ch. i, »Of Knowledge in General«.136 ** Ch. i v, »Of the reality of human knowledge«.

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che Bedingung, durch welche Erkenntnis zur Erkenntnis wird, in der Lockeschen Erklärung ganz übergangen. Sie spricht bloß von Übereinstimmung zwischen Vorstellungen; aber die Vorstellungen sind doch von ihren Gegenständen wesentlich unterschieden. Locke erklärt sich auch in der Folge selbst, daß er bei den Vorstellungen, die er die einfachen nennt,138 diese Übereinstimmung mit dem, was nicht Vorstellung ist, voraussetze.139 Diese Voraussetzung ist aber gerade dasjenige, worüber bei der Erklärung des Erkenntnisses die Frage war, da ohne dem Bewußtsein, daß einer Vorstellung ein Gegenstand (etwas, das nicht bloße Vorstellung ist) entspreche, eine Er | kenntnis unmöglich reell, das heißt, keine Erkenntnis sein würde. Auch wird in der Lockeschen Erklärung die Erkenntnis zur bloßen Vorstellung der logischen Funktionen des Urteils und der Vernunftschlüsse gemacht und folglich das Erkenntnisvermögen mit demjenigen, was sonst Verstand und Vernunft heißt, verwechselt. Wirklich war Locke durch diese Verwechslung genötigt, in der Folge von der Vernunft eine bloße Beschreibung zu geben, in welcher die eigentliche Funktion der Vernunft beim Erkennen überhaupt von dem methodischen Verfahren derselben bei der diskursiven Erkenntnis und wissenschaftlicher Demonstration bald unterschieden, bald damit verwechselt wird. Auch ist es in der vortrefflichen Erörterung über den Mißbrauch des Syllogismus,140 in welche er sich bei dieser Gelegenheit einläßt, sichtbar genug, daß er die äußere syllogistische Form, mit welcher der Schulwitz damals noch in den sechzehn Schlußformeln141 sein Spiel trieb, nicht ganz von der innern Form des Vernunftschlusses selbst, [von] der eigentümlichen Handlungsweise der Vernunft unterschieden habe, die er um so leichter verkennen mußte, nachdem er das Bewußtsein des Zusammenhangs mehrerer Vorstellungen, welches nur durch jene Handlungsweise der Vernunft möglich ist, 9 des Erkenntnisses ] NDM3: der Erkentniß 9 dem ] NDM3: das 11 ist) entspreche eine ] verbessert aus: ist, entspreche) eine

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schon in seinen Begriff von Erkenntnis aufgenommen hatte und folglich, da er nachmals von der Vernunft insbesondere zu sprechen hatte, den Vernunftschluß unmöglich als das allgemeine und eigentümliche Geschäft, das die Vernunft beim Erkennen überhaupt habe, annehmen konnte. Er erklärte daher die Vernunft für die Fähigkeit, welche die Mittel, Gewißheit und Wahr | scheinlichkeit zu entdecken, ausfi ndig macht und richtig anwendet.* Umsonst habe ich bei so manchem Anhänger des unsterblichen Locke, umsonst bei dem scharfsinnigen Eklektiker Platner, umsonst bei Logikern von Profession, z. B. dem verdienstvollen Reimarus,143 nach einer ausdrücklichen Erklärung der Erkenntnis gesucht. Ich fand wohl bei einer aufmerksamen in dieser Absicht vorgenommenen Lektüre das Wort Erkenntnis bald für Überzeugung, bald für Gewißheit, bald für Wissenschaft usw. gebraucht, fand, daß der Begriff, den sie bei anderen Gelegenheiten damit verbanden, bald auf Bewußtsein der Notwendigkeit eines Urteils, bald auf gedachte Notwendigkeit einer Vorstellung, bald auf Beziehung der Vorstellung auf einen Gegenstand hinwies; aber ich fand auch, daß der Gebrauch, den sie sowohl von dem Worte als jenen Begriffen machten, wenn von Erkenntnis der Wahrheit, von Erkenntnis einer Vorstellung, von Erkenntnis eines Dinges, das nicht Vorstellung sein sollte, die Rede war, nie mit sich selbst zusammenstimmte, sich willkürlich veränderte, mit einem Worte, daß die vorzüglichsten mir bekannten philosophischen Schriftsteller über die Bedeutung des Wortes Erkenntnis weder untereinander noch mit sich selbst einig sind.

* The faculty which fi nds out the means and rightly applies them to discover certainty, and probability, is that which we call reason.142

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§5 Es ist schlechterdings unmöglich, sich über den allgemeingültigen Begriff des Erkennt|nisvermögens zu vereinigen, solange man über das Wesen des Vorstellungsvermögens verschieden denkt. 5

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Man nehme was immer für einen Begriff der Erkenntnis an, so setzt er den Begriff der Vorstellung voraus. Nicht jede Vorstellung ist Erkenntnis, aber jede Erkenntnis ist Vorstellung. Ist also aus dem Begriffe der Vorstellung ein demselben wesentliches Merkmal weggelassen oder in denselben ein fremdes oder gar widersprechendes aufgenommen, so ist auch der Begriff der Erkenntnis in einem seiner Hauptmerkmale (nämlich der Vorstellung) unrichtig. Und wenn zwei über das, was unter Erkenntnisvermögen zu verstehen sei, miteinander disputieren, so darf nur der eine in seinem Begriffe von der Vorstellung ein wesentliches Merkmal übersehen oder ein fremdes aufgenommen haben (ohne daß es beide, die nur an die Erkenntnis, nicht an die Vorstellung ausdrücklich denken, gewahr werden), und sie werden in Ewigkeit über den Begriff der Erkenntnis uneinig bleiben. Gesetzt, man vereinigte sich auch über folgende Defi nition der Erkenntnis: Sie ist das Bewußtsein der Beziehung einer Vorstellung auf ein bestimmtes Etwas, von ihr Verschiedenes, welches Gegenstand heißt, so würde diese Vereinigung so gut als keine sein; sie würde nur eine bloße Formel, die jeder nach seinem Sinne verstehen kann, betreffen, wenn man nicht über den Begriff der Vorstellung und zumal über dasjenige Merkmal, welches denselben von dem Begriffe des Gegenstandes unterscheidet, einig wäre.144 Ohne sich über dieses | Merkmal vereinigt zu 1 § 5 ] fehlt in NDM3 2–4 Es ist schlechterdings … denkt. ] in NDM3 gesperrt 6 Begriff der Vorstellung ] NDM3: Begriff der Vorstellung 9 denselben ] NDM3: demselben 27 welches denselben von dem Begriffe des Gegenstandes ] NDM3: welches

denselben von dem Begriffe des Gegenstandes

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haben, würde alle Übereinstimmung über den Unterschied zwischen Erkenntnis und bloßer Vorstellung unmöglich sein. Alles, was erkennbar sein soll, muß vorstellbar sein, obwohl nicht alles Vorstellbare darum auch erkennbar ist, weil sonst jede Vorstellung eine Erkenntnis sein würde. Die Vorstellbarkeit oder die Möglichkeit der Vorstellung wird durch das Vorstellungsvermögen allein bestimmt. Das letztere muß also vor allen Dingen untersucht werden. Die Vorstellung ist das einzige, über dessen Wirklichkeit a l l e Philosophen einig sind. Wenigstens wenn es überhaupt etwas gibt, worüber man in der philosophischen Welt einig ist, so ist es die Vorstellung; kein Idealist, kein Egoist, kein dogmatischer Skeptiker kann das Dasein der Vorstellung leugnen. Wer aber eine Vorstellung zugibt, muß auch ein Vorstellungsvermögen zugeben, das heißt dasjenige, ohne welches sich keine Vorstellung denken läßt. Sobald man nun über dieses einig geworden ist, hat man sich in den Besitz eines allgemeingültigen Prinzips gesetzt, aus welchem sich in der Folge die Grenzen des Erkenntnisvermögens und die Möglichkeit allgemeingeltender Erkenntnisgründe für die Grundwahrheiten der Religion und Moralität sowie allgemeingeltender erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts bestimmen lassen müssen, wenn sie anders bestimmbar sind. | Ungeachtet die Vorstellung von allen zugegeben wird und jeder Philosoph einen Begriff von Vorstellung hat, so ist doch dieser Begriff nicht bei allen ebenderselbe, nicht bei allen gleich vollständig, gleich rein, gleich richtig. Man ist sogar über seine wesentlichsten Merkmale uneinig, wie sich zum Teil aus der Uneinigkeit über die Erkenntnis schließen läßt, zum Teil im folgenden, wie ich hoffe, zu jedermanns Überzeugung dargetan werden soll. Sollte das Mißverständnis, welches dieser Uneinigkeit zum Grunde liegt, nicht gehoben werden können? Der Versuche, die sich mit der Untersuchung des Begriffes der Vorstellung beschäftigt haben, sind noch nicht so viele gemacht worden, daß man darum von einem neuen Versuche weniger hoffen dürfte.

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Der Begriff des Vorstellungsvermögens führt unter andern auch diese Bequemlichkeit mit sich, daß er sich, wenn einmal sein wesentliches Merkmal gefunden ist, sehr leicht allgemeingültig erschöpfen läßt, das heißt, daß sich mit ihm eine Zergliederung vornehmen läßt, bei der man darüber einig werden kann, daß man sich aller seiner vorstellbaren Merkmale bemächtigt habe und keines übrig sei, welches durch einen unentwickelten und unbestimmten Begriff Keim oder Veranlassung künftiger Mißverständnisse sein könnte. Denn ist man bei der Untersuchung des Begriffs des Vorstellungsvermögens glücklich genug gewesen, das Wesentliche, das Haupt-Merkmal desselben entdeckt zu haben, so hat man in demselben zugleich das Merkmal und Kriterium der Vorstellbarkeit gefunden, aus welchem sich die Grenze aller | weiteren Zergliederung an dem Nichtvorstellbaren leicht bestimmen läßt. Es kann dann ohne viele Mühe gezeigt werden, was und in wieferne etwas, das zum Begriff der Vorstellung gehört, vorstellbar ist oder nicht.

6 aller ] NDM3: aller 18 nicht. ] NDM3 mit der Fußnote: Der Versuch einer neuen Theorie

des menschlichen Vorstellungsvermögens, der die Prämissen der Kritik der reinen Vernunft, und den Schlüssel zur kritischen Philosophie enthält, wird in einigen Wochen die Presse verlassen. | Schluß von NDM3 unterzeichnet mit: Jena, den 10. Junius. Reinhold.

ANM ER K U N G EN D ES HERAUSG EB E RS

1 Druckidentisch erscheint diese »Vorrede« auch separat unter dem Titel Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie von Karl Leonhard Reinhold, Jena bei Joh. Michael Mauke 1789. Allerdings sind im Druck des Versuchs auf dem letzten Blatt der »Vorrede« (S. 68) unter der Datumssignatur zwei Verbesserungen von Druckfehlern nachgedruckt und sind außerdem die Kopfzeilen ausgewechselt, d. h. im Versuch gegen »Vorrede«. Wahrscheinlich sind die Druckschrift Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie und die spätere »Vorrede« des Versuchs in einem Druckverfahren erstellt. Reinhold schenkt Kant dieses Büchlein am 9. April zum 65. Geburtstag am 22. April, vgl. Akad.-Ausg., 11.17, dazu auch 11.60. Auch der undatierte Brief Nr. 192 von Christoph Martin Wieland scheint sich auf die Zustellung dieses Büchleins zu beziehen, vgl. Wielands Briefwechsel, hrsg. von Siegfried Scheibe, Bd. 10/1, Berlin 1992, S. 165 f. (der Kommentar zu diesem Brief, ebd. Bd. 10/2, Berlin 1993, S. 171 f., ist insofern falsch, als es sich dort nicht um dem Versuch handeln kann, weil dieser erst Ende Oktober 1789 erscheint). Siehe auch unten Anm. 48. – Im April und Mai 1789 erscheint diese Schrift mit zahlreichen stilistischen, allerdings inhaltlich kaum relevanten Änderungen unter dem Titel »Ueber das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie« im Teutschen Merkur, 2. Bd., S. 3–37, fortgesetzt unter dem Titel »Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie«, ebd., Mai 1789, S. 113–135. Der Aufsatz ist mit »R.« signiert und auf den »1. Merz 1789« datiert. Das Manuskript liegt Wieland am 18. Februar 1789 vor, wie aus seinem Brief von diesem Tage und vom 3. März hervorgeht, vgl. Wielands Briefwechsel, hrsg. von Siegfried Scheibe, Bd. 10/1, Berlin 1992, S. 153 und S. 161. In einem Brief vom 30. April 1789 schreibt Reinhold an Schack Hermann Ewald, daß das Büchlein den besseren, defi nitiven Text enthält, vgl. KA 2.80. 2 An vielen Stellen hebt Reinhold hervor, daß der Empirismus den Rationalismus der Leibniz-Wolff-Schule abgelöst habe

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und in Deutschland unter dem Namen »Popularphilosophie« sein Unwesen treibe. Tatsächlich gehört die Eklektik zum Selbstverständnis der Popularphilosophie, vgl. etwa Christoph Meiners, Revision der Philosophie, 1. Theil, Göttingen / Gotha 1772, S. 60 f.: »Die ganze Welt verlangt jetzo von einem Philosophen, daß er ein Eklektiker sey, d. i. daß er, wie man sich ausdrückt, selbst denke, aus den vielen entgegengesetzten Meinungen die beste auswähle, und diese mit allen ihren Gründen unterstützt seinen Schülern vortrage«. Die Eklektik galt bis tief ins 18. Jahrhundert hinein als eine wichtige Methode für den Umgang mit der Geschichte der Philosophie, vgl. dazu etwa Donald Kelley, »Eclecticism and the History of Ideas«, in: Journal of the History of Ideas 62/4 (2001), S. 577–592, und Helmut Holzhey, »Philosophie als Eklektik«, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 19–29. 3 Christian Wolff (1679–1754), Theologe, Mathematiker und Philosoph, bedeutendster Vertreter der deutschen Aufklärung zwischen Leibniz und Kant. Er ist Verfasser eines philosophischen Gesamtsystems unter relativ starker Anlehnung an die Philosophie von Leibniz, allerdings auch mit wichtigen Neuerungen, insbesondere wegen seiner systematisch deduktiven Methode. Seit 1703 ist Wolff Privatdozent in Leipzig und auf Empfehlung von Leibniz seit 1706 Professor für Mathematik in Halle. 1723 wird er vom preußischen König wegen der öffentlich vorgebrachten Äußerung des Landes verwiesen, daß auch Nichtchristen eine allgemeingültige Moral formulieren können, was besonders das damals mächtige Lager der Pietisten empörte. In 1740 wird Wolff von Friedrich dem Großen rehabilitiert und bekommt in Halle eine Professur für Natur- und Völkerrecht. 1743 wird er Kanzler der Halleschen Universität und 1745 in den Reichsfreiherrenstand erhoben. 4 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Universalgelehrter und bedeutendster deutscher Philosoph der Aufklärung. Der überaus größte Teil seiner Schriften ist erst spät veröffentlicht worden, überwiegend noch nach Reinholds Tod. 5 Reinhold weist hin auf den Streit, der zwischen Christian Wolff und den Pietisten, allen voran August Hermann Francke (1663–1727), in den zwanziger Jahren in Halle wütete und 1723 die Entlassung Wolffs zur Folge hatte (siehe auch oben Anm. 3).

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Anmerkungen des Herausgebers

Bald nach diesen Auseinandersetzungen entwickelt sich in Halle allerdings auch wieder eine neue wissenschaftliche Theologie, die man als Verschmelzung von Pietismus und Wolffianismus kennzeichnen kann, mit Theologen wie Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) und dessen Schüler Salomo Semler (1725– 1791) als den wichtigsten Vertretern. Mit dieser Versöhnung ist dann auch in der Philosophie der Wolffianimus wieder salonfähig geworden. Zu diesem Streit vgl. Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, bes. S. 93–101. 6 Gemeint sind die Erfahrungswissenschaften. 7 Für den Unterschied zwischen gesundem und gemeinem Verstand vgl. Immanuel Kant, Prolegomena, Akad.-Ausg., 4.369 f.: »Denn was ist der gesunde Verstand? Es ist der gemeine Verstand, so fern er richtig urtheilt. Und was ist nun der gemeine Verstand? Er ist das Vermögen der Erkenntniß und des Gebrauchs der Regeln in concreto zum Unterschiede des speculativen Verstandes, welcher ein Vermögen der Erkenntniß der Regeln in abstracto ist. […] Gemeiner Verstand hat also weiter keinen Gebrauch, als so fern er seine Regeln (obgleich dieselben ihm wirklich a priori beiwohnen) in der Erfahrung bestätigt sehen kann; mithin sie a priori und unabhängig von der Erfahrung einzusehen, gehört vor den speculativen Verstand und liegt ganz außer dem Gesichtskreise des gemeinen Verstandes.« 8 Stifter der philosophischen Ästhetik ist Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt / O. 1750 [ND Hildesheim 1961]; mit Psychologie meint Reinhold hier die Psychologia empirica oder auch Erfahrungs-Seelenlehre, als deren Vater wohl Christian Wolff selbst angemerkt werden muß. Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Psychologie mehr und mehr zu einer gegenüber der Metaphysik eigenständigen Disziplin, unter Annahme einer eigenen, selbständigen Seelensubstanz, die der Erfahrung zugänglich ist. Vgl. auch Reinholds Antrittsrede »Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten. Aus einer akademischen Antrittsrede«, in: Der Teutsche Merkur, 1. Bd., Februar 1788, S. 167–183, S. 173: »Teutschland ward auf diese Weise das Geburtsland der sogenannten Aesthetik, der empirischen Psychologie, und endlich der Kritik der

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Vernunft, (oder der wissenschaftlichen und höheren Psychologie) geworden, und wird hauptsächlich durch diese letztere um so gewisser die Schle der höheren Aufklärung des übrigen Europas werden, da es bisher allein bescheiden und wißbegierig genug war, von allen Ländern Europas zu lernen.« 9 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), Philosoph und Professor in Frankfurt an der Oder, Anhänger der leibniz-wolffischen Schule. Seine bedeutsamste systematische Schrift ist die auf Latein verfaßte Metaphysica, Halle 1739, ²1743, ³1750, 41757 und postum 51763, 61768, 71779 [ND Hildesheim 1963], die auch Kant seinen Vorlesungen in Königsberg zugrundelegte. Sie größter philosophischer Verdienst ist vielleicht die erste philosophische Ästhetik verfaßt und damit die Philosophie des Schönen begründet zu haben. 10 René Descartes (1596–1650), französischer Philosoph, gilt als der Begründer des neuzeitlichen Rationalismus, womit endgültig Abschied von der mittelalterlichen scholastischen Philosophie genommen wird. 11 Die Metaphysik wird seit Christian Wolff eingeteilt in eine allgemeine (metaphysica generalis) und eine spezielle (metaphysica specialis). Die Ontologie gehört zur metaphysica generalis, während die rationale Theologie, Psychologie und Kosmologie zur metaphysica generalis gehören. Diese Einteilung geht zurück auf Descartes’ drei Hauptarten des Seienden, Gott, menschliche Seele und Körper, die ihre Prinzipien in der philosophia prima oder Ontologie haben, d. h. der scientia entis in genere, seu quatenus ens est. 12 John Locke (1632–1704), Philosoph und Arzt und eine der führenden Gestalten des britischen Empirismus. Seinen Einfluß auf das Denken Reinholds bekunden allein schon die Mottos, die dieser den drei Büchern vorliegender Schrift voranschickt. Reinhold war nicht nur mit der englischen Sprache vertraut, er ist in Wien von seinem Lehrer Paulus Pepermann (1745–1788) auch in die englische Philosophie eingeführt, vgl. RL 1.16. 13 Gemeint sind Moses Mendelssohn (1728–1786), Philosoph jüdischer Religion und einer der Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, und Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1818), Kaufmann, Schriftsteller, Beamter und Philosoph, als die beiden Hauptkontrahenten in dem Pantheismusstreit, den Jacobi veranlaßt hat mit

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Anmerkungen des Herausgebers

seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Mendelssohn, Breslau 1785. – Reinhold hat sich in diesen Streit eingeschaltet mit dem zweiten Brief über die Kantische Philosophie »Das Resultat der Kantischen Philosophie, über die Frage vom Daseyn Gottes«, in: Der Teutsche Merkur, Bd. 3, 1786, S. 127–141. – August Wilhelm Rehberg (1757–1836), Publizist, Beamter und Philosoph (er hat von 1774 bis 1777 in Göttingen studiert), verteidigt in Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion, Berlin 1787, daß »das Leibnitzische System […] ganz unvermeidlich zu dem Systeme des Spinoza« (S. 51) führe, und in dem teilweise gegen Reinhold gerichteten Aufsatz »Erläuterung einiger Schwierigkeiten der natürlichen Theologie«, in: Der Teutsche Merkur, Bd. 3, September 1788, S. 215– 233, erklärt er allgemein, »daß alle dogmatische Metaphysik auf den Spinozismus hinauslaufe« (S. 228, vgl. auch S. 216). Die zuerst erwähnte Schrift Rehbergs ist von Reinhold rezensiert in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 153 b vom 26. Juni 1788, Sp. 689–696. Reinhold spricht hier die Hoffnung aus, daß die gerade erschienene Kritik der praktischen Vernunft Rehberg von seiner »Vorliebe für die leeren Spinozistischen Spitzfi ndigkeiten« heile (Sp. 696). – Johann Gottfried Herder (1744–1803), Theologe, Schriftsteller und Philosoph, hat sich insbesondere mit seiner Schrift Gott. Einige Gespräche, Gotha 1787, in den Pantheismusstreit eingeschaltet. 14 Vielleicht liegt hier (wegen des Ausdrucks »Labyrinth«) eine Anspielung auf Kants Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) vor, § 27: »Quod autem tempus attinet, postquam illud non solum legibus cognitionis sensitivae exemerunt, sed ultra mundi terminos ad ipsum ens extramundanum, tanquam condicionem exsistentiae ipsius, transtulerunt, inextricabili labyrintho sese involvunt. Hinc absonis quaestionibus ingenia excruciant, v. g. cur Deus mundum non multis retro saeculis condiderit. Facile quidem concipi posse sibi persuadent, quipote Deus praesentia, h. e. actualia temporis in quo est, cernat; at quomodo futura, h. e. actualia temporis in quo nondum est, prospiciat, difficile intellectu putant. […] Quae omnia notione temporis probe perspecta fumi instar evanescunt.« (Akad.-Ausg., 2.414 f.) 15 Baruch [lat. Benedictus] de Spinoza (1632–1677), bedeutendster niederländischer Philosoph, vertritt einen strengen Determi-

Anmerkungen des Herausgebers

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nismus und ist einer der am kontroversten diskutierten Denker der Neuzeit. Im Zuge des Pantheismusstreites wird der Spinozismus zu einer der wirkungsmächtigsten philosophischen Strömungen in der klassischen deutschen Philosophie. Das metaphysische Hauptwerk Spinozas ist die posthum und anonym veröffentlichte Ethica ordine geometrico demonstrara, Amsterdam 1677. – Spinozas Dogmatismus vorgezogen hat etwa August Wilhelm Rehberg in den oben, Anm. 13, erwähnten Schriften. 16 Blaise Pascal (1623–1662), französischer Philosoph, Mathematiker und Physiker, gehört seit 1646 dem Zirkel der jansenistischen Spiritualität des Klosters Port-Royal an. Nach einer religiösen Erfahrung wird er Supernaturalist und Apologet des Christentums, vgl. dazu besonders seine Schrift Pensées de M. Pascal sur la religion et sur quelques autres sujets. Qui ont esté trouvée arés sa mort parmy ses papiers, Paris 1669 [dt. Erstausgabe, Herrn Blasii von Pascals Gedancken Uber die Religion, Und über einige Andere Dinge, Welche man Nach seinem Todte unter seinen Schrifften gefunden, nebst dem Leben deß Authoris, auß dem Frantzösischen übersetzt, Augsburg 1710]. 17 David Hume (1711–1776), Schottischer Diplomat, Historiker und Philosoph, bestreitet die Möglichkeit metaphysischer und apriorischer Erkenntnis, was ihn zum wichtigsten Vertreter des modernen Skeptizismus macht. Besonders seine Kausalitätstheorie ist von großem Einfluß auf die Entwicklung der Transzendentalphilosophie Kants gewesen, nach seiner berühmten Erklärung im »Vorwort« der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783: »Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.« (Akad.-Ausg., 4.260) Den Einfluß Humes auf die Entwicklung der kritischen Philosophie bestätigt auch Reinhold in einem Brief an Voigt vom November 1786, vgl. bes. KA 1.151 f. 18 Gemeint ist Immanuel Kant (1724–1804), der in Königsberg studierte und dort 1770 ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik wird. Mit dem »berühmten Werk« ist sein theoretisches Hauptwerk Critik der reinen Vernunft, Riga 1781, ²1787, gemeint. 19 Gemeint ist die Bibel.

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Anmerkungen des Herausgebers

20 Die allgemeine Rezeption der Kantischen Philosophie setzt in Deutschland erst um 1785 ein. Eine besonders wichtige Rolle für die Verbreitung der kritischen Philosophie spielt die Universität Jena, die Ende 1785 die Kantische Philosophie für die philosophischen Fakultät in den Lehrplan aufnimmt, vgl. das im Oktober 1785 erschienene Pamphlet »Anweisung die zur philosophischen Fakultät gehörigen Wissenschaften und deren Endzweck, Wichtigkeit und Studium betreffend, wird Kants Kritik der reinen Vernunft«, ND in: Norbert Hinske, Erhard Lang und Horst Schröpfer (Hg.), Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 14, § 23. Hiermit sind in Jena die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Universität bald nicht nur zum Zentrum der kantischen, sondern auch neuen deutschen Philosophie überhaupt avanciert. Einer der wichtigsten Förderer der Kantischen Philosophie in Jena ist der seit 1779 dort lehrende Professor für Poesie und Beredsamkeit Christian Gottfried Schütz. Er ist auch Herausgeber der seit 1785 erscheinenden Allgemeinen Literatur-Zeitung, die bald zum bedeutsamsten Rezensionsorgan Deutschlands und auch zum wichtigsten Organ für die Verbreitung der kantischen Philosophie avanciert. Von Schütz stammt auch die erste große Rezension der theoretischen Philosophie Kants, d. h. der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena (nebst den Erläuterungen des Königsberger Hofpredigers und Mathematikprofessors Johann Schultz, Königsberg 1784) in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1785, Nr. 162, Sp. 41–44; Nr. 164, Sp. 53–56; Nr. 178, Sp. 117–118; Nr. 179, Sp. 121–124 und 125–128 [in Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991, S. 147–182]. Diese Rezension ist für Reinhold der Anlaß gewesen, sich mit der Philosophie Kants auseinanderzusetzen, vgl. dazu seinen Brief vom 12. Oktober 1787 an Kant (KA 1.271 f.). Die insbesondere für Kant selbst wichtigste kritische Rezension der Kritik der reinen Vernunft von Garve / Feder erscheint in der Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen vom 19. Januar 1782, S. 40–48 [in Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, ebd., S. 10–17], vgl. dazu unten Anm. 26. Andere, besonders Kant-Kritische Organe dieser Zeit sind die von Johann Georg Feder und Christoph Meiners von 1788 bis 1791

Anmerkungen des Herausgebers

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herausgegebene Philosophische Bibliothek, siehe unten Anm. 100, und das von Johann August Eberhard von 1788 bis 1792 herausgegebene Philosophische Magazin (vgl. dazu unten Anm. 104). 21 Besonders zu erwähnen sind erstens Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812), Theologe, Pfarrer, seit 1784 Adjunkt der philosophischen Fakultät in Jena und seit 1791 ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik in Gießen und seit 1793 ordentlicher Philosophieprofessor in Jena. 1786 erscheint sein wichtiges Buch Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der kantischen Schriften, Jena; zwei Jahre später veröffentlicht als gesonderte Schrift Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften, Jena 1788, ³1795 [ND Darmstadt 1996], 41798, zweitens der Königsberger Hofprediger und Mathematikprofessor Johann Schultz [auch Schulz] (1739– 1805), Verfasser des ersten und auch sehr einflußreichen Kommentars zu Kants erster Kritik, Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1784, ²1791 (die Ausg. Frankfurt und Leipzig 1791 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 247] ist ein Raubdruck); drittens der Hallenser Philosophieprofessor Ludwig Heinrich Jakob (1759–1827), für dessen Schrift Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes in Vorlesungen, Leipzig 1786, Kant das Vorwort verfaßt hat, ferner auch Prolegomena zur praktischen Philosophie, Halle 1787, und Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe zu einer allgemeinen Metaphysik, Halle 1788, und viertens der soeben (oben Anm. 20) erwähne Christian Gottfried Schütz in Jena. 22 Die Charakterisierung Kants als »Allzermalmers« stammt aus dem »Vorbericht« von Moses Mendelsohns Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin 1785, in: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausg., Stuttgart 1929 ff., ND und Fortsetzung 1971 ff., Bd. 2, S. 235: »Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unterdessen in der Metaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Platners und selbst des Alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde, oder aus gelehrten Anzeigen, die selten viel belehrender sind.« – Vgl. hinsichtlich Reinholds Charakterisierung auch den dritten der Merkur-Briefe: »Man würde die Kritik der Vernunft sehr misverstehen, wenn man im Ernste glaubte, sie zermalme alles,

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sie risse ohne Unterschied ein, was unsre großen Denker bisher gebaut haben, und erkläre unsre bisherige Metaphysik ohne Einschränkung für unbrauchbar.« (»Das Resultat der Kritik der Vernunft über den nothwendigen Zusammenhang zwischen Moral und Religion«, in: Der Teutsche Merkur, 1. Bd., Januar 1787, S. 1–39, S. 27) 23 Gemeint ist Kants Kritik der reinen Vernunft. – Die erwähnten »akademischen Lehrer« dürften insbesondere Johann August Eberhard aus Halle, vgl. unten Anm. 82 und 104, und Johann Georg Heinrich Feder aus Göttingen sein, vgl. Anm. 100. 24 Einer dieser »berühmtere[n] Namen« ist sicherlich Johann Georg Heinrich Feder, Philosophieprofessor in Göttingen, vgl. unten Anm. 100. 25 Wie ein roter Faden zieht sich durch die frühe Kant-Rezeption die Unverständlichkeit der Kantischen Terminologie. So heißt es in einer der ersten Rezensionen der Kritik der reinen Vernunft in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, Oktober 1783, Anhang zum 37. bis 52. Bd., 2. Abt., Berlin und Stettin, S. 838–862, S. 839: »Der Verfasser, um sein System begreiflich zu machen, hat nöthig gefunden, auch eine neue Terminologie einzuführen. […] Das Tageslicht des gemeinen Menschenverstandes […] kann sie doch selten hinlänglich erhellen«. Vgl. ferner die Rezension von Johann Georg Heinrich Feders Schrift Ueber Raum und Caussalität, Göttingen 1787, in den Wirzburger Gelehrten Anzeigen, 83. Stück vom 17. Oktober 1787, bes. S. 814, in der Kant »Kraftsprache, Schaffung neuer Wörter, geheimnißvolle Dunkelheit« vorgeworfen wird. 26 Etwa in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783, setzt sich Kant im Anhang »Probe eines Urtheils einer Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht« (S. 202–215, = Akad.-Ausg., 4.372–380) mit der zwar anonym erschienenen, aber von Christian Garve verfaßten und von Johann Georg Heinrich Feder redigierten und erweiterten Rezension der Kritik der reinen Vernunft auseinander, die in der Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, 1. Bd., 3. Stück vom 19. Januar 1782, S. 40–48, erschienen ist. Daß Christian Grave (1742–1798) an dieser Rezension einen beträchtlichen Anteil hatte, weiß Kant erst aufgrund von Garves Brief vom 13. Juli 1783 (Akad.-Ausg., 10.328–333), worin dieser übri-

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gens seinen Anteil an der Rezension stark herunterspielt (zu den Hintergründen dieser Rezension vgl. Günter Schulz, »Christian Garve und Immanuel Kant. Gelehrten-Tugenden im 18. Jahrhundert«, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau 5 (1960), S. 123–188). In den Prolegomena schreibt Kant: »Er [nämlich der Rezensent Feder, Hg.] scheint gar nicht einzusehen, worauf es bei der Untersuchung, womit ich mich (glücklich oder unglücklich) beschäftigte, eigentlich ankam, und es sei nun Ungeduld ein weitläuftig Werk durchzudenken, oder verdrießliche Laune über eine angedrohte Reform einer Wissenschaft, bei der er schon längstens alles ins Reine gebracht zu haben glaubte, oder, welches ich ungern vermuthe, ein wirklich eingeschränkter Begriff daran Schuld, dadurch er sich über seine Schulmetaphysik niemals hinauszudenken vermag; kurz, er geht mit Ungestüm eine lange Reihe von Sätzen durch, bei denen man, ohne ihre Prämissen zu kennen, gar nichts denken kann, streut hin und wieder seinen Tadel aus, von welchem der Leser eben so wenig den Grund sieht, als er die Sätze versteht, dawider derselbe gerichtet sein soll, und kann also weder dem Publikum zur Nachricht nützen, noch mir im Urtheile der Kenner das mindeste schaden; daher ich diese Beurtheilung gänzlich übergangen sein würde, wenn sie mir nicht zu einigen Erläuterungen Anlaß gäbe, die den Leser dieser Prolegomenen in einigen Fällen vor Mißdeutung bewahren könnten.« (Akad.-Ausg., 4.373). »Der Recensent verstand also nichts von meiner Schrift und vielleicht auch nichts von dem Geist und dem Wesen der Metaphysik selbst.« (Akad.Ausg., 4.377; vgl. auch Akad.-Ausg., 23.63). 27 In einer Nachricht in den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 11. November 1786 heißt es: »Hr. Hofrath Feder arbeitet jetzt an einer Schrift, worin er beweisen will, daß die Kantische Philosophie eine verfeinerte scholastische sey«, vgl. Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991, S. 470. 28 Reinhold zitiert frei aus der anonym erschienenen Schrift von Heinrich Corrodi, Versuch über Gott, die Welt, und die menschliche Seele. Durch die gegenwärtigen philosophischen Streitigkeiten veranlaßt, Berlin und Stettin 1788, 4. Abschnitt »Versuch einer Beurtheilung des Kantischen Angrifs auf die alte Metaphysik«, S. 354–419.

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Zitiert wird S. 418 f., dem ein vorhergehendes Textstück angeschlossen wird: »Ein System, das allen Streitigkeiten über transscendentalen Erkenntniß ein Ende machen soll, | muß selbst von Schwierigkeiten frei seyn, alle Irrwege der Spekulation vermeiden, nicht neue Unbegreiflichkeiten an die Stelle der alten setzen. Es muß endlich höchst faßlich sein, und durch eine über alle Sophismen spitzfi ndiger Grübelei siegende Analytik alle Einwürfe zu Boden schlagen, und allen unfreiwilligen Täuschungen des Wahrheit suchenden Forschers abhelfen. Ob ein Sterblicher ein solches System aufstellen kann, da Kant es nicht konnte, kann wol Niemand entscheiden.« Das folgende kompiliert Reinhold aus dem Darüberstehenden, S. 418: »Wie können vollends wir Andere, die dies System kennen, oder nicht kennen, uns so große Dinge von einem dogmatischen System, einem Lehrgebäude positiver Grundsätze versprechen, dessen Beweise äußerst abstrus, und den wenigsten Menschen faßlich sind, und dessen Resultate sich von den Prinzipien der bekannten Metaphysik und den simpeln Lehren der schlichten Menschenvernunft gleich weit entfernen.« Heinrich Corrodi (1752–1793), seit 1786 Professor für Naturrecht am Züricher Carolinum-Gymnasium und Vertreter der Halleschen Aufklärungstheologie, vertritt die leibniz-wolffische Metaphysik gegen die kritische Philosophie, die er im letzten Teil seines genannten Buchs – übrigens nicht besonders intelligent – kritisiert. Corrodi ist außerdem Rezensent für die Allgemeine Literatur-Zeitung und die Allgemeine deutsche Bibliothek. In der Anmerkung von TMSKP-1, die im Versuch fehlt, zitiert Reinhold aus der soeben erwähnten Schrift von Heinrich Corrodi, Versuch über Gott …, S. 421 f.: »Aber die neuen Verächter der Metaphysik, die auf das Ansehen des scharfsinnigen Kants bauen, können sich solcher allerdings fürchterlichen Waffen nicht gegen sie bedienen. Die Waffen Kants bestehen in Gründen, die die Metaphysik mit sich selbst in Widerspruch bringen sollen, indem sie ihr im Grund, ein neues metaphysisches System entgegensetzen, aber ein System – das der inmetaphysische Denker eben sowohl als die übrigen für ein fein ersponnenes Geweb von Sophistereien halten muß, das dahin abzielt, uns alle Erkenntniß von wirklichen Dingen zu entreißen, und allen sichern Zusammenhang zwi-

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schen Wahrheit und Erkenntniß zu vernichten, wenn er anders die Resultate der Kantischen Philosophie nicht allein, sondern auch die Beweise weiß; also weiß, daß K. eigentlich durch | metaphysische Analytik, oder durch ontologische und psychologische Untersuchungen die alte Metaphysik zu stürzen versucht hat.« – Die Bemerkung über Kants Lächeln fi ndet sich auf S. 418: »Ich bin sehr weit von der Anmaßung entfernt, bestimmen zu wollen, was die Erscheinung der Kantischen Schriften, die für Meisterstücke des menschlichen Scharfsinns gelten können, für Einfluß auf Philosophie und Religion haben werden, und was für Früchte ihre unbefangene Prüfung und Benutzung tragen wird. Aber ich denke, das Kant selbst lächeln würde, wenn ihm einer seiner Verehrer zu verstehen geben sollte, daß seine Entdeckungen, wie dieser V. sich schmeichelt, den Streit der falschen Metaphysik und Hyperphysik mit der Vernunft beendigen, und die theologische Dogmatik mit der Moral aussöhnen, kurz allem Grübeln sowohl als allem Schwärmen im Felde der Religion für die Zukunft Einhalt thun werden.« – Die erwähnte »Erklärung« Kants bezieht sich auf die letzten Seiten seiner in zwei Teilen im Teutschen Merkur erschienenen Schrift Ueber den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, 1. Bd., Januar 1788, S. 36–52, Beschluß, Februar, S. 107–136 (= Akad.-Ausg., 8.159–184), wo er sich öffentlich bedankt für die gelungene Darstellung seiner Philosophie in Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie: »In beider Rücksicht hat nun der Verfasser der Briefe über die K. Philosophie sein Talent, Einsicht und ruhmwürdige Denkungsart jene zu allgemein nothwendigen Zwecken nützlich anzuwenden musterhaft bewiesen; und ob es zwar eine Zumuthung an den vortrefflichen Herausgeber gegenwärtiger Zeitschrift ist, welche der Bescheidenheit zu nahe zu treten scheint, habe ich doch nicht ermangeln können, ihn um die Erlaubniß zu bitten, meine Anerkennung des Verdienstes des ungenannten und mir bis nur vor kurzem unbekannten Verfassers jener Briefe um die gemeinschaftliche Sache einer nach festen Grundsätzen geführten sowohl speculativen als praktischen Vernunft, so fern ich einen Beitrag dazu zu thun bemüht gewesen, in seine Zeitschrift einrücken zu dürfen. Das Talent einer lichtvollen, sogar anmuthigen Darstellung trockener abgezogener Lehren ohne Verlust ihrer Gründlichkeit ist so selten (am wenig-

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sten dem Alter beschieden) und gleichwohl so nützlich, ich will nicht sagen blos zur Empfehlung, sondern selbst zur Klarheit der Einsicht, der Verständlichkeit und damit verknüpften Überzeugung, – daß ich mich verbunden halte, demjenigen Manne, der meine Arbeiten, welchen ich diese Erleichterung nicht verschaffen konnte, auf solche Weise ergänzte, meinen Dank öffentlich abzustatten.« (Akad.-Ausg., 8.183). – Veranlaßt ist diese Erklärung durch Reinholds Bitte – in seinem ersten Brief vom 12. Oktober 1787 an Kant –, ihm öffentlich zu attestieren, die kritische Philosophie richtig verstanden zu haben: »Ich weiß, wie viel ich begehre, indem ich Sie bitte unter meinen Briefen wenigstens den Dritten (: im Jenner d. J.) und den Achten (: im September :) zu lesen, und dann, wenn Sie es für thunlich halten mir bey der unten anzuzeigenden Gelegenheit [Hg.: Reinhold bittet Kant um einen Beitrag für den Teutschen Merkur zur Deduktion der Kategorien, vgl. KA 1.276], das einfache Zeugniß zu geben, daß ich die Critik der reinen Vernunft verstanden habe. Dieses Zeugniß wird meinem Berufe, wenn er mehr als Traum ist, das Siegel seiner Authenticität aufdrücken, und meinen Briefen aufmerksamere und häufigere Leser, und meinen Vorlesungen über meine Einleitung in die Kritik der Vernunft für Anfänger, die ich in vierzehn Tagen eröfnen werde, Zuhörer verschaffen.« (KA 1.274) 29 Isaac Newton (1642–1727), britischer Physiker, Astronom und Mathematiker, hat mit seiner Philosophiae naturalis principia mathematica, London 1687, den bedeutendsten Beitrag für die neuzeitliche (experimentelle) Physik und Mathematik geliefert. 30 In Deutschland eingeführt ist der Ausdruck Popularphilosophie von Johann August Ernesti (1707–1781), vgl. De philosophia populari prolusio actui oratorio in schola Thomana, Leipzig 1754. Zur Popularphilosophie in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Reinholds Kampf gegen sie vgl. Christoph Böhr, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, bes. S. 203 ff. 31 Einen ähnlichen Vergleich zwischen Newton und Kant stellt Reinhold an im ersten seiner Briefe über die Kantische Philosophie, mit dem Titel »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., August 1786, S. 99–127, S. 126, wo er den Leser »nur die Newtonschen Werke ins Gedächtniß zurückrufen

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[Hg.: will], die ihrer mathematischen Evidenz ungeachtet lange Zeit hindurch das nämliche Schicksal erfahren haben. Und doch konnte Newton darauf rechnen, daß ihn die besten Köpfe und geschicklichsten Mathematiker wenigstens am leichtesten verstehen würde[n]. Eine Hoffnung, die sich Kant in Rüksicht auf die geübtesten und berühmtesten Philosophen seiner Zeit eben nicht so allgemein machen kann.« 32 Nach der traditionellen Logik sind in jeder der vier Schlußfiguren sechzehn Kombinationen möglich. Die hier von Reinhold monierte »falsche Spitzfi ndigkeit« der syllogistischen Figuren hat auch Kant in seiner kleinen Schrift Die falsche Spitzfi ndigkeit der vier syllogistischen Figuren, Königsberg 1762, angeprangert, vgl. Akad.-Ausg., 2.24–61. Ähnlich schon René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Amsterdam 1701, X , 5 [René Descartes, Œuvres, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, ND Paris 1964–1974, Bd. 10, S. 403]: »Atqui ut adhuc evidentius appareat, illam disserendi artem nihil omnino conferre ad cognitionem veritatis, advertendum est, nullum posse Dialecticos syllogismum arte formare, qui verum concludat, nisi prius ejusdem materiam habuerint, id est, nisi eandem veritatem, quae in illo deducitur, jam ante cognoverint«. Vgl. ferner auch John Lockes Kritik der syllogistischen Formen, S. 186 mit der Anm. 140. 33 Eine der erklärten Absichten der Kritik der reinen Vernunft ist es, einen ewigen Frieden in der Philosophie zu stiften: »Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Proceß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Theile rühmen, auf den mehrentheils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß.« (KrV, A 751 f. / B 779 f., vgl. auch A 777 / B 805) – Diesen Gedanken des Friedens in der Philosophie hat Reinhold früh von Kant aufgegriffen und energisch weiterentwickelt. In vorliegender Schrift zeigt sich das in den Gegenüberstellungen streitender philosophischer Positionen und Reinholds Versuch,

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Anmerkungen des Herausgebers

sie miteinander zu versöhnen, indem ein Standpunkt bezogen wird, den die streitenden Standpunkte voraussetzen. Bereits im ersten Merkur-Brief, »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft«, vom August 1786, a. a. O., Anm. 31, S. 123, heißt es, daß die Kantische Philosophie zum ersten Mal einen »ewigen Frieden im Reiche der Spekulation« ermögliche; vgl. dazu auch Reinholds Brief an Voigt von November 1786, bes. KA 1.146 f. 34 Gemeint ist Kants Kritik der reinen Vernunft. 35 Gemeint ist René Descartes, vgl. oben Anm. 10. 36 Der Unterschied zwischen Allgemeingültig und Allgemeingeltend wird von Reinhold so verstanden, daß etwas dann allgemeingeltend ist, wenn das Allgemeingültige auch allgemeine Zustimmung und allgemeine An- und Aufnahme erfahren hat. 37 Gottfried Wilhelm Leibnitz argumentiert gegen John Lokkes Satz »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu«, daß dieser nur auf Erfahrungsgegenstände zutrifft, nicht jedoch auf die das Denken selbst konstituierenden Begriffe wie Sein, Möglichkeit, das Eine und Gleiche, Ursache u. a. m., d. h. »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus«, vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, Amsterdam / Leipzig 1765, 2. Buch, Kap. 1, § 2, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, in 7 Bdn., hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–90 [ND Hildesheim 1960], Bd. 5, S. 100. 38 Im Spätherbst von 1772 wird Reinhold Novize im Jesuitenkollegium zu St. Anna in Wien und wechselt, wegen der Schließung des Ordens, 1773 in das Barnabitenkollegium über, wo er Philosophie und Theologie studiert. Im Sommer 1778 schließt er sein Studium ab und wird am 27. August er zum Priester geweiht. 39 Reinhold befaßt sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre tatsächlich eingehend mit Dichtung und Poesie. Im März 1777 veröffentlicht er in der Wiener Zeitschrift Litterarische Monate die Ode »Reinholds Lied, als er Sineds Lieder das erstemal gelesen hatte« (S. 131–134). Sined ist ein Pseudonym für den Jesuiten und Dichter Johann Michael Kosmas (1729–1800), der Reinhold dichterisch beeinflußt hat. 40 Reinhold lebt nach seiner Flucht aus Wien am 19. November 1783 und einem kurzzeitigen Aufenthalt in Leipzig seit Mai

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1784 in Weimar, wo er Haus- und Tischgenosse Christoph Martin Wielands und Mitarbeiter an dem von demselben herausgegebenen Teutschen Merkur ist. Am 16. Mai 1785 vermählt er sich mit Sophie Katharina Susanne, der ältesten Tochter Wielands. Im Juni 1787 geht er als außergewöhnlicher Philosophieprofessor nach Jena. 41 In einem Brief von 1812 schreibt Reinhold an Friedrich Heinrich Jacobi: »Ich habe, als ich die Critik der reinen Vernunft studirte, über ein ganzes Jahr kein anderes Buch, und dieses viermal […] hinter einander gelesen«, vgl. F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, hrsg. von Rudolf Zoeppritz, 2 Bde., Leipzig 1869, Bd. 2, S. 95. Im November 1786 behauptet Reinhold, die Kritik der reinen Vernunft »einer dritten prüfenden Durchlesung unterzogen zu haben«, vgl. KA 1.153. 42 Die Briefe über die Kantische Philosophie begründen Reinholds philosophischen Ruhm und bringen ihm eine Professur in Jena ein. Zuerst publiziert werden sie in mehreren Folgen in dem von Christoph Martin Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur. Der erste Brief »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft« erscheint 1786 im 3. Bd., S. 99–127; der zweite Brief »Das Resultat der Kantischen Philosophie, über die Frage vom Daseyn Gottes«, 1786 im 3. Bd., S. 127–141; der dritte Brief »Das Resultat der Kritik der Vernunft über den nothwendigen Zusammenhang zwischen Moral und Religion«, 1787 im 1. Bd., S. 1–39; der vierte Brief »Ueber die Elemente, und den bisherigen Gang der Ueberzeugung von den Grundwahrheiten der Religion«, 1787 im 1. Bd., S. 117–142; der fünfte Brief »Das Resultat der Kritik der Vernunft über das zukünftige Leben«, 1787 im 2. Bd., S. 167–185; der sechste Brief »Fortsetzung des vorigen. Vereinigtes Interesse der Religion und der Moral bey der Hinwegräumung des metaphysischen Erkenntnißgrundes für das zukünftige Leben«, 1787 im 3. Bd., S. 67– 88; der siebte Brief »Skizze einer Geschichte des p[s](h)ychologischen Vernunftbegriffes der einfachen denkenden Substanz«, 1787 im 3. Bd., S. 142–165; der achte Brief »Fortsetzung des vorigen. – Hauptschlüssel zur rationalen Psychologie der Griechen«, 1787 im 3. Bd., S. 247–278. – Von diesen Briefen erscheint unter dem Titel Briefe über die Kantische Philosophie bei Heinrich Valentin

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Anmerkungen des Herausgebers

Bender, Mannheim 1789, ein nicht autorisierter Nachdruck in Buchform. Ein zweiter, ebenfalls nicht autorisierter Nachdruck erscheint unter dem Titel Auswahl der besten Aufsäzze über die Kantische Philosophie, Frankfurt und Leipzig (in Wahrheit Marburg bei Krieger) 1790. Diese Raubdrucke zeigen, wie ungemein populär Reinholds Briefe waren. 1790 erscheint bei Göschen die von Reinhold selbst besorgte und erheblich erweiterte Buchausgabe dieser Briefe unter dem Titel Briefe über die Kantische Philosophie, erster Band, Leipzig (diese Ausg. enthält statt der ursprünglichen 8 nun 12 Briefe). Der zweite Band, ebd. 1792, enthält neues Material, das wesentlich nach 1790 verfaßt ist. 43 Wenn bei Reinhold von Resultaten der Kantischen Philosophie die Rede ist, so sind damit in der Regel die über die Freiheit des Willens, das Dasein Gottes und das zukünftige Leben gemeint. 44 Reinhold ist seit Juni 1784 Redakteur des von Christoph Martin Wieland in Weimar von 1773 bis 1790 herausgegebenen Teutschen Merkur, von dem vier Bände pro Jahr erscheinen. Im Sommer 1786 wird er, nach dem Ausscheiden des stillen Teilhabers Justin Bertuch, auch Teilhaber der Zeitschrift. Zur Geschichte der Zeitschrift vgl. Hans Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert, Berlin 1914, und den Sammelband »Der Teutsche Merkur« – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, in der Reihe: Ereignis WeimarJena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 2, hrsg. von Andrea Heinz, Heidelberg 2003, mit darin besonders Thomas Bach, »Karl Leonhard Reinhold (1757–1823). Philosophie und Kulturmorphologie im ›Teutschen Merkur‹ «, S. 254–275. 45 Über seine Berufung an die Universität Jena schreibt Reinhold bereits Ende Januar 1787 an Christoph Friedrich Nicolai, »vielleicht in einem halben Jahr in Jena [zu, Hg.] existiren« (KA 1.189). Herder verfaßt am 4. Januar 1787 ein positives Gutachten über Reinholds philosophische Talente für den Herzog Carl August (vgl. KA 1.200 Anm. 4); und Goethe freut sich in einem Brief vom 3. Februar 1787 aus Rom über »Reinholds Verpflanzung« nach Jena (ebd.). Am 22. Mai 1787 ist die Berufung beschlossene Sache; und am 27. Juni 1787 melden die Gothaischen gelehrten Zeitungen Reinholds Berufung nach Jena »als Professor

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der Ästhetik«, was freilich nicht ganz richtig ist. Die Allgemeine Literatur-Zeitung folgt mit der Nachricht über seine Berufung erst zwei Monate später, am 29. August 1787. Im Wintersemester desselben Jahres nimmt Reinhold am 26. Oktober seine Vorlesungstätigkeit auf. Er liest »öffentlich über die Kantische Theorie des Erkenntnisvermögens zur Einleitung in die Kritik für Anfänger – und privatim über die Theorie der schönen Wissenschaften, nach Eberhard’s Leitfaden und eigenen Zusätzen«, vgl. Jenaische gelehrte Anzeigen, 82. Stück vom 12. Oktober 1787, S. 647 ( jetzt in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991, S. 681). 46 Verdeutlichung der Erkenntnis ist der leibniz-wolffi schen Schule zufolge durch Zergliederung (Analysis) der Erkenntnis zu erreichen. Vgl. dazu etwa Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, § 139, S. 37 (= Akad.-Ausg., 16.340): »Die Handlung, wodurch ein gewisser Grad der Deutlichkeit in unserer Erkenntniss hervorgebracht wird, heisst die Zergliederung der Erkenntniss (resolutio, analysis, anatomia cognitionis). Eine Erkenntniss kann zergliedert werden, wenn sie von irgends einem denkenden Wesen kann deutlich gemacht werden (cognitio resolubilis). In so ferne sie aber nicht deutlich werden kann, in so ferne ist sie eine Erkenntniss, die nicht zergliedert werden kann (cognitio irresolubilis).« Nach Kant ist die transzendentale Analytik »Zergliederung unseres gesammten Erkenntnisses a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntniß.« (KrV, A 64 / B 89) 47 Mit dieser »Theorie des Erkenntnisvermögens« ist die Kantische gemeint, die nach Reinhold für die Explikation ihrer Prämissen die Theorie des Vorstellungsvermögens voraussetzt. Damit macht die kritische Philosophie nicht mehr den »höchsten Gesichtspunkt« aus, »von welchem aus alle[ ] unteren sich übersehen lassen« (Reinhold an Kant am 19. Januar 1788, KA 1.314). Der Versuch vertritt nicht länger den Anspruch – wie teilweise noch die Merkur-Briefe –, eine »bloße Erläuterung der Kritik der Vernunft oder Paraphrase des Kantischen Systems, sondern die bisher noch nirgends aufgestellten eigentlichen Elemente der kritischen Philosophie« zu liefern (»Fragmente über das bisher allgemein verkannte Vorstellungsvermögen«, in: Der Teutsche Merkur, 4. Bd., Oktober 1789, S. 3–22, S. 3 Anm.). Am 13. März 1790 schreibt Reinhold Fried-

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Anmerkungen des Herausgebers

rich Heinrich Jacobi, »das kritische System auf einem ganz anderen Wege neu begründet« zu haben, und infolge wovon Kants »äußerst künstliche Articulation«, »Terminologie« und »Analysis, Dialektik, Antinomie etc. von selbst« wegfällt, vgl. F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, hrsg. von Rudolf Zoeppritz, 2 Bde., Leipzig 1869, Bd. 1, S. 135 (= KA 2.253 f.). 48 Diese Datierung ist nicht mit dem tatsächlichen Erscheinungsdatum des Versuchs zu verwechseln, nämlich Mitte Oktober 1789, vgl. dazu Reinholds Brief vom 18. Oktober 1789 an Friedrich Heinrich Jacobi, dem ein Exemplar des Versuchs beiliegt (F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, 2 Bde., Leipzig 1869, Bd. 1, S. 115 f. (= KA 2.172 f.)). Die Datierung der »Vorrede« geht zurück auf ihren Separatdruck unter dem Titel Ueber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie, Jena 1789; im Druck für die Ausgabe des Versuchs ist dieses Datum nicht angepaßt, siehe dazu auch oben Anm. 1, sowie die »Einleitung«, Abschn. 8. 49 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, »The Epistle to the Reader«, S. 10: »’tis Ambition enough to be employed as an UnderLabourer in clearing Ground a little, and removing some of the Rubbish, that lies in the way to Knowledge«. 50 Das erste Buch liegt spätestens am am 14. Juni gedruckt vor, denn an diesem Tag schickt Reinhold es Kant zur Durchsicht, vgl. Akad.-Ausg., 11.17 und 11.60. Auch Christoph Martin Wieland hat es vorgelegen, wie aus einem Brief vom 21. Juli 1789 von Nikolai Karamsin (1766–1826) über einen Besuch bei Wieland hervorgeht: »Er [Wieland, Hg.] zeigte mir eine neue Schrift seines Schwiegersohnes, des Professors Reinhold: ›Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens‹, die soeben die Presse verlassen hatte und die Erläuterung der Kantschen Philosophie beabsichtigt. ›Lesen Sie das Buch durch‹, sagte Wieland, ›wenn Sie an dergleichen Sachen Geschmack fi nden.‹« (Nikolai Michailowitsch Karamsin, Briefe eines russischen Reisenden, hrsg. von Walter Markov, Berlin 1977, ²1981, S. 162, [Orig.: Письма русского путешественника (Pis’ma russkogo putesestvennika), EA Moskau 1791–92, dt. EA Briefe eines reisenden Russen, übs.

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von Johann Richter, in 6 Bdn. mit Kupfern, Leipzig 1799–1802]). Es scheint nicht, daß Karamsin die Schrift mitgenommen oder gelesen hat. – Ferner besteht das erste Buch zum überwiegenden Teil aus Material, das in verschiedenen Publikationen auch schon gesondert erschienen war. Es handelt sich um folgende Aufsätze: 1.) »Allgemeiner Gesichtspunkt einer bevorstehenden Reformation der Philosophie«, in: Der Teutsche Merkur, Juni 1789, S. 243–274 und ebd. Juli 1789, S. 75–99 (= Versuch, § 1, S. 71–120). Wieland erhält den ersten Teil des Aufsatzes Ende April, wie aus seinem Brief vom 2. Mai an Reinhold hervorgeht (vgl. Wielands Briefwechsel, hrsg. von Siegfried Scheibe, Bd. 10/1, Berlin 1992, S. 192), den zweiten Teil erhält er am 10. Juni (vgl. ebd., S. 219). 2.) »Von welchem Skeptizismus läßt sich eine Reformation der Philosophie hoffen?«, in: Berlinische Monatsschrift, Juli 1789, 14. Bd., 1. Stück, S. 49–72 (= Versuch, § 2, 120–141). Der Aufsatz ist auf den 20. Mai datiert und mit »Reinhold« unterschrieben. 3.) »Wie ist Reformazion der Philosophie möglich?«, in: Neues deutsches Museum, 1. Bd., 1. Stück, Juli 1789, S. 31–47, ebd. 2. Stück, August 1789, S. 204–226 und ebd. 3. Stück, S. 284–304 (= Versuch, §§ 3, 4 u. 5, S. 141–192, mehrere Seiten sind dem ersten MerkurBrief entnommen). Schon früher ist erschienen: »Neue Entdeck.«, in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom 25. September 1788, Nr. 231 a, Sp. 831–832 (= Versuch, § 1, S. 76–82, allerdings erweitert und anders eingeteilt). 51 Die Philosophie Kants hat auf wesentliche Weise auf die Entwicklung des Naturrechts gewirkt. Schon Kant selbst kritisiert in seiner kleinen Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Berlinische Monatschrift, 4. Bd., 1784, S. 385–410 (= Akad.-Ausg., 8.17–31), die noch immer nicht angemessen gelungene Begründung des Rechts, dessen Bestimmung freilich aus der reinen Vernunft abgeleitet werden muß. Der von Kants Philosophie beeinflußte Jenaer Jurist und Philosoph Gottlieb Hufeland fordert in seinem Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785, die Bestimmung eines obersten Grundsatzes zur Begründung des Naturrechts, vgl. hierzu unten Anm. 84. 52 Mit den Kindern des Lichts und der Finsternis wird vermutlich angespielt auf Epheser 5,8–14 (zit. nach der Bibelübersetzung von Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984): »Denn

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ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.« 53 Dies ist vermutlich eine Anspielung auf Ludwig Heinrich Jakob, der in seinem einleitenden Aufsatz »Über die Freiheit« für Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters Schrift Ueber den ersten Grundsatz der Moralphilosophie, Leipzig 1788, 2. völlig umgearb. Aufl. Berlin 1790, schreibt: »Lasset uns also muthig die Behauptung des gesunden Menschenverstandes gegen die Anfälle der Schule in Schutz nehmen. […] Lasset uns treulich gestehen, die Freiheit sey ein Faktum, dessen Möglichkeit für uns unauflöslich ist, weil ihr Grund in einer Sphäre liegt, wohin unser Erkenntnisvermögen nicht zu dringen vermag.« (S. 18 f.) 54 Anaxagoras von Klazomenai (ca. 496–428 v. Chr.), griechischer Naturphilosoph, der erstmals einen nicht-natürlichen Grund, nämlich den »Geist« (noàj) als Ursache für den sinnvollen Verlauf der Entstehung der Welt angenommen hat. Einen Gottesbeweis im modernen Sinne des Wortes hat Anaxagoras freilich nicht geliefert. Vermutlich bezieht sich Reinhold in vorliegendem Zusammenhang auf den Geist, von dem Anaxagoras sagt, er sei unendlich und in seiner Unvermischtheit gegenüber allem Anderen selbstherrlich (noàj dš ™stin ¥peiron kaˆ aÙtokratj kaˆ mšmeiktai oÙdenˆ cr»mati, ¢ll¦ mÒnoj aÙtÕj ™p' ™wutoà ™stin, zit. nach Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von Hermann Diels und Walter Kranz, 61951, 59 B 12). Dieser Geist kannte alles, was sich mischte, absonderte und voneinander schied; und alles, wie es werden soll, war und gegenwärtig ist, ordnet er an (kaˆ t¦ summisgÒmen£ te kaˆ ¢pokrinÒmena kaˆ diakrinÒmena p£nta œgnw noàj. kaˆ Ðpo‹a œmellen œses qai kaˆ Ðpo‹a Ãn, ¤ssa nàn m¾ œsti, ebd.). Außerdem ist der Geist nach Anaxagoras ewig, vgl. ebd., 59 B 14.

Anmerkungen des Herausgebers

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55 Unsterblich nennt Reinhold Moses Mendelssohn offenbar in Anlehnung an seine damals populärste und auch am meisten gelesene Schrift Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen, Berlin 1767, in der er auch einen neuen Beweis für die Unvergänglichkeit der Seele liefert, der für die Sittenlehre vorausgesetzt ist. Dem ontologischen und kosmologischen Gottesbeweis fügt Mendelssohn einen dritten teleologischen Beweis hinzu, vgl. Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin 1785, Kap. XVII , in: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausg., Stuttgart 1929 ff., ND und Forts. 1971 ff., Bd. 2, S. 386 f. Mendelssohn bemüht sich insbesondere, dem ontologischen Gottesbeweis eine größere Festigkeit zu geben, wie schon Leibniz forderte, vgl. Nouveaux essais sur l’entendement humain, Buch 4, Kap. 10, § 8, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, in 7 Bdn., hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–90 [ND Hildesheim 1960], Bd. 5, S. 419 f. 56 Mit dem in der Allgemeinen Literatur-Zeitung bekanntgegebenen Resultat weist Reinhold hin auf einen kleinen, von ihm verfaßten und auch unterzeichneten Aufsatz mit dem Titel »Neue Entdeck.«, unter der Rubrik »Literarische Nachrichten« in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 231 a vom 25. September 1788, Sp. 831–832. Dieser kleine Aufsatz ist eine Stellungnahme gegen die von August Wilhelm Rehberg vertretene Auffassung (vgl. »Erläuterung einiger Schwierigkeiten der natürlichen Theologie«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., September 1788, S. 215–233), daß ein substantieller Gottesbegriff philosophisch bedeutungslos sei. Mit »Antikritik« meint Reinhold die extrem Kant-kritische Schrift von Benedikt Stattler, Anti-Kant, 2 Bde., München 1788 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 260]. Christoph Friedrich Nicolai hat Reinhold das Buch Anfang 1789 zur Rezensierung geschickt, er nennt es ein »monstrum horrendum ingenes!«, vgl. Reinholds Brief vom 23 Februar 1789 an Nicolai, KA 2.60. Ebenfalls in 1788 erscheint von Stattler Anhang zum Anti-Kant in einer Widerlegung des Kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, München [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 261]. Eine sehr kritische Rezension dieses Buches in der Allgemeinen Literatur-Zeitung beantwortet Stattler mit der kleinen Gegenschrift Schreiben des Verf. des Anti-Kant an die Theilhaber der allgem. Literaturztg. von Jena über

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Anmerkungen des Herausgebers

eine, in selber erschienene, äußerst seichte, aber eben darum viel bedeutende Recension seines Anti-Kants, München 1789. – Der Gegenaufklärer und Konterrevolutionär Benedikt Stattler (1728–1797) gehörte in Österreich, wie zunächst auch Reinhold, bis zu seiner Aufhebung dem Jesuitenorden an. Seit 1770 ist er Professor für Dogmatik an der Universität Ingolstadt. Philosophisch gilt er als Anhänger der wolffischen Schule, welche Philosophie er auch in der katholischen Theologie einheimisch zu machen versuchte. Im Zuge der Klosterreform verläßt er 1782 Österreich und geht zunächst in die Oberpfalz und 1788 nach München, wo er von 1790 bis 1794 dem Zensurrat angehört. In diese Münchner Zeit fällt seine Auseinandersetzung mit Kant und der kantischen Philosophie. Neben den Kantianismus hat Stattler auch den Illuminatismus bekämpft, etwa mit seiner Schrift Das Geheimniß der Bosheit des Stifters des Illuminatismus in Baiern, zur Warnung der Unvorsichtigen hell aufgedeckt von einem seiner alten Kenner und Freunde, München 1787. 1790 wird er ins kurfürstliche Zensuramt berufen, wo er versucht, Kants Schriften auf den Index zu bekommen, was ihm allerdings nicht gelingt. 57 Den Ausdruck »schikanieren« [Orig.: chicaniren] belegt Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger, Wien 1808, Bd. 1, S. 1327, unter dem Lemma »Chicane«: »ein künstliches Hinderniß, unerhebliche Einwendung u. s. f. eine Handlung oder Sache zu hindern, oder wenigstens aufzuhalten. Ingleichen die Kunst, eine Sache, besonders einen Rechtshandel, durch dergleichen Mittel aufzuhalten […] Daher der Chicaneur […], der sich solcher Kunstgriffe bedient, und chicaniren, solche Kunstgriffe anwenden. […] Wir haben im Hochdeutschen keinen schicklichen Ausdruck für diesen Begriff, und müssen uns daher mit dem Französischen behelfen.« – Kant verwendet den Ausdruck einige Male in der KrV, meistens mit Hinblick auf die alte Metaphysik, die die Gegenstände der Sinne von den formalen Bedingungen der Sinnlichkeit abkoppelt, vgl. KrV, A 166 / B 206 f., A 441 f. / B 468 f., A 626 / B 654, vgl. auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Akad.-Ausg., 4.404. Auch verwendet den Ausdruck Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Raum und Caussalität, Göttingen 1787, und Frankfurt & Leipzig 1788 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 70], S. 116.

Anmerkungen des Herausgebers

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Vgl. oben Anm. 15. Hier spielt Reinhold an auf den Pantheismusstreit, den Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, ausgelöst hat. Mendelssohn hat sich energisch gegen das von Jacobi mitgeteilte Bekenntnis seines Freundes Gotthold Ephraim Lessing zur Wehr gesetzt, daß dieser Spinozist sei, offenkundig deshalb, weil nach Jacobi der Atheismus notwendige Folge des Spinozismus sei. Jacobis Schrift richtet sich vornehmlich gegen den ersten Teil von Mendelssohns Schrift Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin 1785. Auf das Spinoza-Buch Jacobis antwortet Mendelssohn mit der Schrift Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza, Berlin 1786. Dagegen veröffentlicht kurz nach Mendelssohns Tod Friedrich Heinrich Jacobi wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza, Leipzig 1786. Insbesondere aber wird diese Stelle auch gegen August Wilhelm Rehbergs Behauptung gerichtet sein, Spinozas System sei kein Atheismus. Hiergegen macht Reinhold nämlich schon in einer Rezension der Rehbergschen Schrift Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion, Berlin 1787, geltend: »Nur Schade daher um alle Mühe, die so manche würdige Männer auf die Läugnung dieses Systems verwenden, denn soll es aufhören Atheismus zu seyn, ist es nicht mehr Spinozismus.« (Algemeine Literatur-Zeitung, Nr. 153 b vom 26. Juni 1788, Sp. 689–696, Sp. 695) 60 Friedrich Heinrich Jacobi verteidigt in seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, den Glauben an eine übernatürliche Offenbarung. Gegen Reinholds Verdikt, er sei ein Supernaturalist, verwehrt sich Jacobi in einem Brief vom 16. November 1789 an Kant: »Verzeihen Sie, lieber Verehrungswürdiger, die Weitlaufigkeit meiner Herzenserleichterung. Ich wollte nicht gern daß Sie mich für einen Supernaturalisten nach den Beschreibungen des Herrn Profeßor Reinhold hielten.« (Akad.-Ausg., 11.105) In einem Brief an Jacobi vom 13. März 1790 erklärt sich Reinhold über den Supernaturalismusvorwurf: »So hätte denn also die Art wie Ihrer in jenem Versuche [d. h. im Versuch ] gedacht wird bey Ihnen Zweifel über meine wahren Gesinnungen gegen Sie veranlaßt. Ich habe 58

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Sie und Schlossern als Vertheidiger des Supernaturalismus angeführt, weil ich keine andern Vertheidiger dieses Systems kenne, die den Namen von Philosophen, der nur Selbstdenkern gebührt, im strengsten Sinne verdienten, und weil ich den Supernaturalismus nicht wie seine Naturalistischen Gegener für Unphilosophie, sondern für einen der Vier ächt philosophischen Gesichtspunkte halte, aus welchem die Wahrheit vorher einseitig beleuchtet werden mußte, bevor der fünfte entdeckt war, der das Wesen, was aus jenen Vieren gesehen wurde, vereinigt.« (Vgl. F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, hrsg. von Rudolf Zoeppritz, 2 Bde., Leipzig 1869, Bd. 1, S. 134 f. (= KA 2.253 f.)) – Johann Georg Schlosser (1739–1799), Jurist und hoher badischer Beamter, seit 1789 Direktor des Hofgerichts, Freund und Schwager Goethes, vertritt eine erkenntnistheoretische Skepsis gegen alle absolutistischen Ansprüche, auch gegen die in der Philosophie. Vermutlich bezieht sich Reinhold hier auf Schlossers Schrift Ueber Shaftsbury von der Tugend, an Born, Basel 1785, die er vielleicht nur aus der Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 23. März 1787, Nr. 68, Sp. 641–646, kannte, vgl. KA 1.208. Über Schlosser siehe Johan van der Zande, Bürger und Beamter Johann Georg Schlosser 1739–1799, Stuttgart 1986. 61 Reinhold defi niert Legalität gegenüber Moralität anders als Kant. Ihm zufolge enthält eine Handlung »Legalität, aber nicht Moralität«, wenn »die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze [geschieht, Hg.], aber nur vermittelst eines Gefühls […], mithin nicht um des Gesetzes willen«, KpV, A 126 f., Akad.Ausg., 5.71. Genausowenig identifi ziert Kant »Gesetzmäßigkeit überhaupt« mit Legalität, erstere ist »nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt […], welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Akad.-Ausg., 4.402) 62 Freiheit ist somit nicht nur für sittliches, sondern auch für unsittliches Handeln vorausgesetzt, vgl. auch Versuch, S. 567 f. mit der Anm. 314. Zu dieser Auffassung von Freiheit, die hier wie sonst im Versuch ohne jeden ausdrücklichen Bezug auf die Lehrstücke der

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1788 erschienenen und von Reinhold hochgelobten Kritik der praktischen Vernunft (vgl. Reinholds Brief an Kant vom 19. Januar 1789, KA 1.312 f.) bleibt, vgl. die Ausführungen von Faustino Fabbianelli, »La concezione della libertà del volere nel «Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens» di Karl Leonhard Reinhold, in: Annali del Dipartimento di Filosofi a dell’Università di Firenze, Nuova Serie, 1998–1999, S. 39–53, bes. 50 ff. 63 Die Behauptung, die Freiheit sei die Grundwahrheit der Moralität, wird von Reinhold an dieser Stelle erstmals aufgestellt. 64 Die Behauptung, die Freiheit sei jedem, d. h. auch demjenigen, der noch nicht über sie philosophiert hat, bewußt, steht im Widerspruch zu der Auffassung Kants, der von der Freiheit ausdrücklich festhält, daß wir uns ihr »weder unmittelbar bewußt werden« (KpV, A 53, Akad.-Ausg., 5.29) noch sie »als Eigenschaft eines Wesens […] erkennen« können (KrV, B XXVIII ). 65 Auch 1791 noch erklärt Reinhold es für eine Aufgabe der »künftigen Philosophie«, jene »schweren Probleme« aufzulösen, »welche von der bisherigen Philosophie über die M ö g l i c h k e i t d e r F r e y h e i t aufgeworfen sind, und durch welche dem Selbstdenker, auch die Wirklichkeit der Freyheit, die er sonst wie der gemeine Mann als Thatsache seines Bewußtseyns annehmen würde, problematisch geworden ist.« Gelöst kann dieses Problem erst dann sein, so Reinholds Ansicht bis 1791 – in den Briefen II ändert sie sich gravierend –, wenn die Freiheit einst durch »theoretische Prinzipien völlig gerechtfertigt(en)« sein würde, vgl. »Ueber Die Grundwahrheit der Moralität und ihr [verbessert aus: ihre] Verhältniß zur Grundwahrheit der Religion«, in: Der neue Teutsche Merkur, März 1791, 1. Bd., S. 225–262, S. 261, bzw. Briefe II, S. 379 (= 10. Brief). 66 Sofern mit dem »philosophischen Erkenntnisgrunde« die ratio cognoscendi als Grundwahrheit für die Moralität gemeint ist, liegt hier ein Widerspruch zur KpV vor, derzufolge »die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.« (KpV, A 5, Akad.-Ausg., 5.4 Anm.) 67 Dieses Kap. ist eine starke Anspielung auf die Tabelle »Praktische materiale Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit« mit den nachfolgenden Ausführungen, KpV, A 69 ff., Akad.-Ausg., 5.40 f.

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68 Vermutlich wird hier angespielt auf August Wilhelm Rehberg, der Kants Moralphilosophie in seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 188, vom 6. August 1788, Sp. 345–360 [auch in: Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer, Frankfurt 1975, S. 179–186] »Schwämerey« nennt, weil die »Achtung fürs Gesetz ein Gefühl, und doch keine sinnliche Empfi ndung seyn soll« (Sp. 355), bzw.: »Der Gedanke, daß das Gesetz selbst, nicht aber das Vergnügen am Gesetze, die Triebfeder der Sittlichkeit seyn müsse, ist selbst Schwärmerey.« (Sp. 353) Schon ein Jahr früher formuliert Rehberg, Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion, Berlin 1787, offenbar gegen Kant: »Weil der Mensch fi ndet, daß die Idee der Tugend nie in der Sinnlichkeit rein dargestellt werden kann, so wird er verleitet, entweder dieser letzten sich schwärmerisch entziehen zu wollen, oder sich zu theilen: der Sittlichkeit in der Speculation, der Sinnlichkeit im wirklichen Leben sich zu ergeben, und durch diesen vermeinten, nicht in der Natur sondern im falschen Wahne gegründeten, Widerspruch aller natürlichen Neigungen mit der Tugend, wird er zu einer Art zu denken und zu handeln gebracht, die ihn in eignen und fremden Augen verächtlich, ihn selbst unglücklich, und andern gefährlich macht.« (S. 136) Reinhold hat dieses Buch rezensiert für die Algemeine Literatur-Zeitung, Nr. 153 b vom 26. Juni 1788, Sp. 689–696. 69 Die Unabhängigkeit des Willens von Lust und Unlust vertritt auch Kant: »Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetze unmittelbar den Willen, nicht vermittelst eines dazwischen kommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an diesem Gesetze, und nur, daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich, gesetzgebend zu sein.« (KpV, A 45, Akad.Ausg., 5.25) Ginge der Maxime des Willens »ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens […] vorher, der ein Objekt der Lust und Unlust voraussetzt« (KpV, A 109, Akad.-Ausg., 5.62), müßte dies jederzeit Heteronomie hervorbringen. – Im folgenden entwickelt Reinhold diese zweite Position nach der von Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft entwickelten Tafel der materialen Bestimmungsgründe des Willens, die in subjektive und objektive, beide wieder in innere und äußere (wobei die subjektiven

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inneren und äußeren wieder in jeweils zwei Unterklassen auseinanderfallen) unterteilt werden, vgl. KpV, A 69, Akad.-Ausg., 5.40. Diese Einteilung widerspiegelt sich auch in den Titeln, die Reinhold den folgenden vier Unterabschnitten beilegt. 70 Kant zufolge darf der »Grund der Verbindlichkeit« des Sittengesetzes »nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er [ jener Grund, Hg.] gesetzt ist, gesucht werden«, sondern »a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft«, vgl. die »Vorrede« der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Akad.-Ausg., 4.389. 71 Zu dieser und den folgenden drei Überschriften vgl. oben Anm. 68. 72 Michel de Montaigne (1533–1592), französischer Jurist, Politiker und Moralphilosoph. Sein Hauptwerk sind die Essais, Bordeaux 1580, erw. Aufl. Paris 1588 und ebd. 1595 [Dt. Michaels Herrn von Montagne Versuche, nebst des Verfassers Leben, [übs. von Johann Daniel Tietz], in 3. Bdn., Leipzig 1753–54]. – Bernhard (de) Mandeville (ca. 1670–1733), britischer Arzt, Philosoph und Schriftsteller, steht in der Tradition des französischen Skeptizismus und der britischen Aufklärungsphilosophie. Berühmt wurde er durch sein Buch The Fable of the Bees, or Private Vices, Publick Benefits, 2 Vol., London 1714, 2., stark erw. Aufl. 1723 und 1729 [Dt. Anti-Shaftesbury, oder die Entlarvte Eitelkeit der Selbstliebe und Ruhmsucht, [übs. von Just German von Freystein], Frankfurt / M. 1761]. Beide philosophische Positionen werden auch von Kant in seiner Tafel der materialen Bestimmungsgründe als Beispiele erwähnt. 73 Epikuros aus Samos (ca. 342– ca. 271 v. Chr.) gründet 306 in Athen die nach ihm benannte und in der Antike sehr einflußreiche Philosophenschule. Sein umfangreiches Werk, das allerdings nur fragmentarisch erhalten ist, gilt insbesondere der Naturphilosophie, die Ausgangspunkt für die Entwicklung der Maximen für die praktische Lebensführung ist. Epikurs materialistische Naturphilosophie – die Rede von einem »System« ist sicher anachronistisch – hat die Befreiung des Menschen von religiösem Aberglauben und von der Angst vor dem Tode zum Zweck. Der Epikureismus galt in der Antike als eine Lehre des unbedenklichen Genusses der materiellen Freuden des Daseins. – Nach

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Pierre Gassendi (1592–1655), auch »Epicurus redivivius« genannt, hat sich niemand mehr in gleicher Weise zum Epikureismus bekannt; überhaupt handelt es sich hierbei um eine Position, die im 18. Jh. in Deutschland zum größten Teil »vermittelt ist durch die französische Literatur des 17. Jahrhunderts, den englischen Empirismus und den Einfluß der Moralischen Wochenzeitschriften« (Dorothee Kimmich, Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Darmstadt 1993, S. 90), vgl. auch unten Anm. 74. – Von Christoph Meiners stammt der erste umfangreiche Aufsatz über Epikur und Gassendi, »Ueber Epikurs Charakter, und dessen Widersprüche in der Lehre von Gott«, in: Vermischte philosophische Schriften, 2. Bd., Leipzig 1776, S. 45–129. 74 Kant erwähnt in seiner Tafel der materialen Bestimmungsgründe Epikur als Beispiel für die Position des physischen Gefühls und Francis Hutcheson für die des moralischen Gefühls. Letztere Position identifi ziert Reinhold, im Gegensatz zu Kant, nicht mit einem konkreten philosophischen System. – Nach Kant verfährt Epikur viel konsequenter als etwa Aristoteles und Locke »nach seinem Sensualsystem« (KrV, A 854 / B 882) und nennt ihn Vertreter eines »reinen Empirismus« (KrV, A 466 / B 494), weshalb Epikur auch »der vornehmste Philosoph der Sinnlichkeit« sei (KrV, A 853 / B 881). Wegen der sinnlichen Konnotationen weist Kant das »Epikurische(n) Princip der Glückseligkeitslehre« (KpV, A 70, Akad.-Ausg., 5.41, vgl. auch ebd., 5.93 u. 126) als Bestimmungsgrund für den Willen ab. Reinhold legt im siebten Merkur-Brief, »Skizze einer Geschichte des p[s](h)ychologischen Vernunftbegriffes der einfachen denkenden Substanz«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., 1787, S. 161, dar, daß Epikur »die sinnliche Evidenz (energeia) zur Quelle aller Ueberzeugung und Gewisheit« gemacht habe. 75 Zu diesen »neuen Epikureern« gehört offensichtlich Claude Adrien Helvétius (1715–1771). Über ihn schreibt Reinhold in »Ueber die Natur des Vergnügens«, in: Der Teutsche Merkur, 4. Bd. 1788, S. 61–79, Forts., S. 144–167 und Schluß 1. Bd. 1789, S. 37–52, er sei »weder der Erste, noch der Einzige, welcher alle Fähigkeiten des Gemüthes, und folglich auch das Vermögen angenehmer und unangenehmer Empfi ndungen, von dem, was er für die Sinnlichkeit hielt, nämlich von der Empfänglichkeit für äussere Ein-

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drücke, einzig und allein hergeleitet wissen wollte. Er hatte unter den Alten vorzüglich Epikur zum Vorgänger.« (S. 37) 76 Die »Moralität« wird, so Reinhold im siebten Merkur-Brief, »Skizze einer Geschichte des p[s](h)ychologischen Vernunftbegriffes der einfachen denkenden Substanz«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., 1787, S. 162: »im Epikureeischen [Systeme, Hg.] zu einem wohlberechtigten Systeme des Eigennutzes«. 77 Vgl. dazu den siebten Merkur-Brief, »Skizze einer Geschichte des p[s](h)ychologischen Vernunftbegriffes der einfachen denkenden Substanz«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., 1787, S. 164, wonach die Epikureer »den Verstand für eine Modifi kation der Sinnlichkeit, das Subjekt aber dieser durch Empfi ndung mit dem Leibe unmittelbar zusammenhängenden Seele, für einen Stoff ähnlicher Natur mit dem Leibe, einem stäten Ab- und Zuflusse unterworfen,« gehalten haben. 78 Kant bringt diese Position in seiner Tafel der materialen Bestimmungsgründe in der Kritik der praktischen Vernunft mit Christian Wolff und der Stoa in Zusammenhang, vgl. KpV, A 69, Akad.-Ausg., 5.40. 79 Tatsächlich nimmt auch Kant in der Kritik der praktischen Vernunft das stoische Prinzip der Vollkommenheit (virtus) zusammen mit dem epikureischen der Glückseligkeit (voluptas), vgl. KpV, A 70 f., Akad.-Ausg., 5.41, weshalb Reinhold hier auch behauptet, daß beide Positionen letztendlich »über nichts als Worte zanken«. 80 Nach Moses Mendelssohns anonym erschienener Schrift Ueber die Empfi ndungen, Berlin 1755, 10. Brief, in: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausg., Stuttgart 1929 ff., ND und Forts. 1971 ff., Bd. 1, wird die Seele durch die sinnliche und durch die Nerven vermittelte Lust »eine Verbesserung, einen Uebergang zu einer Vollkommenheit innerlich fühlen, aber die Art, wie diese Verbesserung entstanden, nur dunkel begreifen […] sie wird eine undeutliche, aber lebhafte Vorstellung von der Vollkommenheit ihres Körpers erlangen« (S. 146). Ähnlich auch die Auffassung von Christian Wolff, Psychologia empirica, Frankfurt / Leipzig 1738, § 536, S. 414 [ND in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, hrsg. von J. École, H. W. Arndt, Ch. A. Corr, J. E. Hofmann und M. Thomann, 2. Abt., Lat. Schr., Bd. 5, Hil-

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desheim 1972]: »Voluptas et taedium ortum ex perceptione confusa perfectionis et imperfectionis.« Vgl. hierzu auch Reinholds Brief vom 19. Januar 1788 an Kant, KA 1.313 f. 81 Reinhold zitiert Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, S. 91, Akad.-Ausg., 4.442 f.: »daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vortheil sei, der uns an sie knüpfe.« – Dies ist eine der ganz wenigen direkten Anspielungen auf die Grundlegung, die Reinhold an dieser Stelle bedeutsamerweise auch nicht ausweist. 82 Johann August Eberhard (1739–1809) hat Theologie, Philosophie und klassische Philologie studiert und ist seit 1778 Professor für Philosophie an der Universität Halle (dieser Lehrstuhl war übrigens zunächst für Kant bestimmt, doch lehnte dieser den Ruf, trotz großen Andringens des Freiherrn von Zedlitz ab, vgl. die Briefe vom Frühjahr 1778, Akad.-Ausg., 10.224 f., 228 f., 232). Eberhard hat mehrere Handbücher verfaßt, die auch von Kant und Reinhold für ihre Vorlesungen verwendet wurden, vgl. oben Anm. 45. Philosophisch ist er Anhänger der leibniz-wolffi schen Philosophie und steht außerdem in enger Verbindung zur Berliner Aufklärung. Die von Reinhold erwähnten »neuesten vermischen Schriften« betreffen die Neuen vermischten Schriften, 2., stark erweiterte Aufl., Halle 1788 (Erstausgabe: Vermischte Schriften, Halle 1784). 83 Reinhold zitiert Johann August Eberhard, Neue vermischte Schriften, Halle 1788, Kap. VI: »Ueber den moralischen Sinn«, S. 182–274, 6. Brief, S. 208–214, S. 208 f.: »Die neuere Philosophie hat es [das erste Principium, Hg.] so ausgedruckt: wir müssen uns so vollkommen machen, als möglich. Der kürzeste Weg sich von dieser Grundwahrheit zu überzeugen, ist der, den die meisten gewählt haben, nemlich es aus [verb. aus: auch] der Natur des | Willens herzuleiten. Wir können nichts begehren, sagen sie, was uns nicht gefällt, oder was wir uns nicht anschauend als gut, und nichts verabscheuen, was uns nicht mißfällt, oder was wir uns nicht anschauend als böse vorstellen. Wenn also das gut ist, wodurch unsere Vollkommenheit vermehrt, oder unsre Unvollkommenheit vermindert, und das böse, wodurch unsere Unvollkommenheit vermehrt oder un-

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sere Vollkommenheit vermindert wird: so müssen wir unsere Vollkommenheit wollen, und unsere Unvollkommenheit nicht wollen. Die Sache hat ihre Richtigkeit, vermöge der Natur unseres Willens muß diese Wahrheit eben so gewiß die erste und allgemeine Grundwahrheit für die praktischen Wissenschaften seyn, als vermöge der Natur unseres Verstandes der Satz des Widerspruches der erste Grundsatz aller spekulativen Wissenschaften ist.« 84 In den 80er Jahren ist noch kaum die Rede von einer ausgiebigeren Literatur zum Naturrecht. Hauptsächlich erst unter Einfluß von Kants Moralphilosophie gelangt das Naturrecht in den 90er Jahren zu neuem Elan. Maßgeblich in dieser Zeit sind die Arbeiten zum Naturrecht von Gottfried Achenwall, die auch Kant seinen Vorlesungen zugrunde legte. 85 Gemeint ist die Erstlingsschrift von Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785. Dieses Buch ist von Kant in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 92 vom 18. April 1786, Sp. 113–116 (= Akad.-Ausg., 8,127–131), positiv rezensiert, obwohl der Königsberger Hufelands Ansichten kaum wird haben zustimmen können. Hufeland gibt in seinem Buch einen ausführlichen Überblick über die Geschichte des Naturrechts und seiner Begründung mit dem Ergebnis, daß diese Begründung bislang noch nicht zufriedenstellend gelungen sei. – Auf welche anderen »neueren Schriften zum Naturrecht« Reinhold hier hinweist, ist nicht klar, vermutlich bezieht er sich dabei auf die Namen, die auch Johann Friedrich Flatt in seinen unten zitierten Vermischten Versuchen, Leipzig 1785, erwähnt, vgl. Anm. 86. Eher nicht in Frage kommt die Kant-Kritische Schrift von Christian Gottfried Tilling, Gedanken zur Prüfung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, vorgetragen in Absicht auf die Begründung des höchsten Grundsatzes des Naturrechts, Leipzig 1789, in der erstmals der Formalismus der Kantischen Moralphilosophie angegriffen wird, zugunsten des ganzen, also sowohl vernünftigen als auch sinnlichen Menschen. Gottlieb Hufeland (1760–1817) wird 1788 außerordentlicher Professor der Rechte in Jena und 1790 ordentlicher Professor. Außerdem ist er seit 1785 Mitarbeiter und seit 1788 (bis 1799) neben Christian Gottfried Schütz Mitherausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung.

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86 Gemeint ist Johann Friedrich Flatt, Vermischte Versuche, Leipzig 1785, mit darin die längere Abhandlung »Ideen zur Revision des Naturrechts, oder Prolegomena zu einem neuen Zwangsrecht«, S. 1–114, neben sechs kürzeren Abhandlungen theologischen Inhalts. Die »Ideen« kritisieren die Möglichkeit einer Grundlegung des Naturrechts. Eine Auseinandersetzung mit Kant fi ndet sich in dieser, während seines Aufenthalts in Göttingen entstanden Schriftensammlung noch nicht. Sehr positiv rezensiert ist das Buch von Johann Georg Heinrich Feder in der Philosophischen Bibliothek, 2. Bd., Göttingen 1789, S. 119–136, und von Johann Gebhard Ehrenreich Maaß, im Philosophischen Magazin, 1. Bd. (1788), 2. Stück, S. 193–234. Johann Friedrich Flatt (1759–1821) ist seit 1785 außerordentlicher Professor für Philosophie und seit 1792 außerordentlicher Professor der Theologie auf einer zusätzlichen Stelle (1798 besetzt er den Lehrstuhl seines Lehrers Gottlob Christian Storr) am Tübinger Stift. Er ist einer der ersten Tübinger Professoren, der Anfang 1790 Vorlesungen über Kant veranstaltet. In verschiedenen Schriften hat er sich eher kritisch mit Kants Philosophie, insbesondere seiner Religionsphilosophie auseinandergesetzt. Reinhold hat in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 3 vom 3. Januar 1789, Sp. 18–22, Flatts Fragmentarische Beyträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Causalität, und zur Grundlegung der natürlichen Theologie in Beziehung auf die Kantische Philosophie, Leipzig 1788, kritisch rezensiert, siehe dazu unten Anm. 109. Zu Flatt siehe ferner Michael Franz, »Johann Friedrich Flatt als Professor der Philosophie in Tübingen (1785–1792)«, in: : »… im Reiche des Wissens cavalieremente«? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, in der Reihe: Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/2: Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von Hölderlin, Hegel und Schelling, Bd. 2, hrsg. von dems., Tübingen 2005, S. 535–554. 87 Reinhold zitiert Johann Friederich Flatt, Vermischte Versuche, Leipzig 1785, S. 5 f. (Hervorhebungen im Original in Fettschrift): »Ich will versuchen, ob es mir nicht vielleicht gelingt, durch eine Art von litterarischer Deduktion – durch Zusammenstellung und Prüfung jener beyden Hauptprincipien des Zwangsrechts und der vornehmsten Modifi kationen derselben, so wie man sie in den

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Schriften der neuesten Philosophen besonders antrift – Sie zu der Idee hinzuleiten, d a ß N a t u r r e c h t i m n e u e r e n S i n n e n t w e d e r gar nicht, oder | doch nicht in dem Umfang und in der F o r m , d i e e s j e t z t h a t , z u d e r Za h l d e r W i s s e n s c h a f t e n g e h ö r e .« – Die beiden von Flatt erwähnten »Hauptprincipien des Zwangsrechts« sind einerseits »ein subjektives« und andererseits »ein objektives« (S. 4). Diejenigen Autoren, die von dem »subjektiven« Hauptprinzip des Zwangsrechts ausgehen, »nehmen den unterscheidenden Karakter der vollkommenen Rechte und Pfl ichten von der K l a r h e i t , G e w i s h e i t , U n a b h ä n g i g k e i t derselben, v o n so l c h e n U m s t ä n d e n , ü b e r d i e n u r d e r P f l i c h t t r ä g e r, n i c h t d e r R e c h t h a b e n d e z u u r t h e i l e n i m | S t a n d e i s t « (S. 4 f.); die anderen Autoren, die »ein objektives Principium zum Grund« legen (S. 4), nehmen den unterscheidenden Charakter »hingegen von d e m Ve r h ä l t n i s her, w o r i n d i e H a n d l u n gen mit der Erhaltung der Gesell schaft, oder mit der Erhaltung des Individuum s und dessen wa s d a s Individ u u m z u s e i n e m S e l b s t r e c h n e n k a n n , s t e h e n «. (S. 5) – Hinsichtlich der neueren Autoren zum Naturrecht bezieht sich Reinhold wahrscheinlich auf die von Flatt erwähnten Moses Mendelssohn, Johann Friedrich Zöllner, Fleischer, Francis Hutcheson, Georg Beyer, Johann Georg Sulzer, Christian Garve, Johann August Heinrich Ulrich, Adam Ferguson, Martin Ehlers, Gottfried Achenwall, Richard Woodeson, Henry Goodricke, Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Alexander Köhler und Johann Georg Heinrich Feder. 88 In BM wird angespielt auf die beiden vorhergegangenen Stücke TM AG-1 und TM AG-2, S. 71–120. 89 Ein Bedlam ist eine Irrenanstalt. 90 Dieses Bild verwendet Reinhold auch in seinem Aufsatz »Gedanken über Aufklärung«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., Juli 1784, S. 3–22, S. 21, um zu zeigen, daß keine Defi nition von Aufklärung möglich sei, denn der bloße Versuch »würde beyläufig die Rolle des Nabobs von Natches spielen, der frühmorgens mit gravitätischer Geschäftigkeit aus seiner Hütte hervorgeht, um der Sonne mit dem Finger die Bahn vorzuzeichnen, die sie den Tag über am Horizont zu nehmen hat.« – Ein Nabob ist ein moslemischer Statthalter in Indien; seit der Mitte des 18. Jahrhun-

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derts, zunächst in England, wird damit auch ein extrem reicher Mann bezeichnet. 91 Juvenal (ca. 55– ca. 135) römischer Satirendichter. Seine sechzehn überlieferten Satiren haben vornehmlich das Sittenverderbnis verbunden mit einer energischen Sozialkritik zum Thema. 92 Plural von Sokrates aus Athen (ca. 469–399 v. Chr.), einer der bedeutsamsten griechischen Philosophen. Hier sind offensichtlich die sogenannten Popularphilosophen gemeint, die die Metaphysik durch den gesunden Menschenverstand aus der Philosophie verdrängen wollen. Vgl. dazu auch eine Stelle aus im dritten Merkur-Brief, wonach es dem christlichen Denken »aufbehalten« sei, »die Resultate von den tiefsinnigen Betrachtungen der Weltweisen zum gemeinschaftlichen Besitz aller Stän|de zu machen, den kalten Beyfall, die sie bis dahin bey einer kleinen Anzahl denkender Köpfe gefunden hatten, in warme Liebe und thätige Ausübung umzuschaffen, und, was die Sokrate vergebens versucht haben – die Philosophie aus den unfruchtbaren Gegenden der Spekulation herabzuziehen, und in die wirkliche Welt einzuführen.« (»Das Resultat der Kritik der Vernunft über den nothwendigen Zusammenhang zwischen Moral und Religion«, in: Der Teutsche Merkur, 1. Bd., Januar 1787, S. 1–39, S. 7 f.) 93 Mit »Hauptstadt der feinen Welt« ist Paris gemeint. 94 Übersetzt: Gegen den, der Prinzipien [der Diskussion] leugnet, läßt sich nicht streiten. – Der Satz geht vermutlich zurück auf Aristoteles, Metaphysik, 1005 b 15–18: ¿n g¦r ¢nagka‹on œcein tÕn Ðtioàn xynišnta tîn Ôntwn, toàto oÙc ØpÒqesij: Ö dš gnwr…zein ¢nagka‹on tù Ðtioàn gnwr…zonti, kaˆ ¼kein œhonta ¢nagka‹on (Übs.: denn das Prinzip, das jeder notwendigerweise besitzen muß, der auch nur etwas von den Seienden versteht, ist nicht bedingt; und das, was jeder erkennen muß, der etwas zu erkennen meint, muß ihm immer schon zugekommen sein). Diese Bestimmung ist nach Aristoteles das Sicherste, was wir besitzen; aus ihr folgen der Satz der Identität und der des Widerspruchs. – Auch Thomas von Aquino schreibt dieses »Sprichwort« Aristoteles’ Metaphysik zu, vgl. Quaestiones disputatae De Anima, in: Opera Omnia, Bd. 24, hrsg. von B.-C. Bazán, Rom 1996, Q. 2 resp.: »Vnde idem modus disputandi seruandus est contra hanc

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positionem et contra negantes principia, ut patet per disputationem Aristotilis contra eos in IV Methaphysice«. 95 Hyperphysik ist nach Reinhold »jede übernatürliche Theorie des Uebernatürlichen«, vgl. den ersten Merkur-Brief, »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., August 1786, S. 99–127, S. 111. – Nach Kant ist die transzendentale Dialektik »eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken und ihre Ansprüche auf Erfi ndung und Erweiterung, die sie bloß durch transscendentale Grundsätze zu erreichen vermeint, zur bloßen Beurtheilung und Verwahrung des reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen.« (KrV, A 64 f. / B 88) 96 Nämlich im ersten Merkur-Brief, »Bedürfniß einer Kritik der Vernunft«, in: Der Teutsche Merkur, 3. Bd., August 1786, S. 99– 127. 97 Die folgenden Absätze, bis zum Schluß dieses Abschnittes, sind gegenüber dem »Ersten Brief«, siehe vorherige Anm., erheblich geändert und umgestellt, weshalb die Rede von »einigen Veränderungen« untertrieben ist; es handelt sich um S. 117–123: »Alle die Schiksale, die unsre Philosophie bis izt erfahren hat, mußten vorhergegangen seyn, ehe man ans Vorlegen, geschweige dann ans Auflösen dieses Problems im Ernste denken konnte. Beydes war auf dem Dogmatischen, das heißt, auf dem am meisten betretenen Wege, schlechterdings unmöglich. Und doch war dieser Weg vor der Auflösung unsers Problems, nicht nur an sich selbst unvermeidlich, sondern selbst als Vorbereitung zu derselben unumgänglich nothwendig. Ohne die durch schmeichelnde Täuschung hingehaltenen Bemühungen der Dogmatiker, würden wir jene herrlichen Vorübungen nie erhalten haben, welche die Vernunft den Grad von Entwickelung zu danken hat, den sie zu einer so überaus schweren Unternehmung nöthig hat. So lange dieser Grad von Entwickelung nicht da war, vermochte der Skepticismus nicht viel mehr, als die Dogmatiker zu necken. Diese leztern sezten also ihre Wege ungehindert fort, und mußten sie weit genug fortsetzen, bis sie selbst oder ihre Zuschauer gewahr werden konnten, daß diese Wege in eben dem Verhältnisse vom Ziele abführten, als sie auf denselben weiter fortrükten. Vor diesem Zeit-

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punkte wäre es weder rathsam noch möglich gewesen, | sie in ihren Forschritten aufzuhalten. Nichts ist begreiflicher, als warum dieser Zeitpunkt nicht früher eintrat. Die Geschichte der Zeiten und Völker, die in den Wissenschaften etwas beträchtliches geleistet haben, giebt uns deutlich genug die Ursachen an, durch welche der Gang der Philosophie so oft unterbrochen wurde. Seit der Wiederauflebung der Wissenschaften unter uns, hatten die Dogmatiker eine geraume Zeit nöthig, bis sie in zweyen einander ungefähr das Gleichgewicht haltenden Hauptsekten, als Orthodoxen und Heterodoxen auftreten konnten, die leztern ihre Nothdurft frey und laut genug abhandeln durften, die erstern sich genöthiget sahen, die Vernunft zu Hülfe zu rufen, beyde aber mit der Bekämpfung ihrer Systeme es dahin brachten, daß man ihren Streit, so wichtig auch dessen Veranlassung seyn mag, für sehr unbedeutend hält, und selbst Philosophen und Theologen von Profession keinen Theil daran nehmen wollen. Sie würden unsrem Zeitalter sehr Unrecht thun, mein Freund, wenn Sie die Abneigung unsrer besseren Köpfe vor metaphysischen und theologischen Zänkereyen für eine Abneigung vor allen tiefsinnigen Untersuchungen überhaupt, und insbesondere vor einer Untersuchung von der Wichtigkeit unsres Problemes hielten. Es kömmt alles darauf | an, daß diese Wichtigkeit unsren Denkern durch besondere Umstände ans Herz gelegt werde; und dieß, glaube ich, dürfen wir von eben den Erscheinungen unsrer Zeit hoffen, die meinem Freunde so viel Böses anzukündigen scheinen. So metaphysisch die Frage: Was ist durch reine Vernunft möglich? auch klingen mag, so laut ertönt sie gegenwärtig durch die Stimme unsres unmetaphysischen Zeitalters. Wir haben fast keine theologischen Kämpfe mehr als die, welche ausdrücklich für und gegen die Vernunft geführt werden. ›Durch Vernunft ist wahre Gotteserkenntniß allein möglich; durch Vernunft ist sie unmöglich‹ heissen die Losungen der streitenden Partheyen; und die würklichen und vermeynten Beweise für diese beyden Behauptungen sind die gewöhnlichsten Waffen mit welchen man gegen einander zu Felde zieht. Man bestrebt sich also auszumachen, was die Vernunft zu leisten im Stande sey oder nicht; das heißt, man sucht für seine bisherigen Meynungen die Beweise im Vernunftvermögen selbst zu fi nden. Der Mangel an

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solchen noch nicht gefundenen Beweisen, oder vielmehr an allgemeingültigen Vordersätzen zu den bisherigen Beweisen, ist also die Schwierigkeit, worauf beyde Partheyen stoßen, und der eigentliche Punkt des alten Misverständnisses, dem man endlich näher gekommen ist. Ein dunkles aber lebhaftes Gefühl dieser Schwierigkeit äussert sich in der in unsren letzten Zeiten so sehr sichtbar gewordenen Verzweiflung, seine Meynungen durch Vernunftbeweise durchsetzen, und seine Zweifel durch Vernunftgründe auflösen zu kön|nen. Diese Verzweiflung hat zur gegenwärtigen Gleichgültigkeit gegen die Metaphysik nicht wenig beygetragen; unläugbar ist sie es, die so manchen veranlaßt, seine wankende Metaphysik durch Mystik und Kabalistik zu unterstützen; so manchen verleitet den Einladungen geheimer Gesellschaften, die ihm aus ihren Schätzen von Traditonen und Offenbarungen Befriedigung versprechen, Gehör zu geben; so manchen nöthiget von der Vernunft an Gefühl, Menschenverstand, Intuitionssinn, Geschichte u. s. f. zu apelliren. […] […] Noch nie hat man der Vernunft so offenbar zu viel und zu wenig zugemuthet als gegenwärtig. Die Abgötterey, welche auf der einen Seite mit ihr getrieben, und der Abscheu der ihr auf der andern Seite gezeigt wird, gehen bis zum Lächerlichen; indessen sowohl die übertriebenen Lobsprüche, als auch die Verläumdungen, womit man ihr zu begegnen gewohnt wird, noch zu keiner Zeit so allgemein angegriffen, und so geschickt widerlegt worden sind. Auch die vernünftigsten und moderatesten Anhänger jeder | Parthey müssen endlich auf den Gedanken kommen, den Grund der Uebertreibungen, die ihnen an ihren eigenen Mitbrüdern auffallen, in den ihrer ganzen Parthey gemeinschaftlichen Prinzipien aufzusuchen; da auch so gar ihnen selbst, und zwar von den vernünftigsten und moderatesten der Gegenpathey einstimmig der Vorwurf übertriebener Ansprüche für und gegen die Vernunft gemacht wird. Man ist auf der einen Seite eben so allgemein und vollkommen überzeugt, daß der Vernunft zu viel – als auf der andern, daß ihr zu wenig zugemuthet werde, oder welches eben so viel heißt, beyde Theile geben sich einander das Verkennen der Vernunft Schuld. Da nun jeder Theil seine Kenntniß der Vernunft vor seinem Gegentheile rechtfertigen muß, so sieht er sich genöthiget, ausser den Gründen, die bisher nur ihn selbst befrie-

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diget hatten, neue zu fi nden, die auch seinem Gegner einleuchten müssen. Er muß also über seine bisherige Kenntniß hinausgehen, und Grundsätze aufsuchen, die er bis dahin noch nicht entdeckt hat, mit einem Worte, er muß seine bisherigen Kenntnisse von der Vernunft neu begründen. Beyde Theile können also mit ihrer eigenen Vernunftkenntniß eben so wenig zufreiden seyn, als mit der ihrer Gegentheile, und das Bedürfniß einer neuen Untersuchung des Vernunftvermögens muß endlich von denkenden Köpfen eben so allgemein eingesehen werden, als man izt schon überzeugt ist, daß die Vernunft verkannt wird. | Das Problem: Was ist durch Vernunft möglich, wird also durch die gegenwärtigsten Zeitumstände nothwendig gemacht, vorbereitet und aufgegeben. Es würde schon ein kleines Verdienst unsers Jahrhunderts seyn, das alte unselige Mißverständniß, welches die Welt den blutigen und unblutigen Kriegen der Orthodoxen und Heterodoxen Preis gab, Unglauben und Aberglauben nothwendig machte, die Kräfte des menschlichen Geistes mit unnützen Spekulationen verschwendete, und allem Ansehen nach ewig fort dauren zu müssen schien, aus der Dunkelheit verworrener Begriffe hervorgezogen, auf die einfachsten Punkte gebracht, und ein Problem näher herbey geführt zu haben, dessen Auflösung unsren Nachkommen nichts geringeres, als das Ende aller philosophischen und theologischen Ketzereyen, und im Reiche der Spekulation einen ewigen Frieden verspricht, von dem noch kein Saint Pierre geträumt hat. Allein auch diese Auflösung selbst war noch unsrem Jahrhunderte vorbehalten; und eine glänzendere Krone konnte seinen Verdiensten wohl nicht aufgesetzt werden.« 98 Dies sind im Grunde genommen auch die beiden Positionen, wie sie von den beiden Hauptkontrahenden Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi im Pantheismusstreit eingenommen worden sind. 99 Gemeint ist Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, ²1787. 100 Vgl. oben Anm. 33. – Hinsichtlich des Vorhergehenden und des Kosmopoliten spielt Reinhold an auf einen Aufsatz von seinem Schwiegervater Christoph Martin Wieland, der 1788 im Teutschen Merkur erschienen war unter dem Titel »Das Geheimniß des Kos-

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mopolitenordens«, 3. Bd., August 1788 S. 97–115 und Fortsetzung 4. Bd., November 1788, S. 121–143. Hier vertritt Wieland eine gewaltlose und von der Aufklärung getragene »wohlthätige(n) Revolution«, die unter der Idee eines »wahren Kosmopolitismus« steht: »Aber auch in diesem wichtigen und zum Glück der Völker so wesentlichen Stücken scheint sich […] der gegenwärtige Zustand von Europa einer wohlthätigen Revolution zu nähern; einer Revolution, die nicht durch wilde Empörungen und Bürgerkriege, sondern durch ruhige, unerschütterliche standhafte Beharrlichkeit bey einem pfl ichtgemäßigen Widerstand, – nicht durch das verderbliche Ringen der Leidenschaften, der Gewalt mit Gewalt, sondern durch die sanfte, überzeugende, und zuletzt unwiderstehliche Uebermacht | bewürkt werden wird; kurz, einer Revolution, die, ohne Europa mit Menschenblut zu überschwemmen, und in Feuer und Flammen zu setzen, das bloße wohlthätige Werk der Belehrung der Menschen über ihr wahres Interesse, über ihre Rechte und Pfl ichten, über den Zwack ihres Daseyns, und die einzigen Mittel, wodurch derselbe sicher und unfehlbar erreicht werden kann, seyn wird.« (Ebd., Bd. 4, S. 133 f.). Freilich ist hier die Pointe Reinholds, daß sich der Kosmopolit auch zur kritischen Philosophie bekennen müsse, um jene Revolution tatsächlich bewerkstelligen zu können. – Hinsichtlich der Rolle Deutschlands in der europäischen Revolutionsbewegung, wovon im Verfolg des Haupttextes die Rede ist, macht Wieland die Bemerkung, daß »vor allen andern Völkern […] die teutsche Nation vorzüglich Ursache« habe, »die Hälfte von Europa von der Tyrannei des römischen Hofes zu befreyen, die Rechte der Vernunft gegen uralte Vorurteile zu behaupten, und den unabhängigen Geist der Untersuchung, der nach und nach so über alle Gegenstände der menschlichen Kenntnis ein so wohltätiges Licht verbreitete, aus einem mehr als tausendjährigen Schlummer aufzuwecken.« (Ebd., S. 142) 101 Gemeint ist die Schrift von Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Raum und Caussalität, zur Prüfung der Kantischen Philosophie, Göttingen 1787, Frankfurt / Leipzig 1788 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 70]. Von einer tatsächlichen Widerlegung kann Reinhold freilich nicht überzeugt sein. Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) ist seit 1768 Philosophieprofessor an der Universität Göttingen und seit 1782 Hof-

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rat, außerdem gehört er dem Illuminatenbund an. Bis etwa Ende der 80er Jahre gilt er als einer der berühmtesten deutschen Universitätsprofessoren. Philosophisch ist er Vertreter der damals in Deutschland weitverbreiteten Popularphilosophie, nachhaltig beeinflußt von der schottischen Philosophie des common sense. Weil ihm wegen seiner kritischen Haltung gegen die Kantische Philosophie schließlich die Studenten wegbleiben, gibt er 1797 seine Professur auf. Zusammen mit Christoph Meiners ist er Herausgeber der Philosophischen Bibliothek, von der in Göttingen zwischen 1788 und 1791 vier Bände erscheinen [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 71]. Hauptanliegen dieser Zeitschrift ist die Bekämpfung des Kantischen Kritizismus, vgl. J. G. H. Feders Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus zu entnehmen geneigt sind, hrsg. von Karl August Ludwig Feder, Leipzig 1825, S. 123 f. Für kurze Zeit war Feder auch Mitarbeiter des Teutschen Merkur. In der Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, 1. Bd., 3. Stück, vom 19. Januar 1782, S. 40–48, hat er – anonym – Kants Kritik der reinen Vernunft scharf rezensiert (dies ist die sogenannte Garve / Feder Rezension, siehe oben Anm. 26) und die kritische Philosophie mit dem Berkeleyschen Idealismus auf eine Linie gestellt. Kant hat sich mit dieser Rezension im Anhang »Probe eines Urtheils über die Critik, das vor der Untersuchung vorhergeht« der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783, S. 201–214 (= Akad.Ausg., 4.372–380), äußerst kritisch auseinandergesetzt (übrigens ohne den Namen Feders zu erwähnen). Reinhold wußte, daß Feder Verfasser dieser Rezension war, vgl. das Brieffragment von November 1786 an Christian Gottlob von Voigt, KA 1.148 f. Für das Verhältnis zwischen Feder und Kant siehe Reinhard Brandt, »Feder und Kant«, in: Kant-Studien 80 (1989), S. 249–264. 102 Reinhold zitiert Johann Georg Heinrich Feder, Logik und Metaphysik, vermutlich nach der 5. verm. Aufl., Frankfurt / Leipzig 1783, 2. Absch., § 8 (Vorerinnerung), S. 30: »Was diß heiße, sich eine Sache vorstellen, eine Sache erkennen, etwas denken; was Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, Ideen heißen, muß ein jeder von sich selbst wissen. Man kann hier weiter nicht erklären, als daß man, wenn etwa ein Wort jemanden nicht verständlich genug seyn sollte, ein

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anderes ihm verständliches wählet, um durch die bekannten Namen an Sachen zu erinnern, die man aus eigenen Empfi ndungen kennen muß. Wohl aber kann man durch gesuchte künstliche Defi nitionen die Begriffe verwirren, und zu Streitigkeiten Anlaß geben, deren man hätte überhoben seyn können«. – Dieses sehr einflußreiche Handbuch ist seit 1769 – zunächst mit dem Untertitel »Nebst der philosophischen Geschichte im Grundrisse« – bis 1794 in acht, meist vermehrten Auflagen erschienen. 103 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, erster Theil, neue durchaus umbearbeitete Aufl., Leipzig 1784, wobei es sich um die zweite, stark erweiterte Auflage der ersten von 1776 handelt. – Reinhold moniert bereits in einem Brieffragment an Christian Gottlob von Voigt von November 1786, Platner fertige »in der neuen Ausgabe seiner philosophischen Aphorismen die kantischen Grundideen mit einigen kurzen hingeworfenen Anmerkungen ab, ohne auch nur eine einzige von den vielen Berichtigungen, welche auch sogar der bisherigen Metaphysik aus der Kritik d. V. zu statten kommen könnten, in sein Werk aufzunehmen.« (KA 1.150 f.) Der Vorwurf, sich ungenügend mit der Kantischen Philosophie auseinandergesetzt zu haben, ist Platner auch in verschiedenen anderen Rezensionen seines bedeutsamen Lehrbuches gemacht. Übrigens bemerkt Platner in der neuen »Vorrede« zur 2. Aufl., daß er sich gern »über Kants Critik der reinen Vernunft allenthalben weitläufig ausgebreitet« hätte, doch ihm dazu der notwenige Raum nicht zur Verfügung gestanden hätte. Ernst Platner (1744–1818) ist seit 1770 außerordentlicher Professor der Medizin an der Universität Leipzig. 1780 wird er dort Professor der Physiologie und 1801 der Philosophie. Zwischen 1783 und 1789 ist er Rektor der Universität. Er ist ein glänzender und unkonventioneller Dozent, der sogar Frauen zu seinen Vorlesungen zuließ. Über Platner und sein Verhältnis zu Reinhold vgl. Alexander Košenia, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, Kap 1, bes. S. 18–23. – Nach seiner Flucht aus Wien studierte Reinhold die ersten Monate des Jahres 1784 in Leipzig u. a. bei Platner, woraus sich eine Freundschaft entwikkelt hat, die bis Anfang der 90er Jahre standhielt. Obwohl Platner

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Wert darauf legte, nicht als Anti-Kantianer zu gelten, stand er der Kantischen Philosophie faktisch skeptisch so nicht ablehnend gegenüber. In Jena liest Reinhold mindestens ein Semester Logik und Metaphysik nach Platners Philosophischen Aphorismen. 104 Johann August Eberhard ist der Herausgeber des Philosophischen Magazins, das von 1788 bis 1792 in Halle erscheint [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 63]. Reinhold meint vermutlich insbesondere folgende Aufsätze: »Ueber die Schranken der menschlichen Erkenntniß«, 1. Bd. (1788), 1. Stück, Nr. 2, S. 9–29, »Ueber wahre und falsche Aufklärung«, 1. Bd. (1788), 1. Stück, Nr. 3, S. 30–77, »Ueber das Gebiet des reinen Verstandes«, 1. Bd. (1788), 3. Stück, Nr. 2, S. 263–289, »Ueber die logische Wahrheit oder die transcendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntniß«, 1. Bd. (1788), 2. Stück, Nr. 2, S. 150–174, »Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transcendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntniß«, 1. Bd. (1788), 3. Stück, Nr. 1, S. 243–262, »Ueber den wesentlichen Unterschied der Erkenntniß durch Sinne und durch den Verstand«, 1. Bd. (1788), 3. Stück, Nr. 3, S. 290–306, »Ueber die Unterscheidung der Urtheile in analytische und synthetische«, 1. Bd. (1788), 3. Stück, Nr. 4, S. 307–332, »Ueber den Ursprung der menschlichen Erkenntniß«, 2. Bd. (1789), 4. Stück, Nr. 1, S. 369–405, und vermutlich auch die Gegenrezensionen, gegen die von Reinhold verfaßte Rezension des 3. und 4. Stücks von 1789 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 174 vom 11. Juni 1789, Sp. 577–584, Forts. Nr. 175 vom 12. Juni, Sp. 585–592, und Beschluß Nr. 176 vom 13. Juni, Sp. 593–597, nämlich »Beantwortung der Recension des dritten und vierten Stücks dieses Magazins in der Allg. Litt. Zeit. N. 174, 175, 176«, 2. Bd. (1789), 3. Stück, Nr. 1, S. 257–284, und »Weitere Ausführung der Untersuchung über die Urtheile in analytische und synthetische. Insonderheit in Beziehung auf die Recension des 3ten und 4ten Stücks dieses Magazins in der Allg. Litt. Zeit. 1789. No. 174, 175, 176«, ebd., Nr. 2, S. 285–315. Reinhold rezensiert das 3. und 4. Stück des Magazins von 1789 ausführlich und kritisch in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr 174 vom 11. Juni 1789, Sp. 577–584, Nr. 175 vom 12 Juni, Sp. 585–592, und Nr. 176 vom 13. Juni, Sp. 593–597. Kant hatte ihn für eine Rezension ausführlich mit Material versorgt und zwar in den Briefen vom

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12 Mai 1789, Akad.-Ausg., 11.33–40, und vom 19. Mai 1789, Akad.-Ausg., 11.40–48. Dieses Material hat Reinhold für seine Rezension verwertet, es konnte jedoch nicht, was seine ursprüngliche Absicht war, in der Allgemeinen Litteratur-Zeitung Kursiv abgedruckt werden, vgl. dazu Reinholds Brief vom 14. Juni 1789 an Kant, Akad.-Ausg., 11.60. In einem Brief vom 21. September kündigt Kant Reinhold an, selbst in einem Aufsatz gegen Eberhard vorgehen zu wollen, verknüpft mit der Bitte, »vor Empfang deßelben in dieser Sache noch zu ruhen.« (Akad.-Ausg., 11.89) Eine der Hauptabsichten des Philosophischen Magazins war zu zeigen, daß sich das Projekt einer kritischen Philosophie auch schon in der Philosophie Leibniz’ nachweisen lasse und letztere noch vieles mehr enthält, was erstere »ohne Grund verwirft«. Das Magazin versteht sich als Forum für den Vergleich der kritischen mit der früheren Philosophie, denn, »indem wir das Alte neben das Neue stellen werden, werden wir uns in den Stand setzen, die Nothwenigkeit und Gränzen der philosophischen Reformation [gemeint ist hier die Reformation der Philosophie durch Kant, Hg.] genauer zu beurtheilen, den Werth von beiden richtiger schätzen, und den Muthwillen, der bald das Eine, bald das Andere, ohne beides zu kennen, verwirft, am besten begegnen.« (Vgl. »Nachricht von dem Zweck und der Einrichtung dieses philosophischen Magazins, nebst einigen Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland«, in: Philosophisches Magazin, 1. Bd. (1788), 1. Stück, Nr. 1, S. 1–8, S. 6). Im zweiten Band von 1789 wird die Hauptabsicht des Magazins so bestimmt, »die Leibnitzische Vernunftkritik in den Stücken ins Licht zu setzen, worin die Kantische von ihr abweicht, also die erste gegen die letztere zu rechtfertigen.« (»Beantwortung der Recension des dritten und vierten Stücks dieses Magazins in der Allg. Litt. Zeit. N. 174, 175, 176«, 3. Stück, Nr. 1, S. 257–284, S. 261) – Als einen der ganz wenigen Kritiker Kants ist Eberhard die Ehre zugefallen, von Kant in einer eigenständigen Schrift attackiert zu werden, Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, Königsberg 1790, 2. Aufl. ebd. 1791. Reinhold ist einer der Initiatoren dieser Streitschrift, vgl. seine Briefe an Kant vom 9. April 1789 (Akad.-Ausg., 11.17 f.) und vom 14. Juni (Akad.-Ausg., 11.59 f.), sowie die Briefe Kants

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an Reinhold vom 21. Sept. 1789 (Akad.-Ausg., 11.88 f.) und vom 1. Dezember 1789 (Akad.-Ausg., 11.111 f.). Zur Kant-Eberhard-Debatte vgl. Manfred Gawlina, Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johannes August Eberhard, KantStudien Ergänzungshefte 128, Berlin-New York 1996. 105 Gemeint ist der Kant-Kritische Aufsatz von Dieterich Tiedemann, »Ueber die Natur der Metaphysik. Zur Prüfung von Hrn. Professor Kants Grundsätzen«, in: Hessische Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst, 1. Bd., 1785, 1. Stück, S. 113–130, Forts. 2. Stück, S. 233–248 und Beschluß 3. Stück, S. 464–474. Dieser Aufsatz, wovon der erste Teil im April 1785 erscheint, hatte eine Initialwirkung für die Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie; auch Schütz’ wichtige Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, siehe oben Anm. 20, ist wahrscheinlich mit durch diesen Aufsatz veranlaßt. – In einem Brieffragment Reinholds an Christian Gottlob von Voigt von November 1786 heißt es: »Tiedemann hat in den hessischen Beyträgen 2. St. 3. Abth. mit grosser Umständlichkeit an Tag gelegt, daß er den Sinn der Kritik der Vernunft gänzlich verfehlt habe.« (KA 1.150) Reinhold verfaßt eine Rezension der ersten beiden Bücher der Hessischen Beyträge von 1785 und 1786 für die Allgemeine Literatur-Zeitung vom 14. März 1788, Nr. 64, Sp. 691–696. Er bekundet, daß Tiedemann, »einer der Ersten« gewesen sei, »welche den Geist der Untersuchung aus dem unrühmlichen Schlummer wecken halfen, der bekanntermaaßen einige Jahre, auch nach der Erscheinung der Kritik der Vernunft, fortgedauert hatte.« (Sp. 691) Kants Urteil über Tiedemanns Schrift ist vernichtend, wie aus seinem Brief vom 7. April 1786 an den Marburger Professor Johann Bering hervorgeht, vgl. Akad.-Ausg., 10.440. Dieterich Tiedemann (1748–1803) ist seit 1776 Professor für klassische Philologie an der Universität Kassel. 1786 geht er nach Marburg, wo er als einer der eminentesten Philosophiehistoriker seiner Zeit wirkt. Zusammen mit Johann George Adam Forster (1754–1794), Samuel Thomas Sömmerring (1755–1830) u. a. ist er Mitherausgeber der Hessischen Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst, die zwischen 1785 und 1787 in Frankfurt erscheinen. – An der Universität Marburg hat die Kant-Kontroverse Ende 1786 zu einem zeitweiligen Verbot geführt, Kantische Philosophie zu leh-

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ren. In den Auseinandersetzungen, die auf dieses Verbot folgten, scheint sich Tiedemann allerdings für die Freiheit des Denkens und damit implizite gegen das Verbot ausgesprochen zu haben, vgl. »Nachr. Über das Verbot der Kantischen Philosophie in Marburg«, in den Gothaischen gelehrten Anzeigen vom 7. April 1787, jetzt in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von Albert Landau, Bebra 1991, S. 556. 106 Gemeint ist die Kant-Kritischen Schrift von Johann Albert Heinrich Reimarus, Ueber die Gründe der menschlichen Erkentniß und der natürlichen Religion, Hamburg 1787 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 208]. – Reimarus (1729–1814) ist Mediziner und hochangesehener Arzt in Hamburg. Herrmann Samuel ist sein Vater. 107 Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Raum und Caussalität, zur Prüfung der Kantischen Philosophie, Göttingen 1787, Frankfurt / Leipzig 1788 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 70]. Zu dem in der »Vorrede« dieser Schrift Behaupteten, siehe unten Anm. 110. 108 Christoph Meiners, Grundriß der Seelen-Lehre, Lemgo ohne Jahr [1786]. – Christoph Meiners (1747–1810) ist seit 1772 außerordentlicher und seit 1775 ordentlicher Professor der Philosophie in Göttingen. Reinhold kannte Ludwig Heinrich Jakobs gegen diese Schrift gewandte »Sendschreiben an Hrn. Prof. Meiners in Göttingen, über dessen Angriff gegen Kant’s System der Philosophie«, in: Neue Litteratur- und Völkerkunde, 1. Bd. vom März 1787, S. 221–242, wie aus dessen Brief vom 1. März 1788 an Kant hervorgeht, KA 1.338 (= Akad.-Ausg., 10.529). – Philosophisch ist Meiners dem Lager des psychologischen Empirismus zuzurechnen (beeinflußt von Locke, Shaftesbury und Hutcheson). Zusammen mit Johann Georg Heinrich Feder gibt er die Philosophische Bibliothek heraus (siehe oben Anm. 100). Meiners’ Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, besonders der Egyptier, Göttingen 1775, ist von großer Bedeutung für den Illuminatismus, bzw. für das Gradsystem und die Initiationsriten, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, daß Reinhold einige von Meiners’ Schriften schon in Wien gelesen hat. – Meiners gilt ferner – worin eine höchst bedenkliche Seite seines Denkens besteht – als einer der Begründer der deutschen und europäischen Blut- und Rassentheorien; von ihm stammt der Ausdruck »Kaukasische Rasse«, die ihre »schönste« und »höchste« Ausformung in der germani-

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schen Rasse habe, vgl. besonders sein Buch Grundriß der Geschichte der Menschheit, Lemgo 1785. 109 Gemeint ist die Schrift von Christian Gottlieb Selle, Grundsätze der reinen Philosophie, Berlin 1788 [ND Bruxelles 1969, Aetas Kantiana 254]. – Selle (1748–1800) ist Arzt und Professor am Berliner Charité Krankenhaus, Hofarzt von Friedrich II . und seit 1786 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Als Mitglied der Mittwochsgesellschaft in Berlin hatte er beträchtlichen Einfluß auf die Berliner Aufklärung. Es ist gut möglich, daß sich Reinhold in diesem Zusammenhang bezieht auf Carl Christian Erhard Schmids Verteidigung der apriorischen Philosophie Kants in dem Anhang zu seinem Wörterbuch, »Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie durch die Grundsätze der reinen Philosophie«, in: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung, Jena 1788. – Obwohl Kant Selle sehr schätzte (er schenkte ihm sogar eines der wenigen Autorenexemplare der Kritik der reinen Vernunft, vgl. den Brief Kants an Marcus Herz vom 1. Mai 1781, Akad.Ausg., 10.266 f.), vermochte Selle der kritischen Philosophie wenig abzugewinnen (vgl. dazu auch Selles Brief vom 29. Dezember 1787 an Kant, Akad.-Ausg., 10.516 f.). Ohne Kant namentlich zu erwähnen, veröffentlicht Selle bereits in 1784 einen im Grunde genommen Kant-kritischen Aufsatz »Versuch eines Beweises, daß es keine reine von der Erfahrung unabhängige Vernunftbegriffe gebe«, in: Berlinische Monatsschrift, 4. Bd., Dezember 1784, S. 565–576. 110 Von Adam Weishaupt sind bis 1789 besonders folgende Kant-Kritische Schriften erschienen, Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum, Nürnberg 1788 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 303], Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen, ebd. 1788 [ND Bruxelles 1970, Aetas Kantiana 299] und Ueber die Gründe und Gewisheit der Menschlichen Erkenntniß. Zur Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft, ebd. 1788 [ND Bruxelles 1969, Aetas Kantiana 300]. In einem Brief vom 1. März 1788 schreibt Reinhold an Gerhard Anton von Halem, daß Weishaupt »Kant fast noch mehr als den Zweck des O. [des Illuminatenbundes, Hg.] misversteht« (KA 1.341 f.); Weishaupt hat in 1786 und 1787 mehrere Schriften über den Illuminatismus verfaßt.

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Adam Weishaupt (1748–1830), Jurist, Staatswissenschaftler Historiker und Philosoph, gründet 1776 den Illuminatenbund, der 1785 wegen staatsgefährdender Tendenzen von der Bayerischen Regierung verboten wird, weshalb Weishaupt auch als Professor für Kirchenrecht in Ingolstadt entlassen wird (vgl. »Verfügungen an die Universität zu Ingolstadt zur Erhaltung des reinkatholischen Glaubens«, in: Berlinische Monatschrift vom April 1785, S. 392–400) und nach Gotha fl ieht, wo ihn Herzog Ernst II . zum Hofrat beruft. Er ist persönlich mit Reinhold bekannt und ein Mitstreiter Eberhards. Von Johann Friedrich von Flatt (siehe oben Anm. 85) erscheinen 1788 die Fragmentarischen Beyträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Causalität, und zur Grundlegung der natürlichen Theologie, in Beziehung auf die Kantische Philosophie, Leipzig. Dieses Buch hat Reinhold in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 3. Januar 1789, Nr. 3, Sp. 18–22, kritisch rezensiert und zwar mit dem Urteil, Flatt »widerlege, was Hr. Kant nicht behauptet hat« (Sp. 19). Hiergegen schreibt Flatt eine »Antikritik« in Eberhards Philosophischem Magazin, 2. Bd., 3. St. (1789), S. 384–390, woraus sich dann eine Fehde entwickelt, vgl. dazu Michael Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, in der Reihe: Neue Studien zur Philosophie 11, Göttingen 1996, S. 131 ff. und Wilhelm G. Jacobs, Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 153–172. Flatt legt in jenem Buch dar – und zwar im Anschluß an Jacobis David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Breslau 1787 –, daß Kant inkonsequent beim Gebrauch der Kausalitätskategorie verfahre, sofern sie nur auf Erfahrung angewandt werden darf, er sie aber dennoch transzendental verwendet bei der Affektion des Subjekts durch transzendentale Objekte. Für die Kausalität muß deshalb auch ein weiterer Grund angenommen werden, bzw. ein subjektives Gesetz des Denkens (vgl. hierzu auch Mukendi Mbuyi, Kants Tübinger Kritiker. Die Kritik von Johann Friedrich Flatt an Kants moralischem Argument für die Annahme Gottes, Aachen 2001 (zugl. Diss., Duisburg), bes. S. 46–69). – In seiner Schrift Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie, Tübingen 1789 [ jetzt auch in Mukendi Mbuyi, a. a. O., S. 84–124] verteidigt Flatt die These, »daß die

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Kantische Philosophie auf einen skeptischen Atheismus hinauslaufe«, bzw. »Nichts als einen ganz blinden Glauben in Hinsicht auf die Religion übrig lasse«, vgl. S. 108 Anm. Johann Gebhard Ehrenreich Maaß [auch Maass] (1766–1823), Theologe, Mathematiker und Philosoph, wirkt an der Universität Halle, wo er 1791 außerordentlicher und 1798 ordentlicher Professor für Rhetorik und Mathematik wird. Er ist außerdem Mitarbeiter des von Johann August Eberhard herausgegebenen Philosophischen Magazins, für das er auch eine Reihe von Kant-Kritischen Beiträgen verfaßt. Von ihm erscheinen 1788 in Halle die Briefe über die Antinomie der Vernunft, an die Reinhold hier, neben den Beiträgen fürs Philosophische Magazin, referiert. Gottlob August Tittel (1739–1816), badischer Kirchenrat und Philosophieprofessor in Karlsruhe, Schüler von Johann Georg Heinrich Feder, ist philosophisch der Popularphilosophie zuzurechnen. Er ist Verfasser von zwei scharfsinnigen und polemischen Büchern gegen Kant, Ueber Herrn Kant’s Moralreform, Frankfurt und Leipzig 1786 [ND Bruxelles 1969, Aetas Kantiana 285] und Kantische Denkformen oder Kategorien, Frankfurt / M. 1787 [ND Bruxelles 1968, Aetas Kantiana 284]; dieses Buch rezensiert Reinhold kritisch in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 10. Januar 1789, Nr. 10, Sp. 73–76. Die Kritik der ersten, moralphilosophischen Schrift Tittels ist tatsächlich eine der schwerwiegendsten und auch bedeutsamsten Kant-Kritiken dieser Zeit, sie wird von Kant in einer Anm. in der Kritik der praktischen Vernunft zurückgewiesen, vgl. KpV, A 14, Akad.-Ausg., 5.8. Wie ernst Kant Tittels Kritik genommen hat, geht aus der Tatsache hervor, daß er beabsichtigt hat, in der Berliner Monatsschrift dagegen zu schreiben, vgl. Johann Erich Biesters Brief vom 11. Juni 1788 an Kant, Akad.Ausg., 10.457. – Zu Benedikt Stattler, vgl. oben Anm. 56. 111 Gemeint ist Christoph Meiners, der in der »Vorrede« seines Grundriß der Seelenlehre, Lemgo 1786, unter Hinweis auf James Beattie (1735–1803) über den schlechten Einfluß von Kants Metaphysik bzw. Philosophie auf die Jugend spricht: »Nichtsdestoweniger habe ich von Hrn. Kants Charakter eine viel zu gute Meinung, als daß es ihm gleichgültig seyn könnte, wenn er hört, daß blos in dem eingeschränkten Zirkel von Menschen, die ich und meine vertrautesten Freunde genau kennen zu lernen, Ge-

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legenheit gehabt haben, hoffnungsvolle Jünglinge waren, die Hrn. Kants Kritik von den nützlichen Wissenschaften, denen sie sich widmen sollten, eine Zeitlang ganz abzog, oder denen sie sogar die Ruhe ihres Gemüths, und wahrscheinlich noch mehr, als diese raubte. Einer dieser Jünglinge wurde durch die Dunkelheit, die in Hrn. Kants lezten Schriften herrscht, und durch die ihm unauflöslichen Zweifel gegen Wahrheiten, auf welche er bisher Tugend und Glückseligkeit gegründet hatte, so gefoltert, daß er selbst an der Wirklichkeit seiner Empfi ndungen zu zweifeln anfi ng, und zuletzt in die förmliche Verrücktheit verfiel.« (zit. nach der Rez. des Buches in den Kritischen Beyträgen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit, 2. Bd., 2. Stück, 1787, S. 406–436, S. 413 f.) Ferner: »Kants Schriften haben in manchen öffentlichen Lehrern der Philosophie laute Bewunderer gefunden, und haben die Köpfe von einer noch viel größern Zahl roher, oder halb gebildeter Jünglinge verrückt.« (ebd., S. 410) Auf diese Art der Kritik ist im allgemeinen abweisend reagiert; Reinhold ist somit keine Ausnahme. – Daß es tatsächlich Vorfälle des Wahnsinns unter kantianisierenden Studenten gegeben hat, wird für das Jahr 1782 berichtet von Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hrsg. von Walter Ziesemer und Arthur Henkel, in 7. Bdn., Frankfurt / M. 1955– 1979, Bd. 4, S. 386 f., Bd. 6, S. 199 und Bd. 7, S. 94 u. 104. Vgl. ferner den Brief von Friedrich Victor Leberecht Plessing vom 16. Januar 1787 an Kant über die merkwürdige Geschichte des Juden Elkana, der bei Kant studiert hat, Akad.-Ausg., 10.475 f. Christian Gottfried Schütz schreibt im Februar 1786 an Kant: »Wie fleißig hier die Studenten bey Ihrer Kritik der reinen Vernunft sind, können Sie daraus abnehmen, daß vor einigen Wochen sich ein Paar Studenten duellirt haben, weil einer dem andern gesagt, er verstünde Ihr Buch nicht, sondern müßte noch 30 Jahr studiren eh ers verstünde, und dann noch andre 30, um Anmerkungen darüber machen zu können.« (Akad.-Ausg., 10.431) 112 Auch Kant behauptet, daß der Verstand das Vermögen zu urteilen ist, vgl. etwa KrV, A 69 / B 94, A 80 / B 106 und Prolegomena § 22, Akad.-Ausg., 4.304, und daß die Vernunft das Vermögen zu schließen ist, vgl. KrV, A 329 / B 386. Mit der Rede von oberen und unteren Erkenntnisvermögen knüpft Reinhold bei der leibniz-wolffi schen Schulphilosophie an (vgl. dazu auch un-

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ten Anm. 127). Vernunft und Verstand gehören nach Alexander Gottlieb Baumgarten zu den oberen Erkenntnisvermögen, vgl. Aesthetica, Frankfurt / O. 1750 [ND Hildesheim 1961], § 38, S. 15; im gleichen Sinne auch Georg Friedrich Meier, Metaphysik, 4. Bde., Halle 1755–59, Bd. 3, §§ 626–635, S. 249–262. 113 Nach Georg Friedrich Meier ist die Vernunft »ein Vermögen Schlüsse zu machen« (Metaphysik, 4. Bde., Halle 1755–59, Bd. 3, § 635, S. 262) und sind nach Alexander Gottlieb Baumgarten die durch Vernunft bewirkte Vorstellungen Vernunftschlüsse: »Perceptiones rationis sunt r at iocin i a.« (Metaphysica, Halle 71779 [ND Hildesheim 1963], § 646, S. 238, vgl. auch § 642, S. 236 f.). Für Locke siehe folgende Anm. 114 Daß die Vernunft das Vermögen ist, Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung durch Vergleichung einzusehen, fi ndet sich bei Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 71779 [ND Hildesheim 1963], § 641, S. 236: »Facultas distincte identitates diversitatesque rerum perspiciendi […] est ratio«. – Ähnlich auch bei John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 17,2, S. 669: »we call Illation or Inference, and consists in nothing but the Perception of the connexion there is between the Ideas, in each step of the deduction, whereby the Mind comes to see, either the certain Agreement or Disagreement of any two Ideas, as in Demonstration, in which it arrives at Knowledge.« Allerdings bestreitet Locke auch, daß, wer keinen richtigen Schluß zu bilden vermag, nicht richtig, »nay, perpaps, better without it« vermag zu erkennen (ebd., Kap. 17,4, S. 670), weshalb, so die Pointe Lockes, der Schluß auch nicht das einzige Werkzeug der Vernunft sein kann. 115 Daß das Verderbnis der Vernunft auf eine falsche Regel des Schließens zurückgeführt werden kann, bemerkt Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 71779 [ND Hildesheim 1963], § 646, S. 238: »Falsa regula syllogistica admodum eandem corrumpit«, und zwar dann, wenn sie Irrtümer zu Vorsätzen macht: »At possunt tamen errores eiusmodi rationem corrumpere, si fiant praemissae« (ebd., § 647, S. 239). – Georg Friedrich Meier macht die Richtigkeit eines Vernunftschlusses nicht nur von seiner Form, sondern auch von seiner Materie abhängig, vgl. Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, § 360 (= Akad.-Ausg., 16.712); er

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bestimmt diese Materie allerdings nicht als Vorstellung, da sie seiner Auffassung nach das Resultat des Schlusses ist. 116 Nach Kant können wir »unser eigenes Subject nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen« (KrV, B 156; vgl. dazu auch KrV, B 67 f. und KpV, A 9, Akad.-Ausg., 5.6). »Daß aber Ich, der ich denke, im Denken immer als Subject und als etwas, was nicht bloß wie Prädicat dem Denken anhängend betrachtet werden kann, gelten müsse, ist ein apodiktischer und selbst identischer Satz; aber er bedeutet nicht, daß ich als Object ein für mich selbst bestehendes Wesen oder Substanz sei.« (KrV, B 407) 117 Siehe oben S. 160. 118 Kant spricht der Vernunft nirgends ausdrücklich ein »metaphysisches Vermögen« zu. Reinhold könnte sich auf Passagen berufen wie: »Die Metaphysik der speculativen Vernunft ist nun das, was man im engeren Verstande Metaphysik zu nennen pflegt« (KrV, A 842 / B 870). Allerdings macht Kant auch klar, daß man sich bei der Metaphysik nicht auf eine Naturanlage der Vernunft berufen dürfe: »so kann man es nicht bei der bloßen Naturanlage zu Metaphysik, d. i. dem reinen Vernunftvermögen selbst, woraus zwar immer irgend eine Metaphysik (es sei, welche es wolle) erwächst, bewenden lassen.« (KrV, B 22) 119 Platon aus Athen (428–348 v. Chr.) ist mit Aristoteles der bedeutsamste Philosoph der Antike. Er ist Schüler des Sokrates und gründet um 386 die Akademie in Athen. 120 Aristoteles aus Stageira (384–322 v. Chr.) ist mit Platon der bedeutsamste Philosoph der Antike. Er tritt ungefähr 367 in Platons Akademie ein, der er bis zu Platons Tode angehört. In 335 gründet er in Athen seine eigene Schule, das Lykeion. 121 Gemeint ist hier freilich besonders der Ursprung der übersinnlichen Ideen, bzw. die Debatte, ob diese angeboren sind oder nicht, wobei Locke die letztere (vgl. An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 1. Buch, Kap. 3) und Leibniz die erstere Option verteidigt (vgl. Nouveaux essais sur l’entendement humain, Amsterdam / Leipzig 1765, 1. Buch, Kap. 1, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, in 7 Bdn., hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–90 [ND Hildesheim 1960], Bd. 5, S. 62 ff.).

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122 Dies ist etwa der Standpunkt von Johann Georg Heinrich Feder in seinem wirkungsmächtigen Handbuch Grundriß der philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte zum Gebrauch seiner Zuhörer, Coburg 1769, 1. Abt., § 4, S. 55: »Dasjenige, womit sich unsere Erkenntniß anfängt, sind Vorstellungen von den Dingen, die auf unsere Sinne wirken.« Aber auch die Existenz der Substanz und damit auch von Gott, nämlich die »einfachste Substanz« (2. Abt, § 16, S. 99), ist das Resultat davon, daß »mittelbare oder unmittelbare Wirkungen auf uns« einwirken, die »Kräfte« heißen (2. Abt, § 8, S. 90). Körper werden als »eine zusammengesetzte Substanz« verstanden (§ 20, S. 103). – Vgl. dazu den originelleren, jedoch in mancherlei Hinsicht auch von Feder abhängigen Gottlob August Tittel in seinem Handbuch Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt 1783, ²1787, ³1793, S. 71 ff. 123 Reinhold grenzt die Leibnizianer bzw. Rationalisten wie etwa Johann August Eberhard damit klar ab von den Popularphilosophen wie Johann Georg Heinrich Feder, vgl. oben Anm. 121. 124 Dieses Bild geht zurück auf John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, »Introduction«, Kap. 1, S. 43: »The Understanding, like the Eye, whilst it makes us see, and perceive all other Things, takes no notice of it self: And it requires Art and Pains to set it at a distance, and make it its own Object.« Vgl. auch unten, S. 274, wo dieses Bild in ähnlicher Weise noch einmal Verwendung fi ndet. 125 Reinhold zitiert John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 11,12 S. 637: »We have ground from revelation, and several other Reasons, to believe with assurance, that there are such Creatures: but our Senses not being able to discover them, we want the means of knowing their particular Existences. For we can no more know, that there are fi nite Spirits really existing, by the Idea we have of such Beings in our Minds, than by the Ideas any one has of Fairies, or Centaurs, he can come to know, that Things answering those Ideas, do really exist.«. – Über die Erkennbarkeit Gottes handelt Locke besonders in Kap. 10 des 4. Buchs des Essay Concerning Human Understanding.

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126 Daß jedes sinnliche Wahrnehmen nach Platon keine Erkenntnis, sondern im Gegenteil vielmehr bloß Verirrung und Taumel der Seele verursache, wird z. B. im Phaidon 79 c 2–8 hervorgehoben: OÙkoàn kaˆ tÒde p£lai ™lšgomen, Óti ¹ yuc», Ótan mn tù sèmati proscrÁtai e„j tÕ skope‹n ti À di¦ toà Ðr©n À di¦ toà ¢koÚein À di' ¥llhj tinÕj a„sq»sewj (toàto g£r ™sti tÕ di¦ toà sèmatoj, tÕ di' a„sq»sewj skope‹n ti) tÒte mn ›lketai ØpÕ toà sèmatoj e„j t¦ oÙdšpote kat¦ taÙt¦ œconta, kaˆ aÙt¾ plan©tai kaˆ tar£ttetai kaˆ e„liggi´ ésper meqÚousa, ¤te toioÚtwn ™faptomšnh (Übs. nach Schleiermacher: »Und nicht wahr, auch das haben wir schon lange gesagt, daß die Seele, wenn sie sich des Leibes bedient, um etwas zu betrachten, es sei durch das Gesicht oder das Gehör oder irgendeinen andern Sinn – denn das heißt vermittelst des Leibes, wenn man vermittelst eines Sinnes etwas betrachtet –, dann von dem Leibe gezogen wird zu dem, was sich niemals auf gleiche Weise verhält, und daß sie dann selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt, weil sie ja eben solches berührt.«). 127 Nach Epikur ist jede Beurteilung einer Sinneswahrnehmung nur vermittelst einer Sinneswahrnehmung möglich, vgl. Katechismus 22: E„ macÍ p£saij ta‹j a„sq»sesin, oÙc ›xeij oÙd' §j ¨n fÍj aÙtîn dieyeàsqai prÕj t… poioÚmenoj t¾n ¢gwg¾n kr…nVj (Übs. nach Olof Gigon: Wenn du alle Sinneswahrnehmungen bestreitest, so besitzt du nichts, worauf du dich beziehen kannst, um jene zu beurteilen, die du für falsch hältst). 128 Alexander Gottlieb Baumgarten unterscheidet in seiner Metaphysica, 1. Aufl., Halle 1739, im dritten Teil »Psychologia«, eine »facultas cognoscitiva inferior« (sectio II , §§ 519–533), die der Sinnlichkeit zugeschrieben wird, und eine »facultas cognoscitiva superior« (sectio VI , §§ 624–639), die dem Verstand (intellectus) zugeschrieben wird. Seit der zweiten Aufl. der Metaphysica, Halle 1743, wird letztere sectio in XII umnummeriert und »Intellectus« benannt. Nach seiner Aesthetica, Frankfurt / O. 1750 [ND Hildesheim 1961], § 38, S. 15, gehören Vernunft und Verstand zu den oberen Erkenntnisvermögen. Ähnlich auch Georg Friedrich Meier, der das den Bereich der Sinne umfassende untere Erkenntnisvermögen »das Vermögen undeutlicher Erkenntniß« nennt, »oder das Vermögen, Dinge sich auf eine dunkele und verworrene

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Art vorzustellen« (Metaphysik, 4. Bde., Halle 1755–59, Bd. 3, § 524, S. 82). Das obere Erkenntnisvermögen machen dagegen Verstand und Vernunft aus, wobei der Verstand »deutliche Erkenntniß von einer Sache« macht (ebd., § 626, S. 249) und die Vernunft »ein Vermögen Schlüsse zu machen« ist (ebd., § 635, S. 262). Der Unterschied zwischen sinnlicher Erkenntnis und Verstandeserkenntnis erhält bei Christian Wolff seine erste begriffliche Ausprägung, vgl. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Halle / Frankfurt 1720, 111751 [ND in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, hrsg. von J. École, H. W. Arndt, Ch. A. Corr, J. E. Hofmann und M. Thomann, 1. Abt., Bd. 2, Hildesheim 1983], § 282, S. 155: »Weil die Deutlichkeit der Erkäntniß für den Verstand, die Undeutlichkeit aber für die Sinnen und Einbildungs Kraft gehöret (§ 277); so ist der Verstand abgesondert von den Sinnen und der Einbildungs=Kraft, wenn wir völlig deutliche Erkäntniß haben: hingegen mit den Sinnen und der Einbildungs=Kraft noch vereinbahret, wo noch Undeutlichkeit und Dunkelheit bey unserer Erkäntniß anzutreffen. Im ersten Falle heisset der Verstand reine, im andern aber unreine.« Vgl. auch Christian Wolff, Psychologia rationalis, Frankfurt / Leipzig 1734, ²1740 [ND ebd., 2. Abt., Bd. 6, Hildesheim 1972], § 178–356, und Psychologia empirica, Frankfurt / Leipzig 1732, ²1738 [ND ebd., 2. Abt., Bd. 5, Hildesheim 1968], §§ 91–233, für das niedere Erkenntnisvermögen und Psychologia rationalis, a. a. O., §§ 357–479, und Psychologia empirica, a. a. O., §§ 234–508, für das höhere Erkenntnisvermögen. Bei Leibnitz verläuft die Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Verstand parallel dem Zustand der Monade. Ist diese leidend, besitzt sie verworrene und dunkle Vorstellungen, ist sie tätig, besitzt sie klare Vorstellungen. Die Stufenfolge der Monaden geht von den dunklen, bzw. sinnlichen Vorstellungen aus und endet bei der klaren und deutlichen Vorstellung, d. h. beim reinen Denken oder Gott, vgl. dazu bes. Leibniz’ Schrift Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684), in: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, in 7 Bdn., hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–90 [ND Hildesheim 1960], Bd. 4, S. 422 f. – Zum Problemkontext oberes und unteres Erkenntnisvermögen vgl. Jean École, La métaphysique de Christian Wolff, Hildesheim 1990, bes. S. 103–133.

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129 Seit Christian Wolffs »Discursus praeliminars de philosophia in genere« in der Philosophia rationalis sive logica, Frankfurt / Leipzig 1728, ³1740 [ND in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, hrsg. von J. École, H. W. Arndt, Ch. A. Corr, J. E. Hofmann und M. Thomann, 2. Abt., Bd. 1/1–3, Hildesheim 1983], Kap. 1, §§ 1–28, ist es in der deutschen Aufklärungsphilosophie üblich geworden, von einer dreifachen Erkenntnis zu sprechen, nämlich einer historischen, philosophischen und mathematischen, vgl. dazu z. B. auch Hermann Samuel Reimarus’ Vernunftlehre, siehe unten Anm. 142. Diese Distinktion verbindet Georg Friedrich Meier mit vernünftiger Erkenntnis (cognitio rationalis), die wir erst dann zu erlangen vermögen, wenn wir 1. »eine Erkenntniß von der Sache haben«, 2. »den Grund der Sache erkennen« und 3. »den Zusammenhang der Sache mit ihrem Grunde deutlich erkennen« (Vernunftlehre, Halle 1752, § 31, S. 31). Alle Erkenntnis hebt nach Meier an mit Vorstellungen, »welche in dem Augenblicke in der menschlichen Seele würklich sind, wenn sie entsteht; sie mag nun vor der Zeugung des Menschen von GOtt erschaffen seyn, oder in dem Augenblicke der Zeugung«, vgl. Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit, 4 Theile, Halle 1768–71, 3. Theil, § 2, S. 7. Die Frage, wie Vorstellungen entstehen, ist für die der Logik vorhergehenden Erkenntnistheorie unwichtig: »Uns lieget ietzo gar nichts daran, wie die Vorstellungen in uns entstehen; es ist genung, daß wir wissen, daß dergeleichen in uns angetroffen werden« (Vernunftlehre, a. a. O., § 24, S. 24). 130 Georg Bernhard Bilfi nger (1693–1750), Theologe und Philosoph, Professor der Philosophie in Tübingen, seit 1725 an der neugegründeten Universität von St. Petersburg und ab 1731 wieder in Tübingen für Theologie und Mathematik. Als vormundschaftlicher Regierungsrat des minderjährigen Herzogs Carl Eugen gehört er zwischen 1737 und 1744 zu den einflußreichsten Männern Württembergs. Sein vielleicht wichtigster philosophischer Beitrag gilt der Systematisierung der Monadenlehre Leibniz’. Sein bedeutsamstes philosophisches Werk, worauf Reinhold hier anspielt, sind die Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus, Tübingen 1725 u. ö. [ND in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Doku-

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mente, hg. von J. École, H. W. Arndt, Ch. A. Corr, J. E. Hofmann und M. Thomann, 3. Abt., Bd. 18, Hildesheim 1982]. 131 Vorstellung und Erkenntnis werden von der wolffi schen Schule im allgemeinen nicht genau voneinander unterschieden. Nach Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 71779 [ND Hildesheim 1963], § 506, S. 174, sind Erkenntnisse Vorstellungen, d. h. »Cogitationes sunt repraesentationes«. So auch dessen Schüler Georg Friedrich Meier in seiner Metaphysik, 4 Bde., Halle 1755–1759, 3. Bd., § 489: »Da nun die Seele eine Vorstellungskraft ist oder besitzt, so ist sie auch eine Erkenntnißkraft, weil Vorstellungen und Erkenntniß einerley sind«. 132 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, 7. Aufl., Halle 1779 [ND Hildesheim 1963], »Prolegomena metaphysicorum« § 1, S. 1: »Meta ph ysica est scientia primorum in humana cognitione principiorum«. Reinhold zitiert hier offenbar nach der deutschen Übersetzung von Baumgartens Metaphysica, die Georg Friedrich Meier angefertigt und Johann August Eberhard mit einigen wenigen Anmerkungen neu herausgegeben hat (zu dieser neuen Ausg. siehe unten Anm. 230), Alexander Gottlieb Baumgartens, Professors der Philosophie, Metaphysik, neue vermehrte Aufl., Halle 1783, § 1, S. 1: »Die Metaphysik ist die Wissenschaft der ersten Erkenntnißgründe in der menschlichen Erkenntniß«. 133 In Frage kommen besonders sectio II »Facultas cognoscitiva inferior« (§§ 519–533) und sectio XII »Intellectus« (§§ 624–639) der »Psychologia empirica« in Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica, 7. Aufl., Halle 1779 [ND Hildesheim 1963]. 134 In § 504 der Metaphysica, 7. Aufl., Halle 1779 [ND Hildesheim 1963], S. 174, beweist Baumgarten die Existenz der Seele, in § 505, daß die Seele eine Kraft sei und in § 506, daß Erkenntnisse Vorstellungen sind und meine Seele die Vorstellungskraft ist: »Cogitationes sunt repraesentationes. Ergo anima mea est vis repraesentatiua«. Weil meine Seele, so verfolgt er unter Hinweis auf § 506 in § 519, S. 179 f., etwas erkennt, besitzt sie ein Vermögen zu erkennen: »Anima mea cognoscit quaedam, § 506. Ergo habet facultatem cognoscitiuam i. e. quaedam cognoscendi.« 135 Undeutlich ist das sinnliche bzw. untere Erkenntnisvermögen und deutlich der Verstand (intellectus) bzw. das obere Erkenntnisvermögen, vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Meta-

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physica, 7. Aufl., Halle 1779 [ND Hildesheim 1963], § 520, S. 180: »Hinc obscuritas minor, claritas maior cognitionis gradus est […] & eandem ob rationem confusio minor s. inferior, distinctio maior s. superior. Unde facultas obscure confuseque seu indistincte aliquid cognoscendi cognoscitiva inferior est«, und ebd., § 624, S. 228: »Anima mea cognoscit quaedam distincte, §. 522. facultas distincte quid cognoscendi est facultas cognoscitiva superior, (mens), intellectus«. 136 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 1,2, S. 525: »Knowledge then seems to me to be nothing but the perception of the connexion and agreement, or disagreement and repugnancy of any of our Ideas«. In der Marge präzisiert Locke: »Knowledge is the Perception of the Agreement or Disagreement of two Ideas«. 137 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 4,3, S. 563: »Our Knowledge therefore is real, only so far as there is a conformity between our Ideas and the reality of Things.« 138 John Locke spricht von »simple Ideas«, vgl. z. B. An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 4,4, S. 563 f. 139 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 4,4, S. 564: »From whence it follows, that simple Ideas are not fictions of our Fancies, but the natural and regular productions of Things without us, really operating upon us; and so carry with them all the conformity which is intended; or which our state requires: For they represent to us Things under those appearances which they are fitted to produce in us«. 140 Reinhold bezieht sich auf John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 17,4, S. 670–678. 141 Nach der traditionellen Syllogistik sind in jeder der vier Schlußfiguren sechzehn Kombinationen möglich, was 64 mögliche Schlußformen oder -modi in jeder der vier Schlußfiguren ergibt, zusammen also 256 mögliche Schlußformen, von denen allerdings nur vierundzwanzig gültig sind. Siehe auch oben Anm. 32.

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142 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter Nidditch, Oxford / New York 1975, 4. Buch, Kap. 17,2, S. 669: »In both these Cases, the Faculty which fi nds out the Means, and rightly applies them to discover Certainty in the one, and Probability in the other, is that which we call Reason«. 143 Gemeint ist der Professor für orientalische Sprachen am Johanneum in Hamburg Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und sein einflußreiches Handbuch Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet, Hamburg 1756, ²1758, ³1766, eine vierte Aufl. ist herausgegeben von seinem Sohn Johann Albrecht Hinrich, Hamburg und Kiel 1782. In der ersten und der letzten Aufl. beginnt das Werk mit einer »vorläufigen Abhandlung« (ähnlich wie Christian Wolff seiner lateinischen Logik einen eigenen Discursus praeliminaris de philosophia in genere vorangehen läßt, siehe oben Anm. 128), mit dem Titel: »Von den Stuffen der menschlichen Erkenntniß«. Die Stufen sind ähnlich wie bei Christian Wolff die der »historischen«, »philosophischen« (im weiteren und engeren Sinne) und »mathematischen Erkenntniß«. Die vierte Aufl. der Vernunftlehre gibt jene Stufen verkürzt wieder. 144 Vermutlich spielt Reinhold hier an auf eine Passage aus Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, ²1760, § 13, S. 4 (zit. nach Akad.-Ausg., 16.80): »Wir sind uns unserer Vorstellungen und unserer Erkenntniss b e w u s s t (conscium esse, adpercipere) in so ferne wir sie und ihren Gegenstand von andern Vorstellungen und Sachen unterscheiden. Das Bewusstsein ist eine doppelte Vorstellung: eine Vorstellung des Gegenstandes, und eine Vorstellung seines Unterschiedes von andern. Das Bewusstsein verhält sich wie das Licht in der Körperwelt, welches uns den Unterschied der Körper entdeckt.«