Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen [1. ed.] 9783939542407

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Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen [1. ed.]
 9783939542407

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Verqueerte Verhältnisse

AG Queer StudieS (HrSG.)

Verqueerte Verhältnisse intersektionale,

ökonomiekritische

und strategische i nterVentionen

Männerschwarm Verlag Hamburg 2009

Wir bedanken uns bei der Gemeinsamen Kommission für Frauenforschung, Frauen- und Geschlechterstudien, Gender und Queer Studies Hamburg für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

Bibliograische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

AG Queer Studies (Hrsg.) Verqueerte Verhältnisse Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen © Männerschwarm Verlag, Hamburg 2009 Umschlaggestaltung: Thomas Polajner Druck: Finidr s.r.o., Tschechien 1. Aulage 2009 ISBN 978-3-939542-40-7 Männerschwarm Verlag Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg www.maennerschwarm.de

Danksagung Die Idee, einen zweiten Sammelband zur Vortragsreihe «Jenseits der Geschlechtergrenzen» an der Universität Hamburg zu veröffentlichen, hegen wir, die AG Queer Studies, schon seit einigen Jahren. Wir freuen uns, dieses Vorhaben endlich in die Tat umgesetzt zu haben. Dies wäre nicht denkbar ohne die vielen Personen, die unsere Arbeit kontinuierlich unterstützt haben und unterstützen. An erster Stelle möchten wir die Referent_Innen und Besucher_Innen unserer Ringvorlesung nennen. Durch sie entsteht jeden Mittwoch aufs Neue ein anregender Diskussionsrahmen, der unsere Arbeit erst möglich macht. Ohne Harald Freese und die Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung, Prof. Marianna Pieper vom Institut für Soziologie und dem AStA der Universität Hamburg wäre hierfür der strukturelle Rahmen kaum gegeben. Für die gute Zusammenarbeit sei insbesondere den Erstgenannten gedankt. Einen weiteren Kontext unserer Arbeit stellte der Gender-und-QueerStudiengang an der Universität Hamburg dar. Als (ehemalige) Studierende danken wir den Vertretungs- und Gastprofessorinnen für Queer Theory und den vielen Lehrbeauftragten, die in den vergangenen Jahren Queer Studies in Hamburg unterrichteten. Robin Bauer, Antke Engel, Melanie Groß, Jin Haritaworn, Tuula Juuvonen, Christian Klesse, Renate Lorenz, Johanna Meyer-Lenz, Stefan Micheler, Sabine Rohlf und andere haben nicht nur in ihren Seminaren Räume für bereichernde Auseinandersetzungen eröffnet. Unser Dank gilt allen ehemaligen und heutigen Mitgliedern der AG Queer Studies, die mit uns zusammen die Vortragsreihe organisiert und die Entstehung dieses Buches in den verschiedenen Stadien begleitet haben. Pascal Yorks hat immer wieder auf die Herausgabe eines zweiten Sammelbandes gedrängt. Leif Clausen, Markus Eisenmann, Marius Henderson und Silke Elers waren bei der Diskussion des Konzeptes und der Auswahl der Beiträge dabei und haben so zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Wir danken Joachim Bartholomae vom Männerschwarm Verlag für

seine Arbeit und Unterstützung, Thomas Polajner für die Gestaltung des Buchcovers und Steff Bentrup für ihren kreativen Input bei der Entwicklung des Buchtitels. Für die inanzielle Unterstützung dieses Projektes möchten wir dem LesBISchwulTranSM-polymorph-perversen Referat im AStA der Universität Hamburg danken. Auch das Frauenreferat der Universität Hamburg hatte uns bereits Unterstützung zugesagt, bevor es skandalöserweise vom AStA abgeschafft wurde. Zu guter Letzt bedanken wir uns bei der Gemeinsamen Kommission für Frauenforschung, Frauen- und Geschlechterstudien, Gender und Queer Studies für die großzügige Gewährung des Druckkostenzuschusses, ohne den dieses Buchprojekt nicht umsetzbar gewesen wäre. Kathrin Englert, Kathrin Ganz, Marko Meenakshi A L I E N Hutsch, Anna Köster-Eiserfunke, Nina Mackert und Bertold Scharf

inHAlt Einleitung

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Teil I Intersektionen: Queer Studies und rassiizierende Machtverhältnisse Kiss-ins, Demos, Drag: Sexuelle Spektakel von Kiez und Nation Jin Haritaworn

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Plessy revisited: Skizzen dekonstruktivistischer Körpergeschichte(n) von den Vereinigten Staaten der Segregation Felix Krämer und Nina Mackert

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Erika Lopez, Tomato Rodriguez und die Flaming Iguanas: Queer Textual Politics aus dem Zwischenraum Alexandra Ganser

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Teil II Mehr Intersektionen: Queer Studies, Ökonomiekritik und neoliberaler Kapitalismus Ökonoqueer. Sexualität und Ökonomie im Neoliberalismus Antke Engel

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Performativität der «Unternehmerin ihrer selbst»: Auch das Unternehmen Monkeydick-Productions nennen wir Arbeit Sonja Mönkedieck

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Einleitung

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_______________________________________________________________ Scham – pervers sexuell arbeiten im kontext neoliberaler ökonomie Renate Lorenz

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einleitung Teil III Interventionen: Relektionen queerer Praxis Prozessual-strategische Subjekte in Bewegung Do Gerbig

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theoretisch intersexuell – Wie intersexuelle Menschen zwischen den Zeilen bleiben Joke Janssen

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«Je lockerer man damit umgeht, desto weniger Probleme hat man.» – Handlungsspielräume nicht-heterosexueller Beschäftigter am Arbeitsplatz Annett Losert

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Weder Geschlecht noch Vaterland – Was hat es mit queerender Politik zu tun, wenn zwei lesbische Damen während des Zweiten Weltkriegs ins Kostüm eines heterosexuellen deutschen Soldaten schlüpfen? Jo Bucher und Angelika Goeres

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Die Autoren und Autorinnen

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«Status Queer Vadis?» – so lautete der Titel einer Veranstaltung, die die AG Queer Studies im Jahre 2005 organisierte. Eine Genealogie des vorliegenden Sammelbandes könnte mit diesem Ereignis beginnen. Der Anlass der Veranstaltung war unsere Befürchtung, dass queere Inhalte aus der Lehre des Studiengangs «Gender und Queer Studies» der Universität Hamburg langsam, aber sicher verschwinden würden. Wir wollten damit aber auch unsere Vorstellungen von Queer zur Diskussion stellen und eine Debatte über den Stand queerer Politiken und Praxen lostreten. Im Verlauf dieser Diskussionsrunde kristallisierte sich heraus, dass für uns Queer insbesondere eine kritische Forschungsperspektive bedeutet und wir uns eine Fortschreibung in Richtung Critical oder Deconstructive Identity Studies wünschen. Gerade auch in Zeiten neoliberaler Flexibilisierung erschien es uns notwendig, Ökonomiekritik einließen zu lassen und die Augen für unterschiedliche Diskriminierungsformen offenzuhalten. In den darauffolgenden Jahren haben wir versucht, unsere Vorstellungen zumindest in der von uns organisierten Ringvorlesung umzusetzen. Im Folgenden möchten wir neben einer kurzen Geschichte der Vorlesungsreihe und des Buches eine Skizze unseres Verständnisses von Queer bieten. Wir werden in die drei Themenbereiche unseres Sammelbandes einführen und die Aufsätze kurz vorstellen. Die Vorlesungsreihe «Jenseits der Geschlechtergrenzen» an der Universität Hamburg, aus der dieser Sammelband entstanden ist, begann im Jahre 1990 unter dem Titel «(Männliche) Homosexualität in Kultur und Wissenschaft» und stellte zunächst schwule Themen in den Mittelpunkt. Seit 1993 wird sie von der AG LesBiSchwule Studien organisiert, die sich heute AG Queer Studies nennt und der Studierende sowie Graduierte angehören. 1998 erhielt die Vorlesungsreihe ihren heutigen Namen «Jenseits der Geschlechtergrenzen», um damit auch im Titel eine veränderte Programmatik zu verdeutlichen (vgl. Heidel/Micheler/Tuider

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2001b: 10ff.). Lesbische, feministische, bisexuelle, Transgender- und andere Queer-Themen erweiterten das Spektrum der Beiträge. Parallel dazu haben sich auch die Theorien und Methoden, die den wissenschaftlichen Arbeiten der Vortragenden zugrunde liegen, gewandelt. Konstruktivistische und poststrukturalistische Forschungsansätze sind die theoretisch-methodische Grundlage der meisten Vorträge. Unverändert blieb von den Anfängen bis heute der politische Anspruch, Sexualitätsund Geschlechterpolitiken kritisch zu relektieren. In den letzten Jahren wurden zusätzlich verstärkt Überschneidungen und Interdependenzen von Sexualität und Geschlecht mit anderen Kategorien sozialen Ausund Einschlusses in den Blick genommen. Die AG LesBiSchwule Studien/Queer Studies veröffentlichte 2001 den Sammelband Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, der ein breites Spektrum der in den bisherigen Vorträgen diskutierten Themen abbildet und mittlerweile vergriffen ist (Heidel/Micheler/Tuider 2001a). Die Herausgeber_Innen1 Ulf Heidel, Stefan Micheler und Elisabeth Tuider verstanden den Sammelband «als einen Beitrag dazu, Queer Studies und Queer Theory bekannter zu machen, ihre Bedeutungen in wissenschaftlichen und politischen Diskursen zu stärken und ihre Schlagkraft wie ihre (Selbst-) Problematisierungen zu entfalten» (Heidel/Micheler/Tuider 2001b: 12). Der vorliegende Sammelband tritt die Nachfolge dieser Veröffentlichung an, ohne den Anspruch zu haben, in ähnlicher Weise in die Queer Studies und ihre verschiedenen Anwendungsfelder einzuführen. Die Beiträge dieses Sammelbandes sollen vielmehr einige der wichtigsten Diskussionen, die in den letzten Jahren in den Queer Studies geführt wurden, die sich in der Vorlesungsreihe widergespiegelt und unsere AG beschäftigt haben, aufzeigen und weiterführen. Dieser Sammelband möchte wichtige Perspektiven eröffnen, bleibt jedoch notwendig partikular. Wir hoffen, damit uns wichtig erscheinende Debatten zu befördern, ohne den Forschungsraum schließen zu wollen.

gungen kreisen immer wieder um die Kritik an Verengungen und Ausschlüssen,auch und gerade in Bezug auf queere Ursprungsgeschichten und Vereinnahmungen. Wer «darf» wann, wie und wo diesen Begriff für sich reklamieren – und mit welchen (wissens-)politischen Konsequenzen? Investitionen in die Bedeutung von Queer sind damit notwendig konlikthaft und – wie sollte es anders sein – höchst interessengeleitet. Vor diesem Hintergrund ist auch Verqueerte Verhältnisse als ein Teil der Arena queeren Wissens zu begreifen. Im Zusammenhang damit sind im Laufe der Arbeit an diesem Band vor allem zwei Fragekomplexe immer wieder in unseren Diskussionen aufgetaucht. Zum einen beschäftigt uns unser Umgang mit dem Begriff Queer, seiner Genealogie und seinen stets aufs Neue auszulotenden Potenzialen. Auf welche Weise ixieren wir mit unserer Arbeit diesen schillernden Begriff, der sich beständig wandelt und gegen Deinitionen sträubt (Jagose 2001: 13)? Geschlecht und Sexualität sind zentrale Kategorien, auf die wir uns in unserer Vorlesungsreihe beziehen, denn Queer Theory begann mit der Infragestellung des hegemonialen Regimes heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit. Unser Anliegen, Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich infrage zu stellen, verstehen wir als queer-feministisch. Damit wollen wir auch einen Ansatz stärken, der den gegenwärtig medial stark repräsentierten Vorstellungen von Feminismen, die betont wenig nach Machtverhältnissen fragen, etwas entgegensetzt.2 Häuig wird der Begriff Queer jedoch ausschließlich mit Sexualität in Verbindung gebracht. Wir fragen uns, wie Queer so konzipiert werden kann, dass sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Komplexität begreifen lassen, und damit auf eine machtsensible Weise eigene Ausschlüsse relektiert werden können (vgl. Wehr 2007). Wie verschieben wir den Begriff (und das Konzept!) damit «von einem früheren Gebrauch her und in die Richtung dringlicher und erweiterungsfähiger politischer Zwecke» (Butler 1997: 313)? Unsere zweite Überlegung kreist um das Thema «Theorie und Praxis». Wenn sich Queer nicht auf eine wissenschaftliche Perspektive reduzie-

Auseinandersetzungen mit, in und um queere(n) (Denk-)Bewe1 Wir verwenden den Unterstrich, um möglichen Subjektpositionen zwischen oder jenseits der maskulinen oder femininen Form in unserem Schreiben Raum zu geben. Das großgeschriebene Binnen-I soll zugleich die feministische Intervention in die Sprache sichtbar machen (vgl. Herrmann 2005).

2 Damit meinen wir rassistische Feminismen, die dem imaginierten Eigenen einen monolithischen Islam entgegensetzen und zum Beispiel Kopftuchverbote und Ausweisungen fordern (wie Alice Schwarzer und der Kreis um die Zeitschrift EMMA), konservative Feminismen à la Ursula von der Leyen, aber auch Konzepte von «Alphamädchen», in denen die Einlösung feministischer Vorstellungen an weibliche Karrieren geknüpft ist.

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ren lässt, sondern ein politisches Projekt in der Tradition verschiedener Geschlechter- und Sexualitätenbewegungen und der Gay and Lesbian Studies ist, wie lässt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis queer denken? Ist wissenschaftliche Arbeit wie unsere Ringvorlesung und dieses Buch auch eine politische Intervention in die heteronormative Ordnung von Universität und Wissenschaft, oder vereinnahmen wir damit politische Kämpfe durch die zugangsbeschränkte akademische Theorieproduktion? Wie lässt es sich vermeiden, die, mit verschiedenen Legitimierungsgraden ausgestattete, Vorstellung von Theorie und Praxis plump zu reproduzieren? Muss es nicht darum gehen, die eigene theorie-politische Praxis zu hinterfragen und immer wieder den Eigensinn queerer Praxen jenseits der Wissenschaft in Betracht zu ziehen? Die Frage nach dem Verhältnis von queerer Theorie und Praxis nehmen wir im zweiten Abschnitt dieses Textes wieder auf, doch zunächst ein paar Worte mehr zu unserer Konzeption von Queer.

und dem kein festgefügtes, kohärentes wissenschaftliches Lehr- und Theoriegebäude zugrunde liegt. Der Begriff Queer bleibt folglich in permanenter Aushandlung begriffen, wird immer wieder neu gesetzt, umgedreht und durchkreuzt. Es ist uns folglich ein Anliegen, unsere Vorstellungen von Queer transparent zu machen, provisorisch zu verdichten und zur Diskussion zu stellen.

Zu unserem Verständnis von Queer Die Diskussionen um den Begriff Queer, seine Verwendungsweisen, Genealogien und Zukunft sind notwendigerweise konliktreich. Schließlich geht es um einen Begriff, der sowohl wissenschaftlich relevant als auch politisch schlagkräftig sein, dabei Ausschlüsse beständig hinterfragen und mehr als ein umbrella term sein soll. Als ein Sammelbegriff für Lesben und Schwule oder eine Bezeichnung für Identitäten, die den sexuellen und/oder geschlechtlichen Normen der Dominanzgesellschaft widersprechen, wird Queer mittlerweile häuig verwendet. Außerhalb des englischen Sprachraumes geht dabei jedoch die Radikalität des Begriffes fast vollständig verloren. Queer – das Schimpfwort, das der heteronormativen Sprache in einem widerständigen Akt als Selbstbezeichnung entwendet wurde – ist hierzulande ein harmloser Begriff, der keinerlei homo- und transphobe Konnotationen im Gepäck hat (vgl. für den schwedischen Kontext Rosenberg 2008; für den polnischen Kontext Basiuk/Ferens/Sikora 2002b; für den französischen Kontext Gunther 2005). Trotz dieser Problematik übt Queer als Begriff und Konzept auch außerhalb des englischen Sprachraumes eine gewisse Faszination auf Aktivist_Innen und Wissenschaftler_Innen wie die AG Queer Studies aus. Einen besonderen Reiz macht aus, dass sich Queer als dezidiert offenes Konzept versteht, dessen Bedeutungen sich laufend verschieben

Wir verstehen Queer unter anderem als eine Forschungsperspektive, die Selbstverhältnisse und Zugriffe auf Körper, Identitäten, sexuelle Politiken sowie Gesellschaft in den Blick nimmt.3 Im Mittelpunkt steht dabei die kritische Auseinandersetzung mit Heteronormativität und Zwangszweigeschlechtlichkeit, das heißt mit gesellschaftlichen Praxen und Institutionen, die Heterosexualität als Norm setzen und Körper in zwei sich ausschließende, als natürlich konstruierte Geschlechter einteilen. In der Queer Theory werden Körper nicht als neutrale, unschuldige Oberläche und passive Materie begriffen, die außerhalb der kulturellen und sprachlichen Bezeichnungsprozesse stehen. Zudem wird es als notwendig angesehen, Sexualität, Begehren und Geschlecht nicht getrennt voneinander zu betrachten, denn alle drei Bereiche konstituieren sich wechselseitig: Durch die stillschweigend vorausgesetzte Kohärenz zwischen körperlichem Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuellem Begehren stabilisieren sich die rigide Zweigeschlechtlichkeit und die Heterosexualität gegenseitig. Aus einer queer-feministischen Perspektive wenden wir uns somit gegen die andauernde «Arbeitsteilung» zwischen Queer und Feminismus, wonach Queer für Sexualität zuständig zu sein scheint, während Feminismus sich mit Gender beschäftigt (Heidel/Micheler/Tuider 2001b: 23). Damit geht einher, dass Heteronormativität in vielen feministischen Diskursen und Forschungen weiterhin vernachlässigt und ausgeblendet wird. Dadurch wird die Chance vergeben, die Zweigeschlechterordnung und normative Heterosexualität wirksam anzugreifen, und ein wichtiger Aspekt sexistischer Strukturen bleibt unhinterfragt: Das Geschlechtersystem beinhaltet eine Hierarchie zwischen Mann und Frau, Männlichkeit und Weiblichkeit, gerade weil 3 An dieser Stelle soll keine ausführliche Darlegung theoretischer Bezüge stattinden. Hierzu sei die Lektüre der Einleitung des ersten Bandes von Jenseits der Geschlechtergrenzen (Heidel/Micheler/Tuider 2001b) sowie Riki Wilchins‘ Einführung Gender Theory (2006) empfohlen.

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es die Existenz von genau zwei Geschlechtern als binäre Opposition behauptet – mit dem Mann als universellem Menschen und der Frau als dem Anderen, das ohne «ihn» keine Bedeutung hat. Geschlechtsspeziische Arbeitsteilung basiert beispielsweise darauf, dass es genau zwei Geschlechter gibt, die sich voneinander unterscheiden, jedoch heterosexuell aufeinander bezogen sind und als sich ergänzend gedacht werden. Zugleich produziert das Zweigeschlechtersystem beständig Subjekte, die nicht passen und ausgeschlossen werden müssen (vgl. Engel 2003: 101ff.). Darüber hinaus ist es unser Anliegen, die Vermachtung von Subjektivierungsprozessen in Hinblick auf die Kategorie Sexualität in ihrer Verwobenheit mit anderen Subjektivierungsweisen und Machtverhältnissen zu erfassen. Insofern ist Queer für uns eine speziische Perspektive auf (Identitäts-)Kategorien, die sich – obwohl eng damit verknüpft – nicht auf identitätspolitische Fragen reduzieren lässt. Die Privilegierung der Kategorie Sexualität ist bedingt durch den Entstehungskontext von Queer, und während LesBiSchwulTrans-Themen weiterhin eine zentrale Rolle spielen, müssen Queer Studies über Gay and Lesbian Studies hinausgehen. Verschiedene Identitätskategorien wie Klasse, Behinderung4, Alter, Geschlecht, «Rasse»5 oder Sexualität tauchen empirisch nie voneinander

getrennt auf, sodass sie stets in ihrer Verwobenheit untersucht werden müssen. Somit verstehen wir Queer als eine notwendig intersektionale Forschungsperspektive, wenngleich dies in der Forschungspraxis noch vielfach ein Desiderat ist (Dietze/Haschemi Yekani/Michaelis 2007). Die Debatte um Intersektionalität hat sich in den letzten Jahren zum einen dahingehend intensiviert, dass nicht mehr nur die Trias von «Rasse», Klasse und Geschlecht (Knapp 2005; McCall 2005) berücksichtigt wird, sondern die Aufmerksamkeit für die Vielfalt von Kategorien an Bedeutung gewonnen hat und relektierter mit ihrer Auswahl umgegangen wird (Verloo 2006; Lutz 2001). Zum anderen stand die Konzeption von Intersektionalität als methodologischer Perspektive auf dem Programm. Besondere Herausforderungen bei der empirischen Umsetzung stellen die Berücksichtigung einer Vielzahl an Kategorien und die Unterscheidung von verschiedenen Untersuchungsebenen dar. Während beispielsweise Fenstermaker und West (2001) mit ihrem Ansatz des doing difference nicht die Strukturebene, sondern die Ebene der Identitätspositionen betrachten, schlagen Knapp (2005), McCall (2005) und Engel/ Schulz/Wedl (2005) ein gesellschaftstheoretisches Vorgehen vor. Eine grundlegende Kritik am Konzept der Intersektionalität gibt zu bedenken, dass dieses nur die Schnittstellen von Unterdrückungskategorien, nicht aber ihre Verwobenheit und Inkohärenz fassen könne (Cooper 2004; Erel u.a. 2006). Die methodologische und gesellschaftstheoretische Frage, wie verschiedene Herrschaftsweisen in ihrer Eigenständigkeit und Verwobenheit gefasst werden können, ist auch weiterhin unbeantwortet (Knapp 2006). Unserer Meinung nach weist Queer innerhalb der Intersektionalitätsdebatte nicht nur darauf hin, die Rolle der Kategorie Sexualität nicht zu unterschätzen, sondern trägt auch ein speziisches politisches Anliegen in die Diskussion. Katharina Walgenbach (2007) fragt, was genau ge-

4 Der Begriff Behinderung ist meistens mit der Vorstellung eines Deizits verbunden. Er markiert die Abweichung von der Norm des Nicht-Behindert-Seins, ermöglicht aber auch eine Lesart, wonach Menschen von der Gesellschaft «behindert» werden, weil sie nicht in diese Norm passen. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, diesen Begriff zu verwenden. 5 Die Umgangsweise mit dem Begriff «Rasse» wurde in der Autor_Innenschaft dieser Einleitung mehrfach ausgiebig diskutiert. Schnell konnten wir uns darauf einigen, dass es politisch produktiv ist, es nicht beim englischsprachigen race bewenden zu lassen. Erstens verweist auch race nicht nur auf eine als sozial-konstruiert verstandene Kategorie, sondern enthält ebenfalls biologistische Bezüge. Es befreit damit nicht davon, kenntlich machen zu müssen, dass die Kategorie «Rasse» als soziale Konstruktion verstanden wird. Zweitens erschien es sinnvoll, die Kontinuität von (biologisch argumentierendem) Rassismus in Deutschland durch die Wahl der deutschen Sprache sichtbar zu machen. Mit dieser Argumentation, die sich unter anderem an der Diskussion verschiedener Begriflichkeiten in «Mythen, Masken und Subjekte» (Eggers u.a. 2005) orientierte, gelangten wir zu der Schreibweise «Rasse», also der Nutzung des deutschen Wortes in Anführungszeichen. Dies wiederum führt jedoch dazu, die Konstruiertheit der Kategorie «Rasse» gegenüber jener der Kategorien Geschlecht, Sexualität, etc. privilegiert kenntlich zu machen. In einem Verständnis, in dem Sprache Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern vielmehr selbst mitgestaltet, müssten alle Worte in Anführungszeichen gesetzt wer-

den. Diese Lösung beeinträchtigt die Lesbarkeit des Textes jedoch zu sehr und wird zusätzlich selbst wieder inhaltsleer. «Rasse» ohne Anführungszeichen zu schreiben schien uns jedoch eine zu große Gefahr zu bergen, bei lüchtiger Lektüre des Textes eine Normalisierung dieser Kategorie im deutschen Sprachraum zu befördern. Diesem Dilemma konnten wir uns nicht entziehen. Die Kategorie «Rasse» verweist nach wie vor auf Auschwitz. Ohne die Betroffenen verschiedener Herrschaftsstrukturen hierarchisieren zu wollen, haben wir uns für eine Schreibweise entschieden, in der «Rasse» in Anführungszeichen gesetzt ist, oder – wenn möglich – den Begriff der Rassiizierung verwendet. Die Konstruiertheit der anderen Kategorien muss sich hingegen allein aus der Textlektüre erschließen.

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meint ist, wenn von Intersektionalität oder Durchkreuzung die Rede ist. Überschneiden sich Identitäten, Subjektpositionen, Machtverhältnisse, Praktiken oder interdependente Kategorien sozialer Positionierung? Und welche Natürlichkeitsvorstellungen werden re/produziert, wenn aus intersektionaler Perspektive auf binär strukturierte Differenzkategorien rekurriert wird (ebd.: 59ff.)? Wie Dietze, Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis (2007) zeigen, haben Queer Theory und der Intersektionalitätsansatz gemeinsame Wurzeln in politischen und wissenschaftlichen Praxen, die sich kritisch gegenüber identitätspolitisch geprägter und machtvermeidender Nicht-Beachtung von Differenzen verhalten. Während Intersektionalität auf sehr komplexe Art und Weise das Ziel verfolgt, die Verwobenheit verschiedener Differenzkategorien hinsichtlich sozialer Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse zu beschreiben, sind Queer Theory und Queer Studies stärker einem politisch-dekonstruktiven Verständnis von Normalisierungsprozessen verschrieben. Queer Theory und Intersektionalität können sich gegenseitig als methodologische Korrelate ergänzen: Beide Perspektiven versuchen, eine kritische Analyse multipler Kategorisierungsprozesse und Diskriminierungspraxen zu leisten. Intersektionalität kann den Blick innerhalb der Queer Theory auf die «Ko-Präsenz oder Simultanität von Positionierungen in einem Individuum» (ebd.: 139, Hervorhebung i. O.) lenken. Gleichzeitig ermöglicht es Queer Theory, «den implizit vergegenständlichenden Effekt der Anrufung durch Kategorien per se und ihre Fixierung auf machtasymmetrische Binaritäten» (ebd.: 109) zu untergraben. Aus einer queeren Perspektive muss es auch darum gehen, die Instabilität, Nicht-Kohärenz und Nicht-Identität von intersektional gedachten Subjektivierungsprozessen herauszuarbeiten und zu zeigen, dass kategoriale Zuschreibungen immer schon hegemonial besetzt sind und durch Normalisierungsarbeit reproduziert werden müssen (Ferguson 2004). Aus diesem Grunde halten wir es für produktiv, mit queerem und damit anti-essentialistischem und identitätskritischem Instrumentarium auch andere Kategorien wie «Rasse» zu fokussieren (vgl. Krämer/ Mackert in diesem Band). Sexualität und Geschlecht müssen also in ihrer Verwobenheit mit anderen gesellschaftlichen Normsystemen wie «Rasse», Ethnizität, Klasse, Behinderung oder Alter und vor dem Hintergrund der derzeitigen kapitalistischen/neoliberalen Vergesellschaftung analysiert werden. Eine

derartige Vielschichtigkeit von queeren Ansätzen, die sich auch in den Beiträgen dieses Bandes widerspiegelt, kann zu einer größeren Bedeutung und Verbreitung von Queer in gesellschaftskritischer Wissenschaft und Politik führen. Problematisch an dieser Verbreiterung von Queer in andere Kontexte könnte sein, dass Queer dann nur noch methodischer Zugriff in einzelnen Teildisziplinen ist und als reine Analysekategorie den politischen Anspruch verliert. Der Begriff Queer könnte beliebig und schwammig werden, wenn er zu einer allgemeinen Infragestellung von Kategorien und Machteffekten herangezogen wird und die Fokussierung auf Sexualität und Geschlecht verloren geht. Durch die Formulierung einer einheitlichen, Weißen6, akademischen, nicht-trans und nicht-behinderten queeren Genealogie werden Akteur_Innen ausgeblendet und Ausschlüsse nicht transparent gemacht. Diese Beanspruchung von Deutungsmacht negiert auch die Heterogenität queer-politischer Bewegungen und deren mühsame und durchaus leidvolle Kämpfe (vgl. Haritaworn 2005). Eventuelle Vereinnahmungsstrategien vom Begriff Queer müssen daher kritisch betrachtet werden, die Infragestellung von Privilegien darf nicht verloren gehen, und eigene Privilegien sollten thematisiert werden. Auch dieser Text stellt eine Vereinnahmung von Queer dar. Zwar versuchen wir die Entstehungskontexte zu relektieren, aber wir formulieren aus unseren Perspektiven heraus eine Erweiterung dessen, was unter Queer und/oder einer queeren Forschungsperspektive verstanden werden kann. Dies wollen wir jedoch nicht verschwiegen tun, sondern hiermit auch explizit benennen. In unserer AG treffen sich zwar vielfältige Differenzen, jedoch setzen sich die AG Queer Studies, und damit auch der Herausgeber_Innenkreis dieses Buches, mittlerweile zu großen Teilen aus Personen zusammen, die eher durch eine akademische Annäherung an Queer Theory zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit queeren Perspektiven gelangt sind. Insbesondere 6 Die Adjektive «Schwarz» und «Weiß» schreiben wir, auf Menschen bezogen, in dieser Arbeit groß, um auch in diesem Kontext auf den sozialen Konstruktionscharakter hinzuweisen. Mit «Schwarz» und «Weiß» sind ungleiche emanzipatorische Potenziale für politische Bewegungen verbunden. Für nicht-Weiße, von Rassismen betroffene Menschen kann eine Organisierung unter der Kategorie Schwarz widerständiges Potenzial entfalten. Eine Bezugnahme von Weißen auf Weißsein kann dagegen nur im Rahmen einer kritischen (Selbst-)Relexion geschehen (vgl. Wollrad 2005: 20).

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möchten wir an dieser Stelle transparent machen, dass der Herausgeber_Innenkreis ausschließlich aus Weißen Personen besteht, die zurzeit zu einem Großteil von den Privilegien heterosexuellen Lebens proitieren.

den Sammelband als Teil eines Nachdenkens über Intersektionalität und Queer Studies.

Neben der soeben skizzierten Forschungsperspektive ist Queer für uns auch ein politisches Programm, das vervielfältigen und denaturalisieren soll und mittels Enthierarchisierung, Denormalisierung und «VerUneindeutigung» (Engel 2003: 204ff., 224ff.) wirksam wird. Queer wendet sich gegen gesellschaftliche Zwänge und Normen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit sowie patriarchale Strukturen – in einem wie hier skizzierten Verständnis aber auch dezidiert gegen andere Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen. Queer als Forschungsperspektive treibt die Dekonstruktion von Kategorien und Analyse von Machteffekten voran. Dabei ist es die Verantwortung der Forschung, solche Kategorien nicht wieder zu verfestigen und bei der Betrachtung von Kategorien stets auch nach Ausschlüssen zu fragen, die bei ihrer Herstellung notwendigerweise gemacht werden. Komplexe Realitäten müssen erfasst werden, ohne dabei herrschende (Selbst-)Normalisierungsdiskurse und hierarchisierende Klassiizierungen zu reproduzieren. Neben der Vermeidung von Reiizierungen ist permanente (Selbst-)Relexion gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen und Ordnungsprinzipien ein zentraler Bestandteil verantwortlichen queeren Forschens. Relexivität als Prinzip von Queer bedeutet, für Kritik offen zu sein und selbst immer wieder machtsensibel zu hinterfragen, ob und inwiefern auch das eigene Sprechen und Handeln neue Ausschlüsse produziert. Zum Aufbau des Sammelbandes Verqueerte Verhältnisse gliedert sich in drei Teile. Die ersten beiden Abschnitte nehmen unter dem Stichwort «Intersektionen» die Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität mit rassiizierenden Machtverhältnissen und ökonomischen Verhältnissen im neoliberalen Kapitalismus in den Blick. Der dritte Teil versammelt Relektionen aktivistischer, künstlerischer, wissenschaftlicher und Alltags-Praxen, die ebenfalls in speziischen historischen und ökonomischen Kontexten situiert sind. Die Autor_Innen beziehen sich in den einzelnen Beiträgen nicht alle explizit auf das Konzept der Intersektionalität. Dennoch positionieren wir

Intersektionen: Queer Studies und rassiizierende Machtverhältnisse Der erste Abschnitt des Buches, «Intersektionen: Queer Studies und rassiizierende Machtverhältnisse», versammelt intersektional angelegte Analysen, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Durchkreuzung und wechselseitigen Artikulation in den Blick nehmen. Die Aufsätze konzentrieren sich dabei auf die Verwobenheit von Rassiizierungsprozessen mit Geschlecht und Sexualität. Zentral für eine solche Erweiterung der Perspektive sind Arbeiten von People of Color und Schwarzen Menschen. Aus ihrer Theorieproduktion und kritischen Interventionen in einen Weißen akademischen Mainstream sind, unter anderem, Ansätze entstanden, welche unter den Begriffen Postcolonial Studies und Black Studies/Critical Whiteness Studies zusammengefasst werden. Die kritische Begriflichkeit des Postkolonialismus wurde in den 1990er Jahren im anglophonen Raum entwickelt; sie verweist nicht auf ein schlichtes «nach» der kolonialen Epoche, sondern stellt vielmehr die Kontinuitäten und den Fortbestand speziischer Machtverhältnisse, Subjektivierungs- und Wissensformen in den Mittelpunkt (Gutiérrez Rodriguez 2003; Grimm 1997). Entwickelt haben sich die Postcolonial Studies aus den Cultural Studies. Als wichtige Impulsgeber und erste Theoretiker der Postcolonial Studies können Frantz Fanon (1952) und Edward Said (1978) gelten. Fanon untersucht in seiner Monograie Schwarze Haut, Weiße Masken die psychischen Effekte von Kolonialismus und Rassismus auf Schwarze Subjekte; Said fokussiert in Orientalism die Konstruktion des Orients durch europäische Kolonialmächte. Postkoloniale Theoretiker_Innen wie Gayatri Chakravorty Spivak (1988; 1999) und Homi K. Bhaba (1990; 1994) haben im Anschluss daran auf die gewaltförmige Produktion von Wahrheiten durch hegemoniale Diskurse und Repräsentationsformen hingewiesen. Damit verbunden wird die permanente Konstitution der Grenze zwischen einem «Wir» und den «Anderen» untersucht und gezeigt, wie globale Hierarchien stetig (re-)produziert und sedimentiert werden. Bezug genommen wird in den Postcolonial Studies auf Versatzstücke poststrukturalistischer, dekonstruktivistischer, marxistischer und feministischer Theorie. Dementsprechend ähneln sich

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Grundlagen und Denkbewegungen dieser Forschungsperspektive und der Queer Theory: Beiden gemein ist die Dekonstruktion naturalisierter, binärer Denktraditionen und eine Kritik an epistemologischen Konzepten, die ein kohärentes, rationales Agentensubjekt denken. Strategischer Essentialismus (Spivak 1999), Hybridität (Bhabha 1994) und Disidentiikation (Anzaldúa 1987, Muñoz 1999) sind nicht nur erkenntnistheoretische Ansätze, sondern auch politische Strategien und Konzepte im Umgang mit Identitätspolitiken, die Vorstellungen statischer und eindimensionaler Subjektivitäten verabschieden. Trinh T. Minh-ha schreibt über das emanzipatorische Potenzial der Vielheit in Identitäten: «Da Identität ihre Pluralität sehr wohl artikulieren kann, ohne ihre Singularität zu unterdrücken, verleihen die Heterologien des Wissens allen Praktiken des Selbst eine fröhlich wirbelnde Dimension» (Trinh 1995: 7). In den letzten Jahren hat sich in den USA die Queer Diaspora Critique entwickelt, welche eine Verlinkung von Queer Theory und postkolonialer Kritik versucht. Ihr Fokus liegt auf den Leerstellen von beiden Ansätzen, hier werden postkoloniale/diasporische Erfahrungen mit queeren Perspektiven sowie nicht-normative Sexualitäten mit postkolonialen Betrachtungsweisen verknüpft (Eng/Halberstam/Muñoz 2005). Im deutschsprachigen Raum haben die Postcolonial Studies bisher kaum eine Institutionalisierung an den Universitäten erfahren. Verwiesen werden kann mittlerweile allerdings auf die sehr ertragreichen Sammelbände Spricht die Subalterne deutsch? (Steyerl/Gutiérrez Rodriguez 2003) und re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007), sowie auf eine kritische Einführung in postkoloniale Theorie von Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2005).

nehmen einen Strang dieser Schwarzen Analysen zu Rassismen auf und fokussieren die Rolle von Weißsein in rassiizierenden Machtasymmetrien. Sie dekonstruieren die scheinbare politische «Unschuldigkeit» der Kategorie Weißsein und arbeiten die historisch-kulturellen Implikationen dieser Konstruktion heraus (Wollrad 2005; Eggers u.a. 2005). Diese Studien benennen Weißsein und Schwarzsein als gesellschaftliche Subjektpositionierungen, welche durch Rassiizierungsprozesse und Herrschaftsverhältnisse hergestellt und bedeutsam werden. Die Benennung von Rassekonstruktionen verweist nicht auf einen essentialistischen Kern, sondern greift Kristallisationspunkte rassistischer Herrschaftspraxen auf, um diese sichtbar zu machen. Gerade in Bezug auf die Kategorie Sexualität ist Julian B. Carters The Heart of Whiteness (2007) interessant: Hier analysiert sie die Entstehung und Effekte des Ideals eines/r «normalen» Amerikaners/in und veranschaulicht, wie eine exklusive Verbindung von Weißsein und Heterosexualität mit Modernität und zivilisatorischen Fähigkeiten aufgebaut und die eingelassenen Machtverhältnisse durch eine Naturalisierung dieser Verbindung verschleiert wurden. In Deutschland ist mit Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte bereits 1986 (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986) ein Sammelband erschienen, in dem Schwarze Frauen ihre Lebensverhältnisse in Deutschland und die rassistische Verfasstheit der BRD untersuchen und darstellen. Im akademischen Kontext fand der Ansatz allerdings erst in jüngerer Zeit eine gewisse Resonanz. Nach wie vor fern einer Institutionalisierung machen mittlerweile Sammelbände wie Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland (Eggers u.a. 2005), das bereits erwähnte Buch re/visonen (Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007) oder Noah Sows Deutschland Schwarz Weiß (2008) kritische Interventionen in den Weißen Mainstream einem breiteren Publikum zugänglich. An der Naht von Queer Studies und Black Studies entwickelten sich die Black Queer Studies, bzw. die Queer of Color Critique, die auf die untrennbare Verwobenheit von «Rasse», Sexualität, Geschlecht und Klasse fokussieren und somit ebenfalls in die als Weiß konstruierte Genealogie der Queer Theory intervenieren (Johnson/Henderson 2005; Ferguson 2004: 4; vgl. Dietze/Yekani/Michaelis 2007: 116ff.). Dass diese Debatte auch für den deutschen Kontext offenbar längst überfällig ist, zeigten

Die Analyse kolonisierender Blicke als konstitutive Bestandteile Weißer westlicher Wissensordnungen ist auch eine wichtige Grundlage der Black Studies und Critical Whiteness Studies. Die Black Studies nehmen Schwarze Wissenstraditionen auf und versuchen, die vielfältigen Perspektiven und Lebenserfahrungen Schwarzer Menschen im wissenschaftlichen Diskurs präsent zu machen. Entstanden sind sie aus den Kämpfen der Bürgerrechtsbewegung in den USA, wo sie sich auch zu einer eigenständigen Forschungsrichtung verdichtet haben und zumindest teilweise institutionalisiert wurden. Die Critical Whiteness Studies

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die Ereignisse und Diskussionen auf der «Queering the Humanities»Konferenz in Berlin, während der die Frage nach Machtverhältnissen in der queeren Forschungscommunity und den Potentat_Innen des queeren agenda setting offen zutage trat (Haritaworn 2005). Auch Fatima El Tayeb (2004) und Christiane Wehr (2007) problematisieren, dass in queeren Kontexten in Deutschland sowohl rassistische Ausschlüsse als auch eine Mittelschichtdominanz reproduziert werden und damit der selbst gestellte Anspruch, eine Komplexität von Herrschaftsverhältnissen zu denken und ihnen etwas entgegenzusetzen, nicht erfüllt wird: «Eine ‹Kreuzung› der Disziplinen, die sich der Konstruiertheit von geschlechtlicher wie ethnischer Identitäten bewusst ist und so etwa in queer studies resultiert, die Konzepte von whiteness analysieren, bleibt so vorerst noch utopisch», schreibt El-Tayeb (2003: 137, Hervorhebung i. O.). Die Aufsätze im ersten Teil des Buches wollen ebensolche Verbindungen queer-theoretischer Perspektiven mit Ansätzen und Fragestellungen aus den beschriebenen Theoriefeldern der Postcolonial, Black und Critical Whiteness Studies leisten.

schaftliche Strukturen mit einbezieht, eine Körpergeschichte zu schreiben, in der Körperkonzepte denaturalisiert und gleichzeitig in ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit untersucht werden können. Alexandra Ganser spürt abschließend in ihrem Artikel «Erika Lopez, Tomato Rodriguez und die Flaming Iguanas: Queer Textual Politics aus dem Zwischenraum» Möglichkeiten eines «queer empowerment» im Feld multipler Differenzen nach, wie sie in den Arbeiten von Erika Lopez, einer puerto-ricanisch-angloamerikanischen Graikerin, Autorin und Performance-Künstlerin sichtbar werden. Lopez greift unterschiedliche literarische Genres auf, ironisiert, bricht und durchkreuzt diese allerdings stetig, und ebenso verfährt Tomato Rodriguez, die Protagonistin des Werkes, mit den ihr dargebotenen Identitätskategorien und macht genau dadurch die Konstruiertheit der Kategorien deutlich. Ganser weist auf die Ähnlichkeit der Protagonistin mit der Figur der Mestiza, wie sie von Gloria Anzaldúa (1987) konzipiert wurde, hin, und zeigt, wie die Versuche machtvoller Festschreibungen auf feste ethnische und sexuelle Positionierungen im Text subversiv unterlaufen werden.

Den ersten Beitrag dieser Sektion bildet Jin Haritaworns Beitrag «Kissins, Demos, Drag: Sexuelle Spektakel von Kiez und Nation», der die diskursiven Grundlagen und Vermachtungen der gegenwärtigen Diskussion um einen vermeintlichen «Kulturkampf» skizziert. Anhand von Beispielen aus linken, linksradikalen und Szene-Medien beschreibt Haritaworn, wie sich imaginäre Gemeinschaften wie Nation und Kiez über Diskurse «migrantischer Homophobie» als sexualpolitisch fortschrittlich und integrativ inszenieren. Der Text spürt den hierin wirkenden Rassismen nach und zeigt, wie einige bisher minorisierte Subjekte auf Kosten ethnisierter und rassiizierter Anderer Anerkennung und citizenship erlangen. Wie queere Perspektiven mittlerweile in historische Betrachtungen einließen können, die nicht explizit Sexualitätengeschichte betreiben, zeigen Felix Krämer und Nina Mackert in «Plessy revisited: Skizzen dekonstruktivistischer Körpergeschichte(n) von den Vereinigten Staaten der Segregation». Hier beschreiben sie anhand der Gerichtsverhandlung Plessy vs. Ferguson von 1896 Aushandlungs- und Festschreibungsprozesse rassistischer Grenzlinien in den USA. Krämer und Mackert gelingt es mit einem performativitätstheoretischen Zugriff, der verstärkt gesell-

Mehr Intersektionen: Queer Studies, Ökonomiekritik und neoliberaler Kapitalismus Im zweiten Teil dieses Bandes wird mit Ansätzen und Werkzeugen der Queer Theory der Versuch unternommen, kritische Perspektiven auf kapitalistische Vergesellschaftungsformen und neoliberale Subjektivierungsweisen zu entwickeln. Das Zusammendenken von queer-theoretischen und kapitalismuskritischen Ansätzen wurde von Katharina Pühl und Nancy Wagenknecht (2001) als Desiderat formuliert: «Wenn das queerpolitische Programm die Regulation von und mittels Sexualität ins Zentrum der Kritik stellt, dann muss neben der Heteronormativität und der wechselseitigen Artikulation von Rassismus und Heterosexualität auch das Verhältnis von Kapitalismus und Sexualität thematisiert werden» (ebd. Seite$$). Queer tauchte im akademischen Raum zu einer Zeit auf, in der dem globalen Siegeszug des Kapitalismus scheinbar nichts mehr im Wege stand. Der «real existierende Sozialismus» in Osteuropa war zusammengebrochen, und traditionelle linke Gegenentwürfe zu Wirtschaft und Gesellschaft taten sich schwer. Doch vermutlich ist nicht allein die mangelnde Konjunktur marxistischen Denkens Anfang der 1990er Jahre

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der Grund dafür, dass das Zusammendenken von Queer und Marxismus bis heute als Leerstelle der Theorieproduktion empfunden wird (vgl. Hennessy 2000). Sexualpolitische Bewegungen und Queer Studies stellen Sexualität und Heteronormativität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und betrachten somit Machtverhältnisse, die lange Zeit auch innerhalb linker Bewegungen vernachlässigt wurden. Aber auch die Herangehensweise ist eine andere: Kultur, Sprache und Diskurs bilden die Grundlage von theoretischen Überlegungen und politischen Praxen. Wenn Butler (1997) am Beispiel von Körpern die diskursive und performative Konstruktion von Materialität zeigt, widerspricht sie ganz deutlich den meisten klassisch-marxistischen Konzeptionen von Materialität. Im Gegensatz zu Geschlecht, Sexualität oder «Rasse» haben sich die Vorstellungen von Kapitalismus und Ökonomie bis heute weitgehend einer Dekonstruktion entzogen: «Capitalism has been relatively immune to radical reconceptualization» (Gibson-Graham 1996: 253). Während klassische marxistische Ansätze auf erkenntnistheoretischer Ebene unvereinbar mit poststrukturalistischer Queer Theory erscheinen, bieten eine Reihe anti-essentialistischer Marxismen Ansatzpunkte für ein queere Kritik an kapitalistischer Vergesellschaftung oder hegemonialem neoliberalem Kapitalismus als Diskurs. Autor_Innen wie beispielsweise Louis Althusser (1977), Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) und J.K. Gibson-Graham (1996, 2006) entwickeln aus der marxistischen Theorietradition eine Selbstkritik an Essentialismen, ökonomischen Reduktionismen sowie einem Haupt- und Nebenwiderspruchsdenken, das Geschlecht und Sexualität als zweitrangige politische Anliegen abgetan hat. Nun zeichnen sich in den letzten Jahren erhebliche sozioökonomische Veränderungen ab, und nicht nur in gesellschaftswissenschaftlichen Debatten, sondern auch in medialen Diskursen ist die Rede von einer sich vertiefenden Spaltung der Gesellschaft, zunehmender ökonomischer Ungleichheit und der Entstehung eines neuen Prekariats. Es lässt sich eine Transformation der Erwerbsarbeitswelt beobachten, die von zunehmender Flexibilisierung der Arbeitskraft und Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse gekennzeichnet ist. Begleitet und angestoßen werden diese Prozesse von einer Neujustierung des Politischen, die «auf eine Politik des Aktivierens zur Eigenleistung anstelle des Ausgleichs von Verletzbarkeiten und sozialen Kosten kapitalistischen Wirtschaftens ausgerichtet» (Pühl 2003: 115) ist. Diese sozioökonomischen

Veränderungsprozesse haben das Begehren nach Kapitalismuskritik innerhalb der Queer Studies intensiver werden lassen, und es deutet alles darauf hin, dass wir am Beginn einer tief greifenden Weltwirtschaftskrise stehen, durch die eine Kritik kapitalistischer Verhältnisse in den kommenden Monaten und Jahren weiter an Dringlichkeit gewinnen wird. Dietze, Haschemi Yekani und Michaelis (2007) unterscheiden zwei Zugänge kapitalismuskritischer Queer Theorie: Zum einen inde eine Auseinandersetzung mit der Klassenzugehörigkeit queerer Subjekte und ein Zusammendenken von Sexualität und Klasse statt (vgl. Fraser 1999; Cohen 2005; Raffo 1997). Ferguson (2004), Hennessy (2000; 2006) und Muñoz (1999) beziehen die marxistische Kapitalismusanalyse in ihre Arbeiten mit ein und analysieren den Zusammenhang von Produktionsverhältnissen und sexuellen Politiken. Zum anderen, und im deutschsprachigen Kontext schwerpunktmäßig, indet eine Beschäftigung mit neoliberalen kapitalistischen Regierungsweisen statt (Engel 2003, 2005; Pühl 2003, 2004; Ganz 2007). Das Stichwort neoliberale Gouvernementalität (Foucault 2000; Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) hatte in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren Konjunktur und bezeichnet eine speziische ökonomische Rationalität und Regierungsweise, die das Handeln von Individuen und Kollektiven strukturiert (Ganz 2007, vgl. Mönkedieck in diesem Band). Subjekte werden als Unternehmer_Innen ihrer selbst dazu aufgerufen, eigenverantwortlich und risikobereit zu handeln (Bröckling 2007). Soziale Markierungen wie Geschlecht und Sexualität bleiben jedoch ungeachtet des neoliberalen Versprechens, sie könnten individuell überwunden werden, Ausgangspunkt und strukturelle Bedingung subjektiver Handlungsmächtigkeit (Habermann 2008). An dieser Stelle beschäftigen sich kapitalismuskritische Queer-Theoretiker_Innen mit der Ambivalenz von «Flexibilisierung und Individualisierung von Geschlecht und Sexualität» (Engel 2002: 194). Die in diesem Teil des Buches enthaltenen Beiträge loten die Freiheitsgewinne und Anerkennungsangebote aus, die Subjekte erreichen können, wenn sie sich bestimmten Anforderungen neoliberaler Lebensführung unterwerfen. Antke Engel geht in ihrem Artikel «Ökonoqueer. Sexualität und Ökonomie im Neoliberalismus» der These nach, die neoliberale Transformation sei durch einen neuen hegemonialen Konsens gestützt, der auf der positiven Neubewertung von Differenz beruhe. Anstatt davon auszuge-

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hen, queere Politiken seien einseitig von neoliberalen Flexibilisierungsund Individualisierungsversprechen vereinnahmt, fordert Engel, die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien dieser Versprechen als Einsatzpunkt queerer Politik zu sehen, und fragt, wie ein herrschaftskritischer Umgang damit aussehen kann. Der Beitrag «Performativität der ‹Unternehmerin ihrer selbst›: Das Unternehmen Monkeydick-Productions als Leistung zweiter Ordnung» von Sonja Mönkediek geht der Frage nach, wie neoliberale Anrufungen des Subjekts als «Unternehmerin» sowohl neue Freiheiten als auch alte und neue Zwänge hinsichtlich Geschlecht, Sexualität und Leistung hervorbringen. Dazu gibt die Autorin einen Einblick in die Arbeit des iktiven Unternehmens Monkeydick Productions, das diese Widersprüche in Krisenexperimenten inszeniert. Im Beitrag «Scham. pervers sexuell arbeiten im kontext neoliberaler ökonomie» von Renate Lorenz wird dem wechselseitigen Verhältnis von Arbeit, Subjektivierung und Sexualität am Beispiel von Hannah Cullwick nachgegangen, die im 19. Jahrhundert maid of all work in verschiedenen Haushalten war. Mit dem Begriff der Scham ergründet Lorenz, wieso Subjekte sich bestimmten Anforderungen im Feld der Arbeit «freiwillig» unterwerfen und den Aufwand sexueller Arbeit auf sich nehmen. Sie versteht Scham nicht als abzulegendes innerpsychisches Phänomen, sondern als Modus der Einarbeitung in Machtverhältnisse und gleichzeitig als wirkungsvollen Motor sozialer Veränderung mittels queer-feministischer Politiken.

Alltagskonlikte theoretische Relexionen hervor und werden darin politisch – «Queer is as queer does» (Jakobsen 1998: 529). Queer Theory ist eine speziische politisch-diskursive Intervention in die Wissensproduktion, und jeder queere Text kann als politische Intervention in seinem je eigenen Entstehungskontext gelesen werden (Hark 2005: 36). In Diskussionen über das Verhältnis von Theorie und Praxis geht es immer auch um die berechtigte Sorge, die stark akademisch geprägte Queer Theory könnte von sich nicht in akademischen Kreisen bewegenden Leuten nicht rezipiert und abgelehnt werden. Dabei wird die problematische Konstruktion eines vermeintlich theoretischen Wirs und eines vermeintlich praktischen Anderen immer wieder aufgerufen. Es bedarf also einmal mehr der Relexion der eigenen theorie-politischen Praxis, bei der nach Ausschlüssen und Vereinnahmungen politischer Kämpfe gefragt wird – und die den Eigensinn queerer Praxen jenseits der Wissenschaft berücksichtigt. Die Frage, ob sich Theorien in «das Leben übersetzen» (Coffey u.a. 2008: 9) lassen, taucht stets aufs Neue auf. Sind Theorien außerirdische Wesen, die wir erst einmal in unser praktisches Leben integrieren müssen? Oder können sie sogar «Lebensretter» sein, wie Riki Wilchins (2006) in ihrer Einführung in «postmoderne» Gender- und Queertheorien schreibt? «Die Feindseligkeit gegenüber Differenzen, die tödliche Komödie der Zweigeschlechtlichkeit, die herablassenden Feststellungen über meinen Körper und die Unmöglichkeit der Identität: Postmodernismus stellt einen Werkzeugkasten dar, der es mir ermöglicht, die Welt in den Griff zu bekommen» (ebd.: 1Ein intersektionales Verständnis von Queer legt darüber hinaus einen Prozess der Koalitionsbildung nahe, deren politische Analysen und Strategien nicht auf einer gemeinsamen Geschichte oder Identität beruhen, sondern auf einer geteilten Marginalisierung in Bezug auf normalisierende, legitimierende und privilegierende Ungleichheitskategorien wie Sexualität, Gender, Klasse und «Rasse» (Cohen 2005: 220). Diese Form von «radical coalition work» steht bisher noch aus, obwohl gerade darin ein «radical potential of queer politics» zu vermuten ist (ebd.). Es schließt sich eine Frage an: Wenn sich das Subjekt durch seine Praktiken in einem stets vermachteten Raum konstituiert, sich immer wieder neu herstellt und hierbei bestimmte Identitäten zur Aufführung gebracht werden (müssen), wie wird dann Widerstand denk- und leistbar? «Wir könnten nun versucht sein zu denken, dass man das Subjekt vorausset-

Interventionen: Relektionen queerer Praxis Der dritte Teil des Bandes geht der Frage nach, wie auf unterschiedliche Weise in eine hegemonial heteronormativ geprägte Gesellschaft interveniert werden kann. Damit soll nicht gesagt werden, dass sich der Rest des Buches mit «Theorie» und dieser Teil mit der «Praxis» auseinandersetzt und den «Ratgeberteil» unseres Buches darstellt. Vielmehr gehen wir davon aus, dass queere Politiken die Opposition von Theorie und Praxis anfechten. «Geschlechter- und sexualitätspolitische Kontroversen werden sowohl im Kontext der Theoriebildung als auch in Bewegungen ausgefochten und inspirieren sich gegenseitig» (Engel/Schulz/Wedl 2005: 15ff.). Insofern vollziehen sich queere Theoriebildungen stets auch im Kontext politischer, kultureller und künstlerischer Praxis, bringen

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zen muss, um seine Handlungsfähigkeit zu retten. Aber die Behauptung, dass das Subjekt konstruiert ist, bedeutet nicht, dass es determiniert ist. Im Gegenteil stellt der konstituierte Charakter des Subjekts gerade die Vorbedingung für seine Handlungsfähigkeit dar» (Butler 1993: 44). Handlungsfähig wird das Subjekt aus einer poststrukturalistischen und queeren Perspektive gerade dadurch, dass es niemals vollständig konstituiert ist, sich die identitären Anrufungsprozesse permanent wiederholen und somit die Möglichkeit der Umarbeitung gegeben ist. Widerständiges Handeln ist somit als eine nicht-autorisierte Wiederholung zu verstehen; als die «Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden» (Foucault 1992: 12). Der abschließende Teil dieses Bandes enthält Aufsätze, die sich mit den Praktiken und Handlungsoptionen von Subjekten beschäftigen, nach Widerstandspotenzialen angesichts einer fragmentierten Subjektivität fragen und den Umgang mit Intersexualität in queer-theoretischen Texten problematisieren.

nicht-heterosexueller Beschäftigter am Arbeitsplatz. Sie beschreibt die Arbeit, die Angestellte in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung aufwenden, als «Informations-Management». Losert eröffnet wichtige Perspektiven für den weiteren Umgang mit Benachteiligung im Alltag, indem sie der Frage nachgeht, wie neue Personalführungsinstrumente wie Diversity Management oder politische Maßnahmen wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) die Handlungsspielräume der Beschäftigten verändern und erweitern können. In dem Aufsatz «Weder Geschlecht noch Vaterland – Was hat es mit queerender Politik zu tun, wenn zwei lesbische Damen während des Zweiten Weltkriegs ins Kostüm eines heterosexuellen deutschen Soldaten schlüpfen?» von Jo Bucher und Angelika Göres wird der Widerstand von Claude Cahun und Marcel Moore gegen die deutsche Besatzung auf der Insel Jersey im Zweiten Weltkrieg beschrieben. Die Flugblätter und Aktionen von Moore und Cahun, deren gesellschaftskritisches und Rollenklischees infrage stellendes künstlerisches Werk in der (queeren) Kunstgeschichte rezipiert wird, werden von Bucher und Göres erstmals aus queerer Perspektive erschlossen und mit heutigen Konzepten queerer Politiken in Beziehung gesetzt.

Mit der Handlungsfähigkeit von Subjekten und deren Widerstandsmöglichkeiten beschäftigt sich Do Gerbig in ihrem Beitrag «Prozessual-strategische Subjekte in Bewegung!». Sie beleuchtet die Möglichkeiten der Intervention in hegemoniale Diskurse, die anti-rassistische und queerfeministische Repräsentationen und Praxen leisten können. Anschließend wird das Konzept der prozessual-strategischen Subjektivität und agency an zwei Beispielen widerständiger Praxen verdeutlicht: anhand der Interventionen der Gruppe Kanak Attak und der AG 1-0-1 [one ‚o one] intersex. Der Beitrag «theoretisch intersexuell. Wie intersexuelle Menschen zwischen den Zeilen bleiben» von Joke Janssen problematisiert den Umgang mit intersexuellen Körpern als willkommenen Trägern dekonstruktiver Kritik in theoretischen Texten der Gender und Queer Studies. Es wird deutlich, dass unterschiedliche Ausschlüsse intersexueller Lebensrealitäten in diesen Texten (re-)produziert werden. Dies führt zu einer Verobjektivierung und Vereinnahmung intersexueller Menschen und verhindert deren Positionierung als Akteur_Innen. Janssen stellt die Frage nach der Verantwortlichkeit wissenschaftlicher Arbeiten und plädiert für eine Zusammenführung von Theorie und Praxis. Annett Losert untersucht in ihrem Aufsatz «‹...je lockerer man damit umgeht, desto weniger Probleme hat man.›» die Handlungsspielräume

Desiderata und Ausblick Diesem Band liegt ein Verständnis von Queer Theory zugrunde, das den Blick über die «klassischen» Themenfelder der Queer Studies erweitern und Regime der Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit in ihrer Verwobenheit mit anderen Herrschaftsachsen untersuchen will. Neben Sexualitäten und Geschlechterkonstruktionen rücken vielfältige gesellschaftliche Felder und wissenschaftliche Disziplinen in den Blick, in denen (Identitäts-)Kategorien festgeschrieben und Machteffekte produziert werden. Machtvolle Zuschreibungen und ihre performative Herstellung sind nahezu jedem gesellschaftlichen Handeln und Sprechen immanent und können damit zum Untersuchungsgegenstand werden. Queer Studies stehen demnach vor der Herausforderung, ihr Untersuchungs- und Interventionsfeld radikal erweitern zu müssen und dennoch in ihrer Methodik und (wissens-)politischen Zielsetzung nicht beliebig zu werden. Dieses Buch möchte einen Beitrag zu diesem Projekt leisten, der – wie wir uns bewusst sind – notwendigerweise begrenzt ist. Einzelne Bereiche und Fragestellungen zu fokussieren ist unumgäng-

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lich, sollen drängende Fragen und verschwiegene Ausschlüsse benannt werden. Gleichzeitig fallen somit erneut wichtige Felder unter den Tisch, die dann oft nur mit einem «etc.» benannt werden. Dies zeigt die Unabschließbarkeit queerer und queerender Gesellschaftskritik. Zwei besonders bedauerliche Leerstellen des vorliegenden Bandes, die wir zukünftig in unserer Vortragsreihe verstärkt behandeln wollen, sind die Zusammenführung queer-theoretischer Ansätze mit naturwissenschaftskritischen Zugängen und Queer Disability Studies. Auf die gesellschaftliche Verunsicherung, welche durch Ansätze der Queer Studies und die Dekonstruktion von Geschlecht und Heterosexualität mit hervorgerufen wird, wird mit der intensivierten Suche nach genetischen und evolutionspsychologischen Veranlagungen menschlichen Verhaltens reagiert. Die kritische Auseinandersetzung mit und Intervention in solche Diskurse war und ist sowohl für feministische als auch queere Theoriebildung essentiell (vgl. u.a. Ebeling/Schmitz 2006; Fausto-Sterling 1999; Kaplan/Rogers 2003). Normierungen und Ausschlüsse, die sich an der Achse sogenannter Behinderung konstituieren, werden, nach einer größeren Aufmerksamkeit in den feministischen Bewegungen der 1980er Jahre (Ewinkel u.a. 1985; Köbsell 1993), im Zuge der sich im angelsächsischen Raum entwickelnden Disability Studies auch in Deutschland wieder verstärkt auf- und angegriffen. Behinderung wird hier als gesellschaftliche Konstruktion konzeptualisiert. Trotz der methodischen Parallelen wurden Disability Studies bisher in der Queer Theory kaum wahrgenommen (Raab 2007; McRuer 2006). Aber auch Alter sowie Schönheitsideale und hegemoniale Körperinszenierungen führen zu Ausgrenzungen (Reiss 2005; Natter/Schatzki 1996), die in der Queer Theory noch zu wenig Beachtung inden.

abgeschafft worden. Einzig das neu eingerichtete «Zertiikat Genderkompetenz» ermöglicht es Studierenden, einen Studienschwerpunkt in diesem Bereich zu belegen.8 Das Nebenfach «Gender und Queer Studies» war, nicht zuletzt aufgrund des Engagements der AG LesBiSchwule Studien/Queer Studies bei der Entwicklung der Studiengänge, mit Queer Theory als einem Schwerpunkt im Curriculum gestartet. Eine Professur für Queer Theorie sollte in den Sozialwissenschaften eingerichtet werden, um Lehrveranstaltungen anzubieten und queere Forschung zu betreiben. Diese Professur wurde nie verstetigt.9 Trotz dieser, von den Herausgeber_Innen des ersten Bandes (Heidel/Micheler/Tuider 2001b: 11) vorausgeahnten, Entwicklung ist es unser Anliegen, queere Inhalte an die Universität zu tragen. Die AG Queer Studies setzt sich weiterhin für einen Studiengang ein und fordert insbesondere ein unabhängiges Institut für Gender und Queer Studies an der Hamburger Universität. Der Fall Hamburg, die Schließung des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main und das Ende der Gender Studies an der Universität Hannover zeigen deutlich, vor welchen Problemen die Institutionalisierung von Gender und Queer Studies in Deutschland steht. Dass auch an anderen Universitäten Rückschritte bezüglich der Anerkennung und Einschreibung von geschlechter- und sexualitätenpolitischen Themen in das akademische Feld zu beobachten sind, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Rechtfertigungsdruck, unter dem kritische Forschung und Theorie an den deutschen Universitäten heute steht. Zum Glück endeten nicht alle Versuche, Gender Studies an deutschsprachigen Universitäten zu etablieren, so traurig wie in Hamburg. Es inden sich diverse Bemühungen, Bachelor- und Masterstudiengänge oder Graduiertenkollegs mit Gender-

Verqueerte Verhältnisse ist eine der bleibenden Spuren der beiden interdisziplinären und hochschulübergreifenden Gender-Studiengänge in Hamburg, die im Sommersemester 2003 starteten: der Nebenfachstudiengang «Gender und Queer Studies» an der Universität Hamburg und der Master «Gender und Arbeit» an der Hochschule für Wirtschaft und Politik.7 Beide Studiengänge sind inzwischen mittels Zulassungsstopp 7 Nach der Eingliederung der Hochschule für Wirtschaft und Politik in die Universität Hamburg im Jahr 2005 ist die Universität Hamburg für beide Gender-Studiengänge verantwortlich.

8 Diese, für uns extrem ernüchternde Entwicklung hat vielfältige Gründe, die vom Unwillen der Hochschulen und Fachbereiche, die Studiengänge zu inanzieren, über die Einführung des BA/MA-Systems bis zu internen Konlikten reichen. Im Nachhinein sehen wir einen zentralen Fehler bei der Einrichtung der Studiengänge darin, dass zwar mehrere Professuren mit Gender-Denomination, jedoch kein eigenständiges Zentrum oder Institut für Gender und Queer Studies eingerichtet wurde, was eine stärkere Unabhängigkeit gegenüber den Hochschulen und Fachbereichen bedeutet hätte. 9 Weder die Universitätsleitung noch der Fachbereich Sozialwissenschaften hatten Interesse an dieser, für den Fortbestand des Studienganges zentralen Professur. Auch das Versprechen gegenüber der Wissenschaftsbehörde, als Ersatz für die Professur für Queer Theory ein_e Wissenschaftliche Mitarbeiter_In mit halber Stelle einzustellen, wurde seitens der Universität Hamburg nicht eingehalten.

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Bezug zu etablieren, in denen gelegentlich auch queere Themen aufgehoben sind. Uns ist allerdings kein weiterer Versuch bekannt geworden, Queer Theory so explizit wie in Hamburg als Schwerpunkt zu benennen. Wenn wir, die heutigen Mitglieder der AG Queer Studies und Herausgeber_Innen von Verqueerte Verhältnisse, acht Jahre nach dem Erscheinen des ersten Sammelbandes Bilanz ziehen, stellen wir fest, dass sich die Queer Studies, trotz der institutionellen Schwierigkeiten und der damit verbundenen prekären Situation vieler Akteur_Innen in diesem Feld, vielfältig weiterentwickelt haben. In Kunst, Kultur und Aktivismus entfaltet queeres Denken seine oftmals komplexe und paradoxe Wirkung, und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, nach wie vor am stärksten in den Gender Studies, wird mit queeren Ansätzen und Theorien gearbeitet, die innerhalb dieser Disziplinen durchaus Widerstände hervorrufen. Wir hoffen, mit den in dieser Veröffentlichung versammelten Aufsätzen einen kleinen Beitrag zu den Auseinandersetzungen um und mit Queer geleistet und einige Denkanstöße geliefert zu haben, damit queere Politiken und Theorien in ihrer ganzen Bandbreite weitergedacht und umgesetzt werden können, ohne dass dabei Widersprüchlichkeiten und Reibungspunkte unter den Tisch gekehrt werden.

Basiuk, Tomasz; Ferens, Dominika; Sikora, Tomasz (2002b): Wstęp/ Introduction, in: Basiuk/Ferens/Sikora 2002a, 15-21 Benhabib, Seyla u.a. (Hg.) (1993): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M. Bhabha, Homi K. (1990): Nation and Narration, London/New York Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture, London/New York Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. Butler, Judith (1993): Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der «Postmoderne», in: Benhabib u.a. 1993, 31-58 Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. Carter, Julian B. (2007): The Heart of Whiteness. Normal Sexuality and Race in America, 1880–1940, Durham Castro Varela, Maria do Mar; Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld Coffey, Judith u.a. (Hg.) (2008): Queer leben – queer labeln? (Wissenschafts-)kritische Kopfmassagen, Freiburg Cohen, Cathy J. (2005): Punks, Bulldagaers, and Wellfare Queens: The Radical Potential of Queer Politics?, in: Johnson/Henderson 2005, 21-51 Cooper, Davina (2004): Challenging Diversity. Rethinking Equality and the Value of Difference, Cambridge Dietze, Gabriele; Haschemi Yekani, Elahe; Michaelis, Beatrice (2007): «Checks and Balances». Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory, in: Walgenbach u.a. 2007, 107-139 Ebeling, Smilla; Schmitz, Sigrid (Hg.) (2006): Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden Eggers, Maureen Maisha u.a. (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster El-Tayeb, Fatima (2003): Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa, in: Steyerl/Gutiérrez Rodriguez 2003, 129-145 El-Tayeb, Fatima (2004): Rassismus als Nebenwiderspruch. Ausgrenzungspraktiken in der queer-community, in: iz3w Heft$$/2004, 20-23

Kathrin Englert, Kathrin Ganz, Marko Meenakshi A L I E N Hutsch, Anna Köster-Eiserfunke, Nina Mackert, Bertold Scharf

Literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin Anzaldúa, Gloria (1987): Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, San Francisco Barwig, Gerlinde; Busch, Christine (Hg.) (1993): Unbeschreiblich weiblich? Frauen unterwegs zu einem selbstbestimmten Leben mit Behinderung, München Basiuk, Tomasz; Ferens, Dominika; Sikora, Tomasz (eds.) (2002a): Odmiany odmieńca. Mniejszościowe orientacje seksualne w perspektywie gender / A Queer Mixture. Gender Perspectives on Minority Sexual Identities, Katowice

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teil i intersektionen queer studies und rassifizierende m achtVerhältnisse

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Jin HAritAworn kiss-ins und dragqueens sexuelle spektakel Von kiez und nation

Will ich mich in der Öffentlichkeit küssen? Ja. Will ich, dass alle zugucken? (hält inne, lacht) Will ich, dass alle zugucken? (lacht lange, bis das Publikum einstimmt)1 Butlers Vortrag greift verspätet (vgl. Puar/Rai 2002) auf, wie der Diskurs der sexuellen Befreiung im «Krieg gegen den Terror» eingesetzt wird. Der Witz über den Kuss, sowie sein Effekt auf das Publikum, sind gerade deshalb so bemerkenswert, weil er dieselben Annahmen wiederholt, die Butler eigentlich angreift: dass «wir» bereits sexuell befreit sind; so sehr, dass «wir» unsere Freiheit «Anderen» nicht aufdrängen müssen. Schon gar nicht mit Gewalt. So fragt uns Butler, traurig und empört: Sind die Rechte von Frauen und Homosexuellen nunmehr Instrumente im «Krieg gegen den Terror»? Wie sind sexuelle Freiheit und sexueller Fortschritt zu Waffen in der Zivilisierungs-Mission geworden? Habe ich hierfür gekämpft? Doch gleichgeschlechtliche Küsse schmücken bereits den öffentlichen Raum, in dem dieser Krieg und die entsprechenden Rassismen in den Metropolen ausgetragen werden. Bilder v.a. schwuler Intimität spielen eine zentrale Rolle in der medialen Verbreitung eines neuen Diskurses über «migrantische Homophobie», welcher seit 2007 in der öffentlichen Landschaft kursiert. Ein zentraler Moment in der Formierung dieser moralischen Panik (Hall u.a. 1978) ist die Disseminierung der Ergebnisse der Simon-Studie (2008), welche statistisch belegt, was bereits allgemein bekannt ist: dass «Migranten» homophober sind als «Deutsche».2 Dass 1 Judith Butler in ihrem Vortrag «Sexual politics: the limits of secularism, the time of coalition», British Journal of Sociology Public Lecture 2007, London School of Economics, 30. Oktober 2007 2 Kategorien wie «MigrantIn» und «migriert» sind politische Wortschöpfungen

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«sie» eine Gefahr darstellen, für Schwule und Lesben sowie für die gesamte freiheitlich-demokratische Gesellschaft.3 Den Artikel in der Süddeutschen Zeitung zur Simon-Studie (Grassmann 2007) begleiten zwei gut aussehende junge Männer.4 Sie sind unverkennbar schwul. Fesche Sonnenbrillen tragen sie, und enge Mucki-Shirts. Ihre weißen Körper öffnen sich in unsere Richtung. Ihr Kuss indet im Freien statt, unter einer Regenbogenfahne, möglicherweise auf einer CSD-Parade. Er ist öffentlich, hat ZeugInnen: Im Hintergrund stehen Leute, die den Küssenden zugewandt sind, mit uns einen Kreis bilden, in dessen Mitte die Liebenden stehen. Wir bezeugen ihre Liebe und beschützen sie, vor anderen, die sie hassen und angreifen wollen. Das Drama des verwundbaren schwulen Körpers, der eine schützende Haltung gegen hasserfüllte, phobische «Migranten» verlangt, lenkt von der ununterbrochenen Ambivalenz des mehrheitsdeutschen Zentrums gegen unkonforme Intimität ab.5 Das Spektakel des schwulen Kusses performiert eine neue deutsche Öffentlichkeit sowie schwullesbische Gegenöffentlichkeit6, die unter der Ästhetik des Regenbogens zusammeninden. Es

performiert eine Art Diversity, deren Buntheit nicht mehr der Anwesenheit oder Teilnahme von Post/MigrantInnen und People of Colour bedarf (Duggan 2003; Puar 2007).

aus den 80er Jahren, die in ihren anti-essentialistischen und solidarischen Impulsen «Queer» ähneln. Sie entstammen einer anti-rassistischen Bewegung, die sich über diasporische und generationale Unterschiede hinweg organisierte. Ihr Ziel war die Kontestation biologistisch-rassistischer Mitgliedschafts-Kriterien von Deutschsein, welche in Debatten wie der hier untersuchten nach wie vor ungemischte Abstammung erfordern. In der Aufnahme der Kategorie des «Migranten» in neueren Texten wird diese dennoch als höliches Synonym für die alte Kategorie des «Ausländers» verwendet, dessen Deutschsein nur bedingt vorstellbar ist. So spricht die Simon-Studie zwar über «Migranten», deiniert diese aber im Gegensatz zu «Deutschen», welche in Deutschland geboren sein und von vier «deutschen» Großeltern abstammen müssen (Simon 2008: 90). 3 Die Simon-Studie enthält einen ethnischen Bias gegen als «muslimisch» oder «türkisch» ethnisierte Menschen. Ihre diversen methodologischen Probleme diskutiere ich anderswo (Haritaworn i. E.). 4 Das Foto ist einsehbar auf www.sueddeutsche.de/panorama/artikel/965/ 134708/[20. 8. 2008]. 5 Anderswo haben wir die Um-Deinierung und Neu-Entdeckung von «Frauenrechten» und, zu einem geringeren Grad, von «Schwulenfreundlichkeit» als westliche Werte, Traditionen und Errungenschaften als Amnesie beschrieben, die die fortwährende Geschichte der Kriminalisierung und Pathologisierung sexuell und geschlechtlich unkonformer Menschen externalisiert und in «Muslimen» ein neues konstitutives Außen einer Gesellschaft erindet, die sich als sexuell befreit und tolerant imaginieren kann (Haritaworn/Tauquir/Erdem 2007). 6 Ich beziehe mich hier auf Lauren Berlants (1997) Konzept von Publics, die ne-

Abb. 1: Kiss-in vor der Moschee. Ausschnitt aus Hinnerk 05/2007. Das Foto wurde ursprünglich in der Hamburger Morgenpost veröffentlicht. Ein paar Monate zuvor fand vor der Hamburger Centrum-Moschee eine ähnliche Inszenierung schwuler Intimität statt. Die Hamburger Morgenpost (MoPo) geht weiter als die Süddeutsche, indem sie die sexualisierten Körper direkt in die ethnisierte Szene setzt. Die Journalisten greifen eine monatelange Debatte im schwulen Lokalblatt Hinnerk über den Status des gentriizierenden St. Georg als «migrantische» oder aber «schwule» Gegend auf (Eicker 2007), indem sie ein Händchen haltendes Paar vor der Moschee auf und ab spazieren lassen (Peter/Schimkus 2007). ben politischen und wirtschaftlichen Strukturen auch in kulturell zirkulierenden Geschichten und Bildern konstituiert werden. Öffentlichkeiten sind intim in ihrer Beschreibung und Vorschrift familiärer Welten und Werte, die uns trotz ihrer Ungerechtigkeit und Unlebbarkeit an sie binden. Sie sind ferner affektiv – von Emotionen durchdrungen und in emotionalen Diskursen, Praktiken und Performanzen hergestellt (siehe auch Ahmed 2004).

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Der Titel hat kriegerische Übertöne: Die sexuellen Gesandten lösen Explosionen aus. Die intime Mission lokalisiert den globalen «Krieg gegen den Terror» und bringt ihn nach Hause. Sie euphemisiert ihn als menschenrechtlichen Akt im Namen einer schwulen Identität, die dennoch zunächst als menschlich dargestellt werden muss. Dies erfordert diskursive Arbeit. Es ist nicht irgendeine Intimität, die in der MoPo Öffentlichkeit erlangt. Die Händchen Haltenden werden durch eine bestimmte Klassenzugehörigkeit und Domestizität charakterisiert:

suchen, als Versuch, den eigenen Zugang zum Nahen Osten wiederherzustellen.7 Dieser Artikel beleuchtet einige Momente in der Genese der moralischen Panik über «migrantische Homophobie», die letztlich zur verstärkten Überwachung von post/migrantischen Gegenden führt:

«Der Bankkaufmann André H. (33) und der Student Christopher N. (30) [...] sind verheiratet und lieben sich.» (ebd.) Das abgebildete Paar ist jung, attraktiv, interethnisch gar. Die beiden Männer lächeln (obschon schelmisch). Ihre Liebe scheint «unschuldig», respektabel, von perversen und pathologischen Konnotationen bereinigt. Sie ist weit entfernt von den Kiss-ins des Aids-Aktivismus der späten 80er Jahre, welche sich Platz nahmen in einer Öffentlichkeit, die aus ihrer Feindseligkeit keinen Hehl machte (Cvetkovich 2003). Wenn der schwule Kuss nunmehr die bürgerlichen Grundwerte dieser Öffentlichkeit symbolisieren soll, so bedarf seine Respektabilität dennoch weiterhin der Explizierung. Neben den sexuellen enthält auch diese Repräsentation koloniale Brüche und Kontinuitäten: Das Kiss-in ist nicht in irgendeine Szene gesetzt. Die Moscheekulisse scheint eher auf exotische Reisen denn auf Krieg und «Kulturkrampf» (s. Untertitel) hinzudeuten. Die Kuppeln und Türme beschwören weniger den neuen, «homophoben» Orient als den alten, «homoerotischen», welcher auf westliche Schwule eine ganz besondere Faszination ausübte (Massad 2007; Said 1979). Unterschiedliche Orientalismen treffen hier aufeinander. So ist auch die Fantasie vom unterwürigen Boy weiter gen Osten gerückt: Der orientalisierte Liebhaber, der dem weißen Manne lächelnd folgt, ist nunmehr ostasiatisch. Während die sexuellen Abenteuer schwuler Literaten und Theoretiker wie André Gide, Jean Genet und Roland Barthes in Marokko stattfanden, gehen heutige Sextouristen nach Japan oder Thailand. Joseph Massad (2007) schlägt daher vor, die weiße schwule Teilnahme am «Krieg gegen den Terror» als Nostalgie nach dem sexuellen Status quo ante zu unter-

«As Stuart Hall‘s work on the invention of the ‹Black mugger› in the 1970s has shown, moral panics about crime are self-fulilling. Once a certain type of ‹offense› is deined as a problem, there is a greater media coverage and state intervention, thus leading to increases in ‹offenses› tried and sentenced in the courts. This increase in sentencing in turn produces dramatic growth in ‹crime rates› which further fuels the moral panic and leads to public calls for harsher sentencing and increased policing.» (Sudbury 2006: 17) Wie der «schwarze Dieb» erfordert der «homophobe Migrant» bestimmte wissenschaftliche, journalistische, pädagogische, juristische und aktivistische Wissensformen, Techniken und Interventionen. Am 12. Januar 2009 legten die Berliner Grünen dem Senat den «Berliner Aktionsplan gegen Homophobie» vor, welcher u.a. mit «Hassverbrechen» eine neue strafrechtliche Kategorie fordert und diese speziisch mit Homophobie in «religiösen Communities» in Verbindung setzt (Bündnis 90/Die Grünen 2008). Auch in der St.-Georg-Debatte wird eine stärkere Polizeipräsenz im Stadtteil gefordert (Eicker 2007). Der Hate Crimes-Ansatz scheint direkt aus dem amerikanischen Kontext übernommen, obwohl er dort seit Langem kritisiert wird (Spade 2007). Neben der unkritischen Stärkung des strafrechtlichen Systems, 7 Diese Nostalgie drückt sich auch in der Pathologisierung «muslimischer» Männlichkeit aus, welche immer bereits als perverse Heterosexualität oder verschrankte Sodomie dargestellt wird (vgl. Puar ebd.). In der im Folgenden untersuchten Jungle World-Ausgabe inden sich zwei Beispiele hierfür: der iktive Artikel «Elf Söhne», von denen mindestens vier als latent schwul beschrieben werden, und ein Foto mit zwei nackten, glänzenden, koplosen Torsos, deren Hände in einer intimen Geste verschränkt sind (Toprak 2008). Der Untertitel: «Fette vermindern die Reibung, sind als Gleitmittel jedoch ungeeignet: Ölringer auf dem Balkan». Ein weiteres Beispiel ist die im November 2003 erschienene Ausgabe der Siegessäule mit dem Titel «Türken raus! Vom Coming-out in zwei Kulturen».

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welches Post/MigrantInnen, People of Colour, in Armut lebende und sexuell und geschlechtsunkonforme Menschen überproportional kriminalisiert, verfehlt der Hate Crimes-Ansatz auch sein Ziel, Gewalt zu verringern. Überdies individualisiert er systemische Gewalt, indem er Homophobie und Transphobie zu Charakteristiken einzelner Gewalttäter macht. Im Gegensatz zum amerikanischen oder britischen Kontext ist dies in Deutschland unmittelbar ethnisiert. Die Ideologie des Westens als Ausnahme und Gipfel der Zivilisation – Puars (2007) sexual Exceptionalism – mündet hier direkt in den von Agamben beschriebenen Ausnahmezustand, wo bestimmte Körper kategorisch von Gesetz, Gemeinschaft und «dem Leben selbst» ausgeschlossen sind (Agamben 2005). Die lange Geschichte weißer schwuler Organisationen in der Herausbildung und Verbreitung des Diskurses über migrantische Homophobie wurde bereits gut dokumentiert (Petzen 2005).8 Hier wende ich mich queeren und genderqueeren Wissensformen und Ausdrucksweisen zu. Die starke Sichtbarkeit transgressiver Intimitäten und Verkörperungen in der öffentlichen Debatte problematisiert die Dichotomie zwischen identitärer Assimilierung und queerer Transgression, die den bisherigen Einstiegspunkt für linke queere Kritik bildet (Sycamore 2004). Natürlich sind Prozesse wie der «Streit um St. Georg», wo es zentral auch um die Verdrängung von klassisierten und ethnisierten AnwohnerInnen durch reiche weiße Schwule und Lesben geht, nur durch eine antikapitalistische Linse erkennbar. Jedoch reicht die Kritik an Konsumerismus und Neoliberalismus nicht aus, um die wachsende Nähe linker «queerer» Subjekte zu Krieg und Rassismus zu problematisieren. Mein Untersuchungsgegenstand ist die Berichterstattung in linken Medien (v.a. taz und Jungle World) über einen gewaltsamen Vorfall während des Drag-Festivals in Berlin. Die darauffolgende Debatte, an der radikale Queer- und Transgender-AktivistInnen zentral beteiligt waren, war instrumentell für die Zementierung des Diskurses über «migrantische Homophobie» und die Artikulierung des öffentlichen Handlungsbedarfs, der im Grünen Aktionsplan Ausdruck fand. Mein Ziel ist hier-

bei weniger, «die Wahrheit» über den Vorfall zu erzählen, sondern zu hinterfragen, wie alte Wahrheiten wiederholt und naturalisiert werden. Es soll reichen, «die Wahrheit» als umstritten zu beschreiben: So wurden die Angreifer von mehreren der geschlagenen Queers und Transleute ausdrücklich nicht ethnisiert. Dennoch wird die Aussage eines Beteiligten, welcher einen Aufkleber der rechten pantürkischen Jugendgruppe «Graue Wölfe» auf einem der Autos der Schläger gesehen haben will, über Nacht zur absoluten Wahrheit.9 Wie ich darlegen werde, geht dieses umstrittene Zeugnis in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Vorfall ferner bruchlos in ein Wissen über «migrantische Homophobie» über, welches Inhalte und Grenzen von Kiez und Nation radikal neu deiniert.

8 Diese stehen in direkter Intertextualität zu wissenschaftlichen Diskursen, und so wurde die Simon-Studie vom LSVD in Auftrag gegeben und vom Familienministerium inanziert. Maneo führte seine eigene Studie durch, welche trotz ihrer unterschiedlichen Ergebnisse und Methodologien ähnlich interpretiert wurde. Beide werden von der Mediendebatte, die ich hier untersuche, aufgegriffen. Beide werden ferner im Grünen Aktionsplan zitiert (Bündnis 90/Die Grünen 2008).

Drag als mobile Ressource Die Kulturtheoretikerin Beverley Skeggs benutzt das Konzept der «mobilen Ressource», um dominante Identitätsprozesse zu beschreiben, die sich der Abwertung und Wiederverwertung marginalisierter Stile und Verkörperungen bedienen. Sie zeigt, wie bestimmte Stile Wert erlangen, indem sie andere «ixieren, essenzialisieren und pathologisieren» (Skeggs 2004: 293, 296, Übersetzung J. H.). Sie illustriert dies mit David Beckham, dem ehemaligen Kapitän der englischen Fußballnationalmannschaft, den die Medien sowohl als Sexsymbol als auch als «neuen Mann» zelebrieren. Skeggs zeigt, wie Beckham, ein weißer Mann, hegemoniale Maskulinität erlangt, indem er sich selektiv schwarze Frisuren, Mode und andere Zeichen schwarzer Maskulinität aneignet. Sie zeigt, dass eine solche Präsentation für einen schwarzen Mann einen ganz anderen Effekt hätte, 9 Persönliche Kommunikation mit einer/m der Angegriffenen vom Juli 2008, in der die Schläger als auffällig «blond» beschrieben werden. Die Konfrontation wird hier als Macho-Austausch beschrieben, der von einem/r der Drag-FestivalBesucherInnen mit eskaliert wurde, welche/r im Nachhinein plötzlich den «Graue Wölfe»-Aufkleber gesehen haben wollte. Dagegen wurden die Angreifer in der ofiziellen Version eindeutig zu «Grauen Wölfen» (Presse-AG des Drag-Festival 2008). Diese Anrufung ermöglichte eine politisch korrekte Ethnisierung des Vorfalls in linken und queeren Szenen, der ja nunmehr den «Faschisten» statt den «Ausländern» zugeschrieben werden konnte. Dies hielt aber MeinungsmacherInnen wie die JournalistInnen in der taz und der Jungle World und die Berliner Grünen nicht davon ab, das Zeichen «Graue Wölfe» sofort wieder in «türkisch» (oder «arabisch», «migrantisch», «Kreuzberg» und «Neukölln») zu verwandeln.

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indem sie die Figur Beckhams mit der des schwarzen Schauspielers Samuel L. Jackson vergleicht. Während Beckham «Schwarzsein» an- und ausziehen kann «und dabei resolut weiß bleibt [...] scheint Samuel Jackson nicht zu spielen; er ist einfach» (ebd: 293). Die Affekt-Theoretikerin Sara Ahmed (2004; 2006) verknüpft die Ethnisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern mit Ideologien von Raum und Nation. Objekte werden emotional gelesen und als zugehörig oder fremd erkannt. Affekt bewegt: Wir bewegen uns auf bestimmte Objekte zu, oder von ihnen weg, indem wir sie beispielsweise als «begehrenswert» oder als «furchterregend» erkennen. Affekt klebt an ihnen, scheint ihnen bereits innezuwohnen. Emotionale Zuschreibungen sind nicht mehr erkennbar, obschon sie der ständigen Wiederholung durch immer neue Performanzen bedürfen. Was für Bewegungen, Orientierungen, Mobilitäten inden in dominanten Wissensproduktionen über Drag statt? Judith Luigs Artikel in der taz ist ein Erfahrungsbericht über ihre Teilnahme am Drag-FestivalWorkshop «Brother for a Day» von Diane Torr, der in einer dramatischen Beschreibung des gewaltsamen Vorfalls kulminiert (Luig 2008).10 Der Artikel beginnt mit einer Aufzählung bekannter Drag-Narrative: das Abbinden von Brüsten mit endlosen Rollen von Verband, das Aufkleben von Gesichtsbehaarung, die Annahme eines männlichen Habitus, das Versammeln von «fünf Frauen [...], um Männer zu werden» (ebd.). Diese Narrative über Cross-Dressing und auch Transidentität kennen wir bereits aus kulturellen Produktionen wie dem Roman Trumpet von Jackie Kay (1998) und dem Film Fremde Haut von Angelina Maccarone (2005). Während die zentralen Themen bei Kay und Maccarone die Qualen des Durchgehens, die Romantik des tragischen Körpers und die Angst vor der Entdeckung sind, stellt Luig Drag als belustigende «Travestie» dar. Diese Drag-Idee, die sich auch in schwullesbi-«trans»-Szenen11 beo-

bachten lässt, säubert Drag von seinen peinlichen Ursprüngen. Drag ist nunmehr auch ohne freakige Queens möglich. Dennoch stellt Luig auch politische Ansprüche: Drag soll «biologische» Ideen hinterfragen. Sie bezieht sich hierbei indirekt auf Queer-Theorie: «Die Dekonstruktion meiner Weiblichkeit stellt sich praktisch deutlich schwieriger dar, als die Theorie einen glauben lässt» (Luig 2008). Luigs Drag-Diskurs beschreibt sich butlerisch als «Parodie» und Maskerade, «Inszenierung», «Verwandlung» und Spiel. Kenntnisse über Performativitätstheorie kann sie bereits voraussetzen. Viviane Namaste kritisiert dieses hegemonial gewordene Drag-Verständnis, da es die Re/ Produktions-Verhältnisse, unter denen geschlechtlich unkonforme Leute überleben müssen, ignoriert (Namaste 2008). So hat Butler wenig über die Transphobie, Armut und Gewalt zu sagen (Butler 1990). Namaste fordert daher dazu auf, den Performativitäts- durch einen Arbeitsansatz zu ersetzen. Sie zeigt, wie viele Transleute, gerade auch Mann-zu-FrauTranssexuelle of Colour, deren Coming-out nicht durch Klassenprivilegien abgedämpft ist, auf Drag-Shows und andere Formen sexualisierter Arbeit beschränkt werden. Fragen zu sozialen und ökonomischen Machtunterschieden fehlen auch in alternativen Queer-Szenen. Zumindest werden hier zunehmend Widersprüche zwischen Trans- und Nicht-trans-Leuten thematisiert. Diese gehen aber anscheinend in ihrer kommerzialisierten Form verloren. Spätestens in der Übersetzung für das vermeintlich nicht-trans, heterosexuelle tageszeitung-Publikum fällt jegliche Relektion über Geschlecht als Machtverhältnis weg. Geschlecht ist eine frei schwimmende, unendlich formbare Masse, die gesellschaftlich keinerlei Auswirkungen hat:

10 Selbstverständlich ist Drag durchaus heterogen. Torrs Workshops werden beispielsweise szeneintern als Kommerzialisierung von Drag-Identitäten kritisiert (Nosh Khwaja von der britischen Queer-of-Colour-Gruppe Blackist, persönliche Mitteilung 2007). Die Preise auf ihrer Website variieren zwischen 150 Euro für ein Wochenende und 96 Pfund (72 Pfund ermäßigt) für einen 90-minütigen Workshop (http://www.dianetorr.com/drag%20king/frameset5.htm [20. 12. 2008]). 11 «Schwullesbitrans» ist natürlich eine problematische politische Fiktion. Dennoch fordern gerade Trans-AktivistInnen, wie in Großbritannien, ein «Putting the T in the LGBT» (vgl. http://www.facebook.com/group.php?gid=18138064326

«Diane Torrs Mannsein ist deutlich souveräner. Mit ihrer rotgefärbten Stummilmstarfrisur aus den späten 20ern erinnert sie ohnehin an eine Zeit, in der die Geschlechter sich in jeder Hinsicht mischten. Ihren Körper beherrscht sie perfekt, von einer Sekunde auf die andere wechselt sie zwischen Frau und Mann und zurück. Mühelos.» (Luig 2008) [20.12. 2008]). Dies drückt eine verstärkte Orientierung und Identiizierung in Trans-Zirkeln mit schwullesbischer Politik aus, welche somit auch in Bezug gesetzt werden müssen mit der Ausnahmerolle, die sexuell – und in ihrer Folgschaft auch geschlechtlich – minorisierte Subjekte im «Krieg gegen den Terror» erhalten.

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Torrs geschlechtliche Hybridität erinnert nicht zufällig an die 1920er, jene verklärte Ära, als Deutschland und vor allem Berlin noch queer, gemischt und unschuldig waren. Die Fähigkeit der Performerin, «Frausein» und «Mannsein» zu mischen und zu manipulieren, ihre Beweglichkeit und Souveränität (als Künstlerin wie Subjekt) kontrastieren mit der Transsexualitäts-Allegorie des Körpers als «Gefängnis». Einen weiteren Gegensatz bildet die Unbeholfenheit, mit der sich «Martin», «Dino» und «Gino», die Teilnehmerinnen, ihr «Mannsein» erarbeiten. Die Wahl des italienischen Machos, der nur über «Bier, Fußball und Frauen-Beachvolleyball» redet («Man fasst sich in den Schritt, klopft sich auf die Plauze und verhält sich allgemein so, als gelte es, einen Proleten-Contest zu gewinnen»), kommt nicht von ungefähr:

(Ahmed 2000). «Ginos» Maskulinität ist machistisch, aber dennoch viril, exotisch und attraktiv, neiderregend gar. Sie bildet einfaches Rohmaterial für das eigene, souveräne Selbstbild. Ihre mühelose Verwertbarkeit macht sie harmlos. Dass dies nicht für alle Maskulinitäten der Fall ist, erfahren wir, als Luig gegen Ende des Artikels den transphoben Übergriff behandelt:

«‹Gino› ist ein derartiger Sexist, dass man richtig neidisch werden könnte. Martin und er reißen dreckige Witze und klopfen sich männerfreundschaftlich auf die Schulter. Endlich kann man mal genauso ein eindimensionales Arsch sein, wie man das bei Männern so oft beobachtet. ‹Im Spielen dieser Rollen liegt viel emanzipatorisches Potenzial›, erklärt Diane später.» (ebd.) Die Befreiung, die die Workshop-Teilnehmerinnen hier erlangen, geschieht auf Kosten bestimmter Maskulinitäten, welche simpel und zugleich exzessiv sind, ganz Körper und wenig Geist. «Sexismus» steht hierbei metonymisch für eine ethnisierte Arbeiterklasse-Maskulinität – warum Gino ein «Arsch» ist, muss nicht weiter erklärt werden. Interessanterweise ermöglicht das «Spielen dieser Rollen» den Frauen dennoch die Emanzipation. Ihre Mehrdimensionalität und Souveränität (als mehrheitsdeutsche Mittelklasse-Frauen) erlangen sie gerade durch die Annahme und Ablegung essenzialisierter Maskulinitäten und Verkörperungen. Die Stereotypisierung und Festlegung des Anderen ist hierbei die Bedingung, welche die eigene Mobilität und Überschreitung ebendieser Grenzen ermöglicht.12 Hierbei sind manche Stile genieß- oder konsumierbarer als andere 12 Die Beliebtheit ethnisierter Arbeiterklasse-Maskulinitäten ist auch in DragSzenen selbst zu beobachten und wird in migrantischen, jüdischen und Queer-ofColour-Kontexten oft kritisch kommentiert und ihrerseits parodiert (Princess Leia interviewed by Miss Ana Bolica 2008).

«Auf dem Festival verbreitet sich die Nachricht, dass ein paar Türken in der Nacht zum Sonntag einige Dragkings brutal zusammengeschlagen hätten. Zwei der Frauen tauchen beim Grillen auf, zierliche Frauen sind es, die jetzt sehr verstört und verletzt sich von ihren Freunden trösten lassen. Man ist wütend und enttäuscht über die Dummheit draußen und man ist in Sorge um die Angegriffenen und darum, dass auf der Straße die Aggressivität gegen alles, was nicht in traditionelle Normen zu fassen ist, zunimmt.» (Luig 2008) Luig stellt deshalb die unbeschwerten Drag-Narrative in Frage: «Das üblich orientalische Publikum in Berlin-Kreuzberg ist mir jetzt unheimlich» (ebd.). Diese Erklärung hat eine bestimmte Temporalität und natürlich auch Lokalität – Kreuzberg wird infolge des Angriffs zum furchterregenden «Draußen». Wir scheinen sein «Publikum» plötzlich als «unheimlich» zu erkennen. Doch ist dieses bereits «üblich», noch bevor wir ihm begegnen – der Fremde, stellt Ahmed fest, wird gerade dadurch erkannt, dass er bereits bekannt ist (Ahmed 2000). Er ist Teil eines orientalistischen Archivs, das uns aus unzähligen literarischen, anthropologischen und soziologischen Kanons vertraut ist, und das in diesem Moment des Krieges neue Belebung erfährt (Said 1979; Puar 2007). Die Heterogenität und Instabilität dieses Wissens macht es nicht weniger plausibel. Luigs Beschreibung der Angegriffenen scheint ihrem bisherigen Drag-Diskurs auf den ersten Blick zu widersprechen. Die «Dragkings» sind nicht länger männlich, aktiv und befreit – sie sind «Frauen», «zierliche Frauen», «verstört» und «verletzt».13 Luig evoziert hier einen Gewaltdiskurs, in dem Opfer natürlich Frauen sind und Täter Männer – und manche mehr als andere. Nicht nur steht «ein paar Türken» meto13 Sowohl «Frau» als auch «Dragking» ignoriert die Selbst-Identitäten der Betroffenen, die sich teilweise als maskulin oder trans identiizieren (Homeo Romeo, persönliche Mitteilung im Juni 2008).

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nymisch für Brutalität, Dummheit, Aggressivität und traditionelle Normen. Das eine Zeichen zieht das andere automatisch nach sich. Schlägersein klebt bereits, in Ahmeds (2004) Sinne, an türkischen Männern. Dieses naturalisierte Wissen ermöglicht Luig eine überraschende Wendung ins Politische: «Die Verkleidung ist nicht mehr lustige Travestie, sondern ein Politikum» (Luig 2008). Diese Kausalität ist auch in anderen linken Medien zu beobachten. Der Indymedia-Beitrag über den Vorfall endet mit dem folgenden Appell:

Die Mottos legen eine bestimmte Gewaltdeinition nahe, welche durch Karikatur, Metonymie und Wiederholung naturalisiert, lokalisiert und personiiziert wird. Die Täter sind selbstverständlich türkisch oder arabisch, ungebildet, religiös, aus Kreuzberg oder Neukölln. «Wir» erkennen «sie» auf den ersten Blick, sprechen und verstehen ihre Sprache («Bissu schwül?», «Hassu was dagegen?»). Unsere Souveränität und Kenntnis über sie steht ihrem Mangel, ihrer Ignoranz gegenüber. «Sie» können «uns» lediglich nachäffen, ihr Deutsch/sein bleibt immer eine Mimikry in Bhabhas (1994b) Sinne. Deutschsein ist für sie weder Erbe noch Anrecht, sondern ein wohltätiges Geschenk, dessen Sinn überdies ironisch verkehrt und infrage gestellt wird («von Türken und anderen Deutschen», im Titel der Jungle World). Die Zugehörigkeit dieser Mitbürger ist per deinitionem anders, bedingt und aufgeschoben. Sie kann jederzeit wieder aufgehoben werden – zum Beispiel dann, wenn sich der/ die Eingebürgerte nicht «unseren» sexuellen und Geschlechternormen anpasst (vgl. Fekete 2006). Sexuelles Wissen spielt in dieser Neuverhandlung sexueller und ethnischer Citizenship eine wichtige Rolle. Es sind vor allem queere Symbole und Technologien (Küssen, Demonstrieren, Drag), welche den politischen Moment des «Schwullesbitrans» verlängern, dem Aktivismus wieder einen Sinn geben, den Moment der Assimilierung wieder transgressiv gestalten. Die Neuerindung der deutschen Gesellschaft als «schwulenfreundlich» geschieht durch die Verschiebung von Homophobie auf ihre Ränder, die sich speziisch lokalisieren lassen. Während Homophobie als Problem von Kreuzberg, Neukölln, Schöneberg oder St. Georg ethnisiert wird, wird der Vorbehalt, dass es Homophobie auch unter Mehrheitsdeutschen gäbe, klassiiziert: «[h]öchstens im tristesten Plattenbauverlies Ostdeutschlands», in einem Ostberliner «Bezirk wie Lichtenberg oder Hohenschönhausen ...», «in den ausländerfreien Zonen der Provinz», «rund um eine Kirche im bayerischen Dorf» (Bozic 2008). Hierbei beinden sich schwule, lesbische, bisexuelle und transgender Formen von Wissen nicht auf derselben Ebene. «Schwul» indet im Leitartikel der Jungle World 21 Erwähnungen, «lesbisch» dagegen nur acht, und immer im Tandem mit «schwul». Bisexualität erscheint gar nicht. Transphob/ie wird nur einmal erwähnt, Homophob/ie, Schwulen- und Homosexuellenfeindlich/keit dagegen 22 Mal (ebd.). Der Untertitel auf

«In den letzten Tagen häufen sich verbale und/oder körperliche Angriffe auf homosexuelle/queere/linke Menschen. ... also weiter nur Party machen?» (Indymedia 2008) In beiden Quellen wird der politische Appell dem gesunden Menschenverstand überlassen und nicht weiter expliziert. Was für eine Politik wird hier gefordert? Für oder gegen wen muss anscheinend gehandelt werden und warum? Das Zeichen ist gerade deshalb so wirksam, da es leer bleibt (Ahmed 2004). Leer bleibt auch Drag selbst. Wie ich jetzt untersuche, erscheinen Drag-Techniken weit weniger mobil und emanzipatorisch, wenn sie sich in tatsächlichen Verkörperungen manifestieren. Drag als widersprüchliches Spektakel Während die taz dem Vorfall auf dem Drag Festival einen Artikel widmete, gab die linke Berliner Jungle World gleich eine ganze Ausgabe zum Thema «Bissu schwül oder was? Homophobie unter Türken und anderen Deutschen» heraus. Der Leitartikel bezieht sich direkt auf die Presseerklärung des Drag Festivals und geht in seiner Politisierung des Ereignisses weiter als die taz und Indymedia (Bozic 2008). Autor Bozic beginnt mit der Feststellung, dass der CSD ein «entpolitisierter Partyumzug» geworden sei. «Doch in diesem Jahr gibt es verschiedene CSD-Veranstaltungen, die sich auch brisanter Themen annehmen» (ebd.). Konkrete Beispiele hierfür seien der Berliner CSD mit dem Motto «Hassu was dagegen?», der Transgeniale CSD, welcher «homophobe, transphobe und sexistische Übergriffe in Neukölln und Kreuzberg» zum Gegner erkläre, und der Kölner CSD, der «Null Toleranz – für null Toleranz!» fordere und im Aufruf speziisch Religion, vor allem Islam, als Problem deiniere (ebd.).

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dem Titelblatt enthält gar keine Referenz auf Transphobie: «Die EM ist fast vorbei. Dafür ist Samstag der CSD und die Transgeniale (sic!), die auch gegen sexistische Übergriffe in Kreuzberg und Neukölln protestiert. Wie homophob sind türkische Jugendliche? Was wird kritisiert? Was wird verschwiegen?» (ebd.) Verschwiegen wird vor allem Transphobie, um die es ja eigentlich gehen soll. Die Reduzierung von geschlechtlicher Gewalt auf «Schwulenfeindlichkeit» stellt eine epistemische Gewalt gegen weiblich zugeordnete Queers und Transleute dar, die in der Regel wenig Einlass in schwule Kontexte erhalten. Dennoch bedarf die Thematisierung von Transphobie ihrer Gleichsetzung mit Schwulenfeindlichkeit.14 Transphobie ist nur als Homophobie verständlich, welche wiederum im schwulen Diskurs post11.-September-2001 häuig durch kolonial-feministische Diskurse wie den Schleier repräsentiert wird (Yeğenoğlu 1998).15 Während schwule Meinungsmacher sich bereits erfolgreich in diese Genealogie einreihen, sind transgender, transsexuelle und Drag-AktivistInnen noch AnfängerInnen im Integrationsspiel. Dies mag erklären, warum selbst die Presseerklärung des Drag Festivals vom 8. Juni 2008 das «immer offenere homophobe Klima in Kreuzberg» (Presse-AG 2008) anklagte. Aufgerufen wurde zur «Smash Homophobia!»-Demo, welche am darauffolgenden Tag Tausende mehrheitlich weiße Queers durch Kreuzberg und (nicht zufällig auch) Neukölln ziehen ließ. Transphobie wird in der Presseerklärung nicht einmal erwähnt. Ironischerweise nivelliert diese Politik dieselben Unterschiede, für die sie Anerkennung einfordert. Trans-Leute erlangen Souveränität, indem sie ihre neue Subjekthaftigkeit sofort wieder an (nicht-trans) Schwule und Lesben abgeben. Dennoch schmückt ausgerechnet Drag den Titel der Jungle WorldSonderausgabe.16 Der Vorfall auf dem Drag-Festival wird als Comic karikiert und zugleich verkehrt: Vor einer urbanen Silhouette verprügeln sieben «queere» Figuren sieben «türkische» Figuren. Die Markierung als

«queer» und «türkisch» indet durch den kontrastierenden Einsatz von Farbe und Form statt. Während die «Queers» in roter, grüner, blauer und lederner Bekleidung (und Unbekleidung) gezeichnet sind, sind die «Türken» grau, eintönig und bedeckt. Drei tragen Aufschriften, die sie als «Gräue [sic!] Wölfe» kennzeichnen. Der «queeren» Vielfalt an Mimik und Frisur – lang, blond, rot, lockig, Glatze, anrasiert – steht die «türkische» Uniformität in Stilen und Ausdrücken entgegen (Schnurrbart, kurze Haare, triste Miene). Die «Queers» sind geschwungen gezeichnet und in Bewegung – sie treten, boxen, beißen, holen aus, bedrohen ihre Gegner mit bunten Sex-Toys. Die «Türken» dagegen sind mit geraden Linien gezeichnet – sie sind eckig und starr, sie sind rück-ständig, bewegungslos; sie stehen still. Ihre Primitivität scheint biologisch: Ihre großen Nasen, vornübergebeugten Körper und langen Arme, die in Höhe der Genitalien baumeln, erwecken Erinnerungen an eine rechtsextreme Ikonograie. Die Bewegungslosigkeit der «Grauen Wölfe» suggeriert vordergründig deren Schock, dass ihre Opfer zurückschlagen. Umkehrung bildet den Faden der Ausgabe und drückt sich auch in Schlagzeilen wie «Andersrum gedacht» und «Homophobie unter Türken und anderen Deutschen» sowie in der verwirrenden Bekleidung einer Transfrau mit einer türkischen Flagge aus. Dies erzeugt einerseits den Eindruck von Verqueerung, von Bewegung in alternative Richtungen. «Wir» brechen «das große Schweigen» (Bozic 2008), indem wir uns, scheinbar zum ersten Mal, gegen die richten, die sich dank Political correctness und Multikulti lange alles erlauben durften. Diese «Neu»-Orientierung hat eine bestimmte Zeitlichkeit: «Die Türken» sind bereits als homophob bekannt, daher kann man sie getrost zurückschlagen. Die Bewegung der «Queers» und «Türken» geschieht ferner in unterschiedliche Richtungen: Während Erstere sich auf Letztere zubewegen (wenn auch mit Gewalt), beugen sich Letztere zurück.17 Ihre Homophobie ist zugleich eine Weigerung, sich auf die richtigen Objekte zuzubewegen (Ahmed 2006). Die Passivität des Orientalen, welcher nur mit Gewalt wachgerüttelt werden kann, hat eine lange Genealogie (Marx

14 Im Indymedia-Artikel werden die Angegriffenen gar alle zu «Frauen/Lesben» (2008). 15 Die Metonymie zwischen «muslimischem Sexismus» und «muslimischer Homophobie» ist auch auf aktivistischer Ebene zu beobachten, beispielsweise in der Zusammenarbeit des LSVD mit scheinbar heterosexuellen Migrantinnen wie Seyran Ateş. 16 Das Cover ist einsehbar auf http://jungle-world.com/images/000/000/703/ 2008-26-cover-a.gif [14. 2. 2009].

17 Diese Symbolik indet sich noch deutlicher in den proliferierten Fotos von betenden Männern, die sich von «uns» abwenden, in ein und derselben Richtung (nach hinten und unten blickend) und Pose (unterwürig, mit dem Kopf im Sand) (zum Beispiel Internet-Ausgabe des MoPo-Artikels von Peter/Schimkus 2007).

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1968; Patai 1976), die auch im Spektakel des schwulen Kusses wieder auftaucht. Doch geht die Jungle World über die Metapher des Zünders, der das Pulverfass zum Explodieren bringt, hinaus. Die Inszenierung als Comic erlaubt es, die Minderheiten aktiv aufeinander loszulassen, einander direkt bekämpfen zu lassen. Dies verläuft zwar zugunsten der Queers, diese werden jedoch keinesfalls schmeichelhaft dargestellt: Gerade die Dragqueens fallen durch ihre grobschlächtigen Proportionen, ihren schlechten Stil und ihre dichte Behaarung von Armen, Beinen und Gesicht auf. Das Drag-Spektakel verdeutlicht die sexuellen Widersprüche des Krieges. Es hat wenig von der Normalität und Attraktivität des schwulen Kusses. Es ist im Gegenteil eine Freakshow, die uns belustigt, voyeuristisch macht, an sich heranzieht und zugleich abstößt.18 Der Krieg wird hier sexuell ausgetragen: Seine Waffen sind Anal-Plugs, welche noch dampfen, ein Gummiknüppel, der in den Hintern gezwungen wird, hohe Absätze, die in den Schritt zielen. Als effektivste Waffe erscheint (der untypisch emotionalen Mimik des Opfers folgend) der Schwanz einer Dragqueen, welcher ein großes Piercing trägt. Der klassisch transphobe Ekel vor modiizierten Genitalien und Analsex mischt sich nahtlos mit der Behauptung mehrheitsdeutscher Fort- und migrantischer Rückschrittlichkeit. Die dargestellte Szene erinnert an die Bilder des Abu-Ghraib-Skandals (Puar 2005). Sie wiederholen ein ähnliches Wissen über orientalisierte Sexualität, welches durch ähnliche journalistische, aktivistische und wissenschaftliche Diskurse gespeist wird. So empfahl Raphael Patai (1976), dessen anthropologische Studie The Arab Mind angeblich der Folter in Abu Ghraib zugrunde lag, passiven Analsex als Foltermethode für arabische Männer, da dieser deren Maskulinitätsbild verletze und sie angeblich besonders demütige. Wie in der Debatte um Abu Ghraib steht die Gleichsetzung von queerem Sex mit analer Vergewaltigung dennoch unter dem Zeichen der sexuellen Befreiung (Puar 2007: 79ff.). Wem dient dieses spektakulär proliferierte Wissen? Primär geht es hier um ethnisierte Kontrolle, nicht um sexuelle oder geschlechtliche Befreiung. Dennoch proitieren einige wenige sexuelle Subjekte von dieser Epistemik. Stimme und Sichtbarkeit gewinnen vor allem schwule

Interessenverbände wie das Café Positiv, das Schwule Überfalltelefon Maneo und der LSVD – dieselben Organisationen, welche seit Jahren in der Islamophobie- und Integrations-Industrie eine neue inanzielle und politische Berechtigung suchen (Petzen 2005). Relativ neu ist hierbei, wie diese Debatte auch ethnisch minorisierte Stimmen inkorporiert.19 So ist es kein Zufall, dass alle vier Artikel in der Jungle World migrantisch autorisiert sind. Ahmet Toprak (2008) und Bali Saygılı (Akrap 2008) erfüllen als türkisch benannte Autoren die Rolle des Native Informant, der den Diskurs des «traditionellen Männlichkeitsbildes» (Toprak) und der türkischen Homophobie (Saygılı) authentisiert (vgl. Puar 2007; Massad 2007). Toprak, dessen Buch Das schwache Geschlecht (2005) sich an den Erfolg von Necla Keleks Bestseller Die fremde Braut (2005) anschließt, liefert die wissenschaftliche Erklärung für «türkische Homophobie». Schwule seien «im traditionellen Sinne ehrlos», «da ihnen Schwäche, Weiblichkeit sowie Zurückhaltung unterstellt wird». Der erziehungswissenschaftliche Diskurs belegt, was wir bereits wissen: dass «türkische» Kultur rückständig ist und neben «erhöhter Straffälligkeit und unsoziale(m) Verhalten» nunmehr auch «Homophobie» produziert. Sexualität wird hier durch metonymische Anreihung an ein bestehendes Archiv erziehungswissenschaftlicher Probleme deiniert. Dieses erfordert auch bestimmte Erziehungstechniken (wie den «Sexual- und Ethikunterricht») sowie Experten («Sozialarbeiter, Lehrer und andere, die Erfahrung in der Arbeit mit Schwulen und Jugendlichen haben») (Toprak 2008). Was Topraks von mehrheitsdeutschen Argumenten unterscheidet, ist ein bestimmter Klassendiskurs: So sind vor allem Jugendliche das Problem, bei denen die «sozialen Rahmenbedingungen [...] nicht besonders günstig sind». Diese würden «ländlich-patriarchal» erzogen und «von den Eltern nicht ausreichend auf die globalisierte Industriegesellschaft vorbereitet» (ebd.). Der Bewegungsdiskurs wird hier variiert: Beweglich sind nicht nur die urbanen, kosmopolitanen Mehrheitsdeutschen, welche in Kreuzberg oder St. Georg Multikulti performieren. Beweglich sind auch gebildete MigrantInnen, die «den sozialen Aufstieg» schaffen und sich in die «globalisierte» Mehrheitskultur assimilieren. Dies geschieht

18 Vgl. Ahmed (2004) über die Performativität des Ekels.

19 Dies hat wiederum Vorläufer in der feministischen Debatte, in der als «muslimisch» ethnisierte Frauen wie Ayaan Hirsi Ali und Seyran Ateş ähnliche Rollen erfüllten (Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007).

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durch die Fixierung von Arbeiterklasse-Migrantinnen und (vor allem) Migranten als vollends unbewegt. Sie verändern sich nicht, passen sich nicht an, passen nicht. Sie bleiben unten. Wenn sie sich bewegen – wie in der Migration –, kann diese Bewegung immer nur pathologisch sein: rückwärtsgerichtet, auf schlechte Erfahrungen in der Aufnahmekultur ixiert, melancholisch zurückblickend auf die Herkunftskultur (Ahmed i.E.). Ihre Mischung kann nie hybrid und souverän sein, kombiniert im Gegenteil das schlechteste von beiden Welten (das «Ländlich-Patriarchale» mit dem Getto). Das Interview mit Saygılı (Akrap 2008), der für den LSVD arbeitet, beinhaltet ähnliche Distanzierungstechniken, allerdings auf einer religiösen statt Klassenebene. Saygılı positioniert sich als einziger Autor explizit als schwul und migrantisch. Er illustriert Puars (2007) Argument, dass Queers, die «muslimisch» gekennzeichnet sind (ob sie es wollen oder nicht), einem besonderen Assimilationsdruck oder Nachahmungszwang («coercive Mimeticism», vgl. Chow 2002) ausgesetzt sind: Minorisierte erhalten eine Stimme, aber nur, solange sie als dominantes Sprachrohr dienen und dominante Positionen authentisieren. In einem «progressiven» Forum wie der Jungle World dürfen sie vor allem das aussprechen, was «politisch korrekte» Linke selbst nicht sagen wollen. So nennt Kumrovecs Artikel auf derselben Seite «Forderungen nach Verweigerung der Einbürgerung von Homophoben oder nach Abschiebung von Ehrenmördern» «kontraproduktiv» (2008). Saygılı dagegen scheut sich hiervor nicht:

des Ausnahme-Migranten im Ausnahme-Diskurs. Die vereinzelte Hervorhebung mehrfach diskriminierter Subjekte erscheint als Fortschritt. Sie nimmt früheren minoritären Kritiken den Wind aus den Segeln, die beispielsweise die Unsichtbarkeit von Frauen of Colour in progressiven Debatten ankreidete (zum Beispiel Mohanty 1991). Dennoch ändert auch der Einschluss von Minorisierten wenig am Inhalt des hegemonialen Diskurses. Wenn einzelne migrantische Frauen und Schwule (Transleute werden hierzu noch kaum benötigt) eingeladen werden, sich als emanzipiert und handlungsfähig zu zeigen, dann immer nur als Ausnahme, welche die Regel bestätigt, dass alle anderen passiv und unterdrückt sind. Die Mehrheitskultur erscheint umso demokratischer und meritokratischer (Hopman/Taymoorzadeh 2007), da sie die (von der anderen Kultur) Hyper-Unterdrückten nicht nur rettet, sondern auch in Sprache und Sichtbarkeit bringt. Der Ausnahme-Diskurs muss daher mit einem neuen neoliberalen Diversity-Diskurs kontextualisiert werden, in dem mehrfach Minorisierte einen zentralen Platz haben.

«Ich bin da mittlerweile ganz krass geworden und vertrete die Position, dass die Leute, die die demokratischen Spielregeln in diesem Land nicht akzeptieren wollen, auch nicht eingebürgert werden sollten.» (Akrap 2008)20 Dies deckt sich nicht zufällig mit der Politik seines Arbeitgebers. Der LSVD fordert bereits seit Jahren die strafrechtliche und auch ausländerrechtliche Verfolgung «homophober» Migranten (Petzen 2005; Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007). Saygılıs Beitrag illustriert die zentrale Rolle 20 Wir haben den Druck auf «muslimisch» ethnisierte Feministinnen und Queers, den dominanten Diskurs zu authentisieren, bereits in Bezug auf Necla Kelek und Seyran Ateş diskutiert (Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007).

Ausblick: Gegen eine Politik der Wunde Butlers Schock, was in «ihrem» Namen geschieht, steht die Proliferierung vor allem schwuler, aber auch lesbischer, queerer und genderqueerer Diskurse und Praktiken im «Krieg gegen den Terror» gegenüber. Das Problem ist hierbei nicht, dass sich das queere Subjekt zum Krieg und zum rassistischen Backlash positionieren muss, sondern dass es dies bereits getan hat. Rassismus bildet ein Vehikel für die Subjektivierung von sexuell und geschlechtsunkonformen Positionen. Er lässt diese Einzug halten ins Zentrum der Gesellschaft: in die Zeitung, auf die Straße, in den Senat. In meiner Momentaufnahme der Drag-Festival-Debatte habe ich vorgeschlagen, dass transgressive Sprachen und Bilder wie das Kiss-in, die Demo und die Dragqueen für eine heteronormative Öffentlichkeit durchaus attraktiv sein können. Die queere Buntheit erfüllt die dominante Sehnsucht nach Diversity; die sexuelle Heterogenisierung lässt die gleichzeitig erfolgende ethnische Homogenisierung vergessen. Der Ekel, den die Dragqueen weiterhin erregt, zeigt, dass die Aufnahme queerer Intimitäten in den Körper der Nation dennoch ein unebener Prozess ist. Dagegen scheint der schwule Kuss genießbarer – sofern er sich von «ekligen» oder «kranken» Konnotationen (Klappe/Klapse/Transe/Aids)

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_______________________________________________________________ bereinigt zeigt. Für die Grenzüberschreitenden selbst verspricht die Fantasie eines phobischen muslimischen Publikums Zugehörigkeit in der weißen Mehrheitsgesellschaft; zugleich verlängert sie den transgressiven Moment im Angesicht der Assimilierung. Die untersuchten Repräsentationen sind voller Ambivalenz, nicht nur gegenüber Migriertheit, sondern auch und gerade gegenüber sexueller und geschlechtlicher Unkonformität. Die Anwesenheit «homophober Migranten» macht es möglich, die Ausnahme-Ideologie des befreiten Westens dennoch aufrechtzuerhalten. «Ihr» Hass relativiert «unsere» Ambivalenz gegenüber anderen Intimitäten, deren Verwundbarkeit uns zum Handeln zwingt. Die Hyper-Gewaltsamkeit der «Migranten» ermöglicht die Imaginierung einer neuen Öffentlichkeit, welche ihre Abneigung längst überwunden hat, queeren Körpern und Intimitäten gar schützend nähertritt. Gerade nicht-trans Heterosexuelle türkischer Herkunft werden hier zu Affekt-Fremden (Ahmed i.E.): hasserfüllt, reaktionär, der lustvollen Buntheit und Bewegtheit der Mehrheitsgesellschaft phobisch abgeneigt, scheinen sie auch in den migrantischen Arbeiterklasse-Gegenden wie Kreuzberg und St. Georg, die ihnen von der kapitalistischen Gesellschaft zugewiesen wurden, keinen Platz mehr zu haben. «Schöner ohne Döner?», fragt denn auch der Titel auf dem Cover des Hinnerk (06/2007). Kiez-Gentriizierung, sexradikale Ästhetik und ethnische Säuberung gehen bruchlos ineinander über. Die Komplizenschaft transgressiver Performanzen und queerer Subjektivitäten mit den dargestellten Prozessen zwingt uns, über einfache Identitätskritiken hinauszugehen. Es ist nötig zu untersuchen, wie Queers und Transleute an der Gentriizierung von Kiezen wie Kreuzberg und St. Georg mitwirken, und wie Technologien wie Kiss-ins, Demos und Drag dominante Narrationen von Nation in bestimmten Kontexten durchaus beschönigen. Ferner sollten wir uns alle fragen, was unser Interesse an einer Politik der Verwundung (Ahmed 2004: 20 ff.) ist, die uns paradoxerweise erst dann aktiv an der Gesellschaft teilnehmen lässt, wenn wir uns als passive Opfer darstellen. Doch bietet bereits die Assimilationskritik wichtige politische Einstiegspunkte, deren Potenzial viel stärker als bisher wahrgenommen werden könnte: So gliedern sich dominante Forderungen nach «Hassverbrechens»-Gesetzgebung, rassiizierenden Kriminalstatistiken und verstärktem Polizeieinsatz in mi-

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Abb. 2: Schöner ohne Döner? Titelbild Hinnerk 09/2008 grantischen Gegenden (Eicker 2007; Schock 2007) direkt in den Überwachungsstaat ein. Eine linke, staatskritische Politik könnte hier durchaus effektive Interventionen leisten.

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Felix Krämer und ninA mAcKert PleSSy reVisited skizzen dekonstruktiVistischer körpergeschichte(n) Von den

Vereinigten staaten

der

segregation

«Representations of race and gender inequality in the United States are endlessly complicated.» (Williams 1997: 253) I. Einleitung Am 7. Juni 1892 kaufte sich der Schuhmacher Homer Plessy eine einfache Fahrkarte für den East Louisiana Railway von New Orleans nach Covington und setzte sich in den Wagen, der für Weiße reserviert war. Als Plessy dem Schaffner sagte, dass er African American sei, und sich weigerte, in den Waggon für Schwarze zu wechseln, wurde er verhaftet und später wegen Verstoßes gegen den Separate Car Act angeklagt. Dieses Gesetz von 1890 regelte die «Rassentrennung» in den Eisenbahnen von Louisiana; es war Teil der sogenannten Jim-Crow-Laws, die das System der Segregation legalisierten. Im Gerichtsverfahren argumentierte Plessy, weil er nur zu einem Achtel Schwarzer sei und als Weiß1 durchgehen könne, sei er berechtigt, in dem für Weiße reservierten Wagen der Interstate Commerce Trains zu sitzen. Der Supreme Court berief sich in seinem Urteilsspruch schließlich auf das, was als common knowledge galt, durch das Gerichtsurteil aber wirkmächtig reproduziert wurde: die sogenannte one-drop-rule, die mit der rassistischen Metapher argumentierte, Schwarz sei jede Person mit auch nur «einem Tropfen schwarzen Blutes» (Davis 2002: 8). Homer Plessy wurde also für schuldig befunden. Das Urteil im Fall Plessy vs. Ferguson gilt in der Forschung als der Prä1 Die Adjektive «Weiß» und «Schwarz» werden in diesem Text in der Regel großgeschrieben, um darauf zu verweisen, dass es sich hierbei um soziokulturelle und historische Konstruktionen handelt, die keine überzeitliche Geltung haben können. Dagegen werden die Adjektive in Bildern (wie zum Beispiel «die reine weiße Frau»), die an sich Stereotypisierungen darstellen, kleingeschrieben..

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_______________________________________________________________ zedenzfall, mit dem die Verfassungsmäßigkeit der Segregation bestätigt wurde. Mit der Doktrin separate but equal wurde argumentiert, dass die Segregation rechtmäßig sei, solange gleichwertige Einrichtungen für Weiße und Schwarze zur Verfügung stünden. In der Urteilsbegründung wurde zunächst politische Gleichheit, die im 14. Verfassungszusatz festgelegt ist, von sozialer Gleichheit unterschieden. Letztere sei außerhalb des Schutzes durch die Verfassung und inkompatibel mit den biologischen Differenzen zwischen «den Rassen». Zudem würde die Segregation Gleichheit erzeugen, weil sie sowohl Schwarze von Weißen als auch Weiße von Schwarzen trenne, so die Begründung der Obersten Richter der Vereinigten Staaten weiter (Golub 2005: 578). Es liegt nicht fern, den Fall körpergeschichtlich zu lesen. Im Anschluss an die Überlegungen zu Körperkonzepten von Maren Möhring, Petra Sabisch und Doro Wiese (2001: 311ff.) und von der Überlegung geleitet, dass es auch auf historischen Untersuchungsfeldern immer wieder queerer Interventionen bedarf, werfen wir einen Blick auf körpergeschichtliche Zusammenhänge und Brüche in der US-Geschichte. Wir nehmen den Gerichtsfall Plessy vs. Ferguson (1896), mit dem über ein halbes Jahrhundert rassistischer Segregation legalisiert wurde, zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Unser Zugriff wird besonders von einem Performativitätskonzept angeleitet, wie es Judith Butler am Beispiel der Kategorie Geschlecht herausgearbeitet hat, und das wir in diesem Text auf die Kategorie «Rasse»2 verschieben wollen. Die Begriffe Performanz und Performativität gewinnen mittlerweile auch in den Kultur- und Geschichtswissenschaften zunehmend an Präsenz. Das ist begrüßenswert, verlangt aber auch danach, dass das machtanalytische Potenzial des Konzeptes immer wieder an unterschiedlichen Subjekten erprobt wird.3 Die Wahrnehmung historischer Formationen als performative Entitäten, die in der 2 In diesem Text steht ein Körper im Fokus, der an einer für die Erhaltung einer gesellschaftlichen Hierarchie produzierten Grenzlinie verhandelt bzw. hervorgebracht wurde. Es handelt sich um eine rassistische Grenzlinie, und der Begriff «Rasse» wird in Anführungszeichen gesetzt, um auf die Konstruiertheit des Konzeptes (zur Genealogie des modernen Rassismus Foucault 1992) zu verweisen; vgl. Anmerkung Nr. 4 in der Einleitung dieses Bandes.. 3 Uwe Wirth versammelt wichtige Texte in einem Sammelband für die kulturwissenschaftliche Rezeption (2002); Jürgen Martschukat und Steffen Patzold proklamieren einen «performative turn» für die Geschichtswissenschaft (2003).

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Historiograie immer wieder diskursiv zu Geschichte gemacht und festgeschrieben werden, bietet die Chance, Uneindeutigkeiten in den Fokus zu rücken. Diese Uneindeutigkeiten werden allzu oft von einer «disziplinierten» Historiograie eliminiert, die Differenzen unterdrückt, anstatt sie zum Ausgangspunkt der Erzählbewegung und Analyse zu nehmen.4 Nun drängt sich für die Betrachtung einer Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf entlang rassistischer Grenzlinien (mit weitreichenden ordnungspolitischen Konsequenzen) über Körper verhandelt wurde, der aktuell intensiv diskutierte Begriff der Intersektionalität auf. Das Zusammenwirken und die fallweise Überschneidung verschiedener Unterdrückungskategorien bringt es mit sich, dass ein Subjekt je nach Blickwinkel der Analyse von etlichen Grenzlinien gleichzeitig durchzogen wird bzw. mehrere Grenzlinien hervorbringt (Walgenbach u.a. 2007). Jede Unterdrückungskategorie muss daher innerhalb eines solchen Gelechts verortet werden, anstatt sie unrelektiert zum alleinigen Leitfaden einer geschichtlichen Erzählung zu erheben. Wir haben uns gemäß unserer Ausgangsfrage zunächst für die Privilegierung der Kategorie «Rasse» entschieden, weil sie erstens in der Historiograie zur Geschichte der Vereinigten Staaten eine außerordentliche Rolle spielt, zweitens der betrachtete Fall von einer solchen Frage handelt und drittens performative Ansätze historiograisch noch kaum auf diese Kategorie angewendet worden sind. Innerhalb unserer Analyse des Plessy-Falles wollen wir darüber hinaus die Verschränkungen mit den Kategorien Geschlecht, Sexualität, Klasse innerhalb mehrfach relationaler Normalitätsdiskurse herausarbeiten. Im Folgenden wird anhand des historischen Kontextes und der Debatte über Passing ans Thema herangeführt. In einem nächsten Schritt wird die Übertragung des Butler‘schen Performativitäts-Konzeptes auf die Kategorie «Rasse» erarbeitet. Danach wollen wir den Fall als PassingFall lesen und schließlich kurz die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammenfassen.

II. Segregation und Passing Nach dem Bürgerkrieg und der Zeit der sogenannten Reconstruction wurde mit den Jim-Crow-Laws in den amerikanischen Südstaaten Stück für Stück eine Gesellschaftsordnung installiert, die Schwarze und Weiße systematisch voneinander abgrenzte und die politische, kulturelle und ökonomische Ermächtigung der ehemaligen afroamerikanischen Sklaven verhindern sollte. In zunehmendem Maße wurden öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Verkehrsmittel, Parks, Trinkbrunnen, Toiletten und die Armee segregiert. Das hieß ganz praktisch gesehen, dass Schwarze daran gehindert wurden, Einrichtungen für Weiße zu benutzen, während die für Schwarze zugänglichen Einrichtungen nicht im Mindesten an die Qualität der für Weiße vorbehaltenen heranreichten (Finzsch/Horton/Horton 1999). Die wesentliche Grundlage für die Unterscheidung von Schwarzen und Weißen war die bereits erwähnte onedrop-rule, die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr als hegemoniale Regel durchsetzte (Davis 2002). Martschukat ordnet den Hintergrund des Mechanismus wie folgt ein:

4 Derrida formuliert die Kritik an Geschichte und Geschichtsbegriff folgendermaßen: «Brächte das Wort Geschichte nicht an sich das Motiv der Unterdrückung von Differenz mit sich, so könnte man sagen, dass nur die Differenzen von Anbeginn des Spiels durch und durch historisch sein können» (Derrida 1988: 17f.).

«Das Bemühen der weißen Gesellschaft, genauestens zu deinieren, wer denn nun schwarz und wer denn nun weiß war, ist als obsessiv zu bezeichnen. Entsprechende Differenzen wurden an Stammbäume und rassiizierte Vorstellungen von Blutmischungsverhältnissen gekoppelt und außerdem in den Rechtsordnungen der einzelnen Staaten verankert, um die Fiktion der Rassentrennung und die gedachte Reinheit der ‹white community› bewahren zu können.» (Martschukat 2007: 262) Diese Entwicklung am Ende des Jahrhunderts hatte eine neue Dimension, iel aber natürlich historisch betrachtet nicht vom Himmel. Rechtlich grundiert wurde die «Rassentrennung» bereits durch die Anti-Miscegenation-Laws vom Ende des Bürgerkrieges, mit denen sexuelle und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen in allen Süd- und einigen Nordstaaten der USA verboten wurden (Davis 2002: 43).5 Auch in diesem Fall war die Paranoia vor einer «Verunreinigung der ‹white purity›» Triebfeder der rassistischen Gesetzgebung; 5 Die Geschichte der Verbote und Verurteilungen von Ehen und Beziehungen zwischen African Americans und Weißen ist freilich länger. Vgl. dazu Hodes 1997..

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vor allem Beziehungen zwischen Schwarzen Männern und Weißen Frauen wurden beständig geächtet. Gerade in den Südstaaten war «die weiße Frau» nach dem Bürgerkrieg hochgradig zur Projektionsläche einer Vorstellung «weißer Reinheit» erhoben worden (Martschukat 2007: 262). Für diese Projektion war die Weiße Mehrheitsgesellschaft bereit, zu morden und zu lynchen, um «Weiße Überlegenheit» zu demonstrieren (Ketelsen 2000). Als Hintergrundmatrize der Gewaltakte hatte sich das Stereotyp «des triebhaften schwarzen Mannes» herausgebildet (hooks 1996: 88).6 Diese Figur wurde als das Gegenbild zur «reinen weißen Frau» in Stellung gebracht und fungierte gleichsam als Metonymie der größten Gefahr für jene obsessive «white purity». Die Körperzuschreibungen wurden immer wieder in Gewaltakten aufgerufen, die in aller Regel für die Weißen Täter_innen ohne strafrechtliche Konsequenz blieben (Dray 2002). Dass hier auch eine ökonomische Dimension vorliegt, die von rassistischer Begründung gestützt wurde, steht außer Zweifel. Gerade in den Südstaaten wurden nach dem ofiziellen Ende der Sklaverei Schwarze massiv daran gehindert, sich eigene Existenzen, die nicht bloße Fortschreibung der historisch tradierten Abhängigkeit gewesen wären, zu schaffen. Nach den Kriterien rassistischer Gesellschaften betrachtet lieferte das Urteil im Plessy Case die verfassungsrechtliche Begründung eines stabilen Systems rassischer Segregation. Gleichzeitig müssen aber auch jene Uneindeutigkeiten beleuchtet werden, die solche Prozesse stets mitproduzieren – ganz gleich, wie sehr Institutionen wie Schulen, Gerichte, die Legislative und nicht zuletzt die medialen Kommentierungen um Vereindeutigung von Identitäten und Grenzen bemüht sind. Eine – wenn auch mit hohen sozialen Kosten verbundene – Möglichkeit für einige African Americans, dem System der «Rassentrennung» zumindest partiell zu entgehen, war das Passing as white, das als Weiß «Durchgehen».7 Um erfolgreich «durchzugehen», mussten die Individuen hellhäutig sein und Haare sowie Gesichtszüge dem entsprechen,

was in der hegemonialen Vorstellung als Weiß markiert war.8 Passing as white erreichte wohl zwischen 1880 und 1925 einen Höhepunkt; die niedrigsten Schätzungen gehen von 2000 bis 2750 Menschen aus, die jährlich passten, um der rassistischen Unterdrückung zu entliehen, höher bezahlte Jobs (oder überhaupt welche) annehmen oder Beziehungen und Ehen mit Weißen eingehen zu können (Davis 2002: 56). Manche lebten nur tagsüber während der Arbeitszeit als Weiß, manche im Norden für einen Teil des Jahres, um dann für den Rest des Jahres in ihre Community im Süden zurückzukehren. Gänzliches Passing war seltener, denn es bedeutete, sämtliche Beziehungen zur Familie und Community zu kappen – ein Grund, weshalb viele, die als Weiß hätten «durchgehen» können, dies nicht taten (Davis 2002: 56f.). Zudem wurde Passing zeitgenössisch in Black Communities bisweilen als Verrat und von Weißen als bloßes Streben nach ökonomischen Privilegien interpretiert (Golub 2005: 571). Dekonstruktivistische Ansätze deuten Passing hingegen als widerständige, wenn auch zwiespältige Praxis mit dem Potenzial, rassistische Kategorien wirkmächtig infrage zu stellen (Kawash 1996; Thompson 2004). Passing as White überspielt demnach die als natürlich imaginierte Color Line. Wenn Menschen, die als Schwarz kategorisiert wurden, auf einmal als Weiße leben, kann das die Vorstellung einer speziischen Authentizität sowie bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit Whiteness und Blackness verknüpft sind, ad absurdum führen: Das falsche Versprechen visueller Wahrnehmung als erkenntnistheoretischer Garantie wird durch Passing durchkreuzt (Robinson 1996: 250). Und schließlich: Wenn etwas wie Whiteness «aufgeführt» werden kann, was passiert dann mit den auf dieser Kategorie beruhenden Hierarchien, die als naturgegeben gedacht werden? Sowohl der Diskurs als auch der Prozess von Passing fordern den Essentialismus heraus, der Identitäts- und «Rassen»konzeptionen zugrunde liegt. Zwar wies Carlyle van Thompson auf das Paradox hin, dass ein als Weiß «Durchgehen» gleichzeitig existierende Hierarchien von Weißer Macht und Weißen Privilegien reproduziere (Thompson 2004: 3), dennoch rüttelt Passing am Schein der Natürlichkeit der «Rassen»kategorien und musste deshalb sanktioniert

6 Dieses Stereotyp wurde auch von großen Teilen der zweiten Weißen Frauenbewegung in den USA kolportiert (Davis 1982: 186).. 7 Zu Passing zum Beispiel Ginsberg 1996, die auch ein Augenmerk auf GenderPassing legt; zur historischen Einordnung v.a. Davis 2002; besonders lohnenswert auch Thompson 2004..

8 Auch wenn die Literatur zu Passing körperliche Ausstattungen als zentral darstellt, spielen Klasse, Geschlecht, Geograie, Bildung und Sprache eine bedeutende Rolle (Thompson 2004: 3).

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werden – und das wurde es, wenn auch notwendigerweise mit destabilisierenden Effekten, im Fall Plessy vs. Ferguson.

eines inneren, ahistorischen Geschlechterkerns ist: «Die Performanz der Geschlechtszugehörigkeit erzeugt rückwirkend den Effekt eines irgendwie wahren oder bleibenden Wesens» (Butler 2001: 136). Im Prozess der Annahme einer körperlichen Norm wird nicht nur die Norm, sondern ebenso das Subjekt erst gebildet. Das bedeutet, die kulturellen Normierungen der Identität werden performativ auf dem und durch den Körper zur Darstellung gebracht, verleihen ihm auf diese Weise kulturelle Lesbarkeit und fügen ihn in die Ordnung ein. Identität scheint nun als ein unmittelbarer und authentischer Ausdruck des «Selbst» und nicht als beschränkter Effekt von Machtbeziehungen. Butler verweist insbesondere darauf, dass in diesem Subjektivierungsprozess nicht nur intellegible Körper hervorgebracht werden, sondern zugleich «ein [...] Bereich verworfener Wesen [...], die noch nicht ‹Subjekte› sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben» (Butler 1997: 23). Zentral für Butlers Auffassung vom Konstitutionsprozess der Körper ist ihre Veränderbarkeit und damit die historische Dimension. Die stete Wiederholung von Normen birgt gleichzeitig Abweichungen von ihnen, da keine vollkommenen Identiizierungen möglich und Performanzen für sich einzigartig sind:

III. Die Performativität von Geschlecht und «Rasse» Ein weniger bekannter Aspekt dieses Gerichtsverfahrens ist: Es war auch ein Testfall für die afroamerikanische Community. Das Citizens‘ Committee to Test the Constitutionality of the Separate Car Law von New Orleans hatte Homer Plessy gerade wegen seiner Hellhäutigkeit ausgewählt, um den Separate Car Act herauszufordern (Golub 2005: 564) – eine Herausforderung, die aus körpergeschichtlicher Perspektive weit über die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Jim-Crow-Laws hinausging. Bevor wir zu den Anwendungsmöglichkeiten von Performativität auf die Untersuchungskategorie «Rasse» kommen, wollen wir noch einmal kurz in Erinnerung rufen, wie Performativität bei Butler konzipiert ist. Sie erklärt diesen Komplex rund um vergeschlechtlichte Körper: «[N] orms become sedimented as (and not in) gendered bodies» (McKenzie 1998: 221). Performativität ist für Butler die «Macht des Diskurses, durch ständige Wiederholungen Wirkungen zu produzieren» (Bublitz 2002: 70). Im Anschluss an Jacques Derrida und dessen Relektüre der Sprechakttheorie John L. Austins dehnt Butler den sprachlichen Zitationsbegriff zur kulturellen Zitation und erklärt «Performativität [...] zum zentralen Modus der Körperkonstitution» (Möhring 2003: 259). Das heißt, der Körper wird durch sich stets wiederholende, zitatförmige Zuschreibungen und damit deren Normativierung materialisiert. Das «Symbolische», das heißt eine Serie performativer Sprechakte in Form von «Forderungen, Tabus, Sanktionen, Einschärfungen, Verboten, unmöglichen Idealisierungen und Drohungen», übt die Macht aus, «das Feld kulturell lebenstüchtiger sexueller Subjekte herzustellen» (Butler 1997: 154). Dies geschieht vor dem Hintergrund von Geschlechtsnormen, die die Verkörperung zum Beispiel bestimmter heterosexueller Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit verlangen. Butler geht davon aus, dass die Annahme des Geschlechts durch unentwegte Identiizierungen mit normativen Positionen im Symbolischen funktioniert, und bezeichnet dies als «Erlangen des Daseins durch das Zitieren von Macht» (ebd.: 39). Das geschlechtliche «Dasein» ist dann ein Effekt fortwährend performativ inszenierter Prozesse, deren wesentlicher Effekt der Schein

«Paradoxerweise wird gerade durch die Wiederholung [...] auch die Instabilität derselben Kategorie, die durch die Wiederholung konstituiert wird, erst hergestellt. Denn wenn das ‹Ich› Ort der Wiederholung ist, das heißt, wenn das ‹Ich› nur durch eine Wiederholung seiner selbst überhaupt den Anschein von Identität erlangt, dann wird es durch die Wiederholung, die es zunächst aufrechterhält, immer wieder verdrängt.» (Butler 2003: 151, Hervorhebung i. O.) Dieser Aspekt ist entscheidend für eine performativitätstheoretische Lesart des Plessy Case. Doch was bedeutet es, Judith Butlers Performativitätstheorie um «Rasse» zu erweitern und diese Kategorie neben Geschlecht zu denjenigen Konglomeraten von Normen zu zählen, die gezwungenermaßen zitiert und damit (erneut) hervorgebracht werden, um kulturell intelligible, legitime Subjekte zu erzeugen? Ein für die Übertragung des Performativitätsgedankens auf die Konzeptualisierung von «Rasse» zentraler Begriff ist der der Norm, in dem die Trennungslinien zwischen lebensfähigen und verworfenen Subjekten

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manifest werden. Geschlechts- und «Rassen»-Normen bilden dabei kein Nebeneinander, sondern sind auf vielfältige Weisen miteinander verwoben: «Konstitutiv verbunden mit der Herstellung eines vergeschlechtlichten Körpers ist seine Rassiizierung» (Möhring 2003: 259). Mit großer Vorsicht lässt sich die Spannung zwischen den Kategorien heterosexuell/homosexuell, wie Butler sie versteht, auf Weiß/Schwarz übertragen; im Prozess der Anrufung rassialisierter Normen werden dann nicht nur diejenigen Körper deklassiert, die nicht der hegemonialen Norm des Weißseins entsprechen, sondern auch ethnisierte Körper, die sich nicht eindeutig in die Matrix einordnen lassen:

markiert, ixiert und naturalisiert unaufhörlich die Differenz zwischen Zugehörigkeit und Anderssein.» (Hall 1994: 20)

«When mythic bloodlines which are thought to determine identity fail to match the visible markers used by identity discourses to signify race, one often encounters these odd responses by acquaintances announcing with arrogant certainty ‹But you don‘t look like ...› or then retreating to a measured acknowledgement ‹Now that you mention it, I can sort of see ...› to feel one‘s face studied with great seriousness, not for its (hoped for) character lines, or its distinctiveness, but for its telltale racial trace, can be a particularly unsettling experience.» (Alcoff 1996: 31) Konstruierte Unterschiede im Visuellen bilden die Schlüsselsigniikanten auch in der Performativität von «Rasse». So wie es keine Person geben «darf», die nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist, «darf» es keine geben, die nicht eine eindeutig verkörperte «Rassen»-Identiikation hat. Diese ist aber nicht immer evident: Ebenso wie bei Geschlecht gibt es unklare Bereiche, die die imaginierte Grenze stören. Wie Butler schon für die Herstellung von Geschlechtern ausgeführt hat, ist ein Effekt der Performativität von «Rasse» der Schein einer Substanz, der besonders seit dem Aufkommen eines Rassismus mit «wissenschaftlicher» Autorität im späteren 19. Jahrhundert eine notwendige Verbindung von Hautfarbe und bestimmten Veranlagungen bzw. Eigenschaften suggerierte. Hall schreibt: «Natürlich operiert der Rassismus mit der Konstruktion von unüberschreitbaren symbolischen Grenzen zwischen ‹rassisch› konstituierten Kategorien, sein typisch binäres Repräsentationssystem

«Rasse» lässt sich ebenso wie Geschlecht als Ordnungskategorie begreifen, die in der steten Wiederholung als substanzbildendes und immer wieder neu hervorzubringendes Schema funktioniert. Weil die Kategorie gemäß ihres performativen Charakters dieser Wiederholungen unbedingt bedarf und «gleichwohl aber nur [...] in der damit verbundenen Reproduktion des entsprechenden Wahrnehmungs- und Handlungsfeldes existiert» (Martschukat 2007: 260), ist die suggerierte Kohärenz des Konzeptes stets bedroht: Die Verfehlungen beim Zitieren dieser Normen bedeuten dann eine der Performativität von «Rasse» immanente Gefahr der Destabilisierung von Grenzen. Bedeutsam ist, dass das Konzept der Performativität, um nicht herrschaftsrelativierend zu wirken, unbedingt in den Kontext sozio-institutioneller Verhältnisse, die hierarchisch strukturiert sind, gestellt werden muss. Die Performanzen müssen also besonders auf ihre unterschiedlichen Materialisierungen hin befragt werden, welche den Zugang von Menschen zu gesellschaftlichen Ressourcen steuern (Gutiérrez Rodríguez 1999). IV. Der Plessy Case als Passing Case Die Argumentation Homer Plessys im Gerichtsverfahren war folgende: Ihm sei durch die Entfernung aus dem Wagen das Ansehen, als Weiß betrachtet zu werden, verweigert worden. Sein Argument beruhte also auf seiner Möglichkeit, als Weißer «durchzugehen». In der Sprache des Gerichts hieß es, Plessys «one-eight African blood [was] not discernible in him» (zit. nach Golub: 564). Hätte Plessy nicht gesagt, er sei African American, als der Schaffner ihn fragte, wäre er nicht verhaftet worden (Medley 2003: 142). Umso bemühter waren die Richter nun, nach Plessys «schwarzen Wurzeln» zu forschen; sie wurden in der siebten Vorfahrengeneration fündig. Plessy sei also ein «Octoroon», wie die rassistische Vokabel für dieses Verhältnis hieß. Daher legte das Gericht in seiner Urteilsbegründung fest, Plessy sei nicht Weiß und könne deshalb auch keine Rechte von Weißen in Anspruch nehmen (Golub 2005: 572). Bedeutsam ist, dass Plessy nicht einfach als Schwarzer, sondern als Schwarzer Mann vor Gericht saß. Vor dem Hintergrund der binären

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Konstruktionen von «reiner weißer Frau» und «triebhaftem schwarzen Mann» und der Angst vor sexuellen Kontakten zwischen beiden wird eine zentrale Komponente der Befürwortung segregierter Verkehrsmittel durch die Weiße Gesellschaft deutlich: Sie entsprang der Angst, Weiße Frauen und Schwarze Männer könnten in den Eisenbahnwaggons oder Überlandbussen nebeneinandersitzen (ebd.: 579). Die Notwendigkeit einer unmissverständlichen Kategorisierung Homer Plessys für die Aufrechterhaltung klarer rassistischer Grenzen und Hierarchien kann also für das Gerichtsverfahren Plessy vs. Ferguson nicht überschätzt werden. Performanztheoretisch wird der Plessy Case lesbar als Aufführung, in der vereindeutigend auf uneindeutige Körper geantwortet wird; er bringt die Aufmerksamkeit zu den Prozessen, in denen vermeintlich natürliche und voneinander abgegrenzte «Rassen» produziert und aufrechterhalten werden.9 In der Urteilsbegründung argumentierte Richter Henry Billings Brown, jeder Staat habe das Recht, die legalen Deinitionen von «Rassen»-Zugehörigkeit zu setzen. Dazu Golub:

anderen Fälle – entzog Brown aber gleichzeitig unfreiwilligerweise der Annahme der Natürlichkeit von «Rasse» und natürlichen Unterschieden zwischen Weißen und Schwarzen den Boden, die in all diesen Fällen zuerst einer juristischen Bestätigung bedarf, um durchsetzbar zu sein. So eindeutig die Grenze ist, die die one-drop-rule vorgab, als so potenziell instabil erweist sie sich angesichts einer Herausforderung dieser Grenzen. Simultan werden in der Bewegung der Vereindeutigung Fälle geschaffen, die nicht nur die «Rasse» eines Individuums infrage stellen können, sondern auch die Prozesse und Kriterien, mit denen diese Unterscheidungen gemacht werden. Plessy stand praktisch am Kulminationspunkt von vielfältigen performativen Anrufungen der paradox aufgeführten Grenze, die die one-drop-rule ziehen wollte. Diese Grenze wurde zwar einerseits mit der Konstruktion des Regelspruches vertieft, andererseits aber als natürliche Kategorie, die ohne Richterspruch selbstevident wirksam wäre, ad absurdum geführt.

«A close examination of the state court cases that [Brown] cited as precedent for such an authority vividly illustrates the discrepancy between lived experiences of race, in all their ininite complexity, and the legal requirement for clear rules deining racial identity. In each of the cases cited by Justice Brown, the criteria for racial determination are multiple and contradictory, relying as much on social performances of racial roles as on the supposedly objective factors that Justice Brown suggested.» (Golub 2005: 565)10 Brown sah sich gezwungen, Plessy einen eindeutigen Status zuzuweisen. Die in dieser Perspektive zentrale Aussage des Gerichts, Plessy sei ein Schwarzer, lässt sich als ein Versuch der Vereindeutigung verstehen, als juristische Neufestlegung und Stabilisierung der Color Line. In diesem Bestreben – und gerade in dem Verweis auf die Urteilssprüche der 9 In der Critical Race Theory wurde bereits häuiger auf die Rolle der Gerichte/ Rechtsprechung in der Produktion von «racial common sense» hingewiesen (vgl. Crenshaw 1995; Haney-Lopez 1996 und 2003). 10 Es geht hier um die Fälle Gray vs. State (1831, Ohio), State vs. Chavers (1857, North Carolina), People vs. Dean (1866, Michigan), Monroe vs. Collins (1867, Ohio) und Jones vs. Commonwealth (1885, Virginia).

V. Schlussbemerkung Bei Verwendung körpertheoretischer Instrumentarien lassen sich geschichtliche Prozesse als eine historische Verlechtung von Performanzen nachzeichnen, in der geschichtliche «Vorfälle» und deren Lesarten miteinander verwoben sind. Allerdings werden historische Prozesse in aller Regel so inszeniert, als seien sie einzigartigen Ursprungs. Einzelne «Vorfälle» behaupten von sich häuig, autonome Originale zu sein. Dies ist ein trickreicher Mechanismus, der Geschichte kohärent erscheinen lässt. Diese Ordnungsfunktion ist ebenso zu dekonstruieren, wie historische Verläufe auf materiell wirkmächtige Bewegungen, aber eben auch auf deren Inkongruenzen und Instabilitäten befragt werden müssen. Nun könnte eingewandt werden, dass die beschriebenen Instabilitäten, die die one-drop-rule für die Naturalisierung des Rassismus im Fall Plessy bedeutet haben könnte, allem Anschein nach vom Urteilsspruch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wenig gegen Segregation und systematische Diskriminierung der African Americans in den USA auszurichten hatten. Der Fall war jedoch beileibe nicht der erste und nicht der letzte, der die Grenze zwischen Weiß und Schwarz festschreiben sollte. Ökonomische Grenzziehungen und Lynchings nach dem Bürgerkrieg wurden bereits erwähnt, und während der Segregation waren die ständigen Konlikte um die Color Line (die vielleicht treffender als Color

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Frontier beschrieben wäre) Akte, in denen immer wieder diese Frage verhandelt wurde und umkämpft war. Martschukat schreibt in Anlehnung an Foucault, «ein Komplex wie eine rassistische Gesellschaftsordnung [ist] nichts anderes als eine historisch-speziische Melange von kontingenten Diskursen, Techniken, Praktiken, Aufführungen». Gerade die so entstehenden sozialen Strukturen werden hervorgehoben, wenn er «Rasse» als ein «Gelecht von entsprechenden Äußerungen, Handlungsformen, Vorschriften, Verordnungen und gesellschaftlichen Einrichtungen» und als «strukturbildend für eine entsprechende Gesellschaftsordnung» versteht (Martschukat 2007: 272). Der Urteilsspruch im Fall Plessy vs. Ferguson wird so zu einem Teil der ständigen Aufführungen, Verordnungen und Anrufungen des performativen Ordnungs- und Herrschaftskonzeptes «Rasse», das der permanenten Erneuerung bedarf, um die Stabilität seiner Grenzziehungen gewährleisten zu können. Dies bringt uns zu einer Lesart, die den Plessy-Fall als einen performativen Akt unter anderen wahrnimmt, die sowohl dessen Potenzial einer Verschiebung, als auch gerade dessen Beitrag zu einer wirkmächtigen Materialisierung von Diskursen körpergeschichtlich beschreiben kann.

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AlexAndrA GAnSer erika lopez, tomato rodriguez und die f laming i guanas queer textual politics aus dem zwischenraum

«I went to a conference years ago and said I felt like I didn’t it in with any gay Latino thing. I didn’t speak Spanish, I didn’t feel like a gay person, or even a woman sometimes. I just felt like a strange person. But a person with a big sense of entitlement [...] like a ‹white guy›» (Wilkinson 2001). Dieses Zitat aus einem Interview mit Erika Lopez, puerto-ricanischangloamerikanische Graikerin, Autorin und Performance-Künstlerin (geb. 1967), befremdet: Wie kann sich Lopez als kulturell mehrfach minoritäres Subjekt mit dem «weißen Mann» identiizieren? Judith Butler hat in Gender Trouble (1990) auf die performative Bedeutung des Wörtchens «like» hingewiesen, wenn sie Aretha Franklin mit «you make me feel like a natural woman» zitiert. Es geht in diesem Satz einerseits um die Reiizierung von Gender durch die Anerkennung im Diskurs; andererseits betont das «like» die Annäherung an eine Kategorie, die ohne Original auskommen muss, immer schon diskursiv konstruiert ist und durch Wiederholung naturalisiert wird. Butler verdeutlicht damit auch das Interventionspotenzial performativer Akte gegen die Vorstellung vom Natürlich-Originären. Auch in Erika Lopez‘ Universum nimmt eine so verstandene Performativität eine zentrale Rolle ein. «Wie ein weißer Mann»: Durch die jahrhundertelange Wiederholung wirkmächtiger Akte wurde er zum Inbegriff kultureller Hegemonie; im Zitat verdeutlicht Lopez den Konstruktcharakter, indem sie die dominante Position für sich als nicht-weißes, nicht-männliches Subjekt reklamiert und damit auch deren Wandelbarkeit zur Schau stellt. Sie erklärt ihren Vergleich so: «I don‘t want to ight from a position of ‹Can

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_______________________________________________________________ I please have?› I want to take the place as if it were rightfully mine» (Wilkinson 2001). Lopez’ Interventionen beschränken sich nicht allein auf sprachlichen Ausdruck, sie werden auch in ihrer künstlerischen Praxis deutlich. In einer Trilogie illustrierter Erzählungen – Flaming Iguanas: An All-Girl Illustrated Road Novel Thing (1997), They Call Me Mad Dog! A Story for Bitter, Lonely People (1998) und Hoochie Mama: The Other White Meat (2001) hat Lopez mit ihrem Alter Ego Jolene Gertrude Rodriguez eine Figur von wandelbarer Gestalt entworfen, die sich im Spiel multipler Differenzen einer klaren Verortung entzieht. Die Beschäftigung mit den Auswirkungen multipler Differenzen ist innerhalb der US-amerikanischen Latina Literature keineswegs neu.1 In diesem Kontext kann auch Lopez’ Werk gelesen werden, insofern, als es den Dualismen, die den Identitätskategorien zugrunde liegen, auf narrativer und auf Bildebene begegnet und sie durch den Einsatz performativer Strategien als kulturelle Konstruktionen entlarvt. Nicht nur Traditionen der Latina Literature, auch das literarische Genre der Pikareske wird in Lopez‘ Werk neu verhandelt. Als sozialkritisches Genre der frühen Neuzeit entstanden, erzählen die Werke dieser Gattung immer wieder neue Abenteuer der Schelme und Ausgestoßenen, der SünderInnen und Kleinkriminellen. Unter anderem durch Saul Bellow, Ralph Ellison und Ishmael Reed hat die Pikareske in den USA Mitte des 20. Jahrhunderts zudem eine klare ethnische Wende erfahren (Reinhardt 2001: 102), die sich Lopez zunutze macht. Es ist pikareske Konvention, hegemoniale Machtansprüche zu verunglimpfen und der Lächerlichkeit preiszugeben; derbe Alltagssprache und generische Grenzüberschreitungen, von der Autobiograie über die Reiseerzählung bis zum postmodernen Roman, sind dabei keine Seltenheit. Die Pikara als Schelmengestalt trotzt dem binären Denken, indem sie sich einem festen Platz in der symbolischen Ordnung entzieht, etwa durch Maskerade und Täuschung. Spielerisch und humorvoll werden immer wieder Grenzen überschritten; die Trickspielerin agiert ungehörig und nimmt keine Rücksicht auf Anstand und Sitte. Als «Grenzgängerin» des Subjekts, wie Katja Strobel (1998) sie in ihrer einsichtsreichen Studie genannt 1 «Latina» wird hier als umbrella term verwendet, der sich in den letzten Jahren gegen das legalistisch-bürokratistische «Hispanic» durchgesetzt hat.

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hat, ist das einzig Vorhersehbare an der Pikara ihre Unbeständigkeit und Ungehörigkeit, mit der sie reale und symbolische Ordnungen unterläuft. Dass sie durch ihre Wandlungsfähigkeit und das Beherrschen performativer Akte die Gesetze der Ordnung umgehen kann, macht sie umso gefährlicher, weil sie damit deren Fragilität offenlegt. In Flaming Iguanas, jenem Werk von Lopez, das im Folgenden eingehend analysiert wird, eignet sich Lopez mithilfe der Pikareske das maskulin geprägte Genre der amerikanischen Road Novel an, das selbst wesentlich von pikaresken Konventionen geprägt ist (Laffrado 2002: 406; Enevold 2004: 86f.). Dabei geht es nicht lediglich um das Auffüllen eines vorhandenen Genres mit neuem, emanzipatorischem Inhalt, sondern darum, die Basis dieser literarischen Gattung zu untergraben und sie damit insgesamt zu revidieren. Dieses Vorhaben der Künstlerin wird bereits aus Untertitel und Cover des Buches ersichtlich: Lopez nennt es nicht eine «All-Girl Road Novel», sondern nur so etwas Ähnliches: ein «road novel thing», eine «all-girl» Parodie des Genres. Das Titelbild macht diese pikareske Mobilität bereits deutlich. Umgeben von bunten Sternchen springt das Bild einer kaffeebraunen, ethnisch eindeutig als Latina markierten Frau auf einem Motorrad ins Auge, die die potenzielle Leserschaft anlächelt. Eines der Sternchen verdeckt ihre rechte Brustwarze. Die stolze Art, in der die Titelheldin diese entblößt, spielt mit dem voyeuristischen Blick der Leserschaft, den Lopez mithilfe des Sternchens visuell kontrolliert. Dass wir es hier mit einem ebenso humorvollen wie lasziven Werk zu tun haben, parodiert den Anspruch an literarische Ernsthaftigkeit und überschreitet alle möglichen Genregrenzen – zwischen ernster und populärer Literatur, Lesbian Literature und Chick Lit, Comic und Schriftstellerei. Kurz zum Inhalt: Um ihrer Einsamkeit in New York zu entkommen, Mut zu beweisen und Selbstachtung zu gewinnen, entschließt sich Jolene Rodriguez eines Tages, eine one-woman biker gang, die Flaming Iguanas, zu gründen, ein Motorrad aufzutreiben und ihren kranken puerto-ricanischen Vater in San Francisco zu besuchen. Noch vor Antritt der Reise machen sich bald Zweifel an ihrem Vorhaben breit. Jolene fragt sich, was sie eigentlich beweisen will:

have to leave your job, your life, your tear-stained woman waving good-bye with a kitchen towel behind the screen door so you can ride all over the country with a sore ass, battling crosswinds, rain, arrogant Volvos, and minivans?» (Lopez 1997: 26)

«What was so wrong with watching TV? Why was I doing this? What was I proving? What the fuck was this myth that said you

Trotz aller Zweifel an dem maskulinen Mythos des Ausbruchs, auf den hier angespielt wird, ist Tomato, wie sich Jolene im Laufe der Erzählung nennt, überzeugt, dass sie aus ihrer Reise verantwortungsvoller, stärker und einfach «amazing» (ebd.) hervorgehen wird. Ihren literarischen Vorfahren – Jack Kerouac, Hunter S. Thompson und Henry Miller, die den Mythos des On the road-Seins kulturell geprägt haben, kann sie dabei jedoch wenig abgewinnen: «I just couldn‘t identify with the fact that they were guys who had women around to make the coffee and wash the skid marks out of their shorts while they complained, called themselves angry young men, and screwed each other with their existential penises.» (27) Worauf Lopez hier referiert, ist die ambivalente Genderpolitik der Beat Generation der 1950er Jahre, deren Vertreter sich zwar den Normen der Gesellschaft zu entziehen versuchten, tatsächlich dann aber doch eine konservative Vorstellung von Geschlechterrollen perpetuierten und etwa bis auf wenige Ausnahmen ihre homosexuellen Beziehungen verleugneten. Des national-kulturellen Gepäcks, das sie mit sich schleppt, ist sich Tomato also durchaus bewusst (Enevold 2004: 86), setzt ihm aber eine Absage an heroische Selbststilisierung entgegen, indem sie sich über ihren eigenen Plan lustig macht: Es sei ein «embarrassingly cheesybrown low-budget adventure» (130). Die Thematik multipler Differenzen zieht sich als roter Faden durch das Buch. Als Lopez‘ Alter Ego, halb Anglo und halb Latina, in ihrer wirtschaftlichen Situation als weibliche Nachwuchskünstlerin prekär und in ihrer sexuellen Identität nicht festgelegt, fragt sich Tomato: «Where the fuck was I supposed to be? I never got what I was looking for or where I was looking to go. I wasn’t a good blue-collar heterosexual in a trailer home, I wasn’t a real Puerto Rican in the Bronx, I wasn’t a good one-night stand lesbian. I wasn’t a good al-

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coholic artist, and I wasn’t a real biker chick because I didn’t want the tattoos.» (241)

Der bittersüße Witz und die beißende Selbstironie, mit denen noch die schmerzhaftesten Erlebnisse in Tomatos Leben erzählt werden, erfüllen mehrere Funktionen. Zum einen schaffen sie es, die Leserschaft auf Tomatos Seite zu ziehen; Tomatos Selbstironie und die Unverblümtheit in der Schilderung ihrer prekären Lage oder körperlichen Beindlichkeiten fordern und fördern Verständnis. Zum anderen nimmt der Humor diesen stereotypisierenden Bildern die Deutungsmacht. Indem er sich über stereotype Repräsentationen und die Kommodiikation hegemonialer und minoritärer Identitäten lustig macht, betont er gerade deren Konstruiertheit:

Immer wieder und meist aus der Retrospektive erinnert sich Tomato an ihr Verlangen nach der Sicherheit, einer dieser Gruppen anzugehören. Als Kind, so erzählt sie, hatte sie versucht, ihre Augenbrauen so dünn zu zupfen, dass sie wie die puerto-ricanischen Frauen in ihrer Nachbarschaft aussehen würde (146f.), und bedauert, kein Spanisch zu sprechen (29). Im Gespräch mit ihrer lesbischen Mutter versucht sie herauszuinden, ob sie nicht selbst ebenfalls lesbisch sei (172), entscheidet sich später aber doch für das «in-between» (251), das Dazwischen. Ihre körperlichen Eigenschaften beschreibt sie ebenfalls als weder das eine noch das andere: «gray brown skin, large breasts, black curly hair, but pointy nose features» (54). Während Tomato also einerseits nach Zugehörigkeit sucht, entwickelt sich ihr Road Trip andererseits zu dem erfolgreichen Versuch, eine Gesellschaft zu überlisten, die fundamental auf Identitätskategorien aufgebaut ist. Die Suche nach einer stabilen Identität innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, die gewöhnlich als Hauptmotiv der erzählten Reisebewegung gesehen wird (Primeau 1998: 15), mag zwar anfangs auch Tomatos Anliegen gewesen sein, doch ist sie sich der Konstruiertheit dieses Verlangens selbstironisch bewusst. So kann sie dessen emotionaler Macht gegensteuern, indem sie diese Kategorien lächerlich macht und stattdessen ein queer eye on a straight nation wirft. Die queer nation, die Tomato für sich entdeckt, bietet ihr ein Heimatgefühl, das weder Beständigkeit noch Kohärenz voraussetzt. Damit wird die Road Novel letztlich ein Instrument, um das Territorium der Subjektivität und den Spielraum für bewegliche Individuationen zu erweitern (Enevold 2004: 88).2 Diese Erweiterungsagenda ist einerseits bedingt, andererseits erschwert durch die vielfachen Differenzlinien, die die Subjektposition der Protagonistin durchkreuzen. Als unerfahrene Bikerin, die von Gangschaltung und Motorradführerschein nichts weiß, braucht es Zeit, bis sie die Highways genießen kann – eine Metapher für die Entwicklung kultureller Navigationsstrategien qua Motorrad.3 2 Zur Analyse von Räumlichkeit und Mobilität im Kontext weiblicher Road-Narrative siehe Ganser (2008). 3 Die Ikonograie des Motorrads spielt für diese queere Raumerweiterung eine

«I don‘t feel white, gay, bisexual, black, or like a brokenhearted Puerto Rican in West Side Story, but sometimes I feel like all of them. Sometimes I feel so white I want to speak in twang and belong to the KKK, experience the brotherhood and simplicity of opinions. / Sometimes I want to feel so heterosexual, hit the headboard to the point of concussion [...]. I want the kid, the folding stroller. Please, let me stand forever in a line with my expensive offspring at Disney World. / Sometimes I want to be so black, my hair in skinny long braids, that black guys nod and say ‹hey sister› [...]. / I want the story, the rhythm, the myths that come with the color. Sometimes I want to live with my hand inside of a woman so I can hear her heart beat [...]. Other times I wish I was born speaking Spanish so I could sound like I look without curly-hair apologies. But I try all that and I quit it, and I try again.» (Lopez 1997: 28f.) In der eben zitierten Passage wird niemand verschont; Lopez setzt den Wunsch nach Zugehörigkeit mit der Dekonstruktion des Wunschbildes antithetisch in Beziehung. Einerseits öffnet sie hier temporär mögliche Identiikationen, zeigt aber gleichzeitig die Unmöglichkeit derselben auf, wenn man zwischen mehreren Differenzlinien zugleich wandelt. Try – quit – try again: Tomato sucht wiederholt nach einer möglichen Identiikation mit einem Kollektiv und ihren Wurzeln – nicht umsonst wesentliche Rolle. Gewöhnlich als Ausdruck von Macht, Geschwindigkeit und subkulturellem Status verstanden, verspricht es Abenteuer, Sex und Erfolg. In Flaming Iguanas parodiert Tomatos Motorrad diesen vehikulären Fetischismus, da es geborgt und gebrechlich ist und damit ungeeignet, Status und Erfolg zu konnotieren.

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ist es der durch die Scheidung der Eltern «verlorene» puerto-ricanische Vater, den sie besuchen will –, doch sie verwandelt ihre Suche im Laufe des Textes in eine Suche nach gangbaren Wegen zwischen den kulturellen Kategorien. Als der Vater noch vor Tomatos Ankunft stirbt, ist der Weg zum Ziel geworden. Es sind gerade die transdifferenten Spannungen4, die durch Tomatos kulturelle Mehrfachzugehörigkeit entstehen, welche für diese Entwicklung verantwortlich zeichnen und dazu führen, dass die Sehnsucht dazuzugehören nur mehr aus der Retrospektive betrachtet wird.5 Die Lust an der Parodie bleibt nicht auf der Ebene des Erzähltextes und der transgressiven, tabulos-vulgären Sprache stehen, sondern bezieht sich auch auf das Format ihrer Texte, die zeichnerischen und typograischen Experimente der Künstlerin. Diese dienen nicht lediglich der Illustration, sondern schaffen eine intermedial agierende Ebene, um das Narrativ zu brechen und die LeserInnen zum Nachdenken zu bringen. Ein wesentliches Moment ist dabei ihr visueller Kommentar zum Image der Latina, der sich der Parodie und der Pastiche einer Ästhetik amerikanischer Werbung der 1950er Jahre bedient. Die Kritik bezieht sich insbesondere auf zwei Stereotypen, die das Bild der Latina in den USA bestimmen: die jungfräuliche Señorita und die übersexualisierte Latina Lover (Bluemich/Cedeño 2005). Dass Lopez die portugiesischbrasilianische Schauspielerin Carmen Miranda für die Dekonstruktion dieser Stereotypen heranzieht, ist mehr als passend. Miranda, mit ihrem «süßen» Akzent, dem selbst gebastelten Tuttifrutti-Hut und extravaganten Kostümen, verkörperte in den 1940ern den Inbegriff der Latina als hüftschwingende, sprachlich wenig gewandte Sexbombe, die als «Brazilian Bombshell» vor allem in Musical-Filmen ihr Stakkato und

wildes Tanzbein zum Besten gab, eine Rolle, an der sie letztlich zerbrach.6 Lopez‘ Illustrationen greifen in diesen exotistischen und misogynen Diskurs ein, indem sie Carmen Mirandas kulturelle Zerrissenheit parallel zu jener Tomatos setzt. Intermedial versucht sie, Miranda posthum die verlorene Würde und Handlungsspielräume zurückzugeben, indem sie sie in die Mestiza-Generation des späten 20. Jahrhunderts versetzt und sie zeichnerisch mit der Schelmin Tomato Rodriguez vermischt. Im Sinne eines Gestaltwandels werden einzelne Attribute beider Figuren in eine neue Hybridigur gegossen. Auf diese Weise zerstört Lopez die Forderung nach der Repräsentation «authentischer» ethnischer Weiblichkeit; es bleibt unklar, ob Miranda Tomato imitiert oder umgekehrt. Die großen Kreolenohrringe und der Tuttifrutti-Hut wie auch die Flamencobluse evozieren das Outit der brasilianischen Schauspielerin, während die Zeichnung auf dem Cover von Flaming Iguanas dem Schwarz-Weiß-Image wörtlich wie metaphorisch Farbe verleiht. Zudem transzendiert Lopez die stereotype Repräsentation der Entertainerin, die sich zum Genuss des Mehrheitspublikums visuell prostituieren muss, indem sie ihr rote enge Hosen und polierte schwarze Stiefel anzieht und sie auf ein Motorrad setzt. Ihr Auftritt konnotiert Kraft, Handlungsfähigkeit und selbstbestimmte Mobilität (Laffrado 2002: 411). Auf der ersten Seite des Buches inden wir eine ähnliche Zeichnung. Die Miranda-Tomato-Hybridigur ist nun in die Rolle einer Countrysängerin geschlüpft: Mit Fransenhemd und Cowboystiefel sitzt sie hier auf einem Holzzaun, spielt Gitarre und singt. Der Tuttifrutti-Hut und die Kreolen brechen das Bild der (weißen) Countrymusikerin.

4 Gemeint sind hier Spannungen, die aus kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten resultieren und Dissonanzen im narrativen Selbstentwurf erzeugen, wobei sich das Konzept nicht auf Ethnizität allein bezieht. Siehe dazu beispielsweise Breinig/ Lösch (2006). 5 Dabei mag sie zwar beweglich Zwischenpositionen für sich selbst zelebrieren, bleibt sich aber der Tatsache bewusst, dass der marktwirtschaftlich geleitete Trend der Kommodiizierung kultureller Hybridität die Handlungsfähigkeit der einzelnen stark limitiert: «They say I’m a child of an AT&T café olé telephone commercial future where your nose is not lat enough to offend / and not pointy enough to cut the glass ceiling. Future child, that‘s me» (ebd.: 28). Dementsprechend präsentiert Lopez gerade kein utopisch-idealisiertes hybrides Neues, sondern vielmehr die Lust an der fortwährenden Verwandlung.

«Lopez‘ incongruous situating of this Carmen Miranda igure signals its disalignment from Latina stereotypes. Her conlation of images of the cowgirl, country-western music, and Latina women confounds our stereotypic expectations of Latina locations and activities. Positioned outdoors, alone, and conident, Tomato Rodriguez announces underrepresented possibilities of [...] agency and independence.» (Laffrado 2002: 411)

6 Siehe die Biograie von Martha Gil-Montero (1989).

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Die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit der Miranda/Tomato-Figur wird hier visuell in eine Kombination von Anglo Country-Outit und typischen Miranda-Attributen übersetzt. Der Zaun, auf dem die Figur sitzt, unterstützt dies in Form einer räumlichen Bildmetapher, indem er die Thematik des «Borderlands» hervorruft, die wohl wichtigste Metapher in der Latina- und Chicana-Literatur des späteren 20. Jahrhunderts. Als Tochter eines abwesenden puerto-ricanischen Vaters, mit dessen Erbe sich Tomato durch ihr Äußeres täglich konfrontiert sieht, und einer Anglo-Mutter, entwickelt sie während ihrer Reise in der Tat aus ihrer Zwischenposition ein Bewusstsein, das Gloria Anzaldúa (1987) mit «new mestiza» bezeichnet hat. Die neue Mestiza kann danach weder im Dies- noch im Jenseits der Grenzzone verortet werden und überschreitet kulturelle Dualismen: Dementsprechend ist Anzaldúas viel gerühmtes Konzept der Mestiza auch auf andere soziale Kategorien übertragbar. Anzaldúa, die das Konzept vor dem Hintergrund ihrer multiplen kulturellen Ausschlüsse als lesbische, wirtschaftlich unterprivilegierte Chicana sieht, zielt zwar auf eine inale Synthese auf Grundlage eines neuen Bewusstseins (ebd.: 80); zuvor muss die Mestiza jedoch lernen, konligierende Subjektpositionen auszuhalten. Das Aushalten der Widersprüche, das sich auch in Anzaldúas Schreibpraxis widerspiegelt (Yarbro-Bejarano 1995: 24), ermöglicht ihr erst, ein neues Paradigma mit erweiterten Analysekriterien zu denken, die der gelebten Erfahrung der Konvergenz von Ethnizität, sozialer Schicht und Gender Ausdruck verleihen:

zwar im Sinne des Aufbrechens von Begriffen kategorialer Reinheit, Authentizität oder Normalität. Daran schließt sich ein Verständnis von Queer an, welches das Analysepotenzial des Begriffes nicht auf Fragen der sexuellen Identiikation beschränkt (Hark 2005: 295). Ein solches lässt sich im Anschluss an die Forderung sehen, jene Dissonanzen in der Queer Theory mitzudenken, die aus multiplen Konigurationen sexueller Orientierung, Ethnizität, sozialer Schicht und Geschlecht entstehen; Eve Kosofsky Sedgwick und Michael Warner hatten dies bereits in den frühen 1990ern als größte Herausforderung der Queer Theory gesehen (Sedgwick 1990: X ; Warner 1993: VII). Wie Tomato, eine bikulturelle, bisexuelle Bikerin, die sich mit ihren verwirrten ethnischen und sexuellen Identiikationen einmal leicht-, dann wieder schwertut, kann Anzaldúas Mestiza als queere Pikara gedacht werden: als post-identitäre, performative Figuration, um gegen stereotype, repressive Bilder und die Angst anzugehen, «that she has no names / that she has many names / that she doesn‘t know her names / She has this fear that she‘s an image / that comes and goes» (Anzaldúa 1987: 43).Durch ihre queere Agenda und ihr Mestiza-Bewusstsein ist die multikulturelle Pikara mit dem Handwerkszeug ausgestattet, sich in Dissonanzräumen zu bewegen. Auf ähnliche Weise enttäuscht Flaming Iguanas die Idee eines kohärenten Subjekts insofern, als der Text vielmehr eine Reihe potenzieller Identiikationen öffnet (Laffrado 2002: 423; Solomon 2002: 209). Gleichzeitig bildet Tomatos Zwischenpositionierung eine Barriere, um ihre Geschichte als Latina zu erzählen (Laffrado 2002: 408); ihre disparaten Erzählstimmen erlauben Identitätsbildung lediglich im performativen Sinne. Performative Akte sind konstitutiv für Tomatos wechselnde Identiikationen: der oft wiederholte spanische Name ihres Schutzengels oder die wegrasierten Augenbrauen, die sich Jolene in dünnen schwarzen Linien immer wieder aufmalt, wie es die Puerto-Ricanerinnen in New York machen (Lopez 1997: 147). Das Latina self-fashioning wird fortgeführt, als Jolene sich geschlechtsneutral als Tomato neu erindet, und ebenso performativ wie der Name, der erst durch ihre vielfache Wiederholung Gültigkeit erlangt, sind ihr Faible für Latino-Essen (17, 63) zu lesen sowie für einzelne spanische Begriffe, die sie verwendet.7 Auch der

«To live in the borderlands means you are [...] caught in the crossire between camps [...] not knowing which side to turn to, run from; [...] it often produces a feeling of being torn between different subject positions.» (Anzaldúa 1987: 216) Die Topograie des Borderlands lässt multiple Ausschlüsse aufeinandertreffen als auch einen potenziellen Raum der Befreiung entstehen; die neue Mestiza konstituiert sich in der Wiederholung der Grenzenüberschreitung. Mestiza-Bewusstsein ist daher ein nie abgeschlossener Prozess, der multiple Stimmen und Positionen geschlechtlicher, sexueller und kultureller Differenzen miteinander konfrontiert. Als Alternativmodell zu dualistischen Entwürfen kultureller Zugehörigkeit kann das Mestiza- also durchaus als queeres Bewusstsein verstanden werden, und

7 Rohe Früchte und Gemüse, Grundzutaten der Latino-Küche, werden in der Latina/o-Literatur oft eingesetzt «to represent the elemental, sensual pleasure [...],

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Name ihrer Gang steht in diesem Zusammenhang. Tomato erklärt ihrer puerto-rikanischen Freundin Magdalena:

we‘ll be spitting out mango pits like fucking bullets if anyone says anything about our huge Latin American breasts.» (o.S.)

«I‘ve always wanted to be in a gang called Flaming Iguanas in honor of our lamboyant little South American brothers and sisters who are penned in like tiny lizard cows, but want to run free. All because the locals think they taste like chicken and take up less space. [...] Since they can‘t, we will run for them. Feel the ire of death and time nipping at our butts, making us run, live, and have no regrets. I bet you, cows and iguana food-prisoners have many regrets.» (20)

Dies ist eine deutliche Ansage des körperlichen Einsatzes, der Östrogen und Mangokerne als Waffen territorialer Erweiterung benutzt. Allerdings müssen wir in den ersten Kapiteln auch von den Schwierigkeiten im Zuge dieses «claiming space» erfahren: etwa Tomatos beinahe agoraphobische Angst vor der Reise – sie wünscht sich, sich ein Bein zu brechen, um nicht fahren zu müssen –, vor dem Alleinsein und vor Massenmördern und Vergewaltigern. Später entlarvt Tomato diese Ängste als Internalisierung großteils kultureller Diskurse, die Frauen an Heim und Herd zu binden versuchen:

Eine Analogie zwischen der Situation des Leguans (spanisch iguanas) und der US-Latinos ist hier impliziert, die auch Oscar Hijuelos (1992: XI) bemerkt hat, als Leguane oft unbemerkt unter Steinhaufen und Büschen sitzen und sich schnell ihrer Umgebung anpassen, um nicht zum Beutetier zu werden. Tomatos Obsession mit dem Leguan – sie trägt gerne einen riesigen grünen Hut, der sie laut Magdalena wie einen Leguan aussehen lässt – kann aber ebenso als satirische Metapher für queere Subjekte gedeutet werden, die sich in der heteronormativen Gesellschaft tarnen müssen, deren Verkleidungen aber auch ihre politische und epistemologische Stärke sind. Aber, so scheint Lopez zu implizieren, eine Politik der räumlichen Expansion und Bewegungsfreiheit ist ein unbedingtes Desiderat für die Leguane und Queers dieser Welt. Von dieser Motivation geleitet ist Tomatos Mission Statement im Prolog: «Magdalena and I are gonna cross America on two motorcycles. We‘re gonna be so fucking cool, mirrors and windows will break when we pass by. [...] [W]omen wearing pink foam curlers in passing RVs will desire us [...]. The sun wouldn‘t dare melt us because it would be a big, huge, major mistake. We‘ll be riding the cheapest motorcycles we can ind / stopping every forty-ive minutes for gas. Truck stop waitresses will wink and jam dollar bills in our happy little beautifully tanned ists, but we‘ll whisper ‹no thanks,› because we don‘t need it / we‘ll live off the fumes from our estrogen. And thus relating food and sexuality» (Martín-Rodriguez 2000: 44).

«There is this myth that if you’re a woman traveling alone people will instantly want to kill you. This is an example of where you shouldn’t listen to anybody. So much of the way we live and the decisions we make in this world are based on fear. [...] I highly doubt you’d ind a traveler pumping you full of psycho-killer fear. No. Only people who stay at home and watch too much TV will pump you full of that shit.» (111f.) Tomato ist dieser medialisierten «Geograie der Angst» (Valentine 1989) zwar unterworfen, widersetzt sich ihr aber, indem sie sich dem maskulinen Mythos der «open road» stellt und in performativer Wiederholung aneignet. Das Credo ihrer räumlichen Intervention lautet treffenderweise: «The louder you laugh and the farther apart you plant your feet, the more respect you‘ll get» (112). Der Anspruch auf Raum und Mobilität ist hier nicht mit dem räumlichen Separatismus vereinbar, der für die identitätspolitischen Agenden des feministischen/lesbischen oder auch Latino-Aktivismus der 1970er und 80er charakteristisch war (Enevold 2004: 87). So verqueert sie Mainstreamräume, statt ihnen Alternativzonen entgegenzusetzen, die auf dem versuchten Ausschluss des Hegemonialen beruhen. Dementsprechend gilt Tomatos Reiseinteresse nicht dem Naturraum, den sie durchquert und über dessen romantische Konnotationen sie sich lustig macht – einen Sonnenuntergang beschreibt sie mittels der «striated clouds [that] covered the purple sky like the stretch marks on my hips» (209). Vielmehr erzählt sie von verqueerten

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Konstellationen, denen sie begegnet: einer französischen Lesbe, die einen schwulen Mann geheiratet hat, um in Amerika bleiben zu können, und dessen Vorliebe für «straight guys» (ebd.), oder der lesbischen Witwe ihres Vaters, Hodie, mit der sie gegen Ende des Buches eine Affäre beginnt (219). Selbst amerikanische Park Ranger imaginiert sie als Teil einer versteckten queer nation «out for a quiet, unheterosexual fuck in the woods» (195). Tomato, die sich über feministische Manifeste im Bücherregal ihrer Mutter lustig macht – genannt werden u.a. Simone de Beauvoirs Second Sex und Ellen Frankforts Vaginal Politics (27) –, bleibt auch gegenüber dem Lesbisch-Sein als Identitätskategorie kritisch. Als sie ihre Mutter besucht, dekonstruiert der Text das romantische Bild, das Tomato von lesbischen Beziehungen hat, indem er es mit einer realen Alltagssituation aufhebt: «‹I‘m wondering if I should be a lesbian. You and Violet get along so well. You both are like friends, and well, that‘s what I want. Like you probably totally trust each other and stuff. I think it‘s a woman thing. You both really know how to be sensitive with each other.› (swoosh—bam!) Violet slid back the sliding glass door [...] and yelled across the deck. ‹Jane! I thought you were going to buy the turkey! Where’s the damn turkey?›» (173f.)

typen geprägt zu entlarven. Indem sie zum Beispiel stereotype Frauenbilder in unerwartete graische Kontexte einbettet oder diese Bilder verändert, verstört sie jene Stereotype. Sie interveniert in die Bildersprache weiblicher Fremdrepräsentation, sei es die Ikonograie der glücklichen Hausfrau der 1950er Jahre (44, 52), seien es lächelnde Cowgirls (70, 77), eine Nonne (96), Krankenschwester (98) und Cheerleaders (76), indem sie «unweibliche» Gesten wie Zigarettenrauchen, erhobene Finger und Fäuste (98, 231) einzeichnet oder schriftliche Aussagen wie «wish I‘d worn panties» (70) oder «Bullshit» (28) hinzufügt. Wiederholt werden auch verstörende Requisiten (zum Beispiel Waffen) und bildliche Kommentare beigefügt: So folgen etwa der glücklichen Hausfrau gefesselte Hände (44f.), die der Häuslichkeit einen bitteren Beigeschmack verleihen; durch antithetische Zusammenführung widersprüchlicher Bildelemente werden kulturelle Stereotype verunsichert. Eine weitere künstlerische Strategie ist die graische Darstellung von Fraueniguren, die ein Gegengewicht zu den klassischen Ikonen des «All-American Girl» darstellen: der Wikingerin (231), der uniformierten Bikerin, die laut lacht (189), oder Robert Crumbs Devil Girl (138, 182). Auf der letzten Seite legt das Devil Girl (235) einen Handstand auf ihrem Motorrad hin – darunter lesen wir «after». Die Tomato von «before» auf der ersten Seite des Buches hat sich in ein hypermobiles Teufelsgör verwandelt, das auf ihre akrobatische Leistung der Durchque(e)rung Amerikas stolz sein kann.

Am Morgen nach dem ersten Sex mit Hodie ist Tomato dann erleichtert: «I didn‘t feel like a member of a lesbian gang [...], didn‘t feel this urge to subscribe to lesbian magazines, wear lannel shirts, wave DOWN WITH THE PATRIARCHY signs in the air, or watch bad lesbian movies to see myself represented» (251). Zudem dissoziiert sie Sex, Gender und sexuelle Präferenz voneinander, als sie ihre Affäre mit einem Jungen aus der Nachbarschaft relektiert, mit dem sie bereits in Jugendtagen «lesbian sex» geübt habe (220; Solomon 2002: 210). Wiederum wird also eine Identitätskategorie – als objektiv und empirisch feststellbar, obwohl von einer Anzahl medialisierter Stereotypen überlagert – gegen die Offenheit und Unentschiedenheit wechselnder sexueller und persönlicher Verbindungen eingetauscht (ebd.: 212). Lopez’ visuelle und narrative Übertreibungen von Stereotypen sind Mittel zu dem Zweck, Identitätsdenken als von einengenden Stereo-

Lopez kann mit all diesen Strategien in einem breiteren künstlerischen Gegendiskurs verortet werden, in dem wir etwa auch Guillermo GómezPena und Coco Fusco inden, zwei der wichtigsten Performance-Künstler, die sich seit den späten 1980ern gegen die Vereinnahmung ethnischer Minderheiten durch dominante Diskurse wehren und eine performative Ästhetik entwickelt haben, die sich von klassischen Strategien minoritärer Repräsentationspolitik absetzt und wie Lopez Künstlichkeit und Fetischisierung der kategorisierten Welt in den Mittelpunkt rückt. In Summe verortet sich die Künstlerin mit ihrer multidimensionalen Textpolitik damit in einem Gegendiskurs, der Kategorisierung und Vereinnahmung ablehnt und die Macht des performativen Prozesses gegenüber einer traditionellen Repräsentationsästhetik betont; Identitätskrisen werden als Quelle queeren empowerments umgedacht. Während Lopez‘ «road novel-thing» bis zu einem gewissen Grad die Geschichte einer ho-

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mosexuellen Initiation erzählt, trotzt es der Teleologie vom Suchen und Finden persönlicher Identität, indem es zentrierte Essenzen mithilfe einer transgressiven Performativität entmachtet.

Lopez, Erika. Homepage der Autorin, [www.erikalopez.com] 4. 4. 2006] Martín-Rodriguez, Manuel M. (2000): The Raw and Who Cooked It. Food, Identity and Culture in U.S. Latino/a Literature, in: Lomelí/Ikas 2000, 37-51 Poey, Delia; Suárez, Virgil (eds.) (1992): Iguana Dreams. New Latino Fiction, New York Primeau, Ronald (1996): Romance of the Road. The Literature of the American Highway, Bowling Green Reinhart, Werner (2001): Pikareske Romane der 80er Jahre. Ronald Reagan und die Renaissance des politischen Erzählens in den USA, Tübingen Sedgwick, Eve Kosofsky (1990): Epistemology of the Closet, Berkeley Siegel, Kristi (ed.) (2004): Gender, Genre, and Identity in Women’s Travel Writing, New York Smith, Sidonie; Watson, Julia (eds.) (2002): Women – Autobiography – Image – Performance, Ann Arbor Solomon, Melissa (2002): Flaming Iguanas, Dalai Pandas, and Other Lesbian Bardos (a few perimeter points), in: Barber/Clark 2002, 201-216 Strobel, Katja (1998): Wandern, Mäandern, Erzählen. Die Pikara als Grenzgängerin des Subjekts, München Valentine, Gill (1989): The Geography of Women‘s Fear, in: Area 21/1989, 385-390 von Braun, Christina; Stephan, Inge (Hg.) (2005): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln Warner, Michael (1993): Introduction, in: Warner 1993, vii-xxxi Warner, Michael (ed.) (1993): Fear of a Queer Planet. Queer Politics and Social Theory, Minneapolis Wilkinson, Kathleen (2001): Hoochie Mama Hits the Road Again. Writer Erika Lopez Takes Us on an Eclectic Trip into Her Mind’s Eye, www.lesbiannews.com/2001/01_10.html [1. 5. 2006] Yarbro-Bejarano, Yvonne (1994): Gloria Anzaldúa‘s Borderlands / La frontera. Cultural Studies, «Difference», and the Non-Unitary Subject, in: Cultural Critique Fall/1994, 5-28

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teil ii mehr intersektionen queer studies, ökonomie und neoliberale V erhältnisse

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AntKe enGel ökonoqueer sexualität

und

ökonomie im neoliberalismus1

«In a world where what used to be considered the ‹private› is ever more commodiied and marketed, queer has become both an object of consumption, an object in which nonqueers invest their passions and purchasing power, and an object through which queers constitute their identities in our consumer-oriented globalized world.» (Cruz Malavé/Manalansan IV 2002: 1) Mit dieser Diagnose, die Arnaldo Cruz Malavé und Martin Manalansan IV in der Einleitung zu dem Tagungsband Queer Globalizations (2002) anbieten, verweisen die Herausgeber_innen nicht nur auf eine verbreitete Kommodiizierung von Queer (vgl. Pelligrini 2002), sondern deuten auch eine über den Markt vermittelte Allianz von queers und nonqueers an, der ich im Folgenden genauer nachgehen möchte.2 Was kennzeichnet den Prozess, in dem Menschen von unterschiedlichen sozialen Positionen aus ökonomisch und affektiv in Queer investieren? Löst sich hierbei die klare Unterscheidbarkeit und hierarchische Opposition unterschiedlicher geschlechtlich/sexueller Lebensweisen auf? Warum werden im Zitat dennoch zwei Identitätspositionen einander gegenübergestellt und miteinander verbunden, obwohl im Kontext der Queer Theory vielfach betont wird, dass queer eher als widersprüchliche Komplexi1 Vielen Dank an Luca di Blasi für die Titel-Inspiration. 2 Hierbei knüpfe ich an Lisa Duggan (2003) an, die den Begriff der Allianzbildung vorschlägt, um eine hegemonietheoretische Perspektive einzuführen, die erklären kann, wie neoliberale Transformationen dadurch breite Zustimmung gewinnen, dass unterschiedliche Interessen über die Ausrichtung an einem gemeinsamen Wert, hier: der Markt, scheinbar miteinander vermittelt werden. «Allianzbildung» und «Zustimmung» werden hierbei nicht unbedingt als bewusste Entscheidungen verstanden, sondern können auch durch Alltagspraxen oder die Beteilung am sozialen common sense zustande kommen (vgl. a. Laclau/Mouffe 1991; Ludwig 2006).

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tät und vorübergehendes Ergebnis umkämpfter Aushandlungen denn als Beschreibung von Personen, Gruppen oder Praxen zu verstehen sei (vgl. ebd.: 3f.; Jagose 2001; Engel 2002: 40; Gerbig 2007)? Und welche gesellschafts- und wirtschaftspolitische Funktion hat die Allianz, die der Markt hier angeblich stiftet?3 Meine These ist, dass sich dank derartiger Allianzbildungen in spätmodernen, kapitalistischen Gesellschaften ein neuer hegemonialer Konsens herausbildet, der eine breite politische Zustimmung zu neoliberalen gesellschaftlichen Transformationen sichert (vgl. Engel 2007). Die Allianzen bilden sich entlang einer positiven Neubewertung von Differenz heraus. Dort, wo vormals Abwehr oder Assimilation propagiert wurde, werden nun Differenzen als kulturelles Kapital codiert und als Ressourcen integriert. Ökonomische Verwertungsinteressen unterstützen demnach, dass Differenz/en nicht als das «ganz andere», nicht als stabile Bedeutungs- oder Identitätseinheiten, sondern als Ambiguität oder Hybridität gedeutet und «im Eigenen» nicht nur gefunden, sondern geradezu gesucht werden. Kien Nghi Ha (2005) hat dies im Hinblick auf die ökonomische Integration von Migrierten argumentiert, und die Zweischneidigkeit dessen, was er den Hype um Hybridität nennt, herausgestellt, nämlich den Beitrag zur Überwindung identitätslogischer Vereinheitlichungen und Ausschlüsse einerseits und die Wirkung als Modernisierungseffekt eines Machtdiskurses, der Diversität auszubeuten gelernt hat, andererseits (ebd.: 55ff.).4 Queere Ansätze sind insofern anschlussfähig, als Differenz/en nicht als essentielle Gegebenheiten, sondern als Ergebnis von Differenzierungs- und Konstruktionsprozessen verstanden werden. Indem bestimmte vormals marginalisierte soziale Positionen in den Mainstream eingeladen werden, wird Zustimmung zu neoliberalen

Transformationen gewonnen, die, so der zweite Teil meiner These, maßgeblich über Sexualität vermittelt ist. Diese Vermittlung erfolgt zum einen darüber, dass hegemoniale soziale Institutionen als Anerkennungsinstanzen wirken, die regulieren, welche sexuellen Selbstverständnisse und Praxen auch soziale Existenz und kulturelle Verstehbarkeit reklamieren können. Zum anderen werden positive affektive Investitionen in Differenz, die spätmoderne neoliberale Transformationsprozesse kennzeichnen, durch Prozesse des Begehrens angeleitet.5 Eine Afinität des neoliberalen Diskurses zur Pluralisierung geschlechtlicher und sexueller Lebensformen lässt sich demnach nicht allein damit erklären, dass postfordistischer Konsumkapitalismus immer neue Wünsche und Konsument_innengruppen erschließen muss, um ökonomisches Wachstum zu sichern (vgl. Evans 2000; Hennessy 2000), sondern auch damit, dass eine Lust an Differenz/en durch die Afirmation «queerer» Sexualitäten forciert werden kann. Im Folgenden möchte ich zunächst eine Alternative zu der ökonomistischen Auffassung formulieren, dass sexualpolitische und queere Bewegungen von neoliberalen Entwicklungen vereinnahmt worden sind. Wenn die Ambiguität von neoliberalen Befreiungsversprechen und Individualisierungszwängen als Ressource widerständiger Praxen betrachtet wird, bleibt das kritische Potenzial dieser Bewegungen vielmehr erhalten. In diesem Zusammenhang gilt es, kulturelle Politiken als entscheidende Faktoren ökonomischer Transformationen – sowohl der Durchsetzung neoliberaler Verhältnisse als auch ihrer Anfechtung – zu verstehen. Dieses Argument soll in einem zweiten Schritt insbesondere in seinen Auswirkungen auf neoliberale Eigenverantwortungs- und Individua-

3 Des Weiteren wäre zu fragen, was mit dem vormals «Privaten» gemeint ist und warum suggeriert wird, dass Sexualität vor der Kommodiizierung «privat» war, obwohl feministische Bewegungen zeigen, dass das angeblich Private politisch reguliert, konstitutiv für gesellschaftliche Machtverhältnisse und politisierbar ist sowie queer-politische Bewegungen sich dafür einsetzen, dass Geschlecht und Sexualität jenseits von Heteronormalisierung und Gewalt «öffentlich» gelebt werden können. 4 Vgl. Gutiérrez-Rodríguez (2007), die diese Ambivalenz im Hinblick auf das Konzept der Multitude durchspielt und auslotet, unter welchen Umständen es Differenz im Sinne sozialer Ungleichheit entnennt.

5 Hierbei kann Begehren durchaus unterschiedliches meinen: Es kann gemäß einer hegelschen Herr-Knecht-Dynamik gestaltet sein, die Begehren (Begierde) darin ausdrückt, dass die dominante Position die untergeordnete anerkennt, um der eigenen Abhängigkeit «Herr» zu werden (vgl. Butler 2004). Psychoanalytische Ansätze verstehen Begehren als phantasmatische Wunscherfüllung, das heißt sexualisierte Zeichen oder Objekte stehen für ein angeblich verlorenes, fortwährend erstrebtes, nie erreichbares Befriedigungserlebnis und erlauben es, ökonomische und sexuelle Wünsche zu verschalten. Oder Begehren formiert sich als Bewegung, die Verbindungen stiftet, gemäß den komplexen, historisch kontingenten Bedingungen, die die Kontexte dieser Bewegungen ausmachen – was gleichermaßen strikte heteronormative Gesetze oder auch lexible Individualitätsgebote meinen kann (vgl. Probyn 1996).

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lisierungsdiskurse durchgespielt werden. Insofern diese mit dem Versprechen der Befreiung von repressiven Regulierungen einhergehen, sind sie besonders geeignet, sexualpolitische und queere Positionen zu adressieren. Entscheidend erscheint mir jedoch, dass erst über die Kombination von Individualisierungs- und Verantwortungsdiskursen Allianzbildungsprozesse ermöglicht werden, die eine breite Zustimmung zu privatisierter Freiheit jenseits sozialer Gerechtigkeit gewährleisten sollen. In einem dritten Schritt werden die dabei auftretenden Entpolitisierungsprozesse problematisiert und die Möglichkeiten erörtert, einen herrschaftskritischen Umgang mit den paradoxen Anforderungen neoliberaler Diskurse zu entwickeln. Hierbei wird die Bedeutung ausgelotet, die Sexualität, Lust und libidinösen Investitionen hinsichtlich queerer kultureller Politiken zukommt, um dann schließlich in einem vierten Schritt wirtschaftspolitische Perspektiven in den Blick zu nehmen, die von dem Wunsch geleitet sind, kapitalistische, heteronormative und postkoloniale Herrschaftsverhältnisse in ihrer komplexen Verwobenheit anzufechten.

produzieren, indem die Analyse zur einen oder anderen Seite hin aufgelöst wird.6 Volker Woltersdorff (2007) tritt einem ökonomistischen Argument der neoliberalen Vereinahmung sexualpolitischer Bewegungen entgegen, indem er zeigt, wie aus den Ambivalenzen neoliberaler Umstrukturierungen widerständige Praxen und produktive Unstimmigkeiten erwachsen. Während Volkmar Sigusch (2005) mit dem Begriff Neosexualitäten die erfolgreiche Durchsetzung neoliberaler Markt- und Kommodiizierungslogik im Feld von Sexualität und Sexuellem bezeichnet7, arbeitet Woltersdorff heraus, wie sich unter Bedingungen neoliberaler Prekarisierung queere Care-Relationen und solidarische und/oder polyamouröse Netzwerke ausbilden. Wo Sigusch ich-zentrierten Selfsex, warenförmige Körper und rationalisierte Lean Sexuality beklagt (und damit ironischerweise seinerseits hippe, vermarktbare Begriffe prägt), hebt Woltersdorff hervor, dass komplexe Durchquerungen sozialer Plätze (Lorenz 2007) unerwartete Antworten auf paradoxe neoliberale Anforderungen produzieren, wie lexibilisierte und traditionelle Geschlechterrollen gleichzeitig aktiviert werden (Pühl 2003) oder im SM-Rollenspiel Umarbeitungen neoliberaler Macht- und Herrschaftseffekte erfolgen.8 Eine kritische Auseinandersetzung mit Neoliberalismus kann gleichermaßen von diskursiven Formationen ausgehen oder die Kritik an speziischen ökonomischen Maßnahmen oder politischen Entscheidungen ausrichten. Unabhängig davon, ob beispielsweise das Individualisierungsparadigma und die damit einhergehende Ideologie der Eigenverantwortung oder ob eine Leitzinssenkung oder die Umstrukturierung der Sozialversicherung in den Blick genommen werden, lassen sich semiotische und materielle Dimensionen nicht auseinanderdividieren, sondern bilden das aus, was Foucault einen Macht/Wissen-Komplex

Ambivalenzen neoliberaler Umstrukturierungen und queere kulturelle Politiken Neoliberale politische und ökonomische Maßnahmen bewirken eine systematische Umverteilung von Kapital und Ressourcen nach oben. Hierbei geht es nicht einzig darum, Proitraten zu steigern, sondern diese gemäß herkunfts- und leistungsorientierter statt sozialer Kriterien zu verteilen (Ernst 2005; Groß/Winker 2007). Die Prinzipien der Eigenverantwortung und des Leistungsindividualismus rechtfertigen den Abbau von Sozialleistungen, kulturellen Institutionen und öffentlichen Räumen ebenso wie das, was Duggan «downsizing of democracy» (2003: 1) nennt. Effekt ist, dass die Schere ökonomischer Ungleichheit zunehmend weiter aufklappt (Kreisky 2001; Duggan 2003). Wo also einerseits die Anerkennung von Differenz/en zu verzeichnen ist, kommt es andererseits zu einer Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. Um zu verstehen, wie die Einbindung marginalisierter sozialer Positionen in neoliberale Herrschaftsverhältnisse erfolgt, gilt es, die paradoxe Zweideutigkeit von Befreiungsversprechen und Zwangsverhältnissen wahrzunehmen, statt zu versuchen, eine politische Vereindeutigung zu

6 Gabriele Michalitsch (2006) und Katharina Pühl (2003) heben diesbezüglich aus feministischer Perspektive hervor, wie Frauen Individualisierungsgewinne erzielen, indem sie die neoliberale Figur der «Unternehmerin ihrer selbst» aufgreifen, während auf sozio-struktureller Ebene gleichzeitig eine Verstärkung traditioneller Geschlechterhierarchien erfolgt (vgl. Ludwig 2006). 7 Sigusch (2005) bezeichnet mit Sexualität die Dimension sozio-diskursiver Strukturierung und Regulierung und mit dem Sexuellen die Dimension der Körperpraxen, Begehrensweisen und Subjektivitäten (ebd.: 168). 8 Mit dem Betonen der Produktivität der Ambivalenz unterscheidet sich Woltersdorff von Wagenknecht (2003), der darauf setzt, die «wirklichen» Widersprüche hinter den kulturell-ästhetischen Ambivalenzen offenzulegen (ebd.: 219).

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oder ein Dispositiv der Macht nennt. Dementsprechend ist Ökonomie ein kulturelles Phänomen, das kulturwissenschaftlicher Analysen gebührt, ebenso wie es ein Interventionsfeld kultureller Politiken darstellt (vgl. Butler 1998; Duggan 2003; Ruccio 2007). So formuliert Lisa Duggan:

machen. Entsprechend behaupten die neoliberalen Diskurse eine Konvergenz oder quasi natürliche Stimmigkeit von sexuellem Pluralismus und Marktpluralismus, von sexueller Freiheit und Marktfreiheit. Diese Konvergenz geht allerdings damit einher, dass Sexualität zu ihrem Florieren in die Sphäre des Persönlichen verwiesen wird; ähnlich wie die Wirtschaft von staatlichen Eingriffen befreit endlich ungebremst der kapitalistischen Proitlogik folgen könne. So inden sich engagierte Plädoyers für sexuelle Selbstbestimmung und staatliche Neutralität bezüglich der Geschehnisse in privaten oder privatwirtschaftlichen Schlafzimmern (Sullivan 1996; Caplan 1997). Zugleich kann aus dieser Perspektive jede öffentliche, sei es kulturelle, pädagogische, wissenschaftliche oder rechtliche, Unterstützung divergenter geschlechtlicher und sexueller Lebensformen abgelehnt werden (vgl. Duggan 2003: 22ff.). Hinsichtlich der neoliberalen Allianzangebote spricht Volker Woltersdorff davon, dass Klischeebilder von Schwulen als Idealiguren neoliberaler Transformation geschaffen werden: «[...] zeitgenössische Medienberichte und Politikstrategien versuchen Schwule (und in geringerem Maße auch Lesben) und den ihnen zugeschriebenen gay lifestyle als Musterschüler des Neoliberalismus und als prestigeträchtige Konsum-Avantgarde in die Mitte der Gesellschaft einzuschreiben» (2004: 146). Propagiert wird hiermit eine Vision privatisierter Freiheit jenseits politischer Kämpfe um sozio-ökonomische Gerechtigkeit (Duggan 2003: xviiiff.). Mediendarstellungen präsentieren «Homos» aber mitnichten einzig als das hippe, autonome, allein der Arbeit und dem Konsum verschriebene Subjekt, das als einsamer Held, Manager, Star seinen Erfolgen frönt. Vielmehr inden sich zahlreiche Repräsentationen von schwulen oder lesbischen Paaren, Freundeskreisen oder Familien, die einander umsorgen und nähren, in denen Unterstützung geleistet oder Kompetenzen vermittelt werden. Der neoliberale Diskurs des Sexuellen zeichnet sich durch eine paradoxe Verbindung von Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit aus. Parallel zu Forderungen nach sexueller Selbstbestimmung werden Ideale der Treue, der Sorge und Verantwortung in Paar- und Familienkonstellationen aktiviert (vgl. Engel 2005). Es ist also nicht einfach die Individualisierungsnorm, sondern das Kombinieren von Autonomie und Bindung, das den neoliberalen Zugriff auf das Sexuelle kennzeichnet.

«There’s no sense in which you can ever talk about how people relate to the notion of their economic interests without taking into account the vocabulary, concepts, institutions and the whole cultural context.» (Duggan 2005, Interview with Elena Mora) In ihrem Buch The Twilight of Equality (2003) befasst sich Duggan aus queer/feministischer Perspektive mit der Durchsetzung neoliberaler Politiken in den USA und den Bedingungen politischen Widerstands bzw. der Umsetzung alternativer sozio-ökonomischer und politischer Räume und Öffentlichkeiten. Sie vertritt die These, dass der «Erfolg» neoliberaler Politiken maßgeblich auf einen geschickten Einsatz kultureller Politiken vonseiten der Rechten zurückgeht – kombiniert mit einer parallel dazu verbreiteten Skepsis linker politischer Kreise gegenüber Politiken, die symbolische Praxen und Strategien öffentlicher und medialer Repräsentation zum Ausgangspunkt nehmen. Es sei ein fataler Fehler, darauf zu verzichten, die systematische Umverteilung nach oben, die Duggan als Charakteristikum neoliberaler Transformation kennzeichnet, auf ein materielles Problem zu reduzieren, statt zu analysieren, wie sie mittels kultureller Politiken durchgesetzt worden sei, und wie sie dementsprechend durch symbolisch-kulturelle Strategien gekontert werden könne. Neoliberaler Individualisierungsdiskurs und Privatisierung der Verantwortung Eigenverantwortungs- und Individualisierungsdiskurse spielen eine entscheidende Rolle, um Zustimmung zu neoliberalen Transformationen zu gewinnen. Diese Diskurse unterstützen eine Pluralisierung sexueller Subjektivitäten und Lebensformen deshalb, weil diese eine Ideologie der freien Gestaltbarkeit des eigenen Lebens versinnbildlichen können. Insofern diese Gestaltungsmacht als «Befreiung von repressiven Regulierungen» gepriesen wird, dient sie dazu, gesellschaftliche Verantwortung in Eigenverantwortung zu übersetzen und Zustimmung zum Leistungsprinzip sowie zum Abbau sozialstaatlicher Absicherung schmackhaft zu

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Entsprechend stellt sich bezogen auf Reproduktions- und Sorgearbeit aus queer/feministischer Perspektive nicht nur die Frage, wer diese Arbeit leistet, das heißt, ob hierbei die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung angefochten wird (Winker 2007), ob Lesben und Schwule diesbezüglich egalitärere Praxen an den Tag legen (Klesse 2006), wer es sich leisten kann, diese Arbeiten kommerziell auszulagern und welche rassistisch unterlegten Ausbeutungsformen hierbei zum Tragen kommen (Englert 2007), sondern auch, inwiefern Care ausgespielt wird gegen die Individualisierungsnorm, und wer dafür einsteht, die paradoxen Anforderungen von Individualisierung und Care zu bewältigen oder gar virtuos zu managen.9 Die Merkmale der Allianzbildungsprozesse können gut an Repräsentationen abgelesen werden, in denen Schwule und Lesben diese widerstreitenden Anforderungen produktiv zu wenden versuchen (vgl. Engel 2007). Kommerzielle Werbung oder politische Diversity-Verlautbarungen arbeiten hierbei häuig mit einer Strategie der doppelten Adressierung, die Homos feiert, denen es gelingt, Individualisierung und sorgende Verantwortung miteinander zu vereinbaren, und Heteros anfeuert, dahinter nicht zurückzustehen. Während Erstere ob dieser vorgeblichen Fertigkeit mit einem Integrationsversprechen belohnt werden, wird den Zweiten suggeriert, sie könnten ein normgerechtes Dasein mit einem Hauch gewagten sexuellen Lifestyles schmücken. Um die Allianz nicht zu gefährden, sind heteronormative Paar- und Familienwerte jedoch zu bestätigen, schwule Körper und Lebensformen zu desexualisieren und lesbische in heteronormative Muster weiblicher Erotik einzupassen.

Leistung, aber auch gänzlich dem Konsum und der Freizeit zu verschreiben, Anpassungsvermögen und individuelle Besonderheit zugleich unter Beweis zu stellen oder Identitätsfragen zwar als Privatangelegenheiten zu verstehen, sich aber permanent öffentlich zu präsentieren. Die Herausforderung liegt nun nicht in den Paradoxien als solchen, sondern darin, dass sie die Einzelnen mit der Aufgabe konfrontieren, das, was als sozio-ökonomische Widersprüche politisiert werden könnte, individuell zu bearbeiten und als Erfolg versprechende Herausforderung eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebens zu verstehen (Genschel 1996; Wagenknecht 2003). Die neoliberale Botschaft lautet, dass die paradoxen Anforderungen nicht als Hinweis auf gesellschaftliche Widersprüche und Interessengegensätze zu lesen sind, die politisch auszufechten wären, sondern als Nebeneffekte liberaler Individualisierung und Pluralisierung oder, besser noch, als anthropologische Gegebenheiten: So wird in den Medien wieder verstärkt mit «biologischer Geschlechterdifferenz» oder einem «natürlichen» Gegensatz zwischen Liebes-, Sorge- und Familienbeziehungen auf der einen und instrumentell-utilitaristischen Marktbeziehungen auf der anderen Seite argumentiert. Paradoxe Anforderungen dienen der Aktivierung persönlicher Ressourcen und Kompetenzen, nicht der Politisierung geteilter Herrschaftserfahrungen. In diesem Sinne beruht die hegemoniale Konsensproduktion zum einen auf einem Feiern von Differenz und zum anderen auf einem Harmonisierungsversprechen, das den Einzelnen suggeriert, die Paradoxien seien handhabbar und entsprechend virtuoses Paradoxie-Management garantiere gesellschaftliche Normalisierung und Integration. Es werden also individuelle Praxen des Paradoxie-Managements oder der Lust am Paradox gefordert. Sexualität – von Foucault als Scharnier zwischen Individuen und Bevölkerung bezeichnet – fungiert hierbei als Selbst- und Herrschaftstechnologie, die paradoxe Anforderungen durch eine affektive Auladung mit Liebe, Lust und Begehren miteinander zu vereinbaren trachtet (Illouz 2003; Sigusch 2005; Lorenz 2007). Doch lassen sich diese Anforderungen durchaus auch politisieren: Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz (1999) nennen den Aufwand, der erfüllt werden muss, um diese Vereinbarkeit herzustellen, sexuelle Arbeit. Diese bestehe oftmals darin, «Durchquerungen» widersprüchlicher sozialer Positionen zu leisten (Lorenz 2007).

Ent/Politisierung paradoxer Anrufungen und Anforderungen Neben der Anforderung, Autonomie und Bindung miteinander zu vereinbaren, kennzeichnen den neoliberalen Diskurs noch eine Reihe weiterer paradoxer Anforderungen, die ebenfalls unter Bezugnahme aufs Sexuelle ins Spiel gebracht werden. Es wird verlangt, sich gänzlich der 9 Kathrin Ganz (2007) weist in einer kritischen Auseinandersetzung mit Familien- und Lebensformenpolitik darauf hin, dass die neoliberale Verlagerung vom gesellschaftlichen Solidarprinzip auf persönliche Loyalitätsbezüge eine ungewollte Parallele in den queer/feministischen Vorschlägen indet, die Absicherung sozialer Risiken über community- oder haushaltsgestützte Strukturen zu leisten.

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Der Begriff der sexuellen Arbeit unterzieht die Verständnisse von Produktions- und Reproduktionsarbeit, von Öffentlichkeit und Privatheit, von Subjektivität und Herrschaft einer grundlegenden Umarbeitung, indem die Trennung von Arbeit und Sexualität infrage gestellt wird. Sexuelle Arbeit, die sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause geleistet wird, iniziert das Zuhause mit vertraglich-monetären Tauschverhältnissen und entdeckt das Emotionale und Persönliche in den Beschäftigungsverhältnissen. Das Argument ist ein doppeltes: Die Arbeitsverhältnisse benötigen für ihr Funktionieren ein bestimmtes Maß sexueller Arbeit, und diese sexuelle Arbeit wirkt gleichzeitig subjektkonstituierend, insofern sie die Individuen aktiv und in enger Verbindung zu ihren emotionalen und sozialen Fertigkeiten beteiligt. Somit erlaubt der Begriff, den Blick darauf zu richten, wie Subjektivitäten die sozio-ökonomischen Transformationsprozesse stützen, ruft diese jedoch zugleich als potenziell widerständige Akteur_innen ins Geschehen. Während die neoliberale Ideologie die Paradoxie zwischen Autonomie und Bindung als private Aufgabe der Individuen auffasst, nehmen Boudry, Kuster und Lorenz die gegenteilige Bewegung vor: Sie holen die unbenannte sexuelle Arbeit ins Feld öffentlicher Sichtbarkeit. Eine Politisierung neoliberaler Paradoxien kann demnach durchaus bedeuten, diese nicht aufzulösen oder in klar geschiedene Interessengegensätze zu übersetzen, sondern die Lust am Paradox auf ihre herrschaftskritischen Potenziale auszuloten. So argumentiert Christoph Holzhey (2001), dass gerade dann, wenn nicht versucht wird, das Paradox zur einen oder anderen Seite aufzulösen, die Beteilung an Herrschaftsverhältnissen und die Praxen der Einarbeitung in diese erfahrbar und damit aber auch veränderbar werden können. Mit Holzhey lässt sich in der Lust am Paradox ein «Paradox der Lust», also eine Gleichzeitigkeit und Unentscheidbarkeit von Lust und Schmerz, entdecken. Herrschaftskritisch wäre es interessant zu fragen, inwiefern dies in der Ambiguität von neoliberalen Befreiungsversprechen und Zwangsverhältnissen wirksam wird, und inwiefern die nicht-totalisierenden Ästhetiken und Ethiken, die sich für Holzey aus einer Anerkennung differenter, paradoxer Lüste (delectic difference) ergeben, eine Transformation neoliberaler ökonomischer Verhältnisse inspirieren können. Mit «sexueller Arbeit» und «paradoxer Lust» stehen zwei analytisch/ kritische Konzepte zur Verfügung, die den Blick auf Sexualität richten,

um die sozio-kulturelle Produktivität neoliberaler Paradoxien zu analysieren. Insofern die Produktivität sowohl im Hinblick auf Herrschaftsals auch auf Widerstandsprozesse diagnostiziert und deren konstitutive Verlechtung betont wird, geht es aus Perspektive beider Ansätze nicht um eine Aulösung der Paradoxien. Vielmehr wird gerade im Aufrechterhalten der Spannung die Möglichkeit gesehen, Totalisierungen und normative Schließungen zu vermeiden und damit Bedingungen für (politische) Transformationsprozesse zu schaffen. Ökonomische Diversität als Effekt von Imagination, Experiment und Begehren Doch auch wenn das Aufrechterhalten von Paradoxien aus queerer Perspektive sinnvoll erscheint (vgl. Engel 2009), wird doch die damit einhergehende Ambiguität im Hinblick auf politische Praxen vielfach als problematisch angesehen, da Ambiguität bedeutet, dass Entscheidungen vermieden werden. Es fragt sich jedoch, ob dies unbedingt als «verwerflich» anzusehen ist: Kann es nicht unter gewissen Umständen produktiv sein, eingespielte Entscheidungsmechanismen zu verweigern, eine gewisse Ungewissheit oder einen Aufschub einzuführen? Kann die Konfrontation mit der Unentscheidbarkeit einen neuen Bedingungsrahmen schaffen, um Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen, die durch keinen konventionalisierten Kontext abgesichert sind? An diesem Punkt setzen J. K. Gibson-Graham (2005)10 ihre Politiken des Möglichen (politics of possibility) an, um entgegen dem normativen Rahmen einer angeblich allumfassenden kapitalistischen Globalisierung Raum für ökonomische Diversität zu schaffen. Schon 1996 hatten sie mit ihrem Buch The End of Capitalism (as we know it) betont: «The question is, how we begin to see this monolithic and homogenous Capitalism not as our ‹reality› but as a fantasy of wholeness, one that operates to obscure diversity and disunity in the economy and society alike» (1996: 260). Da kapitalistische Wirtschaftsprozesse zum einen auf Ausbeutung beruhen und zum anderen Integrationschancen differenziell verteilen, sodass neue Hierarchien und Ausschlüsse entstehen, heben Gibson-Graham die Bedeutung alternativer ökonomischer Praxen hervor. Nicht-kapitalorientierte Formen des Wirtschaftens, die darauf setzen, den Mehrwert 10 J. K. Gibson-Graham sind zwei Wissenschaftlerinnen, die unter einem Namen als kollektives Autorsubjekt publizieren.

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kollektiv statt privat einzusetzen, sind laut Gibson-Graham keine Utopie, sondern existieren bereits, auch wenn sie angesichts der dominanten Auffassung, es gebe keine Alternative zum kapitalistischen System mehr, der Wahrnehmung entzogen sind (2006: 60ff.). Aus der Weigerung, die schicksalhafte Unterwerfung unter kapitalistische Sachzwänge anzunehmen, entsteht ihrer Meinung nach überhaupt erst wieder die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. In ihrem Denkmodell werden solche Entscheidungen auf drei ineinandergreifenden Ebenen getroffen, und zwar als Entwicklung anderer Vorstellungen, als Experimentieren aus dem Hier und Jetzt heraus und als Nutzung von Selbsttechnologien als Praxen zur Veränderung des eigenen Denkens und Handelns: «to widen the ield of economic possibilities, the self-cultivation of subjects (including ourselves) who can desire and enact other economies, and the collaborative pursuit of economic experimentation» (ebd.: xxiii). Sie bezeichnen die Praxen der Imagination und des Experiments als queering economy, und zwar deshalb, weil die Bewegungen der Veränderung durch Begehren gespeist werden:

Diese allerdings entfaltet performativ Produktivität, in der sich – und hier wird eine Klassenperspektive stark gemacht – Prozesse des «becoming community» und der Ausbildung einer «communal class subjectivity» (ebd.: 16ff.) vollziehen. Entscheidend ist, dass die hier aufgerufene Gemeinschaftsvorstellung auf Heterogenität gründet und Andersheiten anerkennt, was zudem als Bedingung für die Entwicklung heterogener Ökonomien formuliert wird:

«A language of economic difference [diverse economies, A. E.] has the potential to offer new subject positions and prompt novel identiications, multiplying economic energies and desires. But the realization of this potential is by no means automatic. Capitalism is not just an economic signiier that can be displaced through deconstruction and the proliferation of signs. Rather, it is where the libidinal investment is.» (ebd.: xxxv) Gibson-Graham konzeptualisieren Sexualität, Begehren und libidinöse Investition also keinesfalls nur als Antrieb oder Schmiere kapitalistischer Prozesse, sondern auch als Katalysator neuer, diverser postkapitalistischer Ökonomien. Unklar bleibt allerdings, was es rechtfertigt, diese Prozesse als queering und nicht einfach als De-Essentialisierung und Diversiizierung zu bezeichnen. Der Begriff des Begehrens, den sie zum Einsatz bringen, ist weitgehend desexualisiert und verweist eher auf eine bewegende, vielleicht vitalistische Kraft, in die Neugier und Veränderung einließen: «the potential of the subject to be other, the potential for unexpected changes of direction» (ebd.: 13) oder «an enticing quality of wonder as awareness of and delight in otherness» (ebd.: 20).

«In constructing a discourse and a practice of the community economy, what if we where to resist the pull of the sameness or commonness of the economic being and instead focus on a notion of economic being-in-common? [...] We might specify coordinates for negotiating and exploring interdependence, rather than attempting to realize an ideal.» (ebd.: 86) Doch wie können die Verhandlungen um Ressourcen, Wünsche und die Organisation ökonomischer Praxen so geführt werden, dass sie nicht durch soziale Hierarchien, Machtdifferenzen und Herrschaftskonstellationen deiniert sind? Zwei Leerstellen erscheinen mir in Gibson-Grahams Ansatz signiikant und erfordern queer theoretisches Weiterdenken. Heterogenität ist für sich genommen keine überzeugende Perspektive, wenn sie nicht mit Prozessen der Enthierarchisierung verbunden wird (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2007). Diesbezüglich ist zweifelhaft, ob Begehren als eine neutrale Kraft gedacht werden kann oder ob es nicht vielmehr notwendig ist, herauszustellen, ob und wie Begehren in heteronormative, rassistische und klassenbezogene Herrschaftsformationen verwickelt ist und zu deren Reproduktion beiträgt (vgl. Wagenknecht 2003; Cohen 2005). Eine entscheidende Herausforderung besteht dann darin, Strategien dafür zu entwickeln, wie «andere» Wünsche entstehen können. Bezüglich der Herausbildung postkapitalistischer Ökonomien heben Gibson-Graham hervor, dass es darum geht, Mehrwertproduktion weder für die kapitalistische Akkumulation noch allein für den persönlichen Konsum zu verwenden, sondern in das Gemeinwohl (the commons) zu investieren. Hier zeigt sich die zweite Leerstelle in GibsonGrahams Ansatz, insofern sie nicht damit umgehen, dass die Wünsche und Interessen, die Einzelne bezüglich dieses Gemeinwohls entwickeln, auch durch heteronormative Macht- und Herrschaftsverhältnisse ge-

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formt sind (vgl. Bentrup 2007). Queering economy müsste entsprechend auch heißen, Wünsche zu begünstigen, die heteronormative Begehrensrelationen sowie Paar- und Verwandtschaftskonstruktionen untergraben. Während diese Perspektive in Gibson-Grahams Modell leider unthematisiert bleibt, legen sie jedoch einen Fokus auf die Nord-Süd-Differenzen globalisierter Ökonomien und betonen die Bedeutung postkolonialer Kämpfe. Anhand verschiedener Beispiele machen sie deutlich, wie aus Positionen der Prekarität und der Subalternität heraus, so sie miteinander verlochten werden, produktiv agiert werden kann und sich postkapitalistische Formen des Wirtschaftens entwickeln (2006: 169ff.). Ressourcen und Kompetenzen, die unter prekären Verhältnissen erworben werden, können der kapitalistischen Akkumulation und Konsumption entzogen und in subalterne Kontexte eingespeist werden, was mir durchaus auch für queeres Leben relevant erscheint. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Gibson-Graham und María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2007), die fordern, die Zusammenhänge von Subalternität und Prekarität zu untersuchen (vgl. ebd.: 15). Sie bezeichnen im Anschluss an Spivak (1988) diejenigen als Subalterne, die abseits kapitalistischer Produktions- und Tauschverhältnisse (zum Beispiel in der Subsistenzproduktion) leben, die nicht über die Kapazitäten und Ressourcen verfügen, um an zivilgesellschaftlicher Kommunikation und Mobilität teilzunehmen, und entsprechend politisch nicht organisiert sind. Positionen der Prekarität seien hingegen – wenn auch negativ – durch kapitalistische Strukturen deiniert und würden selbst für Illegalisierte noch eine bestimmte Einbindung und teilweise auch politische Interessenvertretung beinhalten:

entstehen, wenn diese Konzepte von relativ privilegierten Positionen aus in Form von Selbstprekarisierungen und Selbstsubalternisierungen angeeignet würden (ebd.). Werden hingegen die sozio-ökonomischen Prozesse untersucht, durch die die Existenzweisen von Subalternen und Prekarisierten, Ausgeschlossenen und bedingt Eingeschlossenen deiniert werden, und wird gefragt, wo Zusammenhänge, Unterschiede und Überlappungen bestehen, so wird einerseits eine homogenisierende Wir-Konstruktion vermieden, andererseits wird deutlich, dass subalterne Kontexte nicht gänzlich von kulturellen und sozio-ökonomischen Austauschprozessen abgeschottet sind. Im Anschluss an diesen Gedanken lässt sich die Auseinandersetzung mit Subalternität und Prekarität auch aus den Feldern der Kapitalismuskritik sowie postkolonialer und Migrations-Theorie auf nichtintelligible, non-konforme und dissidente geschlechtliche und sexuelle Lebensformen übertragen (vgl. Reddy 2005). Denn abgesehen von den auserwählten non-konformen Individuen oder Lebensformen, die gemäß toleranzpluralistischer, normalisierender oder utilitaristischer Logiken integriert werden, kämpfen in heteronormativ verfassten, neoliberalen Gesellschaften viele um ihr soziales und ökonomisches Überleben, weil ihre Selbstverständnisse und/oder Lebenspraxen weder mit den Anforderungen kapitalistischer Arbeitsbiograien vereinbar noch über familiäre Reproduktions-, Sorge- und Erbschaftsstrukturen abgesichert sind (Prekarität) – und zum Teil der sozialen Intelligibilität gänzlich entgehen (Subalternität) (vgl. Social Text 2005). Diese Art des Problemaufrisses legt es nahe, auch im sexualpolitischen Feld die Kämpfe nicht auf Fragen politischer (staatlicher und zivilgesellschaftlicher) Anerkennung zu reduzieren, sondern ihre Verwobenheit mit Kämpfen um ökonomische Ressourcen und Verteilungsgerechtigkeit hervorzuheben (Butler 1998; Hennessy 2000; Duggan 2003; Cohen 2005; Bentrup 2007). Hegemoniale Allianzbildungsprozesse werden dadurch erheblich erschwert, und womöglich wäre eine Reaktivierung des Solidarprinzips zu verzeichnen, das sich an einem queeren being-in-common orientiert.

«Prekarität bleibt gebunden an kapitalistische Strukturen, während subalterne Räume von letzteren weitgehend unberührt bleiben. Das In-eins-setzen von Prekarität und Subalternität erscheint uns insoweit ebenso problematisch wie das Denken des einen ohne Berücksichtigung des Anderen. Subalternität kann stattdessen als mit Prozessen zunehmender Prekarität verlochten gedacht werden.» (Castro Varela/Dhawan 2007: 15) Hierbei sei es jedoch notwendig, die Verwässerungen zu kritisieren, die

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Sonja Mönkedieck: Performativität

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SonJA mönKediecK performatiVität der «unternehmerin ihrer selbst»

ich, dass neoliberale Anrufungen sich in Bezug auf Personengruppen, die von der Heteronorm abweichen, als ambivalent erweisen. Daraufhin gehe ich auf den zentralen Begriff der Performativität ein. Zum Schluss kommen Gouvernementalitäts-, Gender- und Performativitätstheorien zur Anwendung und ich stelle das Krisenexperiment Be a Honorary Big Swinging Dick – Be Monkeydick vor.

das unternehmen monkeydick-productions als

leistung zweiter ordnung

Der Aufsatz nähert sich der Figur der «Unternehmerin ihrer selbst» (Bröckling 2002: 178) auf dekonstruktivistischem und gestalterischem Wege. Um die ambivalente Figur der «Unternehmerin ihrer selbst» zu beschreiben, wird zunächst der Begriff der «Gouvernementalität» (Foucault 2000) eingeführt. Ergänzt durch die Strukturkategorien Geschlecht und Sexualität ermöglichen es die Gouvernementalitätsstudien, sich der Konstruktion der «Unternehmerin ihrer selbst» einschließlich ihrer Geschlechtlichkeit und Sexualität anzunähern (vgl. Michalitsch 2006: 24). Daraufhin wird die Diffusion der Kategorien Geschlecht, Sexualität und Arbeit in liberalen Regierungsweisen hin zur geschlechtlichen und sexuellen Leistung1 neoliberaler Regierungsweisen und ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben. Ausgehend von dieser Widersprüchlichkeit zeige 1 Der Begriff der Leistung kann ähnlich dem Begriff der Arbeit nicht durch einen objektiv deinierten Charakter bestimmter Tätigkeiten gefüllt werden, sondern er zieht seine Bedeutung aus einem kollektiven Interpretationszusammenhang. Als moderne Praktiken der Arbeit, durch die sich ein Arbeitssubjekt bildet, werden Handlungen bezeichnet, «[...] die als in der Regel vergütete und in diesem Sinne sozial anerkannte ‹Leistungen für andere› interpretiert werden, und zwar Leistungen innerhalb eines Rahmens, der als nicht-privat gedeutet und in dem das Subjekt unter dem Aspekt seiner Leistungs-Fähigkeit betrachtet wird» (Reckwitz 2006: 55f.). Da in neoliberal-postfordistischen Regierungsweisen nicht nur die Grenze zwischen privat und öffentlich brüchig wird, sondern auch unvergütete Tätigkeiten als Investition in die Zukunft verstanden werden können, ist die Deinition des Begriffes der Leistung aus einem kollektiven Interpretationszusammenhang zu ziehen. Ähnlich Dirk Baeckers Plädoyer, bei der Bestimmung der Arbeit für ein Konzept zweiter Ordnung, in dem er von der «Arbeit an der Arbeit» ausgeht, einzutreten, wird auch in Bezug auf den Begriff der Leistung auf ein Konzept zweiter Ordnung zurückgegriffen (vgl. Baecker 2001: 183). In eine ähnliche Richtung zielt der Claim, den sich Monkeydick-Productions für seine Imagebroschüre ausgedacht hat: «Performance of Performance».

Die Gouvernementalitätsperspektive interessiert im Anschluss an Michel Foucaults Begriff der «Gouvernementalität» die Frage, welche Form Subjekte im Wechselspiel aus Selbsttechnologien, Machttechnologien und Wissensformen annehmen. Im Prozess der Subjektbildung setzt sich das Subjekt durch bestimmte Machttechnologien in ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst und zu anderen. Gouvernementalität versteht machtgestützte Regierungsweisen (Regierung durch andere) und Selbsttechnologien (Regierung durch das Selbst) als einander bedingende Praxen (vgl. Foucault 2000: 52f.; Lemke 2000: 31). Nun gibt es verschiedene Gouvernementalitäten. In einer liberal-fordistischen Gouvernementalität stehen Subjekttechnologien, Machttechnologien und Wissensformen in einem anderen Verhältnis zueinander als in einer neoliberal-postfordistischen Gouvernementalität. Für diese Untersuchung sind die Entgrenzungs- und Aulösungserscheinungen der konstituierenden Merkmale bürgerlich-kapitalistischer Industriegesellschaften von Interesse. Nicht nur die Erosion fordistischer und tayloristischer Organisationsformen (im Folgenden als liberal-fordistische Gouvernementalität bezeichnet), sondern auch die radikale Ökonomisierung, die mit einer neoliberalen Gesamtströmung einhergeht, hat eine neue Qualität in die Entwicklung von Unternehmen (im Folgenden als neoliberal-postfordistische Gouvernementalität bezeichnet) gebracht (vgl. exemplarisch für die Industriesoziologie Moldaschl/Sauer 2000: 205). Die kulturelle Verschiebung vom fordistischen Angestelltensubjekt zum «Unternehmer seiner selbst» (Bröckling 2002: 178) berührt nicht nur den Begriff der Arbeit, sondern auch die Begriffe Geschlecht und Sexualität. Diese Begriffe haben weiterhin Bestand, jedoch werden Geschlecht und Sexualität unter dem Diktum der Leistung zu individuell gestaltbaren Eigenschaften, was in der Figur der «Unternehmerin ihrer selbst» seinen Niederschlag indet.

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_______________________________________________________________ Zunächst zeige ich, welche Rolle die Kategorien Geschlecht, Sexualität und Arbeit in einer traditionell liberal-fordistischen Gouvernementalität spielen. Bezeichnend für liberal-fordistische Gesellschaften sind die Trennungen von Reproduktion und Produktion sowie von Privatem und Öffentlichem und die Existenz eines damit im Zusammenhang stehenden Wertesystems von gesellschaftlicher Anerkennung und materieller Entlohnung von Arbeit. Bezahlte Erwerbsarbeit und unbezahlte Reproduktionsarbeit stehen in einer systematischen Beziehung, die zudem mit der Geschlechterdifferenz einhergeht. Männer produzieren, während Frauen reproduzieren. Das gegensätzliche, heterosexuelle Begehren indet in der Familie seinen Ort der Ruhe im Gegensatz zur rauen Arbeitswelt. Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz dekonstruieren diese Vorstellung und arbeiten die sexuelle Dimension von Arbeit heraus. «Sexuelle Arbeit» (2000: 9) indet sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause statt. Damit umfasst der Begriff nicht nur die feministische Forderung nach Anerkennung der Reproduktionssphäre, sondern er zeigt auf, dass auch in der Geschäftswelt heteronormative Vorstellungen vorherrschen (vgl. Engel 2005: 148). In der neoliberal-postfordistischen Gouvernementalität haben Heteronormativität und die Trennung von Reproduktion und Produktion, von privat und öffentlich einerseits weiterhin Bestand. Andererseits wandelt sich die disziplinierte Erwerbsarbeit zu einem entgrenzten Leistungsbegriff, in dem Geschlecht und Sexualität lexible Größen darstellen. Die neoliberal-postfordistische Gouvernementalität löst sich teilweise von der disziplinierten Erwerbsarbeit und fordert stattdessen ein völlig neues Menschenbild. Der Typ des Unternehmers verallgemeinert sich. Jeder wird zu einem «Unternehmer seiner selbst», wie die Gouvernementalitätsstudien diesen neuen Typus nennen (Bröckling 2002: 183). Schon die Unternehmerigur zeigt eine gewisse Zerrissenheit zwischen speziischer Individualität und bedingungsloser Flexibilität (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 499). Einerseits bleibt die Norm der Heterosexualität einschließlich ihrer hierarchischen Geschlechterordnung erhalten. Dies macht es für bestimmte Individuen ungleich schwerer, erfolgreich zu sein. Gleichzeitig werden jedoch auch nicht-männliche und nicht-

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_______________________________________________________________ heterosexuelle Individuen als UnternehmerInnen angerufen. Die Norm der Heterosexualität wird zugunsten leistungsbereiter, abweichender Individuen lexibilisiert (vgl. Pühl/Schultz 2001: 103). Diese Ambivalenz neoliberaler Politiken begründet sowohl die Schwierigkeit wie die Möglichkeit der Kritik. Angesichts des Wandels vom Angestelltensubjekt zum «Unternehmer seiner selbst» und der Flexibilisierung der Heteronorm im Sinne einer «Norm der Abweichung» muss die Kritik ähnlich ambivalent werden. Was ist, wenn man die widersprüchlichen Anrufungen in einem Unternehmen gebündelt aufgreift und zum Leben erweckt? Dazu soll der relativ unbestimmte und darum umso produktivere Begriff der Performativität eingeführt werden. Für unsere Untersuchung soll gerade seine Scharnierfunktion zwischen diskursiver Makro- und praxeologischer Mikroperspektive fruchtbar gemacht werden. Über die Perspektive der Performativität können punktuelle Ereignisse auf der Handlungsebene als Teil von Geschlechter-, Sexualitäts- und neoliberalen Diskursen betrachtet werden. Denn es soll diskutiert werden, inwiefern auf performativen Wege Darstellungen möglich werden, die sowohl die «Unternehmerin ihrer selbst» spiegeln als auch Herrschaftskritik zulassen (vgl. zum Performativitätsbegriff exemplarisch Seier 2005: 2). Zu diesem Zweck hat eine Gruppe von Menschen verschiedener Geschlechter und Sexualitäten das Unternehmen Monkeydick-Productions2 ins Leben gerufen. Damit nimmt sie die neoliberale Anrufung Mach dich zu einem Unternehmen! ernst. Gemeinsam möchte sie «so tun[,] als ob» (Austin 1986) sie ein Unternehmen sei. Das «So tun als ob» macht sich an ein paar Punkten fest, die für professionelles Handeln stehen: Das Unternehmen besitzt einen Firmensitz, ein Corporate Design, eine Internetseite3, ein Maskottchen, eine Imagebroschüre (vgl. die Imagebroschüre Monkeydick-Productions 2007), Mitarbeiter, die professionell auftreten und sich zu Brieings treffen. Zudem wird Monkeydick-Productions im 2 Angelehnt an ein systemtheoretisches Verständnis von «Organisation» ist das Unternehmen eine Art und Weise, wie Gesellschaften über Arbeit kommunizieren. In Unternehmen wird ein gesellschaftlich anschlussfähiger «Sinn» produziert (Baecker 2007: 40). 3 Vgl. ebenso die irmeneigene Website auf www.monkeydick-productions.com/ blog/ [22. 9. 2008]

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Jahr 2009 erstmalig auf einer Messe vertreten sein.4 Aber irgendetwas unterscheidet Monkeydick-Productions doch von anderen Unternehmen. Monkeydick-Productions ist ein Spiel, das versucht, die Realität aufzuführen. Die Aus- und Aufführung von unternehmerischer Leistung oder auch die «Performance of Performance» (Monkeydick-Productions 2007) ist die Produktion des Unternehmens Monkeydick-Productions. Obwohl das Unternehmen Monkeydick-Productions keine explizit queere Gruppe ist, ist es an queere Praxen und Theorien anschlussfähig. Denn Monkeydick-Productions versucht soziale Ungleichheiten sichtbar zu machen, ohne auf Identitätspolitiken zurückzugreifen. Als ein Beispiel für eine «Performance of Performance» wird das Krisenexperiment Be a Honorary Big Swinging Dick – Be a Monkeydick herangezogen. Das Krisenexperiment ist eine Methode qualitativer Sozialforschung. Es ist ein verändernder Eingriff in die Wirklichkeit, mit dem soziale Reibungspunkte aufgezeigt werden. Im Krisenexperiment werden Menschen in ihrem Alltag mit Irritationen der Normalität konfrontiert. Von einem Krisenexperiment ist die Rede, wenn «[...] ein System kulturell selbstverständlicher Hintergrunderwartungen und Gewißheitserfahrungen gestört wird» (vgl. Kordes 1994: 13).5 Bei dem Krisenexperiment wurde angenommen, dass es sich vor dem Hintergrund einer Norm der Heterosexualität abspielt. Unter Einluss neoliberaler Diskurse wird es vermehrt auch für von der Heteronorm abweichende Geschlechter und Sexualitäten möglich, an dieser normativ geprägten Struktur teilzuhaben, jedoch nur dann, wenn sie besonders leistungsfähig und leistungswillig sind. Sie stellen die «Norm der Abweichung» (von Osten 2003) dar. Die «Norm der Abweichung» umfasst auch sogenannte Honorary Big Swinging Dicks, wie erfolgreiche Frauen im US-amerikanischen Management genannt werden (vgl. McDowell 2000: 178). In dem hier zu beschreibenden Krisenexperiment Be a Honorary Big Swinging Dick – Be a Monkeydick soll dargestellt werden, welche Diskrepanz zwischen dem theoretischen, neoliberalen Versprechen der individuellen Leistungsbelohnung und den konkreten gesellschaft-

lichen Rahmenbedingungen für die individuelle Leistungserbringung besteht. Dabei interessiert, ob die Ambivalenz der neoliberalen Figur der «Unternehmerin ihrer selbst» im Rahmen des Krisenexperimentes von Spielern6 und Publikum wahrgenommen wird und – gewissermaßen als Indikator und gleichzeitiger Effekt – zu Irritationen bei Spielern und Publikum führt. Es war im Vorfelde des Krisenexperiments äußerst wichtig, eine Situation festzulegen, die genügend Raum zur schauspielerischen Entfaltung und (Selbst-)Beobachtung bietet. Als geeignet erschien dafür eine Vernissage in einer alten Fabrikhalle in Innenstadtnähe. Die Veranstaltung war nur leicht frequentiert, sodass eine konzentrierte Darstellung und (Selbst-)Beobachtung möglich war. An dem Ort waren Arbeitslose, Künstler, Kreative, Studenten und Praktikanten anzutreffen, die sich mit Themen wie Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und Privatisierung von öffentlichem Raum und Besitz auseinandersetzen. Als speziischerer Ort wurde der Eingangsbereich anvisiert, weil dadurch das Publikum geradezu mit dem Experiment konfrontiert wurde. Angekündigt wurde das Experiment nicht nur durch Flyer, sondern auch auf der irmeneigenen Homepage. Am Tag der Vernissage wurde ein Monkeydick-Messestand einschließlich Laptop, Flipchart und Overheadprojektor aufgebaut. Auf eine Leinwand wurde das Motto des Tages Be a Honorary Big Swinging Dick – Be a Monkeydick projiziert. Das Publikum wurde von einer weiblichen und einer männlichen Hostess begrüßt, die ihm einen die Aktion näher erläuternden Handzettel aushändigten. Danach wurde es an die drei Supervisoren verwiesen. Die drei Supervisoren klärten über das Unternehmen auf, erläuterten am Flipchart den Unterschied zwischen Norm und «Norm der Abweichung» und führten ein Kurzinterview mithilfe eines Fragebogens durch. Zudem gab es einen Protokollanten und einen Kameramann, der das Experiment beschrieb bzw. ilmte. Für die Mitarbeiter des Unternehmens gab es einen Dresscode. Alle drei männlichen Monkeydicks trugen eine schwarze Hose, weißes Hemd und schwarze Lederschuhe. Die beiden weiblichen Monkeydicks erschie-

4 Vgl. www.subversivmesse.net [5. 12. 2008] 5 In die Methode des Krisenexperimentes ließt als weiteres Verfahren das Rollenspiel ein. Zur Planung, Gestaltung und Erkenntnisgewinnung waren darüber hinaus Gruppendiskussions- und Beobachtungsverfahren von Bedeutung (vgl. exemplarisch Moreno 1973: 103; Loos/Schäffer 2001).

6 Aus Gründen der Anschlussfähigkeit an eine androzentrische Wissenschaftskultur wird im Folgenden den konservativen Normen im Umgang mit dem Bigenus gefolgt. Mit der männlichen Form ist die weibliche Form stets mitgedacht (vgl. zur «dissidenten Partizipation» Hark 2005).

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nen in schwarzem Rock, weißer Bluse, «naturfarbenen»7 Strumpfhosen und schwarzen Lederpumps. Alle trugen Namensschilder mit ihrem individuellen Spitznamen und dem kollektiven Nachnamen Monkeydick. Zudem hatte jeder Monkeydick auf dem Kopf ein Truckercap mit Regenbogenmotiv und dem Schriftzug Be a Honorary Big Swinging Dick – Be a Monkeydick – Monkeydick-Productions. Ofiziell ging es in der Aktion darum, nicht nur das Unternehmen Monkeydick-Productions darzustellen, sondern auch neue Kunden und Mitarbeiter zu rekrutieren. Unter Berücksichtigung des Gender- und Sexualitätsaspektes sollten leistungsbereite Individuen für das aufstrebende Unternehmen Monkeydick-Productions gewonnen werden. Es ging in dem Experiment darum, das unwissende Publikum in scheinbare Verkaufsgespräche zu verwickeln, indem man auf es zuging und fragte: «Möchtest nicht auch du Teil unseres jungen und aufstrebenden Unternehmens werden?» Wenn jemand aus dem Publikum fragte: «Was produziert ihr denn?» Dann wurde geantwortet: «Wir produzieren Ambivalenz!» Über die ingierte Rekrutierung sollte die Spielergruppe mit dem Publikum in einen Verhandlungsprozess geraten. Eine zentrale Frage war dabei der Aus- oder Eingrenzungscharakter des Zusammenspiels der Kategorien Arbeit bzw. Leistung, Geschlecht und Sexualität vor einem neoliberalen Hintergrund. Da sowohl nach Irritationsmomenten auf Spieler- als auch Publikumsseite gesucht werden sollte, wurde auch auf das aus Gruppendiskussionen und Rollenspielen vor und nach dem eigentlichen Krisenexperiment gewonnene Material zurückgegriffen. In den Dokumentationen der Gruppendiskussionen und Rollenspiele stecken nicht nur wichtige Ergebnisse hinsichtlich des Erkenntnisinteresses, sondern sie haben das Krisenexperiment im Sinne eines Probenprozesses mit konstituiert. Beispielsweise wurde in der Spielergruppe vor Beginn des Krisenexperimentes diskutiert, auf welche Weise mit Publikumsinteresse am Unternehmen umgegangen werden sollte. Dabei entstand die Idee, die Rekrutierung von Mitarbeitern für das Unternehmen zum Gesprächsan-

lass zu machen. Das Gespräch mit dem Publikum sollte mit dem Ziel geführt werden, den Bewerber zu einem «Honorary Big Swinging Dick» zu machen. Während des Gesprächs sollten die Supervisoren gemeinsam mit dem Bewerber überlegen, welche Potenziale er in das Unternehmen Monkeydick-Productions einbringen könnte. Ein wichtiger Aspekt sollte dabei sein, was ihn zu einem «Honorary Big Swinging Dick» machen könnte und was potenzielle Faktoren seines Scheiterns sein könnten. Die Supervisoren – in ihrer Funktion als Personalconsultants – sollten die Betreffenden fragen, in welchem Bereich diese meinen, Exzellenz vorweisen zu können. Die Antwort des Kunden sollte anschließend die Reaktion des Supervisors vorgeben: «Ja, genau, in diesem Bereich sind wir natürlich tätig!» Innerhalb des Forschungsdesigns können Reaktionen des Publikums nicht nach feststehenden Kriterien beurteilt werden; sie müssen vielmehr in ihrem jeweiligen Kontext verstanden werden. Gezeigte Irritation kann sowohl darauf zurückzuführen sein, dass die demonstrierte strukturelle Ambivalenz als solche erkannt wurde, wie auch auf die Konfrontation mit Personen, die mit ihrem Verhalten auf diese Ambivalenz hinweisen, sie kann sowohl das Anliegen der Spielpersonen bestätigen wie zurückweisen. Innerhalb des selbstrelexiv angelegten Krisenexperimentes haben Verunsicherung und Destabilisierung Priorität. Es wird darum als produktiv angesehen, dass es auch aufseiten der Spielpersonen zu Irritationen gekommen ist. Dies war zum Beispiel der Fall, wenn die Spielperson Kategorien infrage stellte, sich ihr Gegenüber dieser Infragestellung aber völlig verwehrte und keinerlei Irritation zeigte. Das Krisenexperiment hat noch einmal verdeutlicht, dass Geschlecht und Sexualität nicht einfach lexibilisierbar sind. Die Vergabe von geschlechtlichen und sexuellen Zuschreibungen der Spielergruppe an das Publikum erwies sich dabei als produktiv. Dahinter stand die Annahme, dass sich das Publikum durch Aufforderung zur Kategorisierung seiner Ambivalenz bewusst werden sollte: «Bist du ein Mann oder eine Frau?» Oder die Zuschreibungen wurden bewusst ambivalent gehalten, sodass das Publikum für die Eindeutigkeit eintreten musste. Während des Krisenexperiments war ein Teilnehmer aus dem Publikum sichtlich und hörbar irritiert, als ihm kein eindeutiges Geschlecht zugeschrieben wurde. Er und seine Begleitung mussten lachen, als einer aus der Spielergruppe beim Fragebogen seinem Gegenüber kein Geschlecht zuordnete.

7 «Natur» lautet die Bezeichnung auf der Strumpfhosenpackung, in der Strumpfhosen in Beige-Braun verpackt sind. Wessen «natürliche» Hautfarbe damit gemeint sein soll, wird hier nicht deiniert. Vielmehr sind die Strumpfhosen dazu eingesetzt worden, um eine weibliche Körpernormierung hinsichtlich eines haarlosen Ideals vorzunehmen.

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Der Spieler fragte: «Siehst du dich selbst als ein Akteur/eine Akteurin?» Dem Teilnehmer war es wichtig, als Akteur angesprochen zu werden. Trotz seines Insistierens auf seiner Männlichkeit sah er sich als einen Akteur, der für eine soziale Revolution einsteht. Seine Forderungen seien Weltfrieden und Gleichheit weltweit. In dem Krisenexperiment zeigte sich, dass die korrekte Geschlechtsadressierung von enormer Bedeutung ist. Dabei schien es für einen Großteil des Publikums nicht irritierend zu sein, dass es die Stabilisierung der Heteronorm mit der Forderung nach ökonomischer Gleichheit zusammendachte. Nur in wenigen Fällen wurden Heteronormativität und Ressourcenverteilung und das sich daraus ergebende Dilemma zusammengedacht. Im Großen und Ganzen ist das Krisenexperiment als ein Selbstversuch zu verstehen, aber als ein Selbstversuch, zu dem eine Umwelt notwendig ist, um die Destabilisierung von Repräsentationen ausprobieren zu können. Die Erkenntnisse sind vage, wenn man den Fokus auf das Ziel und nicht auf den performativen Weg des Ausprobierens legt. Während des ganzen Krisenexperiments gab es sehr wenige und eher kurze Momente, in denen von einer Ambivalenzproduktion hinsichtlich der «Unternehmerin ihrer selbst» gesprochen werden kann. Dennoch haben diese Momente der Irritation die Möglichkeit anderer Kommunikation aufscheinen lassen. Denn das Krisenexperiment wurde von der Annahme getragen, dass, wenn sich die Akteure in einem sich selbst reproduzierenden System der systemimmanenten Widersprüche bewusst werden, sich das System nicht auf gleiche Art und Weise reproduzieren kann (vgl. für weitere Ergebnisse Mönkedieck 2008).

Boudry, Pauline; Kuster, Brigitta; Lorenz, Renate (2000a): I Cook For Sex – Einführung, in: Boudry/Kuster/Lorenz 2000b, 6-35 Boudry, Pauline; Kuster, Brigitta; Lorenz, Renate (Hg.) (2000b): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause, Berlin, 2. Aulage Bröckling, Ulrich (2002): Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter: Gender-Konstruktionen in Erfolgsratgebern, in: Leviathan 30/2, 175-194 Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. Engel, Antke (2005): Die Verschränkung von Sexualität und Ökonomie: Subjektkonstituierung unter neoliberalen Vorzeichen, in: Ernst 2005, 136-152 Ernst, Waltraud (Hg.) (2005): Leben und Wirtschaften: Geschlechterkonstitutionen durch Arbeit, Münster Foucault, Michel (2000): Die «Gouvernementalität», in: Bröckling/Krasmann/Lemke 2000, 41-67 Hark, Sabine (2005): Dissidente Partizipation: Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M. Hess, Sabine; Lenz, Ramona (Hg.) (2001): Geschlecht und Globalisierung: Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume, Königstein/Taunus Huber, Jörg (2001): Kultur – Analysen: Interventionen 10, Wien/New York Kordes, Hagen (1994): Das Aussonderungs-Experiment: Rechenschaftsbericht zum «Krisenexperiment» der Aussonderung von «Deutschen» und «Ausländern»: durchgeführt vor einer Mensa der Universität Münster am 28. Januar 1994, Münster Lemke, Thomas (2000): Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien: Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift 41/1, 31-47 Loos, Peter; Schäffer, Burkhard (2001): Das Gruppendiskussionsverfahren: Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung, Opladen McDowell, Linda (2000): Body Work: Die Darstellung von Geschlecht und Heterosexualität am Arbeitsplatz, in: Boudry/Kuster/Lorenz 2000, 178-207

Literatur Austin, John L. (1986a): So tun als ob, in: Austin 1986b, 328-350 Austin, John L. (1986b): Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart Baecker, Dirk (2001): Die Unterscheidung der Arbeit, in: Huber 2001, 175-196 Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M. Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

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_______________________________________________________________ Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts: Von den Leidenschaften zum Kalkül, Frankfurt a. M./New York Minssen, Heiner (2000): Begrenzte Entgrenzungen: Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin Moldaschl, Manfred; Sauer, Dieter (2000): Internalisierung des Marktes – Zur neuen Dialektik von Kooperation und Herrschaft, in: Minssen 2000, 205-224 Mönkedieck, Sonja (2008): Performativität der «Unternehmerin ihrer selbst»: Die Aktionsforschung «Monkeydick-Productions», Berlin Monkeydick-Productions (2007): Performance of Performance (Imagebroschüre), Hamburg Moreno, Jacob L. (1973): Gruppenpsychotherapie und Psychodrama: Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart, 2., unveränderte Aulage Osten, Marion von (Hg.) (2003): Norm der Abweichung, Zürich Pühl, Katharina; Schultz, Susanne (2001): Gouvernementalität und Geschlecht – Über das Paradox der Festschreibung und Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse, in: Hess/Lenz 2001, 102-127 Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist Seier, Andrea (2005): Remedialisierungen: Zur Performativität von Gender und Medien, http://deposit.ddb.de/ cgi-bin/dokserv?idn=979615879&dok_var=d1&dok_ ext=pdf&ilename=979615879.pdf [22. 9. 2008]

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renAte lorenz scham perVers sexuell arbeiten im kontext neoliberaler ökonomie

Warum unterwerfen wir uns bestimmten Anforderungen im Feld der Arbeit «freiwillig», auch solchen, die uns viel zumuten, die uns von Ressourcen ausschließen, die uns beleidigen oder abwerten? Um mich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, möchte ich mich mit dem Affekt der Scham beschäftigen. Scham verstehe ich als Modus der Einarbeitung in Machtverhältnisse und zugleich als wirkungsvollen Motor sozialer Veränderung mittels queer-feministischer Politiken. «Ich erzählte, wie die Ladys riefen und ich die Tür öffnete und wirklich aussah wie ein Arbeitstier – und wie ich die Visitenkarte der Lady mit dem Zipfel meiner Schürze entgegennahm, weil meine Hände so schmutzig waren, und wie ich knickste und mit so viel Respekt wie möglich sprach, um wettzumachen, dass ich mich ziemlich beschämt fühlte.» (Hannah Cullwicks Tagebuch, 15. Juli 1870; zit. nach Atkinson 2003: 183, Übersetzung R. L.) Schuld oder Scham als Motiv (aufwendiger) Umwendung Louis Althusser (1977) nennt den Mechanismus, der subjektiviert, «Anrufung». Er veranschaulicht dies in Form einer Szene, in der ein Polizeibeamter dem Individuum auf der Straße zuruft: «He, Sie da!» Das Individuum wendet sich um 180 Grad um und wird genau durch diese physische Wendung zum Subjekt. Die Anrufung führt unweigerlich dazu, dass die Subjekte den vorgesehenen sozialen Platz einnehmen, außer bei den «schlechten Subjekten», die im Gefängnis landen (ebd.: 142f.). Ich habe gemeinsam mit Brigitta Kuster und Pauline Boudry (1999) den Begriff der sexuellen Arbeit vorgeschlagen, um die Bedeutung der heterosexuellen Normalisierung und Normativität für ein Verständnis der Un-

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terwerfung im Feld der Arbeit herauszustellen. Sexuelle Arbeit bezeichnet dann die Weise, in der Individuen gegenwärtig zu Subjekten werden, die Rolle der Sexualität in diesem Prozess, sowie den mehr oder weniger großen damit verbundenen Aufwand1 (Lorenz 2008; Lorenz/Kuster 2007). Der Begriff des Aufwands, der Individuen abverlangt wird, um der Anrufung nachzukommen oder sie abzuweisen, ermöglicht auch, theoretisch zu fassen, dass sich Individuen nicht nur ganz umwenden oder gar nicht, sondern dass sie sich auch zum einen Teil umwenden können, zum anderen Teil aber nicht. Was bringt Individuen dazu, sich umzuwenden und die gesellschaftlichen Regeln zu teilen, selbst wenn diese Umwendung mit Erfahrungen von Zwang und Gewalt verbunden ist und selbst dann, wenn sie sich in ihren Politiken und Überzeugungen bereits gegen diese Regeln gewandt haben? Und was ist es, das ihnen erlaubt, diese Unterwerfung möglicherweise pervers zu wenden? Um die Mühen der Unterwerfung zu erklären, argumentiert Judith Butler (2001) mit dem Konzept der Schuld. Sie folgt Louis Althusser in seiner Auffassung, dass sich die Individuen unterwerfen, indem sie Fertigkeiten/Fähigkeiten (das «savoir-faire») erlernen, die in der Produktion angewendet werden können, mit denen sie aber zugleich die dominanten Regeln der Gesellschaft einüben – pünktlich sein, gut arbeiten, gut gehorchen oder gut kommandieren (Althusser 1977: 111). Die Polizeiszene deutet Butler so, dass sich das angerufene Subjekt mittels der erlernten Fertigkeiten/Fähigkeiten gegenüber einer Beschuldigung verteidige; die geleisteten Aufgaben seien «buchstäblich die Unschuldserklärung des Beschuldigten» (2001: 111). Die beständig notwendige Unschuldserklärung wird nach ihrer Darstellung zu einer unaufhörlichen

Hannah Cullwick 1864, Carte by James Stodard of Margate, Courtesy Munby Archive, Trinity College Cambridge, zit. nach: Lorenz, Renate (Hg.) (2007): Normal Love – precarious sex, precarious love, Ausstellungskatalog, Berlin, 26

1 Zentral für den Begriff der sexuellen Arbeit ist die Vorstellung, dass sexuelle Arbeit «doppelt produktiv» ist: Sie stellt Produkte her – also Waren oder Dienstleistungen –, aber zugleich produziert sie eine verkörperte, vergeschlechtlichte, sexuelle Subjektivität (Lorenz/Kuster 2007; Boudry/Kuster/Lorenz 1999). Wenn also eine Sekretärin – das klassische Beispiel der feministischen Arbeitsforschung – in freundlicher und aufmerksamer Weise ein Diktat aufnimmt, dann arbeitet sie und erhält dafür einen Lohn, und zugleich wird sie als Sekretärin und als Frau verständlich und anerkannt. Um auch Umarbeitungen dieser Subjektivität genauer fassen zu können, habe ich gemeinsam mit Brigitta Kuster im Buch Sexuell Arbeiten – eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben die Aufmerksamkeit von den Produkten sexueller Arbeit auf den Prozess der Subjektivierung verschoben und den mehr oder weniger großen, mehr oder weniger gewaltvollen Aufwand thematisiert, der mit diesem Prozess verbunden ist (Lorenz 2008; Lorenz/Kuster 2007).

Beschäftigung angesichts einer Drohung, die immer nur vorübergehend zu bändigen ist: «Ein ‹Subjekt› zu werden heißt somit, für schuldig gehalten, vor Gericht gestellt und für unschuldig erklärt worden zu sein. Da dieser Spruch kein Einzelakt ist, sondern ein unaufhörlich reproduzierter Status, heißt Subjekt werden, permanent damit beschäftigt zu sein, sich eines Schuldvorwurfs zu entledigen. Es heißt zu einem Emblem der Rechtmäßigkeit zu werden [...] aber doch zu einem, für das diese Stellung brüchig ist, zu jemandem, der – irgendwie, irgendwo – am

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eigenen Leib erfahren hat, was es heißt diese Stellung nicht zu besitzen und also für schuldig befunden worden zu sein.» (ebd.: 112)

Fotograie entwickeln, wie auch die damit verbundenen und ineinander verlochtenen Machtpraktiken und Machtbeziehungen. Die Hausangestellte Hannah Cullwick hielt ihre alltägliche Arbeit, ihre Gespräche und Gedanken als maid of all work in wechselnden Haushalten detailliert fest; ihre Tagebücher bieten damit einen einzigartigen Einblick in die Arbeit einer Hausangestellten zu dieser Zeit. Hannah Cullwick hatte eine besondere Beziehung zu Schmutz, die sich in der oben zitierten Tagebuchpassage zeigt, in der sie schildert, dass sie die Visitenkarte an der Tür mit dem Zipfel ihrer Schürze annehmen musste, weil ihre Hände zu schmutzig waren. Wie Anne McClintock bemerkt, war Schmutz in der viktorianischen Gesellschaft mit der Überwachung und Überschreitung sozialer Grenzen – insbesondere auch sexueller Grenzen – eng verbunden:

Butler rechtfertigt das Pathos ihrer Diskussion von Schuld und Gewissen mit Althussers hervorstechendem Gebrauch der Beispiele der Polizei und der Kirche/des Glaubens, die sie nicht als zufällige Beispiele verstanden wissen will. Die Referenz auf die Erbsünde, die das Gesetz durch die Verleihung einer Identität zu mildern verspricht, führt in ihre Argumentation eine anthropologische Dimension ein, die alle Menschen mit der gleichen Ausgangsposition versieht. Diese Rhetorik ermöglicht zwar, den Zwang zur Umwendung und eine «ursprüngliche Komplizenschaft (der Subjekte) mit dem Gesetz» (ebd.: 102) stark zu machen, trägt aber wenig zur Beantwortung der Frage bei, wie die Subjekte durch Anrufung unterschiedlich angeordnet werden oder welcher Aufwand ihnen gerade dort abverlangt wird, wo die Umwendung nicht in der vorgesehenen Weise abläuft (also in vielen, wenn nicht nahezu in allen Fällen). Ich möchte anstelle des Konzeptes der Schuld mit dem der Scham argumentieren: Meine These ist, dass die Scham und ihre Verbindung zu den sexuellen Diskursen, Praxen und Fantasien eine entscheidende Rolle dabei spielt, dass Subjekte den Aufwand sexueller Arbeit auf sich nehmen. Scham begründet, wie ich zeigen möchte – neben anderen möglichen produktiven Affekten –, warum sexuelle Arbeit sich nicht zurückstellen lässt, woher sie ihre Dringlichkeit erhält. Zugleich erlaubt die Thematisierung der Scham, eine hierarchische, dabei differenzierte und dennoch bewegliche Anordnung der Subjekte theoretisch zu fassen. Kosten und Widersprüche Die Überlegungen zur Scham und ihrem Zusammenhang mit Sexualität im Feld von Arbeit möchte ich am Beispiel der Hausangestellten Hannah Cullwick verfolgen.2 Ich beziehe mich dabei auf eine Zeit und einen Ort – das viktorianische London in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts –, wo sich Diskurse der Sexualität, der kapitalistischen Lohnarbeit und der 2 Ich habe an anderer Stelle das umfangreiche Quellenmaterial, das Hannah Cullwick hinterließ, ausführlich diskutiert und entlang dieses Materials sowohl ein theoretisches Modell der Subjektivierung vorgeschlagen als auch eine Genealogie des Verhältnisses von Arbeit und Sexualität verfolgt (Lorenz 2008).

«Die Ikonograie von Schmutz wurde zu einer Poetik der Überwachung, die mehr und mehr eingesetzt wurde, um die Grenzen zwischen ‹normaler› Sexualität und ‹schmutziger› Sexualität, ‹normaler› Arbeit und ‹schmutziger› Arbeit sowie zwischen ‹normalem› Geld und ‹schmutzigem› Geld zu regulieren. Schmutziger Sex – Masturbation, Prostitution, lesbische und schwule Sexualität, der Reigen der viktorianischen ‹Perversionen› – überschritt die ökonomische Grenze der männlich kontrollierten heterosexuellen Reproduktion innerhalb der monogamen Eheverhältnisse (sauberer Sex besitzt diesen Wert).» (McClintock 1995: 153, Übersetzung R. L.) Es war also eine speziische Verbindung von Geld, Arbeit und Sexualität, die Wert repräsentierte und diese Repräsentation gegen ihre schmutzige Seite verteidigte. Hannah Cullwick stand in dem Zwiespalt, dass entsprechend dieser Ökonomie die Unsichtbarkeit harter Handarbeit gefordert und das Ideal von (weißer, bürgerlicher, heterosexueller) Weiblichkeit mit Sauberkeit verknüpft war, sie aber zugleich nur Anerkennung als Arbeiterin erhalten und ihre körperliche Stärke demonstrieren konnte, wenn sie der geleisteten Arbeit zu Sichtbarkeit zu verhelfen vermochte. In dieser paradoxen Situation schämte sie sich, weil sie zu schmutzig war. Scham entstand für sie genau an diesem widersprüchlichen, auf dem Körper getragenen Zeichen – Schmutz –, das eine Repräsentation von (schmutziger) Arbeit auf Kosten einer Repräsentation von sauberer Sexualität, Weiblichkeit und Arbeit erlaubte.

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Scham als soziale Praxis Hannah Cullwick schämte sich erst, als sie vor dem Blick der Besucherin und der durch sie vertretenen sozialen Bedeutung von Schmutz bestehen musste. Nach Sartre (2004) macht das Auftreten von Scham deutlich, dass wir nicht allein sind, sondern dem Blick der anderen ausgesetzt. Scham sei das Eingeständnis, sich «in diesem verminderten, abhängigen und erstarrten Objekt, das ich für den Anderen bin, wiederzuerkennen» (ebd.: 516). Sie führe dazu, dass wir uns selbst vorübergehend als verwundbar wahrnehmen (Probyn 2005: 64). Scham ist Effekt einer solchen Erfahrung des Ausgesetztseins, aber sie produziert diese Erfahrung auch zugleich: Das Erröten ist eine körperliche Reaktion, die sich nicht kontrollieren lässt und die auf diese Weise das persönliche Eingeständnis fehlender Autonomie öffentlich macht. Nicht zuletzt diese körperliche Reaktion lässt den alltäglich und vielfach wiederholten Prozess der Subjektivierung zu einer öffentlichen Aufführung werden. Sich schämen heißt, sich vor einem Publikum damit zu beschäftigen, wie man als Subjekt in den Hierarchien des Sozialen positioniert wird. Ich möchte den Vorgang der Beschämung als eine Art Veröffentlichung der Szene der Anrufung lesen, die darauf hinweist, wie die «Freiwilligkeit» in der Unterwerfung vor sich geht: Es gibt eine Anfälligkeit dafür, den abwertenden Blick der anderen zu teilen, durch Erröten öffentlich einzugestehen, dass wir bestimmte erforderliche Fertigkeiten/Fähigkeiten nicht besitzen oder dass wir die falschen besitzen, dass wir für dieses Fehlen oder den Fehler verantwortlich sind und daher erniedrigt, ausgestoßen, von wichtigen Ressourcen abgetrennt oder verletzt werden können. Der Blick auf die Scham erklärt daher auch, warum Sexualität eine hervorgehobene Rolle im Prozess der Unterwerfung spielt: Sexuelle Diskurse, Praxen und Fantasien stellen einen besonderen Modus des Anderen-Ausgesetzt-Seins dar. Judith Butler (2004) hat diese grundlegende Abhängigkeit von Anderen unter dem Begriff des «Prekären» (ebd.: 23) gefasst und als eine «öffentliche Dimension» (ebd.: 21) des Körpers dargestellt. Als sexuelle Wesen seien wir durch Bedürfnisse, Gewalt, Betrug, Zwang und Fantasien verletzbar, so Butler, wir projizieren Begehren, und dieses wird auf uns projiziert (ebd.: 33). Scham ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass Aspekte dessen, was wir als persönlich betrachten, tatsächlich der öffentlichen Sichtbarkeit

ausgeliefert sind. Der Affekt der Scham stellt damit die übliche Wahrnehmung von Körpern als privat und vollständig infrage, und die soziale Seite dieses Affekts zeigt und produziert die Brüchigkeit der Grenze zwischen Selbst und Anderen (Gatens 2000: 14; vgl. auch Probyn 2005: 141). Scham = prekär = queer (ohne Identität sein, nicht-determinierte Praxen haben) Das Aufkommen von Scham ist allerdings nicht nur ein Zeichen fehlender Autonomie oder des Verlustes von Anerkennung, sondern sie zeigt auch an, dass etwas in der Anrufung fehlschlägt, etwa dass die Repräsentation durch die anderen und die Selbstrepräsentation nicht übereinstimmen. Die beschämende Szene kann daher auch als Zeichen einer Inkonsistenz der Subjektivierung verstanden werden, als Zeichen dafür, dass die Kohärenz des beschämten Subjektes suspendiert (Neckel 2006: 5), dass sein Platz prekär ist: Scham zeigt an, dass der Blick der anderen uns als etwas sichtbar macht, das wir nicht sein wollen oder sollen oder nicht zu sein glauben (während wir doch schon einmal erfahren haben, dass wir genau das sind, und diese Erfahrung Teil unserer Bilder und Fantasien über uns selbst geworden ist). Oder sie zeigt an, dass wir etwas werden, das wir nur zum Teil sein wollen, zum anderen Teil aber nicht. So entsteht Scham besonders auch da, wo widersprüchliche Anrufungen und damit verbunden unvereinbare Anforderungen aufeinandertreffen – eine Anordnung, die als charakteristisch für eine neoliberale Gesellschaft gekennzeichnet wurde (Engel 2009; Lorenz 2008; Lorenz/Kuster 2007). Elspeth Probyn verbindet die Empindung von Scham sogar direkt mit den Anforderungen eines zeitgenössischen Arbeitslebens, das permanent Fertigkeiten/Fähigkeiten abfragt, von denen es ungewiss ist, ob wir sie werden erfüllen können und ob sie uns einen sozialen Platz zuweisen3, oder ob sie uns, wie ich formulieren würde, 3 «Feeling like a fraud is routine in the modern university. We often teach classes in areas in which we are not trained; we take on administrative tasks for which we have no formal instruction whatsoever. By and large we muddle along, pretending we know how to do Excel spreadsheets or what a budget should look like. Feeling like a sham is the price for living in a multiskilled world. [...] The crucial element that turns sham into shame is the level of interest and desire involved. There is no shame in being a sham if you don’t care what others think or if you don’t care what you think» (Probyn 2005: 131).

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zu einer permanenten Durchquerung unterschiedlichster Plätze zwingen.4 Diese Widersprüche und Durchquerungen führen jedoch zugleich dazu, dass die fortwährende sexuelle Arbeit, die durch Scham motiviert wird, nicht unbedingt in den vorhersehbaren Bahnen sozialer Normen verläuft. Was mich besonders an Scham interessiert, ist ihre Flexibilität. Sie kann zum einen in unterschiedlichem Grad auftreten: Wir können uns ein bisschen schämen, sodass wir es kaum oder gerade so bemerken, oder so sehr schämen, dass ein Weiterleben kaum möglich erscheint. Zum andern scheint Scham für ein nicht-deterministisches Konzept der Subjektivierung von Bedeutung, da es keine klaren oder formulierbaren Kriterien gibt, wann Scham auftritt. Scham ist vom Kontext und von individuellen Biograien abhängig. Sie kann auch aufgrund solcher Fertigkeiten/Fähigkeiten hervorgerufen werden, die uns in anderen Szenen der Anrufung Anerkennung verschaffen könnten – wie der Schmutz, den Hannah Cullwick als sichtbares Zeichen geleisteter Arbeit verstand – oder die wir möglicherweise in unserer politischen oder kulturellen Arbeit einfordern; sogar solche Fertigkeiten/Fähigkeiten, die in einer Gesellschaft dominant sind, können Anlass zu Scham sein: So könnte etwa eine heterosexuelle Praxis in vielen sozialen Feldern Anerkennung und Ressourcen mit sich bringen, aber im Kontext einer lesbischen oder queeren Subkultur ein beschämendes Coming-out erfordern. Entspre-

chend sieht Eve Kosofsky Sedgwick ihre Untersuchung zu Scham auch als Teil eines Projektes der De-Essentialisierung von Plätzen oder, wie sie sagt, Identitäten:

4 Der von mir vorgeschlagene Begriff der Durchquerung beruht auf der Vorstellung, dass heute Subjektivierungsweisen vorherrschend sind, die Individuen nicht auf einem einzigen geschlechtlichen, sexuellen und berulichen Platz ixieren. Diese Prekarisierung sozialer Plätze erlaubt einerseits einen Freiheitsgewinn, der u.a. durch feministische, lesbisch-schwule, antirassistische Bewegungen erkämpft wurde, andererseits ist er aber mit der Anforderung verknüpft, die Plätze beständig zu durchqueren. Dies ist mit einem Aufwand verbunden, der für unterschiedliche Individuen unterschiedlich groß ist: Normen wie Heterosexualität, Deutsch-Sein/ Weiß-Sein und Zweigeschlechtlichkeit nicht angemessen zu entsprechen erfordert einen besonderen Aufwand und ist mit Drohungen und immer möglichen Entrechtungen, Verletzungen und Beschämungen verbunden. Der Begriff der Durchquerung stellt damit die Möglichkeit bereit, Hierarchisierungen und Arbeitsteilung nicht entsprechend vorgefasster und ixer Identitätskategorien, sondern entsprechend des Aufwands, der jeweils geleistet werden muss, zu kritisieren und so Differenzen auch in ihren Abstufungen, Widersprüchlichkeiten und in ihrer Intersektionalität zu erfassen. Er erlaubt so eine Macht- und Herrschaftskritik entlang der Kategorien Geschlecht und Sexualität, die dennoch nicht an Dichotomien wie Mann/Frau, hetero/homo usw. festhalten muss (Lorenz 2007).

«Mein politisches Interesse an Scham beruht darauf, dass Scham den Platz der Identität – oder die Frage nach Identität – als Ausgangspunkt des Performativen hervorruft und legitimiert, ohne den Raum der Identität mit einer Essenz zu verknüpfen. Sie konstituiert die Identität als noch zu konstituierende, was zugleich bedeutet, dass sie immer bereits der Verfehlung und Verkennung ausgesetzt ist. Scham, die in und auf den Muskeln und Kapillaren des Gesichts lebt, scheint ausgesprochen ansteckend von einer Person zur nächsten zu wandern.» (Sedgwick 2003a: 64, Übersetzung R. L.) Auch Elspeth Probyn sieht in der Diskussion der Scham ein Potenzial, statische identitäre Politiken zu unterlaufen: «Die vorherrschende Denkweise hat sich so obsessiv auf Gleichheit und Differenz verengt, dass wir diesen Punkt übersehen könnten. Anstatt Gleichheit und Differenz als einander entgegenstehende und statische Blöcke zu betrachten, könnte es eine neue Sichtweise produzieren, wenn wir über die variierenden Grade und Schattierungen von Gleichheit und Differenz nachdenken, die beständig auf das Leben von Menschen einwirken. Das betrifft Felder wie Geschlecht, Sexualität und Ethnizität, die offenbar in Oppositionen eingefroren sind: Männer gegen Frauen, Queer gegen Hetero, Weiß gegen Nicht-Weiß. Gewissermaßen teilen wir mehr, als wir nicht teilen, obwohl wir natürlich – und oft mit guten Gründen – dazu tendieren, das zu ixieren, was uns trennt. Es wurde gezeigt, dass wir alle erröten, aber über dieses gemeinsame Element hinaus, ist es enorm unterschiedlich, wie, wo und warum wir Scham erfahren und welche Effekte diese Erfahrung haben mag.» (Probyn 2005: 22) Auch wenn Scham nicht Gruppen oder Identitäten zu konstituieren vermag, so sehen sich doch – abhängig von ihren jeweiligen und multiplen Platzierungen in den Hierarchien des Sozialen – einige Szenen häuiger der Beschämung ausgesetzt als andere.

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Scham und Wunsch Hannah Cullwick ließ immer wieder Fotograien aufnehmen, auf denen sie sich in einer Weise inszenierte, die Hinweise auf die widersprüchlichen Anforderungen gab, mit denen sie konfrontiert war. So zeigt eine Fotograie sie in einem weitgehend leeren Raum. Sie trägt die Kleidung einer Hausangestellten, wobei vor allem die Schürze auffällt, die ungeheuer schmutzig ist. Die Arme hat sie verschränkt, sie stützt sich auf einen Besen. Ihre Haltung und ihr direkter Blick in die Kamera haben etwas Herausforderndes. Kaja Silverman (1997) schlägt den Begriff der Pose vor, um Praxen der Repräsentation zugleich als Praxen der Subjektivierung verstehen zu können. Wenn Hannah Cullwick die Pose der Hausangestellten einnimmt, die im Putzen innehält und ihre schmutzige Schürze vorführt, passt sie sich laut Kaja Silverman in ein vorhandenes Bildarchiv ein – hier in das Archiv der Bilder von viktorianischen Hausangestellten – und fordert die Kamera auf, sie in einer vorbestimmten Weise wahrzunehmen. Die Pose ermöglicht dem Subjekt, «gesehen», also von anderen auf seinem Platz anerkannt zu werden. Allerdings weicht diese Fotograie deutlich von weiteren Fotograien ab, die Hausangestellte der viktorianischen Zeit zeigen. Diese wurden gewöhnlich im Sonntagskleid und sauber fotograiert. Hausangestellten wurde ein Management von Schmutz abverlangt, das sie die härtesten und dreckigsten Arbeiten erledigen ließ, aber dennoch verlangte, vor dem Blick der Arbeitgeber_innen und Besucher_innen in sauberer Kleidung zu erscheinen. Laut Silverman wäre eine solche Repräsentationspraxis als genügend gut (good enough) zu bezeichnen, ein Begriff, der die einigermaßen gelungene Anerkennung als Hausangestellte markiert und dennoch Möglichkeiten eröffnet, zu diesem Bild einen gewissen Abstand zu halten. Während es Cullwick möglich wird, ein Klassenbewusstsein als Arbeiterin und eine Verkörperung ihrer Stärke zu demonstrieren, ist ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen, der Hausangestellten und der «Weißen» nur genügend gut. Hannah Cullwick hat in ihren Tagebüchern dargestellt, dass solche widersprüchlichen Anforderungen beständige Erwägungen und Besorgnisse mit sich bringen. Ihr Text zeigt, dass sie permanent mit der Unmöglichkeit beschäftigt war, zwei Anforderungen, die sich widersprechen, jeweils zumindest genügend gut erfüllen zu können. Diese Konfrontation mit Widersprüchlichem scheint mir charakteristisch

für gegenwärtige Machtbeziehungen im Feld der Arbeit (Lorenz 2008; Lorenz/Kuster 2007). Scham ist der Affekt, der eine solche aufwendige Beschäftigung mit sich selbst, dem Wunsch nach Anerkennung und den eigenen Praxen in Bewegung hält, weswegen sie auch als affektive Seite der Macht in einer neoliberalen Ökonomie gekennzeichnet wird (Neckel 2006: 15; Kuch 2004).5 Wenn Scham also eine selbstrelexive Wendung einschließt, die uns mit unserem Wunsch nach Anerkennung bekannt macht, dann liegt meiner Meinung nach genau hier der Ansatzpunkt, diesen Wunsch anders zu entwickeln und damit eine Möglichkeit zu gesellschaftlicher Veränderung zu nutzen. Gerade die Widersprüchlichkeit von Anforderungen kann dann Anlass sein, andere Wünsche in Praxen zu übersetzen und mit ihnen in gesellschaftliche Regeln der Arbeit wie der Sexualität einzugreifen. Entsprechend möchte ich den Vorgang des Sich-Schämens als produktiv betrachten, anstatt ihn als ein Scheitern an den Regeln der Gesellschaft oder als Effekt einer «Internalisierung patriarchaler Standards» (Bartky 1988: 77) zu kritisieren. Hannah Cullwicks Relexion auf die beschämenden Szenen, in denen sie zu schmutzig war, hat mit der Fotograie eine produktive Bearbeitung erfahren: Es gelang ihr, eine Fotograie herzustellen, die es ihr erlaubte, sowohl als (weibliche) Hausangestellte erkennbar zu werden als auch mittels ihrer verdreckten Kleidung eine Sichtbarkeit ihrer harten körperlichen Arbeit herstellen und ihre, wie sie sagte, Männlichkeit betonen zu können. Die Fotograie eröffnete die Möglichkeit einer anerkennenden Visualisierung der harten Arbeit (vgl. Schaffer 2008). Die paradoxen Anforderungen, die in ihrem Alltag nicht zu bewältigen waren und immer 5 Neckel weist in seiner Darstellung von Scham aus soziologischer Sicht darauf hin, dass Arbeitslosigkeit gegenwärtig erfordere, die Interessen der eigenen materiellen Existenz gegen den Anspruch auf persönliche Selbstachtung gegenüber der beschämenden Praxis der Bedürftigkeitsprüfung auszuspielen. Während die Sphären fragloser Verhaltenssicherheit abnehmen, sei die Scham im Bezugsrahmen des Arbeitsmarktes geradezu institutionalisiert, da erforderliche Qualiikationen sich auf Aussehen, Lebensstil, Auftreten und Kommunkationsfähigkeit erstrecken und die Möglichkeit der Beschämung ausweiten (Neckel 2006: 13, 15). Kuch (2004) argumentiert, dass das unternehmerische Selbst Scham empinde, da es an den sich selbst auferlegten Normen und dem selbstkritisch gewendeten Blick scheitere. Er weist darauf hin, dass gegenwärtig mittels Scham Hierarchisierungen und Individualisierungen vonstattengehen, insbesondere da politische Gegenkulturen fehlen, die anderen Narrativen Bedeutung einräumen könnten.

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wieder Anlass für Entlassungen aus Arbeitsverhältnissen waren6, werden mittels der Fotograie darstellbar.

wurde, entspricht keineswegs dem Platz einer Frau, die eine selbstbestimmte, klassenübergreifende, nicht-heteronormative Sexualität praktiziert. Die Durchquerung (Lorenz 2008, vgl. Fußnote 4) dieser beiden Plätze kann hier als ein Engagement verstanden werden, die Funktion und Wirkung von Scham zu verschieben. Scham wird dann zwar zum Modus der Umwendung, aber der Platz, der eingenommen wird, ist nicht der, den der «Polizist» den Individuen angetragen hat. Dies geschieht auf der Fotograie durch eine Praxis der Sichtbarmachung und eine gleichzeitige Praxis des Verbergens. Denn zwar wird allen Betrachter_ innen der Fotograie deutlich, dass Hannah Cullwick sich hier besonders schmutzig präsentiert, dies kann jedoch nicht ohne weitere Information als Teil eines sexuellen Szenarios verstanden werden. Der Modus der Intelligibilität, dessen, was verstehbar und lesbar wird, wird mittels dieser Fotograie aktiv verändert: Praxen, an die sich Scham anheftet, werden verborgen vor dem Blick der einen (der dominanten Gruppe) und dem Blick anderer (hier zunächst nur ihrem Lover, später uns, die wir Zugang zu den Tagebüchern haben und uns aus einer Perspektive mit den Fotograien beschäftigen, die durch Queer Theory und queere Politiken informiert ist) zugänglich gemacht (Lorenz 2008; Robinson 1994). Diese Praxis lässt sich als ein Eingriff in die eingangs geschilderte Ökonomie der viktorianischen Gesellschaft verstehen, in der Geld, Arbeit und Sexualität durch Sauberkeit repräsentiert wurden.

Sex bei der Arbeit Die Lektüre der Fotograie kompliziert sich, wenn wir aus den Tagebüchern erfahren, dass Hannah Cullwick die Präsentation ihrer schmutzigen Schürze im Kontext eines SM-Szenarios mit dem bürgerlichen Juristen Arthur Munby inszeniert hat. Erstaunlicherweise waren Hannah Cullwicks Hausarbeiten, für die sie Lohn erhielt, immer zugleich auch Teil eines sexuellen, sadomasochistischen Szenarios mit Munby. Sie fertigte für ihn die schriftlichen Darstellungen ihrer Arbeit an, die sie ihm dann zeigte oder zuschickte. Sie kroch in Dreck und Spinnweben herum, auch wenn das für ihre Arbeit gar nicht erforderlich war, und berichtete Munby ausführlich davon. Er besuchte sie heimlich am Arbeitsplatz und beobachtete sie, besonders wenn sie «in her dirt» war, wie das beide nannten, also besonders schmutzig. Gemeinsam stellten sie auch Szenen ihrer Arbeit nach: Cullwick verrichtete ähnliche Arbeiten im Haushalt Munbys als Teil der gemeinsamen sexuellen Inszenierung. Dabei leckte oder putzte sie seine Stiefel, sie putzte besonders dreckige Stellen wie den Ofen und sie schwärzte ihren Körper und ihr Gesicht für ihn. Sie nannte ihn «Massa» und sich selbst «Slave» in Anlehnung an die koloniale Gegenwart und die noch sehr präsente Geschichte der Sklaverei in England, und sie trug immer, auch bei der Arbeit, eine Kette um den Hals, für deren Schloss er den Schlüssel besaß, und am Handgelenk ein Lederband, das sogenannte «Slave Band» (Lorenz 2008). Die Pose diente Cullwick also keineswegs, wie es Althusser/Silverman vorsahen, der Einnahme eines einzigen sozialen Platzes mit widersprüchlichen Anforderungen, sondern sie ermöglichte ihr, zugleich zwei verschiedene – und durchaus widersprüchliche – Plätze einzunehmen und sich auf diesen Plätzen von (unterschiedlichen) anderen wahrnehmen zu lassen: Der Platz der Hausangestellten, deren gesamtes soziales Leben üblicherweise von ihrer Arbeitgeberin überwacht und reguliert 6 «‹Hannah, dein Master und ich glauben, dass du uns besser verlässt und einen Platz suchst, wo du nicht bedienen musst.› Ich guckte überrascht und sie sagte: ‹Du bist eine gute Dienstbotin, du arbeitest hart und wir mögen dich, aber [...] deine Arme sind nackt und manchmal schwarz und du bist so schmutzig.›» (Hannah Cullwicks Tagebuch, 1864)

Scham als bedeutungsproduzierende Praxis Wenngleich Scham in Folge widerstreitender Anforderungen auch als eine individuelle und individualisierende Bearbeitung von Widersprüchen verstanden werden könnte, möchte ich doch Eve Kosofsky Sedgwick (2003a; 2003b) darin folgen, Scham nicht als einen innerpsychischen, sondern als einen sozialen Vorgang zu verstehen. Sedgwick kritisiert, dass Scham häuig als eine Art toxischer Zusatz von Identität diskutiert werde. Auch in feministischen Texten sei Scham häuig als etwas betrachtet worden, dessen man sich als Individuum oder Gruppe entledigen könne, und nicht als integraler Bestandteil subjektivierender Prozesse. Mich interessiert hier insbesondere Sedgwicks Darstellung von Scham als einer bedeutungsproduzierenden Praxis (also als einer Praxis der Repräsentation). Scham hefte sich an, so Sedgwick, und könne in Bedeutungen eingrei-

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fen, sie könne Bedeutungen intensivieren oder verändern. So hat die Empindung von Scham für Hannah Cullwick zunächst einmal den Effekt, dass die Szene an der Tür mit einer Intensität belegt wird und dass in der Folge soziale Praxen (eine solche Begegnung «schmutzig» oder «sauber» zu gestalten) symbolisch oder affektiv aufgeladen und möglicherweise mit einer veränderten Bedeutung versehen werden können (die auch konservativ sein kann, wenn sie etwa Cullwick dazu verleitet hätte, die Tür ab jetzt nur noch in sauberer Kleidung zu öffnen). Eine solche Anheftung kann dazu führen, dass ein zuvor unbedeutendes Ereignis mit einer großen Bedeutung im Prozess der Subjektivierung belegt wird, dass es einer beschämenden Szene der Anrufung gelingt, die soziale Stellung des Subjektes umfassend infrage zu stellen. Scham-Erfahrungen würden dann subjektivieren, indem sie wiederholt mehr oder weniger dauerhafte strukturelle Veränderungen im Verhältnis zu sich selbst oder zu anderen herbeiführen (Sedgwick 2003a: 62f.), die dann mit der nächsten Scham-Erfahrung wieder aktualisiert und reartikuliert werden müssen. Wenn Hannah Cullwicks Umgang mit Schmutz aber im Kontext ihres SM-Szenarios betrachtet wird, dann zeigt sich, dass gerade die affektive Auladung und die Intensität es erlauben, diese Szene im Sinne einer Selbst-Repräsentation produktiv werden zu lassen. Obwohl Scham also die sogenannte Freiwilligkeit der Unterwerfung eindringlich anzeigt und Autonomie und Handlungsfähigkeit beschränkt, so kann ebendieser Affekt Handlungsfähigkeit auch überhaupt erst herstellen: Er rückt die Abhängigkeit des Geschlechts, der Sexualität, der Arbeitsposition von anderen ins Bild und fordert mit großer Dringlichkeit Praxen ein, die mit dieser Erfahrung von Abhängigkeit umgehen. Scham kann also zum Motiv einer Wendung gegen die Anrufung werden, gerade indem sie die Anrufung zur Aufführung bringt.7 Dieses Engagement ist

dabei zugleich mit einem großen Aufwand sexueller Arbeit verbunden und lässt sich daher einer Einarbeitung in gesellschaftliche Machtbeziehungen nicht als «Widerstand» gegenüberstellen. Hannah Cullwick erlaubte ihre aufwendige Beschäftigung mit der Scham allerdings, sich einer Normativität und Normalisierung zu widersetzen, und sowohl Arbeitspraxen als auch sexuelle Praxen zu verfolgen, die ich hier als pervers sexuell arbeiten im Sinne einer Subjektivierung mittels differenter Körperpraxen bezeichnen möchte. In ähnlicher Weise stellte Hannah Cullwick mit dem SM-Verhältnis einen Kontext her, in dem die Repräsentation von Schmutz erwünscht war, und trug die hier entwickelten Praxen zurück in den Arbeitskontext, wo sie ihr einerseits erlaubten, ihre Arbeit lustvoll zu verfolgen, und andererseits die Produktivität dieser Arbeit für die Arbeitgeberin begrenzten.

7 So wurde Scham in der Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre immer wieder als ein Affekt erkannt, der Autonomie und Handlungsfähigkeit verhindere und die Unterwerfung unter das Patriarchat und seine Regeln anzeige. Zugleich war es aber ebendieser Affekt, der Handlungsfähigkeit herstellte und dazu aufforderte, durch das Schaffen feministischer und lesbischer Kontexte neue Formen von Ausgesetztsein herzustellen, in denen etwa eine lesbische Praxis kein Anlass zu Scham wäre. Anja Meulenbeult brachte 1978 ihren wichtigen Coming-out-Roman Die Scham ist vorbei heraus. Der Titel taucht immer wieder auf und indet sich beispielsweise auch als Empowerment-Slogan im Kontext des ALG II als ein Mittel, um sich von

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teil iii interVentionen reflektionen queerer praxis

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do. GerbiG prozessual-strategische subjekte

in

bewegung!

Abseits des Mainstream-Diskurses über autonome Subjekte und ihre rationale Entscheidungs- oder Handlungsfähigkeit können Subjektivität und agency (persönliche und politische Handlungsmächtigkeit) als prozesshaft, brüchig und nomadisch konzipiert werden. Das von mir prozessual-strategisch genannte Subjekt wird nicht trotz der eigenen Verstrickungen in Macht-Wissenskomplexe handlungsfähig, sondern durch die Anerkennung dieser Verlochtenheit und dem Begehren nach Widerstand. Ich gehe davon aus, dass ein prozessual gedachtes Subjekt ohne authentischen Kern seines Selbst nicht nur handlungsfähig bleibt und mitnichten völlig determiniert erscheint, sondern zwischen den beiden Polen «Anpassung» und «Subversion» pendeln muss, um sich erfolgreich konstituieren und um überleben zu können. Die theoretische Basis für meine Arbeit am Subjekt bilden poststrukturalistische Annahmen sowie queer-feministische Ansätze und Bewegungspolitiken. Dabei geht es mir vor allem um die Möglichkeiten der Intervention in hegemoniale Diskurse, die anti-rassistische und queerfeministische Repräsentationen und Praxen vor dem Hintergrund einer neoliberal strukturierten Gesellschaft leisten können. Für die nähere Betrachtung subversiver Praxen ist zunächst eine Auseinandersetzung mit den Begriffen Politik, politische Handlungsmächtigkeit und Koalitionsmöglichkeit nötig. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie prozessualstrategische Subjekte in diesem Sinne handlungsfähig werden: die antirassistischen Strategien von Kanak Attak und die Arbeit der AG 1-0-1 [one ‚o one] intersex. Im Zentrum des Interesses steht dabei für mich eine bestimmte Konzeption von Repräsentationspolitik, die eben nicht auf die vermeintlich angeborene Identität zurückgreifen muss, um solidarisch interventionistische Strategien und Politiken zu entwickeln.

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Prozessual-strategische Subjekte und ihre agency Den Begriff prozessual verwende ich in Anlehnung an verschiedene poststrukturalistische Überlegungen, denen gemein ist, dass sie nicht mehr von einem kohärenten Kern des Selbst – einer metaphysischen Präsenz der Seele – ausgehen, sondern jede Form von Subjektivität als beweglich, grundsätzlich unabschließbar und brüchig denken.1 Ständige Bewegung, neue Repräsentationen und ein Neu-Einstellen auf Umgebung und (Macht-)Verhältnisse sind unabdingbar für jegliche Form der Identität. Strategisch handlungsfähig werden Subjekte meines Erachtens durch die Anerkennung der eigenen Konstituierungsprozesse entlang intelligibler Diskurse zu Identität und dem Begehren, in hegemoniale diskursive Praxen und Normalisierungen zu intervenieren. Wohlgemerkt geht es mir nicht um eine prinzipielle Wahlfreiheit der Individuen, entweder angepasst oder subversiv zu leben, sondern darum, dass jeder Identitätskonstitution das Scheitern an der Idealvorstellung schon innewohnt (Butler 1999). Die Bezeichnung prozessual-strategisch geht von der Aktivität eines nicht gänzlich determinierten Subjekts aus, die zwar innerhalb diskursiver und performativer Praktiken eingeschlossen und damit gewissermaßen «unkontrollierbar» ist, aber dennoch unter politischen Vorzeichen strategisch gegen hegemoniale Diskurse und die «Deinitionsmacht» gewendet werden kann. Beispiele hierfür, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, sind repräsentative Strategien der Fehlaneignung und Resigniikation von verletzenden Anrufungen wie «Schwuler» oder «Kanake», die eigenmächtige Aneignung von verweigerten Sprech- und Subjektpositionen, oder strategischer Essenzialismus. Die politische agency prozessual-strategischer Subjekte benötigt neben der Möglichkeit, in hegemoniale diskursive Praxen störend einwirken zu können, einen dekonstruktiven Politikbegriff und ethischen Rahmen. Es gilt anzuerkennen, dass auch in Bewegungspolitiken fatale Ausschlüsse gemacht werden. Die Ethik der bejahenden Annahme des ausgeschlossenen Anderen (Derrida 2005) ist deshalb ein zentrales Moment

von (Bündnis-)Politik und politischen Strategien. Darüber hinaus sollten Ideale wie Gerechtigkeit oder Demokratie nicht aufgegeben, sondern als (noch) Kommende oder (immer) im Werden beindliche Ideale begriffen werden (Derrida 2002, 2005). Dies betont den prozessualen Charakter von Politik und politischen Entscheidungen und lässt gleichzeitig den «Konsens» als Lösung von politischen Kämpfen fragwürdig, kritisierbar und höchst vorläuig erscheinen. Was als Subjekt, Handlungsfähigkeit, Wissenschaft oder Politik gelten darf, bleibt auf ewig in Aushandlung – und: wo Macht ist, ist auch Widerstand! (Foucault: 1983: 96)

1 Das sind Butlers (1993) Begriff der Performativität als Zitatförmigkeit und der prozesshaften Materialisierung jeglicher Realität; Derridas Praxis der Dekonstruktion, die ein ständiges Infragestellen und Transformieren (von Hierarchien) oder De-Platzieren (Moebius/Wetzel 2005) verlangt, und Foucaults Begriff der produktiven Macht, die neben Diskursen und Machtverhältnissen (Disziplinartechnologien) auch Subjektpositionen (Selbsttechnologien) hervorbringt (Foucault 1983, 1993, 1994, 1998, 2004 a, b).

Prozessual-strategische Subjekte und politische Bündnisse Für die agency einer prozessual-strategisch gedachten Subjektivität ist es zentral, den politischen Raum als ein fortwährend umkämpftes und bewegliches Feld zu verstehen. Er ist von sozialer Ungleichheit durchzogen und zugleich Austragungsort für (diskursive) Kämpfe um die Verteilung von Ressourcen jeglicher Art. Deshalb dürfen Machtverhältnisse und hegemoniale Praktiken bei der Ausbildung politischer Identitäten und im Prozess des politischen Urteilens nicht vernachlässigt werden. Mit queerer Theorie und Politik können und sollen gesellschaftliche Produktionsweisen von Normalisierung und Hierarchisierung sowie entsprechende Ausschlusspraktiken hinterfragt werden. Für queer-feministische Politikformen ist es erstrebenswert, strategische Bündnisse zu errichten, die nicht auf Identität als Basis rekurrieren, sondern sich eher auf gemeinsame Ziele hin formieren und sich dabei dem konstitutiven Außen verplichten. Ein derartiges Umdenken von agency möchte ich als Verschiebung beschreiben: weg von einem Konzept der rationalen und ökonomistischen Entscheidungen und hin zu einer nicht festlegbaren Entscheidung in relationaler Verantwortung gegenüber dem absolut Anderen in mir, ohne das sich keine Identität konstituieren könnte. Diese Verantwortung zu übernehmen bedeutet, das Andere zulassen zu können und auch innerhalb queerer Bündnisse weiter beständig nach dem zu fragen, was ausgeschlossen wird. Aus der Fragmentierung und dem Brüchig-Werden von Identität kann ein neues Verständnis von gemeinsamem politischen Handeln und eine «andere mögliche Strategie der Koalitionsbildung» entstehen:

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«Afinität statt Identität»2 (Haraway 1995: 41). Es geht darum, einen Raum zu konstruieren, «der nicht mit Handlungen auf der Grundlage natürlicher Identiikation gefüllt werden kann, sondern nur aufgrund bewusster Koalition, Afinität und politischer Verwandtschaft» (ebd.: 42). Damit werden Begehren, Freundschaft, Anziehung und Lust als Ausgangspunkt für gemeinsames widerständiges Handeln denk- und artikulierbar, ohne auf Solidarität verzichten zu müssen. In diesem Sinne fußt die afirmative Kraft feministischer Politiken für eine Solidarität, die sich nicht auf Identität beruft, darauf, die Unentscheidbarkeit der multiplen Determinierungen von «Frauen» bejahend anzunehmen: Das Zusammentreffen von «virgin, whore, mother, etc.» kann einen Raum entstehen lassen, in dem Freiheit erwächst (Elam 1994: 84). Damit soll keineswegs auf vermeintlich subjektive Autonomie angespielt werden, sondern auf die Freiheit einer kollektiven Unsicherheit, «a groundless solidarity» (ebd.). Innerhalb dieser Räume von «political otherness» kann Politik jedoch nicht in der Klärung dessen, was oder wer die «Anderen» sind, und dem Versuch, mit Differenzen umzugehen, zum Erliegen kommen. Widerständige und zukünftige «Politiken der Unentscheidbarkeit» (Elam 1994) können sich damit nicht zufriedengeben. Sie sollten Differenz in ihrer Mehrdimensionalität erkennen und strategisch nutzbar machen. Eine so ausgerichtete (Bündnis-)Politik würde nicht auf gleichmacherischen Formeln beruhen, sondern die Vielfalt betonen und im politischen Denken und Handeln stark machen. Wenn Widerstand nicht darin verhaftet bleiben soll, auf Ungerechtigkeiten zu reagieren, sondern die aktive Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse einfordert, muss über Bewegungspolitiken und rechtspolitische Strategien neu oder anders nachgedacht werden. Die Frage nach Gestaltungsmacht erfordert einen Blick auf die Bedingungen aktiver Teilnahme. Diese hängen mit der Verteilung von materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen zusammen, die durch gesellschaftliche Institutionen und rechtliche Praktiken, Diskurse und nicht zuletzt als ökonomisches System reguliert wird. Ausgrenzungs- und Hierarchisierungsmechanismen sind grundlegend in jede gesellschaftliche Ord-

nung eingearbeitet. Aus einer queer-feministischen Perspektive auf widerständige Politiken kann deshalb nicht länger die rechtliche Anerkennung von marginalisierten Gruppen gefordert werden, ohne dabei wahrzunehmen, dass das «Recht» als solches bestimmte Ungleichheiten letztlich nicht ausgleichen kann, da es auf diesen basiert. Um gewisse Gruppen mit bestimmten Rechten auszustatten, müssen sie von anderen unterscheidbar und ungleich sein. Doch wenn das «Recht» selbst als veränderliches Instrument und Austragungsort politischer Auseinandersetzungen gedacht wird, kann auch innerhalb rechtspolitischer Strategien eine «Perspektive der Enthierarchisierung und Denormalisierung» verfolgt werden (quaestio 2000: 23f). Aus dieser Perspektive ist es notwendig, nicht nur Diskriminierungen und Gewalt zu bekämpfen, sondern auf die Veränderung der Bedingungen politischer Auseinandersetzung zu zielen. Forderungen nach gesellschaftlicher Anerkennung können sich dementsprechend nicht mehr in einer assimilatorischen oder toleranz-pluralistischen Eingliederung in bestehende Verhältnisse erschöpfen. Den «multikulti-politischen» oder «kommerzialisierten» Angeboten öffentlicher Repräsentation gilt es skeptisch gegenüberzutreten, denn diese übersetzen «sich keineswegs automatisch in sozio-ökonomische und politische Teilhabe und Veränderungsmacht» (ebd.: 26f). Damit in diesem Sinn Bewegungspolitik vorangetrieben und Strategien entwickelt werden können, gilt es, die politische Perspektive zu erweitern.3

2 Afinität deiniert Haraway als «eine Beziehung auf der Grundlage von Wahl, nicht von Verwandtschaft, die Anziehungskraft einer chemischen Gruppe für eine andere, Begierde» (Haraway 1995: 40).

Prozessual-strategische Subjekte und Widerstand Um Widerstand auf der subjektiven Ebene sowie im Sinne einer Intervention in gesellschaftliche Systeme der Ungleichheit denkbar zu machen, verwende ich einen Repräsentationsbegriff, der beide Ebenen erfasst und zwischen ihnen vermittelt. Dazu greife ich Antke Engels Begriff der Repräsentation als Intervention auf, der Repräsentation in ihrer Verknüpfung mit der Norm anerkennt und nicht als neutrales Medium der Darstellung/Abbildung versteht. Als soziale Praxis ist Repräsentation konstitutiv wirksam, produziert Bedeutungen und konstruiert 3 Quaestio entwickeln dazu das Konzept des sexual citizenship, welches Bürger_Innenschaft als ein Set von rechtlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Praktiken deiniert, das eine Person zum kompetenten Mitglied einer Gemeinschaft macht und damit auch deren Zugang zu Ressourcen bestimmt (quaestio 2000: 22).

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Wirklichkeit. Als Vermittlerin zwischen Subjektivierungsweisen und Herrschaftsformen unterliegt sie sozio-historischen Bedingungen, stellt aber auch eine Möglichkeit dar, in diese einzugreifen (Engel 2002: 18). Damit Repräsentation als Intervention politische Relevanz erhalten kann, müssen sich Prozesse veränderter Vorstellungen/Darstellungen in veränderte Selbstverständnisse und -verhältnisse, in Praktiken und Existenzweisen übersetzen: Diese Übersetzungsprozesse sollten nicht nur auf der Ebene von Subjektpositionen und sozialen Beziehungen wirksam werden, da es letztlich darum geht, in hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse verändernd einzugreifen (ebd.). Vor dem Hintergrund der «lexiblen Normalisierungen» einer neoliberalen Gesellschaftsformierung ist es hinsichtlich queer-feministischer Politiken notwendig, repräsentationspolitische Strategien mit Kriterien der Denormalisierung und Enthierarchisierung zu verbinden. Diese sollten kontextspeziisch auf konkrete Hierarchien und Normalitäten zielen, wobei aber die Frage danach, welche als problematisch gelten, immer kontrovers und politisch umkämpft bleibt (ebd.: 228). Vor jeder politischen Strategie steht deshalb unabdingbar die Überlegung, wie die heteronormative, androzentristische und rassistische Verfasstheit gesellschaftlicher Institutionen immer auch die Bedingungen für politische Praxis und Gestaltungsmacht deiniert (ebd.: 59).

legter ‹Identitäten› hinweg» (Kanak Attak 1998). Aufgrund der vielen «gelebten Überschneidungen» queerer und kanakischer Lebensformen (vgl. u.a.: El-Tayeb 2003, Wehr 2007) und im Hinblick auf «gesamtgesellschaftliche Interventionen» sollte m. E. nicht an dem vermeintlichen Nebeneinander von feministischen, sexuellen und anti-rassistischen Politiken festgehalten werden. Diese gefährliche Trennung scheint zu behaupten, queere politische Strategien beträfen nur Weiße, anti-rassistische dagegen nur Migrant_innen. Durch diese Grenzziehungen werden Queers of Color unsichtbar gemacht und gemeinsames politisches Handeln durch den – meist einseitigen – Assimilationsdruck erschwert. Die «Strategia Kanak»4 ist nicht darauf ausgelegt, dem ganz normalen rassistischen Wahnsinn aus einer Opferposition gegenüberzutreten und mit toleranz-pluralistischer Argumentation Rechte auf soziale Teilhabe und Mitgestaltung einer bestimmten Gruppe einzufordern. Stattdessen eignet sich Kanak Attak durch offensive Repräsentationspraktiken und Resigniikationsstrategien die verweigerten Subjekt- und Sprechpositionen ebenso wie soziale Räume und Öffentlichkeiten eigenmächtig an. Die Aktivist_innen von Kanak Attak beziehen sich dazu auf die Autonomie der Migration (Moulier Boutang 2002; Bojadžijev/Karakayali 2007)5, welche trotz der immer rigider werdenden Grenzüberwachungstechnologien und Migrationsgesetzgebung in der BRD und ganz Europa nicht zu kontrollieren ist. In diesem Sinne besteht ihre anti-rassistische Politik auf die Legalisierung aller Flüchtlinge und Migrant_innen. Mit der Gründung der «Gesellschaft für Legalisierung» betreibt das Netzwerk offensive öffentliche Angriffe auf die Normalität/Rationalität illegalisierender Klassiikationen und rassistischer Praxen der bundesdeutschen Gesellschaft.6 In der Arbeit von Kanak Attak und durch die Gründung der «Gesellschaft für Legalisierung» werden meines Erachtens speziische repräsentationspolitische Strategien umgesetzt. Es mag widersprüchlich

Nicht-identitäre Repräsentationsstrategien: Kanak Attak und 1-0-1 [one ‚o one] intersex Vor dem Hintergrund der so konzipierten Repräsentation als Intervention beginne ich meine Auseinandersetzung mit praktischem Widerstand mit den anti-rassistischen Strategien von Kanak Attak, deren Praktiken m. E. als geradezu beispielhaft für die agency von prozessual-strategischen Subjekten und deren Möglichkeiten, Widerstand zu leisten, gelten können. Fatima El Tayeb (2003: 132) hat zu Recht kritisiert, dass Rassismus in queerer Theorie und Praxis häuig nur als Nebenwiderspruch erscheint, weshalb aus meiner Perspektive auf Queer-Feminismus und Bewegungspolitik der Anti-Rassismus ganz oben auf die Agenda gestellt wird. Zunächst steht für mich im Zentrum, dass die Strategien von Kanak Attak nicht auf identitären Annahmen beruhen, denn die Aktivist_innen agieren «über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege ge-

4 «Die Strategia Kanak steht für die Offensive; so wie wir im Kampf um das Recht auf Legalisierung uns auf die Autonomie der Migration beziehen und das Recht auf Rechte behaupten – Rechte, die es noch nicht gibt, die wir uns aber längst genommen haben! –, erzählen wir die Geschichte der Migration nach Almanya aus der Perspektive des Widerstands und der Dynamik der Kämpfe» (Kanak Attak 2004). 5 Vgl. www.kanak-attak.de/ka/text.html [22. 9. 2008] 6 Vgl www.rechtaulegalisierung.de/ [22. 9. 2008]

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erscheinen, auf der einen Seite «formal-juristische» Gleichstellung für Migrant_innen zu fordern: «Ohne daß wir es für den Himmel auf Erden erachten, wenn alle Pässe, Wahlrecht oder ähnliches bekommen, erscheint es uns jedoch als notwendige Voraussetzung, daß jeder wenigstens auf rein formaler Ebene gleiche Rechte genießt» (Kanak Attak 1998). Auf der anderen Seite aber lehnt Kanak Attak konformistische Lobbypolitik und Gleichheitsmodelle strikt ab. Doch politische Strategien, die sich an der Komplexität divergierender und sich historisch wandelnder Diskurse und Machtverhältnisse orientieren müssen, brauchen nicht auf Widerspruchsfreiheit zu setzen (Engel 1999/2000: 5), sondern können Widersprüche produktiv7 nutzbar machen. Das Netzwerk Kanak Attak bewegt sich «in einem Strudel von nicht aulösbaren Widersprüchen, was das Verhältnis von Repräsentation, Differenz und die Zuschreibung ethnischer Identitäten anbetrifft» (Kanak Attak 1998). Bei der «Strategia Kanak» geht es ganz klar darum, eine breite und mediale Öffentlichkeit zum Austragungsort politischer Artikulationen zu machen, um von da aus nicht nur die rassistische Verfasstheit der Gesellschaft, sondern auch die Konstruktion von Nationalität an sich – «die scheinbar selbstverständliche Regelung des ‹Drinnen› und ‹Draußen›» (Kanak Attak 1998) – zu de-normalisieren. Um sich vor diesem Hintergrund zu äußern, benutzen die Aktivist_innen eine Mischung aus Theorie und künstlerischer Praxis und dringen verstärkt in den Bereich von Medien und Kultur vor. Ohne dabei eine einheitliche Strategie verfolgen zu müssen, inden ihre Praxen in partikularen und heterogenen Kontexten statt. Kanak Attak benutzt auf ganz eigene Weise Repräsentation als Intervention – zur Anfechtung von Normalisierungen, Kategorisierungen und der Hierarchisierung von Lebensmöglichkeiten durch Rassismus – und stellt dabei spezielle kanakische Repräsentationsformen her. Aus den vielen unterschiedlichen Formaten, die das Netzwerk für politische Arbeit und Repräsentation benutzt, wähle ich zur Veranschaulichung den Trailer, der für den Euromayday 2007 produziert wurde. Hier ging es den Aktivist_innen darum zu zeigen, dass die gängige Auffas-

sung von prekarisierten Lebensverhältnissen auch innerhalb des Euromayday nur die negativen Seiten von Prekarität im Blick hat. Laut dem Filmemacher sei dies zu einseitig, und es war ihm ein Bedürfnis, auch die andere Seite darzustellen. Dies geschah in einem ca. drei Minuten langen Mobilisierungsclip, der ohne Sprache oder Text auskommt und stattdessen auf Bildsprache setzt – oder besser: eine speziell kanakische Verbildlichung von Prekarität zeigen will. Dabei tritt, in ganz normalen alltäglichen Handlungen, eine Person oder Figur auf, die die Kleidung von Bollywood-Filmen trägt. Prekärer Alltag wird dabei in Form von dynamischen Bewegungen, als Parcours durch die Stadt dargestellt. Gleichzeitig wird dies vermischt mit Tanzelementen, weil die kanakische Bildsprache bestrebt ist, genau der rein negativ gedachten Prekarität mit tänzerischen Bewegungen, also mit etwas, das afiziert und begeistert, zu begegnen.8 Diese Darstellungsweise verweigert sich der migrantischen Opferhaltung und stellt einem Verständnis von Widerstand als Reaktion das (offensive) Agieren, die kreative Gestaltung von Handlungsmöglichkeit und die Aneignung des öffentlichen Raumes gegenüber.

7 In diesem Fall: Nur durch die Einsetzung gleicher Bürger_innenrechte, unabhängig von nationalistischen oder ethnischen Zuschreibungen, kann der Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen hergestellt werden, um soziale Ungleichheiten angehen zu können.

Als zweites Beispiel möchte ich die politische Arbeit der AG 1-0-1 [one ‚o one] intersex9 vorstellen. Im Bestreben «einer Art paradoxer Intervention», die Rechte für intersexuelle Menschen einfordert und zugleich die «machtvollen Deinitions- und Ausgrenzungsprozesse» kritisiert, rückten die Potenziale einer künstlerischen Beschäftigung mit dem Thema in den Mittelpunkt (AG 1-0-1 intersex 2005a: 10). Die AG setzte sich in Vorbereitung der Ausstellung 1-0-1 [one ‚o one] intersex. Das ZweiGeschlechter-System als Menschenrechtsverletzung10 mit verschiedenen historischen, wissenschaftskritischen und rechtlichen Hintergründen zum Thema Intersexualität auseinander. Der Titel der Ausstellung benennt 8 Interview von Do. Gerbig mit Marcin Michalski, Aktivist/Filmemacher bei Kanak Attak. 9 Die AG besteht aus Ulrike Klöppel (historische Recherche), Ins A Kromminga (künstlerische Auswahl), Nanna Lüth (künstlerische Auswahl), Rett Rossi (Veranstaltungskonzept), Karen Scheper de Aguirre (Ausstellungsgestaltung), Andrea Bronstering und Ulrike Hennecke (Mitarbeit) und Nanna Heidenreich (Übersetzungen). 10 Die Ausstellung fand vom 17. Juni bis 31. Juli 2005 in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. (NGBK), Berlin statt.

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bereits das politische Anliegen. Verantwortlich für die Verletzung der körperlichen Integrität und Unversehrtheit, speziell die Praxis der Genitalverstümmelung als gewaltförmige Anpassung, ist ein heteronormativer Diskurs, der Intersexualität als eine zu heilende Krankheit deiniert, da es nur Frauen oder Männer geben darf. Medizinische Eingriffe in die Körper von Intersexuellen während der ersten Lebensjahre erfolgen in der Regel ohne deren Zustimmung und vorgeblich zu deren Wohle. Dabei wird, wo vorher Uneindeutigkeit verwirrte, die zweigeschlechtlichte Norm operativ hergestellt, Intersexualität unsichtbar gemacht und die Auseinandersetzung auf gesellschaftlicher Ebene vermieden. Das Positionspapier von 1-0-1 [one ‚o one] intersex fordert dementsprechend «die Streichung der amtlichen Geschlechtsregistrierung von Neugeborenen und die Zulassung geschlechtsneutraler Vornamen» und außerdem, von «rein kosmetischen medizinischen Eingriffen im Kindesalter» Abstand zu nehmen (AG 1-0-1 intersex 2005b: 187). Dazu muss «eine auf dem Prinzip der Entpathologisierung und Entdramatisierung beruhende Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit» (ebd.) geleistet werden. Die Ausstellung verfolgt das Konzept, den klassischen Bildmustern «Mann und Frau» neue Visualisierungen von politisch-künstlerischen Aktivist_innen gegenüberzustellen, die ihre Strategien der Kritik am bestehenden System sowie der Aufklärung über Alternativen verschrieben haben (Baumann 2005: 3). Dabei geht es vor allem darum, einen Raum für bisher nicht vorhandene, positiv besetzte und von der Gesellschaft akzeptierte Modelle jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu erschaffen (ebd.: 4). Die Ausstellungsmacher_innen sehen das Potenzial der Kunst darin, auf «Widersprüchlichkeiten und Brüche in der binären Geschlechterordnung aufmerksam» (Lüth 2005: 38) zu machen. Die Rezeption einer Ausstellung geht über das bloße kognitive Entschlüsseln hinaus: «Indem die Wahrnehmung komplexer multimedialer Arbeiten also tendenziell Ambivalenzen und offene Fragen generiert, kann sich im Kunstraum eine produktive Verunsicherung von rigiden Differenzsystemen ereignen» (ebd.: 39). Die Frage, ob eine Kunstausstellung als politische Praxis gelten kann, stellt sich vor dem Hintergrund der nicht haltbaren Trennung zwischen Kultur und Politik für mich als Rezipientin nicht. Im Sinne der Herstellung/Visualisierung positiver Besetzungen und Selbstbilder von gesellschaftlich verworfenen KörperSubjekten, kann von einem «strategischen

Essentialismus» (AG 1-0-1 intersex 2005a: 10) gesprochen werden, der Rechte für intersexuelle Menschen einfordert. Nicht nur, weil Intersexuelle durch die «medizinische Behandlung» gesellschaftlich nicht wahrnehmbar gemacht werden, ist m. E. die «essentialistische» Forderung nach rechtlich verbürgter körperlicher Unversehrtheit dringend angebracht; sie ist auch deshalb wichtig, damit die vielfältigen Formen geschlechtlicher Ausprägung überhaupt eine Überlebenschance bekommen und nicht schon in der Kinderklinik auf das intelligible Maß zurechtgeschnitten werden. Problematisch würde ein «strategischer Essentialismus» erst an dem Punkt, wo er aus den vielen verschiedenen Intersex-Körpern und Subjekten eine neue abgeschlossene und homogenisierte Kategorie erschafft. Genau darin aber liegt die Herausforderung für Projekte wie 1-0-1 [one ‚o one] intersex: die eigenen rechtspolitischen Strategien so zu entwickeln, dass sie sich gegen die Normalisierungs- und Hierarchisierungsmechanismen dominanzgesellschaftlicher Verhältnisse richten (Engel 2000: 160). So zielt die AG darauf, theoretisch-universitäre Kreise zu verlassen und sich gesellschaftlich anerkannte Räume der Kulturproduktion anzueignen. Das Programm der Ausstellung verlässt dazu auch den «Schutzraum Ausstellung», um auf möglichst vielen Ebenen – in der vom zweigeschlechtlichen Alltag geprägten Einkaufsstraße ebenso wie an Toilettentüren – «alternative Deutungs- und Handlungsmuster für den sozialen Raum zu entwerfen» (AG 1-0-1 intersex/NBGK 2005: 11). Fazit Innerhalb meiner Auseinandersetzung mit widerständigen politischen Praktiken war es mir wichtig, herauszustellen, dass Repräsentation durchaus als Intervention wirken kann und rechtspolitische Strategien nicht ausschließlich auf Integration der «eigenen marginalen Identität» in das dominanzgesellschaftliche Gefüge gerichtet sein müssen. Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen meines Erachtens die Möglichkeit, auf hegemoniale diskursive Praxen, vor deren Hintergrund sowohl SubjektWerdung als auch die Materialisierung von sozialer Wirklichkeit stattindet, störend einzuwirken. Widersprüche und Differenzen sind für den hier angelegten Begriff von Politik eben nicht Störfaktoren der Efizienz und tunlichst auszuräumen, sondern halten auf immer das Begehren nach neuen und gerechteren politischen Strategien wach. Widerstand

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wird für mich damit als kreativer Prozess lesbar, der im Zusammenhang mit der Lust auf immer neue Repräsentationen für die gelebte Vielfalt der Subjekte steht. Erstrebenswert wäre es, die Stärke der Verbindung von queeren und anti-rassistischen Positionen auszuloten und im Sinne einer «breiteren» Intervention in die Dominanzgesellschaft zu nutzen, auch wenn sich queer-feministische Ansprüche nicht automatisch von selbst erfüllen, sobald Rassismus nicht mehr als Nebenwiderspruch erscheint. Vor dem Hintergrund der neoliberalen Gouvernementalisierung der Gesellschaft kann außerdem keine Strategie/Praxis außerhalb entsprechender Rationalitätsdiskurse und speziischer Subjektivierungsanforderungen gedacht werden und stattinden. So besteht die Herausforderung darin, agency als ein Privileg anzuerkennen, das aus historisch speziischen und ungleichen Bedingungen erwächst, und Praktiken zu entwickeln, die aus ihrer Situiertheit heraus gerade diese sozialen Ungleichheiten angreifen. Dazu ist es nötig, kritisch und sehr speziisch nach den unterschiedlichen und widersprüchlichen Formen der Einbindung zu fragen, damit Widersprüchlichkeit produktiv und nicht einfach unsichtbar gemacht wird11 – damit die gelebte und l(i)ebenswerte Vielfalt nicht der Gleichmacherei zum Opfer fällt.

Bojadžijev, Manuela; Karakayali, Serhat (2007): Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe 2007, 203-209 Butler, Judith (1993): Bodies that Matter. On the Discursive Limits of «Sex», New York Butler, Judith (1999): Gender Trouble, New York/London Derrida, Jacques (2002): Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (2005): Gesetzeskraft. Der «mystische Grund der Autorität», in: Moebius/Wetzel 2005, 140-153 El-Tayeb, Fatima (2003): Begrenzte Horizonte. Queer Identiy in der Festung Europa, in: Rodríguez/Steyerl 2003, 129-145 Elam, Diane (1994): Feminism and Deconstruction. Ms. en abyme, New York Engel, Antke (1999/2000): Queer-feministische und kanakische Angriffe auf die Nation. Antirassistische Praktiken und das Konzept der StaatsbürgerInnenschaft, in: Vor der Information, 2-5 Engel, Antke (2000): Differenz (der) Rechte – Sexuelle Politiken und der Menschenrechtsdiskurs, in: quaestio 2000, 157-174 Engel, Antke (2001): Die VerUneindeutigung der Geschlechter – eine queere Strategie zur Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse?, in: Heidel/Micheler/Tuider 2001, 346-364 Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a. M. Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. Foucault, Michel (1993): Leben machen und Sterben lassen, in: Lettre international (63), 62-67 Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. Foucault, Michel (1998): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. Foucault, Michel; Michael Sennelart (Hg.) (2004a): Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a. M. Foucault, Michel; Michael Sennelart (Hg.) (2004b): Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M. Groß, Melanie; Winker, Gabriele (Hg.) (2007): Queer-|feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse, Münster

Literatur AG 1-0-1 intersex (2005a): Statt einer Einleitung, in: AG 1-0-1 intersex/ NGBK 2005, 8-11 AG 1-0-1 intersex (2005b): Positionspapier, in: AG 1-0-1 intersex/NGBK 2005, 187 AG 1-0-1 intersex; Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.) (2005): 1-0-1 [one ‚o one] intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung. Ausstellungskatalog, Berlin Baumann, Leonie (2005): Vorwort: Normierung bis zur Isolation, in: AG 1-0-1 intersex/NGBK 2005, 3-5 11 Vgl. dazu Engel 2002: 62 und 2001: 362f.

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_______________________________________________________________ Haraway, Donna (1995): Die Neuerindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./New York Heidel, Ulf; Micheler, Stefan; Tuider, Elisabeth (Hg.) (2001): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, Hamburg Kanak Attak (1998): Manifest, www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html [22. 1. 2008] Kanak Attak (2004): Pressemitteilung Dönerstress, www.kanak-attak. de/prater/index.html [17. 1. 2008] Lüth, Nanna (2005): Schweigen = Verstümmelung, in: AG 1-0-1 intersex/ NGBK 2005, 32-39 Moebius, Stephan; Wetzel, Dietmar J. (2005): absolute. Jacques Derrida, Freiburg Moulier Boutang, Yann (2002): Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration, in: Subtropen 12-4, Jungle World 15-02 quaestio: Beger, Nico J. u.a. (Hg.) (2000): Queering Demokratie. Sexuelle Politiken, Berlin Rodríguez, Encarnación Gutiérrez; Steyerl, Hito (Hg.) (2003): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) (2007): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Rändern Europas, Bielefeld Wehr, Christiane (2007): Queer und seine Anderen. Zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten queerer Bündnispolitik zwischen Pluralismusansprüchen und Dominanzeffekten, in: Groß/Winker 2007, 149-168

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JoKe JAnSSen theoretisch intersexuell

wie intersexuelle menschen zwischen den zeilen

bleiben

Die Gender und Queer Studies gehören zu den wenigen Theorierichtungen, die sich mit Intersexualität befassen. Intersexualität ist Thema sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. Dabei war und ist der intersexuelle Körper meist willkommener Träger einer dekonstruktivistischen Bearbeitung der Kategorie Geschlecht. Zunehmend wird allerdings Kritik daran geäußert, dass Intersex-Themen nur aus dieser Perspektive behandelt werden. Die Implikationen, die die medizinische Behandlungspraxis für intersexuell geborene Menschen hat, werden laut vieler Kritiker_innen1 in die gender-theoretischen Texte oft nicht mit einbezogen (Engel 1997; Koyama/Weasel 2003; Dietze 2006). Insofern stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit dem Thema Intersexualität beschäftigen, als hätten sie es lediglich mit einem abstrakten Feld geschlechtlicher Normverletzungen zu tun. Wo in den Texten bleiben die Individuen, die durch die Durchsetzung der Norm Zweigeschlechtlichkeit häuig für ein Leben lang verletzt werden? Emi Koyama und Lisa Weasel haben in ihrer Arbeit Von der sozialen Konstruktion zu sozialer Gerechtigkeit. Wie wir unsere Lehre zu Intersex verändern (2003) die Behandlung von Intersex-Themen in der Lehre betrachtet. In Anlehnung an ihre Thesen bearbeite ich problematische Handhabungen von Intersex-Themen in theoretischen Texten. Ich werde dafür kurz vorstellen, welche Überlegungen Aktivist_innen2 bezüglich 1 Mit dieser Schreibweise bezeichne ich alle Menschen, die sich als männlich, weiblich, als etwas von oder zwischen beidem, jenseits dieser Kategorien oder als etwas ganz anderes verorten. Ich beziehe mich dabei auf den Vorschlag von Steffen Kitty Herrmann (2003). 2 Als Aktivist_innen bezeichne ich in diesem Fall Menschen, die sich solidarisch zu Intersexualität äußern. Darüber hinaus verstehe ich es nicht als Voraussetzung

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einer adäquaten Behandlung von Intersex-Themen anstellen und welche Arten der Thematisierung aus welchen Gründen als entwürdigend, objektivierend oder auf andere Weise nicht verantwortungsvoll betrachtet werden. Ich zeige, wie Intersexualität im Text mystiiziert wird und wie intersexuelle Expert_innen aus der Wissenschaftsproduktion ausgeschlossen werden. Ich diskutiere die Platzhalterfunktion des Joan/JohnFalles und schließlich die Methode, anhand intersexueller Menschen die Konstruiertheit von Zweigeschlechtlichkeit zu beweisen. An dieser Stelle materialisiert sich auch meine Lust am Text. Nach einiger Beschäftigung mit Intersexualität geriet ich an einen Punkt, an dem ich meine Arbeitsposition gründlich überdenken musste. Ich hatte Intersexualität gerne und häuig als Paradebeispiel für die Konstruiertheit von Geschlecht herangezogen und in meinen Arbeiten gehandelt, als gäbe es keine Äußerungen intersexueller Menschen zu ihrer Situation. Als nicht-intersexueller Person fällt es mir auch jetzt schwer, diesem Thema gerecht zu werden. Im Sinne Donna Haraways versuche ich, nicht die verantwortungslose Position der Mächtigen einzunehmen und mich der Illusion eines objektiv-neutralen Wissens hinzugeben, sondern «von unten» zu sehen (1995: 83f.), was die kritische Hinterfragung der eigenen Positionierung beinhaltet. Dementsprechend ist dieser Text ein Zwischenstand, den ich schon häuiger kritisieren, umstellen, löschen musste/konnte. Ich versuche, herrschaftssensibles Wissen zu produzieren, und möchte dazu beitragen, die sich in Arbeiten zu Intersexualität einschleichenden Ausschlussmechanismen aufzudecken und zu vermeiden. Ich untersuche hier einige Texte, die in den Gender und Queer Studies entstanden sind und/oder dort zu Intersexualität rezipiert werden.3 Dabei zeige ich, dass eine wohlwollende Beschäftigung mit Intersexualität unter Umständen nicht ausreicht, um dem Thema gerecht zu werden. Intersexuelle Menschen besetzen Plätze in einem Feld, das vielfach ver-

woben und machtvoll aufgeladen ist. Die Tendenz, sich Intersexualität aus einer einzigen Perspektive zu nähern, birgt die Gefahr, ineinander verzahnte Herrschaftsmechanismen nicht wahrnehmen zu können. Anhand der folgenden Texte möchte ich meine Kritik formulieren: Michel Foucaults Aufsatz Das wahre Geschlecht (1998) ist die Einleitung zu der Textsammlung Über Hermaphrodismus (Barbin/Foucault 1998). Auf diesen Text bezieht sich Judith Butlers Foucault, Herculine und die Politik der sexuellen Diskontinuität (1991). Anne Fausto-Sterlings The Five Sexes (1993) markiert unter anderem einen Anfangspunkt intersexueller Selbstorganisation in den USA. Gabriele Dietze ist mit ihrer Arbeit Allegorien der Heterosexualität. Intersexualität und Zweigeschlechtlichkeit – eine Herausforderung an die Kategorie Gender? (2003) im deutschsprachigen Kontext zu verorten. Eine abschließende Bemerkung zur Wortwahl: Es gibt mehrere Wörter, die Intersexuelle, Hermaphroditen, Zwitter bezeichnen. Diese Wörter haben unterschiedliche Entstehungsgeschichten und sind für viele Menschen, die mit ihnen benannt werden, mal mehr, mal weniger problematisch und als Selbstbezeichnung fast immer bewusst gewählt. Die Wörter Zwitter, Hermaphrodit, intersexuell werden gleichermaßen als pathologisierende Kategorisierungen verworfen und als normverletzende Selbstbezeichnung wiederangeeignet. Ich habe für diesen Text entschieden, als Benennungsgrundlage die Konstruktion «intersexuelle Menschen» zu benutzen. Damit folge ich dem Vorschlag der AG 1-0-1 intersex, die diese Bezeichnung als weitgehend akzeptiert benennt (AG 1-0-1 intersex/NGBK 2005b: 37). Ich versuche also, möglicherweise verletzende Worte zu umgehen, und bin dabei mit der Vermeidung radikalerer Selbstbezeichnungen intersexueller Menschen gleichzeitig sehr brav. In den von mir zitierten Texten können selbstverständlich andere Benennungen vorkommen. Ich habe mich gegen die Benutzung des Kürzels DSD (disorders of sex development) entschieden, das sich als neuer Begriff momentan etabliert, für mich aber eine starke Konnotation mit pathologischer Abweichung hervorruft, die ich nicht transportieren möchte. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich allein durch meine Benennungen erneut kategorisiere und homogenisiere.

für Aktivist_innen, selbst intersexuell zu sein. Für eine genauere Darlegung, was Intersex-Aktivismus bedeuten kann, vgl. zum Beispiel Koyama (2003a; 2003b). 3 Meine Arbeit kann hier nur ausschnitthaft sein. Ich kann nicht sagen, was in den Gender-Kursen der Universitäten vor sich geht, auf keinen Fall möchte ich mir anmaßen, DIE Gender und Queer Studies zu deinieren. Meine Kritik entsteht aus einem immer einmal wiederkehrenden Stolpern über Ausschlüsse in Texten, denen (über Veröffentlichungsorte, Zitathäuigkeit etc.) aus meiner Sicht sehr viel Bedeutung beigemessen wird.

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«Geben Sie Intersexuellen Autorität.»4 Intersex-Aktivismus ist eine relativ junge Bewegung. 1993 gründete Cheryl Chase die Intersex Society of North America5 und damit die erste politische Organisation intersexueller Menschen. Seitdem sind auch in Deutschland diverse Gruppen mit unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden. Die verschiedenen Gruppen und Projekte engagieren sich vielfältig von der Infragestellung von Zweigeschlechtlichkeit über Vernetzung zu (häuig syndromorientierten) Selbsthilfegruppen.6 Während die Politiken und Politikvorstellungen der einzelnen Gruppen sich stark voneinander unterscheiden können, werden bestimmte Forderungen und Ziele von einem breiten Spektrum an Aktivist_innen ähnlich benannt. Ein vielfach vertretenes Ziel ist die Produktion eines selbstbestimmten Wissens zu Intersexualität. Eli seMbessakwini erklärt dies folgendermaßen:

von außerhalb der Community. Das hat notwendigerweise Darstellungen zur Folge, die von sensationsgierigen Beschreibungen über kalte anthropologische/medizinische Studien und Abhandlungen bis zu wohlmeinenden und mitfühlenden, aber objektivierenden und bloßen Opferdarstellungen reichen.» (2005: 40)

«Viele der kulturellen Repräsentationen intersexueller Erfahrungen und Themen stammen bislang aus Studien und Dokumentationen 4 www.isna.org [7. 10. 2008]. ISNA hat sich inzwischen aufgelöst, vgl. www.isna. org/farewell_message [7. 10. 2008]. 5 Das Projekt 1-0-1 [one ‚o one] intersex versucht, die Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und (menschen)rechtliche Diskursinterventionen gleichzeitig oder nebeneinander zu verhandeln: www.101intersex.de/index.php [10. 1. 2009]. Die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen ist politisch motiviert und die deutschsprachige Plattform der Organisation Intersex International: www. intersexualite.de [17. 2. 2009]. Das Hermaphrodit-Forum ist ein klassisches Internetforum und dient so beispielsweise auch der Vernetzung intersexueller Menschen: http://65694.rapidforum.com [7. 10. 2008]. Als Beispiel für eine Selbsthilfegruppe verweise ich auf die xy-Frauen: www.xy-frauen.de [21. 1. 2009]. Die Politiken und Zielsetzungen der verschiedenen Gruppen überlappen sich allerdings und sind nicht so klar zu trennen, wie diese Aulistung es hier tut. Auf der Webseite von 1-01 [one ‚o one] intersex gibt eine Link-Seite einen ausführlichen Überblick zu Websites, die Intersexualität betreffen. 6 Der Menschenrechtsdiskurs gründet auf westlichen Konzepten von MenschSein und beansprucht universelle Gültigkeit. Im Zusammenhang mit Intersexualität ergibt sich daraus die Frage, ob eine (wiederum Individuen ausschließende) Politik der Integration oder eine Politik der Dekonstruktion (von Zweigeschlechtlichkeit) verfolgt werden soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die AG 1-0-1 intersex verweisen, die sich dem Thema Intersexualitätsbehandlung als Menschenrechtsverletzung kritisch und vielschichtig nähert, vgl. AG 1-0-1 intersex/ NGBK 2005a; 2005b und www.101intersex.de/index.php [6. 10. 2008].

Intersex-Aktivist_innen fordern, dass die momentane medizinische Einstellung gegenüber intersexuellen Menschen kritisiert und verändert wird. Dies bedeutet zunächst, dass die operativen Zuschneidungen zu einem von zwei angeblich natürlichen Geschlechtern nach der Geburt aufhören. Dazu schreibt Emi Koyama: «Certainly, the number one issue activists have been rallying around is the issue of medical maltreatment of intersex through unnecessary surgeries, vaginal dilation- -that is, the forced and repeated insertion of foreign objects into the child’s surgically created vagina by trusted adults–and the public display of naked bodies in front of large number (sic!) of medical professionals and students supposedly for educational purpose.» (2006: Seite$$) Die ärztliche Praxis berührt hier ethische Fragen nach dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und wird aus diesem Grund auch von einigen Aktivist_innen als Menschenrechtsverletzung7 kritisiert (vgl. Gerbig in diesem Band). Weiterhin steht die nach wie vor praktizierte Politik des Verschweigens und Pathologisierens bei der Geburt eines intersexuellen Kindes im Fokus der Kritik. Solange intersexuelle Körperlichkeiten den Eltern als krankhaft und vor dem Kind und den Verwandten bzw. dem Umfeld des Kindes verschweigenswert präsentiert werden, 7 Ich verstehe in dieser Arbeit «Identität» als kontextabhängigen und damit sich ständig ändernden, vielschichtigen Subjektivierungsprozess. In diesem Sinn gehe ich davon aus, dass Identitäten sowohl situativ gebrochen als auch strategisch-essentiell verwendet werden können. Gleichzeitig respektiere ich an dieser Stelle die essentialistische Benutzung von Begriffen wie Zwitter oder intersexuell, da solche Selbstbezeichnungen hier eine emanzipatorische Antwort auf das Verschweigen und die Verneinung intersexueller Körperlichkeiten und Existenzweisen darstellen. Ich möchte mir an dieser Stelle nicht anmaßen, Menschen die Selbstbezeichnung mit umkämpften Begriffen abzusprechen, möchte aber durchaus die Ausschlüsse kritisieren, die naturalistische Festschreibungen von Identitäten produzieren können.

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ist Intersexualität mit Scham, Selbstverleugnung und dem Erleben des eigenen Körpers als krankhaft Anderes verbunden. Intersexualität wird von Aktivist_innen weder einheitlich als verbindendes Wesensmerkmal noch als strategische Bündnisidentität verstanden.8 Es gibt zwar Menschen, die sich als Zwitter/intersexuell/Hermaphrodit verorten und teilweise auch in diesem Sinne politisch agieren, dennoch gilt dies nicht für alle intersexuell geborenen Menschen (Intersex Initiative 2003: 39). Ins A Kromminga stellt im Vergleich mit schwullesbischen Bewegungen fest: «Die Vorstellung einer ‹Community›, die auf Identität basiert, existiert für Zwitter in dieser Form nicht» (2005b: 114). Insofern eignen sich Menschen mit intersexuellen Körperlichkeiten weder dazu, einen außeridentitären Standpunkt zu markieren, noch einheitlich mit schwullesbischen, Trans*10- oder Queer-Politiken verglichen oder erklärt zu werden.11 Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliche Struktur ist bedeutungsschaffende Voraussetzung, aufgrund derer eine «Anpassung» intersexueller Körper an eines von zwei Geschlechtern überhaupt erst argumentierbar wird. Demnach wird auch die Dekonstruktion der Mann-Frau-Dichotomie von einigen Aktivist_innen als eine der poli-

tischen Hauptaufgaben gesehen (Kromminga 2005b: 114; AG 1-0-1 intersex/NGBK 2005a). Gleichzeitig aber lässt die momentane Behandlung von Intersexualität innerhalb der Frauen- und Geschlechterstudien Lebensrealitäten und Subjektivitäten intersexueller Menschen zu häuig außer Acht (Koyama/Weasel 2003). Insofern wird gefordert, dass Sichtweisen intersexueller Autor_innen nicht übergangen oder vergessen werden dürfen, sondern die Hauptinformationsquellen bei der Bearbeitung von Intersex-Themen darstellen sollten (ebd.: 86f.). Ich zeige im Folgenden, welche Herangehensweisen an das Thema Intersexualität sich in geschlechtertheoretischen Texten inden lassen. Vor dem Hintergrund der intersex-aktivistischen Kritikpunkte lässt sich erfassen, inwiefern Arbeiten in den Geschlechterstudien die oben genannten Forderungen nicht aufgreifen, sondern Intersexualität instrumentalisieren. Auf diese Weise gelingt es den Theoretiker_innen nicht, einen verantwortlichen Rückbezug zu den in ihren Texten beschriebenen Menschen zu schaffen.

8 An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Intersex Initiative durch ihre Benennungspolitik und die verwendeten Formulierungen Einschränkungen vornimmt, indem sie die Identiikation als Mann oder Frau als selbstverständlich für «die meisten» Intersexuellen darlegt. Damit positioniert sie sich teilweise entgegen queeren Lebens- oder Identitätsentwürfen. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass die Proklamation von Lebensentwürfen abseits der «Normalität» ein auf Integration zielendes politisches Agieren erschwert. Für den Hinweis, die Politiken der verschiedenen Intersex-Initiativen auf diese Weise noch einmal kritisch zu relektieren, danke ich Ulrike Klöppel. 9 Ich benutze die Schreibweise Trans*, um die Vielfältigkeit der Selbstpositionierungen zu Transsexualität, Transidentität, Transgender etc. darzustellen. 10 Die Frage der Einbindung von Intersex-Themen in schwullesbische Agenden ist ein vielschichtig diskutiertes Thema, auf das ich an dieser Stelle nicht näher eingehen werde. Zu diesem Thema vgl. Koyama (2003c; 2003d). Für den deutschsprachigen Kontext vgl. AG 1-0-1 intersex/NGBK (2005a). 11 Foucault entwirft in dieser Textsammlung eine kurze Genealogie der (interagierenden) medizinischen und juristischen Suche und Festlegung des «wahren Geschlechts» (Foucault 1998). Er zeigt dabei, dass die Suche nach dem «wahren» Bestimmungsfaktor des Geschlechts im Laufe des 18. Jahrhunderts eng an die Erforschung und Einordnung intersexueller/hermaphroditischer Körperlichkeiten geknüpft wurde, bzw. sich häuig gerade am intersexuellen/hermaphroditischen Körper manifestierte und legitimierte.

Intersexualität im Text Die Instrumentalisierung von Intersexualität im Text kann über verschiedene Mechanismen funktionieren, denen gemein ist, dass sie eine eigenständige Bearbeitung des Themas verhindern. Intersexualität wird vielmehr als Folie benutzt, auf der andere Ziele verfolgt werden können. Ulrike Klöppel stellt für den medizinischen Diskurs zu Intersexualität zwei diskurskonstituierende «Problematisierungsweisen des ‹uneindeutigen› Geschlechts» (2008: 85) dar. Zum einen nennt sie die Sorge um die psychische Gesundheit von Menschen, die einem «falschen» Geschlecht zugeordnet werden, sowie die von ihnen ausgehende Gefährdung ihrer «normalgeschlechtlichen» Umwelt. Zum anderen beschreibt sie die Funktion Intersexueller als Studienobjekte, anhand derer Geschlechtstheorien auf ihre Gültigkeit überprüft werden können (ebd.). Eine ähnliche Vorgehensweise kann in den Geschlechterstudien festgestellt werden. Allerdings verschiebt sich das «‹Schreckensbild› sexueller ‹Transgressionen›» (ebd.) hier zu einer romantischen Vorstellung von Geschlechtergrenzgänger_innen. Statt die vonseiten der Medizin diskutierten biologischen Gegebenheiten zu dekonstruieren, ziehen Geschlechterstudien Intersexuelle als «natürlichen Beweis» für die Konstruiertheit von Zweigeschlechtlichkeit heran. Ich möchte einige der immer wieder in

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Texten vorkommenden Mechanismen vorstellen, die an einer adäquaten Behandlung von Intersex-Themen vorbeischreiben. Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, einzelne Texte zu kritisieren, ich erkenne die Arbeit der Autor_innen an und inde gleichermaßen auch positive Beispiele für den Umgang mit Intersexualität in diesen Texten. Ich möchte vielmehr zeigen, warum bestimmte Bearbeitungsweisen sich immer wieder einer produktiven Behandlung in den Weg stellen, und erläutern, inwiefern sich die behandelten Texte auf Instrumentalisierungen einlassen.

volles gewesen zu sein. Barbins Text ist keineswegs so eindimensional und bezieht sich nicht nur auf Liebesabenteuer, wie es Foucaults Lesart transportiert (vgl. Foucault 1998: 13f.). Das Erleben eines Anders-Seins bedeutet für Barbin viel mehr auch unangenehmes Auffallen (Barbin 1998: 43). Sie_er berichtet von alltäglichen Einschränkungen, beispielsweise beim öffentlichen Baden (ebd.: 55). Während Barbins Erinnerungen ein vielschichtiges Bild zeigen können, beschränkt sich Foucault auf eine erotische Interpretation und belässt Barbin auf der Position des nicht identiizierbaren Rätselhaften (Foucault 1998: 13).฀ Diese Verbindung intersexueller Menschen oder Körperlichkeiten mit Rätselhaftigkeit oder Nichtbegreifbarkeit ist eine gängige Form textueller Verarbeitung von Intersex-Themen. Gerne werden Verweise auf Hermaphroditismus oder Geschlechtermaskerade in der Mythologie und/ oder in der Kunst hinzugezogen (vgl. Fausto-Sterling 1993; Foucault 1998: 13; Dietze 2006). So beginnt und beendet Gabriele Dietze (2006) einen Artikel zur Metaphorisierung von Intersexualität in den Gender Studies mit dem Mythos von Hermaphroditos und Salmakis. The Five Sexes von Anne Fausto-Sterling (1993) ist illustriert mit Kunstwerken, die Doppelt-/Geschlechtlichkeit zeigen. Warum diese Werke den Text begleiten und ihre mögliche Bezugnahme auf Intersexualität wird den Lesenden nicht erläutert. Die immer wiederkehrenden mythologischen Bezüge und Verweise auf den Bereich der Kunst legen die Verknüpfung von Intersexualität mit dem unergründbar Geheimnisvollen nahe. Auf diese Weise wird das alltägliche Leben intersexueller Menschen verklärt und/oder erotisiert. Ihre Erlebnisse werden abseits menschlicher Bedürfnisse festgeschrieben, wenn sie überhaupt vorkommen und nicht nur ohne Kontakt zu intersexuellen Menschen imaginiert werden (vgl. Chase 1993; Fausto-Sterling 1993). Emi Koyama und Lisa Weasel betonen außerdem, dass die Behandlung von Intersex-Themen mit historischem statt aktuellem Material die tatsächliche Existenz Intersexueller exotisiert und ihr einen «Anstrich von ‹Anomalie› der Vergangenheit» (2003: 82) gibt.

Rätselhafte Gestalten – Mystiizierung In der Textsammlung Über Hermaphrodismus (Barbin/Foucault 1998) veröffentlicht Michel Foucault die Lebenserinnerungen Alexina Barbins und macht sie so einer größeren Leser_innenschaft zugänglich.12 Er behandelt die Aufzeichnungen als Dokument in «der merkwürdigen Geschichte des ‹wahren Geschlechts›» und beschreibt Barbins gerichtliche Geschlechtszuweisung als das juristisch-medizinisch belegte «Erkennen» seiner_ihrer Identität als «wahrem» Jungen (Foucault 1998: 11f.). Als Gegenstück zur kalten und klaren Praxis der Geschlechtseinordnung als Wahrheitsindung entwirft er ein verschwommenes Bild der_ des unentdeckten Barbin: «Weder Frau, die Frauen liebt, noch Mann, versteckt unter Frauen, war Alexina [...] das identitätslose Subjekt eines starken Verlangens» (ebd.: 15). Foucault stellt fest, dass sich der Bericht Identiizierungen entzieht, und beschreibt Barbin als geheimnisvolle Figur der Differenz, die «den Blick trübte und auf den Lippen jede Frage verstummen ließ» (ebd.: 13). Ungeachtet ihrer_seiner Aufzeichnungen (Barbin 1998), die nicht ungebrochen, sondern mal glücklich und mal qualvoll eine Situation des Anders-Seins verarbeiten, lässt Foucault sie_ihn den «glückliche(n) Limbus einer Nicht-Identität» (Foucault 1998: 14) beschwören. Alexina Barbin soll die Position des unbestimmten Geschlechts und der begehrenswerten Nichtbenennbarkeit vertreten (ebd.: 14f.). Barbin selbst bestimmt sich sehr wohl wechselnd geschlechtlich und problematisiert die geschlechtlichen Positionierungen, so die Identiikation als «Liebhaber» ihrer_seiner Freundin (Barbin 1998: 72f.). Für Foucault scheint Barbins Leben bis zur Entdeckung ihrer_seiner uneindeutigen Geschlechtlichkeit ein unbeschwertes und hauptsächlich lust12 Vgl. auch Butler (1991: 143), die hier von einer romantischen Aneignung des Textes durch Foucault spricht

Zu profan? – Ausschluss aus der Wissenschaftsproduktion Eine überproportionale Nutzung historischen Materials in einer aktuellen Lagebeschreibung (vgl. Fausto-Sterling 1993) verhindert, dass Stimmen intersexueller Menschen zu Intersex-Themen einen Platz be-

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kommen. In einem Leserbrief zu Fausto-Sterlings The Five Sexes (1993) schreibt Cheryl Chase: «I understand that [Anne Fausto-Sterling, J. J.] has not had the opportunity to meet with any ‹corrected› intersexuals; I believe that I can provide some perspective on the experience» (1993). Damit problematisiert sie die Handhabung von Texten intersexueller Menschen innerhalb der Gender und Queer Studies. Beiträge von Intersexuellen inden eher selten Eingang in die Quellenangaben wissenschaftlicher Texte, noch seltener erscheinen Intersexuelle selbst als Wissenschaftsproduzent_innen. Hier handelt es sich allerdings nicht um ein quantitatives Problem. Vielmehr geht es um den Ausschluss der Stimmen intersexueller Menschen und die Unsichtbarmachung ihrer Existenz in Publikationen (Engel 1997). Das Nicht- oder Wenigvorkommen intersexueller Theorie-Schaffender ist also kein Zufall, sondern eine gewaltförmige Schließung im Feld aktueller akademischer Wissensproduktion. Das Schreiben nicht-intersexueller Wissenschaftler_innen über intersexuelle Menschen, ohne diese als Expert_innen auf dem Gebiet anzuerkennen, konstruiert eine Grenze zwischen den nicht-intersexuellen Theorie-Schaffenden und «den intersexuellen Anderen», die ausschließlich beforscht werden. Judith Butler schreibt in Foucault, Herculine und die Politik der sexuellen Diskontinuität mit Bezug auf intersexuelle Körper:

gierung intersexueller Sprecher_innenpositionen wird gleichzeitig verhindert, dass Intersexuelle selbst das Konstrukt Zweigeschlechtlichkeit infrage stellen können. Kritische Überlegungen zu einer klaren Trennung der Geschlechter inden erst anhand Intersexueller statt. Übersehen wird die Tatsache, dass mit dem Beginn der Veröffentlichung von Biograien und anderen Texten intersexueller Menschen auch immer wieder gesellschaftliche, kulturelle und/oder biologische Vorstellungen von Geschlechtseindeutigkeit infrage gestellt wurden. So versucht eine Autorin auf der Internetseite der xy-Frauen, die eigene Geschlechtlichkeit abseits biologischer Deinitionen von Weiblichkeit zu fassen:

«Unsere Prämissen über die sexuell bestimmten Körper, über die Bedeutungen, die ihnen angeblich innewohnen oder aus ihrer sexuellen Bestimmtheit folgen, werden durch diese Beispiele, die nicht den Kategorien entsprechen, die das Feld der Körper gemäß den kulturellen Konventionen für uns rational begründen und stabilisieren, plötzlich und in signiikanter Form umgestoßen.» (1991: 164) Hier wird ein hegemoniales wir der Schreibenden und Lesenden geschaffen, welches sich in Abgrenzung zu denen konstituiert, deren Körper nicht den kulturellen Konventionen entsprechen. Butler imaginiert ein wir geschlechtlich konventioneller Körper: Die Formulierung legt nahe, dass wir nicht intersexuell sind und unsere Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit mithilfe des Wissens über intersexuelle Körper revidieren müssen. Die Möglichkeit, dass intersexuelle Menschen selbst Forschung betreiben oder Theorie-Schaffende und damit Teil eines wissenschaftlichen wir sein könnten, wird nicht mitgedacht. Mit der Ne-

«Ich habe das Gefühl, meine individuelle Art von Weiblichkeit inzwischen mehr auf Herzlichkeit, Sensibilität, Offenheit und Charakterstärke zu gründen, als auf körperliche Attribute und Optionen, die ich nun einmal zum Teil nicht habe. [...] Meine Weiblichkeit ist mir eben nicht ganz selbstverständlich gegeben, sondern ich mußte sie erst für mich deinieren und tue das immer noch und wahrscheinlich auch immer wieder.» (Tine 2002) Viele Intersex-Aktivist_innen weisen darauf hin, wie wichtig Texte aus der Perspektive intersexueller Menschen sind, da es sich bei diesen um die Expert_innen zum Thema handele (Koyama/Weasel 2003; Lüth 2005; seMbessakwini 2005). Die Unterrepräsentation intersexueller Autor_innen geht Hand in Hand mit der Abwertung nicht-theoretischer und grauer Literatur in den Wissenschaften, viele Erzählungen sind autobiograisch und entsprechen nicht den Normen wissenschaftlicher Arbeiten.13 Beim Schreiben über Intersexualität ist es für eine machtsensible Öffnung des Feldes wichtig, intersexuelle Menschen nicht durch Wortwahl oder Aberkennung ihrer Teilhabe am Text auszuschließen. Ansonsten perpetuiert sich die Idee von Intersexuellen als Forschungsobjekten und damit die Schließung des Feldes derer, die «etwas zu Intersexualität zu sagen haben». Platzhalter – Die Fallgeschichte Joan/John Wenn das Erleben rigider Zweigeschlechtlichkeit am realen Körper doch 13 Zur Verwendung von autobiograischen Materialien intersexueller Menschen in der Lehre vgl. Koyama/Weasel (2003: 81f.).

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Teil des Wissens zu Intersexualität werden soll, lässt sich für die Gender Studies eine interessante Entwicklung verzeichnen. Die Geschichte von Joan/John14 hat sich zu einer Art Platzhalter für die Kritik an der gewaltsamen Durchsetzung von Zweigeschlechtlichkeit entwickelt und indet sich immer wieder als Beispiel in Texten zu sowohl Inter- als auch Transsexualität (vgl. Butler 2001; Dietze 2003). Dabei funktioniert Joan/John als einer der großen Augenblicke der Institutionalisierung medizinisch konstruierter Zweigeschlechtlichkeit wie auch als praktisches Anschauungsmaterial der Durchsetzung heteronormativer Eingeschlechtlichkeit bei einem Kleinkind. Ich ordne Joan/John allerdings weder als intersexuelle noch als «klassisch» transsexuelle Person ein. Joan/John wurde bei der Geburt geschlechtlich eindeutig zugeordnet und nahm später dieses Geburtsgeschlecht wieder an. Trotzdem wird der Fall immer wieder zitiert (vgl. Butler 2001; Dietze 2003), während autobiograisches Material intersexueller Menschen keinen Eingang in die Theoriebildung indet.15

Mein Eindruck ist, dass Joan/John vorrangig bearbeitet wird, weil die Geschichten reglementierter intersexueller Körperlichkeiten als nicht beweiskräftig genug wahrgenommen werden. Oder anders ausgedrückt: Die bevorzugte Verwendung der Geschichte Joan/John lässt vermuten, dass die grausame Re-Konstruktion von Geschlecht am verständlichsten anhand eines Körpers erklärt werden kann, der von «biologisch männlich» in sein Gegenteil operiert wurde, und nicht anhand von Körpern, die aus einem uneindeutigen einem eindeutigen Zustand «angeglichen» wurden. An dieser Stelle ist es angebracht zu überlegen, inwiefern hegemoniale sexistische Vorannahmen dazu verleiten, ein Beispiel umoperierter «normaler» Männlichkeit denen körperlicher Uneindeutigkeit vorzuziehen.16 Für die Sichtbarmachung der Reglementierungen intersexueller Körper ist die Fokussierung auf den Joan/John-Fall nicht produktiv. Im Gegenteil wird mit der Reproduktion einer bekannten Fallgeschichte eine Illusion von Singularität geschaffen und der Blick auf die Verletzung vormals «intakter» Männlichkeit gelenkt. Dass es sich bei Körper-Zuschneidungen zum Erhalt der Zweigeschlechtlichkeit nicht um Ausnahmen, sondern um reguläre Behandlungspraxen handelt, kann die ausschließliche Betrachtung des Joan/John-Falles nicht offenbaren.

14 Joan/John (1965-2004) wurde als Kleinkind nach einer missglückten Vorhautbeschneidung der Penis entfernt. Unter der Beobachtung und Anleitung des Sexualwissenschaftlers John Money (1921-2006) und im Vergleich zu ihrem/seinem Zwillingsbruder wurde Joan/John als Mädchen aufgezogen. Anhand von Joan wollte Money zeigen, dass die Geschlechtsentwicklung des Menschen allein von der Erziehung bestimmt wird. Mit 14 entschied sich Joan/John, als Junge weiterzuleben. Er beging 2004 Selbstmord, zwei Jahre nachdem sein Bruder an einer Medikamenten-Überdosis gestorben war. Ungeachtet des tödlichen Ausgangs dieses «Experiments» dient der Fall Joan/John nach wie vor als umkämpfter Beweis in der Diskussion um die Relevanz von Erziehung vs. Natur für die Geschlechtsentwicklung des Menschen. Für eine ausführliche Darstellung dieser Debatte verweise ich auf Ulrike Klöppel (2008). Klöppel legt hier ebenfalls dar, inwiefern Joan/John selbst auch nur instrumentalisiertes Studienobjekt war, anhand dessen unterschiedliche Standpunkte exemplarisch festgemacht werden konnten und immer noch festgemacht werden. Neuerdings indet die Fallgeschichte häuiger Eingang in Texte aus dem antifeministischen Spektrum und soll dort dazu dienen, die schädlichen Folgen von Gender Studies und Gender Mainstreaming zu illustrieren (vgl. Pister 2006; Zastrow 2006; Knauss 2007). Neben der Tatsache, dass die Texte in ihrer Skizzierung und Wiedergabe der kritisierten Gebiete sehr oberlächlich und fehlerhaft sind, nehmen die Autoren keineswegs eine verantwortungsvolle Alliiertenposition Joan/John gegenüber ein. Im Gegenteil wird das Skandalpotenzial der Geschichte gnadenlos ausgeschöpft, um Gender Mainstreaming und Gender Studies als real kastrierenden Männerhass zu diskreditieren. Auch hier dient Joan/John nur als Platzhalter für andere Zwecke (vgl. Klöppel 2008: 80). 15 Dabei gibt es inzwischen viele Veröffentlichungen, ich verweise beispielhaft auf Guhde (2002) oder den Sammelband der AG 1-0-1 intersex/NGBK (2005a, b) mit Artikeln von Kromminga (2005), Reiter (2005) und anderen. Viel Material lässt sich auch online inden, aus Platzgründen nenne ich hier lediglich die Website der xy-

Angriff auf die Zweigeschlechtlichkeit – Intersexualität als Metapher Vielleicht das Gegenteil der personalisierten Bearbeitung von Intersexthemen anhand von Joan/John ist die Arbeit mit Intersexualität als homogenem Konzept, welches in der Lage ist, die Konstruiertheit von Zweigeschlechtlichkeit aufzudecken. So argumentiert beispielsweise Gabriele Dietze sehr richtig für die selbstkritische Befragung der Geschlechterstudien in Bezug auf ihr Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit und das (fehlende) Mitdenken von Intersexualität. Gleichzeitig ist für sie «Intersexualität eine Herausforderung des Konzepts der Zweigeschlechtlichkeit überhaupt, wenn nicht der Geschlechtlichkeit eines jedweden Identitätskonzeptes» (2003: 26). Nun existiert «Intersexualität» aber nicht als das oben verwendete homogene Konzept, sondern ist in Frauen; www.xy-frauen.de [21. 1. 2009]. 16 Es liegt mir fern, die Erlebnisse Joans/Johns abzuwerten. Meiner Meinung nach ist seine Geschichte aber keine Geschichte intersexueller Körperlichkeit, sondern verdient eine ganz eigene Betrachtung.

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dieser Form ein Konstrukt hegemonialer Vorstellungen zu Intersexualität.17 Intersexualität wird zum «Qualiizierungsobjekt» der Geschlechtsentwicklungsforschung (Klöppel 2002: 157). Intersexuelle Menschen werden als Gruppe konstruiert, indem anhand von ihnen Theorien entwickelt werden und sie im Zirkelschluss die Richtigkeit dieser Theorien beweisen müssen. So benötigt und erschafft der medizinische Diskurs das Konzept von «Intersexualität» fortwährend, um regulierend darauf einwirken zu können (Kromminga 2005a: 29). Die Idee der medizinisch begründeten Konzeption «Intersexualität» wurde von den Gender Studies übernommen. Wenn «Intersexualität» entkörpert wird und als Metakritik der Zweigeschlechtlichkeit dient (Butler 1991; Dietze 2003), werden die realen Subjekte unsichtbar. Ihre individuellen Lebenserfahrungen und sehr unterschiedlichen Einstellungen hinsichtlich einer Infragestellung binärer Geschlechtlichkeit haben keinen Platz. «Intersexualität» als theoretische Metapher braucht keine Körper, um Zweigeschlechtlichkeit zu dekonstruieren. Intersexuelle Körper werden also zu Austragungsorten geschlechtskritischer Theorien, während der kritische Rückbezug zur medizinischen Behandlungspraxis von den meisten Theoretiker_innen nicht geleistet wird (vgl. Koyama 2003e: 1). Die Konstituierung einer homogenen Gruppe Intersexueller markiert deren Mitglieder außerdem ausschließlich über das Merkmal «intersexuell». Differenzen und Ungleichheitsverhältnisse sowie deren kontextabhängige und situationsbedingte Gewichtung innerhalb dieser vermeintlich homogenen Gruppe werden damit unsichtbar gemacht.

lung der Unvereinbarkeit als eine der hauptsächlichen Hürden, mit denen eine adäquate Behandlung von Intersex-Themen in den Gender Studies zu kämpfen hat. Und gleichzeitig verstehe ich sie nicht, weil ich die Grenze zwischen Theorie und Praxis für eine der Einfachheit halber gemachte halte. Der Einfachheit halber, weil sie sich der Verantwortung für das, was sie be/schreibt, entzieht. Gemacht, weil Theorieproduktion nicht im kontextlosen Raum passiert, sondern sich in Diskursen positioniert. Feministische Theorie ist diskursive Praxis (Mohanty 1988: 149) und politisch in dem, was sie sagt oder eben nicht sagt. So sind die Theorieproduktion und das Mitgestalten gesellschaftlicher Zustände nicht auseinanderzudenken, Theorie greift ein (vgl. Engel 2002: 10). Donna Haraway versteht die Theorien, die sich einer Verantwortung für das Beschriebene entziehen, als entkörperte, nicht situierte und auf Universalität bestehende Texte und fordert:

Immer Ärger mit der Politik? Ein in queeren Zusammenhängen häuig diskutiertes Problem ist die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis.18 Ich verstehe diese Vorstel17 Dietze nimmt selbst Bezug auf die Kritik von women of color an hegemonialen rassistischen und weißen Strukturen innerhalb eines angeblich allgemeingültigen Feminismus und auf die Erkenntnis, dass die Vorstellungen von Geschlecht innerhalb feministischer Theorien häuig unhinterfragt heteronormativ waren (2003: 10ff.). Trotzdem reproduziert sie das eben noch Kritisierte bei ihrer Konzeptionierung von «Intersexualität». Das zeigt, wie wichtig ein ständig fortgeführtes Hinterfragen der eigenen Theorieproduktion ist und wie schnell sich vermeintlich geklärte Ausschlussmechanismen wieder einschleichen können. 18 Als ich die Konferenz queer leben in Berlin besuchte, zog sich diese Fragestel-

«Wir brauchen die Erklärungskraft moderner kritischer Theorien in der Frage, wie Bedeutungen und Körper hergestellt werden, nicht um Bedeutungen und Körper zu leugnen, sondern um in Bedeutungen und Körpern zu leben, die eine Chance auf eine Zukunft haben.» (1995: 79) Bei Intersexualität geht es um Körper, denen die Chance auf eine Zukunft abgesprochen wird, insofern haben Theoretiker_innen, die Intersexualität in ihre Texte einbeziehen, eine Verantwortung gegenüber dem, was sie be/schreiben. Den Text von der Körperlichkeit zu befreien, bedeutet ein unverantwortliches Verhandeln dessen, was die Theorie untermauern soll. Gleichzeitig muss die Theorie ihre Beforschten überhaupt erst zu einer Gruppe Beforschbarer und damit handhabbar machen. Die Konstruktion einer homogenen Gruppe von «Intersexuellen» arbeitet mit Objektivierung über das Absprechen von Individualität. Dieser Akt der Aneignung des Anderen und das damit verbundene Versagen von lung durch die Diskussionen. Die Teilnehmenden einiger Panels artikulierten ihre Schwierigkeiten, «Hochschuldiskurse in die Subkulturen zu tragen», und die Moderator_innen der abendlichen Party distanzierten sich von «den Wissenschaftler_innen». Tatsächlich war die Tagung teilweise sehr ausschließend organisiert worden, sie war eher weiß und eher akademisch orientiert, was erfreulicherweise tagungsintern zumindest kritisiert wurde. Die Konferenz fand am 21. und 22. September 2007 in Berlin statt; www.queerleben.de/ [7. 10. 2008].

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Selbstbestimmung wurde schon ausführlich von Kritiker_innen eines weißen hegemonialen Feminismus und seinen Rassismen und Ethnisierungsprozessen beschrieben (Mohanty 1988; FeMigra 1995; Haritaworn/Tauqir/Erdem 2007), und entsprechend fordert Haraway, dass «das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource» (1995: 93). Die imaginierte Trennung zwischen einer «reinen» Theorieproduktion und dem Leben anderswo gerät so zu einem Feld, in dem sich Verallgemeinerungen der beschriebenen Körper bemächtigen können, ohne sich verkörpern zu müssen oder zur Rechenschaft gezogen werden zu können.

parteiischen Wissens. Ich gehe davon aus, dass Geschlechtertheorien Wirklichkeiten produzieren, in denen sich Individuen mit ihren jeweiligen Selbstpositionierungen wiederinden können oder auch nicht. Gender und Queer Studies haben in meinen Augen durch ihre geschichtliche Anbindung an nichtnormative Lebensrealitäten und Subkulturen eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die sie erforschen und beschreiben. Ich verstehe Hinweise auf nichtverantwortliches Schreiben als Teil einer kritischen Wissenschaftsproduktion, auf die in den Gender und Queer Studies häuig Anspruch erhoben wird. Eine theoretische Behandlung von Intersexualität, die die Forderungen von Aktivist_innen nicht mitdenkt, schafft eine textuelle Wirklichkeit, in der eine «Gruppe» eine andere repräsentieren kann und Individuen bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um an Diskursen teilnehmen zu können. Gender- und Queer-Theorien sollten ein Ort sein, an dem solche Hierarchisierungen kritisiert und aus unterschiedlicher, gerade aber auch aus Intersex-Perspektive bearbeitet werden können. Arbeiten, die intersexuellen Menschen Autorität geben, existieren und stellen deutliche Forderungen. Eine Instrumentalisierung von Intersexualität, wie ich sie oben dargestellt habe, kann deshalb hinterfragt und vermieden werden.

Schluss Ich habe gezeigt, wie unterschiedlichste Ausschlüsse intersexueller Lebensrealitäten in geschlechtertheoretischen Texten produziert werden können. Die Verschiedenheit der Auslassungen macht deutlich, dass es sich bei den Lebensrealitäten intersexueller Menschen um für viele Theoretiker_innen nahezu unbekanntes Terrain handelt. Sowohl bei einer stark personalisierten Sicht auf Intersexualität, wie beispielsweise Foucault (1998) dies handhabt, als auch bei der rein forschungstheoretischen Perspektive Dietzes (2003) entstehen Texte, die intersexuellen Menschen nicht gerecht werden können. Ins A Kromminga (2005a; 2005b) betont die Wichtigkeit, politisch mehrere Ebenen gleichzeitig im Blick zu behalten. Die Beschränkung auf ein Thema – mit Vorliebe die Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit wie bei Dietze (2003) oder Butler (1991) – kann nicht die benötigte Komplexität bieten. Die politischen Forderungen nach körperlicher Selbstbestimmung, einer breit angelegten Medizinkritik oder einer Kritik der Zweigeschlechtlichkeit, welche die Individuen nicht aus dem Fokus verliert, inden sich in den von mir gewählten geschlechtertheoretischen Texten nicht wieder. Im Gegenteil lässt sich durchaus sagen, dass Intersexualität nur als abstrakt bleibende Widerlegung des Prinzips Zweigeschlechtlichkeit Eingang in die von mir kritisierten Texte indet. Das Übergehen eines praktischen Anspruches der eigenen Theorieproduktion schafft Nicht-Positionierungen, die Intersexualität diskursiv ausbeuten. Die zum Zweck der Bearbeitbarkeit erforderliche Verobjektivierung intersexueller Menschen verhindert deren Positionierung als Akteur_innen im Feld «Intersexualität» und erschwert immens die Bildung eines herrschaftssensiblen und

Für die hilfreichen und produktiven Anmerkungen bei der Fertigstellung dieses Artikels danke ich der AG Queer Studies, Joachim Bartholomae und Ulrike Klöppel.

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Annett loSert «je lockerer man damit umgeht, desto weniger p robleme hat man » handlungsspielräume nicht-heterosexueller beschäftigter am arbeitsplatz

Einleitung Das Thema «sexuelle Orientierung»1 am Arbeitsplatz erreicht im Jahr 2007 eine bis dahin nicht gekannte Medienpräsenz. Ausgelöst wird dies unter anderem durch die Veröffentlichung der quantitativen Studie Out im Ofice (Frohn 2007a) zur Situation von Lesben und Schwulen am Arbeitsplatz, die als Ergebnis resümiert: «52% der Befragten gehen am Arbeitsplatz verschlossen mit ihrer sexuellen Identität um» (ebd.: 18). Gleichzeitig führt der zunehmende Diskurs um Diversity Management, einem ökonomisch motivierten Unternehmenskonzept zum Umgang mit der Vielfalt der Beschäftigten am Arbeitsplatz, das neben anderen sozialen Kategorien auch die Dimension «sexuelle Orientierung» beinhaltet, zur breiten Diskussion des Themas in den Printmedien. So überschreibt das wöchentliche Stellenmagazin arbeitsmarkt BILDUNG/ KULTUR/SOZIALWESEN einen Artikel mit «Karrierekiller Homosexualität?» (Gauert 2007), die taz (Bischoff 2007) und Die Zeit (Kirbach 2007) beschäftigen sich mit dem Thema Homosexualität am Arbeitsplatz, und sogar das Handelsblatt berichtet unter dem Titel «Kein Schonraum mit rosa Schleife» über die Ergebnisse der Studie von Dominic Frohn und verschiedene Diversity-Ansätze (Terpitz 2007). Wie die Titel der Artikel zeigen, geht es dabei ausschließlich um Homosexualität, wenn die «sexuelle Orientierung» am Arbeitsplatz thematisiert wird. Heterosexualität sowie Bisexualität oder andere Nicht-Heterosexualitäten werden im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld Arbeitsplatz weder in den 1 Ich setze diese Kategorie bewusst in Anführungszeichen, um auf deren Charakter als soziale Strukturkategorie hinzuweisen..

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Medien noch in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung umfassend behandelt. Dieser Aufsatz beschäftigt sich ebenfalls mit den Lebensrealitäten schwuler und lesbischer Beschäftigter am Arbeitsplatz. Trotz oder gerade wegen dieser fokussierten Sichtweise soll er anregen, die vorgestellten Erkenntnisse queertheoretisch zu hinterfragen und zu erweitern. Die Perspektive der sich selbst als nicht-heterosexuell verortenden Akteur_innen bietet dabei Anregungen und Ansatzpunkte für eine umfassendere Auseinandersetzung mit der Strukturkategorie «sexuelle Orientierung» am Arbeitsplatz im Allgemeinen. Im Folgenden sollen zunächst zwei quantitative Studien zum Thema Homosexualität am Arbeitsplatz vorgestellt werden, bevor anhand qualitativer Studien ein Modell vom Umgang mit der eigenen nichtheterosexuellen Orientierung im Arbeitskontext als dauerhafter Prozess beschrieben wird. Die Auseinandersetzung mit dem für nicht-heterosexuelle Beschäftigte notwendigen Informations-Management am Arbeitsplatz führt abschließend zur Erörterung von Diversity Management und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als die Rahmenbedingungen des Umgangs mit der eigenen Lebensform verändernde Kontextvariabeln.

form am Arbeitsplatz komplett (ebd.: 121). Zehn Jahre nach dieser Erhebung veröffentlicht Dominic Frohn (2007a) seine quantitative Befragung zu gleichgeschlechtlichen Lebensweisen als Thema am Arbeitsplatz. Der Autor vergleicht seine Ergebnisse mit denen der Studie von Knoll u.a. (1997) und stellt fest, dass der Stand der Entwicklung wesentlich schlechter ist, als unter den gegebenen Bedingungen (gesellschaftlicher Wandel, Lebenspartnerschaftsgesetz, zunehmende Sichtbarkeit von Homosexuellen im privaten Bereich) zu erwarten gewesen wäre (Frohn 2007a: 18). Dabei ist der Anteil derjenigen, die ihre Homosexualität am Arbeitsplatz gänzlich verheimlichen, mit 10,1 % deutlich geringer als zehn Jahre zuvor, aber 41,8 % der Befragten sprechen nur mit wenigen ihrer Kolleg_innen offen über ihre sexuelle Orientierung (ebd.: 6). Auch Frohn beschäftigt sich mit den Diskriminierungserfahrungen von Schwulen und Lesben am Arbeitsplatz und stellt fest, dass 77,5 % der von ihm Befragten verschiedenste Formen von Diskriminierung oder Benachteiligung aufgrund ihrer «sexuellen Orientierung» am Arbeitsplatz erlebt haben (ebd.: 14). Die quantitativen Erhebungen über die Veröffentlichung der eigenen Homosexualität im Kontext von Diskriminierungserfahrungen können jedoch nur eine limitierte Sicht auf das Thema bieten. So stellen die Autoren der Studie von 1997 in der späteren Relexion ihrer Arbeit fest, dass der Fokus auf die Diskriminierung durch heterosexistische Strukturen nur ein Teil der Wahrheit sein könne und die Forschung sich gleichermaßen mit der Analyse der persönlichen Eingebundenheit und der Gestaltungsmöglichkeiten der nicht-heterosexuellen Beschäftigten innerhalb der Situation am Arbeitsplatz auseinandersetzen müsse (Knoll u.a. 1999: 25f). Damit weisen sie auf einen notwendigen Perspektivenwechsel zur Akteursorientierung in den Studien über Homosexualität am Arbeitsplatz hin.

Diskriminierungserfahrungen und Handlungsspielräume – Homosexualität am Arbeitsplatz In den 1990er Jahren konzentriert sich die Forschung zum Thema Homosexualität am Arbeitsplatz auf die Diskriminierungserfahrungen von Schwulen und Lesben in diesem Umfeld. Die umfassendste Studie zum Thema veröffentlichen Christopher Knoll, Manfred Edinger und Günter Reisbeck 1997 unter dem Titel Grenzgänge. Schwule und Lesben in der Arbeitswelt. 81 % der 2522 von ihnen befragten Schwulen und Lesben geben an, im Arbeitsleben schon einmal aufgrund ihrer Homosexualität diskriminiert worden zu sein (ebd.: 114).2 Insgesamt berichten 38,8 % der Befragten, ihre Homosexualität nur einigen/wenigen Kolleg_innen gegenüber veröffentlicht zu haben, und 28 % verschweigen ihre Lebens2 Knoll u.a. erfassen als Diskriminierung sowohl direkte Reaktionen auf ein Outing als auch indirekte Formen. Dazu gehört zum Beispiel die indirekte Diskriminierung durch negative Aussagen oder Witze über Homosexualität durch Kolleg_ innen, denen gegenüber die eigene Homosexualität nicht offenbart wurde..

Dieser Perspektivenwechsel hin zu einer Analyse der Gestaltungsprozesse des eigenen Umgangs mit Homosexualität am Arbeitsplatz wird in qualitativen Studien vollzogen. Jörg Maas (1999) gelangt in seiner Dissertation Identität und Stigma-Management von homosexuellen Führungskräften durch die Analyse von Interviews mit schwulen Männern zu sieben verschiedenen Strategien des Umgangs mit der sexuellen Orientierung im Arbeitsleben – von der bewussten Vorspiegelung eines heterosexu-

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ellen Lebens bis zur absoluten Offenheit über die eigene Homosexualität. Maas grenzt sich dabei von starren Typologien ab, weist darauf hin, keine festschreibenden Zuordnungen, sondern lediglich Trendangaben vorgenommen zu haben, und betont die prozessuale Veränderbarkeit der Strategien (ebd.: 7). Diese Feststellung korrespondiert mit den Ergebnissen einer qualitativen Studie zum Umgang lesbischer Angestellter mit ihrer Lebensform am Arbeitsplatz (Losert 2004), die zeigen, dass keine einmalige Entscheidung, sondern dauerhafte Aushandlungsprozesse die Grundlage für den Umgang mit der eigenen «sexuellen Orientierung» im sozialen Umfeld des Arbeitsplatzes sind. Auf der Basis ihrer jeweiligen Erfahrungen, Vermutungen, Einschätzungen des Arbeitsumfeldes und der Mitarbeiter_ innen, Befürchtungen, Ängste sowie gesellschaftlicher Normen setzen die befragten Frauen für sich immer wieder neu Handlungsspielräume fest, die den Rahmen für ihren individuellen Umgang mit der lesbischen Lebensweise am Arbeitsplatz darstellen. Innerhalb dieser prozesshaften Handlungsspielräume, die sich variierend auf einem Kontinuum von ganz offen bis ganz geheim lebend bewegen, werden dann verschiedene Strategien eingesetzt, die für den momentan gewählten Umgang mit der eigenen Lebensform als angemessen betrachtet werden. Mit jeder Veränderung im privaten oder berulichen System (neue Kolleg_innen, Arbeitsplatzwechsel, Abteilungswechsel, Trennung, Verpartnerung oder Ähnliches) ist es notwendig, den eigenen Handlungsspielraum zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzulegen (ebd.: 156f.).3 Die Einschätzung des Arbeitsumfelds für die jeweils neue Entscheidung über den Umgang mit der eigenen Lebensform in diesem Kontext beschreibt eine Interviewpartnerin so:

Neben den genannten anderen Faktoren spielen besonders die Befürchtungen und Ängste in Bezug auf mögliche negative Reaktionen der Kolleg_innen und Vorgesetzten auf ein Outing4 eine wichtige Rolle bei der jeweiligen Festsetzung des eigenen Handlungsspielraumes. Dabei zeigt sich eine Diskrepanz zwischen den Befürchtungen, die vor einem Outing existieren, und den real erfahrenen Reaktionen auf die Offenlegung der eigenen Nicht-Heterosexualität am Arbeitsplatz. Dominic Frohn weist die beschriebene Diskrepanz auch in seiner quantitativen Studie nach. Er fasst dieses Phänomen unter dem Stichwort «Akzeptanzantizipation vs. Akzeptanzerfahrung» zusammen und stellt dar, dass nur 14 % der verschlossen Lebenden glauben, ihre sexuelle Identität würde zu 90-100 % akzeptiert, während 70,9 % der offen Lebenden die Erfahrung gemacht haben, in diesem hohen Grad akzeptiert zu werden (Frohn 2007b: 23). Die eigenen Befürchtungen speisen sich zum einen aus den (in Gesprächen oder medial vermittelten) Erfahrungen anderer nicht-heterosexueller Beschäftigter und leiten sich zugleich aus der vorgenommenen Einschätzung des sozialen und organisationalen Arbeitsumfelds ab (Losert 2004: 60ff.). Diese Einschätzung ist somit Teil eines umfassenden Informations-Managements beim Umgang mit der eigenen Nicht-Heterosexualität am Arbeitsplatz, wie nun gezeigt werden soll.

«... erst mal so ein bisschen ... Menschen fühlen, also wirklich erst mal gucken, wie ist das [...] Umfeld, fühl ich mich da überhaupt wohl, kann ich mir vorstellen, da auch länger zu arbeiten? Kann ich den Leuten dort vertrauen?» (Zitat in Losert 2004: 65).

Informations-Management als zentrale Herausforderung Frohns Studie gibt neben anderen Ergebnissen Hinweise auf die dauernde Präsenz der Frage nach dem Umgang mit der eigenen Homosexualität am Arbeitsplatz. Er zeigt auf, dass sich – abhängig von der genauen Frage – zwischen 40 und 60 % der Befragten nach eigener Einschätzung mehr Gedanken darüber machen, was sie aus ihrem Privatleben erzählen, welche Symbole sie zeigen können oder was sie am Arbeitsplatz über ihre Freizeitaktivitäten berichten, als ihre heterosexuellen Kolleg_innen (Frohn 2007a: 15). Dies wird auch in den qualitativen Interviews ausgeführt. «Und es gibt immer wieder Situationen ... weiß ich nicht, man kommt

3 Diese Ergebnisse werden auch von der Analyse mit schwulen und lesbischen Beschäftigten geführter Interviews im Rahmen meines laufenden Dissertationsprojektes «Vielfalts-Erfahrungen – Diversity Management aus der Sicht von Beschäftigten, Betriebsrat und Management» bestätigt.

4 Genannt werden zum Beispiel Verschlechterung des Arbeitsklimas, soziale Isolation, weniger Anerkennung der Arbeitsleistung, nicht befördert werden, Arbeitsplatzverlust.

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montags in das Unternehmen, ‹Und was hast du am Wochenende gemacht?›, und so weiter, so das Typische ... wo man allein schon Energie aufwendet, dreimal zu überlegen, ja wie erzählst es nun?»5

Personen mit einem «nicht-sichtbaren» stigmatisierten Merkmal erleben also permanent die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, dieses Merkmal (nicht) offenzulegen, bzw. haben (in vielen Fällen) die Möglichkeit, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen sie sich offenbaren. Nicht das Stigma-Management, also der Umgang mit einem stigmatisierten Merkmal, steht mehr im Vordergrund, «the focus shifts to information management as people attent to this decision about how much to reveal» (Beaty/Kirby 2006: 32). Clair, Beatty und MacLean (2005) vermeiden, das Outen, also das Öffentlichmachen, als einzig positiven Weg bzw. als Norm des Umgangs mit «nicht-sichtbarer» Vielfalt darzustellen. Sie diskutieren zwei Strategien, die Menschen benutzen, um am Arbeitsplatz mit ihrer «nicht-sichtbaren» stigmatisierten sozialen Identität umzugehen: Passing, also das Durchgehen als zum Beispiel heterosexuell, und Revealing, das Offenbaren des Merkmals. Innerhalb dieser Strategien identiizieren sie verschiedene Formen des Umgangs mit der «nicht-sichtbaren» Differenz (ebd.: 81ff.). Eine der Formen des Offenbarens ist zum Beispiel das «aufrichtige Reagieren», welches auch in den qualitativen Interviews immer wieder als Strategie beschrieben wird.

Diese Notwendigkeit, die eigene Kommunikation in Bezug auf die «sexuelle Orientierung» permanent und energieaufwendig zu überwachen, beschreiben Forscher_innen mit dem Begriff Informations-Management (Clair/Beatty/MacLean 2005; Beatty/Kirby 2006). Im Anschluss an Goffman begreifen sie Homosexualität im Gegensatz zu «sichtbaren» stigmatisierten Identitäten wie Nicht-Weiß-Sein, Frau-Sein oder Behindert-Sein als «nicht sichtbar» (Beatty/Kirby 2006: 33ff.; vgl. Goffman 1998 [1967]).6 Die Autor_innen weisen auf einen wichtigen Unterschied im Umgang mit «sichtbaren» und «nicht-sichtbaren» stigmatisierten Identitäten in sozialen Interaktionen hin: «[The] traditional perspective of stigma focuses on the social reactions of others to a person with a stigma and on the fact that invisibility helps the stigmatized individual avoid problematic social interactions that may occur because of the stigma. Yet for people with invisible differences, issues arise prior to social interaction. These issues are psychological, occurring within the individual as he or she considers how to manage his or her stigma in public.» (Clair/ Beatty/MacLean 2005: 81) 5 Interview aus dem laufenden Dissertationsprojekt. Klaus Adams, Beschäftigt beim Finanzdienstleister FD2, Mitglied des schwul-lesbischen Unternehmensnetzwerks. Zeilen 760-764. 6 Die Autor_innen verwenden die Begriffe «visible» und «invisible social identities». Während im Hinblick auf «Geschlecht», «Alter», «Ethnizität» oder bestimmte Behinderungen in der sozialen Interaktion die Kategorisierung einer anderen Person ausgelöst durch oberlächliche Wahrnehmungen («visible») aufgrund der zugeschriebenen sozialen Identität erfolgt, sind Kategorien wie «sexuelle Orientierung», «Religion», «chronische oder geistige Krankheit» und z. T. «Behinderung» nicht auf den ersten Blick offensichtlich (Beatty/Kirby 2006: 33). Was als «sichtbar» wahrgenommen wird, ist allerdings ebenfalls kulturell geprägt und sozial konstruiert. Zum Beispiel haben wir sozial gelernt, Personen auf einen Blick aufgrund weniger Hinweise in unser bipolares Denkmuster der Zweigeschlechtlichkeit einzuordnen und als Mann oder Frau wahrzunehmen. Als analytische Unterscheidung möchte ich die Kategorien «sichtbare» und «nicht-sichtbare» soziale Identitäten in Anlehnung an die Autor_innen dennoch verwenden, um das Konzept des Informations-Managements auszuführen..

«Ich geh nicht damit hausieren, ich schreib‘s mir nicht auf die Stirn, aber wenn mich jemand fragt, oder es sich irgendwie Gespräche auf den Lebenspartner ergeben, dann werd ich‘s auch nicht verheimlichen.» (Zitat in Losert 2004: 66) Wie auch die deutschsprachigen qualitativen Studien zum Thema stellen die Autor_innen fest, dass die Entscheidung, ob man sich offenbart und welche Form das Passing oder Revealing hat, immer wieder neu getroffen werden muss und von kontextuellen Faktoren sowohl in der Organisation als auch im zwischenmenschlichen Bereich abhängig ist. Dazu zählen das Unternehmensklima in Bezug auf Vielfalt sowie rechtliche Bedingungen das stigmatisierte Merkmal betreffend ebenso wie die Einschätzung der Einstellungen der Kolleg_innen sowie des Arbeitsumfeldes (Clair/Beatty/MacLean 2005: 80f.). Die Erkenntnis, dass die (immer wieder zu treffende) Entscheidung über den Umgang mit der eigenen Homosexualität am Arbeitsplatz nicht nur auf individuellen Eigenschaften beruht, sondern vor allem durch die Einschätzung

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sozialer und organisationaler Faktoren beeinlusst wird, macht es notwendig, genau diese Kontextbedingungen in den Blick zu nehmen. Ich möchte das beispielhaft für zwei Faktoren machen, die die Einstellung der heterosexuellen Beschäftigten in Bezug auf Homosexualität am Arbeitsplatz betreffen. Es ist auffällig, dass Heterosexualität als gesellschaftliche Norm am Arbeitsplatz nicht verhandelt wird. Das Gespräch über den gleichgeschlechtlichen Lebenspartner wird von Kolleg_innen oft als sexuell und damit fehl am Platz aufgefasst, während das Gespräch über heterosexuelle Partnerschaften und Kinder oder das Zeigen von Heterosexualität (Ehering, Foto der Familie etc.) als normales privates Miteinander unter Kolleg_innen gilt und nicht hinterfragt wird (vgl. Koschat 1999). Auch Embrick, Walther und Wickens (2007) zeigen in ihrer ethnograischen Studie, dass die meisten Befragten Homosexualität am Arbeitsplatz nicht thematisiert haben wollen, weil das private Sexleben dort nicht hingehöre. In der teilnehmenden Beobachtung wurde jedoch deutlich, dass die heterosexuellen Männer oft Sexualität und das Gespräch darüber nutzen, um ihre Männlichkeit und Gemeinsamkeiten mit den Kollegen herzustellen. Damit verletzen sie ihre in den Gesprächen selbst formulierte Norm, dass Sexualität ausschließlich ins Privatleben gehöre (ebd.: 761). Die Autor_innen fordern die intensivere qualitative Untersuchung der Einstellung heterosexueller Beschäftigter in Bezug auf Homosexualität am Arbeitsplatz, da ihre Ergebnisse im Widerspruch zur von quantitativen Studien festgestellten Liberalisierung der Einstellungen stehen (ebd.: 764). Die Einstellung von Beschäftigten gegenüber schwulen und lesbischen Kolleg_innen hängt auch von der Branche des Unternehmens ab und zeigt die Intersektionalität der Kategorien «Geschlecht» und «sexuelle Orientierung» auf. So stellt Tessa Wright (2008) fest, dass dort, wo männlich konnotierte Eigenschaften als notwendig für die Ausübung der Tätigkeit und die Zusammenarbeit im Team angesehen werden, lesbische Beschäftigte eher anerkannt werden als heterosexuelle Frauen oder schwule Männer (ebd.: 111), ein Ergebnis, das auch von Embrick, Walther und Wickens (2006: 763) bestätigt wird.

trale Herausforderung ist. Die komplexen sozialen und organisationalen Faktoren, die im Prozess des Informations-Managements eine Rolle spielen, sowie deren jeweilige Einschätzung sind dabei situationsbezogen und individuell sehr unterschiedlich. So darf die von mehreren der befragten lesbischen Angestellten geteilte Haltung «je lockerer man damit umgeht, desto weniger Probleme hat man» (Losert 2004: 126) auch nicht als allgemeingültige Handlungsempfehlung verstanden werden, denn sie weisen ebenfalls darauf hin, dass die individuellen Umstände immer berücksichtigt werden müssten. Aus der gleichen Perspektive auf die individuelle soziale Realität heraus relativieren Beatty und Kirby für den US-amerikanischen Kontext die Position der Human Rights Campaign (HRC), nur Offenheit in Bezug auf Homosexualität würde soziale und kulturelle Einstellungen im Hinblick auf dieses Merkmal verändern.

Insgesamt zeigt sich, dass für Beschäftigte, die sich nicht als heterosexuell deinieren, das Informations-Management am Arbeitsplatz die zen-

«But cultural change is a long-term proposition with a generalized beneiciary; the short term dificulties are immediate, risky and highly personal. Given the differing levels of acceptance across the country, it would be naïve to suggest that all gay people should come out. Each person must weigh the advantages and disadvantages of disclosure based on their individual circumstances and personal preferences.» (Beatty/Kirby 2006: 40) Dieses Abwägen führt in Deutschland, wie in der Studie von Dominic Frohn (2007a) gezeigt, überwiegend noch zur Entscheidung, den meisten oder allen Kolleg_innen gegenüber ein eher verheimlichendes und damit belastendes Informations-Management zu betreiben. Die individuellen Umstände beinhalten, wie gezeigt, unter anderem auch die Einschätzung des rechtlichen Rahmens und organisationalen Klimas in Bezug auf Homosexualität am Arbeitsplatz. Dies lässt vermuten, dass gesetzlicher Schutz sowie Diversity-Maßnahmen, die den organisationalen und damit unter Umständen auch den zwischenmenschlichen Kontext positiv beeinlussen, eine entlastende Wirkung auf das Informations-Management von nicht-heterosexuellen Beschäftigten haben können.

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AGG und Diversity Management als Rahmenbedingungen für die Handlungsspielräume nicht-heterosexueller Beschäftigter Seit einigen Jahren beschäftigen sich auch deutsche Unternehmen mit der Vielfalt ihrer Beschäftigten. Aus ökonomischen Gründen führen immer mehr vor allem große Unternehmen Diversity Management als Instrument zum Umgang mit dieser personalen Vielfalt ein. Ziel ist, ein antidiskriminierendes und benachteiligungsfreies Unternehmensklima zu schaffen, um einerseits die Produktivität der Beschäftigten zu steigern und andererseits angesichts des demografschen Wandels Fachund Führungskräfte auch aus bisher vernachlässigten Personengruppen (zum Beispiel Frauen, Personen mit Migrationshintergrund) besser rekrutieren und halten zu können.7 Es existieren also ökonomische Verwertungsinteressen an den Differenzen der Mitarbeiter_innen (vgl. Engel in diesem Band). Idee des Diversity-Konzepts ist es, durch Maßnahmen, die alle Beschäftigten einbeziehen, ein Umfeld im Unternehmen zu schaffen, in dem mit der existierenden Vielfalt – deiniert als Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Personen – wertschätzend und respektvoll umgegangen wird. In der bisherigen Diversity-Praxis deutscher Unternehmen überwiegen jedoch Maßnahmen, die der Förderung nicht-dominierender Personengruppen dienen, zum Beispiel Mentoringprogramme für Frauen, Integration schwerbehinderter Beschäftigter oder Programme zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Dominanzkultur im Unternehmen wird nicht thematisiert und hinterfragt, sodass Diversity Management vor allem als Unterstützung von «Minderheiten» wahrgenommen wird und sich selbst der Mehrheitskultur zuordnende Beschäftigte sich nicht als Teil der Vielfalt angesprochen fühlen. Diese Wahrnehmung verknüpft mit einer häuig nicht umfassenden Bekanntheit der Diversity-Konzepte innerhalb der Belegschaft sowie der Einschätzung der Beschäftigten, dass ihre Unternehmen Diversity Management vor allem aus Image- und Absatzförderung heraus betreiben, zeigt die existierende Diskrepanz zwischen formulierten Zielen und betrieblicher Realität auf. Über individuelle Verbesserungen einzelner Beschäftigter hinaus (die sich häuig nur auf Fach- und Führungskräfte beziehen), konnten mittels Diversity Management noch keine

grundlegenden strukturellen Veränderungen in Bezug auf den Umgang mit der Vielfalt der Beschäftigten erreicht werden.8 Die zunehmende theoretische Fundierung und Auseinandersetzung mit Maßnahmen und Dimensionen des Diversity Management und auch mit dessen Verbindung zu neoliberaler Wirtschaftspolitik lässt hoffen, dass sich dies in der zukünftigen Diversity-Praxis ändern wird. Die Dimension «sexuelle Orientierung» wird in Deutschland neben «Geschlecht», «Alter», «(ethnische) Herkunft», «Behinderung» und «Religion/Weltanschauung» als eine der sogenannten Kerndimensionen von Diversity Management benannt. In der Diversity-Praxis deutscher Unternehmen fokussieren die Maßnahmen jedoch vor allem auf «Geschlecht», «Alter» und «Herkunft», während die «sexuelle Orientierung» nur randständig einbezogen wird. So wird diese in den Unternehmensrichtlinien als Teil der wertzuschätzenden Vielfalt benannt, Netzwerke schwuler, lesbischer, bisexueller und transsexueller Beschäftigter werden gefördert, und teilweise werden Personen, die eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind, die gleichen Sozialleistungen wie Eheleuten gewährt. Auf einer individuellen Ebene können diese – eindeutig identitätspolitisch basierten – Maßnahmen dazu führen, dass das Informations-Management nicht-heterosexueller Beschäftigter einfacher wird. Zum Beispiel haben sich homosexuelle Mitarbeiter_innen aufgrund des Erfahrungsaustauschs im Netzwerk dafür entschieden, sich gegenüber ihren direkten Kolleg_innen zu outen und so sich selbst nicht mehr so stark in der eigenen Kommunikation überwachen zu müssen. Diversity Management hat also im individuellen InformationsManagement den Faktor der Einschätzung des Unternehmensumfeldes ein Stück weit positiv beeinlusst. Auf Unternehmensebene hat sich vor allem verändert, dass Homosexualität zum Thema gemacht wird, wie die Diversity-Managerin eines Finanzdienstleisters berichtet.

7 Auch die Vielfalt der Kund_innen und Zulieferer spielt im Diversity Management eine Rolle. Im Rahmen dieses Artikels bleibt der Fokus jedoch auf der Vielfalt der Beschäftigten innerhalb der Unternehmen..

«Also am Anfang, als wir mit dem Thema angefangen haben, da habe ich natürlich schon mitgekriegt, dass einige gesagt haben: ‹Was ist denn das jetzt›, ja. Und wie gesagt, dann kommt immer sehr schnell dieser Klassiker: ‹Warum müssen wir denn über dieses Thema reden? Was jeder zu Hause macht, interessiert doch keinen!› 8 Vorläuige Ergebnisse der Analyse von 21 Interviews aus meinem laufenden Dissertationsprojekt.

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Und dann erst dieses Ding aufzubrechen und zu sagen: ‹Wir outen uns alle jeden Tag und überall› ... das muss man, das ist eine Kommunikationssache ...»9

AGG) wird auch die «sexuelle Identität» als geschütztes Merkmal thematisiert und so allen Beschäftigten präsent gemacht. Es lässt sich vermuten, dass trotz der eindeutig identitätspolitischen Ausrichtung des AGGs, zumindest durch die Sichtbarmachung verschiedener «sexueller Orientierungen» und deren Anerkennung, die gesellschaftliche Norm der Heterosexualität hinterfragt wird. Der individuelle Handlungsspielraum nicht-heterosexueller Beschäftigter am Arbeitsplatz könnte sich durch die Thematisierung dieser Dimension im Rahmen des AGG erweitern, da sie einerseits rechtlich gegen Benachteiligung und Diskriminierung vorgehen können und andererseits das Thema bei den Kolleg_innen selbstverständlicher werden könnte. Ob die Implementierung von Diversity Management und die Existenz des AGG die Einschätzung der externen Faktoren im Hinblick auf den Umgang mit Nicht-Heterosexualität am Arbeitsplatz positiv verändern können, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen.

Durch die Sichtbarmachung von Homosexualität am Arbeitsplatz bietet sich innerhalb des Diversity Management die Chance, «sexuelle Orientierung» als strukturierende Kategorie im sozialen Arbeitsalltag zu thematisieren. Dies erfordert jedoch umfassendere und tiefer gehende Maßnahmen zur Sensibilisierung und Auseinandersetzung. Im Hinblick auf die Dimension «sexuelle Orientierung», aber auch das Gesamtkonzept Diversity Management halte ich es für sinnvoll, über die bisherigen Maßnahmen hinausgehend auch sogenannte Diversity-Awareness-Trainings für alle Mitarbeiter_innen anzubieten. Diese müssten mittels geeigneter Übungen auch die Dominanzkultur der Organisation behandeln und eine Beschäftigung mit den eigenen sozialen Normen, Werten, Vorurteilen und Stereotypen und deren Reproduktion ermöglichen. Dadurch könnte die soziale Konstruiertheit der Kategorien «Geschlecht» und «sexuelle Orientierung» (und der anderen Dimensionen) bewusster gemacht und so die gesellschaftliche Ordnung der Zwangszweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität hinterfragt werden. Der bisherigen Diversity-Praxis als hauptsächlich starre Identitätskategorien stabilisierendes Instrument könnte damit ein dekonstruktives Element hinzugefügt werden. Aber angesichts des ökonomischen Interesses der Unternehmen und den potenziellen Kosten solcher Trainings bleibt deren Einführung wohl Wunschdenken. Das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) 2006 stellt eine weitere Veränderung des Rahmens dar, in dem Nicht-Heterosexualität am Arbeitsplatz verhandelt wird. Das AGG fasst die «sexuelle Identität» neben fünf anderen sozialen Kategorien (die gleichen wie die sogenannten Kerndimensionen von Diversity Management) als eines der geschützten Merkmale. «Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen [...] [aufgrund der geschützten Merkmale, A. L.] zu verhindern oder zu beseitigen» (Noll/Wedde 2006: 161). Im Zuge der vom Arbeitgeber verplichtend durchzuführenden Schulungen über das AGG (§ 12 9 Interview aus dem laufenden Dissertationsprojekt. Wiebke Arendt, DiversityVerantwortliche des Finanzdienstleisters FD2. Zeilen 494-500

Fazit Der Umgang mit der eigenen nicht-heterosexuellen Identität am Arbeitsplatz ist von einem kontinuierlichen Informations-Management geprägt. Durch die «Nicht-Sichtbarkeit» der nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechenden «sexuellen Identität» wird ein Dilemma der Enthüllung konstituiert: Man muss am Arbeitsplatz offen sein, um Schutz gegen Diskriminierung (zum Beispiel durch das AGG) oder Beneits, die gleichgeschlechtlich lebenden Paaren zum Beispiel als DiversityMaßnahme zugesprochen werden, zu erhalten. Andererseits ist mit dem Outing auch erst die Möglichkeit negativer Reaktionen und Benachteiligungen verbunden (Beatty/Kirby 2006: 30). Die von nicht-heterosexuellen Beschäftigten immer wieder neu zu treffende Entscheidung über die eigene Umgangsstrategie am Arbeitsplatz ist sowohl von persönlichen als auch von der Einschätzung sozialer und organisationaler Variablen abhängig. Positive Veränderungen der kontextuellen Rahmenbedingungen inden momentan vor allem im rechtlichen und organisationalen Bereich statt und könnten dazu führen, die Handlungsspielräume nichtheterosexueller Beschäftigter zu erweitern. Die Auseinandersetzung um die «sexuelle Orientierung» am Arbeitsplatz bleibt nach wie vor dem Paradox verhaftet, starre Identitätskonstruktionen zu kritisieren und sie gleichzeitig zu reproduzieren. Mit

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diesem Dilemma muss in der weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung bewusst und produktiv umgegangen werden, was unter anderem auch durch eine queertheoretische Perspektive ermöglicht wird. So könnte zum Beispiel das Konzept der Sexuellen Arbeit (vgl. Boudry u.a. 1999; Engel in diesem Band), das die Trennung von Arbeit und Sexualität infrage stellt, eine Grundlage darstellen, den Einluss von Sexualität auf den sozialen Arbeitsalltag jenseits starrer Identitätenkategorien zu analysieren. Die Verbindung von theoretischen Diskursen und der empirischen Analyse sozialer Lebensrealitäten sollte dabei als Chance der gegenseitigen Bereicherung gesehen werden.

Onlinebefragung. Gleichgeschlechtliche Lebensweisen als Thema am Arbeitsplatz mit besonderem Fokus auf (Anti-)Diskriminierung. Vortragsfolien der ver.di Tagung Menschenwürde verlangt Respekt der Vielfalt – LSBT am Arbeitsplatz am 17. 2. 2007, http://regenbogen.verdi.de/events/events_2007/tagung_lsbt_am_arbeitsplatz/ [5. 9. 2007] Gauert, Jürgen (2007): Karrierekiller Homosexualität? In: arbeitsmarkt BILDUNG/KULTUR/SOZIALWESEN 33/2007, IV-VIII Goffman, Erving (1998): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M., 13. Aulage [Orig. 1967] Kirbach, Roland (2007): Dossier: Schwulsein heute – ganz normal? Homosexuelle haben Erfolg in Kultur und Politik. Sie prägen ganze Branchen und Stadtviertel. Aber zugleich wächst der Hass auf sie, in: Die Zeit 26/2007, 17-21 Knoll, Christopher; Edinger, Manfred; Reisbeck, Günter (1997): Grenzgänge. Schwule und Lesben in der Arbeitswelt, München/Wien Knoll, Christopher; Reisbeck, Günter; Edinger, Manfred (1999): Das Ende der Opferhaltung, in: Dt. Aids-Hilfe 1999, 22-27 Koall, Iris; Bruchhagen, Verena; Höher, Friederike (Hg.) (2007): Diversity Outlooks. Managing Diversity zwischen Ethik, Proit und Antidiskriminierung, Münster Koschat, Martin (1999): «Es widerspreche keineswegs ...» Lesben und Schwule in der Arbeitswelt. Thema des Österreichischen Lesben-, Schwulen- und Transgenderforums 1998 in Klagenfurt, in: Sinnhaft. Zeitschrift für soziologische Nomadie 4/1999, o.S. Losert, Annett (2004): Lesbische Frauen im Angestelltenverhältnis und ihr Umgang mit dieser Lebensform am Arbeitsplatz, Magisterarbeit, München Losert, Annett (2007): Die Diversity-Dimension «sexuelle Orientierung» in Theorie und Praxis – eine Bestandsaufnahme mit Ausblick, in: Koall/Bruchhagen/Höher 2007, 320-336 Maas, Jörg (1999): Identität und Stigma-Management von homosexuellen Führungskräften, Wiesbaden Noll, Gerhard; Wedde, Peter (2006): Gesetzestexte für die Arbeitswelt. Stand: 14. 12. 2006, Düsseldorf, 3. überarbeitete Aulage 2007 Terpitz, Katrin (2007): Kein Schonraum mit rosa Schleife, www. handelsblatt.com/News/Karriere/Arbeit-Geld/_pv/doc_

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_______________________________________________________________ page/1/_p/200813/_t/ft/_b/1257475/default.aspx/kein-schonraum-mit-rosa-schleife.html [5. 9. 2007] Wright, Tessa (2008): Lesbian Fireighters: Shifting the Boundaries Between «Masculinity» and «Femininity», in: Journal of Lesbian Studies 01/2008, 103-114

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Jo bucHer und AnGeliKA GöreS weder geschlecht noch Vaterland was hat es mit queerender politik zu tun, wenn zwei lesbische damen während des

zweiten weltkriegs ins kostüm eines

heterosexuellen deutschen

soldaten schlüpfen?

«Koralle der «OHNE» – Mir scheint, es hat ihnen durchaus Spaß gemacht.» «Ziemlich erstaunlich, dieser Humor, wenn ich mir die damalige Situation auf der Insel vorstelle.» «Vielleicht steckt gerade darin ein besonderes Potential. Ich folge diesen poetischen Zeilen der ‹Soldaten ohne Namen›, bin verwirrt und gleichzeitig fasziniert ...» «Ja, das Absurde – ERKENNTNISZEICHEN : das runde Ding – verbleibt nicht bei der Irritation. Bei queeren Politiken habe ich manchmal den Eindruck, dass Verwirrung zum Selbstzweck wird. Hier geht es darüber hinaus, schließt an Verständliches an und eröffnet mir dadurch etwas Anderes – aber das ist nicht genau deiniert.» «Für Anderes kämpfen, ohne dabei neue Festschreibungen zu produzieren, ist ja ein Anspruch queerer Politik!» «Besonders gefällt mir, wie sie die Situation der Soldaten aufgreifen. Da praktizieren sie ein Sich-hinein-Versetzen, das wirklich simple Oppositionspolitik vermeidet.» «Dass sie mit den deutschen Soldaten – den Feinden – in Dialog treten und ihnen zutrauen, in diesen absurden Zeilen und der skurrilen Gestaltung ...» «Also: im Ästhetischen? In der Kunst?» «... genau, darin einen Sinn zu sehen!» «Ja, einen Sinn, sich mit der Waffen-00 und der Koralle der ‹OHNE› gegen die Waffen-SS zur Revolution von allen zu verbinden.» «Genau, lebenwärts eben.» bitte weiter lesen

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Häuig bleibt abstrakt, wie queere Politiken praktisch aussehen könnten. Konkrete Zeugnisse subversiven Widerstands stellen die Flugblätter dar, mit denen Marcel Moore und Claude Cahun während des Zweiten Weltkriegs auf der von den Nazis besetzten Insel Jersey deutsche Soldaten zum Desertieren aufforderten. Ihre widerständige, auf Deutsch verfasste Flugblattpoesie signierten Cahun und Moore als «Soldaten ohne Namen». Mit dieser Maskerade erweckten sie den Eindruck, ein Wehrmachtsoldat wende sich an seine Kameraden, um sie zur Kollaboration zu verleiten. Auf welche Weisen können wir diese Flugblätter vor dem Hintergrund von queer betrachten – ohne sie dabei ahistorisch als postmodern zu stilisieren? Vermag die Résistance der «Soldaten ohne Namen» abstrakte Ideale queerer Politik praktisch zu beleuchten? Unseres Erachtens sind Cahuns und Moores Aktionen nicht nur historisch gesehen außergewöhnlich, sondern haben das Potenzial, auch im Hier und Jetzt alternative Widerstandsformen zu inspirieren. Damit bezeichnen wir ihr Vorgehen nicht als queer avant la lettre, sondern sehen in ihren Taktiken anregende Parallelen zu Strategien queerer Interventionen. Interventionen, die wir anstelle des adjektivischen queer mit dem Partizip queerend bezeichnen wollen, um ihre Prozesshaftigkeit zu betonen. Als queerende Politiken begreifen wir solche, die sich nicht an Gruppenzugehörigkeiten oder Eigenschaften, sondern an Haltung und Handeln orientieren – wie Moore und Cahun es versuchten. Queerende Politiken wollen anders funktionieren als übliche Partei-, Identitäts- oder Oppositionspolitiken: Ausgangspunkt soll nicht ein (vermeintlich) einheitliches, essentialistisches «Wir» sein, das die Welt undifferenziert in Innen/Außen oder Opfer/Täter einteilt. Um der Gefahr einer solchen Ausschlusslogik und der (Re-)Produktion fester Kategorien zu entgehen, wird daher oft für temporäre strategische Koalitionen plädiert, welche Differenzen der Beteiligten einbeziehen und komplexe Machtverhältnisse berücksichtigen. Damit kann ein veränderter Politikbegriff, eine Ausweitung in Richtung künstlerischer Strategien verbunden sein. Queere Kunst wiederum hat den Anspruch, gesellschaftskritisch respektive politisch zu sein.1 Aus einer queeren Perspektive können somit die

Grenzen zwischen Politik und Kunst verwischen. Verbindungen von Politischem und Ästhetischem, welche wir in Cahuns und Moores kreativem Widerstand vernehmen, haben uns zu diesem Text verleitet, der sich immer wieder entlang ihrer Flugblattzeilen schreibt.

1 Selbstverständlich hat nicht nur queere Kunst diesen Anspruch. Gerade die zu Cahuns und Moores Zeit prägenden Bewegungen des Dadaismus und des Surrealismus (an Letzterem hatten sich Cahun und Moore in Paris aktiv beteiligt) zeichne-

Leset Alle jede Woche unsere Zeitung / bitte verbreiten2 «It all started in 1940 in a small way and grew as time went on. We always listened to the BBC and any other news we could get which was not tainted by Boche propaganda [Nazi-Propaganda, J. B./A. G.], and it made us perfectly sick to hear the ‹news› put out by Radio Paris, so we decided to run a news service of our own for the beneit of the German troops.» (Moore zit. in Follain 2006: 83) Im Juli 1940 wurde Jersey, zwischen Großbritannien und Frankreich gelegen, von den Nazis besetzt. Aus strategischen Gründen hatte die britische Regierung die zu England gehörende Kanalinsel entmilitarisiert und den Nazis überlassen. Moore und Cahun lebten zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren auf Jersey. Trotz des Evakuierungsangebots aus England entschieden sie sich zu bleiben, denn als überzeugte Antifaschist_innen3, die zuvor in Paris zusammen mit anderen Künstler_innen im Kontext des Surrealismus politische Manifeste unterzeichnet hatten, stand für sie außer Frage, vor Ort Widerstand zu leisten. Und so verwandelten sie sich in «die Soldaten ohne Namen» und publizierten für die auf der Insel stationierten deutschen Soldaten einen auf deutsch verfassten4 «news service» in Flugblattform – als Alternative zur Naziproten sich durch ihr Streben nach völlig neuen Gesellschaftsmodellen aus. 2 Anstatt Cahuns und Moores Flugblattzeilen in Anführungszeichen zu setzen, nehmen wir jeweils einen Wechsel in die Schriftart Courier vor, um sichtbar zu machen, dass wir nicht nur über, sondern auch mit ihnen und durch sie schreiben. 3 Die Schreibweise mit Unterstrich entspricht zum einen der Fortführung feministischer Kritik am generischen Maskulinum, indem sie die Lücke im dichotomen Geschlechtersystem symbolisiert, in die Menschen fallen, die dieser Ordnung nicht entsprechen (Hornscheidt 2005). Zum anderen erscheint sie uns gerade im Hinblick auf Moores und Cahuns veruneindeutigenden Umgang mit Geschlecht passend. 4 Da Moore Germanistik studiert hatte, konnten sie ihre Deutschkenntnisse nutzen, um mit den Soldaten in Dialog zu treten.

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_______________________________________________________________ paganda, die neben Rundfunknachrichten aus dem besetzten Paris auch eine eigens für Jersey produzierte «Inselzeitung» umfasste. Zur heimlichen Verbreitung der Flugblätter legten Cahun und Moore die imaginäre Uniform des «Soldaten ohne Namen» ab und zogen in ihrer ofiziellen Identität als Lucy Schwob und Suzanne Malherbe los. Mit dem Umzug von Paris nach Jersey hatten die beiden Künstler_innen die Pseudonyme Marcel Moore und Claude Cahun durch ihre bürgerlichen Namen ersetzt und waren bei den Nachbarschaft als skurrile Schwob Sisters bekannt.5 Im Kleid der bürgerlichen Damen steckten sie ihre widerständigen Zeilen in Zigarettenschachteln, zwischen Zeitungsseiten oder hinter die Scheiben von Nazikarossen. Der Wechsel zwischen ihren verschiedenen Identitäten und ihre imaginäre Verkleidung als «Soldaten ohne Namen» trug dazu bei, dass es ihnen gelang, über vier Jahre hinweg unentdeckt zu bleiben – was erstaunlich ist, denn die hohe Kontrolldichte durch die Besatzer machte Widerstandsaktionen auf der kleinen Insel nahezu unmöglich. Die Nazis vermuteten hinter den Flugblättern ein ganzes Netzwerk, nicht nur zwei Personen, schon gar nicht zwei Frauen. Daher wurde auch nach Cahuns und Moores Verhaftung im Juli 1944 trotz ihrer Geständnisse zunächst weiter nach «Hintermännern» gesucht. Weder gab es solche, noch hatten die «Soldaten ohne Namen» mit gängigen Waffen gekämpft. Im Gerichtsprozess bezeichneten die Nazis Moores und Cahuns Vorgehen als Verbrechen mit «geistigen Waffen», welche verglichen mit Feuerwaffen noch unberechenbarer seien, und begründeten so das Todesurteil. Das monatelange Warten auf die Hinrichtung endete kurz vor Kriegsende mit einer Begnadigung auf Ersuchen der Inselregierung. Die ständige Angst vor einer Deportation blieb jedoch. Bis zum 9. Mai 1945, dem Tag der verspäteten Befreiung Jerseys, mussten Cahun und Moore im Gefängnis ausharren. Erst jetzt konnte offen ausgesprochen werden, was sie zuvor auf einem Flugblatt ihrem «Soldaten ohne Namen» in den Mund gelegt hatten:

5 Der Namenswechsel verbarg den jüdischen Hintergrund Cahuns («Cahun» galt als typisch jüdischer Name) und schützte ihre intime Beziehung. Bei der Nachbarschaft waren die «Schwob Sisters» dafür bekannt, ihre Katzen an der Leine spazieren zu führen, nackt sonnenzubaden oder als Engel kostümiert über den Friedhof zu tanzen.

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_______________________________________________________________ So, wir haben den Krieg verloren? / Gewiss. / Aber du freust dich darüber? / Ganz gewiss. / Das verstehe ich nicht. Warum? / Weil ich nicht wünsche, mein ganzes Leben in Uniform zu verschleudern! Also sprach der Soldat ohne Namen. / bitte verbreiten Jenseits von Identitätspolitik – Kameraden! Haltet Ihr es mit uns?

Mai 1945, eines der ersten nach dem Krieg entstandenen Fotos (Abb. 1). Angelehnt an den Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen, zwischen den Zähnen ein «Reichsadler»-Uniformabzeichen – es scheint, als halte die Figur Cahuns das materielle Überbleibsel des iktiven Crossdressings mit Moore als «Soldaten ohne Namen» im Mund: ein Abzeichen, das sie kurz vor Kriegsende als «Souvenir» bekommen haben, von zwei im selben Gefängnis inhaftierten deutschen Soldaten, mit denen sie

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während der Haft ihren Widerstand fortgeführt hatten.6 Der Adler steckt locker zwischen den Zähnen, kann jederzeit fallen gelassen werden. Zitiert diese souveräne, spöttische Geste den «Soldaten ohne Namen», der sein uniformiertes Leben als vergeudet erfährt? Wer ist hier zu sehen: einer der Soldaten ohne Namen? Eine der bürgerlichen Damen? «Sous ce masque un autre masque. Je n’en inirai pas de soulever tous ces visages»7 (Abb. 2; Cahun 1930: 212). So umschreiben Cahun und Moore bereits 1930 bild- und textlich die Unmöglichkeit eines einzigen, wahren Selbst und bringen damit ein Identitätskonzept auf den Punkt, das sich in Variationen durch ihr künstlerisches und politisches Arbeiten hindurchzieht: unter den «Soldaten ohne Namen» die sonderlichen Schwob Sisters, darunter die Künstler_innen, die geschlechtlich uneindeutige Figuren abbilden, beschreiben und leben. Ein Konzept der Maskerade, wie es uns auch in einem queertheoretischen Text begegnen könnte: «Identität als ein Gebilde mit unendlichen Schichten des Ich [...], unter denen kein authentischer Kern zu inden ist» (Bauer 2001: 337). Ein solches Gebilde unterläuft den wörtlichen Sinn von Identität: das Mit-sich-selbstgleich-Sein. Dieses machen gängige Identitätspolitiken jedoch gerade zur Voraussetzung politischer Handlungsfähigkeit – mit dem Resultat einer Oppositionspolitik gegen «die Anderen». Dass Moores und Cahuns Résistance eine alternative Basis hatte, erzählen ihre Flugblätter in einer Vielfalt von Text- und Bildformen. Die Inhalte der überlieferten Flugblätter8 – sie reichen von Neuigkeiten zum 6 «Being unmasked, we could use more direct methods. The soldier prisoners knew why we had been condemned, and we continued our propaganda close to them for the overthrow of the Nazi regime and capitulation without combat.» (Cahun zit. in Follain 2006: 92) Laut Follain gaben viele der Soldaten, die wegen Desertierens oder versuchtem Aufstand inhaftiert worden waren, die Flugblätter der «Soldaten ohne Namen» als Impuls für ihre Aktionen an. Ein Soldat schrieb während seiner dreiwöchigen Inhaftierung über das geheime Postsystem des Gefängnisses Briefe an Cahun und Moore, fragte sie darin um Rat und ließ sie wissen, dass er und andere nach der Entlassung planten, zu desertieren und die Kapitulation zu fördern. Nach seiner Entlassung nutzte dieser Soldat das geplünderte und verlassene Haus Cahuns und Moores als Unterschlupf (vgl. Follain 2006: 92). 7 «Unter dieser Maske eine andere Maske. Ich werde nicht fertig damit, all diese Gesichter zu lüften.» (Übers. J. B./A. G.) 8 Sie sind wie ein Großteil der erhaltenen Werke Cahuns und Moores Teil der Jersey Heritage Trust Collection und einsehbar unter der item reference

Kriegsverlauf, ironischen, die Nazi-Moral ad absurdum führenden Kommentaren bis zum Aufruf, Sabotage zu leisten – erschöpfen sich weder in plakativen Aufrufen, noch liest sich das Geschriebene als linearer Text: Heimlich abgehörte BBC-Nachrichten werden nicht einfach übersetzt, sondern literarisch weiterverarbeitet, Dialoge wechseln sich ab mit poeJHT/1995/00045/53 auf www.jerseyheritagetrust.jeron.je/reference.html [18. 7. 2008]. 40 der unter dieser Referenznummer abgebildeten Archivalien sind als Flugblätter identiizierbar, wobei einige Flugblätter in mehrfacher Ausführung vorhanden sind, oder es wurden einzelne Versatzstücke wieder verwendet und neu kombiniert. Die Flugblätter sind per Hand oder mit Schreibmaschine, meist auf dünnem Durchschlagpapier, geschrieben. Abgesehen von zwei Exemplaren, die jeweils kurze Einschübe in (vermutlich) kroatischer Sprache enthalten, sind sie auf Deutsch verfasst.

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tischen Zeilen, und der Text zeigt sich häuig graisch oder zeichnerisch gestaltet. Cahuns und Moores widerständige Zeilen sind weder nur im Rezeptionsrahmen Kunst noch allein unter der Rubrik (Widerstands-) Politik abzuhandeln. So wenig die Macher_innen eine Identität haben, so wenig gilt dies für das Produkt ihrer Tätigkeit. Das Konzept Identität wird jedoch nicht verworfen, vielmehr strategisch und kontextspeziisch umgenutzt: Moore und Cahun setzen Identität ein, ohne identitätspolitisch vorzugehen. Als «Soldaten ohne Namen» verschaffen sie sich eine Sprechposition, die sie eigentlich gar nicht haben. Sie ahmen Identitätspolitik nach, tun, als ob sie Wehrmachtsoldaten mit gemeinsamen Sorgen seien: Und je länger der Krieg, desto länger und verwirrter die unausweichliche Revolution, desto schlimmer die Leiden unserer Frauen und Kinder.

Ästhetische Politik mit dem runden Ding Die REVOLUTION der «Waffen-00» SOLL VON ALLEN, NICHT VON / EINEM, / UNTERNOMMEN WERDEN. Dennoch wird nicht nur Flugblatttypisch an alle appelliert, sondern immer wieder in persönlicher Weise einer angesprochen. Beispielsweise folgt einem «lauten» Alarmruf keine Aufforderung an alle. Stattdessen ändert sich die Art der Ansprache, wechselt zu einem «leiseren» Ton, der anspricht, was eigentlich nicht ausgesprochen werden darf. Alarm ! A L A R M ! ! ! / Du ertraegst Manoever OHNE ENDE , Entbehrungen, Du haermst dich um die Deinigen ... / – Wozu ? / So dass Du zum NACHDENKEN keine Zeit hast !

Cahun und Moore schlüpfen hier in die Situation eines heterosexuellen Familienvaters, während sie an anderen Stellen Arbeiter! Kameraden! / Genossen! aufrufen oder philosophisch interessierten Soldaten mit einer Referenz auf Nietzsche begegnen. In ihrer Vielfalt richten sich die Flugblätter an Soldaten aus unterschiedlichen Kontexten und zeigen, dass Moore und Cahun auch seitens der Adressaten nicht von einer einheitlichen Identität des deutschen Soldaten ausgegangen sind. Sie sahen nicht automatisch in jedem deutschen Soldaten die Verkörperung der Naziideologie, sondern hofften auf Brüche im System und hielten eine widerständige Überzeugung auch bei Wehrmachtsoldaten für möglich. «Lutté pour les Allemands contre l‘Allemagne nazie dans un patelin occupé cent pour cent. Lutté avec mes armes d‘écrivain de circonstance surréaliste»9 (Cahun zit. in Lowy 2004: 7). Klar gegen etwas in Opposition zu treten heißt nicht zwangsläuig, gängige Oppositionspolitik zu betreiben. Nicht von einer geteilten Identität auszugehen heißt nicht, kein gemeinsames Ziel zu verfolgen, nämlich Gegen die Waffen-SS ::: die Waffen-00 zu organisieren, ALLE ZUSAMMEN lebenwärts.

9 «Gekämpft für die Deutschen gegen Nazi-Deutschland in einem hundertprozentig besetzten Nest. Gekämpft mit meinen Waffen einer surrealistischen Gelegenheitsschriftstellerei.» (Übers. J. B./A. G.)

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_______________________________________________________________ Auch beim Flugblatt, das zur Verbreitung der «Zeitung» über Jersey hinaus aufruft (Abb. 3), indet nach der klaren Botschaft ein Wechsel zu Flugblatt-untypischer Gestaltung statt. In vergrößerten Abständen getippt, zeilenversetzt platziert führen rätselhafte Formulierungen zum «Erkenntniszeichen», das keines ist. Die absurd-poetischen Zeilen, das graisch und inhaltlich Lückenhafte fordern Raum zum Überlegen geradezu ein. Ein solches Flugblatt lässt im Besatzungsalltag innehalten und regt zum Nachdenken an. Zunächst aber irritiert es, kommt maskiert daher und wird vielleicht gar nicht als Flugblatt erkannt. Moores und Cahuns Flugblätter müssen – nicht nur, weil sie klein getippt sind – genau betrachtet werden, um überhaupt herauszuinden, worum es geht, und auch dann ist die Verwirrung nicht endgültig aulösbar. «Mit ‹Dingen, die wir nicht verstehen› sind wir noch nicht fertig, sie beschäftigen uns, sie fordern uns heraus, sie lassen sich nicht ablegen, und sie bringen uns dazu, uns zu verändern» (Breitwieser 1999: 12). Damit Irritation zu Relexion und Sinn-Suche anstiften kann, ist es jedoch notwendig, dass sie sich weder vollständig ins Vertraute auflösen lässt noch als das ganz Andere, Fremde abgetan werden kann. Die Momente des Unverständnisses innerhalb der Flugblätter halten wir für produktiv, weil sie nicht in purer Irritation stecken bleiben. Die Verbindung verwirrender Elemente – Die Woche der «OHNE» / Koralle der «OHNE» – mit klaren, den Besatzungsalltag aufgreifenden Aussagen indet sich sowohl innerhalb eines Flugblatts als auch bei der Überschau aller erhaltenen Exemplare. Flugblätter, die sich in klassischem Stil zeigen oder mit den Lesenden in Dialog treten und über Wiedererkennungszeichen wie der Signatur einen Bezugsrahmen schaffen, sind vielleicht gerade Voraussetzung dafür, dass verwirrende Exemplare nicht einfach weggeworfen werden, sondern ihr politisches Potenzial, zu einem anderen Denken anzuregen, entfalten können. Cahuns und Moores Flugblätter weisen mittels nichtsprachlicher Ästhetik über die sprachliche Aussage hinaus. Graische Gestaltung eröffnet einen Raum im Dazwischen von Visuellem und Textlichem, fordert ungewohnte Leseweisen und aktive Auseinandersetzung anstelle passiven Aufnehmens. Es entsteht (politischer) Denk- und Handlungsraum. Dies gleicht einer ästhetischen Politik, die im interaktiven Prozess zwi-

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schen «Werk» und Rezipient_in entsteht (Kravagna 1999: 25f).10Die Art und Weise, wie Cahuns und Moores Interventionen eine irritierende Situation herstellen, wirkt nicht blockierend, vielmehr animiert sie dazu, das eigene Handeln zu überdenken, und weist somit über die Irritation hinaus. Die Lesenden werden indirekt aufgerufen, die Waffen niederzulegen und an der Gestaltung einer Welt «OHNE» kriegsmarine / «OHNE» Luftwaffe / «OHNE» Wehrmacht mitzuwirken. Was in der Woche der «OHNE» geschieht, und wie das runde Ding gefüllt ist, wird dabei nicht eindeutig festgeschrieben. Das Lückenhafte, nicht sofort Verstehbare, das Absurde im Flugblatt kann für all das stehen, was die Naziideologie als das Andere, «Entartete» ausschließt, für jene Freiheit des Individuums, welche vom Nazisystem zu töten versucht wird. Konkrete Poesie stachelt zur Teilnahme an der «Waffen 00» an. KAMPFKAMPFKAMPFundKAMPFund pff, ppfff , pff ... Laut10 Ein solches Konzept entwirft Kravagna anhand der Arbeiten Adrian Pipers, die ästhetische Erfahrung und politische Veränderung zusammendenkt und Potenziale künstlerischer Strategien v.a. für politische Interventionen im Kontext sexistischer und rassistischer Diskriminierungen nutzt.

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malerisch verdichtet sich die Sinnlosigkeit des Kriegs, um deutlich zu machen, dass nicht der bewaffnete Kampf, sondern die Niederlage zum Sieg, das heißt zum Frieden, führen wird.

Cahun und Moore die Gelegenheit, an «den Feind» überhaupt heranzukommen. Zum anderen war es für die deutschen Soldaten erst unter diesen Umständen möglich, sich mit einem (absurden) Flugblatt auseinanderzusetzen – im Schützengraben kaum vorstellbar. Die Situationsbezogenheit der Widerstandsaktionen erwähnt auch Cahun in einer während der Gefängniszeit entstandenen Niederschrift:

Wie mag das Bild des untergehenden Nazireichs (Abb. 4) auf einen deutschen Soldaten gewirkt haben? Erscheint ihm diese von Heine (Oberst?) kommentierte Karikatur surreal? Sieht er sich als Matrosen, der sich vom «Kampf und Sieg» brüllenden Hitler ins Verderben verführen lässt wie in Heines Vorlage der Schiffer vom Singen der Loreley? Oder steht der kreischende Hitler im Boot, und der Untergang des Reichs bedeutet die ersehnte Vision, die durch das Bündnis mit den «Soldaten ohne Namen» – den beiden höhnisch lachenden Haiischen – real werden könnte? Wie mit diesem Humor umgehen? Erscheint er nur aus heutiger Sicht erstaunlich? Wie klang das «Finstre Lachen» in der damaligen Situation? FINSTRES LACHEN HITLER führt uns ... GOEBBELS spricht für uns ... GOERING frisst für uns ... LEY trinkt für uns ... HIMMLER? ... HIMMLER ERMORDET FÜR UNS ... Aber niemand stirbt für uns! Blieb den Lesenden auch damals das Lachen im Hals stecken? Oder wirkte die zynische Parodie der Nazipropaganda befreiend – gerade auch für die Schreibenden? Denn Kreativität, Poesie und Humor haben für Cahun und Moore vielleicht den Versuch bedeutet, in jener bedrohlichen Lage die eigene Lebensweise der «kreativen Kollaboration» – ihre Partner_innenschaft als Verstrickung von Arbeit, Liebe, Kunst und Politik (Bucher 2006: 43-50) – zu retten. Gut vorstellbar, dass diese durch die Gestaltung der Flugblätter vermittelte Widerständigkeit ansteckend wirkte. Die Besatzungslage war aber sicherlich eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Flugblätter dieses politische Potenzial entfalten konnten. Zum einen bot das Zusammenleben von Bewohner_innen und deutschen Soldaten auf der abgeschlossenen und kleinräumigen Insel

«When I tried to induce the german soldiers to lay down their arms, I was quite true to my principles, was I not? 1st, against war, 2nd, against the regression represented by our enemies. Perhaps Jersey was almost the only place where that luxury could be indulged in.» (Claude Cahun zit. in Follain 2006: 84) Dass die Prinzipien, die Cahun hier nennt, ästhetisch und poetisch umgesetzt werden, ist besonders faszinierend. Gerade darin erahnen wir politische Wirksamkeit – künstlerische und politische Intentionen bedingen einander. Die Flugblätter politisieren, indem sie auf produktive Weise irritieren, und dies tun sie durch eine speziische Veruneindeutigung der Trennung zwischen Kunst und Politik. «Resistant ideas» für eine Revolution von allen Das Ästhetische in der Politik der Flugblätter kann als Verweis auf Cahuns und Moores Kunst vor dem Krieg gelesen werden. Die Körperbilder aus der Pariser Zeit bedeuten Politiken im Ästhetischen. Besonders in den Ende der 1920er Jahre entstandenen Fotograien und -montagen werden wir mit Körpern konfrontiert, deren Formen verzerrt erscheinen, die aus Fragmenten zusammengesetzt wurden, die nackt und trotzdem geschlechtlich nicht eindeutig einzuordnen sind (Abb. 5). Die Betrachtung dieser Figuren fordert ein anderes als das gewöhnliche Sehen heraus und kann auf diese Weise das alltägliche Körperverständnis und -erleben erweitern. Und das ist das Politische daran (Bucher 2006, 73-81). Die Körperbilder und die Flugblätter betrachtend zeigt sich eine Kontinuität, die nicht nur auf den Einsatz ähnlicher Strategien – wie etwa Maskerade, Crossdressing und Veruneindeutigung – zurückzuführen ist. Auch die in den Fotograien imaginierte widerständige Haltung wird in den Flugblattaktionen praktiziert. Von einer solchen Fortführung spricht auch die Kuratorin des Jersey Museums:

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«When they did their resistance activities it was almost bringing into actual fact, actual doing a lot of the [...] resistant ideas they‘d had in their art works [...], an actual happening of their art works they have created over the years. So the resistance almost personiied their previous art.»11

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_______________________________________________________________ eindeutige Geschlechtlichkeit und Sexualität zu leben. Mit den Flugblättern wird der Kampf für derartige vom Nazisystem bedrohte Freiheiten noch konkreter. Die Revolution von allen ist eine für die individuellen Freiheiten aller und eine «qui n’a pas de sexe et n’a pas de patrie», «die kein Geschlecht und kein Vaterland hat» (Cahun zit. in Lowy 2004: 8; Übers. J. B./A. G.).12 Heute gelesen erscheint uns dieser Halbsatz fast wie ein Motto, welches verdichtet, was queerende Theorie und Politik auszeichnet: von der Infragestellung der Normen Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität ausgehend Gesellschaftskritik zu üben, beispielsweise darzulegen, wie das Konzept «Nation» von ebendiesen Normen durchzogen ist. Während Fotograien von Cahun und Moore mittlerweile nicht nur in kunsthistorischen, sondern auch in queeren Kontexten rezipiert werden, sind die Flugblätter noch kaum bekannt. Uns erscheint es keineswegs weit hergeholt, auch die Résistance von Moore und Cahun queerend zu lesen. Denn sie wählten ein Vorgehen, das Parallelen zu queeren Ideen aufweist: Strategische Koalitionen, Situationsbezogenheit und Taktiken wie die der Verwirrung und des Dazwischen tauchen nicht erst mit der queer-Bewegung auf. Ebenso lassen sich Cahuns und Moores Vorstellungen von (Geschlechts-)Identität und Sexualität mit queeren Konzepten in Bezug setzen. Es hat also einiges mit queerender Politik zu tun, wie die zwei lesbischen Damen Cahun und Moore für ihren subversiven Widerstand ins Kostüm eines heterosexuellen deutschen Soldaten schlüpfen. Die Auseinandersetzung mit den historischen Flugblattaktionen verleitete uns eingangs zu einem Dialog über heutige und zukünftige queerende Interventionen. Wir hoffen auf weitere Relexionen über Moores und Cahuns widerständige Praxen und darauf, dass «some unknown but kindred spirit [...] may be curious about ‹the spiritual franc-tireurs›฀ of Jersey» (Cahun zit. in Follain 2006: 94).

Ein zentraler Aspekt der «resistant ideas» ist die immer wieder in den Fotograien inszenierte Freiheit des Individuums – etwa die, eine un11 Lowy zitiert hier Cahun aus einer der zahlreichen Aufzeichnungen aus der Nachkriegszeit, in denen Cahun und Moore die Erlebnisse während des Kriegs rekonstruieren.

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12 Mit «franc-tireurs» werden im Französischen Partisan_innen bezeichnet.

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_______________________________________________________________ Literatur Bauer, Birgit (2001): Identity is the crisis, can’t you see? Alternative Entwürfe zur Identitätspolitik auf den Spuren von Donna Haraway und Leslie Feinberg, in: Heidel/Micheler/Tuider 2001, 330-345 Breitwieser, Sabine (1999): Einleitung, in: Buergel/Noack 1999, 11f. Bucher, Jolanda (2006): Marcel Moore_Claude Cahun. Photographische Kollaboration. Versuch einer queerenden Kunstgeschichte, unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, Universität Basel Buergel, Roger M.; Noack, Ruth (Hg.) (1999): Dinge, die wir nicht verstehen, Wien (Publikation zur gleichnamigen Ausstellung 28. 1.-16. 4. 2000 Generali Foundation, Wien) Cahun, Claude (1930): Aveux non avenus. Illustré d’héliogravures composée par Moore d’après les projets de l’auteur, Paris Downie, Louise (ed.) (2006): don’t kiss me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, St. Helier/London Follain, Claire (2006): Lucy Schwob and Suzanne Malherbe – Résistantes, in: Downie 2006, 83-95 Heidel, Ulf; Micheler, Stefan; Tuider, Elisabeth (2001): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, Hamburg Hornscheidt, Antje (2005): GenderPerformance nonverbal: Möglichkeiten und Grenzen. Die Relevanz des «Sehens» von «Körpersprache» für Genderwahrnehmungen, in: NGBK 2005, 100-107 Kravagna, Christian (1999): Politische Künste, ästhetische Politiken und eine kleine Geschichte zur Nachträglichkeit von Erfahrung, in: Buergel/Noack 1999, 23-31 Leperlier, François (1992): L‘écart et la métamorphose, Paris Leperlier, François (2002): Claude Cahun. Écrits, Paris Lowy, Michael (2004): Claude Cahun, franc-tireur surréaliste, www. europe-solidaire.org/spip.php?article2486 [1. 5. 2007] NGBK (Hg.) (2005): 1-0-1 (one ‘o one) intersex – Das Zwei-GeschlechterSystem als Menschenrechtsverletzung, Berlin

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die autoren

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Jo Bucher (Basel/Bäuer_innenhöfe): Wiederkäuende Kühe erfreuen mich ebenso wie queerende Konzepte. Das Interesse an biologischer Landwirtschaft intensiviere ich gegenwärtig in meiner Ausbildung zur Landwirt_in, und die Faszination für queere Theorie habe ich im Verlaufe meines Studiums der Fächer Kunstgeschichte, Geschlechterforschung und Mensch–Gesellschaft–Umwelt in Basel und Hamburg erworben. Mit Claude Cahun und Marcel Moore beschäftige ich mich seit meiner Abschlussarbeit Marcel Moore_Claude Cahun. Photographische Kollaboration. Versuch einer queerenden Kunstgeschichte (2006). Auf mein Praktikum im Jersey Museum folgten vor Ort gemeinsam mit Angelika Göres Nachforschungen zu Cahuns und Moores Widerstandsaktionen. Antke Engel ist Philosophin, feministische Queer-Theoretikerin und freiberulich in Wissenschaft und Kulturproduktion tätig. Sie leitet das «Institut für Queer Theory» (Berlin/Hamburg: www.queer-institut.de), das seit 2006 Projekte initiiert, die sich einer «queeren Politik der Repräsentation» verschreiben. 2003 bis 2005 war sie als Gast- und Vertretungsprofessorin für Queer Studies an der Universität Hamburg tätig. 2007 bis 2009 ist sie Research Fellow am «Institute for Cultural Inquiry» (ICI) in Berlin, wo sie an dem Buch Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus arbeitet, das Anfang 2009 erscheint. Kathrin Englert studierte Musikerziehung in Lübeck und Hannover und absolvierte den Masterstudiengang Gender und Arbeit an der Universität Hamburg. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Hamburg-Harburg und Mitglied im Forschungsprojekt «Transformation der Arbeitswelt», einem Kooperationsprojekt zwischen der Universität St. Gallen und dem Hamburger Institut für Sozialforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind feministische Arbeits- und Techniksoziologie, Institutionalisierungsprozesse der Geschlechterverhältnisse

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durch wohlfahrtsstaatliche Politiken sowie queer-feministische Theoriebildung.

vor Basel und Hamburg) und bin studentische Hilfskraft am Zentrum für Anthropologie und Gender Studies (ZAG) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Mein besonderes Interesse gilt Verbindungen zwischen soziologischen/queerenden Körpertheorien und Ansätzen künstlerischtherapeutischer Körperarbeit sowie feministischer Epistemologie bzw. Wissenssoziologie. Den Widerstandsaktionen Claude Cahuns und Marcel Moores näherte ich mich auf einer Spurensuche zusammen mit Jo Bucher auf Jersey.

Dr. Alexandra Ganser hat an den Universitäten Wien und Triest Amerikanistik, Geschichte und Kunstgeschichte studiert; in den Jahren 2003 und 2004 war sie Fulbright-Stipendiatin an der University of Oklahoma/ Norman. Ihre Dissertation hat sie im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs «Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz» an der Universität Erlangen-Nürnberg zu Raumentwürfen und weiblicher Mobilität in amerikanischen Road-Narrativen verfasst (erscheint demnächst unter dem Titel Roads of Her Own: Gendered Space and Mobility in American Women‘s Road Narratives, 1970-2000). Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik der Uni Erlangen. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt zu Piraterie in transatlantisch perspektivierten Texten seit dem 17. Jahrhundert. Weitere Forschungsinteressen und Publikationen neben den Gender Studies liegen vor allem im Bereich Cultural Studies, Postcolonial Studies, Native American Studies, Ecocriticism. Kathrin Ganz hat Politikwissenschaft, Soziologie und Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg studiert. Aus queer-feministischer Perspektive beschäftigt sie sich mit Social Media und Ökonomie sowie mit Familien- und Lebensformenpolitiken. Sie ist Mitglied der AG Queer Studies und bloggt auf www.iheartdigitallife.de/ über Feminismus, Queer, Politik und das digitale Leben. Do. Gerbig (geb. 1974) ist Diplomsoziologin, Wahlhamburgerin seit 2001, und ihr besonderes Interesse gilt queer-feministischer Theorie und Praxis. Sie hat den Nebenfachstudiengang Gender und Queer Studies absolviert und sich dafür auch engagiert. Im Moment setzt sie sich politisch für das bedingungslose Grundeinkommen ein, ist neues Mitglied in der AG Queer Studies Hamburg und beginnt ihr Promotionsprojekt zu Subjektivität, Widerstand und produktivem Scheitern. Angelika Göres (Freiburg i. Br./Basel): Nach meiner Berufstätigkeit als staatl. gepr. Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin studiere ich derzeit Soziologie, Geschlechterforschung und Sprachwissenschaft in Freiburg (zu-

Jin/thana Haritaworn arbeitet intellektuell, politisch und kreativ zu Themen wie Rassismus, Sexualität und Geschlecht; Heteronormativität; Sex-Radikalität; Intersektionalität; Affekt; Mixed Race; Queer/Trans-ofColour-Kritik und Sexarbeitsmigration. Neben zahlreichen Artikeln und Buchkapiteln (zum Beispiel in Darkmatter, Femina Politica, Re/visionen, Heteronormativitaet und Queering the Humanities) ist Jin MitherausgeberIn der Sonderausgabe über Polyamorie im Sexualities Journal (Haritaworn, Klesse und Lin 2006). Momentan arbeitet Jin an zwei Buchprojekten, einem über Mixed Race und thailändische Geschlechtsidentitäten und einem weiteren über sexuelle Citizenship und den «Krieg gegen den Terror». Renate Lorenz bewegt sich seit Beginn der 90er Jahre am Schnittpunkt von visueller Kultur, Theorie und Politik; sie arbeitet als Künstlerin und Kuratorin und lehrt Kunst, Gender- und Queer Theory. Mit Pauline Boudry produziert sie Filme/Installationen wie «Normal Work» (2007) und «N.O.Body» (2008). Im letzten Jahr kuratierte sie die Ausstellung «Normal Love. precarious work, precarious sex» im Künstlerhaus Bethanien Berlin und gab den gleichnamigen Katalog heraus. Zudem erschienen die Publikationen Sexuell arbeiten – eine queere Perspektive auf Arbeit & prekäres Leben» und Normal Work. Zurzeit arbeitet sie an einer queeren Kunsttheorie unter dem Titel Eine Freak-Theorie der Gegenwartskunst. www.boudry-lorenz.de. Marko Meenakshi A L I E N Hutsch lebt, liebt und lacht in Hamburg, studiert an der dortigen Universität Soziologie sowie Gender und Queer Studies und ist Mitglied der AG Queer Studies. Politisch-wissenschaftliche Interessenschwerpunkte sind Repräsentations-Politiken von

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Geschlecht und Sexualität in medialen Texten (vor allem in Film und Fernsehen), Postcolonial und Critical Whiteness Studies (besonders queer-of-color-Kritiken an hegemonial-weißen queer-Politiken) sowie queere und feministische Theorien/Theoriebildung.

Schwerpunkten Betriebsverfassung, Gender und Diversity.

Joke Janssen lebt*liebt*arbeitet in Hamburg, wo er als weiße AkademikerInnen-Tochter aufgewachsen ist. Er studierte Gebärdensprachen, Soziologie und Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg und schreibt dort derzeit seine Magisterarbeit zum Cochlea Implantat bei gehörlosen Kleinkindern. Joke verortet sich immer wieder gern an den vielfältigen Schnittstellen theorie_praktischer Tätigkeitsfelder und scheitert dort regelmäßig und mit großem Genuss, am liebsten im produktiven Kleinkollektiv. Neben unterschiedlichen Texten produziert er kuriose queer-politische No-Budget-Kurzilme in wechselnden Filmgruppen. Anna Köster-Eiserfunke studiert Politikwissenschaft und im Nebenfach Ethnologie in Hamburg. Ihre wissenschaftlichen (und aktivistischen) Schwerpunkte sind Migrationsbewegungen und Kontrollpolitiken, Rassismen und Kritische Weißseinsforschung sowie queer-feministische Ansätze. Unter anderem ist sie in der AG Queer Studies aktiv. Felix Krämer studierte Geschichte, Politik, Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg; promoviert zum Thema «Geschlecht, Religion und soziokulturelle Ordnung in den USA, 1969-1989»; war 2007/2008 Lehrbeauftragter für Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Exzellenzclusters «Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne» an der WWU Münster. Annett Losert, Jg. 1976. Früher mal Bankkauffrau, jetzt Soziologin (Studium der Soziologie, Frauen- und Geschlechterstudien und Psychologie an der Universität Oldenburg) und aktuell promovierend an der Universität Hamburg zum Thema «Vielfalts-Erfahrungen – Diversity Management aus der Sicht von Beschäftigten, Betriebsrat und Management». Parallel dazu seit zehn Jahren in der (gewerkschafts-)politischen Bildungsarbeit als Trainerin, Referentin und Moderatorin tätig mit den

Nina Mackert hat Geschichte, Gender und Queer Studies und Politik an der Universität Hamburg studiert, zum Teil als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung; derzeit promoviert sie an der Universität Erfurt zum Thema «Die Figur der ‹Juvenile Delinquency› in den USA der 1940er bis 1960er Jahre» mit einem Promotionsstipendium der Rosa-LuxemburgStiftung. 2007/2008 war sie Lehrbeauftragte für Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied der AG Queer Studies und interessiert sich besonders für nordamerikanische Kulturgeschichte, Körpergeschichte und Geschichtstheorien. Sonja Mönkedieck, Studium der Politikwissenschaft und Germanistik/ Medienkultur an der Universität Hamburg und der Universidad Complutense de Madrid mit den Schwerpunkten Rassismustheorie und Populärkultur; Abschluss als Diplom-Politologin; Promotionsstipendiatin des künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkollegs «Dekonstruktion und Gestaltung : Gender»; Promotion zur Dr. rer. pol. und CEO des Unternehmens Monkeydick-Productions. Bertold Scharf studiert Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Gender und Queer Studies an der Universität Hamburg. Seine (wissenschaftlichen) Interessenschwerpunkte sind die Geschichte sozialer Bewegungen, afrikanische Geschichte sowie queere und feministische Theorien. Er ist Mitglied in der AG Queer Studies und des Arbeitskreises Historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG) e.V.