Verkehr: 2. Bd.: Die Entwicklung des Verkehrssystems. 1. Hälfte [1 ed.] 9783428415922, 9783428015924

122 111 69MB

German Pages 657 [680] Year 1965

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Verkehr: 2. Bd.: Die Entwicklung des Verkehrssystems. 1. Hälfte [1 ed.]
 9783428415922, 9783428015924

Citation preview

FRITZ VOIGT ·VERKEHR

VERI(EHR Zweiter Band · Erste Hälfte

Die Entwicklung des Verkehrssystems

Von

Dr. rer. pol. habil. Dr. jur. Fritz Voigt o. Profeesor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln Gedruckt 1965 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

© 1965 Duncker

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes · Erste Hälfte Vorbemerkungen

1

Einleitung

Das Verkehrssystem des Altertums und Mittelalters

7

Erstes Kapitel

Entwicklung der Seeschiffahrt

11

I. Hochseeschiffahrt ..........................................

11

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Die Schiffahrt der vorgriechischen Hochkulturen . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur . . . . . .

14

3. Die Schiffahrt im Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

4. Die Schiffahrt in anderen Kulturbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Die Schiffahrt nach dem Zusammenbruch des Römischen Welt-

reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2. Die Schiffahrt der Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit . . . .

42

1. Die Schiffahrt im Zeitalter der Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . .

48

§ 4: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . .

68

1. Die übergangszei t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Die Spezialisierung des Reeders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

3. Die Entwicklung der Seeversicherung und der Schiffsklassifikation 75 4. Der übergang zur Freiheit der Schiffahrt und Freiheit der Meere 78 5. Struktur und Entwicklung der Handelsflotten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

VI

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes Erste Hälfte o

6o

7o

Das Aufkommen des Dampfschiffs 190

8o

9o

100

11.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

83

Das Verhältnis zwischen Dampf- und Segelschiffahrt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts 0

0

0

0

0

0

Das Aufkommen des Linienverkehrs

0

0

0

0

0

0

0

0

0

Die Weiterentwicklung des Dampfschiffs Die Entwicklung der Frachtraten Die soziale Gesetzgebung

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

••

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0.

0.

0

0

0

0

0.

0.

0

0

0

••

0

0

0

0.

0

0

••

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

••••

0

0

0

0

0

0



0

•••

0

0



0

0

0

0

0

0

0

88

0

0.

0

94

0

0

0

0.

97

0

0



0

97



§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 200 Jahrhunderts 1.

20

3o

4o

Wandlungen in der Gesetzgebung

0

0



0

0

0



0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

••

0

0

0

0

0.

Veränderungen in der Technik des Schiffsantriebs Die Verbesserung der Sicherheit der Schiffahrt

0

0

0

0

0



0



0

0

98

0.

0

0

0

0

••

102

0

0

0

0

0

•••

104

0

0

107

0

0

0

••••

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

••

0

0

0

0

0



0



0

0

0

0

0



0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0



107

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

••••

0



0



110

Fahrgastschiffe Frachtschiffe Tankschiffe Container, Massengutfrachter 0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0



0

0

0

0

••

0

0

111

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

114

0

Wandlungen im Umfang und in der Struktur von Angebot und ~achfrage nach Schiffsraum a) Entwicklung der Welthandelsströme b) Verluste und ~eubauten während des ersten Weltkrieges und der ~achkriegszeit c) Verluste und ~eubauten während des zweiten Weltkrieges und der ~achkriegszeit d) Entwicklung der Welthandelsflotte seit Ende des zweiten Weltkrieges e) Änderung des Liniennetzes f) Die "billigen Flaggen" (Flags of convenience) g) Personelle und soziale Probleme 000

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

000

00

Ooo

00

0

00

oo

0

0

0

0

0

0

00

0

0

0

0

0

Oo

0

0

0

116

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0.

0.

0

0

0

0

0

0.

0.

0

116

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

121

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0



0

0

0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

122

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0.

0.

0.

0

0

0

0

0.

0

0

124

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

134

0

0.

0

0

0

0

0

0

••

0

0

••

0

134

0

0

0

0

••

0

0

••

0

0

••

0

139

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seeschiffahrt §

7:

Jüngste Entwicklungen und Perspektiven 1.

2o

3o

4o

5o

6o

Rationalisierung

0

0

0

0

0

0

0

0

0

••

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

Fortsetzung der Tendenz zu Strukturänderungen Zum Problem der Geschwindigkeit Tragflächenboote

98

0

Entwicklung der Schiffstypen seit dem Ersten Weltkrieg a) b) c) d)

5o

0

87

0

0

Luftkissenfahrzeuge

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

Verwendung der Atomenergie

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0.

139

0

144

144

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0



0

0

0

0

••

0

0

0.

0

0.

0

0

0

145

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

146

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

147

0

0

0

0



0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0.

0

0

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0

0.

0

0

0

0

0

••

0

0

0

148

0

0

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0.

0.

0

0

0

0

0

0

0

0

149

0

0

0

0

0

0

0



0

0

0

0

0

0

150

0

0

Exkurs: Zur Problematik der Seeverkehrsstatistik

0

0

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes · Erste Hälfte

VII

II. Die E n t w i c k 1 u n g der Seehäfen ........................ 151 § 1: Die Entwicklung der Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit ........................................................... 151 § 2: Die Entwicklung der Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme ................................................ 160

§ 3: Die Entwicklung der Seehäfen im Obergang vom Segelschiff zum Dampf- und Motorschiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 § 4: Die Entwicklung der Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampf- und Motorschiffe .......................................... 172

III. D i e E n t w i c k 1 u n g d e r S e e k a n ä 1 e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 § 1: Die Geschichte des Suezkanals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Die Vorgänger des Suezkana1s ................................ 189

2. Der moderne Suezkana1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 § 2: Die Geschichte des Panamakanals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

§ 3: Die Geschichte des Nord-Ostsee-Kanals ............................ 199 § 4: Die Geschichte sonstiger Seewasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

1. Isthmus von Korinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

2. Cape-Cod-Kana1

202

3. Die Dardanellen

202

IV. D i e E n t w i c k 1 u n g d e r K ü s t e n s c h i f f a h r t . . . . . . . . . . . . 204

Schrifttum zur Entwicklung der Seeschiffahrt, Seehäfen und Seekanäle . . 207

Zweites Kapitel

Die Entwicklung der Binnenschiffahrt

225

I. Technische, wirtschaftliche und organisatorische Entwicklung der Binnenschiffahrt .................. 225 § 1: Die Entwicklung der Binnenschiffahrt im Altertum und im Mittelalter 225

§ 2: Die Entwicklung der Binnenschiffahrt im Zeitalter des Merkantilismus bis zur beginnenden Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

VIII

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes ·Erste Hälfte

§ 3: Die Entwicklung der Binnenschiffahrt im beginnenden Prozeß der Industrialisierung ................................................. 240

1. Die technische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

2. Wirtschaftliche Auswirkungen in einigen Stromgebieten . . . . . . . . 245 3. Die Änderung rechtlicher Grundlagen der Binnenschiffahrt ...... 247 4. Die Änderung der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 § 4: Die Binnenschiffahrt im Zeitalter der sich entwickelnden Eisenbahnen 251

§ 5: Die Binnenschiffahrt zwischen den beiden Wettkriegen ............ 261 § 6: Entwicklung der Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Wettkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Besonderheiten der Entwicklung der Binnenschiffahrt auf einigen

Wasserstraßen .................................................. a) Donau-Verkehr ............................................. b) Eibe-Verkehr .... . .......................................... c) Rhein-Verkehr ..............................................

267 267 269 269

2. Die Verbesserung und Erweiterung des Wasserstraßennetzes .... 274 3. Die Entwicklung der Transportleistungen der Binnenschiffahrt ... 276 4. Die gesetzlichen Regelungen für die Binnenschiffahrt . . . . . . . . . . . 284 5. Strukturwandlungen der Binnenschiffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 6. Die Entwicklung des Binnenschiffahrt-Seeverkehrs . . . . . . . . . . . . . . 290 7. Die jüngste Entwicklung der Binnenschiffahrt in einigen Staaten 291 8. Ansätze technischer Neuerungen ................................ a) Schubschiffahrt . .. .. . . . .. .. . .. . .. . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . b) Schlauch-Transporte .................................... . .... c) Luftkissen-Boote ............................................ d) Tragflügel-Boote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 301 302 302 304

9. Sonderprobleme der Wasserwirtschaft ............... . .... . ..... 304 § 7: Volkswirtschaftliche Auswirkungen der Binnenschiffahrt .......... 306

II. D i e E n t w i c k 1 u n g d e r B i n n e n k a n ä 1 e

309

§ 1: Binnenkanäle des Altertums und des Mittelalters

309

§ 2: Kanalbauten des Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 § 3: Der Bau von Binnenkanälen nach Einführung der Eisenbahn

319

III. E n t w i c k 1 u n g d e r B i n n e n h ä f e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Sdlrlfttum zur Entwirklung der Binnenschiffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes ·Erste Hälfte

IX

Drittes Kapitel

Die Entwicklung des Straßenverkehrs

361

§ 1: Der Straßenverkehr im Altertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

1. Straßen in den Hochkulturen des Nahen und Fernen Ostens .... 362

2. Straßen im hellenistischen Kulturkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 3. Straßen im Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 § 2: Der Straßenverkehr im Mittelalter ................................ 376

Exkurs: Die Entwicklung des Herbergswesens in Deutschland . . . .

412

§ 3: Der Straßenverkehr im Merkantilismus ............................ 415

§ 4: Straßenverkehr seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Motorisierung 430 § 5: Die Entwicklung des Kraftwagens ...... . .... . ...................... 441

1. Geschichtliche Vorläufer ........................................ 441

2. Die Erfindung des modernen Kraftwagens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 § 6: Die Renaissance der Straße ........................................ 448 1. Verbesserung der Straßen und Vergrößerung des Straßenverkehrs 448

2. Finanzierung des Straßenbaus .................................. 449 3. Änderung der Struktur des Straßenverkehrs .................... 451 4. Impulse der Weltwirtschaftsdepression

455

§ 7: Die Entwicklung der Autobahnen .................................. 457

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg ........ 460 1. Wandlungen im Indifferenzkurvensystem der Haushalte ......... 460

2. Die Entwicklung der Straßenbelastung (Fahrzeugbestände und Fahrleistungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entwicklung in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entwicklung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entwicklung in einigen anderen Ländern ........ . .......

462 462 474 475

3. Die Entwicklung des Straßenwesens ............................ 478 a) Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland .......... 478 b) Die Entwicklung im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 4. Das Problem zunehmender Unfälle im Straßenverkehr . . . . . . . . . . 485 § 9: Jüngere Entwicklungstendenzen .................................... 487

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

X

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes · Erste Hälfte Viertes Kapitel

Die Entwicklung der Eisenbahnen

497

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn ....................................... 497 § 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in ihrer Frühzeit in England und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

1. Die Anfänge der englischen Eisenbahnentwicklung .............. 503

a) Die Entwicklung des Eisenbahnbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 b) Die Entwicklung der englischen Eisenbahngesetzgebung ...... 505

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkung .............................................. b) Die Ludwigsbahn von Nürnberg nach Fürth . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Bestrebungen zur Entwicklung eines deutschen Eisenbahnsystems ................................................ d) Die weitere Entfaltung der Eisenbahnen in Deutschland bis zum 1. Weltkrieg ............................................

507 507 509 510 520

§ 3: Die Eingliederung der Eisenbahnen in das überkommene System des Weltverkehrs ...................................................... 530

1. Gesamtwertung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA . . a) Frühgeschichte der amerikanischen Eisenbahnen .............. b) Entwicklung der staatlichen Politik und des Eisenbahnrechts in den USA .................................................... c) Zur Entwicklung der Organisationsform der amerikanischen Eisenbahnen im 19. Jahrhundert .............................

534 535 538 543

3. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 a) Überblick über die Entwicklung in einigen Ländern . . . . . . . . . . 552 b) Bewertung dieser Entwicklung ............................... 558 4. Gründung internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 § 4: Folgeprozesse der Einführung der Eisenbahnen .................... 565

1. Die Erhöhung der Produktivität des volkswirtschaftlichen Prozesses .......................................................... 565

2. Strukturänderungen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 3. Differenzierungseffekte als wichtigster Impuls marktwirtschaftlicherWachstumsprozesse ....................................... 567 4. Die Durchbrechung der Geldverfassung und des überkommenen Kapitalmarktes durch die Eisenbahn ............................ 573 5. Die Wirkung der Eisenbahn auf den technischen Fortschritt anderer Wirtschaftsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 6. Impulse für Strukturänderungen in der langfristigen Entwicklung 577

Inhaltsverzeichnis des Zweiten Bandes· Erste Hälfte

XI

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland unter dem Einfluß des motorisierten Straßenverkehrs und des Luftverkehrs . . . . . . . . . . . 580

1. Organisatorische Wandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580

2. Erste Reaktionen gegen den zunehmenden Wettbewerb anderer Verkehrsmittel ................................................. 585 3. Kriegsschäden des Zweiten Weltkrieges ......................... 585 4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen 586 5. Reaktionen aus der veränderten Ertragslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 6. Verbesserung der Verkehrsleistungen ........................... 596 7. Finanzierung der Investitionen .................................. 599 8. Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personaleinsparung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Elektrifizierung .............................................. c) Rationalisierung im Rangierdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Paletten-Pools ......................................... . .... e) Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

600 600 601 604 605 605

§ 6: Dieneuere Entwicklung der Eisenbahnen in einigen anderen Ländern 607 § 7: Jüngste Entwicklungen, Pläne und Perspektiven .................... 634 § 8: Exkurs: Die Entwicklung der Bergbahnen

639

Schrifttum zur Entwicklung der Eisenbahnen

643

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte Fünftes Kapitel

Die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs § 1: Die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs im Altertum

§ 2: Die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs vom Mittelalter bis zur Entstehung des Schienenverkehrs § 3: Die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs unter der Herrschaft

des Schienenverkehrs

§ 4: Die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs im Vordringen des Individualverkehrs § 5: Die volkswirtschaftliche Gestaltungskraft des städtischen Nahverkehrs in Abhängigkeit seines Entwicklungsstandes

1. Verdichtung der Städte

2. Auflockerung der Städte § 6: Spezielle Probleme des Individualverkehrs § 7: Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung des städtischen Nahverkehrs

Sdlrifttum zur Entwicklung des städtisdlen Nahverkehrs und des innerstädtisdlen Verkehrs Sechstes Kapitel

Die Entwicklung des Luftverkehrs Vorbemerkungen

§ 1: Historische Flugprojekte und Entwicklung des Ballonflugs 1. Versuche mit der Ballonfahrt

2. Die Frühentwicklung des Luftschiffs § 2: Entwicklung des Motorfluges mit Flügelflugzeugen § 3: Entwicklung des Luftschiffs nach dem 1. Weltkrieg

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte § 4: Entwicklung des Flugverkehrs mit Flugzeugen nach dem 1. Wertkrieg § 5: Die Formung des Luftrechts und die Bildung der ersten internationalen Organisationen der Luftfahrt

1. DieiATA 2. Die CINA

3. Die CITEJA 4. Die CIANA 5. Die Pan American Convention 6. Das Warschauer Abkommen 7. Der Civil Aeronautics Act 8. Das Vertragssystem von Chicago 9. Die Entwicklung des Luftrechts § 6: Der Einfluß des 2. Wertkrieges auf die Entwicklung des Luftverkehrs

1. Erhöhung der Verkehrswertigkeit des Verkehrsmittels 2. Entwicklung der Radartechnik 3. Erweiterung der Produktionskapazität § 7: Entwicklung des Luftverkehrs nach dem 2. Wertkrieg

1. Entwicklung der Träger 2. Gründung internationaler Organisationen der Luftfahrt a) Die ICAO b) Die IATA 3. Der Weg zum Düsenflugzeug 4. Die Entwicklung des Nahluftverkehrs als Ergänzung der Fernlinien 5. Zukunftsperspektiven der Entwicklung des Luftverkehrs § 8: Volkswirtschaftliche Folgewirkungen des Luftverkehrs § 9: Die Entwicklung der Wertraumfahrt

Schrifttum zur Entwicklung der Luftfahrt

Siebentes Kapitel

Die Entwicklung des Nachrichtenwesens I. D i e E n t w i c k 1 u n g tenmittel

n i c h t - e 1e k t r i s c h e r

§ 1: Das Nachrichtensystem im Altertum

§ 2: Das Nachrichtensystem im Mittelalter

Na ch r ich -

XIII

XIV

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte

§ 3: Die Entwicklung der Post im Merkantilismus

a) b) c) d)

.Änderung des Wesens des "Staates" .Änderung der Zielrichtung geistiger Interessen Ausbreitung der "Bildung" Entstehung des Buchdrucks

II. D i e E n t w i c k 1 u n g e 1 e k t r i s c h e r N a c h r i c h t e n m i t t e 1 § 1: Historische Vorstufen § 2: Die Entwicklung der Kabeltelegraphie

1. Telegraphen-Landkabel und Telegraphen-Flußkabel

2. Telegraphen-Seekabel § 3: Die Entwicklung der Telephonie

1. Fernsprech-Freileitungen und Landkabel

2. Fernsprech-Seekabel § 4: Die Entwicklung des Fernschreibnetzes und der Bildübertragung als Zweige der modernen Telegraphie § 5: Die Entwicklung des Funkwesens (Drahtlose Telegrafie, drahtlose Telefonie, Rundfunk und Fernsehen)

1. Die grundlegenden Erfindungen

2. Erste Versuche zum Aufbau eines Systems des Funkverkehrs 3. Die Entwicklung bis zum 2. Weltkrieg a) Der Aufbau des Rundfunks aa) Im Deutschen Reich bb) Im Ausland b) Die Entwicklung von Sonderdiensten c) Systematischer Ausbau eines Funknetzes d) Entwicklung des Fernsehens e) Entwicklungen im 2. Weltkrieg 4. Die Entwicklung seit dem 2. Weltkrieg a) Wiederaufbau des Funk- und Telefonverkehrs in Deutschland b) Die Entwicklung in anderen Teilen der Welt c) Organisatorische .Änderungen beim Rundfunk nach dem 2. Weltkrieg d) Nachrichtenübermittlung über Satelliten § 6: Jüngste Perspektiven

III. D i e E n t w i c k 1 u n g z u m m o d e r n e n P o s t w e s e n § 1: Die Entwicklung der Post im Eisenbahnzeitalter

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes· Zweite Hälfte § 2: Die Entwicklung internationaler Verbände im Postwesen § 3: Jüngste Entwicklung

Schrifttum zur Entwicklung des Nachrichtenverkehrs

Achtes Kapitel

Die Entwicklung des Rohrleitungstransports und des Transports von Energie § 1: Die Entwicklung des Transports von Flüssigkeiten

1. Die Entwicklung der Wasserleitung

a) Wasserleitungen im Altertum b) Wasserleitungssysteme des Mittelalters c) Wasserleitungen in der beginnenden Neuzeit d) Wasserleitungssysteme im Kernprozeß der Industrialisierung e) Probleme in einigen anderen Teilen der Welt Exkurs: Das Problem der Abwässer 2. Die Entwicklung der Mineralöl-Fernleitungen § 2: Die Entwicklung des Transports von Gasen

1. Die Entwicklung des Transports von Haushalts-, Industrie- und

Erdgasen 2. Die Entwicklung der Ferndampfheizung

§ 3: Die Entwicklung des Transports von Feststoffen 1. Die Entwicklung von Kohle-Pipelines 2. Die Entwicklung der Rohrpost 3. Die Verwendung der Pipeline für den Transport sonstiger Produkte § 4: Die Entwicklung des Transports von Elektrizität

1. Der Bau der ersten Elektrizitätsleitungen 2. Der Ausbau von Verbundsystemen zwischen unterschiedlichen Basen der Elektrizitätserzeugung 3. Exkurs: Stromerzeugung unter Verwendung der Atomenergie

Schrifttum zur Entwicklung des Leitungsverkehrs Zusammenfassung, Ergebnisse, Folgerungen Auseinandersetzung über die angewandte Methode und die Auswahl der Problemkreise 1. Begründung für die Notwendigkeit zusätzlicher historischer Analyse

zur Erkenntnis des Wesens der Verkehrswirtschaft und der Verkehrspolitik

XV

XVI

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes· Zweite Hälfte

2. Art der Auswahl der Problemkreise 3. Notwendigkeit des Zusammenwirkeng geschichtlicher Betrachtung und theoretischer Analyse 4. Aufgabe dieses Buches 5. Die Erfaßbarkeit von langfristigen Entwicklungen in Modellen 6. Methode des Suchens nach dem Wesen der Entwicklung 7. Möglichkeiten und Grenzen isolierender Betrachtung der Entwicklung des Verkehrssystems 8. Entwicklung als Tasten in der Ungewißheit 9. Möglichkeit retrospektiver Erfassung der Wirklichkeit bei exakten Modellen 10. Gefahr des Denkens in zu kurzen Kausalketten 11. Schlußbemerkung I. Zur Problematik der Entwicklung § 1: Die Grundfragen der entwicklungstheoretischen Betmchtung

§ 2: Die wichtigsten Determinanten der Entwicklung der Verkehrswirtschaft § 3: Zur Problematik der eigenständigen Entwicklungsdynamik 1. Wesen der eigenständigen Entwicklungsdynamik

2. Fähigkeit einer Institution, auf Impulse von außen zu antworten 3. Verkehrswirtschaftliche Organisation in ihrer Stellung zu Entwicklungs-Impulsen a) Das Streben nach Maximierung des Gewinns als Entwicklungsimpuls b) Beispiele anderer ökonomischer Impulse und deren Grenzen 4. Die tatsächliche historische Entwicklung als Konkretisierung einer Lösungsmöglichkeit aus einer ganzen Reihe anderer Möglichkeiten 5. Folgerungen II. Wesen und Entwicklung des. Verkehrssystems § 1: Das Weltverkehrssystem § 2: Die Entwicklung des jeweils relevanten Verkehrssystems 1. Ausdehnung des relevanten Verkehrssystems

2. Die Dichte der Verkehrsbeziehungen 3. Hinweis auf einzelne Folgewirkungen einer Veränderung der Struktur des Verkehrssystems

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes· Zweite Hälfte

XVII

4. Beziehungen innerhalb des Systems 5. Verschiebung des Schwergewichts § 3: Zusammenfassung

III. Beziehungen zwischen der Entwicklung von Ges e lls c h a f t , St a a t u n d V e r k e h r s s y s t e m § 1: Die Beziehungen zwischen Verkehr und der Entwicklungsfähigkeit von Kulturen § 2: Beziehungen zwischen Staat und Verkehr

1. Grundbeziehungen 2. Die Formen der Prägung durch das jeweilige Wesen des Staates IV. B e z i eh u n g e n z w i s c h e n d e r E n t w i c k 1 u n g d e s Ver kehrssystems und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen Bemerkungen zum Ausgangspunkt der Darstellung und zur Quellenlage § 1: Formung primärer Entwicklungsimpulse durch das Verkehrssystem

1. Unterschiede in verschiedenen historischen Phasen 2. Erste Auswirkungen der Verbesserung des Verkehrssystems durch Einführung der Eisenbahnen 3. Folgeprozesse der Verbesserung des Verkehrssystems durch Einführung der Eisenbahnen 4. Obergang von Strukturverschiebungen zu Wachstumsprozessen 5. Fehlen von Ausgleichsvorgängen 6. Umgestaltung überkommener Standortfaktoren 7. Einfluß auf das Phänomen des "Marktes" 8. Einfluß auf die Arbeitsteilung und Spezialisierung 9. Einfluß des Verkehrssystems auf die Grenzen einer Entwicklung 10. Auslösung erster Differenzierungseffekte 11. Unterschiede in der sichtbaren Gestaltungskraft der verschiedenen Verkehrsmittel 12. Folgerung § 2: Der Prozeß der Industrialisierung § 3: Differenzierungseffekte als Folge der Verbesserung des Verkehrssystems

1. Gründe dieser Erscheinung 2. Abhängigkeit von der Verkehrswertigkeit

XVIII

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte

3. Bewertung der Differenzierungseffekte 4. Die Problematik des mangelnden Ausgleichs 5. Die Bedeutung staatlicher Einwirkung über die Steuergesetzgebung 6. Schlußbemerkung § 4: Obergang von punktueUen Industrialisierungsvorgängen zur Ent-

stehung von "Bändern" hochindustrialisierter Räume 1. Erste Phase

a) Entleerungsprozesse als wesentlicher Bestandteil des Gesamtprozesses b) Entstehung von Sekundär-Impulsen aus dem Ballungsgebiet heraus

2. Zweite Phase a) Veränderung der Bezugsbasis der Arbeitsteilung des sich höher entwickelnden Prozesses b) Charakteristik der "Bänder" 3. Folgen der Formung von Bändern marktwirtschaftlicher Industrialisierung a) Veränderung der Basisräume des Differenzierungsprozesses b) Veränderung der Streuungswirkungen der Investitionseffekte c) Erhöhung der Produktivität d) Innere Struktur des Bandes § 5: Die Fortpflanzung des Differenzierungsprozesses bei weite1·er Ver-

besserung des Verkehrssystems

A. Vorgänge bei der durch das Verkehrssystem induzierten Vergröße-

rung des industriellen Potentials in der Welt

1. Differenzierungsprozesse in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des

Beginns der möglichen Entwicklungen a) Differenzierungsprozesse bei gleichzeitigem und gleichmäßigem Bau eines Eisenbahnnetzes b) Differenzierungsprozesse bei unterschiedlichem Ausbau eines hochwertigen Verkehrssystems aa) Ausgangslage bb) Kernprozeß bei Verbesserung der relevanten Verkehrsverbindungen cc) Fortpflanzung des Prozesses a) Grundprozeß ß) Historische Besonderheiten dd) Vergrößerung der Unterschiede der Produktionskosten, unterschiedliche Veränderung der Produktionsfunktionen ee) Änderung der Produktion ff) Bildung internationaler Konzerne

2. Weitere Spezialisierung im Kern des Industriebandes a) Entwicklung des Verkehrs und der Industrie im Verlauf des weiteren Differenzierungsprozesses

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte b) Die Entwicklung des Handwerks im Verlauf des Differenzierungsprozesses c) Die Entwicklung der Landwirtschaft im Verlauf des Differenzierungsprozesses B. Folge des wachsenden Rohstoffbedarfs für die industrielle Produktion 1. Unterschiede in der räumlichen Entwicklung von ortsgebundener

und freier Produktion

2. Die Entwicklungsfähigkeit ferner Räume mit hochwertigen Rohstoffvorkommen 3. Formung einer Komplementärstruktur als Reflex C. Strukturwandlungen in fernen Räumen mit eigenen Entwicklungsimpulsen D. Ergebnis des Differenzierungsprozesses für den Kern der Bänder der Industrialisierung 1. Stand des Grundprozesses

2. Folgen einer Schrumpfung des Eisenbahnnetzes E. Zusammenfassung § 6: Transportkosten und Standorte A. Determinanten für die Bedeutung der Transportkosten in bezug auf

die Unternehmensstandorte

1. Unterschiede von Produktionskosten bei Unternehmensstand-

orten in der Ausgangslage der Industrialisierung und damalige Bedeutung der Transportkosten

2. Entwicklungstendenzen des Verhältnisses zwischen Produktionskosten und Transportkosten im Laufe der Industrialisierung a) Erste Entwicklungsphase im Kernbereich der Industrialisierung b) Die Bedeutung einer Verbesserung der Markttransparenz c) Die Bedeutung der Verbesserung der Nachrichtenmittel im fortgeschrittenen Stadium der Industrialisierung d) Bedeutung des Gewichts der Präferenzen 3. Bedeutung der Transportkosten innerhalb des Kerngebiets der Industrialisierung B. Unterschiede in der Bedeutung der Transportkosten und deren Folgen C. Folgen eines Anpassungszwanges D. Veränderungen in der Bedeutung der Transportkosten für den Absatz von Fertigwaren a) Auf einem Markt von Markenartikeln aa) Konsumgüter

XIX

XX

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte bb) Investitionsgüter b) Die Bedeutung der Transportkosten in Oligopolmärkten

Exkurs: Erfahrungen bei der Ansiedlung von Flüchtlingsindustrie § 7: Verkehrssystem und technischer Fortschritt 1. Zufällige Erfindungen 2. Systematische Erforschung und Anwendung des technischen Fortschritts § 8: Auswirkungen der Gestaltungskraft des Weltverkehrssystems auf einige Zweige der Weltwirtschaft

1. Unterschiede in der Gestaltungskraft 2. Verschiebung der Thünenschen Kreise 3. Nachträgliches Entstehen von Entleerungsgebieten im Band der Industrieräume 4. Zur Problematik der Monokulturländer 5. Wertung des Prozesses 6. Wege der Überwindung der Folgen der Differenzierungseffekte § 9: Unterschiede in der Beeinflußbarkeit von Systemen der Planwirtschaft zu denen der Marktwirtschaft § 10: Die Verkehrsströme im Weltverkehrssystem

A. Die Verkehrsströme als Niederschlag der volkswirtschaftlichen und wel twirtschaftlichen Entwicklung Quellenlage B. Beispiele von Verkehrsströmen in einem der Schwerpunkte des Weltverkehrssystems 1. Differenzierungseffekte innerhalb des Industrie-Bandes

2. Entwicklung von Länge und Struktur der Ströme innerhalb des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik Deutschland (Querschnitte) a) Güterströme im Deutschen Reich (bzw. BRD) als Beispiel eines Industrielandes in einem Schwerpunkt des Weltverkehrssystems aa) Länge der Güterströme bb) Räumliche Verteilung der Güterströme cc) Struktur der Güterströme b) Ströme des Personenverkehrs c) Speziell: Verkehrsströme auf Straßen C. Verkehrsströme über weite Entfernungen 1. Die Entwicklung des Welthandels

Inhaltsübersicht des Zweiten Bandes · Zweite Hälfte 2. Spezielle Güterströme des Seeverkehrs a) Eisenerz b) Kohle c) Öl

d) Holz e) Getreide f) Bauxit g) Schrott h) Zucker § 11: Beziehung zwischen Verbesserungen des Verkehrssystems und Verkehrsströmen

§ 12: Das Bewußtwerden der Entwicklung

Schrifttum zu allgemeinen Problemen der Entwicklung des Verkehrssystems Sachregister

XXI

Vorbemerkungen Der vorliegende zweite Teil, der sich mit der geschichtlichen Entwick:lung des Verkehrswesens befaßt, soll historische Daten nicht um ihrer selbst willen darstellen, sondern nachprüfen, ob die theoretische Konzeption der Verkehrswirtschaft, wie sie im ersten Teil des Werkes analysiert worden ist, für die Wirklichkeit genügend Aussagefähigkeit besitzt und wo die Grenzen theoretischer Erfaßbarkeit im stets fluktuierenden Prozeß des Lebens, in der Dimension der Zeit liegen. Wie jede Theorie muß auch eine Analyse der Verkehrswirtschaft fähig sein, die Wirklichkeit voll und richtig zu erfassen. Vermag sie dies nicht, so kann sie sogar gefährlich werden, da sie zu falschen Bewertungen Anlaß geben und zu nicht angemessener Verkehrspolitik verleiten kann. Ein Studium historischer Abläufe als gelebte Wirklichkeit schärft den Blick für das Wesentliche. Eine historische Betrachtung kann die Theorie aber nie ersetzen. In den meisten neueren Lehrbüchern und Monographien wird die geschichtliche Entwicklung wirtschaftlicher Institutionen meist vollständig vernachlässigt. Diese Reaktion gegenüber jenen historischen Schulen, die in Deutschland generationenlang Lehre und Forschung an den Universitäten beherrschten und eine Unzahl von monographischen Einzeldarstellungen historischer Abläufe hervorbrachten, ist durchaus verständlich. Da sich ökonomische Prozesse aus der unendlich großen, verwirrenden Fülle des tatsächlichen historischen Geschehens allein nicht mit genügend großer Exaktheit erkennen lassen, vermochten jene Schulen zum Verständnis der heutigen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge nur sehr wenig beizutragen. Vor allem die Theoriefeindlichkeit und der - in den Stufenlehren zutage tretende - Fortschrittsglaube der jüngeren historischen Schule führten dazu, daß wirklichkeitsgerechte Maßstäbe zur Beurteilung einer Entwicklung verlorengingen und auch die gedankliche Eingliederung des Wirkens eines Wirtschaftszweiges oder einer einzelnen Institution in den volkswirtschaftlichen Zusammenhang nur unvollkommen gelang. Die moderne Nationalökonomie ist demgegenüber zu betont "geschichtsfeindlich". Das Pendel ist zu stark in die andere Richtung ausgeschlagen. Je glänzender die mathematischen Formulierungen gelingen, um so geringer ist oft die Aussagefähigkeit kühn konstruierter Modelle, vor allem wenn die Verfasser vergessen, daß die Volkswirtschaftslehre 1 Voigt IL'l

2

Vorbemerkungen

eine "Sozialwissenschaft" ist und das Denken und Handeln der Menschen in ihrem jeweiligen Erlebnishorizont für ökonomische Vorgänge entscheidend ist. Die moderne Theorie interessiert sich zu wenig für "Fakten", um so mehr aber für quantitativ erfaßbare funktionale Zusammenhänge. Gewiß kann man die Verkehrswirtschaft ausschließlich aus der Perspektive solcher Abstraktionen und bloßer Modellbetrachtungen zu erfassen versuchen. Entscheidende Wesenszüge der Verkehrswirtschaft lassen sich aber auf diese Weise nur recht unvollkommen darstellen. Vor allem kann das nicht erfaßt werden, was in diesem Buch "eigenständige Entwicklungsdynamik" genannt wird, nämlich die Entwicklung der Gesamtheit des Verkehrssystems wie auch die eines einzelnen Verkehrsmittels nicht nur quantitativ, sondern auch im Hinblick auf hiervon meist untrennbare "qualitative" Merkmale, d. h. institutionelle und soziale Veränderungen in ihren immanenten Gesetzmäßigkeiten. Die historische Entwicklung prägt jeweils den Erlebnishorizont der Menschen einer Zeit und stellt eine der Determinanten für den virtuellen Aktionssektor der Handelnden dar, die auch jeden ökonomischen Prozeß maßgeblich bestimmen. Die eigenständige Entwicklungsdynamik wird nicht in erster Linie durch Zufälligkeiten bestimmt, sondern innerhalb einer verhältnismäßig geringen Variationsbreite entscheidend von der Datenkonstellation der Ausgangslage und den sich aus ihr immanent ergebenden Impulsen beeinflußt. Analogien zur Biologie sind zwar immer kritisch zu werten und nicht ohne weiteres auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft oder einer anderen menschlichen Institution übertragbar. Dennoch können Beispiele aus dieser Welt verdeutlichen, was wir unter eigenständiger Entwicklungsdynamik verstehen. Nehmen wir an, wir hätten in der Ausgangslage eine Anzahl von Samen oder Knollen verschiedener Pflanzen. In dieser Ausgangslage ist aus der Form der Samen bzw. Knollen noch nicht zu erkennen, welche Blumen in der Blütezeit entstehen werden. Stecken wir die Knollen bzw. den Samen in die Erde und investieren wir immer die gleiche Menge Wasser, so entstehen erst kleine Blattpflanzen, von Sorte zu Sorte trotz gleicher "Investitionen" schon in etwas unterschiedlicher Art und Menge, später Blumen in vielleicht großer Vielfalt, ohne daß sich quantitativ erklären läßt, weshalb aus der einen Knolle immer Dahlien derselben Art - beispielsweise in roter Farbe, aus anderen weiße oder lila Dahlien entstehen, weshalb aus anderen Knollen Gladiolen werden und weshalb, trotz Hinzufügung immer der gleichen Investitionen in Gestalt des Wassers oder aller von der Pflanze benötigten Nährstoffe, diese Blüten eines Tages verblühen. Wenn nun die moderne theoretische Nationalökonomie einen Wachstumsprozeß nur aus der Perspektive der Quantität der betreffenden Investition sieht, dann vernachlässigt sie Vorgänge, die für die Ent-

Vorbemerkungen

3

wick:lung oft viel entscheidender sein können. Um den Blick dafür zu öffnen, was wir eigenständige Entwicklungsdynamik nennen, ist deshalb ein Studium historischer Entwicklungsvorgänge unumgänglich. Im Gegensatz zur modernen Theorie soll also nachgewiesen werden, inwieweit quantitativ gleiche Impulse von Verkehrsmittel zu Verkehrsmittel - wenn wir die langfristige Entwicklung betrachten, auch von Periode zu Periode - unterschiedliche Auswirkungen haben. Ein und derselbe Impuls, der beispielsweise in der Binnenschiffahrt eine Zeitlang zu einer immer engeren Annäherung an die Bedingungen der vollkommenen Konkurrenz führt, bewirkt schließlich gerade in diesem Wirtschaftszweig bei scheinbar wenig unterschiedlicher Datenkonstellation die Explosion "des Modells". Der gleiche Impuls führt jedoch gleichzeitig in einem anderen Wirtschaftszweig zu ganz anderen Auswirkungen. Weil diese Unterschiede in der eigenständigen Entwicklungsdyna~ mik, die die moderne Theorie nie in ihre Abstraktion aufnimmt, meist nicht beachtet werden, führen ihre Deduktionen manchmal vor allem für langfristige Perioden zu oft völlig wirklichkeitsfremden Ergebnissen. Aufgabe dieses Abschnittes ist es also auch, - im bewußten Gegensatz zur reinen Theorie - dem nachzugehen, was wir zunächst einmal mit dem Begriff "eigenständige Entwicklungsdynamik", eingebettet in historische Abläufe, umschrieben haben. Der geschichtliche Teil soll also vorzugsweise die Theorie der Verkehrswirtschaft ergänzen und die volkswirtschaftliche Gestaltungskraft des Verkehrssystems sowie einzelner Verkehrsmittel aufzeigen, nicht aber hat dieser Teil die Aufgabe, eine spezielle Verkehrsgeschichte zu sein. Wenn wir allerdings im folgenden die Entwicklung der einzelnen Verkehrsmittel zunächst getrennt betrachten, besteht die Gefahr, daß die historischen Zusammenhänge des Verkehrssystems als Ganzes nicht genügend hervortreten. Es muß deshalb von vornherein darauf hingewiesen werden, daß jedes Verkehrsmittel nur als Teil des gesamten Verkehrssystemsund schließlich der wirtschaftlichen Entwicklung und des Staates zu werten ist. Das Verkehrssystem ist eine komplexe Einheit, auch wenn seine Einzelteile oft mit weiten Substitutionslücken vielfach nur durch ihren unterschiedlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der verschiedenen Räume mittelbar zusammenwirken. An einen Überseetransport beispielsweise schließt sich stets ein Impuls verschiedener Einkommensströme auch für den Landtransport an. Normalerweise wird ein derartiger Überseetransport irgendwie im Binnenland weitergeführt. Aber auch wenn das nicht der Fall ist, lösen die Sekundärwirkungen der Einkommenseffekte in der Regel Verkehrsströme auf anderen Verkehrsmitteln als Folgeerscheinungen aus. Es ist dabei immer wieder zu

4

Vorbemerkungen

bedenken, daß das Verkehrssystem geradezu erst "den Markt" mit seinen arbeitsteiligen Austauschprozessen möglich macht. Jeder Impuls im Verkehrssystem erstreckt sich also über mehrere sekundäre und tertiäre Impulse. Er beeinftußt damit notwendig andere Verkehrsmittel, wie auch andere geld- und güterwirtschaftliche Vorgänge. Dieses Zusammenwirken, das sich aus dem Wesen des Verkehrssystems ergibt, muß man- trotz aller historischen Wandlungen - in dem Zusammenhang der verschiedenen Verkehrsmärkte mit ihren Substitutionslücken und Überschneidungen beachten. In diesem Rahmen formt sich auch die eigenständige Entwicklungsdynamik jedes einzelnen Verkehrsmittels immer weiter. Unter ,Verkehrssystem' verstehen wir somit das Zusammenwirken von Verkehrsmitteln zwecks Raumüberwindung von Personen, Gütern und Nachrichten. Geschichtlich entwickelte sich das Verkehrssystem zwar vornehmlich durch das Hinzutreten neuer Verkehrsmittel und aus technischen Verbesserungen. Ein System ist aber mehr als eine bloße Addition. Die verschiedenen Bestandteile des Verkehrssystems sind untereinander durch bestimmbare Relationen (Formen der Zusammenarbeit oder des Wettbewerbs) verbunden. Das Verkehrssystem führt nicht zu einem einzigen Markt für Verkehrsleistungen, sondern zu einer großen Anzahl verschiedener Teil-Verkehrsmärkte mit unterschiedlichen Substitutionslücken. Die Verkehrsunternehmen sind auf dem Markt, auf dem sie anbieten, entweder Konkurrenten oder komplementäre Glieder mit den drei alternativen Aktionsparametern: Preis, Menge oder Güte der Verkehrsleistungen. In jedem Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung ist folglich das Verkehrssystem eine- wenn auch aus sehr komplexen Größen zusammengesetzte- Einheit. Das Zusammenwirken der verschiedenen Verkehrsmittel tendiert zu jedem Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung auf einen Gleichgewichtszustand hin, der durch die jeweils zusammenwirkenden Ebenen der Verkehrswertigkeit der einzelnen Verkehrsmittel, der Struktur des Angebots an Verkehrsraum und der Nachfrage bestimmt ist. Infolge der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung der verschiedenen Verkehrsmittel verschiebt sich dieses Gleichgewicht jedoch ständig. Typisch für das Verkehrssystem ist, daß es für Transporte zwischen zwei Punkten in der Regel Verkehrsleistungen unterschiedlicher Qualität anbietet. Oft wird eine Relation nur von einem Verkehrsmittel bedient, zuweilen von zwei oder noch mehr Verkehrsmitteln, die zueinander im Verhältnis der Substitution stehen. Insgesamt bestimmt das Verkehrssystem entscheidend den Grad der möglichen Arbeitsteilung sowie das Ausmaß, in dem irgendein Transport gerade noch zweckmäßig ist. Jede Änderung der Streuung der Verkehrswertigkeiten verändert diese

Vorbemerkungen

5

Faktoren, die für die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit maßgebend sind. Wir stellen somit fest, daß das Verkehrssystem einerseits die abhängige Variable der wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen Entwicklung ist. Darüber hinaus ist es aber andererseits auch in der Lage, selbst entscheidend jede wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Raumes zu formen und zu begrenzen.

Einleitung

Das Verkehrssystem des Altertums und Mittelalters Um zu zeigen, wie auffällig das Verkehrssystem als Ganzes in bestimmten Situationen den entscheidenden Impuls einer Entwicklung gibt wie auch seine Grenze setzt, in anderen Situationen aber selbst nur die Auswirkung anderer Impulse ist, sei ein kurzer überblick über die systematische Stellung des Verkehrssystems im Altertum und im Mittelalter der Schilderung einer speziellen Entwicklung der einzelnen Verkehrsmittel vorangestellt. Im Altertum wie im Mittelalter war das Meer, soweit man es als Verkehrsweg benutzte und zu benutzen wußte, verkehrsfreundlich, das Land demgegenüber meist verkehrsfeindlich. Die Schiffahrt war vorzugsweise Küstenschiffahrt. Über das bekannte Meer wurden jedoch schon im Altertum weite Reisen unternommen, da Holz, das wegen seines niedrigen spezifischen Gewichts auf dem Wasser schwimmt, in genügender Menge zur Verfügung stand und die verhältnismäßig günstigen Widerstandsverhältnisse des Wassers von einem Schiff keine komplizierte Technik verlangten. Das Land war dagegen nur von relativ wenigen, gut benutzbaren Verkehrsstraßen durchzogen. Sümpfe, Urwald, unpassierbare Flüsse, unsichere rechtliche und politische Verhältnisse, oft weitgehendes Mißtrauen der Einwohner gegenüber Fremden hinderten den Verkehr auf dem Land weit mehr als auf Wasserwegen. Schon aus den uns zugänglichen Quellen des Altertums läßt sich erkennen, daß die Güte und Auswertbarkeit des Verkehrssystems als wesentliche Determinante neben den Fähigkeiten der Menschen und deren Stand des technischen Wissens die jeweilige Wirtschaftsstruktur entscheidend bestimmten. Dabei wurde oft das Verkehrssystem Ausgangspunkt der wirtschaftlichen und sozialen, aber auch der politischen Entwicklung. Befand sich die Staatsgewalt in der Einflußsphäre weitsichtiger und initiativbegabter Kräfte, so wurde das Verkehrssystem auch damals schon bewußt als ein entscheidendes Mittel der Stärkung der Staatsgewalt und der wirtschaftlichen Entwicklung verwandt!. 1 Wie sehr schon einzelne Schriftsteller im Altertum die Bedeutung des Verkehrswesens für die wirtschaftliche und politische Entwicklungsfähigkeit des Raumes erkannten, zeigt das Pamphlet Pseudoxenophons: "Athenaion Politeia", in dem ein unbekannter athenischer Autor aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert die Vorteile preist, die eine Seemacht gegenüber anderen Staaten auszeichnet; hierzu Rotraut Ruscher: Pseudoxenophon's Schrift über den Staat der Athener im Lichte der modernen Staatslehre. Diss. Nü.rnberg 1955.

8

Einleitung

Die Kultur des Altertums war deshalb vorwiegend Küstenkultur. Während im Inneren der Kontinente sich nicht mehr als eine Naturalwirtschaft herausbilden konnte, lassen die geschichtlichen Quellen erkennen, wie das bessere Verkehrssystem an den Küsten und an Flüssen immer wieder die Tendenz entwickelte, die betreffende Region zu einer marktwirtschaftliehen Struktur und höheren Kultur zu führen. Gab es auch in der staatlichen Entwicklung des Altertums in Küstenstaaten immer wieder einmal fremdenfeindliche Perioden, in denen die bestehenden Handelsbeziehungen, sowie der kulturelle Austausch zerschlagen wurden, so zeigten die Verkehrsmöglichkeiten entsprechend dem jeweiligen technischen Stand der Verkehrsmittel - und dadurch bedingt den geographischen Kenntnissen und der Ausdehnungsfähigkeit des Verkehrs - doch immer wieder die Tendenz zu einer Durchbrechung der Naturalwirtschaft. Die geschilderte Grundtendenz ist gut zu verfolgen, wenn man die Entwicklungsfähigkeit bestimmter Städte und Landschaften im Altertum überprüft. Wie das Niveau der Kultur, so war auch die jeweilige Herausbildung größerer Städte schon im Altertum eine Funktion der Güte des Verkehrssystems. Bereits im Altertum entstanden Großstädte nur in Beziehung zu guten Verkehrswegen, da die Menschenmassen in Großstädten nie allein durch das unmittelbar benachbarte Land ernährt werden können. Lebensmittel und Kleidung heranzuschaffen, sowie die Verbindungslinien für diese lebensnotwendigen Transporte in Kriegsfällen aufrechtzuerhalten, konnte auf die Dauer nur gelingen, wenn entsprechend leistungsfähige Verkehrsmittel zur Verfügung standen. Die Großstädte bildeten sich deshalb fast ausschließlich in der Nähe der Küste und an Flüssen. Andererseits läßt sich in der geschichtlichen Entwicklung deutlich feststellen, wie eine einmal entstandene Hochkultur und eine einmal erwachsene politische Gewalt bestrebt sind, sich nach dem Landesinneren hin auszudehnen. Ein derartiges Vorhaben gelingt auf die Dauer nur, wenn systematische Bestrebungen dahin gehen, die Landverkehrsmittel und das Nachrichtensystem so auszubauen, daß Befehle durchgegeben, Heere dirigiert, sowie Informationen über Feindbewegungen rechtzeitig empfangen werden können. Während der Seeweg entlang der Küste in der Regel immer zugänglich bleibt, müssen Landverkehrswege stets von neuem mit Zwang erkämpft werden. Das Verkehrssystem war demgemäß in der ersten Phase des Entstehens einer Hochkultur eine unabhängige Variable der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Es wurde dann in das zunächst verkehrsfeindliche Medium des Landesinneren hinein als abhängige Variable jeder inzwischen entstandenen politischen Macht weiterentwickelt.

Einleitung

9

Die geschilderte wirtschaftliche, soziale und politische Bedeutung des Verkehrssystems, sowie auch dessen Abhängigkeiten, lassen sich in der geschichtlichen Entwicklung verschiedener Hochkulturen des Altertums gut verfolgen. So leitete Athen seine Kraft aus seiner günstigen Lage zum Meer ab. In dem Maße, in dem die Verkehrsmittel seine wirtschaftliche Entwicklung begünstigten, stieg auch die Zahl der Einwohner. Um 463 v. Chr. wurde in großem Umfang mit dem Bau von Getreideschiffen zur Versorgung der Bevölkerung begonnen. 431 v. Chr. hatte Athen 315 000 Einwohner (darunter 172 000 Bürger), 51 v. Chr. überstieg die Einwohnerzahl Roms 1 Mill.2. Die Einwohnerzahl der chinesischen Hauptstadt Changau betrug im Jahre 755 v. Chr. mehr als 2 Mill., 935 n. Chr. die der Araberhauptstadt Cordoba in Spanien 1 Mill. Derartige Großstädte waren insbesondere auf die Zufuhr von Trinkwasser angewiesen. So sind aus dem Altertum mehrere Bauten großer Wasserleitungen bekannt: 710 v. Chr.: 533 m langer Tunnel für die Wasserversorgung in Jerusalem, 540 v. Chr.: Bau einer Wasserleitung aus Tonröhren für die Stadt Athen. Diese hohen Einwohnerzahlen konnten sich nur solange halten, wie die Bevölkerung von außen ernährt werden konnte. Dies war ausschließlich eine Funktion der Güte des Verkehrssystems. Verringerte sich dessen Qualität, so entleerten sich die Großstädte sehr schnell, und auch die staatliche Hoheitsgewalt verlor ihre Durchsetzungsfähigkeit. Um 157 v. Chr. hatte die Einwohnerzahl des Römischen Reiches ungefähr 100 Mill. erreicht, wobei das Imperium in entscheidendem Maße durch die Güte des Systems der Land- und Seeverkehrsmittel zusam2 Im römischen Kaiserreich wurde nur eine allgemeine umfassende Volkszählung (74 n. Chr. durch Vespasian) durchgeführt. Daneben gab es aber regelmäßige Zählungen der Bürger und den Zensus in den einzelnen Provinzen. Der Zensus (69 v. Chr.) weist für Rom 910 000 Bürger auf. Augustus gibt im Monurnenturn Ancyranum als Zahl der römischen Bürger (nun offensichtlich einschließlich Frauen und Kinder) 28 v. Chr. 4,06 Millionen 14 n. Chr. 4,93 Millionen an. Außerdem war das römische Bürgerrecht in der Zwischenzeit in großem Umfang weiterverliehen worden (Utika, Gades usw.). Nicht einbegriffen sind die Sklaven. Die Bevölkerungsziffer der Stadt Rom läßt sich aus der überkommenen Zahl der Getreideempfänger erkennen. Zur Zeit Cäsars gab es hiervon 320 000. Getreideempfänger waren nicht: Senatoren, Ritter und Angehörige des Mittelstands, die einen bzw. zwei Sklaven hatten. Zusammen mit den Peregrinen und den Sklaven dürfte man auf die Zahl von einer Million kommen. Im 4. Jahrhundert hatte die Stadt dagegen nur noch 400 000 Einwohner. Vgl. im übrigen S. 659 f.

10

Einleitung

mengehalten wurde. Jedoch mußte die Staatsgewalt schon hierbei zu Zwangsmitteln greifen. So führten die Römer wesentliche Verkehrsleistungen in der Rechtsform des Zwangsdienstes für das Allgemeinwohl durch. Dieser Zwangsdienst war erblich, er erhielt sich bis in die Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. und ging dann allmählich zurück. Die Güte des Verkehrssystems war also stets der Ausgangspunkt und damit auch das entscheidende Mittel zur Bildung kräftiger Staaten, sowie entwicklungsfähiger Kulturen und insoweit eine eigenständige Antriebskraft des wirtschaftlichen Aufstiegs. Mit dem Niedergang der politischen Gewalt zerbrach das Verkehrssystem auf dem Lande vollkommen, während die Verkehrsverbindungen in der Küstenschiffahrt zwar schrumpften, aber nie völlig verlorengingen. Wurde die Rechtssicherheit staatlicherseits nicht mehr gewährleistet und die Verkehrsanlagen (Häfen, Straßen, Relaisstationen, Nachrichtenmittel) nicht mehr in Ordnung gehalten, so sank die Qualität des Verkehrssystems auf einen durch die jeweilige technische Entwicklung gegebenen primitiven Grundstand herab. Auch die Einwohnerzahl der Großstädte .und die Struktur der fortgeschrittenen Wirtschaft wurden durch Hungersnot, Seuchen und Aufstände - wir können das nahezu ganz generell formulieren - auf das Maß herabgedrückt, das der verringerten Qualität des Verkehrssystems entsprach. So wuchsen und verfielen zumindest Athen und Rom- mögen auch noch so viele andere Ursachen mitgewirkt haben - ohne Zweifel in entscheidendem Maße mit der Verbesserung bzw. Verschlechterung der Qualität des Verkehrssystems ihrer Räume. Theoretisch können wir also formulieren, daß das Verkehrssystem zunächst eine unabhängige Variable und eigenständige Antriebskraft der Entwicklung war, die Bildung sowie die Stärke der Staaten und Kulturen jedoch eine hiervon abhängige Variable wurden. Im Laufe der Zeit aber wird derjenige Staat, der seine Macht und Stärke steigern will, von sich aus zur weiteren Ausgestaltung seines Verkehrssystems veranlaßt. Damit wird die Verbesserung des Verkehrssystems ihrerseits zur abhängigen Variablen der politischen Entwicklungsfähigkeit des betreffenden Staates.

Erstes Kapitel

Entwicklung der Seeschiffahrt I. Hochseeschiffahrt § 1: Die Entwicklung der Seeschiffabri im Altertum 1. Die Schiffahrt der vorgriechischen Hochkulturen Schon in vorgeschichtlicher Zeit gab es eine Seeschiffahrt mittels Floß und Einbaum in Vorderindien, Mesopotamien, Nubien, an der Westküste Südamerikas, in Polynesien, Neuseeland sowie Ägypten. Da die Verkehrsverbindungen zu Lande sehr schlecht waren, wurden frühzeitig Verbindungen entlang den Küsten gesucht, wobei man allerdings anfangs nur bei Tag und in Sicht von Land zu fahren wagte. Für das östliche Mittelmeer muß schon für die Zeit von 5000 bis 4500 v. Chr. eine ausgedehnte Seehandelstätigkeit angenommen werden, obwohl wir über die Träger dieses Handels, die Bauart und die Antriebskräfte der verwendeten Schiffe keine Anhaltspunkte besitzen1 • Auch die Hochkultur, die auf ägyptischem Boden im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. erwuchs, gründete sich auf die Seefahrt, wenn auch die Ägypter damals keine Weltgeltung erreichen konnten. Es waren vielmehr kretische, phönizische und griechische Schiffe, die in späterer Zeit den Seehandel zwischen Ägypten und den westlichen Mittelmeerländern übernahmen. In Ägypten dagegen überwog die Nilschiffahrt, die ein geeignetes Mittel zur Erschließung des Oasenlandes und dessen politischer und wirtschaftlicher Expansion darstellte. Die Armeen, die Thutmosis 111. (1490-1436 v. Chr.) auf 18 Feldzügen gegen Syrien schickte, wurden mit Schiffen befördert, die nicht wesent1 Vgl. hierzu vor allem: Pauly's R.eal-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. hrsg. von G. Wissowa (später: beg. von G. Wissowa, hrsg. von W. Kroll u. a.), Bd. 1-18, Stuttgart 1894 ff., hier: Bd. 2 A.S.. S. 40.8 ff. - Richard Hennig: Abhandlungen zur Geschichte der Schiffahrt, Jena 1928; S. 2. Hennig begründet seine Vermutungen mit Gesteinsfunden in Grabanlagen der Ersten Dynastie Ägyptens im Nilgebiet, die von den Liparischen Inseln (Äolischen Inseln) stammen müssen. Otto Höver: Älteste Seeschiffahrt und ihre kulturelle Umwelt. Weltgeschichtliches aus dem 3. vorchristl. Jahrtausend, Harnburg 1948, S. 35. Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Ägyptens, hrsg. von K. Sethe, 5 Bände, Leipzig 1896-1912. Fr. Hrozny: Die älteste Geschichte Vorderasiens, Frag 1940.

12

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

lieh von Flußschiffen abwichen. Es waren kiellose Last- und Kriegsschiffe. Die ägyptische Seeschiffahrt erstreckte sich vorzugsweise auf den Arabischen Meerbusen und die Küsten Syriens, wobei sich allerdings der überwiegende Teil des Handels mit Syrien auf dem Landwege vollzog. Das verschiedenartige Güterangebot der tropischen Wirtschaftszonen- Arabien, Indien und Ostafrika (Eryträische Welt)- einerseits, sowie der subtropischen mediterranen Wirtschaftszone andererseits erweckte das Bedürfnis zum interregionalen Austausch dieser Güter und bildete den ersten Ansatz zu der interozeanischen Isthmusverbindung von Koptus zur Küste2 • Die Kreter waren es dann, die neben Mykenai zu wirklichen Seemächten3 des Altertums aufstiegen. Das Wirken der Kreter als Seefahrer begann in der älteren minoischen Kulturepoche (ab 2800 ?), zumindest ab 2000 v. Chr.), wobei sie im Jahrhundert vor der Erdbeben- oder (und?) Flutkatastrophe (um 1580) und später bis etwa 1470 v. Chr. (Fritz Schachermeyr) eine regelrechte politische Vorherrschaft zur See begründeten, sie wurden dann abgelöst durch Mykenai. Ausgrabungen und Funde von Gerätschaften und Schmuckgegenständen legen die Vermutung nahe, daß die kretischen Seefahrer bis nach Spanien, dem Silberland des Altertums, vorgedrungen sind. Wahrscheinlich aber spannte sich das Verkehrsnetz noch viel weiter. Hennig sieht es sogar als erwiesen an, daß die Vor-Tartessier die britannischen Inseln erreichten und von dort Gold aus Irland, sowie Zinn aus Cornwall nach Spanien brachten, das dann von kretischen Seefahrern übernommen wurde4 • Die Kreter waren im übrigen vorzugsweise Schiffsbauer und haben die phönizischen Schiffstypen maßgeblich beeinflußt. Die kretische Vorherrschaft zur See wurde durch die phönizische abgelöst, die ihren Höhepunkt zwischen 1100 und 800 v. Chr. erreichte. Zahlreiche Häfen, wie z. B. Tyrus, Sidon und Byblos, verstärkten ihre 2 Die Quellen lassen vermuten, daß man sich schon in diesen Kulturen gelegentlich von der Küste löste, vor allem dort, wo regelmäßige Winde die Sicherheit der Fahrt und die Erreichung des Zieles gewährleisteten. Vor allem waren es die Monsune, die einen allerdings oft nur jahreszeitlichen Verkehr zwischen Vorder- und Hinterindien, Arabien und Ostafrika verhältnismäßig früh ermöglichten. Ähnliche Bedingungen herrschten in den chinesischen Gewässern. 3 Über das Verhältnis zwischen Staatsbildung und Seewesen in der Frühzeit informiert Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte. Harnburg 1947; für die Frühzeit B.A.G. Frocklage: Das Schiff in den Megalith-Kulturen Südostasiens und der Südsee. Anthropos Bd. 31 (1936) S. 712-757; August Köster: Seefahrten der alten Ägypter. In: Sammlung Meereskunde, H.175; ders.: Schiffahrts- und Handelsverkehr des östlichen Mittelmeeres im 3. und 2. Jahrtausend. In: Beihefte zu "Der alte Orient", H.l (1924). 4 Richard Hennig: Abhandlungen, a.a.O., S. 3 f. und S. 6; desgl. Adolf Schulten: Tartessos, Harnburg 1922, S. 7; Diedrich Fimmen: Die kretischmykenische Kultur, 2. Aufl. Leipzig 1924.

1. Die Schiffahrt der vorgriechischen Hochkulturen

13

Machtstellung. Zwischen den Zentren der altorientalischen und der mediterranen Kultur standen Syrien und Arabien als die natürlichen Vermittler. Hinzu kam, daß die schlechten Bedingungen für den Landverkehr, sowie der Fischreichtum der Gewässer die Entwicklung der Seeschiffahrt enorm begünstigten. DieSeeschiffahrt des Altertums war und blieb jedochKüstenschi:ffahrt, welche die vielen Inseln des Mittelmeeres miteinander verband. Über Kreta, Sizilien, Sardinien stießen die Phönizier auf diese Weise bis nach Spanien vor; die Rückfahrt erfolgte mit der Strömung entlang der nordafrikanischen Küste. Die Seeschiffahrt bildete so die Grundlage einer ausgedehnten Handels- und Kolonialpolitik, die vor allem von Tyrus und Sidon ausging. Die Phönizier gründeten an den Küsten Handelsniederlassungen, aus denen im Zuge der Intensivierung des Handels zur See bedeutende Städte erwuchsen. Ein Seehandel mit Indien scheint allerdings damals noch nicht bestanden zu haben.

Zechlin5 schildert, wie von Ost nach West fortschreitend "das Mittelmeer zu einem Feld der Geschichte wurde". Er zeigte, wie die indogermanischen Wanderungen Kulturzusammenhänge schufen und das Handelssystem der semitischen Phöniker Wirtschaftsverbindungen erzeugten, die vom Ostrand des Mittelmeers bis über den Ausgang hinausreichend noch die ostafrikanische Küste erfassen konnten. Die Technik dieser Handelsschiffahrt entwickelte sich in der Hauptsache aus zwei Wurzeln: Das kretisch-phönizische Boot war ein aus dem Holz der Zeder gebautes Kiel- und Spantenschiff, das gegenüber den ägyptischen Schiffen eine vergleichsweise große Längsfestigkeit aufwies. Der Mangel an geeignetem Schiffsbauholz und die Besonderheiten des Nilverkehrs ließen demgegenüber in Ägypten eine andere Schiffsform entstehen. Das ägyptische Boot hatte keinen Kiel und war aus dem kurzen Holz der Akazie und Sykomore verbändelos und geklinkert gefertigt. Die Außenplanken waren schuppenartig angeordnet und mit Papyrusschilf abgedichtet. Beide Schiffstypen wiesen Ruder- und Segeleinrichtungen auf, wenn auch die großen ägyptischen Lastkähne beim Obeliskentransport getreidelt wurden. Mannigfache Weiterentwicklungen im Antrieb und Bau der Schiffe erhöhten deren Leistungsfähigkeit und Stabilität beträchtlich. An die Stelle von einfachen Segelstangen traten stabile Segelmasten, das Paddel wurde durch das Riemenruder ersetzt und durch die Einführung des Hecksteuers verbesserte sich die Manövrierfähigkei t 0 • s Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte, Harnburg 1947, S. 25-75. e Björn Landström: Das Schiff. Vom Einbaum bis zum Atomboot. Rekonstruktionen in Bild und Wort. Aus dem Schwedischen. Gütersloh 1961, s. 14 ff.

14

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur In der Folgezeit waren es die Griechen, die als schiffahrttreibendes Volk eine Hochkultur aufzubauen vermochten7 • Dabei war es insbesondere der Verkehr zwischen den Inseln der Ägäis und die Notwendigkeit, diese Transportwege zu sichern, wodurch die Schiffahrt gefördert wurde. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den ionischen und den dorischen Griechen gaben darüber hinaus immer wieder Anlaß zu technischen Fortschritten im Schiffsbau und waren die Ursache für eine immer bessere Ausbildung seegewöhnter Mannschaften. Da der Handel als Quelle des Reichtums galt, mußte die phönizische Hegemonie im Mittelmeerraum durch die Griechen erst gewaltsam gebrochen werden 8 • Bis dieser historische Prozeß abgeschlossen war, ergaben sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Entwicklungstendenzen. Wie in allen alten Kulturen, konnte sich auch in Griechenland der Verkehr entweder nur auf der Basis der staatlichen Integration, der gemeinsamen Kultstätten oder des Handels entwickeln. Diese Determinanten bildeten sich historisch zu unterschiedlichen Zeiten aus und waren auch in der geschichtlichen Entwicklung in unterschiedlicher Intensität wirksam. Das Risiko des Reisens ließ in der Frühzeit dieser Hochkultur - von den wenigen, immer auftretenden Abenteurern abgesehen - nur den längere Fahrten unternehmen, der sich Gewinn davon versprach. Denn der Reisende als Fremder war fast überall rechtlich weitgehend ungesichert, und aufgrund der überaus schlechten Straßenverhältnisse war es sehr beschwerlich zu reisen. Im Inneren von Griechenland herrschte in der gesamten vorhellenischen Zeit als Wirtschaftsform anfangs die geschlossene Hauswirtschaft, später dann - vom 6. bis 4. Jahrhundert ungefähr - eine weitgehend geschlossene Stadtwirtschaft vor, wenn man diesen umkämpften Realbegriff verwenden darf. Abgesehen vom Lokalhandel bestanden dort kaum Wirtschaftsbeziehungen und Massenverkehr über größere Entfernungen hinweg. Der Handel, der auf griechischem Boden als Institution mit seinen beiden Komponenten, dem Ankauf und dem Verkauf, erst verhältnismäßig spät in Gebrauch kam, wurde zunächst durch Fremde angeregt. Den Griechen blieb es verhältnismäßig lange fremd, selbst Handel zu betreiben. Während in den vorhellenistischen Jahrhunderten vor allem die Phönizier ab und zu in griechischen Siedlungen auftauchten und ihre fremd7 Interessantes Material analysiert Günther Jachmann: Der homerische Schiffskatalog und die Ilias. Wissenschaft!. Abhandlungen der Arbeitsgem. für Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 5 Köln;Opladen 1958. s Vgl. im übrigen auch: August Köster: Das antike Seewesen. 1. Aufl. Berlin 1923, ferner derselbe: Schiffahrt und Handelsverkehr des östlichen Mittelmeers im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr., Leipzig 1924.

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur

15

artigen Waren im Tauschhandel9 absetzten, waren es vom 4. Jahrhundert an "Fremde", die sich in den griechischen Städten niederließen, die einheimischen Produktionsüberschüsse im allgemeinen auf Kredit aufkauften und diese dann in anderen Gegenden absetzten10• Da die Fremden meist besitzlos in die griechischen Städte kamen, ergab sich schon hieraus eine besonders charakteristische Form der Finanzierung des griechischen Handels. Händler und Geldgeber waren fast durchweg verschiedene Personen; die übliche Finanzierungsform war das Seedarlehen. Der Händler, der Naukleros 11 , besaß zwar im allgemeinen ein Schiff, verfügte aber über kein weiteres Kapital, das er zum Einkauf von Waren benötigte. Dieses Kapital streckte ihm der griechische Kapitalbesitzer vor, ein größerer Gewerbetreibender oder ein größerer Grundbesitzer. Der Naukleros fuhr dann mit den kreditierten Waren über See. Im allgemeinen wußte er vorher noch nicht, wo er die Waren absetzen würde. Wesentlich war, daß ein Naukleros grundsätzlich auf Rückfracht angewiesen war, d. h. nach Absatz der Waren an irgendeinem Ort mußte er auch dort wieder neue Waren einkaufen. Im allgemeinen differierten die an den verschiedenen Orten gültigen Geldsysteme sehr voneinander, so daß der Erlös der Waren in Form von Geld an einem anderen Ort im allgemeinen nur mit größerem Verlust wieder verwendbar war12 • Die These, daß vom 4. Jahrhundert an und dann speziell in hellenistischer Zeit die Möglichkeit zum Handel von griechischen Städten aus durchaus gegeben war, läßt sich weniger mit der häufigen Annahme stützen, daß etwa griechische Vasen im Überschuß produziert worden wären, sondern man muß zu allererst, vor allen Dingen in älterer Zeit, an den Menschenhandel denken. In der Folgezeit setzte sich der Handel mit gewerblichen Luxusartikeln (Schmuck, Geschirr, Gewänder) durch, wobei wir speziell aus dem 3. Jahrhundert wissen, daß in den Städten größere Gewerbebetriebe bestanden haben, wie z. B. in Athen. Dort werden im 3. Jahrhundert vier große Fabriken in Urkunden genannt, unter denen speziell die Fabrik des Lysias auffällt, eine Schildfabrik, in der 120 Sklaven beschäftigt wurden. Diese Angabe zeigt deutlich, daß u. a. Athen in damaliger Zeit imstande war, Waffen und Kriegsgerät zu exportieren 13 • Importiert wurden in alter Zeit vor allem Gewürze, Weihu Zu der hier liegenden Problematik eines Handels in Form von gegenseitigen Geschenken B. Laum: Schenkende Wirtschaft. Nichtmarktmäßiger Güterverkehr und seine soziale Funktion. Frankfurt 1960. 1o Vgl. J. Hasebroek: Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte bis zur Perserzeit, Tübingen 1931, S. 18. u Vgl. J. Hasebroek: Staat und Handel im alten Griechenland, Tübingen 1928, S. 7 und S. 2 f. 12 Vgl. J. Hasebroek: Staat und Handel ... , a.a.O., S. 85 f. 13 Vgl. dazu Lujo Brentano: Das Wirtschaftsleben der antiken Welt, Jena

1929,

s. 49.

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

16

rauch und Stoffe; in späterer Zeit, seit der Blüte der größeren Ansiedlungen und der Städte, tritt mehr und mehr der Getreidehandel in den Vordergrund, bis er schließlich vom 4. Jahrhundert an Hauptgegenstand des griechischen Handels und der Handelspolitik der Städte wurde. Die fremden Händler, am Ort nun ansässig, im allgemeinen Metoiken genannt, wurden zwar nicht als Bürger betrachtet, waren dem Staat aber dennoch besonders willkommen, da sie eine glänzende Einnahmequelle darstellten. Die Bürger, die im allgemeinen steuerfrei lebten, erhielten sogar noch für gewisse Zwecke "Gelder" des Staates. Die Metoiken dagegen mußten an den Staat Schutzgelder abgeben. Sie zahlten Fremdensteuern und ermöglichten es dem Staat, Zölle zu erheben14 • Aus diesem Grunde wurden den Metoiken auf anderen Gebieten gewisse Entgegenkommen gewährt. Sie erhielten Erleichterungen beim Kriegsdienst und die Erlaubnis, Grundbesitz zu erwerben. Wesentliche Erschwernisse des Handels, bisher ja nur als Seehandel aufgefaßt, bestanden sowohl in den geringen nautischen Kenntnissen als auch in der großen Unsicherheit, die durch die Seeräuberei bedingt war, (eine Institution, von der reichlich Gebrauch gemacht wurde; z. B. fingen eine Zeit lang die Rhodier alle Getreideschiffe ab, da bei ihnen im Land das Getreide knapp war). Die wesentliche Behinderung, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, war das Fehlen einer Marktinformation, bedingt durch die Unzulänglichkeit des Nachrichtensystems, das im allgemeinen nur in der Aussprache zwischen Berufsgenossen bestand. Ein organisiertes Nachrichtenwesen war überhaupt nicht vorhanden. Es fehlte auch das gewerbsmäßige Transportgeschäft, d. h. der gewerbsmäßige Transport für fremde Rechnung, denn der Kaufmann, der Naukleros, begleitete im allgemeinen als Kapitän und Steuermann seine Ware selbst. Auf dieser Grundlage entwickelte sich dann in hellenistischer Zeit ein für die damalige Epoche durchaus umfangreicher Fernhandel. In der Zeit zwischen 750 und 550 v. Chr. 15 fuhren griechische Kolonisten vor allem von Korinth und Attika aus an die Küsten Siziliens, Mazedoniens, Thraziens, des Marmara- und des Schwarzen Meeres, sowie an die Küsten Afrikas, Spaniens und Südfrankreichs, wo sie Städte in großer Zahl gründeten. Hand in Hand mit dem Aufbau der attischen Handelsflotte ging der Aufbau der Kriegsflotte, da die absolute Vorherrschaft zur See16 nach dem Untergang der phönizischen Seemacht zur Vgl. J. Hasebroek: Staat und Handel ... , a.a.O., S. 25. Vgl. im übrigen auch August Köster: Das antike Seewesen. 1. Aufl. Berlin 1923. 16 Hierzu Rotraut Ruscher: Pseudoxenophon's Schrift über den Staat der Athener im Lichte der modernen Staatslehre. Diss. Nürnberg 1955, S. 120 ff. 14 15

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur

17

Unterdrückung der Seeräuberei17 und zur Beherrschung der Kolonien und Bundesgenossen notwendig war. War Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. die "Hauptverrechnungsbörse für den Mittelmeerhandel" (Rostovtzeff), so trat Rhodos später an seine Stelle. Der Inselstaat wurde in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts der anerkannte Führer der Ägäis-Griechen. Systematisch wurden von hier die Piraten bekämpft und die Freiheit des Handels in der Ägäis bewahrt. Rhodos war bestrebt, die Einheit der griechischen Welt zu sichern. Die Technik des Schiffsbaues wurde stark gepflegt, die Docks der Stadt wurden gegenüber Fremden streng verschlossen, um die technischen Neuerungen und die Kenntnis der Zahl der aufgelegten Schiffe nicht nach außen dringen zu lassen18• Einer der größten Entdecker und Seereisenden des 4. Jahrhunderts, Phytheas von Marseille, umsegelte England und drang in die Elbmündung ein, möglicherweise erreichte er sogar Skandinavien. Gerade in der Entfaltung Griechenlands kann man sehen, wie sehr jede irgendwo oder irgendwann in der Geschichte sich bildende Hochkultur von der Güte und Entwicklungsfähigkeit des Verkehrssystems abhängig war und ob sie wollte oder nicht- immer wieder abhängig wurde. H. Berven schildert, wie der Weg Athens nach den Peloponnesischen Kriegen zu einer wirtschaftlichen Blüte führte. In der Verbesserung des Verkehrssystems wuchs die Stadt stark an. Wenn man als Verkehrswirtschaftler allerdings die Entwicklungsfähigkeit der Stadt und ihrer Macht wertet, ist festzustellen, wie jede auch nur vorübergehende Verschlechterung des Verkehrssystems durch Piraten, Kriege, Feindschaften sofort oder später politische und soziale Revolutionen hervorrief. Im frühen 4. Jahrhundert machte Griechenland eine Krise durch. Das Interesse Athens ging geradezu zwangsläufig von rein politischen auf wirtschaftliche Probleme über20 • Die steigende Bevölkerung der Großstadt Athen (431 v. Chr.: 172 000 Bürger; mit Metöken und Sklaven um 315 000) 21, konnte vor Hungersnöten nicht bewahrt werden, sobald der interregionale Ausgleich durch das Verkehrssystem nicht mehr funktionierte. Mit allen Mitteln versuchte die Politik, den Staat in dieser Situation vor dem Zusammenbruch zu retten. Die gesamte Politik mußte dann auf die Pro17 E. Ziebarth: Beiträge zur Geschichte des Seeraubes und Seehandels im alten Griechenland, Harnburg 1929. 1s Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt. Band II, Neudruck Darmstadt 1955, S. 536 ff. 1Q H. Berve: Griechische Geschichte, 2. Aufl., 1951/2, II, S. 114 ff.; Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der Hellenistischen Welt. Neudruck Darmstadt 1955. 2o K. von der Lieck: Die xenophontische Schrift von den Einkünften. Diss. Köln 1933. 21 Die Zahl galt zwar wohl für Attika, ist aber wegen der Art der Siedlung für die Entwicklung Athens kennzeichnend.

2 Voift II/1

18

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

bleme konzentriert werden, die das unzureichende Verkehrssystem schuf. Aber auch in späterer Zeit finden wir, wie sich Einflüsse infolge auch nur zeitweiser-Verschlechterungdes Verkehrssystems der Seefahrt z. B. durch Piraten in kritischen Situationen der Politik äußern22 • Dies gilt nicht nur für den griechischen Raum, sondern für alle Zentren der Hochkulturen im Altertum. Sobald die wirtschaftliche Entwicklung zur Bildung von Großstädten Anlaß gab, wurden gerade diese - besonders empfindlichen Spannungszentren der politischen Macht - von regelmäßiger Nahrungsmittelzufuhr und ungestörtem Handel um so mehr abhängig, als ihre Größe und wirtschaftliche Bedeutung anwuchsen. Bereits zu dieser Zeit wurde die Seeschiffahrt erstmalig durch ein

Privatseerecht gesetzlich geregelt. Das Rhodisehe Seerecht, das ein

System praktischer Regelungen darstellte, spielte - obgleich es wahrscheinlich niemals kodifiziert worden ist - für die Einheit Griechenlands eine erhebliche Rolle, wofür insbesondere die Praxis der Gerichte sorgte. Die Sammlungen der Sentenzen des Seehandelsrechts waren für lange Perioden das nahezu unbestrittene Seerecht des Altertums. Dabei sind uns die Grundsätze heute nicht mehr bekannt. Der römische Jurist Paulus erwähnt die Lex Rhodia de Iactu23 , seither einer der wichtigsten Grundsätze des Seerechts. Angefügt wurde ein Dekret des Kaisers Antoninus: Bei der Seegerichtsbarkeit müsse das Recht der Rhodier beachtet werden, soweit es nicht zu dem römischen Recht in Widerspruch steht. Nachdem die Ostphönizier als Seemacht untergegangen waren, errichteten Kolonialphönizier in Karthago einen neuen Staat, dessen ständig wachsende Bedeutung sich vom Weizenreichtum des nordafrikanischen Küstenlandes und der günstigen Verkehrslage nach dem Zusammenschluß der ehemaligen phönizischen Niederlassungen in Nordafrika herleitete. Dieser Staat war somit in der Lage, als Seemacht die politische und wirtschaftliche Hegemonie der Griechen in einem Teil der damaligen Welt zu brechen. Durch eine umfassende Handels- und Kolonialpolitik entwickelte sich ein Handelsmonopol Karthagos, so daß bis zum Erstarken des Römischen Reiches das Mittelmeergebiet in zwei Machtsphären- die karthagische und die griechische- aufgeteilt war.

22 Als Beispiel sei die Hungersnot in Athen um 203/2 (v. Chr.) genannt. Hierzu Michael Rostovtzeff: a.a.O., Bd. li, S. 499 ff. 23 Die lex Rhodia de jactu beinhaltet den Grundsatz des Seerechts, daß Schäden, die dem Schiff oder/und der Ladung vorsätzlich auf Anordnung des Kapitäns zugefügt werden, um Schiff und Ladung aus einer Gefahr zu retten, nicht nur vom zufällig Betroffenen getragen werden, sondern auch allen, die ein Interesse an dem Opfer haben konnten, angelastet werden sollten. Hieraus entstand die "Große Havarie", die heute noch in allen Seerechten der Welt zu finden ist. Vgl. hierzu Hans J. Abraham: Das Seerecht, 3. Aufl. Bd. 1 Berlin 1959, S. 5.

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur

19

In der griechischen Zeit gab es keinen eigenen Passagierverkehr für Reisende. Kauffahrer nahmen Passagiere mit. Die Schiffahrtstechnik änderte sich nur verhältnismäßig wenig. Eingeführt wurde der Sextant. Dabei gibt es freilich viele Zweifelsfragen. Die bei Nemi gefundenen Schiffe scheinen zu bezeugen, daß es einige technische Verbesserungen in der Navigation gab 24. Auch dürften in der Form und Bedienung der Ruder und Anker verschiedene Verbesserungen eingeführt worden sein. Die Technik der Seefahrt blieb aber fast ein Jahrtausend unverändert. Nach wie vor war es sehr schwierig für einen Seefahrer, sich zu orientieren. Bei schweren Stürmen war er hilflos der See ausgesetzt. Auch die Schiffsgröße änderte sich gegenüber früher kaum. Freilich gab es immer von Zeit zu Zeit Versuche, Riesenschiffe zu bauen25 . Die hellenistischen Monarchen führten sogar einen Wettbewerb im Bau immer größerer Kriegsschiffe durch. Diese Kriegsschiffe waren jedoch gegenüber Stürmen und schwieriger See zu wenig standfest. Über Jahrtausende hinweg waren das Ruderschiff, das durch Menschenkraft bewegt wurde, und später vor allem das Segelschiff die wichtigsten Schiffstypen der Seeschiffahrt. Die Griechen besaßen Schiffe in der Mehrheit von 200-300 t 26 Tragfähigkeit, die eine Geschwindigkeit von 5 Knoten entwickelten- die windabhängigen Schnellsegler später sogar von 8 Knoten. In der Regel rechnete man mit einer Tagesleistung von 125 km und- als die Römer auch das Fahren bei Nacht durchführten27- etwa zusätzlich 100 Kilometer pro Nacht. So erwähnte Plinius einen Schnellsegler mit einer Tagesleistung von etwa 335 km28 . Die Entwicklung im Schiffbau bei Griechen und Karthagern knüpfte an die kretisch-phönizischen Techniken an, die dann von den Römern systematisch weiterentwickelt wurden. Schon in frühester Zeit bauten die Griechen 24 A. W. Persson: Die hellenistische Schiffsbaukunst und die Nemischiffe, Opusc. Archaeol. IV (1935), S. 10 ff. 25 William Woodthorpe Tarn: Hellenistic Military and Naval Developments, London 1930; William Ledyard Rodgers: Greek and Roman Naval Warfare; a study of strategy, tadics, and ship design from Salamis (480 B. C.) to Actium (31 B. C.), London-Annapolis 1937. 26 Nach Leithäuser: Weltweite Seefahrt. Von Wikingern und Hansekoggen bis zu Ozeandampfern und Atomschiffen. Berlin 1962, S. 42, teilweise auch 700-800 t.

27 Auch die Griechen fuhren lt. Herodot schon bei Nacht. Vgl. R. Hennig: Verkehrsgeschwindigkeiten; Entwicklung bis zur Gegenwart. Stuttgart, 1936,

s. 80f.

Nachtfahrten in größerem Umfang waren erst nach der Errichtung von Leuchttürmen möglich. Der erste geschichtlich bekannte Leuchtturm ist der "Pharus" bei Alexandria (285 v. Chr. Allerdings wurde der Pharus-Turm erst nach Christi Geburt zum Leuchtturm gemacht). Vgl. auch R. Hennig: Geschichte der Schiffahrt, a.a.O., S. 133. Im ersten Jahrhundert n. Chr. erwähnen Plinius und Sueton die Leuchttürme zu Ostia und Ravenna, schließlich die zu Brindisi und Durazzo. Später wurde ein Leuchtturm an der Mündung des Guadalquivir errichtet. 2s Vgl. Plinius XV, 20, XIX, 1. 2"

20

§

1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

Spantenfahrzeuge, zunächst als reine Ruderboote, später auch als kombinierte Segel-Ruderschiffe. Mit einem vom Vormast getragenen Rahsegel lernte man auch mit anderem als achterlichem Wind zu segeln. In der Spätzeit antiker Seefahrt der Griechen findet sich das Toppsegel und der Mehrmaster. Die Schiffe trugen aufgebaute Achtersteven, Spornund Schanzkleid und waren selbst als Handelsschiffe mit Kriegern bemannt, um sich gegen Piraten verteidigen zu können. Bei den Kriegsschiffen vollzogen sich tiefgreifende Änderungen, als die Schiffe von Truppentransportmitteln zu Seekampfmitteln wurden. Die Galeeren im 6. Jahrhundert v. Chr. waren darauf ausgerichtet, mit dem bronzebeschlagenen Bug den Feind zu rammen. Sie hatten bis zu 50 Ruderer, die auf den phokischen Galeeren (Pentere) eine möglichst hohe Schnelligkeit des Angriffs erreichen sollten. Die Notwendigkeit einer gegenüber dem Feind noch größeren Beweglichkeit und Geschwindigkeit führte zum Bau der Biremen und Triremen, d. h. Schiffen, die zwei bzw. drei Ruderbänke aufwiesen. Durch die erhöhte Zahl der einsatzfähigen Ruderer konnte somit die Geschwindigkeit der Schiffe im Kampfeinsatz wesentlich erhöht werden29 • Doppelreihige Galeeren und dreireihige "Triremen" kämpften dann in der Schlacht bei Salamis 480 v. Chr. auf beiden Seiten. Die Schiffe Alexanders des Großen hatten vier bis sechs Mann an einem Ruder. Der griechische Schiffbauer Antigonos und sein Sohn Demetrios setzten sogar sechzehn Mann an ein Ruder, die Ptolemäer dreißig, im 3. Jahrhundert waren es sogar vierzig. Das dadurch mit viertausend Ruderern besetzte Schiff war 130m lang und 17 m breit. Das Hauptaugenmerk galt beim damaligen Kriegsschiffbau der Verstärkung der Längsfestigkeit, weil im Unterschied zur späteren Eutertechnik der Römer, in der griechischen Zeit vor allem versucht wurde, die feindlichen Schiffe mit der Ramme leck zu schlagen und zu versenken. Aus diesem Grunde wurde zur Verstärkung der Längsfestigkeit zum Kiel die sogenannte Sturmbrücke hinzugefügt. Später im Kampf der Römer gegen Karthago wurde eine eisenbeschlagene Laufplanke, der "Corvus" verwendet, über den die Legionäre auf das feindliche Schiff drangen. Mit Ptolemäus von Alexandrien erreichte die antike Weltkenntnis ihren Höhepunkt, wobei die Griechen den Umfang der in der Antike bekannten Welt noch einmal wesentlich erweitert hatten. Ihr Wissen schlug sich in Seekarten nieder, die einen schon verhältnismäßig hohen Stand der Seefahrerischen Entwicklung widerspiegeln. Die "periploi", geographische Werke, die auf Erfahrungen und Berichten von Reisenden beruhten, sollten den Seefahrern und Kaufleuten helfen, ihre 29 K. F. Hermann: Lehrbuch der Griechischen Antiquitäten, 4. Bd. Freiburg und Tübingen 1882, S. 483 ff.

2. Die Schiffahrt unter dem Einfluß der griechischen Kultur

21

Kenntnisse zu erweitern. Da es den Kompaß noch nicht gab und die von den Griechen verwandten Messungsmethoden verhältnismäßig primitiv waren, konnten die Angaben nur recht ungenau sein30• Erhalten ist ein vollständiges Handbuch der Seerouten (Pseudo Skylax - 350 v. Chr.), aus dem allerdings deutlich wird, daß sich die nautischen Kenntnisse nur auf die Erfahrungen der mittelmeerischen Seefahrt erstreckten. Ozeanische Erscheinungen, wie die atlantischen Gezeitenbewegungen, waren den griechischen Nautikern unbekannt. Die Entwicklung der geographischen Werke, die aus der klassischen Zeit der griechischen Kultur erhalten sind, geben so einen Eindruck von der ständigen Erweiterung des damaligen Weltbilds. Es gab "Periploi" 31, die die Aufgabe hatten, die Reisen der Seefahrer zu erleichtern. Sie enthielten in der Hauptsache nautische Angaben. Daneben wurden auch Führer für Kaufleute verfaßt. Der Pseudo-Scylax32 sollte ein vollständiges Handbuch der damaligen Seerouten sein. Von der großen Anzahl der anderen Periploi wissen wir nicht mehr viel. Hier sind in der Regel nur einige Fragmente übriggeblieben; eine große Zahl späterer Periploi der römischen und byzantinischen Zeit hatte zweifellos ihren Ursprung in ihnen. Dabei waren vor allem die Periploi der Seereisen bedeutsam. Die Itinerarien für Landreisen ließen bezeichnenderweiseinfolge der damaligen verhältnismäßigen Bedeutungslosigkeit des Straßenverkehrs für die kulturelle Entwicklung der folgenden Jahrhunderte kaum beachtenswerte Spuren zurück. Deutlich ist feststellbar, wie im Laufe der hellenistischen Zeitepoche die Kenntnis der Geographie zunahm. Zurückgeführt werden kann diese Erscheinung übrigens auch auf die Seleukiden und Ptolemäer, die die Randgebiete ihrer Reiche systematisch erkundeten, und auf die Forschungen griechischer Gelehrter wie z. B. Hipparchos und Eratosthenes33 • Um das Jahr 110 v. Chr. nutzte Heron von Alexandria erstmalig Dampf zur Gewinnung von Bewegungskraft34 • Daß dieser Versuch nicht für eine systematische Weiterentwicklung ausgewertet wurde, ist eine Problematik, die wir in anderem Zusammenhang35 analysieren wollen. Um diese Zeit kam es zu einer beachtlichen Erweiterung des Verkehrssystemsder damaligen Welt. Kurz vor 116v. Chr. folgte auf Befehl 30 F. Miltner: Seewesen in: Pauly-Wissowa-Kroll: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. 5, S. 917 ff., Stuttgart 1894 ff. 31 A. Köster: Das antike Seewesen, 1. Aufl. Berlin 1923, S. 187 ff. 32 K. Galling: Die syrisch-palästinische Küste nach der Beschreibung bei Pseudo-Scylax, Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins, Bd. 61 (1938), s. 66 ff. 33 Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, Bd. II, Neudruck, Darmstadt 1955, s. 820. 34 Äolsball als Vorläufer der Dampfturbine. 35 In einem in Vorbereitung befindlichen Lehrbuch der Industrie- und Gewerbepolitik.

22

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

des Ptolemäers Euergetes ein griechischer "Gesandter" Eudoxos der Führung eines Inders, der mit seinem Schiff in das Rote Meer eingedrungen war. Er zeigte, daß man mit Hilfe der beiden Monsune unter Meidung der Araber nach Indien und zurückfahren konnte. Die Entdekkung des Seewegs nach Indien zog aber zunächst für den Seehandel keine unmittelbaren Folgen nach sich, denn das Ptolemäerreich war durch Thronstreitigkeiten gelähmt. Es fehlte also der starke Staat, der die neuen Wege auswertete, zumal Waren aus Indien Monopolwaren der Krone waren36• Als dann ein direkter Schiffahrtsweg zwischen Ägypten und Indien mit Alexandria als Hauptzentrum des Handels auswertbar war, wurde aus Indien Baumwolle importiert, wahrscheinlich auch Seide. Alexandria lieferte als Austausch Glas, Metallwaren und wahrscheinlich Leinwand.

3. Die Schiffahrt im Römischen Reich Das Erbe der karthagisch-griechischen Vormachtstellung in der antiken Welt übernahm das Römische Reich 37 • Es fügte die beiden Machtsphären zusammen und integrierte sie in einem mächtigen Einheitsstaat, der aber nicht nur auf der Grundlage einer beherrschenden Seeflotte, sondern auch durch die Stärke der römischen Legionen zu Lande geschaffen wurde. Zwar blieb Rom während seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung vornehmlich eine Landmacht. Wenn auch die Landverkehrsmittel dabei hervorragend und systematisch ausgebaut wurden, so konnten sie infolge der damals erreichbaren Verkehrswertigkeiten den Bedingungen einer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung doch nur bis zu einer verhältnismäßig schnell erreichten Grenze genügen. Ernährung und Handel mußten sich, als die Städte immer größer wurden, dann auf die Seeschiffahrt stützen. Obwohl der nautische38 und schiffsbautechnische Entwicklungsstand der Berechenbarkeit, Massenleistungsfähigkeit, Geschwindigkeit und Sicherheit der Schiffahrt auch aufgrund häufiger seeräuberischer Tätigkeit - enge Grenzen zog, war diese im Vergleich zu allen anderen Transportmitteln auf dem Lande dennoch verhältnismäßig hochwertig. Das kommt besonders in der veränderten Seepolitik zum Ausdruck. Während diese in der Anfangszeit auf die bloße Okkupation der Küstenländer griechischen und karthagischen Ursprungs gerichtet war, wurde Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte, Harnburg 1947, S.167. Besonders prägnant und überzeugend: Helmut Berve: Rom und das Mittelmeer, in: Völker und Meere, Aufsätze und Vorträge, hrsg. von E. Zechlin (Veröffentlichungen des Reichsinstituts für Seegeltungsforschung und Deutsches Seegeltungswerk), Leipzig 1944. 38 Dazu: A. Köster: Studien zur Geschichte des antiken Seewesens, Klio Beih. XXXII (1934). 36

37

3. Die Schiffahrt im Römischen Reich

23

sie späterhin bewußt dahingehend eingesetzt, die unterworfenen ehemaligen Seemächte in den Dienst Roms zu zwingen, um die Kolonialgebiete zu binden und die wirtschaftliche Versorgung der Metropole Rom sicherzustellen. Handelsverträge, wie beispielsweise die bis zum Jahre 509 v. Chr. zurückreichenden Verträge zwischen Rom und Karthago, spielten in den Jahrhunderten vor Chr. zwar eine verhältnismäßig große Rolle, ihre Bedeutung ging jedoch zurück, als das Römische Reich zum Weltreich aufstieg, wodurch das Mittelmeer zu einem Binnenmeer wurde. Freilich waren viele Widerstände zu überwinden. Im 1. Jahrhundert v. Chr. machte im Römerreich die Seeräuberei den Handel praktisch unmöglich. Das Seeräuberunwesen ging von der Südküste Kleinasiens und von Kreta aus. Die Seeräuber waren allmählich straff organisierte Mächte des Mittelmeers geworden. Über lange Zeit hinweg hatten sie die Provinzen geplündert, ohne daß Rom etwas unternahm. Sie hatten sogar den Hafen Roms überfallen. Als nun die Lebensmittelversorgung Roms in Gefahr geriet, aber auch die für das Wirtschaftssystem unentbehrlich gewordenen Sklaven nicht mehr in genügender Menge angeliefert werden konnten, kam es zu dem Schlag gegen die Seeräuber im Jahre 67 v. Chr. Während also noch Pampejus einen Krieg zur systematischen Bekämpfung der Seeräuber durchführen mußte, hatte das spätere Römische Reich für längere Perioden trotz mancher kleinerer, immer wieder auftretender Piratengruppen dazu keinen Anlaß mehr, da es seine Herrschaftsgewalt im gesamten Bereich der damals bekannten Schiffahrt durchzusetzen vermochte. Die Aktion gegen die Piraten wurde mit einer Flotte von 500 Schiffen durchgeführt, wobei 1700 Piratenschiffe gekapert und 20 000 Piraten gefangengesetzt wurden. Caesar war der erste, der sich mit einer Flotte auf den westlichen Ozean hinauswagte. Ganz anders als Alexander der Große vorging, der das "Ende" der Welt suchte, um die Gesamtheit der Welt beherrschen zu können, war sein Feldzug die Auswirkung eines Kampfes gegen seine Rivalen. Er brauchte die Stärkung seiner inneren Position39 • Aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. stammt der

"Periplus Maris Erythraei", offensichtlich ein Segelhandbuch eines grie-

chischen Kaufmannes 40 • In der späten römischen Kaiserzeit spielte der nautische Führer Stadiasmus Maris Magni eine wichtige Rolle. Deut-

39 Johannes Voigt: Ciceros Glaube an Rom (Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 6), Stuttgart 1935, glaubt demgegenüber nachweisen zu können, daß Caesar den Ring schließen wollte, um überall den Ozean zur Reichsgrenze zu machen. Dies sei nur verständlich, wenn man das Vorbild Alexanders in Betracht ziehe. 4o Kommentiert von Wilfred H. Schoff 1912. Dieses Verzeichnis berichtet von den damaligen Verkehrsbedingungen und Art und Umfang des Handels.

24

§ 1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

lieh kann man die Verschiebung des Weltbildes und des Verkehrssystems der Seefahrt studieren, die sich seit den vergangenen Jahrhunderten ergeben hatte. Juvenal konnte nun sogar davon sprechen, daß im Sommer die "halbe Welt" auf See sei. So stark wurde der Reiseverkehr in dem zum römischen Binnenmeer gewordenen Mittelmeer. Der künstliche Hafen Ostia, erbaut 42 n. Chr., wurde zum Hafen Roms. In der vierhundert Jahre langen Herrschaft Roms über die Meere wurden sogar Schiffe mit einem Fassungsvermögen von 1300 t für Fracht oder Passagiere gebaut, wenngleich die Seetüchtigkeit dieser Schiffe sehr gering war. Agrippa war unter Augustus der große Organisator der Seemacht und der Seefahrt. Systematisch hatte er vorher die seepraktischen Erfahrungen der Piraten studiert. Auf Agrippa dürfte auch der weitere energische Ausbau der römischen Seemacht zurückzuführen sein. Die Seeschlacht von Actium 31 v. Chr. war eine der wichtigsten Seeschlachten der Weltgeschichte (Zechlin). Von besonderer Bedeutung für die Schiffahrt der Antike war das Vorhandensein gewaltiger Sklavenmassen. Als Folge der vielen Kriege, aber auch aus anderen Ursachen stand ein ungeheures, verhältnismäßig billiges Arbeitspotential zur Verfügung. Ein für die Sieger in Kriegen und die Piraten nahezu "unbegrenzter Zustrom von Sklavenarbeitern" konnte auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens verwertet werden. Ernst Meyer berichtet von Getreidezwangslieferungen aus Übersee, die für Rom zur Hauptsache kostenlos waren. "Mit rücksichtslos ausgenutzten und in elendsten Verhältnissen gehaltenen Sklaven" konnten die Ruderbänke besetzt werden41 . Diese Perspektive darf man nicht übersehen, wenn man die ökonomischen Probleme der Seeschiffahrt der damaligen Zeit analysiert. Allmählich hatte man gelernt, Gesetzmäßigkeiten der Windrichtungen systematisch auszuwerten, eine Kunst, die in Vergessenheit geraten war und nun von der Seefahrt aufs Neue genutzt wurde. Oben erwähnten wir, wie im 1. Jahrhundert v. Chr. insbesondere die Eigenschaften der regelmäßigen Monsunwinde zwischen Afrika und Asien neu entdeckt wurden. Die Seefahrt war nun über den offenen Indischen Ozean nach Indien mög!ich42. Auch hier wurden die nun entstehenden Großstädte mit wachsender Bevölkerungszahl immer entscheidender auf leistungsfähige Verkehrsmittel und damit besonders auf die Seeschiffahrt angewiesen. 41 Vgl. hierzu: Ernst Meyer: "Römischer Staat und Staatsgedanke", 2. Aufl., Zürich 1961, S. 283 ff. 42 Vgl. hierzu Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der Hellenistischen Welt. Bd. 2, Darmstadt 1955. Er berichtet in seinem Werk "Gesellschaft und Wirtschaft im Kaiserreich" ausführlich über die wechselvolle Geschichte dieses Handels und die vielen hier bestehenden Zweifel und Streitfragen.

3. Die Schiffahrt im Römischen Reich

25

Rostovtzeff analysierte den Handel in der frühen Kaiserzeit. Der Handel erstreckte sich größtenteils auf die Bedarfsartikel des täglichen Lebens. Da Italien und Griechenland nicht imstande waren, den Bedarf im eigenen Lande zu decken, mußten sie Getreide einführen. Dabei war es erheblich billiger, es auf dem Seeweg zu beziehen, als auf dem Landweg. Auch Holz mußte in großer Menge zum Bau von Schiffen herangeschafft werden. Handel mit anderen Staaten, insbesondere auch mit den weit entfernten Ländern wie China und Indien, spielte zunächst dagegen keine allzu große Rolle. Aus Germanien wurden Baumstämme, Felle und Sklaven eingeführt. Südrußland belieferte Griechenland mit Getreide, Hanf, Fellen und Wachs. Zwischen Ägypten und Zentralafrika wurden Elfenbein, Edelhölzer, Gold, Spezereien und Gewürze gehandelt. Bezahlt wurden die Artikel durch Ausfuhr von Öl, Weinen, Manufakturwaren, teils auch mit gemünztem Silber und Gold. Der Auslandshandel hatte in diesem Bereich aber ausschließlich Luxuscharakter. Immerhin führte der römische Seehandel um 102 n. Chr. über Hinterindien bis nach China. Die weite Seereise der Gesandtschaft des Kaisers Mare Aurel nach China (166 n. Chr.) gilt als beachtenswerteste Leistung für das Römische Reich. Der Seeverkehr Kgyptens mit Arabien und Indien wurde aber später in der römischen Kaiserzeit trotz Eröffnung der Straße Petra-Transjordan-Damaskus und der Wiedereröffnung der Straße über Palmyra sehr wichtig. In den arabischen Häfen vermittelten die arabischen Kaufleute zwischen den ägyptischen und indischen Händlern. Auch hier handelte es sich um Luxuswaren, die die Römer meist in Gold und Silber bezahlten43. Mit wachsender Bedeutung des römischen Indien- und Ostasienhandels44 ging die Beförderung vom Landweg auf den Seeweg über, wobei allerdings insbesondere der Indienhandel sehr stark von der Eigenart der Monsunwinde beeinflußt wurde. Barygazar entwickelte sich zum indischen Sammelhafen und ägyptische Häfen zu Umschlageplätzen indischer und mittelmeerischer Güter. Damit wird der Ostasienhandel zu einem Teil des Welthandels. Die Ost-West-Straße, zu der der Grundstein schon von den Ägyptern 3000 v. Chr. durch Schaffung einer Landverbindung von Koptus zum Hafen Myoshormus gelegt worden war, gewann für viele Jahrhunderte eine neue dominierende Bedeutung im Verkehrssystem der. damaligen Welt. Jedoch auch der Handel zwischen den Ländern des Mittelmeers wuchs beträchtlich. Aus Syrien und Ägypten bezog Rom sein Getreide. Das 43 Als Quelle dient der Periplus Maris Erythraei. Vgl. Michael Rostovtzeff: "Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich" (deutsche Übersetzung Lothar Wickert), Leipzig 1930, Bd. 1, S. 82, 273. 44 H. C. Rawlinson: Intercourse between India and the Western World from the Earliest Times to the Fall of Rome, 2. Aufl. London 1926; E. H. Warmington: The commerce between the Roman Empire and India, Cambridge 1928.

26

§ 1:

Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

Obst, das Karthago zur Versorgung der Metropole Rom lieferte, benötigte drei Reisetage, später zwischen Karthago und Ostia sogar nur zwei Tage. Dennoch wird immer wieder berichtet, daß häufig widrige Winde Schwierigkeiten hervorriefen und die Transporte störten 45 • Unter den Flaviern und Antoninen wurde der Handel Roms zum Welthandel. Er dehnte sich über das Indusgebiet hinaus bis Indochina und Sumatra. Der Handel mit Indien und China beschränkte sich nun nicht nur ausschließlich auf Luxusartikel, sondern umfaßte auch Baumwolle. Die Vermittler des Warenaustausches zwischen Rom, Indien und China waren die Kaufleute in Alexandria. Als Handelsstädte im Norden waren Lyon und Trier besonders wichtig. Die Kaufleute waren Beauftragte der kaiserlichen Regierung. Von Trier aus wurde beispielsweise die Rhein-Armee beliefert. Wie oben bereits angedeutet, entstand mit dem Seerecht das älteste Sonderrecht eines Verkehrsmittels. Dieses Seerecht zeigte historisch eine starke Lebenskraft und Entwicklungsfähigkeit, da die in der Seeschiffahrt besonders akuten Gefahren - vor allem auf Grund der Häufigkeit ihres Vorkommens -Anlaß zur Entstehung einer regelrechten Spruchpraxis der Gerichte gaben. Dabei ist ein griechischer Rechtskreis, das Seerecht von Rhodos, sowie eine römische Spruchpraxis zu unterscheiden, wobei sich allerdings einzelne wichtige Rechtsinstitute allgemein durchsetzten. Besondere Bedeutung hatten dabei die "Lex Rhodia de jactu", die Havarie, und das "foenus nauticum", das Seedarlehen. Die meisten Institute des Handelsrechts, die die Struktur der Seefahrt im Mittelalter formten, entstanden somit bereits im Altertum. In der gleichen Zeit entstand auch die "Colona", eine Gesellschaft, in der alle Beteiligten eines Unternehmens zur See, Schiffseigner, Befrachter und Schiffsmannschaft, zusammengeschlossen waren. Diese Gesellschaft entstand in der Regel mit dem Antritt der Reise und endete an ihrem Ziel. Sie hatte ein vom Vermögen der Teilnehmer gesondertes Vermögen, welches aus dem Schiff, den Waren und etwaigem mitgeführten Gelde bestand. Der erzielte Gewinn fiel der "Colona" zu und wurde nach gewohnheitsrechtliehen Bestimmungen aufgeteilt. Die Haftung war solidarisch. Die von den Römern entwickelte Institution des "foenus nauticum", des See-Darlehens46 , betrifft ein Darlehen an eine Person, die mit diesem Gelde Waren anschafft und zur See versendet. Die Rückzahlung des Darlehens nebst Risikoprämie erfolgt nur dann, wenn die Seereise 45 Vgl. hierzu: Wilhelm Götz: Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels, Stuttgart 1888, S. 469. 46 s. Seite 57 u. 75.

3. Die Schi:ffahrt im Römischen Reich

27

glücklich vonstatten gegangen ist. Die Verpfändung der Ware bildete dabei meist eine Nebenbedingung47 • Während der Kaiserzeit des Römischen Reiches entstanden in den meisten Seestädten staatliche Schiffergilden (collegia naviculariorum) und daneben genossenschaftliche Organisationen der Schiffszimmerleute, Auslader und Messer (heute: Talleyleute). Über Jahrhunderte hinweg wurde der Großhandel zur See vorzugsweise durch Handelsgesellschaften (societates publicanorum) betrieben, deren Organisation vorwiegend privatwirtschaftlich war. Diese Handelsgesellschaften erhielten jedoch auch staatliche Unterstützung und Aufträge, da sie insbesondere mit dem Wachsen der Städte eine lebenswichtige Funktion im Hinblick auf den Bestand des Reiches und die Zufriedenheit der Bürger ausübten. Ihre Aufgabe war in erster Linie der Transport von Getreide, beispielsweise aus Ägypten und der Provinz Afrika. Vor allem unter Kaiser Traian wurden systematisch Häfen verbessert und hunderte von Leuchttürmen an den wichtigsten Punkten der Mittelmeerküste errichtet48 • So wurde in La Coruiia an der spanischen Atlantikküste im Auftrage von Traian ein Leuchtturm gebaut, der sogenannte Herkules-Turm, der erst 1634 wieder umgebaut und sogar bis in die jüngste Zeit verwendet wurde. Die Schiffsgrößen und die erreichten Geschwindigkeiten der Handelsschiffe waren zur Zeit der Blüte des Römischen Reiches denen der griechisch-karthagischen kombinierten Segelruderschiffe in etwa gleich, da deren Schiffsbautechnik auch für die Etrusker und Römer vorbildlich war. Aus Gründen der Seetüchtigkeit mußte der Schiffskiel aus einem durchlaufenden Stamm bestehen; womit die Länge, sowie mit der Technik der Spantenherstellung auch der verfügbare Schiffsraum gegeben waren49 • Zwar erfuhr die Besegelung im Laufe der Entwicklung einige Veränderungen, aber auch zur Blütezeit des Römischen Reiches waren die seetüchtigen Schiffe verhältnismäßig klein. Die Tragfähigkeit der Schiffe, die Caesar für das Übersetzen seiner Legionen nach England verwandte, betrug nach Schätzungen etwa 100 Tonnen. Bei der ersten Überfahrt setzte er mit 80 Transportschiffen, die durchschnittlich 160 Soldaten beförderten, zwei Legionen über. Beim zweiten Angriff gelang es ihm, fünf Legionen (25 000 Mann) und 2000 Reiter in 600 Schiffen zu transportieren50 • 47 Paul Rehme: Die geschichtliche Entwicklung der Haftung des Reeders, Stuttgart 1891. es K. Lehmann-Hartleben: "Die antiken Hafenanlagen des Mittelmeers". Klio Beih. 14 (1923). 49 Vgl. hierzu auch: William Shaw Lindsay: History of merchant shipping and ancient commerce, London 1874-76, 4 vols., hier vol. 1.; Wilhelm Götz: Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels, Stuttgart 1888. 50 Gaius Julius Caesar: Der Gallische Krieg. Übers. und erläutert von Viktor Stegemann. Leipzig 1939, S. 123, S. 134 :ff.

28

§

1: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Altertum

Im 3. Jahrhundert gingen sowohl Seehandel wie der Landhandel zwischen Römern und Chinesen zurück. Indien wurde wieder zu einem entfernten "Märchenland" (Zechlin) 51 • In der Militärmonarchie wurden vor allem unter der Regierung Alexanders wieder Land und Meer unsicher. Die Seeräuberei nahm besonders stark zu. Diese Verschlechterung des Verkehrssystems löste eine Fülle entscheidender politischer und ökonomischer Folgeprozesse aus. Die Großstädte waren auf regelmäßige Zufuhr von Ernährung angewiesen. Die Kaiser mußten bestrebt sein, diese Zufuhr vorrangig sicherzustellen. Unter Aurelian in der "Militäranarchie" wurde deshalb die Kontrolle über die Schiffseigner, die im Dienste des Staates standen, immer mehr verschärft. Es sollte dadurch (seit Severus Alexander) die regelmäßige Lebensmittelzufuhr nach der Hauptstadt sichergestellt werden. Aus gleichen Gründen ließ die Zulieferung von Sklaven nach. Die ökonomische Basis des Weltreichs wurde immer schwächer. Eine der wichtigsten Seeschlachten der Weltgeschichte war der überraschende Nachtangriff Geiserichs 468 n. Chr. Die beiden Römischen Reiche hatten sich nochmals zu einer gemeinsamen Aktion zusammengefunden, um gegen das Vandalenreich anzukämpfen. Geiserich errang die Seeherrschaft und schnitt Rom von der Getreideversorgung ab. Damit war die größte Gefährdung des Reichs heraufbeschworen. Seine ökonomische Basis und parallel dazu seine politische Macht sanken schnell weiter ab. Mit dem Untergang des Römischen Reiches wurde die hellenische Mittelmeerhälfte wieder von der karthagischen getrennt. Byzanz und Bagdad wurden nun zu Zentren des wirtschaftlichen Lebens, wobei die Araber bis nach Indien und China, ja sogar bis Korea vorstießen. Bagdad entwickelte sich als zentraler Handelsplatz zur Weltstadt. Durch den Sieg des Islams wurde das Mittelmeer Grenze zwischen Christenheit und Islam. Die Achse der Abendländischen Kultur mußte sich nach Norden richten. Das Mittelmeer wurde für lange Zeit zum Randmeer. Die Schiffstechnik zeigte in dieser Zeit keine wesentlichen Neuerungen, wohingegen die Entwicklung der Seehandelsbetriebe und des Seerechts große Fortschritte machte. In verschiedenen Bereichen trat die freie Arbeit an die Stelle der Sklavenarbeit. Anschaffung, Beladung und Betrieb der Schiffe, Funktionen, die im Kernbereich der Entwicklung des Römischen Reiches privatunternehmerisch mit dem Ziel der Gewinnmaximierung wahrgenommen wurden, gingen auf genossenschaft51 Zu den hier vorhandenen Zweifelsfragen vgl. auch Egmont Zechtin: Maritime Weltgeschichte. Harnburg 1947, S. 199, 201.

4. Die Schi:ffahrt in anderen Kulturbereichen liehe Institutionen über52 • Die Institution der "Commenda", d. h. dem reisenden Kaufmann mitgegebene Kapital, deutete bereits die denzielle Entwicklung zu einer Funktionsteilung zwischen Reeder Kaufmann an, indem von mehreren Gesellschaftern nur einer Transport begleitete.

29 das tenund den

4. Die Schiffahrt in anderen Kulturbereichen Eine selbständige Entwicklung nahm die Seefahrt in China und Indien, wobei die Spuren in China zwar bis ins erste Jahrtausend v. Chr. zurückzugehen scheinen, sich jedoch im einzelnen nicht eindeutig nachweisen lassen. Vor allem die den Chinesen zuzuschreibende Entdeckung der Eigenschaft der Magnetnadel, zur Bestimmung der Fahrtrichtung zu dienen, weist auf das Vorhandensein einer Seeschiffahrt bei den Chinesen hin. Als sicher gilt jedenfalls, daß die Chinesen im Altertum nie die Vormachtstellung einer Seemacht für sich in Anspruch genommen haben, sondern sich vorzugsweise auf den Seeverkehr entlang der Küste zwischen den verschiedenen chinesischen Häfen beschränkten. Um 100 v. Chr. erreichten die ersten chinesischen Schiffe die Ostküste Indiens. Auch in Indien ist eine Seeschiffahrt in großem Ausmaß erst für die Jahrhunderte nach Christus anzunehmen, in denen sich der Handel mit China auf den Seeweg verlagerte. Ceylon entwickelte sich dabei zum Sammelplatz für den Ostasienhandel53 • Die Römer, die die Nordseeküste kennenlernten, berichten von den Chauken, daß sie nur primitive Schiffe gehabt hätten. Die Segelschifffahrt der Kelten an der Westküste Galliens scheint dagegen hochwertig gewesen zu sein.

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter 1. Die Schiffahrt nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreichs

Seit dem Verfall des Römischen Reiches gab es keine Zeit mehr, in der eine einzige Nation die alleinige Herrschaft über die damals bekannten Meere durchzusetzen vermochte. Zwar wurde mehrfach der Anspruch auf die Beherrschung von Meeresteilen erhoben, diese blieb jedoch immer in einem gewissen Umfange strittig54 • 52 J. P. Wattzing: Etude historique sur les corporations professionelles chez les Romains depuis les origines jusqu'a la chute de l'Empire de l'Occident, 4 vols. Louvain 1895-1902. 53 Martin Percival Charlesworth: Trade-routes and commerce of the Roman empire, 2nd ed. Cambridge Univ. Press 1926, unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. Darmstadt 1961, S. 109.

30

§

2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

Zu Beginn des Mittelalters waren die Schiffe des römisch-byzantinischen Imperiums noch am häufigsten auf dem Mittelmeer zu finden. Die Zweimaster der byzantinischen Kriegsflotte (später mit Lateinsegeln) waren mit 100 Ruderern, einem Gefechtsdeck und einer Ramme versehen. Als der Islam von 634 an dem byzantinischen Reich eine der Mittelmeerprovinzen nach der anderen entriß, erlahmte die Seemacht dieses Imperiums und gleichzeitig die dort herrschende Kultur des Römischen W el treiches55 • Zwar scheint auch nach den arabischen Eroberungen der Handelsverkehr in beschränktem Umfang weitergelebt zu haben, aber die Beschränkung Ostroms auf immer kleinere Gebiete, und vor allem der Verlust der gegenseitigen kulturellen Befruchtung durch das schnell minderwertiger werdende Weltverkehrssystem der damaligen Zeit, bedeutete kulturell ein Absinken Ostroms auf einen Provinzialismus. Nun tauchte auf den Meeren der damaligen Welt eine Nation von Seefahrern auf, teils als Seeräuber, teils als Eroberer und Staatengründer, teils als Kaufleute und Söldner: die Wikinger 56 • Erstmalig traten sie erobernd 787/788 in Westeuropa in Erscheinung, ab 800 fast jährlich in kleinen Gruppen oder großen Verbänden. Oft kehrten sie im Winter in die Heimat zurück. Die Ursache der Wikingerbewegung ist heute noch umstritten57 • In Irland bildete sich von 839 bis 845 eine kurzlebige Wikingerherrschaft unter Thogril. 844 überfielen sie Agadir an der Westküste Marokkos. 845 wurde zum ersten Mal Paris überfallen. Eine andere Flotte griff im gleichen Jahr mit Erfolg Harnburg an. 859 bis 862 erzwang eine Segelflotte die Durchfahrt von Gibraltar und fuhr die Rhone aufwärts bis Valence. In Italien wurde Pisa angegriffen. 881/82 drangen Wikinger bis zum Mittelrhein vor und eroberten Neuß, Köln, Bonn und sogar Trier an der Mosel. Gerade aus diesen Flottenaktionen, die mit wenigen Ausnahmen kaum langfristige politische Auswirkungen nach sich zogen, konnte man ersehen, wie Herrschaftsbegriff und Herrschaftsgewalt mit Landbesitz verknüpft waren. Den Wikingern fehlte das Heer, das auf dem Land Herrschaft erzwang. Ihre Kriegszüge blieben ohne große politische Wirkung. 54 So beanspruchte Venedig die Herrschaft über das Adriatische Meer, Genua über das Ligurische Meer. Portugal und Spanien beanspruchten die Herrschaft für die Fahrt nach West-Indien. 55 So auch Faul Koschaker: Europa und das römische Recht. MünchenBerUn 1947, S.15. 56 Die Wikinger, auch Normannen, in Osteuropa Waräger, Rus genannt, bestanden aus einer ganzen Anzahl verschiedener Stämme. 57 Am meisten spricht für eine relative Überbevölkerung (in der Datenkonstellation des damaligen Standes der wirtschaftlichen Entwicklung und des Verkehrssystems).

1. Die Schiffahrt nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreichs

31

Seit Ende des 9. Jahrhunderts wurden dänische Wikinger an der Unter-Seine seßhaft. 911 wurde ihr Führer Hrolf mit dem Gebiet belohnt (Normandie-Normannen). Sie fuhren aber auch durch die Ostsee, von wo aus sie über die russischen Flüsse bis nach Kiew gelangten. Auch im Schwarzen Meer und im Kaspischen Meer tauchten ihre Boote auf. Bei Atlantikfahrten in westlicher Richtung entdeckten sie um 900 die Färöer-Inseln. Zwischen 870 und 930 fuhren 20 bis 30 000 Norweger mit kleinen ungedeckten Drachenschiffen nach Island, wo sie 930 einen Staat bildeten. Die Entdeckung Grönlands um 982 war das Ergebnis eines Einzelschicksals, Eric des Roten (Zechlin). Die Verbindung zum amerikanischen Festland stellte schließlich Ericson Leif im Jahre 1000 her, als er auf einer Rückfahrt nach Grönland abgetrieben wurde. Im Jahre 1066 eroberte Wilhelm von der Normandie aus England. Anders als die römischen Schiffe der damaligen Zeit waren die der Wikinger anfangs vorzugsweise mit Segeln ausgerüstet. Die Segel bestanden aus Leder. Diese Schiffsart entwickelte sich im Norden Europas, da die Küstengebiete Nordeuropas zur damaligen Zeit nur schwach besiedelt waren und daher der Sklavenüberschuß hier fehlte 58, der die Ruderschiffahrt im Mittelmeer begünstigte. Die Wikinger besaßen den Knarr, ein kurzes und rundliches Handelsschiff. Ihre großen Kriegsschiffe Drakkar (Drachen) und Snekkar (Schlange) waren mit sechzig bis achtzig Ruderern ausgestattet. Zwei um die Jahrhundertwende aufgefundene Boote (1903 bei Oseberg und 1880 bei Gokstad) geben einen Einblick in die Schiffstechnik (vorzugsweise wohl der Binnen- oder kleineren Küstenschiffahrt?) der Wikinger. Das Osebergschiff ist 21,44 m lang, 5,10 m breit und eingerichtet sowohl zum Rudern wie zum Segeln. Das Gokstadschiff, hergestellt in Klinkerbauweise aus Eichenholz, hat eine Länge von 23,80 m, eine Breite von 5,00 m, einen Tiefgang von 1,10 m und eine Wasserverdrängung von 28,4 t 59 • Wie bereits erwähnt, waren die Wikinger aber auch Händler. Ihr Bereich erstreckte sich von Grönland bis Persien. Ihre Objekte waren vorzugsweise Pelze und Sklaven, die finanzielle Basis eine primitive Münzwirtschaft6o. ss Hierzu Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte, Harnburg 1947, S. 265 ff. Zu der These, die in Anm. 57 vorgetragen wurde, besteht kein Widerspruch. Was für ein System der Landwirtschaft Übervölkerung war, bedeutete für eine Seefahrt mit ähnlich starker Besatzung mit Ruderern wie im Mittelmeer Knappheit an Arbeitskraft. su A. W. Br0gger u. H. Shetelig: The Viking Ships. Oslo 1953. uo Zu vielen sich hierbei ergebenden Zweifelsfragen J. Steentrup: Normannern, 4. Bd., Kopenhagen 1876--1882; D. Scheel: Die Wikinger, Stuttgart 1938.

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

32

So kühn die Taten der Wikinger waren, so verhältnismäßig gering waren die Wirkungen auf lange Sicht. Sie paßten sich schnell anderen Kulturen an. Die Wikingerkolonien in Westgrönland, die sich bis 1350, 1379 halten konnten, waren schließlich nur noch von Menschen bewohnt, die- wie die 1926 im Dauerfrostboden aufgefundenen Leichen erkennen lassen - nach einem Zusammenbruch ihres Wirtschaftssystems dahinvegetieren mußten. Die Menschen zeigten Erscheinungen der Unterernährung, Arm- und Beinschwächen. Die meisten Toten waren schon unter 18 Jahren gestorben, keiner war über 30 Jahre alt geworden 61 • Das Stadtrecht des Königs Magnus Hakonarson für Bergen62 1263 bis 1280 zeigt im 13. Jahrhundert eine gut geordnete Hafenpolizei. Die Landungsbrücken sollten für den Verkehr freigehalten werden. Der Verkauf der eingeführten Waren von den Schiffen war grundsätzlich verboten. Nur für den Hof des Königs war ein unmittelbarer Verkauf zulässig. Das Seefahrerrecht der J6nsb6k teilt die Schiffe in Hochseeschiffe für die Nordsee sowie die Fahrt nach Island und Gränland und solche für die Ostsee und die Küstenfahrt ein. Genau wurde geregelt, wann ein Schiff seeklar63 war. Seemännische Besatzung und Kaufleute bildeten zunächst eine Rechtsgenossenschaft. Später wurde ihre Rechtsstellung allerdings getrennt 64 • Jedem wurde ein bestimmter Platz an Bord zugewiesen. Auch diejenigen, die gegen Bezahlung mit Handelsware reisten, waren zur Schiffsarbeit verpflichtet, d. h. sie mußten mit Wachestehen, Schöpfarbeit leisten und im Hafen tätig sein. Die norwegischen Seefahrer65 beschränkten ihre Fahrten in der Regel auf die Sommerzeit. Z. B. war es verboten, nach Island nach dem 8. September noch auszufahren66 • Im Osten waren es die Araber, die einen zunehmenden Teil des Verkehrsnetzes beherrschten. Im 8. Jahrhundert n. Chr. dehnte sich das Handelsgebiet der Araber von China, Indien bis nach Frankreich aus. Faul Narlund: Wikingersiedlungen in Grönland, Leipzig 1937. "Germanenrechte, neue Folge- Nordgermanisches Recht"; Bruchstücke des Birkinselrechts und Seefahrerrechts der J6nsb6k, bearbeitet von Rudolf Meissner, Weimar 1950. 63 Ein Schiff galt nach dem Gesetz als seeklar, wenn man innerhalb von 24 Std. nur dreimal zu schöpfen brauchte. falls die Schiffsgenossen sich nicht mit einem undichteren Schiff zufrieden gaben. Rudolf Meissner, a. a. 0., S.XIL. 64 Genzner: Germanische Seefahrt und Seegeltung, München 1944. Vgl. auch Max Pappenheim zur Entwicklungsgeschichte des Seefrachtvertrags. Zeitschr. d. Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte. German. Abt. Bd. 51, Weimar 1931, S. 175 ff. 65 Eine für die Schiffahrt besonders interessante Quelle erschließen die Sammlungen Germanenrechte. Heben wir als Beispiel hervor: NF Nordgermanisches Recht, Bd. 3, bearbeitet von Rudolf Meissner. Weimar 1950, Seefahrerrecht, S. 258 ff. 66 Das Seefahrerrecht der J6nsb6k (von König Magnus Hakonarson den Isländern gegeben). 61 62

1. Die Schiffahrt nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreichs

33

Die für den Monsun konstruierten Dschunken in China änderten sich, wenn die Quellen richtig gedeutet werden, über Tausende von Jahren kaum. Es waren zum Teil große Viermaster mit wasserdichten Abteilungen und einer Art von Kompaß 67 • Nach der Zeit Karls des Großen wurden die Friesen das wichtigste Kaufmannsvolk des Nordens. Dorestad wurde Hauptzoll- und Münzstätte des Reiches an der Gabelung des alten Rheins. Über die Friesen kamen Orientwaren in das Reich, und sie lieferten Tuchgewebe. Nach 863 sank Dorestadt wieder zur Bedeutungslosigkeit ab. Einer der Hauptgründe war der Verlust der Fähigkeit, das Verkehrsnetz der Stadt zu sichern. Mehrfach wurde die Stadt von Wikingern überfallen. Im westlichen Mittelmeer begann der Aufstieg einiger oberitalienischer Städte, die besonders günstige Verkehrsverbindungen in das Innere des Landes auszunutzen vermochten68 • Die Handels- und Seestädte Amalfi, Genua, Venedig, Pisa und Florenz waren im Schutze der byzantinischen Vormachtstellung politisch und wirtschaftlich erstarkt, so daß sie die Herrschaft über den Levante-Handel übernehmen konnten, nachdem dieser in Verfolg der Kreuzzüge eine wesentliche Intensivierung erfahren hatte. Die Kreuzzugsfahrten des 11. bis 13. Jahrhunderts vermehrten die nautischen Kenntnisse und Erfahrungen der Hochseeschifffahrt. Die Bedeutung etwa Venedigs läßt sich aus folgendem ermessen: Venedig hatte auf seiner Werft "Arsenal" einen geradezu modernen arbeitszeitliehen Betrieb eingerichtet. Aus einer großen Anzahl von Teilen konnte eine Galeere in zwei Stunden zusammengestellt werden. Die Organisation der Kreuzzüge gibt uns einen besonders interessanten Einblick in die Struktur des Verkehrssystems der damaligen Zeit. Interessant ist schon, welche Kräfte von dem Integrationseffekt der Kreuzzugsidee mit angesprochen wurden. Die erste Flotte von Seefahrern aus Flandern, Antwerpen und Friesland in den Kämpfen des ersten Kreuzzuges 1097 vor Tarsus bestand aus Männern einer Seeräuber-Eidgenossenschaft, die acht Jahre lang dem Piratenhandwerk obgelegen hatte. Die Zahl der Schiffe, die in den verschiedenen Kreuzzügen zusammen kamen, war beträchtlich. Eine Flotte von hundertvierundsechzig Schiffen zog 1147 durch die Meerenge von Gibraltar in Richtung Syrien. Für das Weltbild der damaligen Zeit gibt die besonders hochwertige Weltbeschreibung und die Silberne Weltkarte Auskunft, die 1154 von dem Araber Mohamed Al Idrise hergestellt wurde. G7

68

Bericht Marco Polos aus dem Jahre 1298. Hierzu Alfred Doren: Italienische Wirtschaftsgeschichte I. Jena 1934.

3 Volgt II/1

34

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

Auch die Art der Durchsetzung des Fahrwegs ist interessant. Im dritten Kreuzzug wurde beispielsweise die "christliche" Flotte von einem arabischen Dreimaster mit einer Besatzung von angeblich eintausendfünfhundert Mann aufgehalten, bis er durch Rammen versenkt werden konnte. Im Mittelalter war die Nau (Nef) das Segelschiff, das am weitesten verbreitet war und als Lastschiff benutzt wurde. Es war schwer und hochbordig mit hohem Vorder- und Achterkastell, sowie einem sehr großen, breiten, dreieckigen (sog. lateinischen) Segel ausgerüstet. Die Nau war gänzlich vom Wind abhängig, weshalb ihr in der Regel eine Einrichtung, die das Rudern ermöglichte, beigegeben wurde. Das wichtigste Ruderschiff stellte die Galea dar, die das Schiff der Handelsstädte des Mittelmeeres war und auch als Kriegsschiff verwandt wurde6 9 • Die Galea hatte einen oder zwei Masten 70 ; daneben besaß sie 25 oder mehr Ruderbänke, auf denen je drei Ruderer ihren eigenen Riemen führten. Die Galeeren waren eine Fortentwicklung der römischen Triremen und unterschieden sich in Ladefähigkeit und Geschwindigkeit kaum von früheren Typen, wenn auch die vordem angewandte Triremenruderanordnung bei den Galeeren durch eine Ruderreihe ersetzt wurde. Daneben wurde ein Mittelmeerlastschiff entwickelt, das 1000 bis 1500 Kreuzzugsfahrer befördern konnte. Dieses Schiff war dadurch gekennzeichnet, daß seine Höhe vielfach seine Länge übertraf. Mit dem Ende der Kreuzzüge und der Vereinigung der Verkehrssphären erfolgte die Angleichung der mediterranen und nordischen Schiffsbauformen, wobei die Mittelmeerschiffahrt die nordischen Koggentypen rezipierte. Das Seerecht des Mittelalters war vorwiegend partikuläres Gewohnheitsrecht, ausgebildet durch Seegerichte und Statuarrecht. Einzelne Seerechtssammlungen gewannen jedoch auch internationale Geltung. Im 11. und 12. Jahrhundert7 1 wurde das damalige Seerecht kodifiziert, verlor jedoch mit dem Vordringen katalonischer Seerechtsnormen an Anerkennung, so daß jahrhundertelang sogar das Seerecht in Norditalien uneinheitlich war. Allmählich gewann das "Consulat del Mar" an Bedeutung, das 1370 auf Grund einer bis ins 13. Jahrhundert zurückreichenden Spruchpraxis in Barcelona gesammelt worden war. Diese Seerechtskodifikation wurde schließlich im Mittelmeerraum und dar· au J. R. Stevens: Old Time Ships, Toronto 1949; F. Moll: Das Schiff in der bildenden Kunst, Bonn 1929. 70 Nach Busley gab es auch dreimastige Galeeren. Carl Busley: Die Entwicklung des Segelschiffes, erl. an 16 Modellen des Deutschen Museums in München, Berlin 1920; Schiffahrt des Altertums, in: Jb. der schiffsbautechnischen Gesellschaft, Bd. XX, 1919; "Schiffe des Mittelalters und der neueren Zeit", in: Jb. der schiffsbautechn. Gesellschaft, Bd. XXI, 1920. 11 Die Tabula Amalphitana entstand im 11. Jahrhundert.

1. Die Schiffahrt nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreichs 35 über hinaus ganz allgemein akzeptiert7 2 • In ihr wurde die Heuer nach dem Frachtvertrage bemessen, wobei der Frachtvertrag an die Stelle der Sachmiete trat und die unmittelbare Gleichberechtigung von Patronus und Schiffsmannschaft aufgehoben wurde. Die Ladungsinteressenten standen in einem genossenschaftlichen Verhältnis zueinander, der Kapitän wurde zum Teilhaber mit Gewinnbeteiligung, falls der Kaufmann den Transport nicht mehr selbst begleitete. Für das westliche Europa gewann das Seerecht von Oh~ron (Röles de jugement d'Oleron) immer größere Durchsetzungskraft. Venedig kannte besonders gut ausgebildete Sozietäts-Verträge. Nachdem zunächst die Schiffe einzelnen Personen gehörten, kamen sie später in das Eigentum von Kaufleute-Konsortien. Eine derartige "Compagnia de Nave" umfaßte die Eigentümer der einzelnen Schiffsanteile, die Besitzer der Fracht, den Kapitän und den Schiffsschreiber; schließlich auch die Matrosen, für deren Bezahlung die Compagnie haftete73 • Als typisches Rechtsgeschäft bildete sich seit dem 11. Jahrhundert die "Commenda" heraus, die die "Colona" verdrängte. Die "Commenda" stellte ein Vertragsverhältnis dar, bei dem der Kommendator dem Kommendatar Güter übergab, die dieser gegen Gewinnbeteiligung am Bestimmungshafen verkaufte. Der Kommendator blieb in der Regel Geschäftsherr des Unternehmens, der Kommendatar haftete für die Erfüllung der vertragsmäßigen Pflichten. In späterer Zeit wurde diese "Commenda" häufig mit dem sich entwickelnden geschäftsführenden Reeder, dem sogenannten Patronus, der das Schiff begleitete, abgeschlossen. Der Grund für das Wiederaufleben 74 der Commenda lag in der eben erwähnten Erscheinung, die sich im Kerngebiet des damaligen Welthandels für Jahrhunderte beobachten ließ, daß sich nämlich Reeder und Befrachter vielfach wieder trennten und der Kaufmann in diesen Fällen auf den Schiffen nicht mehr mitfuhr. Die weitere Entwicklung der Commenda führte in der Folgezeit dazu, daß die Schiffsleute allmählich aus der Gesellschaft ausschieden, allerdings am Unternehmen insoweit beteiligt blieben, als sie als Gegenleistung für ihre Dienste einen Teil der Fracht zum Verkaufe erhielten, jedoch nicht wie bei der Colona einen Teil des Ertrages der ganzen 12 Das "Consulat del Mar" war zwar ein privates Seerechtsbuch, das die Rechtsprechung des Seegerichts von Barcelona enthielt, es wurde aber für das Mittelmeergebiet und andere Gebiete zur grundlegenden Rechtsquelle. Nach Norden grenzte es an das Rechtsgebiet des Hansischen Rechts - recht ungenau Wisbysches Seerecht genannt (Sammlung von Seerechtsquellen durch Pardessus: Collection de lois maritimes anterieures au XVIIIe siecle. 6 Bde., Paris 1828-1845). 73 Alfred Doren: Italienische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Jena 1934, S. 394. 74 Die Commenda hat auch schon in der römischen Zeit bestanden. Sie erlebte zu Beginn des Mittelalters eine Wiedergeburt. Seit dem 11. Jahrhundert ist sie häufiger nachweisbar.

36

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

Fracht. Bei gänzlichem Frachtverlust ging ihr Anspruch auf Lohn unter. Der Grundsatz des Consolat del Mar "Fracht ist die Mutter der Gage" fand über Jahrhunderte ein weite Verbreitung 75 • Es zeigten sich sogar die ersten Ansätze einer eigentlichen Seeversicherung, indem das Seedarlehen wegfiel und nur noch die Übernahme der Seegefahr verblieb. Damit entwickelte sich der berufsmäßige Seeassekumdeur. In einigen der heranreifenden Großstaaten war häufig der Staat Eigner der Schiffe, die dann jährlich meistbietend verpachtet wurden. Mittels Einfuhrzöllen und Ausschließung fremder Schiffe vom Transport zu bestimmten Häfen wurde wie im Bereich der Hanse versucht, den Handel zu monopolisieren. Erst im Jahre 1465 ging man hier wieder zur freihändlerischen Schiffahrtspolitik über 76 • Das Rechtsinstitut der Quarantäne geht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Als Schutzmaßnahme gegen die Einschleppung der Pest durch Schiffe ist es in der Republik Ragusa (dem heutigen Dubrownik, jugoslawische Westküste) im Jahre 1377 nachweisbar. Ungefähr um die gleiche Zeit findet sich aber diese Schutzmaßnahme auch in der Schiffahrts- und Gesundheitspolitik der Republik Venedig. Der Begriff "Quarantäne" wurde abgeleitet von "Quarantenaria", dem Zeitraum von 40 Tagen. Während dieser Frist, in der Seereisende und Waren isoliert wurden, sollte irgendeiner verborgenen Krankheit Zeit zur Erkennung gegeben werden. Zu Anfang des 15. Jahrhunderts richtete Venedig eine Quarantänestation ein, genannt "Lazaretto" (der Name wurde von dem Bettler Lazarus der Biblischen Geschichte entlehnt). Wahrscheinlich in das 12. Jahrhundert fällt die Einführung der MagnetnadeF1, die schon- wie oben erwähnt-in früheren Zeiten in China für die Richtungsbestimmung Verwendung gefunden hatte. Etwa in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kam die Bussole (Magnetnadel mit Windrose) auf, und ungefähr zur gleichen Zeit wurde die kardanische Aufhängung üblich. Damit war ein wesentlicher nautischer Fortschritt vollzogen, der eine Lösung von der Küste und damit die reine Hochsee75 Paul Rehme: Die geschichtliche Entwicklung der Haftung des Reeders, Stuttgart 1891, S. 16 f. 76 Lexis, Schiffahrt (Schiffahrtspolitik), HdStW., 3. Aufl., Bd. 7, S. 255 ff. 77 Bei der Auswertung mittelalterlicher Quellen über technische Entwicklungen muß besonders vorsichtig vorgegangen werden. Die stark religiös bestimmte Grundhaltung langer Perioden im Mittelalter wie auch die soziale Konzeption der mittelalterlichen Gemeinschaften waren gegenüber dem technischen Fortschritt sehr kritisch eingestellt, so daß das religiöse Dogma hier oft wie ein Filter wirkte. Die Ansicht, die Erfindung des Kompasses sei von den Arabern aus China überbracht worden, wird von verschiedenen Stellen bestritten. Sicher ist, daß in China schon vor Christus Magnetsteine zur Bestimmung der Himmelsrichtung bei der Anlage von Grabstellen benutzt wurden.

2. Die Schi:ffahrt der Hanse

37

schiffahrt ermöglichte, womit die Grundlage für die Entdeckungsreisen der folgenden Jahrhunderte gelegt war. Für die Gestaltungskraft (insbesondere infolge der Differenzen der Verkehrswertigkeit) des Verkehrssystems war es charakteristisch, daß alle übrigen Handelswege wie Spannungslinien eines Magnetfeldes auf die Verkehrsstraßen über die Meere zustrebten. Diese Verbindungslinien über See besaßen ja damals die höchste Leistungsfähigkeit innerhalb des gesamten Verkehrssystems. An den Übergangsstellen von den höherwertigen zu den geringwertigen Handelswegen, also den Häfen, entwickelte sich der Handel besonders lebhaft, blühte das Gewerbe auf und entstand großer Wohlstand. In den sich auf diese Art bildenden Zentren des Welthandels kam es zu beachtlichen sozialen Umgestaltungen und geradezu revolutionären wirtschaftlichen Entwicklungen sowie allgemein zu einer erheblichen Steigerung des Wohlstandes, der jedoch-angesichtsder minderwertigen Nahverkehrsmittel- schon in geringen Entfernungen von diesen Zentren stark absank. Betrachtet man die Ausdehnung der beiden Handelskreise in Oberitalien sowie in der Nord- und Ostsee, so stellt man fest, daß sie sich von der Küste aus entlang der damals besten Landverkehrsmittel entfalteten. Deutlich lassen sich die Brennpunkte der Gestaltungskraft der Verkehrsmittel erkennen, aber auch die im Zeitablauf erfolgende Grenzverödung und die Indifferenzbereiche in diesem "Magnetfeld" beobachten. Die Unterschiede in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die sich auf diese Weise als Funktion der Gestaltungskraft des damaligen Weltverkehrssystems herausbildeten, spielten politisch jahrhundertelang eine beachtliche Rolle.

2. Die Schiffahrt der Hanse Unabhängig von der Entwicklung des mediterranen Handels entfaltete sich die Hanse gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Die Hanse wurde ebenfalls wieder typischer Ausdruck für die Gestaltungskraft des Seeverkehrs - bei einer Datenkonstellation jener eigenartigen Struktur des Deutschen Staates 78 des Mittelalters mit seinem Pluralismus der Gewalten im Gefüge eines minderwertigen Systems der Nachrichtenübermittlung und des Verkehrs innerhalb des Landes-. Wir sehen, wie der hochwertigste Teil des Verkehrssystems bestimmte Entwicklungschancen schafft und es darauf ankommt, wie mit dem prägenden Effekt der Tradition es entscheidend wird, an welcher Stelle und mit wessen Initiative eine Lage genutzt wird. 78

Vgl. Entwicklung des Nachrichtenverkehrs, S. 817 :ff.

38

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

Egmont Zechlin weist mit Recht darauf hin, daß die Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, die ihre Entfaltung im Spätmittelalter findet, ihre ursprüngliche Basis nicht einmal von vornherein an den Küsten des Meeres hatte, sondern vorzugsweise in Städten, an großen Strömen oder an wichtigen Landstraßen. Er nennt Köln, Hagen, Soest, Dortmund, Münster 79 • Aber es war die Gestaltungskraft des Seeverkehrs, die endgültig die Form der wirtschaftlichen und politischen Kraft prägte. Jener Teil des deutschen Bürgertums, der die Hanse schuf, führte in bewußter Planung einen Gesamtwillen durch, der geformt wurde durch die Möglichkeiten, die für den Ausgleich der Kulturen und den Handel das Spannungsgefälle80 innerhalb des Verkehrssystems eröffnete. Die Hansestadt wurde Fernhandelsstadt. Über allem Wirtschaftlichen war dabei auch ein politischer Ordnungsgedanke lebendig, der - getragen von einer inneren Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft - im friedlichen Wettbewerb einen Vorsprung gegenüber den Skandinaviern gab81. Ausgangspunkt war und blieb die Schiffahrt. Die hansischen Städte entwickelten sich zu einem eigenen Gemeinwesen und begannen sich von der Territorialgewalt zu lösen, die sie ursprünglich beschützt hatte. Der Friede von Stralsund 1370 bestätigte nicht nur alle hansischen Privilegien, sondern bestimmte auch, daß in Dänemark niemand ohne Mitwirkung der Hanse König werden dürfe. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts begann auch der Kaufmann des Seehandels Schreiben und Lesen zu lernen, ein scheinbar nebensächlicher kultureller Fortschritt, der aber das Wesen der Handelsunternehmen grundlegend wandelte. Der Kaufmann zog nun nicht mehr mit seiner Ware von Ort zu Ort, sondern war in der Lage, Niederlassungen zu gründen und seine Geschäfte schriftlich zu leiten; ein Prozeß, der den Aufstieg der Hanse und die systematische Ausnutzung der Gestaltungschancen der Seefahrt geradezu erst ermöglichte. Die Hanse profitierte weiter davon, daß zwar die geistige und gesellschaftliche Einheit der abendländischen Christenheit erhalten blieb, aber seit dem Verfall des Kaiserreichs im 13. Jahrhundert die zentralen politischen Grundlagen dieser res publica christiana erschüttert waren82 . Die für die Hanse tätigen Kaufleute, gleich welcher Stadt, waren eine "universitas", eine Gemeinschaft der "Kaufleute des Römischen Reiches". Jede von Lübeck ausgehende Fahrergruppe war ein Stück Reich, wo 79 Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte. Altertum und Mittelalter. Harnburg 1947, S. 275. 80 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes. 81 Egmont Zechlin: a.a.O., S. 278/79, 300. 82 Ebd., S. 277. 83 Egmont Zechlin: a.a.O., S. 279.

2. Die Schiffahrt der Hanse

39

auch immer sie sich aufhielt. Oft wurde gesagt, das Ganze sei früher dagewesen als seine Teile83 . Mitte des 14. Jahrhunderts gab es 166 Hansestädte. Die Wikinger waren in mancher Hinsicht Vorbilder der hansischen Seefahrt, an deren historischem Wirken die Hanse in vielem anknüpfte84 . Der Handel war jedoch nicht das Produkt zufälliger Beziehungen, die von Abenteurern hergestellt wurden, vielmehr wurde die Schiffahrt systematisch mit dem Ziel aufgebaut, die Handelswege zu erweitern. Aus der Geschichte der Hanse können wir deutlich erkennen, wie die innere wirtschaftliche und soziale Struktur der mitteleuropäischen Städte zu einer expansiven und fruchtbaren Dynamik zwang. Das Rückgrat dieser Handelstätigkeit lag in der politischen Herrschaft der Kaufleute in den Stadtverwaltungen. In der kurzen Zeit zwischen 1215 und 1250 entstanden an verkehrswichtigen Stellen Seestädte an der Ostsee von Wismar bis Memel ("vom Meer aus in das Land hineingegründet"). Ein ausgedehntes Verkehrsnetz wurde 85 geschaffen, dessen wesentliche Linie zwischen Nowgorod-Wisby-Riga-Lübeck-London-Brügge verliefen. Die Fahrten gingen bis Spanien und auch Island, das nunmehr nach Erweiterung des schiffsbautechnischen und nautischen Könnens in den Einzugsbereich der Hanse fiel. Die Hanse handelte Wolle aus England, Stockfisch aus Norwegen, Heringe aus Dänemark, Getreide aus Mecklenburg und Pommern, Metallfabrikate, Schwerter vom Rhein, Salz aus Lüneburg, Bier aus Harnburg. Vor allem in Brügge wurden die Erzeugnisse der Mittelmeerländer erworben (Seide, Öle, Südfrüchte). Als Handelsgut kamen hinzu die Tuche Flanderns und Englands, der Wein aus dem Rheingebiet und aus Frankreich, aus Rußland Felle, Häute und Holz, aus Schweden Eisenund Kupfererz. Zur Blütezeit der Hanse, also etwa im 14. Jahrhundert, wurde schon die Verfrachtung auch gegen Entgelt in fremden Schiffen durchgeführt. Im Herrschaftsbereich der Hanse formte sich ein eigenes Seerecht heraus88, das nach Süden an das "Consulat del Mar" angrenzte und sich zum Teil mit diesem überschnitt. Zugrunde gelegt wurde dabei eine Sammlung von Rechtsgrundsätzen, die um 1400 auf Veranlassung der 84 P. Heinsius: Das Schiff der hansischen Frühzeit, Weimar 1956; Paul Lächlerund Hans Wirz: Die Schiffe der Völker, Traum-Geschichte-Technik. Olten und Freiburg i. Br. 1962. 85 Wieder sehen wir, wie das Verkehrssystem die ursprüngliche unabhängige Variable der Entwicklung war. Sie ermöglichte das Entstehen der Hanse und formte (und begrenzte) ihre Entfaltungsmöglichkeit Sobald diese ökonomische und politische Macht erwachsen war, wurde der weitere Ausbau des Verkehrssystems zur abhängigen Variablen dieser Machtposition in ihrem Interesse und ihren Interessen weitergestaltet. 86 Fälschlich Wisbysches Seerecht genannt. Schaps-Abraham: Das deutsche Seerecht, 3. Aufl. Berlin 1959, I, S. 6.

40

§ 2: Die Entwicklung der Seeschiffahrt im Mittelalter

Brügger Hanse aufgezeichnet worden waren. Diese Spruchsammlung war im wesentlichen eine Umformung der "Röles des Jugements d'Oleron", einer Sammlung von Sprüchen des Seegerichts der Insel Oleron aus dem 12. bis 13. Jahrhundert. Der Schiffstyp im hansischen Raum war die Kogge, ein hochbordiges, rundgebautes und gedecktes Segelschiff (eigentlich müßte es heißen "der" Kogge) 87 • Die Koggen waren die Fortentwicklung der "Längsschiffe" der Wikinger, nachdem diese Schiffe die Ruder verloren und ein Deck gewonnen hatten. Sie hatten in der Regel eine Gesamtlänge von 27,0 m, eine Wasserlinienlänge von 20,0 mundeinen Tiefgang von 3,0 m bei 7,2 m Breite in Höhe der Wasserlinie88 , was eine Verdrängung von rd. 270 t ergab und eine Ladefähigkeit von nicht über 250 t. Nur in den preußischen Städten des Deutschen Ordens wurden größere Schiffe mit einem Fassungsvermögen von 400 t und mehr gebaut, die jedoch in verschiedene Häfen, insbesondere der Niederlande, nicht einlaufen konnten89 • Die Kogge war ein Schiff mit geradem Steven, der einen starken Winkel zum Kiel aufwies. Sie hatte einen hohen Freibord und war geklinkert. Diese Bauweise erlaubte zwar ein besseres Segeln als bei den rundendigen Flachwasserfahrzeugen, erforderte jedoch andererseits eine tiefere Wasserrinne bei der Aus- und Einfahrt. Bis zum 15. Jahrhundert waren die hansischen Schiffe einmastig. Im Laufe der Zeit wurde ihre Geschwindigkeit durch Anbringung weiterer Masten erhöht, wohinzu als wichtigste Neuerung das Hecksteuer kam. Teilweise gab es das Hecksteuer schon im 13. Jahrhundert90 • Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden die Koggen mehr und mehr durch Hulken91 ersetzt, bei denen der Zwiespalt zwischen natürlichen Gegebenheiten (Hafen) und schiffsbautechnischen Möglichkeiten besonders kraß hervortrat. Die Beeinflussung durch die Mittelmeerschiffahrt führte um 1450 zur Ablösung des Klinkerbaues durch die Kraveelbeplankung, bei der die Planken nicht mehr ziegelartig angeordnet sind, sondern scharf aneinandergreifen. Weiterhin erfolgt die Ausbildung des Innenspantensystems, was nunmehr eine Länge über Deck von 39,6 m und eine Breite von 12,63 m 92 ermöglichte. Damit übertrafen die technischen Möglichkeiten die damalige wirtschaftliche Verwendungsmöglichkeit der Schiffe jedoch beträchtlich. Egmont Zechlin: Maritime Weltgeschichte a.a.O., S. 277. Paul Heinsius: Das Schiff der hansischen Frühzeit, a.a.O., S. 188 u. 250. B9 Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Nachdruck I, Bd. 1. Berlin 1954, S. 307. 90 Vgl. Otto Höver: Von der Kogge zum Clipper. Harnburg 1948, S. 8. 91 Die Hulken, auch Holken genannt, waren reine Frachtschiffe. Sie übertrafen die Koggen an Geräumigkeit, waren ihnen aber in der Form so ähnlich, daß ein und dasselbe Schiff von demselben Chronisten einmal Kogge, einmal Hulk genannt wird. 92 S. Helander, F. Haslinger: Seeschiffahrt. In: HWdSt., 4. Aufl., Bd. 7, Jena 1926, S. 374; dabei handelt es sich um Durchschnittsmaße. 87 88

2. Die Schiffahrt der Hanse

41

Ein Rivale der Hanse kam im 15. Jahrhundert durch die ehemals verbündeten Holländer auf. Es entwickelte sich ein Kaperkrieg. Die Hanse war in sich uneinig93 • Schon damals traten bedenkliche Hemmnisse für die Weiterentwicklung auf. Zunächst besaß aber das Bündnis noch genügend Integrationseffekte. Nach ihrem Aufbau versuchte die Hanse- ähnlich wie die oberitalienischen Seestädte- mittels Stapelzwang und Verbot des Schiffsbaues für fremde Rechnung, dem Verbot des Transports hansischer Frachten auf nicht-hansischen Schiffen, sowie einer schiffahrtspolitischen Diskriminierung, die sich unmittelbar gegen Holländer und Engländer richtete, den Handel zu monopolisieren 94 • Bald aber trat eine Milderung durch die Sonderbehandlung von Wendewaren im Gegensatz zu Stapelgütern ein, besonders im Hinblick auf den versandenden Hafen Brügge. Im Utrechter Frieden von 1474 mußten die diskriminierenden Bestimmungen der Hanse gegenüber den Häfen Antwerpen und Amsterdam aufgegeben werden. Auch der Kampf gegen England ging verloren, und nur der Stapelzwang blieb bis zum 17. Jahrhundert bestehen. Maßgeblich für den Ausgang des Kampfes der Hanse gegen England war das Ausscheren von Hamburg, das sich auf die Seite der Engländer schlug. 1535 erlebte die lübische Flotte eine recht bedenkliche Niederlage, als sie in Überschätzung der Kräfte der Stadt nach der Beherrschung Skandinaviens strebte. Nicht nur dieser Fehlschlag, sondern auch der Zwiespalt zwischen den Städten, aber auch ein Kampf innerhalb der Städte, z. B. Zünfte gegen die herrschenden Familien, und das Anwachsen der Gegenkräfte des Auslands brachten den Niedergang der Hanse. Das Absinken der Kraft der Hanse stand aber wohl (zunächst noch) in keiner Verbindung mit der Entdeckung des Seeweges nach Ostindien95 • Der im 16. Jahrhundert erfolgende weitere Zerfall der Hanse als führender Seehandelsorganisation des Nord-Ostseeraumes war aber darüber hinaus auch durch die Ausbildung der Territorialstaaten in Deutschland und das Erstarken der nordeuropäischen Staaten96 bedingt. Die Schiffahrt der Hanse vollzog sich hauptsächlich nur im Bereich der Ostsee und N ordsee. In das Mittelmeer kamen die Schiffe der Hanse 93 Hanse-Recesse 1256-1530, hrsg. vom Verein für Hansische Geschichte, bearb. von Frhr. v. d. Ropp, Dietrich Schäfer und Friedrich Techen, 24 Bde., Leipzig 1870-1913; Dietrich Schäfer: Die deutsche Hanse, 4. Aufl., BielefeldLeipzig 1943; F. Rörig: Wesen und Leistung der Hanse. In: Die nordische Welt. Geschichte, Wesen und Bedeutung der nordischen Völker, hrsg. von H. F. Blunck, Berlin 1937. 84 Dietrich Schäfer: Das Zeitalter der Entdeckungen und die Hanse. In·: Aufsätze, Vorträge und Reden (1913), Bd. I, S. 479 ff. 95 Egmont Zechlin: a.a.O., S. 301. 9& Gustav Wasa beispielsweise versuchte zu erreichen, daß sein Land nicht mehr von Initiative, Ermessen und Willkür der Hansestädte abhängig war, wenn es sich wirtschaftlich betätigen wollte.

42

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

kaum. Die Grenze ihres Betätigungsgebietes lag in Lissabon und in Island. Später waren es dann vorzugsweise die Länder mit überseeischem Kolonialbesitz, die ein Monopol des Verkehrs in den Verbindungen zwischen Mutterland und Kolonien aufbauten. Der Hanse blieb somit nur noch der Verkehr zu den Häfen der Mutterländer. In der Seerechtsentwicklung trat übrigens bezeichnenderweise im mediterranen Raum wie im Bereich der Hanse das Element der Societät mehr und mehr zurück. Das Erstarken der nordeuropäischen Völker bedeutete schließlich für die Verkehrswege der Hanse immer mehr eine Minderung der Verkehrswertigkeitihrer bisher benutzten Verkehrswege und ihrer Stützpunkte, da die selbstbewußt werdenden Staaten Schwierigkeiten bereiteten, indem sie die Handelshäuser schlossen und die Zölle erhöhten. Die Hanse konnte auch nicht mehr im Gesamtbereich ihrer bisherigen Aktivität die Sicherheit der Transporte garantieren, womit die Transportkosten, insbesondere auch die erforderliche Dauer eines Transportes, stiegen. Als Folge dieser Entwicklung können wir seit dem Ende des 15. Jahrhunderts deutlich erkennen, wie die Gestaltungskraft der Verkehrswege, die zu den Häfen der Hanse hinführten, nach und nach abnahm. Das wachsende Bestreben der merkantilistischen Politik, den Handelsverkehr durch Aufbau eines eigenen Stammes von Produzenten und Händlern selbst in die Hand zu bekommen, besiegelte den Niedergang der Hanse. In Dänemark begründete Christian IV. die Nichterneuerung der Privilegien der Hanse damit, daß es genug Kaufleute im Lande gäbe, um die Versorgung Dänemarks mit den benötigten Waren sicherzustellen. Unter der Regierung von Königin Elisabeth wurden auch in England die Privilegien der Hanse aufgehoben und 1598 der Stalhof der Hanse in London geschlossen. Die Politik der merkantilistischen Staaten gegenüber der Hanse war umso leichter durchsetzbar, als die Hanse infolge ihrer schwerfälligen Willensbildung unter sich uneins war, was die Staaten in geschickter Weise dazu benutzten, die unterschiedlichen Schiffahrtsinteressen wie beschlossene Gegenmaßnahmen gegeneinander auszuspielen. Die letzte Tagung der Hansestädte fand 1669 statt. Nur wenige Städte waren erschienen, aber auch sie kamen zu keiner Einigung.

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffabri

in der beginnenden Neuzeit

Die Frage, wann zweckmäßigerweise der Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit zu setzen ist, ist bekanntlich umstritten. Für die Problemstellung der Verkehrspolitik, und überhaupt für die wirtschaftliche Entwicklung, war die Zeit um 1500 eine revolutionäre Zäsur. Die Periode der Entdeckungen ließ ein neues Weltbild und ein neues Verkehrssystem entstehen. Die Reformation, die zwar noch von vielen mittelalterlichen Ideen getragen war, bedeutete den Durchbruch wirtschaftlicher Verhaltensweisen, die vorher nur

1. Die Schiffahrt im Zeitalter der Entdeckungen

43

in Ansätzen vorhanden waren. Gleichzeitig bedeutete die Reformation die Auslösung grundlegender Wandlungen im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge der von ihr berührten Räume. Die Datenkonstellation des 14. und 15. Jahrhunderts brachte die Ausbildung des absoluten Staates und der merkantilistischen Politik. Die Renaissance führte zu einer geistigen Revolution. Es ist für das, was wir "Entwicklung" nennen, bezeichnend, daß sich diese Impulse auch in der Geschichte des Verkehrswesens äußern. 1. Die Schiffahrt im Zeitalter der Entdeckungen

Mit der Überwindung der weltanschaulichen Vorstellungen der Scholastik durch die Renaissance vollzog sich eine neue geistige Orientierung des abendländischen Menschen, die in dem forschenden Streben nach einem neuen Weltbild die Entwicklung der Seeschiffahrt befruchtete. So war die folgende Periode durch den Willen zur wissenschaftlichen Erforschung und durch das Streben, die Welt neu zu begreifen, gekennzeichnet. Wissenschaftliche Forschungen und abenteuerliche Entdeckungsfahrten zerstörten das Ptolemäische Weltbild und schufen einen neuen geistigen und geographischen Horizont. Von besonderer Bedeutung für die Seeschiffahrt war darüber hinaus auch die Weiterentwicklung des nautischen Könnens. Regiomontanus (1436-1476) 97 in Nürnberg schuf mit seinen Ephemeriden- einer Vorausberechnung des Laufes der Gestirne- die Möglichkeit zur Orientierung der Seefahrer in unbekannten Gewässern. Ein Schüler von Regiomontanus, Martin Behaim (1459-1507) 98 , führte die Ephemeriden und den sogenannten Jakobsstab - ein astronomisches Beobachtungs- und Meßgerät- am portugiesischen Hof ein. Alle Schiffe, die auf Entdekkungsreisen gingen, wurden zukünftig damit ausgestattet. Heinrich der Seefahrer von Portugal, der ein brennendes Interesse am Studium aller Fragen der Geographie, des Schiffswesens, der Astronomie und der Mathematik hatte, gründete in Sarges eine Akademie für die Probleme der Seefahrt. An ihr lehrten Mohammedaner genauso wie Juden und Christen. Er trug seinen Kapitänen auf, systematisch die Küste Afrikas zu erkunden sowie den Weg nach Indien zu suchen99 • Die Zeit der Entdeckungen begann mit verschiedenen weiteren schiffsbautechnischen Neuerungen. Aus den Rundschiffen des Nordens und den mittelländischen Küstengaleeren wurden Karracken und Galeonen. Sie hatten viereckige Segel an drei oder vier Masten oder Lateinsegel zur besseren Manövrierung und Steuerruder. 97 Ernst Zinner: Das Leben und Wirken des Johannes Müller von Königsberg, genannt Regiomontanus, München 1938. 98 E. G. Ravenstein: Martin Behaim - his life and his globe, London 1908. 99 Joachim G. Leithäuser: a.a.O., S. 131. - Ferner: Per Collinder: A history of marine navigation, London 1954, S.131. Otto Höver: Von der Kogge zum Clipper. Zur Entwicklung des Segelschiffs, Harnburg 1948.

44

§ 3:

Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

Als Schiffstyp entwickelte sich im 15. Jahrhundert in Spanien und Portugal, später auch in Italien, die Karavelle, die verhältnismäßig klein war und deshalb leicht in einen Hafen einlaufen konnte. Das neue Segelsystem der Karavellen bereitete der Herrschaft der Galeeren sehr schnell ein Endetoo. Die schnell in Spanien und Portugal gebräuchlich gewordenen Schiffstypen - insbesondere also Karavelle und Karracke 101 - waren für weite Entdeckungsfahrten an und für sich wenig geeignet, weil sie auf die ökonomischen und maritimen Verhältnisse der Handelstätigkeit im Mittelmeerraum bzw. der Nord- und Ostsee zugeschnitten waren. Dennoch gelang mit diesen Schiffen unter unsäglichen Opfern im Jahre 1492 die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Als Kolumbus im Auftrage der spanischen Krone nach Westen fuhr, um den Seeweg nach Indien zu suchen, wollte er dem Machtbereich der Portugiesen ausweichen, da sie ihm nicht trauten, nachdem sie sein erstes Vorhaben einer Westexpedition zum Scheitern gebracht hatten. Bei seinen vier Reisen erntete er verhältnismäßig wenig Anerkennung. Auf seiner vorletzten Reise wurde er sogar durch den Bevollmächtigten des Königs in Ketten gelegt und nach Spanien gebracht. Trotz seiner Rechtfertigung wurden die ihm zugesagten Rechte - erbliche Würde eines Großadmirals, Vizekönig der entdeckten Länder, ein Zehntel der Handelseinnahmen der durch ihn entdeckten Länder- nicht eingelöst. Als er starb, glaubte er immer noch, die östlichen Küsten Asiens gefunden zu haben. Das Flaggschiff von Kolumbus, die "Santa Maria", war nach heute herrschender Auffassung eine kleine Karracke. Zwei Karavellen begleiteten die "Santa Maria", die nach Schätzungen folgende Abmessungen hatte: Länge über alles: 24m, Kiellänge 17m, Breite 7,8 m, Tiefgang 4,1 m 102 . Die "Santa Maria" hatte Rahtakelung, und zwar ein Sprietsegel, eine Fock, ein Großsegel und dazu den Besan. Das Schiff hatte vermutlich einen größeren Tiefgang und war langsamer als die es begleitenden Karavellen. Die Karavellen, deren Aussehen nur ungenau bekannt ist, trugen in der Regel Lateinsegel und waren weniger breit als die Karracken. Allerdings ließ Kolumbus seine Karavelle "Nina", die als einziges Schiff seiner Expedition mit Lateinsegeln ausgerüstet war, auf den Karrarischen Inseln umbauen und Rahtakelung anbringen. too Bernhard Hagedorn: Die Entwicklung der wichtigsten Schiffstypen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1914, S. 56 ff. tot Der Wortstamm liegt im Arabischen. Spanisch: Carabela; Karavelle nannte man die Schiffe mit hohem Heckaufbau, typisch für das 15. und 16. Jahrhundert. Mit diesem Typ wurden die ersten Entdeckerfahrten durchgeführt. Karracke wohl genannt nach dem spanischen Kriegshafen der Bucht von Cädiz. to2 Der Tiefgang der "Santa Maria" betrug nach Landström (a.a.O., S. 102) allerdings nur 2 m.

1. Die Schiffahrt im Zeitalter der Entdeckungen

45

Die Entdecker waren von unterschiedlicher Nationalität. Kolumbus war Genuese, der im Dienste Spaniens tätig war, Verrazzano ein Florentiner in französischem Auftrag, Amerigo Vespucci, der Amerika seinen Namen gab, segelte teils im portugiesischen, teils im spanischen Dienst. 1507 entstand Waldsee Müllers Weltkarte. "Westindien" wurde hier zuerst mit dem Begriff "Amerika" bezeichnet. Portugiesische Entdecker umschifften 1445 das Kap Verde, 1460 erreichten sie Sierra Leone, 1488 wurde das Kap der Guten Hoffnung umfahren, und zehn Jahre später wurde auf diesem Wege Indien erreicht (Vasco da Gama). Eine Flotte von 13 Schiffen wurde der portugiesischen Krone unterstellt, als 1500 unter dem Oberbefehlshaber Cabral diese das erste Mal an der brasilianischen Küste landete. Die Flotte fuhr anschließend weiter nach Indien. 1517 erreichte Andrade auf dem Seewege von Portugal aus Südchina. 1543 drangen Portugiesen nach Japan vor 103 • Die Krönung dieser Epoche der Entdeckungsfahrten v:ar die Weltumsegelung von Magellan104 von 1519 bis 1522. Magellan suchte im Dienste Kaiser Karls V. auf der westlichen Route Indien zu erreichen, da unterdessen bekannt geworden war, daß Kolumbus zwar ein neues Land entdeckt hatte, aber nicht bis Indien vorgedrungen war. Nach der Überfahrt über den Atlantik erkundete Magellan die Südamerikanische Küste und befuhr die bis dahin unbekannte, später nach ihm benannte, Magellanstraße. Nach einer Fahrt von 3 Monaten 20 Tagen durch den Pazifik erreichte er die Marianen und später die Philippinen. Nur die "Viktoria", eines der fünf Schiffe von Magellan, lief über Indien und die portugiesische Route ohne ihren Kommandanten wieder im Hafen von San Lucar ein. Er war von philippinischen Eingeborenen getötet worden. In diesem Zusammenhang muß einiges über die Entwicklung von Spanien und Portugal gesagt werden. Beide wurden Seemächte aus einer zufälligen historischen Datenkonstellation des Kampfes gegen die Mauren. Die aus dieser Feindstellung erwachsenden Integrationsfaktoren führten zu Seefahrtsinteressen und in typischer eigenständiger Entwicklungsdynamik zu den Entdeckerfahrten, die wir eben skizzierten.

Kastilien als "Grundstock Spaniens" wurde Seemacht im Kampf gegen die Mauren. Nach der Eroberung von Tarifa (1292), Algeciras 1os Laut Eduard Sieber: Kolonialgeschichte der Neuzeit, Die Epochen der europäischen Ausbreitung über die Erde, Bern 1949, S. 20 erreichte schon 1513 ein portugiesisches Handelsschiff Südchina. 104 Fernäo de Mageztan, geb. 1480, gefallen 1521 auf der Insel der Philippinen Matan. 3. Abfahrt am 20. 9. 1519 von San Lucar mit 5 Schiffen. Am 10. 1. 1520 erreichte er die Mündung des La Plata. Beschreibung dieser ersten Weltumseglung durch einen Mitreisenden: Antonio Pigafetta, Primo viaggio intorno al globo (hrsg. von Amoretti, Mailand 1894, neue Ausg.).

46

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

(1344), Gibraltar (1462), war Kastilien auf einen Aufbau einer Seemacht angewiesen, sich gleichzeitig auf die Integrationswirkung der Kreuzzüge stützend 105 • Gegen eine Reihe widerstrebender Gewalten sich durchsetzend, beteiligte sich Kastilien an dem Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich, wobei es einmal sogar plündernd bis London vordrang. Nach langen Kämpfen wurde 1479 ein Vertrag mit Portugal geschlossen zum Ausgleich der Interessensphären. Portugal wurde schiffahrttreibende Nation, als es sich zum nationalen Staatswesen entwickelte. Mit Ende der letzten Herrschaft der Mauren auf dem Gebiet (1250) mußten die Auseinandersetzungen mit Kastilien (1337, 1381-1385, 1411) bestanden werden. Mit Unterstützung von Italien wurde 1334/41 der erste überseeische Angriff gegen die 1312 von dem Genueser Malocello wieder entdeckten Kanarischen Inseln geführt. Die Überseepolitik begann nach der Eroberung von Ceuta, bei der die 20 000 Angreifer nur 8 Tote hatten. Schon diese "Eroberung" brachte den plündernden und sengenden Eroberern reichste Beute, ein Verfahren, das von nun an bei allen Entdeckungsfeldzügen Vorbild war. Als 1441 die Neger "entdeckt" waren, begannen - übrigens mit Billigung der Kirche106 - zunächst in geringem Ausmaß, später systematisch die Sklavenj agden. Die Entdeckungsfahrten führten zu wesentlichen Erkenntnissen über Größe und Gliederung der Erdkugel und vervollkommneten das neue Weltbild. Auf die Entdeckungen folgten Eroberungen. Vornehmlich die Suche nach dem Golde bestimmte nunmehr die Bereiche imperialistischer Betätigung der Portugiesen und Spanier, die sich anfangs die entdeckten Gebiete gegenseitig streitig machten. Die Portugiesen erkämpften sich gegen die Araber die kommerzielle Herrschaft über Ostasien, besetzten Ceylon, Malakka (die Malaiische Halbinsel) sowie die Molukken und gründeten neue Forts. Etwa um 1585 errichteten sie ihre Herrschaft in Macao in China107 • Spanien unterwarf sich die Philippinen. Es begann damit für seinen Machtbereich systematisch ein Handelsmonopol zu errichten. Schon 1493 erfolgte die Aufteilung der Erdkugel zwischen Spanien und Portugal und die Zuteilung der Gebiete durch den Papst. Auf dieser Basis bauten Spanien und Portugal ihre Kolonialsysteme aus 107a. Die Aufteilung der neuen Welt blieb nicht unbestritten. Franz I. von Frankreich protestierte gegen die päpstliche Bulle von 1493, die die 105 C. Erdmann: Der Kreuzzugsgedanke in Portugal. Historische Zeitschrift, Bd. 141 (1930) S. 50. 1oo Bulle Divino amore comuniti vom 18. Juni 1452. 107 Gomez Eannes de Zurara: Cronica da Tomada de Ceuta por el Rei, neu herausgegeben von Fr. M. F. Percira, Lisboa 1915. 101a Näheres vgl. S. 157.

1. Die Schiffahrt im Zeitalter der Entdeckungen

47

neuentdeckte Welt zwischen Spanien und Portugal aufteilte. An Kapitäne verteilte er Freibriefe, um auch Frankreichs Anspruch geltend zu machen. Die Portugiesen bekämpften wiederum die sich bildenden französischen Stützpunkte. 1516 wurde die gesamte Bevölkerung einiger französischer Stützpunkte in Brasilien durch die Portugiesen vernichtet, 1565 französische Stützpunkte in Florida von den Spaniern. Die Politik Portugals und Spaniens gegenüber den nun entdeckten Gebieten war unterschiedlich. Spanien legte in seinem Gebiet systematisch Plantagen und Bergwerke an. Portugal errichtete meist nur Handelsniederlassungen. Beide Formen der Kolonial- und Verkehrspolitik waren aber durch vielfältige und weitreichende Reglementierungen gekennzeiclmet108. Nachdem sie von der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an die Araber aus dem Verkehr mit Indien und Indonesien zurückgedrängt hatten, konnten die Portugiesen ein Monopol im Handel asiatischer Gewürze aufbauen. Staatsmonopolistische Bestrebungen bestimmten die Handelsbeziehungen zeitlich und örtlich. Die Piraterie, die von einigen europäischen Ländern geheim gefördert, ja sogar offiziell organisiert wurde, zwang zur Flottenfahrt mit militärischer Bedeckung. Die Zahl der Seekarawanen, die Routen, die Ausgangs- und Bestimmungshäfen wurden deshalb meist hoheitlich festgelegt. Die Flotte war Staatseigentum, und nur wenige privilegierte Kaufleute durften zum Beispiel Silberfahrten durchführen. Jeglicher Zwischenhandel war ausgeschaltet bzw. nur dem König vorbehalten. Zwangshandel und Sklavenwirtschaft kennzeichneten das damalige koloniale System. Die Preise für die aufzukaufenden Güter wurden von den Eroberern festgelegt. In Portugal erhielt der König von der Transportleistung jeweils 30 °/o des Warenwertes, während ihm der Pfefferhandel sogar gänzlich vorbehalten war. Der stark anwachsende Warentransport und der zunehmende Raumbedarf für die Unterbringung von Menschen - vor allem Kaufleuten, Kolonisatoren und Priestern, die in die eroberten Gebiete zu kommen trachteten- brachten Veränderungen im Schiffsbau mit sich. Die Galeonen, die Handelsschiffe jener Zeit, hatten etwa folgende Abmessungen: Länge über alles 41 m, Kiellänge 30m, Breite 10m. Mit steigendem Raumbedarf wuchs nun die Zahl der aufgebauten Stockwerke bei sonst aus schiffsbautechnischen Gründen unveränderten Maßen, so daß mit der Zeit die Höhe der Schiffe einschließlich Masten ihre Länge wesent1os Richard Konetzke: Das Spanische Weltreich. Grundlagen und Entstehung, München 1943; E. Ibarra y Rodriguez: Espaiia bajo los Austrias, 2. Aufi., Barcelona 1935; F. de Almeida: Hist6ria de Portugal. 6 Bde., Coimbra 1922-29; F. A. Correa: Hist6ria econ6mica de Portugal, 2 Bde., Lissabon 1929/30.

48

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

lieh überstieg. Damit wurden jedoch die prächtig verzierten Schiffe zunehmend seeuntüchtiger und verloren erheblich an Stabilität109 • 2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus Der Merkantilismus als System einer vom absoluten Fürsten bestimmten Machtpolitik "feierte seine größten Triumphe auf dem Gebiete der Schiffahrt" (Heckscher) 110 • In den nordischen Ländern war der Merkantilismus bemüht, den Bau privater Schiffe, die gleichzeitig als Kriegsschiffe verwendet werden konnten, durchzusetzen 111 • Der Verkehr auf den Weltmeeren beschränkte sich fast ausschließlich auf den kolonialen Verkehr. Nur auf den europäischen Meeren und an den europäischen Küsten entwickelte sich ein allgemeiner Verkehr in beachtlichem Umfang. China, Japan und andere unabhängige Staaten öffneten den Europäern nur wenige Handelsplätze. Im übrigen herrschte lediglich Verkehr mit kolonialen Handelsniederlassungen, so daß das Verkehrsnetz sehr weitmaschig war 112 • Die Atlanten der damaligen Zeit lassen erkennen, daß die Umgrenzung der Erdteile noch nicht völlig bekannt war. Vor allem die Gold- und Gewürzeinfuhren begründeten mittels der politisch-ökonomischen Monopolstellung den Reichtum und Wohlstand Spaniens und Portugals. Andererseits ließ dieser Wohlstand allmählich die eigenen Produktivkräfte erschlaffen113 • Frühzeitig versuchten die aufstrebenden Engländer, Franzosen und Holländer gleichfalls am kolonialen Handel teilzunehmen. Bald gelang es Spanien und Portugal nicht mehr, ihre Monopolstellung überall zu behaupten. Der spa109 Die Bezeichnung Galeone leitet sich aus dem mittelalterlichen Latein her (galea, der Helm). Sie hatte manche Ähnlichkeit mit der Kogge.: 3-4 Masten, etwa 800 t, und wurde auch als Kriegsschiff verwandt. G. Joachim Leithäuser: Weltweite Seefahrt ... , S. 160 ff. Francisco Nogueira de Brito, Caravelas, Naus Gales de Portugal, Porto 1932. 11o Eli F. Heckscher: Der Merkantilismus (deutsche Übers. von Gerhard Mackenroth) II. Jena 1932, S. 24. 111 z. B. die sog. "Defensionsschiffe" Dänemarks, der "helfrihet" Schwedens (ab 1617 über ein Jahrhundert hinweg). 112 Im Jahre 1747 kamen beispielsweise nur 6 Schiffe aus Holland, 8 aus England und 4 aus Schweden, insgesamt also 18 Schiffe aus Europa nach China. Nach der Vertreibung der Portugiesen hatten seit 1641 nur die Holländer das Recht, auf der Insel Desima mit Japan Handel zu treiben, ein Monopol, das sie 200 Jahre behaupten konnten. Der Handel spielte sich in für die Holländer beschämenden Formen ab. Jährlich durften nur 6-7 Schiffe landen. - 0. Münsterberg: Japans auswärtiger Handel von 1542 bis 1854, Stuttgart 1896; A. Sartorius von Waltershausen: Die Entstehung der Weltwirtschaft, Jena 1931, S. 18 f.; Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Bd. II, Nachdruck 1954, S. 299 ff. 384 ff. 113 G. Maranon y Posadillo: Der Niedergang Spaniens als Weltmacht; übersetzt und eingeleitet von Ludwig Pfandl, München 1948; M. S. D. Hume: Spain, its greatness and decay, 3. Aufl., New York 1913.

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus

49

nische Erbfolgekrieg und der Asientovertrag legitimierten späterhin einen Teil des Schleichhandels, dessen Umfang den spanischen Legalhandel bereits um 1600 übertraf. In den Jahren 1760 bis 1780 114 wurde der Handelsverkehr offiziell freiheitlicher, die enge Monopolisierung wurde durchbrochen und der Handel zwischen den Kolonien grundsätzlich freigegeben. Aber jetzt entwickelten sich weder Lissabon noch Sevilla weiter zum Zentrum des kolonialen Handels, sondern Antwerpen, das allerdings nach seiner Einnahme und Plünderung in den Jahren von 1575 bis 1585 durch den spanischen Herzog Alba von Amsterdam abgelöst wurde. Den oberitalienischen Städten gelang es, während der ganzen Zeit der iberischen Herrschaft den Levantehandel weiter durchzuführen. Auch die Hansestädte, besonders jene im Ostseeraum, bauten ihre Stellungen für eine kurze Zeitspanne wieder aus 115 • Die immer neuen Entdeckungsfahrten schufen für den Fernhandel auf dem Kontinent gewaltige Entwicklungschancen. In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts fiel der Preis des Pfeffers auf ein Fünftel, nachdem die Portugiesen unter Umgehung der Araber und der Venezianer auf den neuen Seewegen den Pfeffer von Indien holten. Die Verkehrswege nach Nord- und Südamerika boten darüber hinaus so viele neue Möglichkeiten zur Erzielung von Gewinnen und zur Einrichtung neuer Handelsverbindungen, daß die alten Verkehrswege demgegenüber an Bedeutung verloren. Deutlich erkennen wir, wie die hohe Verkehrswertigkeit der Hochseeschiffahrt auf dem Atlantik die mittelalterlichen Verkehrswege in eine neue Richtung lenkte. Den Hauptgewinn des neuen höherwertigen Verkehrssystems hatten dabei die Städte und Länder an der atlantischen Küste. Demgegenüber fehlte den alten Handelsvölkern die erforderliche genügend bewegliche staatliche Organisation, welche die Sicherheit der Transporte über längere Strecken auf dem Kontinent hätte garantieren können. Ihre Sozialstruktur erstarrte im Reichtum. Zudem war das straffe Kolonialsystem der Spanier und der Portugiesen ausgesprochen fremdenfeindlich. Ulm, Venedig und alle anderen ehemals blühenden Städte an den alten Verkehrswegen erlebten einen starken Rückschlag. In England und Holland, nunmehr an den günstigsten Positionen des neu entstandenen Verkehrssystems der Welt, erwuchsen Seemächte, welche die Portugiesen und Spanier im Kolonialhandel immer stärker zurückdrängten und deren Vorherrschaft brachen. Der englische Aufstieg als Seemacht begann mit der Regentschaft der protestantischen S. Helander, F. Haslinger: Seeschiffahrt. In: HWdSt., a.a.O., S. 375. Fritz Rörig: Hansische Beiträge zur Deutschen Wirtschaftsgeschichte, Breslau 1928; ders.: Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Abhandlungen zur Stadt- und Hansegeschichte. Weimar 1959, S. 383, 542 ff., 638 ff. 114 115

4 Voiel; II/1

50

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

Königin Elisabeth in der Mitte des 16. Jahrhunderts, deren Vater Heinrich VIII. schon eine ansehnliche Zahl von Schiffen in Deutschland, Holland und Italien gekauft hatte. Unter Elisabeth fuhren englische Schiffe über den Atlantik und erkundeten die amerikanische Küste. Ihre Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in See- und Landkarten, geographischen Daten und Berichten, die von den Spaniern als Staatsgeheimnisse den anderen Nationen vorher nicht zugänglich gemacht worden waren. Schon machte sich auch außerhalb Spaniens und Portugals eine typisch merkantilistische Schiffahrts- und Handelspolitik bemerkbar, die später ihre Krönung in Cromwells Navigationsakte fand. Bereits 1490 verlangte England zunächst als Abwehrmittel gegen die .Venezianer, daß fremde Einfuhr auf englischen Schiffen durchgeführt werden müsse. Eine ähnliche Reaktion stellen wir zur ungefähr gleichen Zeit (Ende des 15. Jahrhunderts) bei Ludwig XL fest. Zunächst gegen den Willen der Städte erzwang er, daß alle von der Levante eingeführten Waren auf französischen Schiffen befördert wurden, den sog. "gallees de France". Doch schon 1 Jahr nach seiner Regierungszeit wurde auf Druck der Städte von Languedoc dieses den Handel blockierende Privileg aufgehoben. Auch Venedig verwehrte den europäischen Händlern den Zutritt zum Mittelmeer. Es gestattete aber dem deutschen Kaufmann den Handel zwischen Deutschland und Venedig. Gleiche Zielsetzung 116 beeinfl.ußte die hansische Politik in Norwegen gegenüber fremden Händlern. Diese weltpolitische Situation- Herrschafts- und Monopolansprüche, die nicht voll gesichert werden konnten, auf der einen Seite, der Wunsch, sich an dem fast von allein fließenden Reichtum zu beteiligen sowie die Chancen für Abenteurer, durch Schmuggel und Piraterie riesige Gewinne erzielen zu können, auf der anderen Seite- war in der geschichtlichen Entwicklung der Hochseeschiffahrt eine der wichtigsten Antriebskräfte zur Steigerung der Verkehrswertigkeit der Schiffe. Im Jahre 1563 führte der Freibeuter und Sklavenhändler John Hawkins, der später Schatzmeister der englischen Flotte wurde, den ersten Sklaventransport mit einem ehemals deutschen Schiff - mit Namen "Jesus von Lübeck"- von der Sierra Leone nach Haiti durch und verkaufte die von ihm eingefangenen Schwarzen an die Spanier in Hispaiiola zu verhältnismäßig hohen Preisen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der spanischen Flotte, die ihn gestellt hatte. Weitere Geschäfte dieser Art scheiterten daraufhin zunächst am Widerspruch des spanischen Königs. Die Gewinnchancen beim Sklavenhandel waren aber us Hierzu Fritz Rörig: Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Weimar 1959, s. 383.

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus

51

so groß, daß trotz aller Verbote ständig neue Versuche unternommen wurden. Die zunehmende Zahl von Sklavenhändlern hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie schnellere Schiffe bauten als die Kontrollmächte besaßen. Die so geschaffene Überlegenheit der Sklavenschiffe war wiederum Anlaß für die Verfolger, sich ihrerseits um noch weiterreichende Verbesserungen zu bemühen. Auch die holländischen Kaufleute bauten in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts ihre Handelsschiffahrt aus. Die holländische Seeschifffahrt entstand einmal aus der Kornschiffahrt auf der Ostsee, da die Getreideversorgung von Holland aus dem holländischen Boden zu gering war. Dazu kam der Heringsfang in der Zuider See und der Nordsee. Durch Seeleute, die in spanischen und portugiesischen Diensten gesegelt waren, erlangten sie Kartenmaterial und brachten die Schiffsbaukunst in der Zuidersee zu großer Blüte117 • Um 1600 befuhren sie alle Meere und intensivierten den Direkthandel mit dem Fernen Osten, nachdem ihnen Philipp II. die spanischen Häfen gesperrt hatte. 1602 wurden die unterdessen entstandenen zahlreichen Handelskontore, die einander erbitterte Konkurrenz machten, kraft Hoheitsakt zur holländisch-ostindischen Compagnie zusammengeschlossen. In vielen Seeschlachten im Indischen Ozean blieben die Holländer mit ihren "Fleuten" über die Spanier und Portugiesen siegreich. Die Fleute, ein schlanker dreimastiger holländischer Schiffstyp, der etwa ab 1600 gebaut wurde, hatte eine an der Wasserlinie aufbauchende Bordwand und eine von vorn nach hinten aufsteigende Decklinie. Die drei Masten waren im Vergleich zu früheren Schiffen dieser Größe höher, die Segel trapezförmig geschnitten und die Rahen wesentlich kürzer. Die Fleute war ein Rundgatschiff, die Zahl ihrer Besatzungsmitglieder im Vergleich zu anderen englischen Schiffen pro Tonne um zwei Drittel geringer 118• Um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren nahezu alle holländischen Großschiffer gleichzeitig Großkaufleute. Auch die Partenreederei war vertreten. Schon von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an begann sich aber die Reederei allmählich vom Handel zu lösen, weil die bisherige enge Verbindung der holländischen Schiffahrt mit dem eigenen Lande verlorenging - eine Entwicklung, die in anderen Ländern erheblich später erfolgte und die Organisation der Seeschiffahrt grundlegend änderte. Die holländische Schiffahrt war durch die Navigations117

Ernst Baasch: Holländische Wirtschaftsgeschichte, Jena 1927. G. K.

Anton: Studien zur Kolonialpolitik der Niederlande, in: Schmollers Jb. Bd. 30

(1906). 0. Pringsheim: Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichte der Vereinigten Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert, Staats- und Sozialwissenschaftliche Forschungen. Bd. 10, H. 3. Leipzig 1890. 118 Geoffrey Swinford Laird Clowes: Sailing Ships, 2 pts., London 1932-36; G. Joachim Leithäuser: Weltweite Seefahrt, S. 196 f .

••

52

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

akte Cromwells von 1651 erheblich getroffen und dazu gezwungen worden, freie Frachtfahrten außerhalb des eigenen Landes zu suchen. Die Bürgerschaft Londons besaß noch im 15. Jahrhundert nur vier Seeschiffe mit einer Tragfähigkeit von mehr als 120 t 119 • England 120 , das zwar die Fahrt Cabots 1497 nach Neufundland unterstützt hatte, war in den folgenden Generationen verhältnismäßig untätig geblieben, bis die Regierung sich etwa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zusehends darum bemühte, einen Seeweg aufzubauen, der den spanischen Einflußbereich umgehen sollte. Die Merchant Adventurers, Englands größte Kaufmannsgilde, die im 13. Jahrhundert entstand, von Heinrich VII. 1505 mit einem Freibrief als Korporation anerkannt worden war 121 und seit dem 15. Jahrhundert Vorrechte für den Tuchhandel mit Hamburg, Friesland und den Niederlanden besaß, drängte allmählich die Hanse aus dem britischen Handel zurück122 •

In der Schlacht von Sluys (1340), bei der übrigens zum erstenmal eine primitive Kanone eingesetzt worden war, wurden die Franzosen von den Engländern besiegt. England erhielt die Kontrolle über den Ärmelkanal. Seine endgültige seemännische Stärke erreichte England unter den Tudorkönigen. Die Geschichte der englischen Wirtschaft ist charakterisiert durch ein wechselvolles Zusammenwirken von Abenteurern, Kaufmannsgesellschaften, Siedlern und der Krone, dabei immer wieder besonders angereizt durch die drohende Übervölkerung des Mutterlandes und die wachsenden Chancen der in ihrer Verkehrswertigkeit sich immer günstiger entwickelnden Seeschiffahrt. Englische Schiffe begaben sich gern auf Kaperfahrt, um die mit Edelmetallen beladenen spanischen Galeonen auszurauben. Zu diesem Zweck wurde von englischen Schiffsbauern ein neuer Schiffstyp entwickelt, bei dem der Rumpf länger und schmäler war, das Schanzdeck und das Vorderkastell niedriger gebaut und der Tiefgang vergrößert waren. Die nunmehr höhere Takelung wurde dadurch verbessert, daß man das unhandliche Großsegel durch mehrere kleine Segel ersetzte123• 119 Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Nachdruck, Bd. 1, Berlin 1954, S. 307. 12o Lujo Brentano: Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, Jena 1927/29. The Cambridge History of the British Empire. 8 Bde. Cambridge 1929-1940. 121 Lujo Brentano: Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, Bd. II, Jena 1927, S. 140. 122 Die Monopolstellung wurde erst 1689 aufgehoben. Hierzu vergleiche E. E. Power und M. M. Postan: Studies in English trade in the 15th century, London 1933. 123 Geoffrey Swinford Laird Clowes: Sailing Ships, 2 pts., London 1932-36.

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus

53

Sir Francis Drake war ebenso wie Hawkins Sklavenhändler. Systematisch griff er spanische Schiffe an. 1572 plünderte er die spanische Stadt Nombre de Dios, 1586 zerstörte er die Städte Cartagena und Santo Domingo in Westindien. Dorthin war er im Jahre 1577 mit fünf Schiffen von Plymouth aus 124 aufgebrochen, um den sagenhaften Kontinent Terra australis zu erforschen und gegebenenfalls auszubeuten. Australien war bis dahin unbekannt, und man glaubte, die Magellanstraße trenne Südamerika von der Terra australis. Drake drang - ohne Besitz von Seekarten- in das Hoheitsgebiet der Weltmacht Spanien ein. Das Flaggschiff "Pelican" war ein Schiff von ca. 100 t, 26m lang, 7 m breit mit einer Raumtiefe von ca 3 m. Es trug einen Fockmast, einen Großmast und einen Besanmast. Drake durchsegelte die Magellanstraße, befuhr die amerikanische Westküste und flüchtete vor den Spaniern durch den Pazifik mit reicher Ladung, die er bei Überfällen auf Hafenstädte und andere Schiffe erbeutet hatte, über den Hafen von Ternate nach England zurück. Damit war eine neue Erdumsegelung geglückt, die drei Jahre in Anspruch genommen hatte. Auch in der Kriegsschiffahrt herrschte bis zum 16. Jahrhundert durchaus noch das Ruderschiff vor, das allerdings vielfach mit Hilfssegeln besetzt war. So war die Seeschlacht bei Lepanto 1571 noch eine Schlacht zwischen Galeeren, wohingegen in der Seeschlacht von 1588 die noch teilweise mit Rudern ausgerüstete spanische Armada durch Segelschiffe besiegt wurde. Zu dieser Schlacht kam es auf folgende Weise: Wiederholte Freibeuterfahrten und Überfälle auf spanische Besitzungen in Mittelamerika führten zu einem verstärkten Ausbau der spanischen Kriegsflotte "Armada" und zur Planung eines Seekriegs gegen England und anschließender Invasion. Philipp II., der Träger der Gegenreformation, sandte seine 130 Kriegsschiffe im Jahre 1588 aus, von denen sieben der mächtigsten jeweils über 1000 Tonnen groß waren. Die Flotte trug insgesamt 29 000 Mann. Im Kampf mit der englischen Kriegsflotte, die nur über 102 Schiffe verfügte, unterlag die Armada jedoch, was vor allem daran lag, daß die spanischen Kriegsschiffe weniger schnell und manövrierfähig als die englischen Galeonen waren. Hinzu kam, daß die Engländer Bogenschützen an Bord hatten, die unvergleichlich wirksamer zu operieren vermochten, als die Spanier mit ihren Arkebusen (schweren Pulvergewehren). Außerdem waren die englischen Schiffe in der Lage, Breitseiten abzufeuern, während die Spanier ihre Geschütze nach wie vor von den Kastellen an Bug und Heck her abfeuerten125 • Die 124 Sir Francis Drake (geb. ungefähr 1540, verstorben 1596 vor Portobello, Panama) war völkerrechtlich nichts anderes als ein Freibeuter. Seine Weltumsegelung geschah als Kriegsfahrt gegen die Spanier. Hierzu H. R. Wagner: Sir Francis Drake's voyage around the world, St. Francisco 1926. E. F. Bensan: Sir Francis Drake, London 1927. 125 J. A. Williamson: The Age of Drake, London 1938.

54

§ 3:

Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

endgültige und vollständige Niederlage der Armada wurde durch ihren Fluchtversuch um die Nordküste Englands herum besiegelt. In heftigen Stürmen zerschellten weitere Schiffe. Mit dieser Seeschlacht hatte auch die alte Eutertechnik bei der Seekriegsführung ihre Bedeutung verloren. Damit zeichnete sich das Ende der spanischen Seeherrschaft ab. Spanien war nicht mehr imstande, die aufständischen niederländischen Provinzen niederzuhalten. 1639 siegten die Holländer über die spanische Flotte in der Schlacht bei Durus. Zu diesem Zeitpunkt tobte bereits der Krieg zwischen Engländern und Holländern, der mit kurzen Unterbrechungen über 20 Jahre dauerte. Holland verlor dabei an Einfluß, Frankreich trat als neue Seemacht auf, wo es Colbert war, der eine Handelsflotte von 4000 Schiffen schuf. Es gründete seine ersten Niederlassungen in Indien, Stützpunkte in Guayana und Madagaskar und die Kolonie Neu-Frankreich in Nordamerika. Der Krieg gegen England, beendet durch den Frieden von Utrecht (1713), ließ England Acadia (Kanada) und Neufundland, aber auch Gibraltar und Menorca gewinnen. Von nun an waren die Engländer die Herren zur See, und sie konnten gleichzeitig das größte Kolonialreich der Welt aufbauen. Allmählich wurde etwas zur Steigerung der Sicherheit auf dem Meer getan. Nach Jahrhunderten kommt 1551 wieder eine Kunde über die Errichtung von Leuchttürmen (St. Elmo auf Malta). Kurz darauf bauten die Dänen Leuchttürme auf Skagen und Anholt (1564) und England Seeleuchten zu Lowestoft (1609) und Dungness (1615), Frankreich (1611) den Tour de Cordouan an der Südseite der Girondemündung, nachdem seit 1225, 1226 und 1300 jahrhundertelang nichts mehr auf diesem Gebiet unternommen worden war. Im 16. und 17. Jahrhundert läßt sich dort, wo freie Seefahrt möglich war, eine tiefgreifende Veränderung in der bisherigen Organisation der Seeschiffahrt feststellen. In jenen Relationen, in denen eine größere Sicherheit in der Seeschiffahrt erreichbar war, kam es bei Vergrößerung der Schiffe und wachsender Zahl von Reisen zu jener ökonomischen Datenkonstellation, die durch sinkende Grenzkostenverläufe charakterisiert war. Die Folge war, wie immer in derartigen Situationen, daß hier die "Reedereien" an Umfang zunahmen. Gleichzeitig steigerte sich auch der Umfang des internationalen Handels. Nunmehr wurde es üblich, daß der geschäftsführende Reeder nicht mehr persönlich an der Reise teilnahm. An seiner Stelle übernahm ein "capitano" die nautische Leitung des Schiffes und gleichzeitig die Funktionen des Reeders auf dem Schiff sowie dessen Bezeichnung "patronus". Dabei wurde der Umfang der rechtlichen Vollmachten des patronus verringert. So verlangten verschiedene Gesetze, daß beim Abschluß von Frachtverträgen am Sitze der Reederei die Zustimmung des Reeders

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus

55

eingeholt werde. Auch wurde die "Verbodmung" 126 durch einen patronus beschränkt127 • Die Grundlage des Seerechts im Mittelmeer - das Consolat del Mar - wurde in dieser Zeit jedoch nur verhältnismäßig geringfügig verändert und verbessert. Umso entwicklungsfähiger zeigte sich aber die Ausgestaltung des Seerechts im nordischen Raum, niedergelegt in Statuarrechten der Hansestädte und in Sprüchen der Seegerichte. Die Reederei trat meist in Form der Parten-Reederei auf. Sie bildete sich vor allem in der kürzeren Seefahrt der Nord- und Ostsee heraus und bedeutete die Aufteilung einer Ersatzsumme für das etwa verlorengehende Schiff und seine Ladung in kleine Anteile (partes), die von einer größeren Zahl Beteiligter übernommen wurden128• Die Ursache für die Herausbildung dieser Organisationsform lag in dem damals schwerwiegenden Unsicherheitsfaktor des Seeverkehrs. Der Großhändler des Mittelalters hätte allein das große Risiko nie tragen können, welches die Versendung und Bestellung von Gütern mit sich brachte, sei es durch Verderben, böswillige Zerstörung, Veruntreuung, Kriegsverlust, Schiffbruch und Ladungsverlust Die Entwicklung drängte deshalb zu einer Organisationsform, die diese Risiken optimal verteilte. Nach italienischem Vorbild schuf man die Einrichtung von Seedarlehen - eine Vorform der Seeversicherung - und schützte sich auf diese Art und Weise vor Verlusten. Großhandel und Schiffahrt fanden ähnliche Wege einer Gesellschaftsunternehmung. Der Gesellschafter suchte das erforderliche Kapital, welches er zum Handeln benötigte, von verschiedenen Personen zusammen, die bereit waren, Risiken zu übernehmen, wobei der Teilnehmerkreis unbegrenzt war. Teilnehmer an derartigen Gelegenheitsgesellschaften pflegten Patrizier, Händler, Ritter, Gelehrte oder Handwerksmeister zu sein. Es fanden sich aber auch Bauern, Knechte und Dienstmägde. 126 Unter Bodmerei, einem der Seefahrt eigentümlichen Darlehensgeschäft (englisch "bottomry") versteht man die Verpfändung einer Schiffsladung gegen ein Darlehen. In der Entwicklung der Bodmerei ging es darum, daß der Schiffer für den Reeder ein Darlehen aufnehmen darf, für das nur Schiff, Fracht und Ladung, nicht aber das sonstige Vermögen des Reeders haften. Ausgestellt wird dabei der Bodmereibrief, der als gekorenes Orderpapier auch an Order gestellt werden kann. Vgl. hierzu: Die Entwicklung von "der Ehrsamen Hansestädte Schiffsordnung und Seerecht" 1591 LVII, den Hanserezessen VI, 545 von 1418 über das preußische ALR II 8 § 2359 zum § 679 ff. HGB. 127 Paul Rehme: Die geschichtliche Entwicklung der Haftung des Reeders, Stuttgart 1891, S. 59. Diese Beschränkungen wurden im Laufe der Zeit gelockert. Die Verfrachtung wurde nur dann von der Genehmigung des Reeders abhängig gemacht, wenn für den Schiffer die Möglichkeit bestand, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Soweit dies nicht möglich war, bedurfte es der Zustimmung seites des "Schiffsrates". 128 Gelegentlich kam es auch vor, daß in der Partenreederei ein Kapitän alle Parten eines Schiffes erwarb. Damit war er gleichzeitig Schiffer und Reeder. Trotzdem gab es noch kein eigenes Schiffahrtsgewerbe.

56

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

1438 beteiligten sich in Danzig beispielsweise neben den privaten Einlegern auch: Das St. Brigittenkloster, die St. Marienkirche, das Hl.Geist-Hospital und die Älterleute des St. Johannisaltars an den stark spekulativen, gefahrvollen Fahrten nach der Westküste Frankreichs 129 • In der Schiffahrt wirkten bei diesem Glücksspiel neben den Schiffern die Schiffsbesatzung, die Handlungsdiener und Knechte der Kaufleute, die Wieger, oft sogar auch Messer, Kranführer und Transportarbeiter zusammen. Größte und kleinste Beträge standen sich in diesen Gesellschaftsformen gegenüber. Nach Abwicklung des Geschäftes erhielt der Einleger seine Einlage wieder zurück. Der Gewinn aus dieser Transaktion wurde unter die Gesellschafter verteilt. Oftmals vervielfachte sich dabei das eingelegte Kapital. Im Falle des Fehlschlags mußte nach dem Prinzip der vollen Risikobeteiligung mit dem Verlust der in die Gesellschaft eingelegten Mittel gerechnet werden. Bedeutsam wurde weiter für die folgende Zeit die Ausbildung des Konnossements. Ferner wurde das römisch-rechtliche Institut des receptum nautarum übernommen. Damit wurde die Haftung des Reeders aus dem durch den Schiffer abgeschlossenen Frachtvertrag geregelt. Das Konnossement war zunächst nur ein Empfangsbekenntnis und Auslieferungsversprechen des Schiffers, den es darüber hinaus unmittelbar haftpflichtig machte. War eine besondere Klausel eingefügt, so war auch der Reeder beschränkt haftbar. Verschiedene Gesetze, die im einzelnen allerdings weitgehende Modifikationen zeigten, bestimmten, daß nach mehreren ergebnislosen Vollstreckungen in das Vermögen des Schiffers auch der Reeder mit seinem Schiff haftbar gemacht werden konnte130• Im 15. und 16. Jahrhundert änderte sich auch die Stellung der Schiffsmannschaft. Ursprünglich waren die Schiffsleute selbst "Ladungsinteressenten", brauchten jedoch für die mitgeführte Fracht kein Frachtgeld zu entrichten. Ihr Entgelt bestand vielmehr darin, daß sie Schiffsdienste leisteten131 • In der nun folgenden Zeit wird es üblich, die Schiffsmannschaft zu bezahlen. Sie erhielt für ihre Arbeit Lohn. An die Stelle eines Gesellschaftsvertrages zwischen Schiffer und Mannschaft trat der Dienstvertrag, wobei für Verschulden der Schiffsbesatzung der Schiffer, erst sehr viel später der Reeder, haftete. Der Schiffsmannschaft war in Erinnerung an das alte Recht noch lange Zeit die Erlaubnis gegeben, frachtfrei eigene Güter mitzuführen und zu verkaufen. Das Wisby'sche Recht hat 129 Heinrich Bechtel: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands; von der Vorzeit bis zum Ende des Mittelalters, 2. Auflage, München 1951, S. 333 ff. 1ao z. B. Landrecht des Herzogtums Preußen von 1620. Paul Rehme: Die geschichtliche Entwicklung der Haftung des Reeders, Stuttgart 1891. 1a1 Vgl. z. B. Röles des Jugements d'Oleron.

2. Die Seeschifiahrt im System des Merkantilismus

57

diesen Fall ausdrücklich geregelt, indem es vorsah, daß für den Fall, daß der Schiffer bei Verlust der Ladung infolge Schiffsbruchs nur die Hälfte der Fracht erhielte, auch die Schiffsleute nur ihre halbe Heuer empfangen sollten. Die Rechtsstellung des Schiffers erfuhr allmählich auch im Hinblick auf Kreditgeschäfte eine Erweiterung. Während ihm bisher der Abschluß von Kreditgeschäften nur in einer Notlage erlaubt war, wurde vom 16. Jahrhundert an für den Schiffer in der Fremde die Verbodmung des Schiffes grundsätzlich zulässig. War durch die Bodmerei nicht genügend dringend erforderliches Geld zu erhalten, dann durfte der Schiffer Kaufmannsgüter verkaufen oder Schiffsgerät verpfänden. Der Reeder haftete dem Gläubiger in der Regel nur mit dem verbodmeten Gegenstand132. Soweit in dieser Periode private Schiffahrt möglich war, stützte sie sich zur Finanzierung und zur Risikoabdeckung auf die Rechtsinstitution des Seedarlehens, das immer mehr versicherungsähnliche Züge annahm. Im Mittelmeer hielt sich insbesondere das von den Römern entwickelte "foenus nauticum" als Darlehen, dessen Rückzahlung nur erfolgte, wenn das Schiff wirklich seinen Bestimmungshafen erreicht hatte. In der Regel wurde jedoch zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ausschließlich die Fracht, nicht das Schiff selbst versichert. Die Prämie richtete sich nur selten nach der Beschaffenheit des Schiffes, sondern vielmehr nach der politischen Lage, der Länge der Reisen, der Jahreszeit, sowie den klimatischen und geographischen Verhältnissen. Im Merkantilismus traten aber als besonders charakteristische Organisationsformen des Seehandels besondere Gesellschaftsformen, die Handelskompanien hervor, die die Aufgabe des Kolonialhandels erhielten und durch ihr Wirken für lange Zeit der Seefahrt in weiten Teilen der Welt ihr Gepräge gaben. Eine der wichtigsten Handelsgesellschaften in den Niederlanden war die Holländisch-Ostindische Kompanie (gegründet 1602), die sich einen Welt-Absatzbereich aufbauen konnte. Von den Generalstaaten war ihr außer den Hoheitsrechten das Alleinrecht des Handels mit allen Ländern auf allen Meeren, vom Kap der Guten Hoffnung bis zum Kap Hoorn, verliehen worden. 1621 kam die Holländisch-Westindische Kompanie hinzu. In England, wo sich die Gesellschaft der Merchant Adventurers nach Anfängen im 14. Jahrhundert späterhin zur "Joint Stock Company" weiterentwickelte, die die Geschäfte gemeinsam führten, ragten die privilegierte Ostindische Handelskompanie, die für den Handel mit Indien 1599 gegründet worden war, die privilegierte Hudsonbay- Kornt32 Paul Rehme: Die geschichtliche Entwicklung der Haftung des Reeders, Stuttgart 1891.

58

§ 3: Die Entwicklung der Seeschiffahrt in der beginnenden Neuzeit

panie (1670), die Britisch-Afrikanische Handelskompanie (1662) 133 und die privilegierte Südseekompanie (1711) hervor. Preußen folgte mit der Brandenburgisch-Afrikan. Kompanie (1682 bis 1720), der Asiatischen Kompanie (1745; 1750-1763)1 33 a und der Levantinischen Handelskompanie (1763) 133b. Mit dem kühnen Werk Laws wurde in Frankreich 1717 auch die Compagnie d'Occident geschaffen, in der die Compagnie des Indes Orientales aufging. Von dem Zusammenbruch seines Systems wurde auch die Gesellschaft betroffen. Nach ihrer Neugründung von 1722/23 erweiterte sie das französische Herrschaftsgebiet in Indien. Ihr Leiter Dupleix war gerade bestrebt - ohne systematischen Plan - ein französisches Kolonialreich aufzubauen, als er 1754 gestürzt wurde. Die Gesellschaft rüstete bis etwa 1760 jährlich ungefähr 30 Schiffe aus, die Kaffee aus Mokka, Baumwoll- und Seidenwaren, Musseline, Tee aus Indien und China heranschafften. 1769 wurde das ausschließliche Vorrecht der Gesellschaft in Indien beseitigt. Kurz vor der Französischen Revolution wurde 1785 eine weitere Indische Gesellschaft ohne Souveränitätsrechte gegründet, die jedoch wegen ihrer Spekulation der Auflösung durch die Constituante verfieP 3 4. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Handelskompanien der Seeschiffahrt in Verfolg der merkantilistischen Politik mit Monopolen und Privilegien ausgestattet und mit vielerlei Unterstützungen versehen. Sie erhielten zum Teil das Recht zur Bewaffnung der Schiffe, der Anlegung von Forts, der Kriegsführung, das Recht, Verträge und Bündnisse zu schließen, sowie das Münzregal und eigene Gerichtsbarkeit. Soweit den Handelskompanien die Rechtsstellung einer "privilegierten Gesellschaft" verliehen wurde, wurden die Reisen in der Anfangszeit zwar gemeinsam unternommen, jedes Mitglied führte aber seine Geschäfte auf eigene Rechnung durch. Etwa vom Ende des 16. Jahrhunderts an bildete sich ein eigenes Gesellschaftskapital heraus135 • Die Holländisch-Ostindische Companie 136 beispielsweise erhielt ein zeitlich begrenztes Privileg für den Handel mit Ostindien. Mit der Ausbreitung seines Handels und im Kampf gegen die aufstrebenden Engländer ging Holland somit den Weg vom Freihandel zum Monopolprin~

:

C. P. Lucas, A Historical Geography of the British Colonies, 2. Auf!., Vol. III, Oxford 1900, S. 82. 133a bzw. 11. Sept. 1750 M. v. Koschitzky: Deutsche Colonialgeschichte, Leipzig 1888, 1. Teil, S. 55 ff. 133b Eduard Sieber: Kolonialgeschichte der Neuzeit. Die Epochen der europäischen Ausbreitung über die Erde, Bern 1949. Eli F. Heckscher: Der Merkantilismus. 2 Bde. Jena 1932 I, 326, 333 f., 417 ff. 134 Henri See: Französische Wirtschaftsgeschichte, 1 Bd. Jena 1930, S. 302 ff. P. Cultru: Dupleix. Pariser Diss. 1904. J. Charpentier: Dupleix et l'empire des Indes, Tours 1937. 133

2. Die Seeschiffahrt im System des Merkantilismus

59

zip und sperrte fremden Schiffen die Zufahrt zu seinen Häfen. 1602 entstand die Faktorei auf Bantam, nach 1605 wurden die Molukken besetzt und 1606 nach heftigen Kämpfen Malakka in Besitz genommen. 1611 erfolgte die Gründung von Batavia auf Java. Schließlich wurden die Spanier und Portugiesen aus Hinterindien vertrieben. Auch in Amerika setzte die holländische Expansion ein. So entstand im Jahre 1626 die holländische Kolonie Neu-Amsterdam, das spätere New York. In Cura

p.

§"

&&

tJj

"'~....

>;

....

"' g. Si ll>

Cl> Cl>

Ul

>;

Cl>

p.

I

~

t.:rJ

n;·

tj

CJ1

C)

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum

127

günstigungen bei der Abschreibung, Abwrackprämien und andere Vergünstigungen werden in Griechenland, Italien, Schweden, Norwegen, Großbritannien, Dänemark gewährt, um nur einige Beispiele zu nennen. Argentinien, Ekuador, Kolumbien, Uruguay, Venezuela, Guatemala und abgeschwächt einige andere Staaten bestimmen auf dem Weg von Gesetzen oder Verordnungen, daß fiskalisch geförderte oder im Zoll begünstigte Ladungen wie Regierungsladungen mit Schiffen der eigenen Flagge befördert werden müssen. Portugal, die Vereinigte Arabische Republik, Brasilien, Chile, Peru und Indonesien haben ein ganzes System von Restriktionen und andererseits von Begünstigungen, um zu erreichen, daß für Transporte die eigene Flotte herangezogen wird. Sogar die USA lenken 50 vH der staatlich finanzierten Ladungen auf eigene Schiffe.

Der Stand der Welthandelsflotte am 1. März 1963a) (einschließlich der Tankerflotte)

Nr.

Flaggen

1 2 3 4 5 6 7 8 9

USA ............ Großbritannien .. Norwegen ....... Liberia .......... Japan ........... Griechenland .... Italien ........... Niederlande ..... Bundesrepublik Deutschland ... Mitteldeutschland (DDR) .... Frankreich ...... UdSSR .......... Schweden ....... Panama ......... Dänemark ....... Spanien ......... Brasilien ........ Argentinien ...... Indien ...........

9a 10 11 12 13 14 15 16 17

18

Zahl der Schiffe 2 631 2847 1 635 855 2 451 915 969 1397

I

BRT

NRT

tdw

21 167 800 20639887 12 939 338 10 812 105 8 794 618 6 765 661 5 387956 5109 700

12 996830 11 568411 7 443209 6 788250 5 092 648 4110442 3113 348 2901 798

30 331634 27 223358 19 887 984 17 501420 13 022 563 10 057 578 7 375 905 6 865 188

1542

4 886 651

2820 580

7 158958

97 676 1 206 782 566 515 568 320 212 187

344 901 4808330 4 779223 4121 577 3 893 207 2 333003 1 765 039 1183093 1 131 755 1050 292

183438 2656848 2 535 706 2 286 037 2 373 002 1 347 108 1 038 794 687 494 668 660 604 337

473 118 6 298450 6461975 5982845 5 927 490 3 373 927 2 373 025 1 704 840 1 551 395 1 499 404

a) Im strengen Sinne, d. h. nur seegehende Fracht- und/oder Passagierschiffe und Tonnage für kommerzielle Zwecke (einseht. der U.S. "Reserve Flotte", ca. 12 Mill. BRT). Quelle: Gustav Adolf Theet, The World Shipping Scene, München 1963, S. 147 u. 149.

128

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

Einige Passagierlinien zur Beförderung von Passagieren, Post und Gütern 1963

Name des Schiffes

I

Reederei

Queen Elizabeth Cunard S. S. Co. France ·········· C.G.T. U.S.Lines United States

....

Canberra

........

Oriana ·········· Rotterdam ....... Windsor Castle .. Leonardo da Vinci Bremen ......... Bayernstein ...... Santa Rita ......

BRT

Linie

83673 66348 51988

Southampton-New York Le Havre-New York Bremerhaven-New York Southampton-AustralienFerner Ostena) Southampton-AustralienFerner Ostena) Rotterdam-New York Southampton-Süd-Afrika Genua-New York Bremerhaven-New York Bremen-Ferner Osten Harnburg-La Plata

P.&O.

45270

OrientL. N.A.S.M. U.-C.L. Italia N.D.L. N.D.L. H.S.D.G.

41923 38645 37640 33340 32336 8999 8779

a) Und andere sowie um die Welt. Quelle: Gustav Adolf Theet, The World Shipping Scene, München 1963, S. 94/95.

Betrachten wir noch einmal kurz die Situation in einigen der wichtigsten Schiffahrtsländer. Die USA nehmen nach wie vor die erste Stelle in der Rangfolge der Welthandelsflotte ein. Von ihrer Gesamttonnage von 21,02 Mill. BRT liegen jedoch 12,4 Mill. BRT in Reserve 233 , vorzugsweise jenes oben234 schon erwähnte Relikt aus der großen staatlichen Neubautätigkeit in der Zeit des zweiten Weltkriegs. Unter den Perioden hoher Frachtraumnot, beispielsweise dem in weltpolitischen Krisensituationen, wie der Suezkrise und der Koreakrise, folgenden Überangebot an Schiffsraum litt seit dem zweiten Weltkrieg die amerikanische Handelsflotte ganz besonders. Seit Jahren werden kaum noch neue Schiffe gebaut, aber durchschnittlich etwa 30 Schiffe pro Jahr aus dem aktiven Dienst zurückgezogen. So zahlt die amerikanische Regierung nach einem Kongreßbeschluß des Jahres 1936 den Reedern Unterstützung, um die amerikanische Handelsflotte konkurrenzfähig zu halten; dafür verpflichten sich die Reedereien, ihren Schiffsbestand alle 20-25 Jahre zu erneuern, regelmäßig bestimmte Routen zu befahren und in einem Notfall ihre Schiffe sofort der Regierung zur Verfügung zu stellen. Trotzdem ist der Wettbewerb vor allem mit den billigen Flaggen nur sehr schwer durchzuhalten. Um die nordamerikanische Handelsschiffahrt überhaupt "lebensfähig zu erhalten", ist in den USA eine Behörde von 3 000 Angestellten ausschließlich damit beschäftigt, Subventionen an die Schiffahrt zu verteilen. 233 234

Zahlen aus Lloyd's Statistical Tables 1963. Vgl. S. 122.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum

129

Die Situation in der Handelsschiffahrt der USA ist durch folgende Tatbestände charakterisiert: Trotz ihres späteren Aufschwungs blieb die US-amerikanische Handelsflotte in ihrem Umfang zunächst hinter der industriellen Entwicklung, die dieses Land in den folgenden Jahren nahm, zurück, während beispielsweise in Japan das Wachsen der Handelsflotte der industriellen Entwicklung vorausging. 1953 beförderten 1 212 Schiffe im Privatbesitz unter US-Flagge etwa 36 vH der gesamten Aus- und Einfuhr des Landes. Im ersten Halbjahr 1963 ging die Zahl der amerikanischen Schiffe im Privatbesitz auf 822 zurück, die nur noch 9 vH der amerikanischen Aus- und Einfuhr beförderten. In Denkschriften amerikanischer Reeder wird auf die ungünstige Kostensituation hingewiesen, da die amerikanischen Seeleute-Gewerkschaften für alle unter dem Sternenbanner fahrenden Schiffe Heuer- und Arbeitsbedingungen erzwungen haben, die für den Reeder im Wettbewerb mit Schiffen aus den "billigen Ländern" außerordentlich ungünstig sind. Die Grundheuer des amerikanischen Vollmatrosen betrug (Juni 1963) 1570 DM je Monat, während der Vollmatrose in Japan 280 DM, in Großbritannien 460 DM, auf italienischen Schiffen rd. 276 DM und auf deutschen Schiffen rd. 346 DM erhält. Aus diesem Grund lassen viele Reeder ihre Schiffe unter billigen Flaggen fahren, weil sie auf diese Weise "billigere" ausländische Seeleute anheuern können. An zweiter Stelle der Welthandelsflotte steht Großbritannien235 , das noch heute die größte Handelsflotte der Welt auf Fahrt hat. Norwegen überholte im Jahre 1962 Liberia und steht nun an dritter Stelle. Während sich die Welttonnage von 1939 bis 1962 mehr als verdoppelte, stieg die Gesamttonnage der deutschen Flotte nur um knapp 9 vH. Die Entwicklung der Stellung Deutschlands in der Weltschiffahrt geht aus der folgenden Tabelle hervor. Deutschlands Stellung in der Weltschiffabrt von 1914 bis 1963 1914 1939 1950 1962 1963 Welthandelsflotte (Mill. BRT)

Trockenfrachter ............ Tanker Insgesamt .................. ••••••••••

0

•••••••••

-

-

49,1

Deutsche Handelsfl. (MilZ. BRT)

Trockenfrachter ............ Tanker Insgesamt ................. ••••••••

0

•••••

0

•••••

Anteil der deutschen Handelsflotte an der Welthandeisflotte ••••

2as

0

•••••••••

0

-

5,5

11,2%

58,0 11,4 69,4

67,7 16,9 84,6

94,7 45,3 140,0

0,5

98,74 47,12 145,86

4,2 0,3 4,5

-

0,5

4,2 0,7 4,9

4,4 0,8 5,2

6,5%

0,6%

3,5%

3,6%

Über die Entwicklung der britischen Tonnage während der letzten

60 Jahre: S. G. Sturmey, British shipping and world competition, London 1962. 9 Voigt llil

130

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

Bestand der Seeftsdlereifahrzeuge in Deutschlanda) 1928 1939 1951 1962 656 808 831 841 a) Ab 1951 nur BRD. QueUen: Stat. Handbuch von Deutschland, München 1949, S. 359, Stat. Jahrbuch f. die BRD 1953, S. 372 und 1964, S. 367.

Beförderungsleistungen der deutschen Handelsflotte (in 1000 t)

Jahr

Gesamtleistung

davon KüstenSchiffertonnage

1946 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959

1,020 12,035 21,456 27,964 34,120 39,432 49,075 58,003 62,037 64,011 68,526

0,763 3,083 4,427 4,786 5,205 5,252 7,063 8,146 9,109 10,378 10,747

QueUe: Verband Deutscher Reeder und Verband Deutscher Küstenschifl'er.

Ab 1960 wurden die Beförderungsleistungen vom Bundesverkehrsministerium berechnet. Sie sind mit den vorherigen Ergebnissen nicht vergleichbar. Die Küstenschiffahrtsleistungen wurden in die Beförderungsleistungen einbezogen. Beförderungsleistungen (in 1000 t) 1960 ..••..................... 60 410 61062 1961 1962 63 845 1963 66 840

Personalbestand der deutsdien Handelsflotte 1. 9. 1939 31. 12. 1949 31. 12. 1955 31. 12. 1958 31. 12. 1960 31. 12. 1962

.•..... rd. . . . . . . ••. . .......... .......... ......••.. . . . . . . . •. .

56 000 Seeleute 7 604 Seeleute 32 282 Seeleute 44 452 Seeleute 47 603 Seeleute 45 401 Seeleute

Unter den 47 603 Seeleuten Ende 1960 befanden sich: 3088 Kapitäne 4150 nautische Schiffsoffiziere 4669 technische Schiffsoffiziere QueUe: Bundesverkehrsm1n1ster1um, Abt. Seeverkehr.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum 131 Die Spitze der Bulkcarrierflotte wird von Norwegen gehalten, das 171 Einheiten mit 3,4 Mill. tdw besitzt, darunter 34 Erzfrachter mit 773 000 tdw. Auf den nächsten Plätzen folgen Liberia und England. Erstaunlich ist, wie wenig sich auf dem Gebiet des Schiffsbaues der Bulkcarrier die Frachtenflaute seit 1957 bemerkbar gemacht hat. Als Folge des Zwanges, die Überlegenheit großer Schiffseinheiten auszunutzen, aber auch als Folge der weiteren Konzentration wirtschaftlicher Macht erhöhte sich vor allem die Tragfähigkeit der Schiffe erheblich. Die vor allem in Teilen der Trampfahrt nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Tendenz zum Bau größerer Schiffe und neuer Spezialschiffe, wie beispielsweise die sogenannten Ore- und Bulkcarrier in der trockenen Massengutfahrt, vermochte mit ihren niedrigen variablen Kosten das Schiffsangebot erheblich über die Nachfrage nach Schiffsraum hinaus zu vergrößern. Diese Entwicklung erzwang eine erhebliche Strukturänderung der Trampreedereien. Für kleine Trampreeder bedeutete dies vor allem dann eine schwer zu bewältigende Konkurrenzsituation, wenn die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten der bisherigen Schiffstypen eine volle Abschreibung noch nicht erlaubt hatten. Die Küstenfahrt dagegen ist eine Fahrt von kleinen Schiffen geblieben. Der größte Teil der Motorsegler und Küstenmotorschiffe in der nordeuropäischen und westeuropäischen Kleinküstenfahrt, deren geschichtliche Entwicklung wir noch zeigen müssen, hat nur eine Größe zwischen 90 und 350 BRT. Auch die Fahrzeuge der sogenannten großen Küstenfahrt überschreiten nur selten die Grenze von 3000 BRT. In der Hochseeschiffahrt, wo wir zudem in einem erneuten strukturellen Umbruch stehen, ist die Schiffsgröße seit dem Übergang zum Stahlschiff jedoch immer wieder beträchtlich gestiegen. Im Schiffsantrieb setzte sich inzwischen die Ölfeuerung weiter durch. In einigen Ländern der Welt nimmt nunmehr die Motorschiffstonnage fast den gesamten Bestand der Handelsflotte ein (z. B. Schweden, Dänemark). Die Handelsflotte der Bundesrepublik Deutschland, die wir nochmals genauer betrachten wollen, hat mit 5,28 Mill. BRT und 2682 Schiffen über 100 BRT (31. 7. 1963) die alte Stellung der Handelsflotte des Deutschen Reichs bei weitem nicht wieder erreichen können und steht heute an zehnter Stelle der Weltrangliste. Die deutsche Handelsflotte setzte sich zu diesem Zeitpunkt zusammen aus: 2427 Frachtern ........ . 96Tankern ......... . 159 Fahrgastschiffen .. .

mit 4,370 Mill. BRT mit rd. 0,768 Mill. BRT und 0,145 Mill. BRT mit

Nur acht Einheiten der deutschen Handelsflotte waren 1962 größer als 30 000 BRT. Der Zahl nach waren die meisten Schiffe der deutschen Handelsflotte sehr klein, nämlich 1245 Einheiten mit zusammen s•

132

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

372 290 BRT, d. h. also Schiffe unter 500 BRT. Gemessen an der Tonnage überwog der Typ der deutschen Schiffe zwischen 6000 und 8000 t. Deutschland hat heute noch 520 Schiffe, die älter als 25 Jahre sind, davon 422 kleiner als 500 BRT. 1317 Schiffe wurden vor weniger als 10 Jahren gebaut. Das Durchschnittsalter der deutschen Handelsflotte beträgt z. Z. bezogen auf die Schiffseinheit 9 Jahre, bezogen auf die Bruttoregistertonne 8 Jahre. Im Vergleich zu anderen Schiffahrtsländern ist das als ausgesprochen günstig zu beurteilen. Nur noch 0,2 vH (Stand April 1964) der deutschen Tonnage über 100 t entfallen auf Schiffe, die von Dampfmaschinen mit Kohlenfeuerung angetrieben werden. Unter deutscher Flagge fahren 28 Massengutfrachter, womit die Bulkcarrierflotte der Bundesrepublik unter allen Schiffahrtsnationen den neunten Platz einnimmt236 • Diese Entwicklung der deutschen Handelsflotte läßt sich nur vollständig bewerten, wenn man ihr die "Seetransportbilanz"-Einnahmen aus Seetransporten deutscher Schiffe und Ausgaben für Seetransporte durch Schiffe fremder Flaggen - gegenüberstellt. Seit Jahren ist die deutsche Seetransportbilanz negativ. Im Jahre 1961 wurden beispielsweise an Seefrachten 1887 Mill. DM 237 eingenommen, gezahlt dagegen 2 528 Mill. DM. Die deutsche Handelsflotte war noch nicht in der Lage, der Entwicklung des deutschen Außenhandels zu folgen, eine Folge der dirigistischen und diskriminierenden Maßnahmen anderer Länder (besonders der Entwicklungsländer). Nehmen wir ein Beispiel: Die brasilianische Staatsreederei war jahrelang in der Lage zu verlangen, daß 80 vH des brasilianischen Imports aus Deutschland gemäß Regierungsvorschrift von brasilianischen Schiffen transportiert werde. Werfen wir einen Blick auf den anderen Teil Deutschlands, die Deutsche Demokratische Republik. Die 1952 gegründete VEB-Deutsche Seereederei hat die Aufgabe, bis Ende 1965 die Seeschiffahrt der DDR so zu organisieren, daß Handelsschiffe aus dem westlichen Ausland nicht mehr gechartert zu werden brauchen. 1963 wurde der Seeverkehr in der DDR zu mehr als 50 vH durch westliche Charterschiffe bewältigt. 236 Insgesamt (Stand vom 1. 7. 1963) 583 000 tdw, darunter 8 Erzfrachter mit zusammen 165 000 tdw. 237 Die Lage der deutschen Seeschiffahrt, Denkschrift des Verbandes Deutscher Reeder, Harnburg 1963, S. 9. Besonders groß ist das Mißverhältnis zwischen dem Frachtanteil deutscher und ausländischer Reedereien auf dem Gebiet des Mineralölimports in die Bundesrepublik. Von den im Jahre 1963 über die deutschen Seehäfen importierten 34,6 Mill. t Erdöl wurden nur 14 vH auf deutschen Tankern transportiert. Wenn man noch berücksichtigt, daß etwa 75 vH der deutschen Tankertonnage in den Werkreedereien der internationalen Mineralölkonzerne betrieben wird, sinkt der Anteil der deutschen Privatreeder an dem Mineralöltransport in deutsche Häfen auf etwa 3,5 vH.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum

133

Die eigene Flotte der VEB-Deutsche Seereederei Rostock umfaßte im Februar 1964 rd. 100 Einheiten mit zusammen 600 000 tdw, 12 Hochseefrachter der Friedensklasse (10 070 tdw), 6 Massengutfrachter (11 200 tdw), 11 Tanker. Außer der Trampfahrt werden Schiffseinheiten zur Zeit in 11 Liniendiensten eingesetzt, 5 davon werden als Gemeinschaftsdienste mit der Sowjetunion, Finnland, der Vereinigten Arabischen Republik sowie im Rahmen der Liniendienste Uni-Africa und Cubaica betrieben. Die sowjetische Handelsschiffahrt nahm noch im Jahre 1957 den zwölften Platz in der Welttonnage ein. Bis zum Jahre 1963 schob sie sich bereits auf den achten Platz vor. Beförderungsleistungen im Güterverkehr der Seeschiffahrt der UdSSR

Jahr 1913b) 1928 1940 1950

1960

1961

Mill. t

Mrd. tkma)

13,9 8,0 31,2 33,7 75,9 78,5

19,9 9,3 23,8 39,7 131,5 159,1

a) Beförderungsleistungen und Beförderungsmengen Im Seeverkehr des Ministeriums der Hochseetlotte. Am Seeverkehr sind außerdem Betriebe der Fischindustrie und der Buntmetallurgie beteiligt. Ihre Schiffe stehen nicht der allgemeinen Nutzung zur Verfügung. Die Beförderungsleistungen und Beförderungsmengen sind gering. Sie betrugen 1956 1,2 Mrd. Tonnenmeilen bzw. 2,8 Mlll. Tonnen. b) In den Landesgrenzen vor dem 17. September 1939. Que!!e: Johannes Friedrich Tismer: Die Transportentwicklung Im Industrialisierungsprozeß der Sowjetunion. Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, Wirtschaftswlssenschaftliche Veröffentlichungen, Bd. 19, Berlln 1963, Anhang s. 218 f.

Das sowjetische Planziel für 1980 sieht eine Handelsflotte von 21 Mill. BRT vor. Besonders schnell ging in den letzten Jahren der Zusammenschluß der japanischen Handelsflotte zu größeren Einheiten voran. Das Endziel des japanischen Verkehrsministeriums ist es, fünf große Reedereien entstehen zu lassen, von denen zwei über 2,6 Mill. t Frachtraum verfügen sollen. Alle übrigen Einzelreeder sollen von diesen neuen Großunternehmen abhängig sein. Die japanische Regierung will diesen fünf Unternehmungsgruppen eine Finanzhilfe von 50 Mrd. Yen innerhalb der Jahre 1963 bis 1968 zukommen lassen. Um einen möglichst großen Teil des japanischen Im- und Exports auf eigenen Schiffen transportieren zu können und um eine ausreichende, störungsfreie Versorgung der Wirtschaft mit überseeischen Rohstoffen

134

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

zu gewährleisten, plant Japan im Rahmen seines Einkommensverdoppelungsplanes (10-Jahres-Plan 1961-1970) den Ausbau seiner Handelsflotte auf 13,35 Mill. BRT238 • Das bedeutet, daß in dieser Periode 9,7 Mill. BRT238 neuer Schiffsraum gebaut werden muß. Diese Zahl umfaßt bereits den Ersatz von 1,25 Mill. BRT238 veraltetem Schiffsraum, der in derselben Periode abgewrackt wird. e) Ä n d e r u n g d e s L i n i e n n e t z e s Auch das Liniennetz der Weltschiffahrt hat sich seit Beginn dieses Jahrhunderts erheblich gewandelt. Bis dahin hatte Europa in der Weltschiffahrt die größte Rolle gespielt; und die Weltschiffahrt bestand aus einem Netz, das von West- bzw. Mitteleuropa ausgehend die Welt umspannte. Als jedoch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die USA die Industrieproduktion Europas rasch einzuholen begannen, änderte sich auch das Liniennetz des Seeverkehrs, indem der Nordatlantik zur bedeutendsten Verkehrsstraße der Welt wurde. In Verfolg dieses Prozesses büßte auch Großbritannien seine Position als herrschende Schifffahrtsnation ein. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts beträgt die durchschnittliche Transportweite in der Weltschiffahrt etwa 5-6000 km. Auf der Ostsee ist festzustellen, daß der sich immer stärker entwickelnde Verkehr von Fährschiffen von Skandinavien nach den Häfen Saßnitz, Travemünde und Kiel für die Linienschiffahrt eine wachsende Konkurrenz bedeutet, da die direkten Gütertransporte mit Bahn und Lastwagen stark zunehmen. Der Fährverkehr kann für bestimmte Waren manche Vorteile bieten, nämlich Transportschnelligkeit, Verkehr von Haus zu Haus, eine Einsparung bei Versicherungsprämien, Fortfall der seemäßigen Verpackung usw. f) Die "billigen Flaggen" (flags of convenience) Schon vor dem ersten Weltkrieg konnte eine Verlagerung des Schwergewichts der Handelsflotten zu Flaggen von Staaten festgestellt werden, die bisher auf den Weltmeeren kaum aufgetreten waren, aber nun für viele Reeder anziehend erschienen. In voller Schärfe trat dieser Zug aber erst nach dem ersten Weltkrieg zutage. Als erstes Land trat Panama sichtbar als ein Staat mit "billiger Flagge" auf, anknüpfend an das internationale Flaggenrecht, das es in das Ermessen jedes Staates legte, welche Anforderung er an Schiff und Eigentümer für die staatsrechtliche Zuordnung stellen wollte. 238 Aus Economic Planning Agency, Japanese Government (Hrsg.), New Long-Range Economic Plan o.f Japan (1961-1970), - Doubling National Income Plan -, Tokyo 1961, S. 82-83.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum 135 Ursprung der modernen Regelung des Flaggenrechts ist noch heute die britische Navigationsakte von 165!238 • Verschiedene Seestaaten behalten in Anlehnung hieran heute noch das Flaggenrecht ihren eigenen Staatsangehörigen vor, wobei jedoch eine ganze Reihe von Staaten sehr leicht zu erfüllende Bedingungen gesetzt hat. In Panama und Liberia ist beispielsweise für den Erwerb des Flaggenrechts nicht einmal die Staatsangehörigkeit dieser Länder erforderlich. (Panama: Gesetz Nr. 67 vom 11. 11. 1947; Liberia Maritime Code vom 18. 12.1948 mit Ergänzung vom 22. 12. 1949). Die Flagge regelt das Privatrecht und einen Teil des öffentlichen Rechts, das grundsätzlich für das Schiff auf hoher See gilt, und äußert auch dann Rechtswirkungen, wenn sich das Schiff in fremden Eigenoder Hoheitsgewässern befindet. Insbesondere regeln sich nach der Flagge auch die sozialen Verhältnisse an Bord.

Panama erschien in den offiziellen Statistiken der Schiffahrt erstmalig 1924 mit 15 Schiffen von 85 593 BRT, 1939 waren hier 159 Schiffe mit 717 525 BRT registriert. Damals schon gehörten die Schiffe aus steuerrechtliehen Gründen und um günstige Bedingungen für arbeitsund sozialversicherungsrechtliche Pflichten einzuhandeln- zum größten Teil Reedereien, die in den USA ihren Sitz hatten. Auf ähnliche Weise wurde die Flotte aufgebaut, die unter der Flagge von Honduras fuhr. Nach dem zweiten Weltkrieg verstärkte sich die Vorliebe vieler Reeder dafür, vor allem Trampschiffe unter die Flagge bestimmter Länder zu stellen. In den politischen Wirren des Bürgerkrieges nach dem zweiten Weltkrieg in Griechenland floh ein Teil der griechischen Reedereien mit ihrer Handelstonnage unter die Flagge Panamas. Die OEEC schätzt in ihrer Studie, daß im Jahre 1958 etwa 80 vH der gesamten Handelstonnage Panamas griechischen oder U.S. amerikanischen Reedereien gehörten240• Nach dem zweiten Weltkrieg stand Panama mit 3,4 vH der Welthandelstonnage an sechster Stelle in der nach der Größe der Handelsflotte geordneten Weltrangliste. Die durchschnittliche Größe der Schiffe dieses Landes mit 6870 BRT (1954) war größer als die der Welthandelsflotte mit 3010 BRT. 1954 besaß Panama mit erheblich mehr als 4,1 Mill. BRT bereits eine Handelsflotte in der Größe derjenigen Frankreichs und damit die viertgrößte Handelsflotte der Welt. 239 Die in der britischen Navigationsakte enthaltenen Forderungen nach einer vorwiegend nationalen Schiffsmannschaft sowie nach Schiffsbau im Inland sind inzwischen meist weggefallen. überblick über die Rechtslage in verschiedenen Staaten bei Schaps-Abraham, Das deutsche Seerecht I, 3. Aufl., Berlin 1959. 240 OEEC: Flags of Convenience, A Study by the Maritime Transport Committee, S. 6.

136

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

Die Handelsflotte Panamas setzte sich (1959) zu 55 vH aus Tankern, zu 35 vH aus Frachtschiffen, zu 7 vH aus Bulkcarriern zusammen. Der Rest waren Passagierschiffe und kombinierte oder einfache Kühlschiffe. Bei einer Beurteilung dieser Erscheinung ist zu bedenken, daß die Wirtschaftsstruktur Panamas in keiner Weise geeignet ist, eine derartige Flotte aufrecht zu erhalten. Seine Auslandsbeziehungen sind nur sehr gering und sein Außenhandel wickelt sich zu mehr als 80 vH allein mit den USA ab. Aber schon während des zweiten Weltkrieges brachte die Flagge von Panama für die Reeder manche Vorteile mit sich. Während das Neutrality Law der USA den Reedern dieses Landes keine Möglichkeit gab, sich an sehr gut bezahlten Verschiffungen zu den Häfen kriegführender Mächte zu beteiligen, gewährte ihnen Panama diese Möglichkeit. Die Regierung der USA war es, die im zweiten Weltkrieg die Handelsflotte Panamas erheblich ausbaute, um die Neutralitätsgesetzgebung zu umgehen241 • Auch bei der Besteuerung standen sich solche Reeder, die die Flagge von Panama gewählt hatten, erheblich besser als in ihrem Mutterland. Weiterhin boten die Sozialversicherung und das Heuerrecht in Panama den Reedereien beträchtlich günstigere Möglichkeiten, zu niedrigen Kosten Mannschaften anzuheuern. Außerdem waren die Sicherheitsvorschriften für den Betrieb der Schiffe verhältnismäßig locker, so daß auch hier erheblich an Kosten gespart werden konnte. 1948 drohte die zuständige Gewerkschaftsorganisation mit einem Boykott für Schiffe unter der Flagge Panamas, auf denen die Arbeitsbedingungen nicht befriedigend waren. Panama reformierte daraufhin wenn auch in verhältnismäßig geringem Ausmaß - seine Seefahrtsgesetzgebung. Eine Reihe von Kollektivvereinbarungen wurden zwischen Reedern mit Schiffen unter der Flagge Panamas und der ITWF unterzeichnet242 •

Den Versuchungen, auf diese Weise eine eigene große Handelsflotte aufzubauen, erlagen nun auch andere Staaten. So war in schnellem Anstieg bis zum Jahre 1959 Liberia zu einem Land emporgewachsen, das eine der mächtigsten Handelsflotten der Welt besaß. Der Aufstieg der Flotte dieses Staates ist geradezu sensationell. Eine Handelsflotte unter der Flagge Liberias wird 1948 zum ersten Mal in internationalen Statistiken überhaupt erwähnt. Die gesamte Flotte bestand damals aus nur zwei Schiffen mit insgesamt 772 BRT. Sie gehörten der amerikanischen Farrell-Linie. Liberia, das in den Statistiken der amerikanischen Maritime Administration erstmalig 1949 mit fünf Tankschiffen mit zusam241 L. White (ITWF): Problems, Created by Large Scale Ship Registrations in Panama, Liberia, Honduras and Costa Rica, London 1956. 242 International Labour Office: Report I: Report of the Director General

1957,

s. 41.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum 137 men 47 314 BRT erscheint, hatte bis 1959 11,9 Mill. BRT erreicht. Der Aufstieg ging folgendermaßen vonstatten. 1953 1954 1955 1956

................. ................. ................. .................

1,43 Mill. BRT 2,38 Mill. BRT

4,00 Mill. BRT 5,58 Mill. BRT

1958 besaß Liberia die drittgrößte Flotte der Welt. Die Flotte bestand (1959) zu 61 vH aus Tankschiffen, zu 29 vH aus Frachtschiffen, zu 9 vH aus Bulkcarriers, der Rest waren kombinierte Fracht- und Passagierschiffe und kombinierte und einfache Kühlschiffe. Noch nie ist es einem Land gelungen, in so kurzer Zeit eine so große Handelsflotte aufzubauen. 1959, einem Jahr, in dem Liberia an dritter Stelle der Welthandelsflotte stand, nahm es die erste Stelle auf der Welttankschiffahrtsliste, die zweite Stelle auf der Weltbulkcarrierliste ein. Die Flotte gehört zu den modernsten Handelsflotten der Welt. 94 vH der Gesamttankertonnage besteht aus Schiffen über 10 000 BRT. Unter diese sog. "Billigen Flaggen" sind weiter die Flotten von Costa Rica und Honduras zu zählen. In Honduras war es vor allem die United Fruit Company, die ihre Schiffe dort registrieren ließ. 1939 waren es 27 Schiffe mit 82 068 BRT, die größtenteils dieser Gesellschaft gehörten. 1948 hatte diese Handelsflotte einen Umfang von 60 Schiffen mit 308 000 BRT, meistens Frachter. 1950 fuhr unter der Flagge Costa Ricas nur ein Frachtschiff mit 2000 BRT. 1958 hatte diese Flotte mit 106 Frachtschiffen von 483 000 BRT, 14 Bulkcarriers von 36 000 BRT und mit je einem kombinierten Frachtund Passagierschiff und einem Tankschiff den Höchststand erreicht, (wenn auch nur 0,5 vH der Welthandelsflotte). Das Gesetz vom 28. November 1958 243 erschwerte die Registrierungsbedingungen. Bis zum 30. Juni 1962 schrumpfte deshalb die Zahl der Schiffe unter der Flagge Costa Ricas auf 15 Schiffe mit zusammen 28 967 BRT244 • Greifen wir einen Stichtag heraus. Zwischen 1939 und 1959 vergrößerte sich die Handelsflotte, die unter den vier Flaggen von Panama, Liberia, Honduras und Costa Rica fuhr, um 2056 vH. Demgegenüber betrug der Zuwachs in den USA in dem gleichen Zeitraum 144 vH und in Großbritannien 11,5 vH. Die Flotten der billigen Länder hatten dabei eine erheblich beträchtlichere Durchschnittsgröße und ein günstigeres durchschnittliches Alter als dem 2 43

H. Schulte: Die Billigen Flaggen im Völkerrecht. Frankfurt, Berlin 1962,

244

Statistik der Schiffahrt. Institut für Schiffahrtsforschung 1963, H. 8, S. 2.

S.16.

138

§ 5: Die Entwicklung der Seeschiffahrt seit Beginn des 20. Jh.

Flotten unter "Billigen Flaggen", auch "PANHONLmCO"a) genannt (Stand am 1. Oktober 1957 in Mill. Tonnen)

BRT

Prozent der Welttonnage in BRT

Gesamttragfähigkeit

Prozent der Welttonnage (Gesamttragfähigkeit)

870 573 141 73

8,96 4,28 0,52 0,33

8,5 4,0 0,4 0,3

14,06 6,48 0,80 0,45

9,4 4,4 0,5 0,3

1 657

14,09

13,2

21,79

14,6

Zahl der Schiffe Liberia ....... Panama ...... Costa Rica Honduras ..... Insgesamt ....

0

•••

a) Abkürzung für die Staaten Panama, Honduras, Liberia, Costa Rica.

QueUe: Maritime Administration, Dept. of Commerce, zitiert in American Bureau

of Shipping: Bulletin Jg. 1945-1962.

Durchschnitt der Schiffe der alten seefahrttreibenden Nationen entsprach. Vor allem die großen griechischen Tankreeder Onassis und Niarchos waren es, die von den "Billigen Flaggen" Gebrauch machten und den weitaus größten Teil ihres Schiffsparkes, den sie im Boom der Jahre nach dem zweiten Weltkriegaufgrund der hohen Frachtpreise aufbauen konnten, vorzugsweise unter den Flaggen Panamas und Liberias fahren ließen. Obgleich zwischen 1958 und 1961 - nicht zuletzt unter dem Druck der öffentlichen Meinung - ein beachtlicher Teil der unter ausländischer Flagge fahrenden, griechischen Reedern gehörenden Schiffe "repatriiert" wurde, so daß die Handelsflotte des Königreichs Griechenland, die im Jahre 1958 noch unter 2 Mill. t lag, bis nahe zur 7-Mill.-tGrenze emporsprang, fährt ein mindestens gleich großer Teil - und in der Regel von höherer Qualität - noch heute unter der Flagge von Panama und Liberia. Schon früh, verstärkt aber seit 1958, machte sich zusätzlich die Opposition der Gewerkschaften, die mit systematischen Streiks drohten, gegen die Länder der "Billigen Flaggen" bemerkbar. Ab 1959 verminderten sich ihre Tonnagen der Handelsflotte. Nach ihrem vorübergehenden Höchststand {1959) mit 17,0 Mill. BRT {14,3 vH der Welthandelstonnage) fiel sie bis zum 30. Juni 1962 auf 15,3 Mill. BRT {10,9 vH der Welthandelstonnage) zurück. Costa Rica verlor sogar ab 1959 den Charakter des Landes der "Billigen Flaggen" 245 • 246

Vgl. S, 137.

5. Umfang und Struktur von Angebot und Nachfrage nach Schiffsraum 139 Entwicklung der Flotten unter billigen Flaggen (in 1000 t)

30.6.1958

Liberia Costa Rica ............. Honduras .............. Panama ................ Libanon ................

10079 510 3.38 4358

Insgesamt ..............

15 285

••••••••••••••

00

-

I 30. 6. 1959

30.6.1962

30.6.1964

11 936 288 202 4583 -

10573 29 113 3851 752

13981 98 4306 866

17009

15 318

I

19 251

g) P e r s o n e ll e u n d s o z i a I e P r o b I e m e An dieser Stelle sei eine Erscheinung erwähnt, die in jüngster Zeit große Sorgen bereitet. Wie in vielen anderen Wirtschaftszweigen bestehen auch für die deutsche Schiffahrt erhebliche Schwierigkeiten, genügend Deckpersonal zu erhalten. Die Herkunft des seemännischen Nachwuchses hat sich gegenüber früher stark verändert. Nach (Teil-)Erhebungen im Jahre 1961 und 1962 stammen nur noch 45 vH der jugendlichen Seeleute aus dem weiten Küstengebiet, dagegen 55 vH aus den entfernter liegenden westund süddeutschen Bundesländern, darunter 5 vH aus Berlin.

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seefahrt Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Seefahrt sind weit schwieriger exakt zu erfassen als die volkswirtschaftlichen Folgeprozesse, die sich bei der Einführung der Eisenbahnen ergaben. Die Eisenbahn trat verhältnismäßig kurzfristig mit hoher Verkehrswertigkeit in das Wirtschaftsleben ein und brachte deutlich sichtbar revolutionäre Entwicklungen hervor, die sich gut abgrenzen lassen. Die Entwicklung der Seeschiffahrt war über Jahrtausende hinweg nie im gleichen Ausmaß revolutionär. Ihre Entwicklungen vollzogen sich oft über sehr lange Zeiträume hinweg. Dennoch kann man sagen, daß die Seeschiffahrt in den Zeiten, in denen sie das wichtigste Verkehrsmittel des Verkehrssystems war, entscheidend die Basis für die Entfaltung von Hochkulturen abgab. Der Landtransport hatte demgegenüber in den meisten Zeitabschnitten nur sekundäre Bedeutung. Straßen wurden in der Regel248 erst dann errichtet, wenn bereits die Grundlage für die Entstehung wirtschaftlicher und politischer Macht geformt war. Deutlich wird über Jahrhunderte hinweg sichtbar, wie sich die Zentren der staatlichen und ökonomischen Macht verschoben, als die Welt248

Ausnahme beispielsweise Persien und das Inkareich.

140

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seefahrt

handelswege sich wandelten. Nicht nur das Einströmen neuer Waren aus neu zugänglichgewordenenTeilen der Welt, sondern auch die Befruchtung des kulturellen und geistigen Lebens ist jeweils deutlich feststellbar. In diesem Sinne formte im Ablauf der Jahrtausende die volkswirtschaftliche Gestaltungskraft der Seeschiffahrt die Kulturen und die Entwicklungsfähigkeit der Wirtschaft. Immer gab es eine Befruchtung durch den Kontakt zu fernen Welten. Es fanden sich aber auch wenige Perioden stürmischer technischer Entwicklung, die durchgreifende Strukturänderungen in der Wirtschaftsverfassung und den Entwicklungstendenzen der beteiligten Länder erkennen lassen. Eine derartige Periode war die Zeit des Obergangs vom Holzschiff zum Stahlschiff und vom Segelboot zum Dampfschiff. Diese Periode war dadurch gekennzeichnet, daß die Frachtkosten absanken und eine Schiffseinheit erheblich größere Ladungsmengen gegenüber früher zu befördern vermochte. Während bis dahin die überseeischen Länder Kolonialgüter lieferten und die Schiffe vorzugsweise wertvolle Waren beförderten, erwuchs nunmehr als Folge der Änderung der Struktur der Seefahrt und der erheblichen Verbesserung der Verkehrswertigkeit das System der arbeitsteiligen Weltwirtschaft mit der auffälligen Beschränkung der Industrialisierung auf verhältnismäßig kleine Gebiete in Mittel- und Westeuropa, Nordamerika, Japan. Wenngleich die Industrialisierung vor allem durch die Eisenbahn ausgelöst und genährt wurde, hatte die Seefahrt in der marktwirtschaftliehen Auswirkung des Gesetzes der komparativen Kosten - angesichts ihrer großen Massenleistungsfähigkeit und der geringen Transportkosten für große Massen - die Aufgabe, Rohstoffe zu niedrigem Preis heranzuführen. Interessant ist nun zu sehen, wie durch das volkswirtschaftliche Wirken der Hochseefahrt auch die überkommene Struktur der Landwirtschaft in weiten Räumen der Welt geändert wurde. In dieser marktwirtschaftlichen Dynamik formten sich im weltweiten Maßstab- nach jenen Gesetzmäßigkeiten, die Thünen schon meisterhaft beschrieb typische Systeme von Thünen'schen Kreisen um die Industrieländer. Die Landwirtschaft um die Industriezentren geriet unter den Druck der Intensivierung. Verhältnismäßig hohe Preise für Veredlungsprodukte und niedrige Preise für Getreide änderten die überkommene Struktur der Landwirtschaft. Diese für die Landwirtschaft über weite Zeitperioden hinweg ungünstige Preisentwicklung wiederum war das Ergebnis immer neu auftauchender Konkurrenten auf dem Markt aus immer weiter entfernten, bisher schlecht zugängigen überseeischen Ländern, die durch die ständige Verbesserung des Verkehrssystems in den Wettbewerb um den Ab-

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seefahrt

141

satzmarkt in den im Lebensstandard ständig ansteigenden industriellen Kerngebieten einzutreten vermochten. In der Landwirtschaft der Industriestaaten machte sich in den Folgeprozessen das Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses bemerkbar. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion - bezogen auf 1 ha Bodenfläche - war um die Industriezentren herum auffällig groß. Während um 1800 die Hektarerträge in Mitteleuropa für Weizen, Roggen und andere Getreidesorten sehr niedrig waren, stiegen die Erträge im Durchschnitt der Jahre 1927 bis 1931 bis auf 20,5 dz Weizen je ha, 16,4 dz Roggen je ha, 148,7 dz Kartoffeln je ha und erreichten 1962 in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland246 a bei Weizen 34,8 dz je ha, bei Roggen 27,1 dz je ha und bei Kartoffeln 260,5 dz je ha. Diese Ertragssteigerung - zum Teil zwar bewirkt durch technischen Fortschritt und bessere Kenntnisse der Bodenausnutzung und die bessere Organisation- ist aber gleichzeitig gemäß dem Ertragsgesetz belastet durch noch stärker ansteigende Kosten. In den landwirtschaftlichen Produkten, die mit geringer Kapitalintensität erzeugt werden konnten, konnte der jungfräuliche Boden ferner Agrarländer die Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft in der Nähe der Industriestandorte - mit zudem hohen Bodenrenten - vernichten. Die Kreise in der Nähe von Industriezusammenballungen konnten die höchsten Einnahmen aus leichtverderblichen Produkten ziehen, die eine verhältnismäßig hohe Kapitalintensität verlangten. So konnte sich in den Kreisen um die Industriezentren vorzugsweise die Intensivierung der Landwirtschaft durchsetzen. Deutschland, das bis 1864 noch Getreideausfuhrland war, wurde in dem Maß, in dem die Hochseefahrt immer billiger wurde und in immer größerer Massenleistungsfähigkeit fernen Getreideproduzenten den Zugang zum deutschen Markt ermöglichte, mit zunehmender Industrialisierung Getreideeinfuhrland. Die Zonen der Viehzucht, z. B. in England, wanderten in Gebiete ab, in denen das Weltverkehrssystem nur eine verhältnismäßig geringe Verkehrswertigkeit aufwies. Vom Blickpunkt der Industriezentren aus bildeten sich im weltweiten Maßstab als Auswirkung der Gestaltungskraft der Seeschiffahrt also Kreise abnehmender Intensität. Von hier wurde Wolle und Gefrierfleisch in die Industrieländer zurückgeliefert. Zwar versuchten einige Staaten, wie z. B. das Deutsche Reich, durch Schutzzollpolitik der Landwirtschaft zu helfen. Die Schutzzölle mußten aber immer höher werden, um die steigende Konkurrenzfähigkeit der Länder mit jungfräulichem Boden angesichts der sinkenden Frachtraten abschirmen zu können. 24 6a Die statistischen Angaben über die Erzeugung in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) werden nur zu Vergleichszwecken beigefügt.

142

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seefahrt

Daß in einigen Teilen der Welt typische Monokulturen in Verfolg des Systems des Freihandels entstanden, ist ebenfalls eine Auswirkung der Gestaltungskraft der Seefahrt. Je größer die Leistungsfähigkeit dieses Verkehrsmittels war, je mehr Massengüter bei niedrigem Preis befördert werden konnten, um so mehr machten sich Chancen geringerer Produktionskosten in einer steigenden Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt bemerkbar. So bildeten sich typische Zentren der Baumwollproduktion in:

Ertrag in 1000 t 1962

1. USA (vorwiegend Südstaaten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Indien (errechnet auf Grundl. geschätzter Handelszahlen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Brasilien (1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von 11,7 Mill. t.

3237 1451 944 606 512

(Quelle: Statist. Bundesamt: Statistisches Jahrbuch f. d. Bundesrepublik Deutschland 1964. Stuttgart u. Mainz 1964, S. n•.)

der Kakaoproduktion in:

Ertrag in 1000 t 1962

1. Ghana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nigeria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Elfenbeinküste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von rd. 1,2 Mill. t.

428 178 111 103

(Quelle: Statist. Bundesamt: Statistisches Jahrbuch f. d. Bundesrepublik Deutschland 1964. Stattgart u. Mainz 1964, S. 46•.)

der Kaffeeproduktion in:

Ertrag in 1000 t 1962

1. Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kolumbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Angola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von rd. 3,86 Mill. t.

1560 462 186 127

(Quelle: Statist. Bundesamt: Statistisches Jahrbuch f, d. Bundesrepublik Deutschland 1964. Stuttgart u. Mainz, s. 46°.)

der Chromproduktion in:

Produktion in 1000 metr t 1962

1. Südafrikanische Union . .. .. . .. . . .. . .. .. . .. . .. . . . .. . 2. Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nord- u. Südrhodesien, Nyassaland . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Philippinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von 1,26 Mill. t.

402 250 221 196

(Quelle: United Nations: Statistical Yearbook 1963, 15th ed., New York 1964, S. 182.)

§ 6: Volkswirtschaftliche und politische Folgeprozesse der Seefahrt

143

der Manganproduktion in:

Produktion in 1000 metr t 1962 2900 1. Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Südafrikanische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 515 3. Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 4. Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ghana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 bei einer Weltproduktion von 5,9 Mill. t.

(Queue: United Nations: Statistical Yearbook 1963, 15th ed., New York 1964, S. 174.)

der Bleiproduktion in:

Produktion in 1000 metr t 1962 1. AustraUen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 215 3. USA . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 193 4. Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6. Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 bei einer Weltproduktion von 2,04 Mill. t.

(QueUe: United Nations: Statistical Yearbook 1963, 15th ed., New York 1964, S. 178.)

der Kupferproduktion in:

Produktion in 1000 metr t 1962 1114 1. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Chile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 3. Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (650) 4. Nordrhodesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 415 5. Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Republik Kongo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bei einer Weltproduktion von 4,03 Mill. t.

(QueUe: United Nations: Statistical Yearbook 1963, 15th ed., New York 19M, S. 177.)

der Bauxitproduktion in:

Produktion in 1000 metr t 1962 1. Jamaica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7640 2. Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4000) 3592 3. Brit.-Guayana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Surinam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3297 2158 5. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von 27,5 Mill. t.

(Quelle: United Nations: Statistical Yearbook 1963, 15th ed., New York 1964, s. 181.)

der Silberproduktion in:

Produktion in metr. t 1. Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1282 1131 2. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120 3. Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954 4. Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bei einer Weltproduktion von rd. 7000 t.

(QueUe: United Nations: Statlstical Yearbook 1963, 15th ed., New York 196t, S. 189.)

144

§ 7: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven

§ 7: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven 1. Rationalisierung

Die Knappheit an Arbeitskräften in den Industrieländern zwingt die Technik dazu, die Rationalisierung in der Schiffahrt immer weiter voranzutreiben. Das erste deutsche Handelsschiff mit automatischer Fernbedienung der Hauptmaschine von der Kommandobrücke aus, das MS "Christoffer Oldendorf", ein Massengutschiff, (22 000 BRT, 30 600 tdw), bedeutet einen erheblichen Schritt in dieser Richtung. Aber nicht nur an Bord setzten sich Rationalisierungsmaßnahmen durch, sondern auch in der Umschlagstechnik zwischen Bord und Land. So wurden vor allem Schwergutbäume und Bordkräne konstruiert. Das magromatic-system, vorgeschlagen von der internationalen Mac-Gregor-Organisation, führte zu einem höheren Grad an Automation. In Schiffsrichtung verfahrbare Brückenkräne ermöglichen es, daß jede Ladung, Paletten wie Behälter, von jeder Stelle des Schiffes aus an den gewünschten Platz auf dem Kai bzw. in die Eisenbahnwaggons oder an andere beliebige Stellen gesetzt werden können. Diese Kräne besitzen Teleskop-Ausleger, die über beide Schiffsseiten hinaus mit erheblicher Reichweite arbeiten können. Eine besondere Rolle werden in Zukunft auch die Container-Schiffe spielen, in denen Behälter aus Stahl bzw. Aluminium gestapelt werden. Diese Schiffe benötigen in Häfen keine Lagerhäuser und zeichnen sich durch schnelle Lade- bzw. Löschfähigkeit aus. Des weiteren setzt sich in der internationalen Schiffahrt immer mehr das sog. Roll-on/Roll-offSystem durch. Unter "Roll-on/Roll-off"-Verkehr (Ro-Ro) versteht man ein Transportsystem - eingeführt von der United States Army Transportation Trailer Service Agency -, das einen Gesamttransport auf Rädern und Behältern durchführt: Ein Sattelschlepper wird im Zentraldepot der verladenden Stelle beladen. Der beladene Anhänger fährt zum nächsten Army-Nachschubhafen. Auf dem Schiff werden die Anhänger zum Bestimmungs-Hafen transportiert. Von hier aus rollt der Anhänger aus den Schiffsdecks über eine Rampe zu der Einheit. Während sonst bei der konventionellen Art der Verschiffung 60-90 Tage benötigt werden, braucht man bei dieser Art der Verschiffung 22 Tage zwischen Absender und Empfänger. Der Vorteilliegt in der Zeitersparnis, in der Ersparnis von Kosten, an Liegegeldern sowie durch weniger aufwendige Verpackung und Sicherung der Ware. Einheitliche Schablonen verschiedener Größe und Farbe sichern den Transport.

2. Fortsetzung der Tendenz zu Strukturänderungen

145

2. Fortsetzung der Tendenz zu Strukturänderungen Nicht nur in der Antriebstechnik, sondern auch als Auswirkung der wachsenden Schiffsgrößen werden sich beachtliche Umwälzungen in der Struktur der Seeverkehrsmärkte anbahnen. Bedenken wir an dieser Stelle nur kurz, welche Änderungen von der wachsenden Schiffsgröße ausgehen, aber auch welche Auswirkungen verschiedene technische Wandlungen der jüngsten Zeit auf die weltweite Verteilung von Angebot und Nachfrage nach verschiedenen Gütern- und damit auf die Entwicklungsfähigkeit bestimmter Räume - haben müssen. Eines der z. Z. größten Handelsschiffe der Welt, die "Nissho Maru", ist 74 869 BRT groß. Es ist ein Tanker mit 132 334 tdw. Die Maschinenleistung dieses in Japan mit einem Kostenaufwand von 50 Mill. DM gebauten Schiffes beträgt 25 000 PS. Es ist 291 m lang, 43 m breit, mit einem Tiefgang von 16,53 mundentwickelt eine Geschwindigkeit von 17,19 Knoten. Der Trend zum größeren Spezialschiff in der "trockenen" Massengutfahrt wie auch in der Tankschiffahrt, aber auch die Verlagerung der Verkehrswege in der Erz- und Ölfahrt, werden viele kleine Trampreeder aus dem Markt drängen. Kleine Trampreeder, die nicht von der Frachtraumnot der KoreaKrise, der Suez-Krise oder den militärischen Transporten profitieren konnten, waren schon in jüngster Zeit in der Regel nicht mehr in der Lage, die Finanzmittel aufzubringen, um ihren Schiffspark der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen247 • Da die kleineren Schiffe mit relativ erheblich höheren Kosten fahren, äußert sich die mangelnde Anpassungsfähigkeit in einem erheblichen Absinken ihrer Gewinne und ihrer Liquidität. So ist auch in der Trampfahrt eine Tendenz zur Konzentration feststellbar. Die selbständigen Personengesellschaften, d. h. die Gesellschaften, die in keinem Konzernverband stehen und nicht anderer Bestandteil eines Unternehmenskomplexes sind, nehmen ab, und das Gewicht der Kapitalgesellschaft verstärkt sich. Aber nicht nur die Schiffstypen und Antriebsaggregate dürfen allein in der neuesten Entwicklung betrachtet werden, sondern auch die voraussehbare Entwicklung der Wasserstraßen. Diskutiert wird vor allem in Schweden die Öffnung der Ostsee für die Befahrung mit 100 000-BRTSchiffen. Voraussetzung hierfür ist eine neue Kartographierung der Seeuntiefen, der Schiffswracks- vor allem im Skagerrak, im Kattegatt und im Großen Belt - und die Festlegung einer Fahrrinne von etwa 16,5 m Tiefe und wenigstens 500 m Breite. 247 Vgl. auch Svendsen, Arnljot Stremme: Seeverkehr und Schiffahrtswirtschaft; Sea transportation and Shipping Economics, Bremen (Inst. f. Schifffahrtsforschung), 1958, Weltschiffahrts-Archiv H. 5, Dt. und engl. Text.

10 Volct II/1

146

§

7: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven

Im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln oszillierten die Seefrachtsätze im letzten Jahrzehnt in besonders heftigen Schwankungen. In verschiedenen Produktionen führten die hohen Differenzen zwischen höchsten und niedrigsten Frachtraten zu weltweiten Veränderungen der Absatzgebiete und der Entwicklungsfähigkeit ganzer Räume. Wenn die Rohstoffpreise in den bereits hochindustrialisierten Gebieten stiegen, wurden in Übersee zusätzliche Rohstoffvorkommen erschlossen und umgekehrt. Der Einsatz von Großraumfrachtern führte dazu, daß die Transportkosten im Seeverkehr sich erheblich verringerten. Da die Tendenz zu Lohnsteigerungen die Rohstoffländer zudem meist noch nicht erfaßt hat, ist die Folge dieser Entwicklung eine Veränderung der internationalen Geld- und Güterströme sowie der "realen Austauschverhältnisse" im Außenhandel der Länder der Welt. Die Schiffahrtspolitik der Länder, die erst vor kurzem ihre staatliche Selbständigkeit erhalten haben, zeigt sehr eigenwillige Wesenszüge. Diese Länder sind wegen ihrer Knappheit an Devisen und wegen ihres Wunsches, bald den Standard der entwickelten Länder einzuholen, vielfach bestrebt, die zu verschiffenden Güter auf Frachtern unter eigener Flagge zu befördern und fremde Flaggen zu diskriminieren. Um ein Beispiel zu geben, sei auf die Praxis Indonesiens verwiesen248 • Für die Erfassung und Lenkung des gesamten Ladungsaufkommens im ein- und ausgehenden Verkehr wurde die "Bipalindo" geschaffen249 , eine Körperschaft, die der Weisung und Aufsicht des indonesischen Schiffahrtsministers untersteht. Zur Durchführung ihrer Aufgaben errichtet sie Niederlassungen und ernennt Agenten und Korrespondenten auch im Ausland.

3. Zum Problem der Geschwindigkeit Werfen wir einen Blick auf das Problem der Transportgeschwindigkeit Auf dieser Ebene der Verkehrswertigkeit wird das Seeschiff das Flugzeug nie einholen können. Der Wettbewerb zwischen Flugzeug und Seeschiff beschränkt sich bisher fast ausschließlich auf den Personenverkehr. Er hat zunächst bewirkt, daß die Nachfrageelastizität in bezug auf den Preis in der Passagierschiffahrt erheblich zunahm, wodurch die Kartellierungsfähigkeit der Linienfahrt stark geschwächt wurde. Nach dem 2. Weltkrieg entstand zwar kein so hoher Anreiz wie früher, die Geschwindigkeit der Seeschiffe zu erhöhen. Der Passagierverkehr, bei dem früher der Anreiz aus Wettbewerbsgründen zu höchstmöglicher 248 249

Entscheidung des indonesischen Staatspräsidenten Nr. 126/1964. "Presidential Regulation Nr. 19, 1964" vom 25. Mai 1964.

3. Zum Problem der Geschwindigkeit

147

Geschwindigkeit bestand, hatte nunmehr durch Einwirkungen des Flugverkehrs keinen Anlaß mehr, unter Aufwand erheblich höherer Kosten kürzere Überfahrtszeiten zwischen den Kontinenten zu erzielen. Anders war es nur bei hochwertigen Stückgütern. Hier gaben einmal die Auswirkung hoher Zinsverluste, zum anderen der Impuls der Vollbeschäftigung den Anlaß, die technischen Möglichkeiten der Erhöhung der Schiffsgeschwindigkeit weitgehend zu nutzen, ohne dabei wie früher allzu starke Rücksicht auf die Kosten zu nehmen. So läßt der Norddeutsche Lloyd seine mit Turbinenantrieb versehenen Schiffe "Werrastein", "Havelstein" und "Isarstein" zu Schnellfrachtern umbauen249 ". Die nach heutigen Gesichtspunkten unwirtschaftlichen Turbinenanlagen sollen durch moderne Motoren-Anlagen mit Hochaufladung und Schwerölbetrieb ersetzt werden. Die Möglichkeiten, die Geschwindigkeit eines Schiffes zu steigern, sind begrenzt. Da sich der Wasserwiderstand mit der Geschwindigkeit potenziert, so daß eine Erhöhung der Geschwindigkeit sofort ein Vielfaches an Antriebskraft erfordert, bleiben Frachtschiffe im allgemeinen in den Geschwindigkeitsbereichen von etwa 20 bis 30 km pro Stunde und Passagierschiffe bis etwa 45 km pro Stunde. Zwar ist es möglich, daß Schnellboote eine Geschwindigkeit von 80 km pro Stunde erreichen, wobei die Nutzlast jedoch sehr gering ist. Die absolute Höchstgeschwindigkeit auf dem Wasser wurde von Camp-

bell mit einem Rennboot erreicht, das 419 km pro Stunde fuhr.

4. Tragflächenboote

Eine neue technische Entwicklung bahnt sich mit dem Tragflügelboot an, das den Wasserwiderstand dadurch weitgehend zu überwinden sucht, daß es sich mit zunehmender Geschwindigkeit aus dem Wasser erhebt und mit dem Bootskörper über das Wasser gleitet. Dabei tauchen kleine Tragflügel noch in das Wasser ein. Im Sund von Long Island erreichte ein derartiges Boot eine Geschwindigkeit von 105 km pro Stunde, bei einer Antriebsleistung von 14 000 PS, wobei 60 Personen befördert werden konnten. Die Sowjetunion stellte 1963 ein Tragflügel-Hochseeschiff mit 300 Plätzen ein- ausgestattet mit Düsentriebwerken -,das eine Geschwindigkeit von zunächst 80 km/h erreichte, und es sind weitere solcher Schiffe geplant, die eine Geschwindigkeit von 130 km/h erzielen sollen. 249a Vgl. A. Bender: Umbau der Turbinenschiffe "Werrastein", "Havelstein", "Isarstein" zu Schnellfrachtern durch die Aktien-Gesellschaft "Weser", Bremen. In: Hansa, 101. Jg., Nr. 22, S. 2239 ff.

10°

148

§ 7: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven

In mehreren Ländern wird an umfangreichen Forschungsprojekten gearbeitet, um große und schnelle Seeschiffe auf Tragflügeln zu entwikkeln. Dabei ist an Geschwindigkeiten um 100 km/h bei einer Wasserverdrängung von 500 t gedacht250 •

Bei den Tragflächenbooten beruht das Herausheben aus dem Wasser allein auf physikalischen Gesetzen, indem die kleinen Tragflügel so gestellt sind wie die Flügel der Flugzeuge. Jedoch stellt sich bei diesen Booten sehr schnell das Problem der Stabilität ein; denn bei nur geringem Wellengang verlassen die Tragflächen zeitweise das Wasser und halten das Schiff dann nicht mehr im Gleichgewicht. Es sind jedoch schon verschiedene mit Schnelläufer-Dieselmotoren ausgerüstete Typen, die die bisherigen Fehler der Tragflügelboote zu vermeiden suchen, bekannt. So wird in der Straße von Messina der Passagierverkehr schon seit einiger Zeit mittels Tragflügelbooten störungsfrei durchgeführt.

5. Luftkissenfahrzeuge In Norwegen werden seit einigen Jahren Versuche durchgeführt, den Reibungswiderstand zwischen Wasser und Schiffsrumpf mit Hilfe eines Luftkissens zu verringern. Auf einem Versuchsgelände gelang es, durch Entwicklung eines Düsensystems, das Luft unter den Schiffsrumpf drückt, wodurch ein dünnes Luftkissen zwischen Wasser und Rumpf gebildet wird, den Widerstand des Wassers um bis zu 37 vH zu verringern. Ähnliche Versuche wurden auch in jüngster Zeit in Frankreich, den USA und insbes. Großbritannien unternommen. Ihren Ausgangspunkt haben diese Versuche darin, ein leckgeschlagenes Schiff durch ein System von Luftdüsen vor dem Sinken zu bewahren. In England sind diese "Luftkissen" -Schiffe unter dem Namen Hovercraft bekannt251. Das jüngste Vickers-Modell "Hovercraft VA-2" führte bei strenger Kälte auf einer 14-Meilen-Strecke bei 45-Knoten-Geschwindigkeit über Schnee und Eislagen von 8 bis 15 cm Versuchsfahrten durch, die die Einsatzmöglichkeiten dieses Fahrzeugs in Eisregionen erproben sollen. Der Nachteil der Luftkissenboote gegenüber den Tragflächenbooten liegt darin, daß ein ungeheurer Kraftaufwand notwendig ist, um das Boot aus dem Wasser zu erheben; ferner sind zur Schaffung der Luftkissen Gebläse notwendig. Allerdings ist bei diesen Booten das Problem 250 Zur Zeit größtes Tragflächenboot: Länge 35,05 m, Breite 9,44 m, Wasserverdrängung 110 ts, Gasturbinen je 4 250 WPS. Aus "Schiff und Hafen", 1964, H. 3, S. 214. Siehe auch Shipping World 1963; S.133 ff, S. 532. 251 Zur Entwicklung der Hovercraft-Fahrzeuge, die auch im küstennahen Verkehr Verwendung finden sollen, vgl. Entwicklung der Binnenschiffahrt, s. 302 ff.

6. Verwendung der Atomenergie

149

der Sicherheit nicht so akut, wenn auch die technischen Ausfälle bei vielen Aggregaten relativ hoch sind.

6. Verwendung der Atomenergie Es ist anzunehmen, daß das atomgetriebene Schiff zu einer beachtlichen Revolutionierung im Schiffbau und in der Schiffahrt führen wird. Technisch gesehen bereitet der Schiffsantrieb durch Kernenergie bereits heute keine Schwierigkeiten mehr, eine Rentabilität ist jedoch erst zu erwarten, wenn die Entwicklungsarbeiten weiter gediehen sind. Nachdem zunächst Kriegsschiffe mit Atomenergie betrieben wurden, bauten die USA nach fünfjähriger Entwicklungsarbeit ein atomar betriebenes Handelsschiff, die "Savannah" 252, die 1962 ihre Jungfernfahrt antrat. Der Name war in Erinnerung an jenes Schiff ,Savannah' gewählt worden, das im Jahre 1819 die erste Fahrt mit HUfssegeln und Dampfantrieb von Amerika über den Ozean unternahm. Die 9 830 BRT große "Savannah" kostete das Fünffache eines etwa 13 000 BRT großen, mit einer Dampfturbine betriebenen Frachtschiffes, nämlich 47 Mill. $,von denen 28 Mill. $ allein auf den Bau und die Entwicklung des Atomreaktors entfielen. Auch die variablen Kosten der "Savannah" sind erheblich höher als bei herkömmlichen Frachtschiffen. Für ein Frachtschiff herkömmlicher Bauart rechnet man tägliche Kosten in Höhe von etwa 17 000 DM einschließlich des Treibstoffes. Die größere Besatzung (15 Schiffsingenieure!) treibt die variablen Ausgaben des atomarbetriebenen Schiffes jedoch gewaltig in die Höhe, so daß sie insgesamt doppelt so hoch sind wie bei Schiffen herkömmlicher Bauart. Daraus ergibt sich, daß der Bau von atomarbetriebenen Handelsschiffen bis jetzt noch unrentabel ist. Der erste Atomfrachter Westeuropas253 wird seit Ende 1962 im Auftrage der Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH, Geesthacht, von den Kieler Howaldtswerken AG mit einem Kostenaufwand von 40-50 Mill. DM gebaut und wurde im Herbst 1963 auf Kiel gelegt. Bisher besitzen für die zivile Schiffahrt außer den USA mit dem Frachtschiff "Savannah" nur die UdSSR den Eisbrecher "Lenin", der mit Kernenergie betrieben wird. 25! Die "Savannah" ist ein kombiniertes Fracht- und Passagierschiff mit einer Reisegeschwindigkeit von 21 Knoten. Das Schiff ist für 60 Passagiere und 10 000 t Fracht berechnet. Die "Savannah" kann etwa 300 000 Seemeilen fahren, ohne Brennstoff aufnehmen zu müssen. 60 kg Uranoxyd leisten den gleichen Dienst wie 90 000 t Brennstoff, die ein ölgefeuertes Schiff benötigen würde. Als Vergleichszahlen dieser Entwicklung siehe S. 84, 95 und 102 f. 253 Die Antriebsanlage des neuen Atomschifies soll mit einer Leistung von rd. 10 000 PS ausgestattet werden. Gespeist wird die Antriebsanlage aus einem organisch moderierten Reaktor. Geplant ist das Schiff mit einer Länge von 173,3 m, 23,4 m Breite und einem Tiefgang von 9,2 m. Es soll eine Geschwindigkeit von 153/, Knoten erreichen.

150

§ 7: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven

Die britische Regierung hofft, ein (rentables) Atomschiff bis 1967 fertigstellen zu können. Es soll 30 000 tdw haben und eine Geschwindigkeit von 24 Knoten erreichen.

Exkurs: Zur Problematik der Seeverkehrsstatistik Es gibt zur Zeit keine genaue Statistik über den Güterverkehr über See. Die Statistik "Überseehandel" der UNO ist gegenwärtig wohl die beste Seeverkehrsstatistik, obwohl sie nur Annäherungswerte wiedergibt. Beispielsweise wird nur der Güterverkehr eines Hafens angegeben und nicht der gesamte mit dem Seeschiff transportierte Im- und Export eines Landes. Auf diese Weise werden Importe eines Landes, die aber im Hafen eines anderen Landes gelöscht werden, nicht als Import des Importlandes ausgewiesen. Auch werden die Güter nur mit ihrem Gewicht und nicht mit ihrem Staukoeffizienten angegeben254. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist gemäß einer UNO-Statistik der internationale Überseehandel im jährlichen Durchschnitt um 7,5 vH, gemessen am Gewicht, gewachsen. Diese Zunahme verteilt sich gleichermaßen auf Trockenfrachter und Tanker2ss. Die Tonnagehöhe der einzelnen Nationen hat nur eine beschränkte Aussagekraft. Beispielsweise wird die unterschiedliche Struktur der Tonnage dann deutlich, wenn man bedenkt, daß die "Billigen Flaggen" (flags of convenience) in der Regel keine Fischerei- und Hafentonnagen haben. Zum zweiten können Schiffe einer Flagge durchaus im Eigentum einer anderen Nation sein. So lassen z. B. die internationalen, vorwiegend amerikanischen, Ölkonzerne ihre Tanker unter den verschiedensten Flaggen laufen.

254 Wie an anderer Stelle dargestellt, pflegt man die Seeschiffe nach Registertonnen zu bemessen. Die Bezeichnung leitet sich davon ab, daß die Schiffe üblicherweise in Register der Klassifikationsgesellschaften eingetragen werden. Unter "tons" versteht man Einheiten von 100 Kubikfuß bzw. 2,8315 cbm. Bruttoregistertonne (BRT) umfaßt den Rauminhalt aller Aufbauten, Lade- und Gesellschaftsräume (mit Ausnahme einiger weniger Räume). Die Nettoregistertonne (NRT) wird nach Abzug bestimmter Betriebsräume definiert. Von diesen Maßgrößen muß die Ladefähigkeit des Schiffes unterschieden werden. Hier ist zu unterscheiden die räumliche und die gewichtsmäßige Ladefähigkeit. Die räumliche Ladefähigkeit (cubic capacity), gemessen in Kubikfuß oder Kubikmeter, betrifft die Bulk, Schütt-Räumte, die Ballen- und Stückguträumte, Kühl- und Öllagerräumte. Die gewichtsmäßige Ladefähigkeit (deadweight - tdw) wird entweder in metrischen oder in longtons gemessen. Es ist das Gewicht, das ein Schiff in vollbeladenem Zustand einschließlich der Betriebslasten bis zur sogenannten Ladelinie transportieren kann. Zieht man die Betriebslasten ab, ergibt sich die "Tragfähigkeit für Ladung allein". Der Staukoeffizient stellt das Verhältnis zwischen Nettotragfähigkeit zu spezifischer räumlicher Ladefähigkeit dar. 255 Vgl. Gustav Adolf Theet: The World Shipping Scene, München 1963, S.152.

li. Die Entwicklung der Seehäfen § 1: Die Entwicklung der Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit Wenn auch im Altertum vorwiegend militärische Gesichtspunkte für die Gründung von Häfen maßgebend waren, so sehen wir doch, wie einzelne günstige, an Meeresbuchten gelegene Plätze ihrerseits ein Spannungsfeld von Kräften schufen, das seinerseits politische und wirtschaftliche Macht erzeugte. Mit der Ausdehnung des phönizischen Handels blühten die phönizischen Seehäfen, aber auch andere Städte des Mittelmeerraumes - so vor allem Syracus und Carthago- auf. Das heute über 2500 Jahre alte Smyrna war dadurch in einer besonders günstigen Situation, daß es seit seiner Gründung über gut ausgebaute Handelswege zum Hinterland verfügte. Seine zum Meer führenden Wasserstraßen waren durch vorgelagerte Inseln besonders geschützt. In einer ausgesprochenen Schlüsselstellung, die sich daraus ergibt, daß sich in der Meerenge des Bosporus der Seeweg vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer sowie der Landweg von Europa nach Kleinasien kreuzen, befand sich Konstantinopel. Es wurde um 660 v. Chr. gegründet und später die Hauptstadt des oströmischen Reiches. Die Häfen des Altertums und Mittelalters waren in der Regel

Naturhäfen. Wirtschaftlichen Zwecken dienende Anlagen waren nur

sehr selten vorhanden, da - wie betont - in den meisten Perioden des Altertums und des Mittelalters militärische Notwendigkeiten im Vordergrund standen. So stand der Handel lange Zeit in ausgesprochen enger Beziehung zu Kriegen. Die Sicherung des Hafens gegenüber Angriffen von Seeräubern und Überfällen anderer Feinde war das Vorrangigste. Die Städte bemühten sich aber auch, nach Möglichkeit die Seewege für ihre Schiffe zu sichern und die Wege zum Hinterland offenzuhal ten. Bedingt durch die Eroberungen Alexanders des Großen im vorderen Orient und die Folgen der Auswanderung von Tausenden und Abertausenden von Griechen in die neuen Siedlungsgebiete, blühten die Hafenstädte an der kleinasiatischen Küste und an der Küste des Mittelmeers rasch auf, vor allem die Gründung des Hafens von Alexandrien scheint sehr befruchtend auf den damaligen Seehandel gewirkt zu

152

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

haben. Ein Bild vom Umfang des Seehandels zwischen Griechenland und dem vorderen Orient vermittelt ein Blick auf die Zolleinnahmen von Rhodos, über das der Handel abgewickelt wurde. Sie betrugen 1 Million Drachmen in einem Jahrm. Als weitere wesentliche Handelsstädte in hellenistischer Zeit sind zu nennen: Antiochia, das Ausgangspunkt für den Landverkehr nach dem inneren Asien wurde und Seleukia am Tigris, das sich im Treffpunkt der Handelsstraßen vom iranischen Hochland und vom Persischen Golf befand. Die großen Hafenstädte der damaligen Zeit konnten es sich leisten, größere Flotten auszurüsten, die versuchten, die Seewege weitgehend frei von Seeräuberei zu halten. Nun werden auch Hafenanlagen zu wirtschaftlichen Zwecken errichtet, wenn auch militärische Aufgaben nach wie vor vorherrschen. Für lange Zeit zum wichtigsten Hafen der alten Welt wurde Alexandria, das, einem Gedanken Alexanders folgend, von den Ptolemäern in folgender Form angelegt worden war257 • Charakteristisch ist die Einteilung in einen Großen Hafen und den Eunostos. Die beiden waren durch einen breiten Damm getrennt, der die Insel Pharos mit dem Festland verband. Auf der Insel stand der riesige Pharosturm, der wahrscheinlich als Leuchtturm gedient hat. Im Großen Hafen befand sich ein kleineres Becken, das durch zwei eigene Dämme gegen Sturmfluten u. ä. geschützt war und dem König vorbehalten war. Der Große Hafen war sozusagen das Tor zum Mittelmeer, gleichzeitig Handels- und Kriegshafen, während der Hafen Eunostos das Verteilungszentrum der Waren darstellte, die flußaufwärts verschifft werden sollten. Zwischen beiden Häfen bestand der Hafenmarkt. Zu späteren Konkurrenten von Alexandria wurden die Häfen von Milet und Karthago, anschließend Rhodosm. Eine rasche Entwicklung erlebte auch noch Delos, das lange Zeit als Verrechnungsbörse des Mittelmeerhandels diente. Die zahlreichen Mittelmeerhäfen der hellenistischen Zeit waren in der Regel mit geschickt und wirksam konstruierten Molen und Hafendämmen ausgestattet. Am Ufer wurden "Emporia" erbaut, und an sie schlossen sich Marktplätze an25 D. Den vorrangigen politischen Aufgaben der damaligen Zeit entsprach auch der Charakter des Städtebaus. Die Städte waren zumeist als 25& Vgl. weitere Daten bei K. J. Belach: Griechische Geschichte, 3. Teil, Berlin, Leipzig 1922, S. 308. 257 vgl. Lujo Brentano: Das Wirtschaftsleben der antiken Welt, Jena 1929, S.60. 258 Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, Bd. li, Darmstadt 1955, S. 826. 259 Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, Bd. li, Darmstadt 1955, S. 825.

§

1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

153

Festungen gebaut und mit außerordentlich umfangreichen Sicherungen versehen. In den damals wichtigsten Häfen spielten frühzeitig auch die Wasserregulierung sowie Maßnahmen gegen starke Gezeitenschwankungen und gegen Versandung eine erhebliche Rolle. Beachtenswert ist, wie sich unter den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Blütezeit des Altertums allmählich eine eigene, hochwertige Hafenbautechnik entwickelte. Die Darstellung, die wir bei PZinius über die Hafenbaukunst finden, mutet in mancher Hinsicht geradezu modern an. Karthago, Alexandria und Ostia beispielsweise wurden im wesentlichen deshalb zu künstlichen Häfen ausgebaut, weil sie den wirtschaftlichen und militärischen Ansprüchen, die das hochwertigste Massenverkehrsmittel der damaligen Zeit, die Seeschiffahrt, an sie stellte, so gut wie nur irgend möglich genügen sollten. Von der Leistungsfähigkeit der Seeschiffahrt und damit der Häfen hing die politische und militärische, aber auch die wirtschaftliche Stärke eines Reiches ab. So galten die zwei - oder möglicherweise drei - Häfen des antiken Rhodos als überwältigende Schöpfungen menschlichen Geistes280• Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches geriet die Hafenbautechnik jedoch für lange Zeit nahezu in Vergessenheit. Neben den Hauptzentren der griechischen und römischen Welt gewannen später auch andere Hafenstädte eine gewisse Bedeutung, von denen einige Erwähnung finden sollen. Barcelona beispielsweise war eine griechische Siedlung, die sich, lange vor Rom gegründet, in besonders günstiger strategischer Position befand. Marseille wurde 600 v. Chr. ebenfalls von griechischen Siedlern gegründet. Die vorgelagerten Inseln gaben diesem Hafen eine besonders günstige Entwicklungsbasis.Nachdem dieseKolanie sich zunächst mitRomverbündet hatte, wurde sie schließlich doch von Caesar eingenommen und ihrer Selbständigkeit beraubt. In den folgenden Jahrhunderten wurde sie von den Goten, später von den Arabern besetzt, wodurch ihre Entwicklungsfähigkeit für lange Zeit behindert war. Zur Zeit der Völkerwanderung sowie in den darauffolgenden Jahrhunderten schrumpfte das wirtschaftliche Leben in den meisten Teilen der damaligen Welt auf einen Umfang, der von der Naturalwirtschaft nicht mehr weit entfernt war. Während die Häfen im Hochmittelalter zur weltwirtschaftliehen Entwicklung wesentlich beigetragen haben, was eine Fülle von Quellenmaterial belegt, sind die Quellen für die folgenden Jahrhunderte ausgesprochen unergiebig. Ohne gesicherte 200 Zitiert bei M. Rostovtzeff: Gesellschafts- und he~lenistischen Welt, Bd. II, Darmstadt 1955, Tafel

Wirtschaftsgeschichte der LXXVI: Beschrieben von Strabo: (XIV 2, 5, p. 652 f.), Dio Chrysostomus: (XXXI 146) und Aristeides: (XXV, p. 810 D), K. Lehma.nn-Hartl.eben: Die antiken Hafenanlagen des Mittelmeeres, in: Klio Beiheft XIV (N. F. I), 1923, S. 128 :ff.

154

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

Verbindungen zum Hinterland und infolge der Behinderung des Seeverkehrs durch Seeräuber und ungesicherte Herrschaftsverhältnisse verringerte sich der Einfluß der Seehäfen ganz beträchtlich. Im Mittelalter war die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit der Hafenstädte noch mehr als in der Blütezeit des Altertums von militärischen und wirtschaftlichen Konstellationen bestimmt. Die Bedeutung von Organisation und Verwaltung der Hafeneinrichtungen war gegenüber der Funktion des Hafens als Handelsplatz noch bis weit in die Neuzeit hinein sehr gering. Zwar wurden an einigen Stellen die Hafenbecken vergrößert, aber einfache Lade- und Löscheinrichtungen sowie menschliche Arbeitskraft verursachten derartig geringe Kosten, daß sie ohne Schwierigkeit aus dem Gewinn des Handels getragen werden konnten. Gerade unter verkehrspolitischen Perspektiven ist es von besonderem Interesse, wie sich nach dem Zusammenbruch der antiken Weltwirtschaft und der jahrhundertelangen Verkümmerung im Mittelalter allmählich wieder ein System des Fernhandels zu entwickeln begann. Diese Neuentfaltung hatte ihren Ausgangspunkt in einigen wenigen Hafenstädten, von denen aus sich eine Steigerung der Verkehrswertigkeit des damaligen Verkehrssystems am leichtesten durchführen ließ. Jahrhundertelang waren beispielsweise im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit Venedig und Genua die wichtigsten Häfen des Welthandels. Nachdem seit nahezu einem Jahrtausend kein künstlicher Hafen mehr errichtet worden war, waren Venedigs und Genuas Baumeister bemüht, systematisch die Technik des Hafenbaus wiederzuerlernen261 • Die Geschichte Venedigs ist jahrhundertelang für den Charakter der damaligen Welthäfen typisch gewesen. Weil es Karl dem Großen an einer Seemacht ermangelte, war er im Frieden von Aachen gezwungen, Venedig als Preis für die Anerkennung seiner Kaiserwürde an Byzanz zurückzugeben. Venedig konnte damit im Rahmen des byzantinischen Reiches den Handel ausbauen. Es erkannte 70 Jahre später die Hoheit des Königs der Langobarden und wieder 80 Jahre danach die Herrschaft Ottos des Großen an. Damit wurden die Brennerstraße und die Rheinebene an das Handelsgebiet angeschlossen262 • Venedig hatte die große historische Chance, daß seine Selbständigkeit erreicht war, als das Zeitalter der Kreuzzüge begann. In kluger Diplomatie hatten die Dogen 263 die Freiheit zwischen den großen Reichen geschaffen. Als zur Völkerwanderungszeit die Goten nach Italien einströmten, wurde auf sicheren Lagunen von Flüchtlingen der Freistaat Venedig gegründet. Daß dieser als Handels- und Sammelplatz für die 261 262

zeit

263

0. Franzius: Der Verkehrswasserbau, Berlin 1927. Lenel: Adria, S.1; Robert Holzmann: Geschichte der (1941), S. 216 und 229. Egmont Zechlin: a.a.O., S. 305.

sächsischen Kaiser-

Venedig wurde gegründet 452 n. Chr. nach der Zerstörung Aquilejas.

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

155

Kreuzzüge diente, sicherte der neugegründeten Stadt einen schnellen Aufstieg264 . Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gelang es der Staatskunst von Venedig, den vierten Kreuzzug von seinem ursprünglichen christlichen Ziel, Jerusalem, abzulenken. Ägypten, als Hauptziel des mohammedanischen Widerstandes sollte nun angegriffen werden. Es folgte ein Angriff auf Zara, alles im verborgenen Interesse von Venedig. Als Ergebnis entstanden ein venezianisches Kolonialreich und eine Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer. Der gesamte Orienthandel lief nun über Venedig265. Im 15. Jahrhundert war Venedig zum Mittelpunkt des Welthandels aufgestiegen und zählte bereits 200 000 Einwohner266 . Durch Venedig- später durch Genua- wurde Amalfi als Vermittler des Orienthandels, der damals in den Händen der Araber lag, abgelöst. Venedig wurde der Schnittpunkt der abendländischen und orientalischen Welt, der Mittelpunkt des Wirtschafts- und Verkehrssystems des Hoch- und Spätmittelalters, getragen von wirtschaftlichen Anreizen, aber erfüllt mit hoher kultureller Leistung. In der Galeeren-Seeschlacht vor Lepanto (1571) siegte Don Juan d'Austria, der Halbbruder Philipps II., als Oberbefehlshaber der spanischen Flotte mit Unterstützung des Papstes und Venedigs über die Türken. Insgesamt waren 400 Schiffe beteiligt. Trotz des Sieges erlebte auch Venedig eine Minderung seiner Macht. Interessanterweise gab es in Venedig keine nennenswerte Flotte privater Schiffseigentümer, sondern die Handelsschiffe wurden nahezu ausschließlich gemietet, wobei der Staat als Vermieter auftrat. Der Mieter mußte persönlich auf dem Schiff mitfahren, dessen Landungsorte, Aufenthaltsdauer sowie Frachtmenge vorgeschrieben wurden. Damit wurde eine außerordentliche Konzentration des Handels erreicht. Das Kolonialsystem Venedigs mit Ausschließung Fremder vom Verkehr mit den Kolonien wurde zum Vorbild des merkantilistischen Kolonialsystems267. Die deutschen Kaufleute durften in Venedig nicht über die Lagunen hinausfahren und nur mit Italienern handeln288 . 264 Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, Zwölfter Vortrag, S. 64, sagt, es sei noch kein wunderlicheres Unternehmen gewagt worden, als der erste Kreuzzug. Ohne eine Seemacht zu besitzen, wollten die Kreuzfahrer ein Land jenseits der See erobern. Für die Seestädte Pisa, Venedig, Genua, später auch Marseille, entstand die große Chance, in steigendem Umfange Schiffe zu bauen. Der Transport der Kreuzfahrer und der Nachschub für sie wurden ein sehr rentables Unternehmen. 265 Egmont Zechlin: a.a.O., S. 308 f. 266 Alexander Dorn: Die Seehäfen des Weltverkehrs, Wien 1891, Bd. 1. Häfen Europas sowie der asiatischen und afrikanischen Küsten des Mittelmeerbeckens. 267 Lujo Brentano: Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, Il. Bd., Jena 1927, S. 159. !OS Egmont Zechlin: a.a.O., S. 317.

156

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

Mit den venezianischen Schiffen, die König Ludwig dem Heiligen für seinen Kreuzzug zur Verfügung gestellt wurden, konnten etwa je 1000 Pilger ins Heilige Land transportiert werden. Man kann sich allerdings denken, daß die Passagiere gezwungen waren, auf engstem Raum zu leben269 • Da in Venedig von jeher Schutzeinrichtungen gegen Sturmfluten sowie gegen die Versandung durch einmündende Flüsse geschaffen worden waren, war die Hafenbautechnik hier sehr früh zu einer erstaunlichen Blüte gelangt. So wurde ein Netz von Kanälen, die mit Schleusen zum Ableiten der Hochwässer versehen waren, gebaut, und auch die Wege zum Binnenland wurden schon früh durch Kanäle erschlossen. Der Aufstieg von Genua vollzog sich unter erheblich schwierigeren Umständen als der von Venedig. Genua war für die feudale Gewalt der langobardischen Könige besser zugänglich als die Lagunenstadt, die von drei Seiten her geschützt war. Klug nutzte die Stadt die Gegensätze zwischen Kaiser und Papst aus, wie auch die Idee des Kreuzzuges stark von Geschäftssinn durchsetzt war. Für Genua war der Ausgangspunkt für die Entwicklung zum Welthafen die Tatsache, daß seine geschützte Bucht schon von griechischen Schiffen als Stützpunkt benutzt worden war. Nachdem auch die Römer hier einen Stützpunkt errichtet hatten, erreichte Genua kurz vor dem ersten Kreuzzug (1096-99) seine politische Unabhängigkeit. Es begann, gestützt auf seine günstige strategische Lage, eine eigene Flotte aufzubauen, wobei es gezwungen war, seine Seewege gegenüber den Arabern zu schützen. Ähnlich wie bei Venedig wurde auch die Entwicklung Genuas in entscheidendem Maße durch die Kreuzzüge gefördert. Da die Stadt als Basis der Verschiffung und des Nachschubs diente, war sie in der Lage, ihren Handel mit dem Orient auszuweiten. Im Jahre 1261 beteiligte sich Genua am Sturz des lateinischen Kaisertums in Konstantinopel, wodurch es seine Einflußsphäre bis zum Schwarzen Meer auszudehnen vermochte. 1350-55 und von 1378 an wurden lange Kriege zwischen Genua und Venedig geführt. Im Turiner Frieden (1381) siegte zwar Genua, aber die Stadt war im Innern politisch zerrissen. Allmählich verlor sie damit ihre maritime Stärke (Zechlin). Dadurch wurde gleichzeitig die Vormacht Venedigs begründet. Nach seinem Rückgang im 15. Jahrhundert erlebte Genua im 16. Jahrhundert vorübergehend nochmals eine Blütezeit. Auf der Messe in Genua, die in der Zeit von 1550 bis 1620 einen besonderen Aufschwung nahm, zeigte sich- als Sekundäreffekt des damaligen europäischen Verkehrssystems- eine interessante Konzentration des Geld·· 2&9

Alfred Doren: Italienische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Jena 1934, S. 394.

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

157

und Kreditverkehrs für weite Teile Europas. Die Periode des beginnenden Merkantilismus sowie die Schuldenwirtschaft der absoluten Herrscherhäuser ließen internationale Geld- und Einkommenskreisläufe entstehen, deren räumliche Verteilung durch das damals bestehende Verkehrssystem geprägt wurde. Trotz des Niedergangs des Mittelmeerhandels vermochte Genua weiterhin eine entscheidende Rolle zu spielen, da es die Handels- und Finanzgeschäfte der Konkurrenzhäfen vorübergehend auf sich ziehen konnte. Seit etwa 1620 setzte ein erneuter Niedergang ein270, da nun die Häfen der Atlantikküste endgültig die Vormachtstellung errangen. Zur Zeit des Niedergangs ihres Reichtums und ihrer Macht wagten es deshalb weder Venedig noch Genua, Spanien und Portugal anzugreifen, als Papst Alexander VI. im Jahre 1493 im Vertrag von Tordesillas alles, was von einer gedachten Trennungslinie 370 Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln in östlicher Richtung entdeckt werden würde, Portugal zusprach und alles westlich von dieser Grenze Entdeckte Spanien zuteilte. Beide Hafenstädte begnügten sich damit nachdem sowohl Portugal wie Spanien ihre Kolonien grundsätzlich für Fremde hatten sperren lassen - zu den Häfen von Lissabon und Cädiz zugelassen zu werden.

Marseille war im Mittelalter eine freie Stadtgemeinde, deren Kaufleute von allen Abgaben befreit waren. Seit der Mitte des 10. Jahrhunderts gewann es hinsichtlich seines Hafens zunehmende Bedeutung -eine Entwicklung, in deren Verlauf Marseille 1112 zur selbständigen Republik wurde. Auch aus den Kreuzzügen vermochte der Hafen Gewinn zu erzielen. Jedoch vollzog sich seine Entwicklung in der Folgezeit nicht kontinuierlich, sondern wurde immer wieder durch die Auswirkungen bewegter politischer Ereignisse unterbrochen. Nach der Angliederung an Frankreich konnte sich Marseille seine Freiheit erhalten, indem es außerhalb der Zollgrenze Frankreichs als Freihafen bestehen blieb. Unter Colbert wurden auch die fremden Kaufleute vom Ein- und Ausfuhrzoll befreit. Lange Zeit war Marseille der wichtigste Konkurrent Venedigs im LevantehandeL Vor Marseille (1669) erhielten im Merkantilismus schon andere Häfen den Charakter eines Freihafens. Der erste Freihafen, der in der Neuzeit angelegt wurde, war Livorno in Italien (1547). Genua schuf einen Freihafen 1595, Neapel 1633 und Venedig 1661. Am Atlantik erlebte Brügge kurze Zeit eine ungewöhnliche Blüte. Dieser Hafen, der im 7. Jahrhundert erstmalig erwähnt wird, bildete sich im 11. Jahrhundert zum Vorort des Wollhandels mit England 210 Sieveking: Aus Genueser Rechnungs- und Steuerbüchern. 1909. Sitzung der Akademie der Wissenschaft in Wien, S. 52 f.

158

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

heraus. Die Entwicklung Brügges war ähnlich wie die von Nowgorod im Osten ein Ergebnis des weitverzweigten Binnenschiffahrtsystems, das den hansischen Koggen zugänglich war. Im 13. Jahrhundert wurde Brügge als Stapelplatz der deutschen Hanse zum Schwerpunkt des mittelalterlichen Fernhandelsystems. Brügge wurde dabei Grenz- und Umschlagsplatz sowohl der Hanse wie der levantinischen Seehandelsmonopole der italienischen Städte. Da hier End- und Ausgangspunkt der Rheinschiffahrt war, kamen Kaufleute der ganzen Welt zusammen. So entstand in Brügge ein beachtlicher Reichtum, der dazu führte, daß sogar Häuserfassaden vergoldet wurden. Etwa ab 1450 begann der Meerbusen vor Brügge immer stärker zu Yersanden. Da Brügge in der politischen Situation der damaligen Zeit nicht genügend Kraft und technische Möglichkeiten hatte, dem Verfall seines Hafens entgegenzuwirken, verlor es seine einstmals große Bedeutung im Laufe der Zeit vollständig. Hamburg {gegründet 825 n. Chr.) führt die Entstehung seines Hafens auf einen Freibrief des Kaisers Friedrich Barbarossa vom 7. Mai 1189 zurück, mit dem Kaufleuten und Schiffern Zollfreiheit auf der Niedereibe bis zur Nordsee gewährt wurde. 1450 hatte es 16 000 Einwohner. Seine Position beruhte vorzugsweise auf dem Warenumschlag zwischen Ostsee und Nordsee271 , dem Handel mit den ländlichen Produkten der Umgebung, aber auch mit dem Handel von Bier, hergestellt im 14. Jahrhundert von 500 Brauereien und dem Handel der Fernkaufleute.

Harnburg- zunächst hauptsächlich ein "Alsterhafen"- verstand es, die Eibe, deren Wassermassen vorwiegend zunächst in der "Süderelbe" für die Stadt ungünstig vorbeiflossen, durch Eindeichen und Durchstiche - trotz heftiger Kämpfe der Betroffenen - allmählich an sich heranzuziehen. Der Hafen hatte um 1600 schon eine solche Bedeutung, daß 1607 ein Lotsendienst auf der Eibe errichtet wurde. Auch das als Konkurrenzhafen 1616 von dem dänischen König Christian IV. gegründete Glückstadt konnte mit Hilfe der Privilegien an der Untereibe niedergehalten werden, jedoch erhob es von allen nach Harnburg fahrenden Schiffen einen Zoll, da auch Stade zum dänischen Herrschaftsbereich gehörte. In der weiteren Entwicklung Hamburgs ist das Jahr 1618 von Bedeutung, denn in diesem Jahr wird Harnburg zur "Kaiserlich Freye Reichsstadt" ernannt. Elf Jahre später, 1629, erhält Harn· burg das große Elbprivileg; danach durfte nur Harnburg auf der Eibe Kriegsschiffe halten und dort Zölle erheben. 271 Weniger wertvolle Güter machten im Nord-Ostsee-Verkehr zwar den Umweg über Skagen (z. B. Holz und Getreide). Jedoch wurden wertvolle Güter (z. B. Pelze, Flachs, Erzeugnisse der Viehwirtschaft, Tuche, Gewürze, Mandeln, Wein) dem 65 km langen Landweg anvertraut.

§ 1: Die Seehäfen im Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

159

Im Ostseeraum hatte Lübeck (gegründet 1158) 272 eine sehr starke Position erringen können. Nach mehreren vergeblichen Anläufen war diese Stadt endgültig unter Heinrich dem Löwen gegründet und zugleich mit Zoll- und Münzrecht ausgestattet worden. Aufgrund ihrer günstigen verkehrspolitischen Situation hatte sie die Führung der Hanse übernehmen und damit eine Spitzenstellung erreichen können. Die Hanse, die sich auf die Verbindungslinien des Fernhandels im Landesinnern stützte, vermochte ihre Position vorwiegend durch Vermittlung der Hafenstädte auszubauen. So baute sie einen Verbindungskanal von der Elbe nach Lübeck273 und bemühte sich um einen planmäßigen Ausbau der von ihr benutzten Häfen, in denen sie gut organisierte Hafenverwaltungen einrichtete. Lübecks Entwicklung blieb eng mit diesem Bund verflochten, und als dieser seinen Höhepunkt überschritten und die Ostsee gegenüber dem Atlantik sowie gegenüber der Indienfahrt an Bedeutung verloren hatte, wurde die Stellung Lübecks als Hafen stark geschwächt. Es erfolgte 1669 die letzte Tagfahrt274 "der Hanse in Lübeck". Danach zerfiel die Hanse und nur die Städte Lübeck, Harnburg und Bremen pflegten die Tradition. Erwähnen wir noch einige weitere Beispiele aus dem Ostseeraum: Kopenhagen besaß für den Handel wie für Kriegszwecke eine außerordentlich günstige Lage, da es allen Handel, der nach Osten floß oder. von der Ostsee kam, an sich ziehen und die Meerengen zwischen Nord- und Ostsee leicht kontrollieren konnte. Diese Ursachen führten 1168 zu seiner Gründung als fester Hafen. Seit 1443 war Kopenhagen Residenzstadt und wurde durch Festungsbauten weiter verstärkt. Sein Handel nahm im 18. Jahrhundert eine außerordentlich günstige Entwicklung, weil Kopenhagen während sowie nach der Französischen Revolution einer der wenigen wirklich sicheren und neutralen Punkte in Europa war. Bereits seit den ältesten Zeiten bestanden auch in der Odermündung Handelsplätze, einem Gebiet also, in dem später die Stadt Stettin entstand, die seit dem 12. Jahrhundert dem Hansebund angehörte. Später wurde Stettin Residenz der Herzöge von Pommern und gelangte 1648 212 Zu den Problemen um die Gründung Lübecks als Beginn eines weitschauenden wirtschaftspolitischen Programms und zu der Auseinandersetzung über das Gründungsjahr vgl. Fritz Rörig: Die Gründungsunternehmerstädte des 12. Jahrhunderts. In: Hansische Beiträge zur Deutschen Wirtschaftsgeschichte. Breslau 1928, S. 243 ff., aufgenommen in: "Wirtschaftskräfte im Mittelalter", Weimar 1959, S. 247, 262. 273 Die Idee, zwischen der Nord- und Ostsee eine Wasserverbindung zu schaffen, wurde geboren, um die Position Lübecks im Verkehrssystem der Hanse zu verbessern. Dabei spielte aber die Überlegung eine Rolle, wie man die gefährliche Umschiffung von Skagen und außerdem den dänischen Sundzoll vermeiden könne. Gebaut wurde daher in der Zeit von 1391-98 der Stegnitz-Kanal zwischen Lauenburg an der Elbe und Lübeck. 274 Ältere Rechtssprache = Termin.

160 § 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme

unter schwedische Oberhoheit. Lange Zeit war es der größte Handelsplatz Preußens und zählte zu den bedeutenden deutschen Industriestädten275. Danzig erhielt im Jahre 1265 das Stadtrecht. Mit seiner günstigen Handelslage in der Weichselmündung stand ihm ein reiches Hinterland zur Verfügung, welches weit bis nach Rußland hineinreichte. Die Stadt wurde vom Deutschen Orden stark gefördert und trat der Hanse bei. Ernstlich in Mitleidenschaft gezogen wurde sie durch die Kriege Napoleons. Die Hansestädte fühlten sich zwar immer als ein Teil des Reiches, trieben aber vielfach eine sehr eigensinnige, von ihren Handelsinteressen bestimmte Politik. Schon 1628 hatten die Hansestädte von Wallenstein ihre politische Neutralität verlangt. Der Pariser Vertrag von 1716 garantierte sie ihnen bei einem etwaigen deutsch-französischen Krieg, und auch der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 gewährte ihnen eine Position beschränkter Neutralität. Die außerordentlich kleinen Seeschiffe des Altertums und Mittelalters vermochten auf Flüssen verhältnismäßig tief in das Landesinnere einzudringen. 50 und 100 Tonnen große Seeschiffe waren in der Lage, sogar noch auf Flüssen zu fahren, auf denen heute keinerlei Binnenschiffsverkehr mehr stattfindet. Eine Grenze bildeten eher die vielen Stapel- und Zollrechte, die oft der Grund dafür waren, daß es in früheren Jahrhunderten erheblich mehr Seehäfen gab als heute.

§ 2: Die Entwicklung der Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme Die Entdeckung des Seeweges nach Indien bedeutete eine erhebliche Schwächung der spanischen Seemacht, da im Gebiet des Atlantischen Ozeans eine ganze Reihe neuer Stätten des Welthandels erwuchsen. Auch für die italienischen Stadtrepubliken brachte der Weg nach Ostindien einen empfindlichen Niedergang. Hinzu kam, daß die allmäh~ lieh vordringenden Türken die bisherigen Wege sperrten. Zunächst erfuhr Sevilla dank der veränderten Verkehrsströme eine beträchtliche Steigerung seiner wirtschaftlichen Bedeutung. Von Phöniziern war Sevilla als Siedlung vor der fruchtbaren Ebene des Guadalquivir angelegt worden und war unter römischer, gotischer sowie arabischer Herrschaft Provinzhauptstadt geworden. Anfang des 12. Jahr275 M. Wehrmann: Geschichte der Stadt Stettin, 1911; H. v. Bartenwerfer: Die Oderschiffahrt in der Nachkriegszeit, 1928; Peter-Heinz Seraphim: Die Ostseehäfen und der Ostseeverkehr, 1937; E. Frank: Die industrielle Entwicklung Stettins, Diss. Köln 1934.

§ 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme

161

hunderts war Sevilla mit einer Einwohnerzahl von 400 000 die bei weitem reichste Stadt Südspaniens. Im Jahre 1248 wurde sie von den Christen zurückerobert. Als daraufhin rund 300 000 Einwohner die Stadt verließen, verödete sie vollständig. Doch die Entdeckung Amerikas führte dank der geographischen Lage Sevillas einen schnellen Wiederaufstieg herbei. Von 1501 bis 1720 hatte Sevilla im transatlantischen Handel eine Monopolstellung inne, ohne diese freilich - mit Ausnahme der ersten Jahrzehnte - voll nutzen zu können. Von früh an beherbergte die Stadt das spanische Kolonialministerium und erwarb ungeheure Reichtümer276 • Innerhalb einer Zeit von nur wenigen Jahrzehnten wurde das mediterrane Gebiet aus seiner starken Stellung, die es bis dahin im Welthandel innegehabt hatte, verdrängt. Für einige Jahrhunderte sank das Mittelmeer nahezu zum Binnengewässer herab 211 • Vor allem an der Atlantischen Küste kamen neue Häfen auf, und die Gewürze, die früher von Venedig und Genua nach Europa kamen, wurden nunmehr in Lissabon27 B gelöscht. Doch waren dort die Verbindungen zum Landesinneren so schlecht, daß sich der Handel allmählich nach Antwerpen zu verlagern begann. Der Spezereihandel Venedigs blieb zwar in dem oben geschilderten Rahmen auch nach Entdeckung des direkten Seeweges nach Indien zu210 Während des Selektionsprozesses der Häfen verlor Sevilla etwa ab 1740 den Charakter eines Seehafens, da die immer größer werdenden Schiffe nicht bis zum eigentlichen Hafen vorzudringen vermochten. Gegen die zunehmende Versandung der Zufahrtswege wurde zu wenig getan, als die weiter nördlich gelegenen günstigeren Atlantikhäfen ein Übergewicht erhielten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Kanal zur See hin geschaffen. 211 Kurt Wiedenfeld: Die nordwesteuropäischen Welthäfen ... , Berlin 1903, S.20f. 21s Lissabon, das 1147 endgültig portugiesisch: und bald darauf Portugals Hauptstadt geworden war, entwickelte sich eine Zeitlang zum ersten Markt Europas. Nachdem Vasco da Gama 1497-99 den Seeweg nach Indien gefunden hatte, statteten die Portugiesen die Stadt mit dem Monopol des Ostindienhandels aus und machten sie somit zum einzigen Handelslager und Umschlagplatz besonders für indische Gev.rürze. Erhebliche Einbußen mußte die Entwicklungsfähigkeit von Hafen und Stadt hinnehmen, nachdem Portugal von den Spaniern besetzt worden war und diese Lissabons Handelsumfang erheblich einschränkten. So kamen die Holländer, die bis dahin wie alle anderen Seenationen Europas auf den Einkauf in Lissabon angewiesen waren, in die Lage, dessen ehemalige Handelsmonopole zu durchbrechen. Als Portugal erneut selbständig wurde, konzentrierte es seine Bemühungen auf Brasilien, das 1654 endgültig portugiesische Kolonie wurde. Lissabon richtete folglich seinen Handel immer mehr auf Brasilien aus und zog erheblichen Nutzen speziell aus dem SklavenhandeL Lissabon blieb zwar auch in der Folgezeit der Haupthafen Portugals, hatte allerdings nur noch lokale Bedeutung. Zwar kommt es der Stadt zugute, daß sie über einen geräumigen und sicheren Hafen verfügt, der durch die tiefe Mündung des Tejo stets bequem zu erreichen war; dennoch vermochte sie keine bedeutenden Umschläge mehr zu erzielen, weil dafür kein entsprechendes Hinterland vorhanden war.

11 Volgt 1111

162 § 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme nächst noch erhalten, ging jedoch von der Mitte des 15. Jahrhunderts immer stärker zurück. Das hatte seine Ursache vor allem darin, daß die Osmanen, nachdem sie Kleinasien, Griechenland und Ägypten erobert hatten, die bisherigen Handelswege nach Indien sperrten. Ende des 16. Jahrhunderts entstanden in Konstantinopel, Kleinasien sowie Ägypten holländische, französische und englische Handelsniederlassungen, und die Venezianer schieden endgültig aus dem Handelsverkehr zwischen Westeuropa und dem Osten aus. Dazu kam noch eine wenig vorausschauende Hafen- und Schiffahrtspolitik. So schreibt Montesquieu im Jahre 1728, daß die Schiffe 4 Meilen vor der Stadt ankern müßten, weil der Hafen stark versandet sei. Die hohen, von ausländischen Schiffen erhobenen Zölle seien außerdem der Grund dafür, daß nicht mehr als 20 französische Schiffe jährlich Venedig anliefen.

Antwerpen trat im 17. Jahrhundert endgültig in die vorderste Reihe der Seehäfen ein, zu einem Zeitpunkt, als für Brügge bereits der Niedergang einsetzte. Die Antwerpener Börse wurde die erste internationale Börse der Neuzeit. Die Lage des Antwerpener Hafens ist dadurch begünstigt, daß er die Scheide-Mündung beherrscht und inmitten Flanderns liegt - einem Landstrich, der bereits seit Mitte des 13. Jahrhunderts eine Mittlerstellung zwischen dem Mittelmeer und der Ostsee einnahm und eine ungewöhnliche kulturelle Blüte zu entfalten wußte. Antwerpen wurde somit zu einem bedeutenden Stapelplatz für alle Weltteile, nicht nur für Europa. Die Holländer konzentrierten hier ihren Handel, und zahlreiche ausländische Kaufleute kamen regelmäßig nach Antwerpen oder errichteten dort Niederlassungen. Um den Aufbau Antwerpens zum Zentrum des internationalen Handels zu fördern, gewährte Antwerpen den Fremden eine verhältnismäßig weitgehende Handelsfreiheit, ganz im Gegensatz beispielsweise zu der Politik Venedigs und zeitweise auch der Hanse, die darauf bedacht waren, daß nur venezianische Kaufleute bzw. Kaufleute aus den Hansestädten den Handel in ihrem Machtbereich betrieben. Der Eigenhandel der Landesbewohner war daher in Antwerpen in dieser Zeit relativ gering. Der Niedergang Antwerpens setzte mit Beginn des niederländischen Befreiungskrieges ein, in dem die Stadt zerstört und die Scheidemündung geschlossen wurde. Erst 1803, als Napoleon die Scheide zur freien Wasserstraße erklärte und Antwerpen ausbauen ließ, begann der Hafen sich ganz allmählich wieder zu erholen.

Brügge, das generationenlang der bedeutendste und reichste Handelsplatz Europas gewesen war, jedoch - wie bereits geschildert - seit 1450 durch die zunehmende Versandung in seiner Bedeutung zu einem kleinen Landstädtchen abgesunken war, gelangte erst nach Beendigung der politischen Wirren durch den Bau des Seekanals Gent - Terneuzen zu einer zweiten wirtschaftlichen Blüte.

§ 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme

163

Die meisten Häfen der französischen Atlantikküste konnten im 17. Jahrhundert, da sie nicht ausreichend ausgebaut waren, nur von

sehr kleinen Schiffen angelaufen werden. So konnten nach Bordeaux, Nantes und La Rochelle nur solche Schiffe gelangen, die ein Fassungsvermögen von nicht mehr als 200 t hatten. Allerdings reichten Häfen mit dieser Aufnahmefähigkeit für die meisten Schiffe der damaligen Zeit durchweg noch aus. Die wenigen Schiffe mit einem Raumgehalt von 300 bis 500 t waren an der französischen Atlantikküste auf den Hafen von Le Havre angewiesen. Häufig wurde vor Erreichen des Hafens geankert, um die Waren auf Leichter umzuladen. Im Jahre 1628 wurden auf Befehl Richelieus in Le Havre die ersten mit Schleu:::en versehenen Hafenanlagen errichtet. Einige Angaben, die auf den Verkehrsumfang der französischen Häfen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließen lassen, sind bekannt. Zwischen 1749 und 1755 liefen im Jahresdurchschnitt aus Bordeaux jährlich 163, aus Nantes 103, aus La Rochelle 41 und aus Marseille 29 Schiffe in die Kolonien aus. 1800 wurde etwa ein Viertel des gesamten französischen Seehandels über Bordeaux abgewickelt. In Le Havre wurden im Jahre 1787 141 Segler mit insgesamt 34 000 t gezählt, die in die Kolonien ausliefen oder aber dem Sklavenhandel nachgingen279. Mit dem Status eines Freihafens (ports-francs) waren seit dem

17. Jahrhundert in Frankreich vier Häfen versehen: Marseille280 ,

Bayonne, Lorient und Dünkirchen. Dabei wurde jeweils die ganze Stadt als außerhalb der Zollgrenze liegend angesehen, und für die über See ankommenden Waren brauchten keine Zölle oder sonstige Verkehrsabgaben entrichtet zu werden. Schwierigkeiten bereiteten dem Handelsverkehr seit Ende des

16. Jahrhunderts an der gesamten Atlantikküste die sarazenischen Piraten, die sogar bis Harnburg vordrangen (1662). Auch in den folgenden

2 Jahrhunderten wurden immer wieder Hamburger Schiffe samt Besatzung gekapert.

Auch die Situation der englischen Häfen zu Beginn der Neuzeit war durch die Verlagerung des Welthandels bestimmt, wodurch sich für England manche Chance der Entwicklung eröffnete, die aber von politischen Kräften gewaltsam versperrt wurde. Englands Politik war damals durch einen extremen Fremdenhaß gekennzeichnet, der aus verschiedenen Quellen gespeist wurde. So hatte die Hanse um 1500 22 vH der englischen Tuchausfuhr, 97 vH der Einfuhr von Wachs und 279 Vgl. Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und c:ler Neuzeit. II. Neudruck, Berlin 1954, S. 228 :ff. 2so Ebenda, S. 6.

164 § 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme

knapp 7 vH an übrigen Warenaus- und -einfuhren in der Hand2 8 1 • Venedig hatte für die Engländer den Zugang zu seinen Kolonien gesperrt, weshalb im Jahre 1533 auch die Fahrten venezianischer Flotten nach England aufgrund der Fremdenfeindlichkeit beendet werden mußten. In Spanien wurden unter Philipp II. englische Kaufleute wegen ihres Glaubens von der Inquisition verfolgt. Schließlich war den Engländern auch der lukrative Handelsverkehr mit Mexiko, Peru und anderen Kolonien Spaniens und Portugals versperrt. Ihnen wurde sogar der Sklavenhandel mit Westindien verboten. Froude 282 und Brentano schildern, wie diese Situation dazu führte, Seeräuberei als ehrenhafte Erwerbsart sogar hochangesehener Familien anzusehen. Als auserwähltes Volk seien die englischen Protestanten dazu berufen, das Eigentum der katholischen Untertanen Philipps II. als gottgefälliges Werk zu plündern283. In einem Gesetz von 1559 waren 22 Kais des Londoner Hafens benannt, an denen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang Schiffe befrachtet und entladen werden durften28'. Der Güterumschlag war damals - an heutigen Maßstäben gemessen - noch verhältnismäßig gering, eine Folge der relativ kleinen Tragfähigkeit der damaligen Schiffe. Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Schiffstonnage Londons einen Umfang von 70 000 t im Jahr erreicht. Am Anfang des 19. Jahrhunderts umfaßte die englische Handelsflotte hingegen bereits eine Tonnage von 1,7 Millionen. Davon entfiel eine halbe Million auf London, das durch die Navigationsakte besonders begünstigt war. Der England vorbehaltene Handelsverkehr mit den Kolonien wurde mit der Zeit immer mehr von London aus abgewickelt. Auch Liverpool war bereits frühzeitig ein bedeutsamer Handelsplatz, während Manchester und Birmingham zunächst noch keinerlei Bedeutung hatten. Liverpool erhielt- ebenso wie Boston in Nordamerikasein Gewicht vorzugsweise durch den Sklavenhandel, nachdem dieses "lukrative" Gewerbe gegenüber Spanien und Portugal hatte durchgesetzt werden können. Nachdem unter der Regierung der Königin Elisabeth der Hanse ihre Privilegien entzogen worden waren und 1598 der hansische Stalhof in London geschlossen wurde, trat zunächst eine 281 Lujo Brentano: Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands. II, Jena 1927, S. 162 :ff. !82 James Antony Froude: History of England from the fall of Wolsey to the death of Elisabeth. Vol. 1-12, London 1858--1870, Bd. 9, S. 358--360. Bd. 10, S. 26~269, Bd. 11, S. 91-94. 283 Allein innerhalb weniger Monate des Jahres 1563 wurden 60~700 französische, flandrische und spanische Schiffe gekapert. Vgl. hierzu auch J. G. Büsch: Über das Bestreben Völker neuerer Zeit, einander in ihrem Seehandel recht wehe zu tun. 1800 (in: Sämtliche Schriften, Bd. IV, Harnburg 1825). 284 Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. II, Neudruck, Berlin 1954, S. 233.

§ 2: Die Seehäfen in der Zeit der Verlagerung der Welthandelsströme

165

gewisse Verödung auch von Liverpool ein. Dieser Rückgang hielt jedoch nicht lange an. Aus Liverpool wurden insbesondere die Erzeugnisse der englischen Metallwarenindustrie (Knöpfe, Messer, Nadeln, Nägel) nach der westafrikanischen Küste ausgeführt. Dort wurden Sklaven für Brasilien und die Westindischen Inseln geladen und wiederum gegen Kolonialwaren eingetauscht285 • Von den 1783 bis 1793 aus Westafrika nach Westindien ausgeführten ca. 814 000 Negern soll etwa die Hälfte auf Liver• pooler Schiffen transportiert worden sein288 • Im Jahre 1878 betrug die in britischen Häfen einlaufende Tonnage 14,5 Mill. t britische sowie 6,3 Mill. t ausländische Schiffe, die auslaufende 15,8 Mill. t britische und 5,8 Mill. t ausländische Tonnage. Als der Handel der Hanse in der Ostsee erlahmte und England sowie die Niederlande aufzublühen begannen, wurde Hamburg, das im Mittelalter lange nicht die Stellung von Städten wie z. B. Lübeck, Rostock oder Danzig gehabt hatte, zum wichtigsten Hafen Deutschlands. Zunächst betrieb Harnburg allerdings kaum direkten Überseehandel, sondern bediente sich der Vermittlung der Niederlande und Englands. Wie Kulischer 281 berichtet, betrieb 1625 ein Drittel der Hamburger Handelsmarine Frachtverkehr mit den Niederlanden. Die günstige Lage Hamburgs an der Eibe, an einer Stelle, die für die damaligen Schiffsgrößen leicht zugänglich war und dennoch weit im Landesinneren lag, sowie die Möglichkeit, ein gutes System von Binnenwasserstraßen zur Weiterbeförderung zu benutzen, schuf eine außerordentliche Vorzugsposition. Schon 1558 wurde in Harnburg eine Börse errichtet, 1614 folgte die Bremer Börse. 1619 wurde in Harnburg auf Initiative der Hamburger Kaufleute die erste Girobank im Gebiet des Deutschen Reiches gegründet, die in der stets auf Neutralität bedachten Hafenstadt Ausgangspunkt eines wachsenden Geld- und Wechselgeschäfts wurde. Im Jahre 1623 entstand das Harnburgische Admiralitätskollegium, das für alle Fragen des Hafens und der Schiffahrt zuständig war. Es gelang Hamburg im Jahre 1661, einen Vertrag mit England abzuschließen, nach dem Harnburg von den Restriktionen der Cromwellschen Navigationsakte ausgenommen war. Dies bedeutete, daß der Handel mit England vom Jahre 1661 ab auch auf hamburgischen Schiffen und mit heimischer Besatzl.mg durchgeführt werden konnte. Gegenüber der holländischen Konkurrenz hatte Harnburg durch diesen Vertrag einen gewissen Vorteil. 285

Kurt Wiedenfeld: Die nordwesteuropäischen Welthäfen, Berlin 1903,

s. 81,103.

286 Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. II, Neudruck, Bcrlin 1954, S. 234. 287 Josef Kulischer: a.a.O., S. 257.

166

§ 3: Die Seehäfen im tlbergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

Im weiteren Ausbau des Hamburger See- und Landhandels wurde 1665 die "Commerzdeputation" ins Leben gerufen. Diese Organisation war eine Vorgängerinder Hamburger Handelskammer. Sie vertrat die Interessen der Kaufmannschaft. Für die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts schätzt Lamprecht (Deutsche Geschichte, VIII, S. 137) den Schiffsverkehr in Harnburg auf jährlich durchschnittlich 2000 Schiffe288 • Die Zahl der eigenen Schiffe war dabei nur sehr gering (etwa 150 bis 160). Die Schiffsbewegung im Bremer Hafen dürfte damals um 500 Schiffe, die im Lübecker Hafen zwischen 800 bis 1000 Schiffen pro Jahr gelegen haben. Im 18. Jahrhundert intensivierte die Harnburgische Handelsflotte den Verkehr mit Bordeaux und anderen französischen Häfen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Harnburg zum wichtigsten Vermittler des Getreidehandels zwischen den Ostseeländern und England geworden. Werfen wir noch einen Blick auf die Entwicklung der Freihäfen in dieser Periode. 1664 war der Hafen von Altona zum Freihafen erklärt worden, 5 Jahre später folgte Harnburg nach289 • Im Gebiet des Mittelmeeres erhielten im 18. Jahrhundert die Häfen von Messina und Ancona diesen Rechtsstatus. Triest wurde im Jahre 1717, Fiume 1745 Freihafen. Die vier französischen Freihäfen wurden während der Französischen Revolution (1795) durch Beschluß des Konvents beseitigt. 1814 wurde der Freihafen Marseille wieder eingerichtet, allerdings nur für kurze Zeit.

§ 3: Die Entwicklung der Seehäfen im Ubergang vom Segelschiff zum Dampf- und Motorschiff Der Übergang vom Segelschiff zum Dampfschiff, vom Holz- zum Stahlbau, sowie die damit verbundene erhebliche Vergrößerung der Seeschiffe führten zu einem empfindlichen Selektionsprozeß unter den damaligen Seehäfen. Ein großer Teil der bisherigen Häfen schrumpfte in seiner Bedeutung oder verlor sie ganz und mußte neuen Häfen weichen. Bisher waren die Seehäfen weit ins Innere eines Kontinents vorgeschoben worden, da die Schiffahrt das leistungsfähigste Verkehrsmittel war und man erst möglichst weit im Inneren des Kontinents auf Landverkehrsmittel umladen wollte. Die immer größer werdenden Im Jahre 1629 gingen von Harnburg aus 2610 Schiffe in See. Bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871 blieb zunächst das gesamte Stadtgebiet Hamburgs außerhalb des deutschen Zollgebietes. Die ganze Stadt hatte damit den Charakter eines Freihafens. Am 15. Oktober 1888 wurde Harnburg an das deutsche Zollgebiet angeschlossen. Inzwischen war ein eigener Freihafen unter Umsiedlung von 18 500 Einwohnern errichtet worden. 288 288

§ 3: Die Seehäfen im Obergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

167

Schiffe waren jedoch bald nicht mehr in der Lage, auf den Binnenwasserstraßen so weit, wie dies bisher üblich war, in das Landesinnere vorzudringen. Hinsichtlich der Entwicklungsfähigkeit der Häfen war es somit von entscheidender Bedeutung, ob sie finanziell und politisch in der Lage waren, die Zufahrt von der offenen See her der steigenden Schiffsgröße und dem erforderlichen Tiefgang anzupassen. Während bisher wenig Kapital erforderlich war und nur geringe laufende Aufwendungen anfielen, um einen Hafen instand zu erhalten, zwang die geschilderte Entwicklung nunmehr zum Bau außerordentlich kostspieliger Hafenanlagen. In der Neuzeit sind es damit vor allem wirtschaftlich-technische Aspekte, die primäre Bedeutung für die Entwicklungsfähigkeit der Seehäfen erlangen. Ein immer wichtigeres Erfordernis besteht darin, daß ausreichende Verkehrswege ins Hinterland vorhanden sind, daß die Verkehrswertigkeit dieser Wege im Vergleich zur Verkehrswertigkeit der zu konkurrierenden Häfen führenden Wege hoch ist und das Hinterland über eine ausreichende wirtschaftliche Kapazität verfügt. Die Konkurrenz ist für die Seehäfen sogar über die politischen Grenzen hinweg von ausschlaggebender Bedeutung. So konkurrieren die Häfen der Ostsee mit den deutschen Nordseehäfen sowie den Atlantikhäfen, ja sogar mit den Mittelmeerhäfen. War die wirtschaftliche Blüte eines Seehafens früher allein vom Handel abhängig - etwa davon, daß billige Einkaufsmöglichkeiten sowie im Zeitalter der Kolonialreiche ertragreiche Verkaufsmöglichkeiten gefunden wurden-, so hat sich nunmehr eine Wende dahin vollzogen, daß Handel und Produktion als gleichwertige Komponenten nebeneinander stehen. Jeder entwicklungsbewußte Hafen ist deshalb um eine möglichst große Ansiedlung von Industrien bemüht. Im Verlaufe des Selektionsprozesses unter den Seehäfen nimmt der wirtschaftliche Wettbewerb unter benachbarten Häfen einen immer größeren Raum ein. Der dadurch und durch das Anwachsen der Schiffsgrößen immer mehr zunehmende Zwang, gute und schnelle Beladungsund Entladungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, läßt die Kosten der Häfen gewaltig ansteigen. Technisch-organisatorische sowie wirtschaftliche Bedingungen einer derartigen Hafenwirtschaft zwingen somit den großen Welthäfen eine typische Wirtschafts- und Finanzpolitik auf. Der im Vergleich zu ihren Konkurrenten bessere Ausbau der Seeund Landzufahrtswege, der Binnenschiffahrtsstraßen sowie der übrigen Zugangswege ist für die Häfen lebensnotwendig. Denn die infolge der wachsenden Schiffsgrößen immer mehr von niedrigen Zinskosten sowie schnellem Umschlag abhängigen Reedereien laufen einen Hafen nur noch an, wenn sie hier besonders günstige Fazilitäten und im Verhältnis zum Nachbarhafen besonders niedrige Kosten vorfinden. Im Inter-

168

§ 3: Die Seehäfen im Übergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

esse ihrer Entwicklungsfähigkeit sind die Hafenstädte somit zu immer größeren Investitionen - künstlicher Erweiterung der Hafenbecken, Vergrößerung und Verbesserung der Kais sowie der Umschlaganlagen - gezwungen. Darüber hinaus sind sie bestrebt, den Eigenhandel zu stärken sowie systematisch Industrien heranzuziehen, um dem Hafen einen gewissen Grad von Eigenumschlag zu sichern. Bei verschiedenen Hafenstädten reichte im 19. Jahrhundert die finanzielle und organisatorische Kraft nicht aus, um den Anschluß an die Entwicklung zu halten. Sie sanken damit in ihrer Bedeutung als Hafenstädte. Der Selektionsprozeß unter den Seehäfen zeigte andererseits eine interessante volkswirtschaftliche Gestaltungskraft. Blieben auf einem Kontinent aus der großen Zahl nur einige wenige Häfen von Weltbedeutung übrig, die mit der Entwicklung hatten Schritt halten können, so bildete sich dort infolge des Zusammentreffens von Verkehrsmitteln unterschiedlicher Verkehrswertigkeiten und des damit verbundenen Zwangs, die Transportgüter von einem Verkehrsmittel auf ein anderes umladen zu müssen, jene Konstellation heraus, die zum Entstehen eines räumlich begrenzten, sich selbstnährenden Industrialisierungsprozesses führte. Dies ist am Beispiel Hamburgs besonders gut zu beobachten, gilt jedoch prinzipiell für alle heutigen Welthäfen2Do. Waren die Städte nicht mehr in der Lage, die Kosten für moderne Kaianlagen, Schuppen, Speicher, Massengutanlagen und Hafenbahnen, die ständig neue gewaltige Investitionen erforderlich machten, ganz allein zu tragen, war der Staat aber an der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit interessiert, dann wurden die betreffenden Häfen entweder zu Staatshäfen oder in Zukunft von Stadt und Staat gemeinsam betrieben. So entstand beispielsweise in Deutschland bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine gemeinsame Verwaltung von Stadt und dem Land Preußen als dem Träger der staatlichen Gewalt in Kiel, Stettin, das um 1720 zum ersten brauchbaren Seehafen Preußens wurde, Danzig und Königsberg 291 • Neue Häfen entstanden vor allem auch in jenen Erdteilen, die nunmehr stärker an das Welthandelssystem angeschlossen waren. Ein großer Teil der heutigen Welthäfen wurde zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert durch Handelsgesellschaften in den damals typischen merkantilistischen Rechtsformen gegründet: Bombay 1668, Kalkutta 1686, 290 Hierzu Fritz Voigt: Beziehungen zwischen Seeschiffahrt, Seehäfen und Binnenschiffahrt in der Bundesrepublik Deutschland, Festschrift für Otto Most. Verkehr und Wirtschaft, Duisburg-Ruhrort 1961, S. 217-257. 291 Vgl. Arved Bolle: Über die Verwaltung der Seehäfen in der Deutschen Bundesrepublik. In: Schriftenreihe der Gesellschaft zur Förderung des Verkehrs e. V., Harnburg 1960.

§ 3: Die Seehäfen im tlbergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

169

Manila 1571, Madras 1639, Batavia 1619 292 • Seehäfen hatten sich schon immer an den Stellen gebildet, wo den Schiffen Umschlagsmöglichkeiten geboten und gleichzeitig Schutz gewährt werden konnte. Einige solcher Häfen - wie z. B. Rio de J aneiro - boten sich in dieser Hinsicht geradezu an, da sie von Natur aus alle Vorbedingungen erfüllten. Andere Häfen bildeten sich wieder als Sammel- und Verteilungshäfen im Mittelpunkt von Inselgruppen (Manila/Philippinen) oder in abgeschlossenen Beckenräumen heraus, in denen an und für sich schlechte Standortbedingungen für Häfen gegeben sind. Ein Hafen konnte sich um so schneller entwickeln, je günstiger seine Lage zu den jeweiligen Hauptrichtungen des Welthandelsverkehrs war, wobei die Umschlagsorte von einem anderen Verkehrsmittel auf die Hochseefahrt oder umgekehrt von ausschlaggebender Bedeutung wurden. Die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit des Hinterlandes spielte für das Wachstum eines Hafens natürlich eine besonders große Rolle. Dabei war die Kernzone - d. h. das von Konkurrenzhäfen unbestrittene Gebiet - von primärer Bedeutung, während die Randzonen, die zum Einzugsgebiet mehrerer miteinander im Wettbewerb stehender Häfen gehörten, erst dann für die Entwicklungsfähigkeit eines Hafens bedeutsam wurden, wenn dessen Eigendynamik bereits zu einem weitgehenden Ausbau der Fazilitäten Anlaß gegeben hatte. Im Verlauf der Entwicklung gewannen jene Häfen den Vorrang, die in verkehrsgünstigen Niederungen an schiffbaren Flüssen lagen, wie z. B. Hamburg, Buenos Aires etc. Stark begrenzt wurde die Entwicklung von Häfen dann, wenn parallel zur Küste verlaufende Gebirgswälle das Hinterland von der Küste abtrennten, wie es z. B. bei den Salpeterhäfen Nordchiles der Fall ist. Verlaufen sie in einem genügend großen bzw. kleinen Winkel zur Küste, so können sie in der Regelleicht umgangen oder aber überstiegen werden. Deshalb war Smyrna nicht so stark in seiner Entwicklung behindert wie die Häfen Nordchiles293 • In verschiedenen Teilen der Welt haben sich einige Seehäfen allerdings auch in gewissem Umfang von der Bedeutung ihres Hinterlandes lösen können. Das war vor allem dort der Fall, wo ein örtlich begrenzter, sich selbstnährender Entwicklungsprozeß zwar eine beachtliche Blüte ermöglichte, wegen des geringwertigen anschließenden Systems der Landverkehrsmittel sich jedoch nicht weiter in den Kontinent fortzupflanzen vermochte. Diese Hafenstädte wurden im Gegensatz zu den Binnenhäfen, die stets Teil der nationalen Volkswirtschaft blieben, vollständig in das Welthandelssystem integriert. 292 Vgl. Anton Felix Napp-Zinn: Artikel "Verkehrsgeschichte", in: HWB, 3. Aufl., IV. Bd., Sp. 5752. 293 Hierzu: Rudolf Lütgens: Artikel Hafen (wirtschaftsgeographisch) in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1957, Sp. 2473.

170

§ 3: Die Seehäfen im Obergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

Einige andere Häfen, wie z. B. Gibraltar, Suez und Las Palmas, die ebenfalls über keinerlei Hinterland verfügten, bildeten sich als typische Schutz- und Anlaufhäfen heraus. Im langfristigen Auswahlprozeß mit parallel verlaufender Konzentrationstendenz der Entwicklung der Seehäfen hatten diejenigen Häfen einen Vorrang, die eine weitestgehende Eis- und Nebelfreiheit vorweisen konnten sowie ein jederzeit ausreichend tiefes Fahrwasser, mit jeweils höchsten Sicherungsmaßnahmen versehen, anzubieten vermochten. Daneben gibt es eine Reihe von Binnenhäfen, die die Funktionen von Seehäfen beibehalten konnten, da sie trotz des stetigen Anwachsens der Schiffsgrößen immer noch von Seeschiffen erreichbar waren. Hierzu gehören beispielsweise Chicago und Manaos. Freilich vermochten sich in der Entwicklung der Weltschiffahrt nur jene Häfen durchzusetzen, die mit den Anforderungen der wachsenden Schiffsgrößen sowie der Umschlagsgeschwindigkeit Schritt halten konnten. Die Häfen mußten dazu die bestehenden Naturgegebenheiten planmäßig verbessern, was ein weiterer Grund dafür war, daß sich eine eigene aufwendige "Hafenwirtschaft" herausbildete. Jahrhundertelang war es üblich, daß die Seeschiffe von Segel-Kleinfahrzeugen beladen und entladen wurden, die ihrerseits den Transport in den Küsten- und Hafengewässern übernahmen. Die Seehandelsgüter wurden insbesondere zu Speichern gefahren. Diese Segel-Kleinfahrzeuge, die in späterer Zeit durch leichtere Schuten ohne Mast und Segel ersetzt wurden, nannte man damals Ewer294 • Jahrzehntelang hat London seine Stellung als Mittelpunkt des Weltverkehrs aufbauen und behaupten können. Jedoch schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es Hamburg, Bremen, Rotterdam und Antwerpen, sich von London zu "emanzipieren". Schon Wiedenfeld 295 wies darauf hin, daß dieser Aufstieg wesentlich durch einen Funktionswandel bewirkt wurde, den die Häfen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchmachten. Während sie vorher Handels- und Stapelplätze für in der Regel hochwertiges, jedoch in verhältnismäßig kleinen Mengen anfallendes Seehandelsgut waren, so wurden sie im Verlauf der Industrialisierung des Kontinents zu Vermittlern des massenhaften Güteraustausches. Von der Eisenbahn und vom Binnenschiff wurden 294 Der Begriff "Ewer" hat seinen Ursprung wahrscheinlich in dem Begriff Envare, wodurch ein kleines Schiff charakterisiert werden sollte, auf dem ein Mann die Transportleistung unter Ausnutzung des Windes vollbrachte. Quellennachweis bei Peter Metge: Die Struktur der Hafenschiffahrt, dargestellt am Beispiel Hamburgs. Hamburger Diss., Berlin 1964, S. 15. Envare (altniederdeutsch) gleich einfahren. 295 Kurt Wiedenfeid: Die nordwesteuropäischen Welthäfen London, Liverpool, Hamburg, Bremen, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen, Le Havre in ihrer Verkehrs- und Handelsbedeutung. Berlin 1903.

§ 3: Die Seehäfen im Übergang vom Segelschiff zum Dampfschiff

171

Massengüter herangebracht und auf immer größer werdende Seeschiffe umgeladen. Dieses Umladen verlangte von den Seehäfen bestimmte Vorrichtungen und bestimmte Dienste. Im Falle der nordwesteuropäischen Seehäfen sehen wir, wie mit diesem Prozeß gleichzeitig ein Prozeß der Industrialisierung verbunden war296 • Selbst die Schiffahrt eines Hafens wie Harnburg war noch zu Beginn dieser Periode räumlich betrachtet verhältnismäßig eng begrenzt nämlich vorwiegend auf die Nord- und Ostsee. Zwar hatten die Entdeckungen die Welt erweitert, da aber die neuen Kolonialstaaten den Verkehr zu den Kolonien in der Regel zu monopolisieren pflegten, blieb Hamburger Schiffen nur der Weg zu den Häfen der Mutterländer wie z. B. nach Lissabon offen. Das Mittelmeer blieb Hamburger Schiffen jahrhundertelang verschlossen. Als Hemmnis wirkte sich dabei auch die Seeräuberei aus, die bis zur Besetzung Algiers durch die Franzosen im Jahre 1830 von Marokko, Algier, Tunis und Tripolis aus betrieben wurde. Erst 1832 konnte nach langer Pause ein erstes Schiff (Rezia) unter Hamburger Flagge durch die Meeresenge von Gibraltar segeln. 1839 fuhr das erste Hamburger Schiff ins östliche Mittelmeer, während schon im Jahre 1792 das erste Schiff von Ostindien nach Harnburg gekommen war. Die Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonien in Nordamerika hatte die dortigen Häfen den Schiffen aller Nationen eröffnet. 1783 segelte die erste Hamburger Bark nach Philadelphia. 1822 lösten sich die lateinamerikanischen Kolonien von Portugal und Spanien und gaben die bisherigen Handelsbeschränkungen auf, eine Chance, die Harnburg schnell nutzte. In seinem Vereinszollgesetz vom 1. 6. 1869 stellte der Norddeutsche Bund die Möglichkeit zur Errichtung von Freihäfen fest, woraufhin Harnburg und Bremen am 15. 10. 1888 ihre Freihäfen erhieltenm. An bedeutenden Freihäfen gibt es in Europa außerdem Kopenhagen, Malmö, Stockholm und Göteborg. Belgien und Holland kennen keine eigentlichen Freihäfen; hier herrscht das System der "Entrepöts", der zollfreien Lager. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika erließen 1934 das Gesetz über die Foreign Trade Zone (Freihandelszonen), das 1952 erweitert wurde. Die Regelung Mexikos entspricht ungefähr derjenigen der Vereinigten Staaten. Freihafen- bzw. Freihandelszonen sind in Amerika New York, San Franzisco, Seattle, New Orleans, Los Angeles, Panama, Matanzas (Cuba), Puerto Barrios, Guatemala und Punta Arenas (Costarica). 296 Hierzu die Untersuchungen von Fritz Voigt: Beziehungen zwischen Seeschiffahrt, Seehäfen und Binnenschiffahrt in der Bundesrepublik Deutschland. In: Festschrift für Otto Most "Verkehr und Wirtschaft", Duisburg-Ruhrort

1961, 287

s. 217-257.

Zur Entwicklung des Hamburger Freihafens vgl. oben S. 158 u. 166.

172

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

§ 4: Die Entwicklung der Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampf- und Motorschiffe Die stürmische technische Entwicklung in der Struktur der Schifffahrt, aber auch der Größe der Schiffe, stellt die Häfen vor besonders schwierige Aufgaben. Nachdem ein sehr intensiver ökonomischer Anreiz zum Bau immer größerer und auch schnellerer Schiffseinheiten für den Transport von einigen Massengütern z. B. Mineralöl, Erz, Getreide, Koks entstanden war, daher erhebliche Kostendegressionen ausnutzbar wurden, die kleinere Schiffe zur Unrentabilität verurteilten, mußten die Häfen ihre Zufahrtswege vertiefen und andererseits alles tun, um die Be- und Entladungszeit im Hafen zu verkürzen, wollten sie nicht im Wettbewerb zu anderen Häfen zurückgedrängt werden. Unter den deutschen Häfen wurde zunächst die Position Hamburgs im Verlauf der weiteren Entwicklung immer mehr begünstigt. Die Entwicklungsfähigkeit des Hamburger Hafens wurde vor allem durch das Wasserstraßensystem von Eibe und Moldau, das bis in die Tschechoslowakei hineinreichte, gefördert. Als die Eibe auch noch an das mitteldeutsche und ostdeutsche Kanalnetz angeschlossen wurde, erweiterte sich das Hinterland Hamburgs erheblich. Nur Stettin konnte sich über die Oder ein ähnliches Einzugsgebiet von einiger Bedeutung sichern. In seiner Entwicklung zunächst zur Handelsstadt, später zu einem bedeutenden Industriezentrum, gelang es Hamburg, auch einen bedeutsamen Eigenhandel aufzubauen, der für seine weitere Stellung ganz besonders wichtig war. In jener Periode, in der die Schiffsgrößen immer mehr wuchsen, in der sich in der Organisation der Hochseeschiffahrt eine Revolution abspielte und die Länder, die im Industrialisierungsprozell einen Vorsprung erzielt hatten, große Teile des Weltverkehrs an sich zogen, hätte sich beinahe auch das Schicksal verschiedener deutscher Nordseehäfen erfüllt. So war Bremen schon auf dem besten Wege, zu einer Provinzstadt im Landesinneren abzusinken. Es war durch die ungünstigen Schiffahrtsverhältnisse auf der Weser in besonderem Maße bedroht. Denn einerseits versandete die Weser zunehmend, andererseits nahmen die Schiffsgrößen immer mehr zu. Es war die Tatkraft des Bürgermeisters Johann Smidt, der 1827 einen Bezirk von Hannover erwarb und hier für Bremen einen Außenhafen, nämlich Bremerhaven erbaute. Dadurch wurde dieses Schicksal von Bremen abgewendet. 1847 gehörten zu Bremen 223 Segelschiffe. Im selben Jahr wurde die erste regelmäßige Verbindung mit Dampfschiffen nach Amerika eingerichtet. 1854 erfolgte die Gründung des Norddeutschen Lloyd. Vorzugsweise war es der Eigenhandel mit Kaffee und Baumwolle, auf den Bremen sich lange Zeit in besonderem Maße stützen konnte.

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

173

Die Lage Hamburgs 298 an der Elbe war in der Dynamik der Entwicklung der Seeschiffahrt etwas günstiger als diejenige Bremens. Die Wassertiefe der Elbe betrug vor den Regulierungen in normalen Zeiten bei Ebbe 2,00 m und bei Flut 4,20 m. Auch hier bildeten sich jedoch immer wieder Hindernisse im Strom, die die Schiffahrt beeinträchtigten. Als die Schiffsgrößen wuchsen, hätte auch die Entwicklungsfähigkeit des Hamburger Hafens enden können. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es sogar einen beängstigenden Rückgang der Hamburger Schiffe. Während im Jahre 1798 noch 248 Seeschiffe in Harnburg beheimatet waren, waren es 1819 dagegen nur noch 91 Seeschiffe. Nun setzte allerdings jene eigenständige Entwicklungsdynamik ein, die - unter noch theoretisch zu analysierenden Bedingungen und Grenzen - Kräfte zur Bewältigung "feindlicher" Situationen zu entwickeln vermag und bewirkte, daß Häfen lebensfähig blieben, obgleich ihr Standort für große Schiffseinheiten immer ungünstiger wurde. Ebenso wie in Bremen führte auch in Harnburg die erste von diesem Hafen ausgehende regelmäßige Schiffahrtslinie zu einem beachtlichen Aufschwung, der seinerseits wieder neue Linien und andere Verkehrsmittel anzog. 1838 wurde durch die Sloman-Linie die erste regelmäßige Schiffahrtslinie von Harnburg nach New York eingerichtet. An diesem Beispiel, wie auch später an anderen historischen Fällen, können wir deutlich sehen, wie sehr ein Linienverkehr die Bedeutung eines Hafens zu heben vermag, Sekundärprozesse300 nach sich zieht und von dieser Dynamik aus den übrigen Verkehr belebt. So betrug die Tonnage der Harnburgischen Flotte 1836 28 952 t, 1873 bereits 201 512 t. 1837 liefen 2600 Schiffe mit 262 000 RT den Hafen an, 1863 1379 Dampfer mit 519 000 RT und 3353 Segler mit 461 000 RT. Anzahl und Tonnage seegehender Schiffe von Bamburg (ohne Tiefseeftscherei)

Jahr

Anzahl

Netto Reg.-Tonnage

1826 1836 1846 1856 1876 1906 1913

2369 2497 3779 5 201 4937 12982 15073

199000 248000 419000 880000 2178000 10 824 000 14 185 000

QueUe; L.Wendemuth. und W .. Böttcher: The port of Hamburg, Harnburg 1927, S. 216.

2vs Während die Entfernung Hamburgs von Cuxhaven 120 km beträgt, ist Bremen von Bremerhaven nur 60 km entfernt.

174

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

Bremen wie Harnburg ergriffen darauf die Initiative und verbesserten die Zufahrt vom offenen Meer zum Hafen immer mehr. So betrug beispielsweise der größte Tiefgang der Schiffe, die ohne zu leichtern bei gewöhnlichen Flutverhältnissen noch nach Harnburg kommen konnten, 1840 1866 1897 1914 1960

4,30m 5,50 rn2oo)

7,20rn

10,00 rn 11,50 rnaoo)

Linien waren und sind nur in jenen Verkehrsrelationen rentabel, in denen ein genügend großer, regelmäßiger Güteranfall zu erwarten ist. Die Reederei, die eine Linie errichtet, muß verhältnismäßig hohe fixe Kosten in Kauf nehmen und immer wieder in der Lage sein, Ladegüter in ausreichender Menge zu beschaffen, um die Schiffe nicht mit Verlust fahren zu lassen. Mit Rücksicht darauf wurde der Staat im zeitlichen Ablauf ständig veranlaßt, das Verkehrssystem, das den Hafen mit dem Landesinneren verbindet, weiter zu verbessern. Das Phänomen sinkender Grenzkosten bei Vergrößerung der Transportmenge löste in jenem Bereich der Schiffahrt, der durch Linien bedient werden konnte, einen erheblichen Konzentrationsprozeß aus. Die Linienfahrt wurde somit die Domäne schnell zu Großunternehmen heranwachsender Reedereien. Bei der Analyse der Organisationsformen der Seeschiffahrt werden wir zeigen, wie gerade in diesem Ablauf sich die Struktur der Linienschiffahrt völlig anders entwickelt hat als die Struktur der Trampschiffahrt oder diejenige der Küstenschiffahrt. Dabei ist es interessant, festzustellen, in welch unterschiedlichem Ausmaß jede dieser Organisationsformen der Seeschiffahrt ihre betreffenden Häfen "prägt". Am auffälligsten tritt das bei der Analyse der Linienfahrt zutage, die mit ihrem Heimathafen eng verknüpft ist. Die Küstenschiffahrt blieb viel nationaler ausgerichtet als die Trampfahrt, was durch eine VE'rfeinerung des Kabotagerechts noch gefördert wurde. Im übrigen wurde sie von verhältnismäßig kleinen Reedereien betrieben. Auch die Trampschiffahrt blieb zunächst eine Angelegenheit kleinerer Unternehmen. Sie wurde jedoch viel mehr als die beiden anderen Zweige international ausgerichtet. Während die Linienreederei im Interesse ihrer eigenen Entwicklungsfähigkeit bestrebt war, möglichst viele Güter aus dem Binnenland zu ihrem Heimathafen hinzuzuziehen oder wenigstens die Importe über ihn zu leiten, nahm der Tramp die Fracht dort, wo er sie fand. 299 Richard Ehrenberg: Harnburg und Antwerpen seit dreihundert Jahren. Harnburg 1889, S. 30. aoo Vgl. Fritz Voigt: Beziehungen zwischen Seeschiffahrt, Seehäfen und Binnenschiffahrt in der Bundesrepublik Deutschland. In: Festschrift für Otto Most "Verkehr und Wirtschaft". Duisburg-Ruhrort 1961, S. 217 ff.

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

175

Eines läßt sich als Ergebnis der Tätigkeit der Linienreedereien festhalten: Die großen Dampfschiffahrtsgesellschaften führten in den Häfen, in denen sie sich bildeten, zu einer beachtlichen Steigerung der Verkehrswertigkeit. Betrachten wir nunmehr den Stand der Entwicklung der Nordseehäfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: dem Verkehrsumfang nach läßt sich im Jahre 1910 folgende Rangordnung aufstellen: Harnburg . . . . . . Rotterdam ..... Antwerpen ..... Bremen . . . . . . . . Amsterdam . . . . Emden . . . . . . . . .

12,6 Mill. Tonnen netto 10,8 Mill. Tonnen netto 10,7 Mill. Tonnen netto 3,4 Mill. Tonnen netto 2,2 Mill. Tonnen netto 1,2 Mill. Tonnen netto

Nach der Netto-Tonnage der im Gesamtverkehr angekommenen Seeschiffe war Harnburg 1911 nach New York, London und Liverpool der viertgrößte Hafen der Erde und der größte Hafen des europäischen Kontinents. Damals folgten Antwerpen und Rotterdam hinter Harnburg. Wie gering die Bedeutung der Weser im Verlauf des 19.Jahrhunderts für Bremens Handel wurde, geht daraus hervor, daß nur 22 vH des Exportes der bremischen Häfen im Jahre 1909 auf der Weser zugeführt wurden und daß von der Einfuhr Bremens gar nur 14 vH aller Waren der Weserschiffahrt zur Weiterbeförderung übergeben wurden301 • Von dem Hamburger Import gingen dagegen 1909 42 vH auf dem Flußwege weiter. Von den Exportwaren kamen sogar 67 vH auf der Eibe an. Der prozentuale Anteil der Eibe am See-Export des Mündungshafens übertrifft also den der W eser um das Dreifache. Da der Hamburger Güterverkehr nun aber überdies auch an absoluter Höhe 31/rmal größer als der bremische war, so ergibt sich, daß die Elbschifffahrt für den deutschen Überseehandel und die deutsche Weltwirtschaft etwa 10mal bedeutsamer war als die Weserschiffahrt302 • Wird die Bedeutung eines Hafens an den erreichten Umschlagszahlen gemessen, so ergeben sich für die bedeutenden kontinentalen westeuropäischen Häfen für verschiedene Zeiten - aus den Auswirkungen der Kriege, dem Verlauf von Wirtschaftsdepressionen und verschiedener staatlicher Wirtschaftspolitik - unterschiedliche Reihenfolgen. Nehmen wir als Ausgangspunkt das Jahr 1900 und die Häfen: Antwerpen, Rotterdam, Hamburg, Bremen und Amsterdam, so können wir 301 Geringfügig abweichend Richard Hennig: Die Hauptwege des Weltverkehrs. Jena 1913, S. 52 f., 70. Apelt: Die Stellung der Weser im deutschen Wasserstraßennetz, in: Weltverkehr und Weltwirtscha!t.1912 (Aprilheft), S. 16. Erwin von Beckerath: Die Wettbewerbslage der dt. Welthäfen. In: Weltwirtschaft. Arch. 19 (1923), S. 396-418, insbes; S. 398 f. 302 Richard Hennig: Die Hauptwege des Weltverkehrs, Jena 1913, S. 70.

176

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg feststellen, daß sich Harnburg und Rotterdam von Antwerpen abheben, wobei Rotterdam bereits die größeren Umschlagszahlen aufzuweisen hat (ab 1910). Nach dem ersten Weltkrieg hebt sich Rotterdam deutlich ab, Harnburg und Antwerpen liegen auf etwa gleicher Höhe vor Bremen und Amsterdam. Eine Änderung dieser Reihenfolge wird bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges von der Weltwirtschaftsdepression verursacht: Rotterdams Umschlag ist wesentlich konjunkturempfindlicher (bedingt durch den hohen Anteil der Rohstoffe) und sinkt stärker als der der Häfen Harnburg und Antwerpen und zwar bis auf ungefähr gleiche Höhe. Nach der Depression gelingt es Bremen, sich von der niedrigen Höhe zu lösen und Amsterdam zu überflügeln. Nach dem zweiten Weltkrieg tritt eine weitgehende Differenzierung innerhalb der Reihenfolge der Häfen ein. Die Leistung Rotterdams steigt steil an. Antwerpen baut seine Stellung ebenfalls aus. Durch die Auswirkungen des Krieges wird Harnburg weit zurückgeworfen, kann sich aber nach 1950 erholen und den Anschluß an Antwerpen finden. Bremen weist zunächst eine erhebliche Steigerung auf, bleibt aber in der Lage zwischen Harnburg und Amsterdam, das gleichfalls an der relativen Steigerung teilnimmt. Die Unterschiede in der Entwicklung sind insbesondere darauf zurückzuführen, daß eine Verschiebung des Anteils an Massengütern in dem Umschlag der stark bevorzugten und sich entwickelnden Häfen zu verzeichnen ist. Das trifft vor allem für Rotterdam aber auch für Bremen zu. Zu Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts stand sowohl in der Verkehrsstatistik wie auch in der Schiffahrtsbestandsstatistik das Ostseegebiet noch nicht erheblich hinter dem Nordseegebiet zurück. Im Laufe der Jahre geriet es aber mehr und mehr ins Hintertreffen, vor allem hinsichtlich der Tonnagesos. So war schon vor dem 1. Weltkrieg eigentlich nur Kopenhagen wegen seiner relativ günstigen Lage zum Atlantischen Verkehrszentrum ein Ostseehafen von größerer Bedeutung. Nach dem 1. Weltkrieg kam die Hafengruppe Danzig, Gdingen und Stettin dazu, aber aus ihrer geographischen Lage heraus konnte keine große Entwicklung erwachsen. Dazu kommt nach dem 2. Weltkrieg noch verstärkend hinzu, daß ein Großteil der Ostseehäfen zum sozialistischen Wirtschaftsbereich gehört und daher wegen des - aus dem Autarkiestreben resultierenden- relativ geringen Außenhandels über See einen weniger umfangreichen Güterumschlag hat, als dies unter einem stärker marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem der Fall sein würde. Die Nordseehäfen sind heute für den Ostseeraum Transithäfen der Güter, die mit solchen Schiffen befördert werden, die den Belt-Sund aes Vgl. Christian Grotewold: Die deutsche Schiffahrt in Wirtschaft und Recht, Stuttgart 1914, S. 73.

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

177

oder den Nord-Ostsee-Kanal wegen ihres zu großen Tiefgangs nicht benutzen können. Eine Vertiefung dieser Wasserstraßen würde daher eine Schwächung des Hafenumsatzes der deutschen Nordseehäfen nach sich ziehen. Nehmen wir nochmals Harnburg als Beispiel. Um die Bedeutung eines Seehafens darzustellen, seien folgende Zahlen genannt: Der Hamburger Hafen wurde bedient: 1936 von 185 Liniendiensten mit 8386 Abfahrten 1950 von 171 Liniendiensten mit 3813 Abfahrten 1958 von 224 Liniendiensten mit 7950 Abfahrten 19til von 255 Liniendiensten mit 8805 Abfahrten 1963 von 257 Liniendiensten mit 8294 Abfahrten

Auch an der beträchtlichen Anzahl der in der Hafenschiffahrt eingesetzten Schiffseinheiten zeigt sich die Stellung und der Charakter eines Hafens. Die Hamburger Hafenflotte 1961 und 1964

Anzahl 1961

1964

Frachtfahrzeuge ..... 0. Schlepper .............. davon Dampfschlepper Motorschlepper .... Motorbarkassen ........ Fahrgastschiffe ........ Spezialfahrzeuge .......

2692 249 104 145 443 82 124

2 687 249 77 172 481 86 42•l

insgesamt ............ .

1 3 590

Leistung in PS

Tragfähigkeit in t

1961

1961

11172 83795 29346 54449 28948

1964 18367 85776 23010 62 766 34424

1964

400 087 414 443

3 5451 123 915 138 567 1

a) Festmacherboote.

Que!le: Angaben des Hafenschlffahrtsverbandes Harnburg e. V.

Hamburgs Anteile an der Einfuhr der Bundesrepublik (Spezialhandel) betrugen 1955 25,8 vH, 1957 23,4 vH. Dabei sind je nach Art der Güter stark unterschiedliche Prozentsätze festzustellen. Einen Einblick vermittelt die Aufstellung auf der folgenden Seite. Über Bremen wird nur ein relativ kleiner Teil der Einfuhr der Bundesrepublik geleitet. Der Anteil Hamburgs ist sehr viel größer. Das liegt neben dem größeren Umschlagsvolumen des Hamburger Hafens auch daran, daß in Hamburg, verglichen mit Bremen, verhältnismäßig viele Importgüter gehandelt werden, in Bremen dagegen nur wenige. 12 Volgt II/1

178

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

Die Beteiligung harnborgiseher Importeure an bestimmten Einfuhren der Bundesrepublik im Jahre 1963

Pflanzl. Ole und Fette . . . . . . Kakao . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewürze .................. Kaffee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tee ........................ Tabak ..................... Weizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Südfrüchte ................. Hülsenfrüchte .............. Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rundholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettfedern ................. Fischmehl . . . . . . . . . . . . . . . . .

86,5 vH 64,0 vH 71,4 vH 61,9 vH 60,9vH 47,8 vH 54,5 vH 45,9 vH 42,6 vH 56,4 vH 30,8 vH 27,4 vH 70,2 vH

Wolle ....... ; . . . . . . . . . . . . . . Baumwolle . . . . . . . . . . . . . . . . Bast- und Hartfasern . . . . . . Felle und Häute ............ Kautschuk . . . . . . . . . . . . . . . . . Harze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Farb- u. Gerbstoffe (pflanzl.) Gerbstoffauszüge . . . . . . . . . . . Zinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flecht- und Polsterst....... Schnittholz . . . . . . . . . . . . . . . . Därme ..................... Fische inkl. Zubereitung

8,8 vH 12,9 vH 39,4 vH 37,6 vH 58,8 vH 68,8 vH 44,1 vH 56,0 vH 50,9 vH 29,7 vH 9,5 vH 43,8 vH 48,8 vH

Quelle: Angaben des Statistischen Landesamtes Hamburg.

Dem Ausfuhrhandel Hamburgs kommt besondere Bedeutung zu. Als im Verlauf der letzten Generationen die Industrie immer stärker den Außenhandel in eigene Regie nahm, wurde der Wettbewerb der Häfen erheblich kostenempfindlicher. Der Anteil Hamburgs an der Fertigwarenausfuhr der Bundesrepublik ging deshalb von Jahr zu Jahr zurück. Im Exporthandel nahm der durch den Hersteller selbst vorgenommene Export, der sog. Direktexport, immer mehr zu. Von der Ausfuhr über Harnburg für eigene Rechnung entfielen 1957, wie Paul SchulzKiesow feststellte, dem Werte nach 81,0 vH auf den Händlerexport und 19,0 vH auf den Direktexport der Industrie der Hansestadt. Der Anteil des Direktexports dürfte mittlerweile noch gestiegen sein. In Bremen dagegen spielt der Direktexport eine erheblich größere Rolle (1956 68,4 vH). Dabei ist festzustellen, daß die Hamburger Exporteure dazu neigen, vorzugsweise wertvolle Güter über den Hamburger Hafen zu lenken, die weniger wertvollen Güter dagegen über andere, kostengünstiger gelegene Häfen zu exportieren. Oft bestimmen nur einige wenige Massengüter, wie z. B. Mineralöl, Kohlen, Erze oder Getreide, die dabei vielfach nur Durchfuhrgüter sind, also nach dem Umladen weitertransportiert werden, den Charakter eines Hafens. Daneben gibt es aber auch Häfen, für die der Stückgutumschlag die überragende Bedeutung hat. Demgemäß variieren auch die Einzugsgebiete der Häfen und ebenfalls deren Abgabegebiete, je nach Art der umgeschlagenen Güter. Der Umschlag und gegebenenfalls die Verarbeitung der verschiedensten Güter im Gebiet eines Hafens können als günstiger Standortfaktor wirken, der eine Vorzugsposition

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

179

für Investitionen schafft. Jede zusätzliche Investition erzeugt aber ihrerseits kraft ihres Einkommenseffekts (und der vielfach zu beobachtenden Differenz zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Kapazitätseffekts) Sekundärprozesse, die die Entwicklungsfähigkeit des Hafens beträchtlich steigern können. Auch hinsichtlich der Finanzkraft haben die verschiedenen in einem Hafen umgeschlagenen Güter eine unterschiedliche Bedeutung. In vorsichtiger Formulierung kann man feststellen, daß Stückgüter in der Regel von größerer Bedeutung sind als Schüttgut, das zwar meist in großen Mengen anfällt, jedoch einen nur verhältnismäßig geringen spezifischen Wert hat. Die zugunsten der deutschen Häfen betriebene Seehafenpolitik der deutschen Eisenbahnen war für deren Entwicklung zusätzlich sehr bedeutsam304 • Diese Seehafenpolitik -teils von Interessen des Staates, teils aber auch von denen der Eisenbahn selbst bestimmt - hatte das Ziel, die ungünstige Lage der deutschen Seehäfen gegenüber den Industriegebieten im westdeutschen und süddeutschen Raum, die günstige Wasserstraßenverbindungen zu außerdeutschen Häfen hatten, auszugleichen. Schon die preußisch-hessische Bahnverwaltung begann deshalb mit einer Politik der Ausnahmetarife, die nach dem Prinzip aufgebaut wurde, das man später das Prinzip der "Nullregulierung" nannte305 • Hierunter versteht man die Übertragung der Höhe der Transportkosten des geschlossenen Bahnweges zwischen einem Ort im Inland und einem ausländischen Hafen auf die Strecke zwischen dem Ort und Emden bzw. Bremen, falls deren Strecke länger war. Die gleiche prozentuale Ermäßigung gegenüber dem Normaltarif, der sich für diesen sog. tarifbildenden Hafen ergab, wurde auch anderen deutschen Häfen zugebilligt. Um Null reguliert bedeutet also, daß die Wettbewerbslage der deutschen Häfen untereinander von der Tarifpolitik der Bahn unberührt bliebao&. Zwischen 1925 und 1928 wurde der Seehafen-Zweckverband geschaffen, der nach dem 2. Weltkrieg erneuert wurde. Seine Aufgabe ist die Regelung des Wettbewerbs der Eisenbahnen zwischen Österreich und den Nordseehäfen einerseits und verschiedenen Häfen andererseits. Je größer die Schiffe werden, um so durchgreifender ist der Selektionsprozeß unter den Welthäfen, da die wenigsten Häfen eine für sehr große Schiffe ausreichend tiefe Hafeneinfahrt besitzen. Sie wurden ao4 Erwin von Beckerath: Die Seehafenpolitik der deutschen Eisenbahnen und die Rohstoffversorgung, Berlin 1918. 305 Vgl. den Abschnitt über die Tarifbildung der Eisenbahnen und das Wesen der Ausnahmetarife. aoo Hierzu Horst Sanmann: Di.e Verkehrsstruktur der nordwesteuropäischen Seehäfen und ihre Wandlungen von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Schriften des Verkehrswissenschaftlichen Seminars der Universität Hamburg, H. 4, Harnburg 1956, S. 30 ff. 12*

180

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

vor Jahrhunderten an Plätzen angelegt, bis zu denen die damals viel kleineren Seeschiffe gerade noch vordringen konnten. Ein Tanker von 100 000 t Tragfähigkeit (tdw) hat beispielsweise voll beladen einen Tiefgang von 16 bis 17 Metern. Es müssen daher in der Regel mit hohen Kosten tiefere Zugangswege ausgebaggert werden. Nicht alle Hafenverwaltungen verfügen über die hierfür notwendigen finanziellen Mittel. Die Elbe ist zur Zeit bis in den Hamburger Hafen hinein auf 12 m (37 Fuß) Tiefe ausgebaggert. Auch Bremen war gezwungen, die Unterweser ausbauen zu lassen, um seine Stellung als Welthafen nicht zu verlieren. Die 1960 abgeschlossene Vertiefung der Unterweser ermöglicht bei normalen Wasserverhältnissen Schiffen mit bis zu 7 m Tiefgang, unabhängig von den Gezeiten, die Unterweser stromaufwärts und -abwärts zu befahren. Haben die Schiffe größeren Tiefgang, müssen sie sich nach der Tide richten. Die Einfahrt nach Rotterdam hat zur Zeit eine Tiefe von über 16,5 m. Die größte Fahrwassertiefe der europäischen Häfen weist der Tankerhafen Lavera bei Marseille auf; sie beträgt etwa 18m (56 Fuß). Die Fahrrinne nach Deutschlands bisher größtem Massenguthafen Emden, 26 vH der gesamten deutschen Erzeinfuhr kamen 1962 über diesen Hafen, wurde durch umfangreiche Arbeiten auf eine Wassertiefe von 8 m bei Niedrigwasser gebracht. Häufig sind große Schiffe gezwungen, vor Einfahrt in den Hafen zu leichtern. Beispielsweise· muß bei großen Tankern vielfach ein Teil der Ladung an kleinere Tanker abgegeben werden, bis das Fahrwasser ausreicht, um - oft unter Ausnutzung der Tide - in den Hafen einzufahren. Eine immer weitergehende Vertiefung von Hafeneinfahrten ist in der Regel sehr kostspielig und auch infolge Veränderung der Flutverhältnisse nicht immer möglich. Das Ansteigen der Schiffsgröße stellt darüber hinaus noch weitere Anforderungen an die Häfen: Sie werden gezwungen, ihre Zwischenlagerfunktion zu verstärken. Bei den Ölempfangshäfen ist diese Situation nicht so schwierig, da sie meist Ausgangspunkt von Pipelines sind und nur Ausgleichsmengen gelagert werden müssen. Kritischer ist dagegen die Situation im Erzumschlag. Die Anlandungen von Erz sind (angesichts der steigenden Schiffsgrößen) oft von dem Bedarf der Hüttenwerke recht unterschiedlich. Ein Teil der Ladungen wird von Kähnen und Waggons aufgenommen. Der Kahnraum übt seit jeher auch die Funktion des "Lagerns" aus. Aber auch die Hafenverwaltung muß Vorsorge treffen. In Emden wurden 1955 nur 9 vH der Erzmengen auf Lager genommen, 1963 dagegen etwa 40 vH. Eine andere Erscheinung des modernen Seeverkehrs - der Fährverkehr - hat für die Häfen eine gewisse funktionale Entlastung

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

181

gebracht. Die insbesondere zwischen den Ostseehäfen und den skandinavischen Ländern, aber auch an anderen Stellen in Nord- und Westeuropa vordringenden Autofähren fördern den direkten Verkehr mit Lastkraftwagen zwischen Erzeuger und Verbraucher, oh.ne daß eine Umladung der Fracht auf ein Schiff erfolgt. Sie verändern damit zum Teil die Funktion der Häfen. Lübeck konnte sich bis zum Zweiten Weltkrieg noch einen einigermaßen umfangreichen Umschlag - besonders im Transitverkehr mit der Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn - erhalten. Heute ist es jedoch nur noch ein unbedeutender Territorialhafen. Dies wird auch aus folgender Tabelle deutlich. Während der Umschlag 1955 in der Seeschiffahrt der BRD 53,0 Mill. t betrug und davon auf den internationalen Verkehr 50,5 Mill. t entfielen, ergibt die Aufteilung auf die bedeutendsten Häfen der Bundesrepublik folgendes Bild:

Harnburg ......................... . Bremen und Bremerhaven ......... . Emden ............................ . Lübeck ........................... . Insgesamt ........................ .

1955

1962

45 vH 14 vH 5,4vH

40,9vH 31,8 vH 14,0vH 4,0vH

87,1 vH

90,7 vH

22,7 vH

Eigene Berechnungen u. St. Jb. f. d. BRD 1963, S. 366.

Kurze Zeit nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurden die Seehäfen der sowjetisch besetzten Zone Rostock, Wismar, Stralsund und Warnemünde-da die großen Seehäfen der Ostsee vor dem Zweiten Weltkrieg, Danzig und Stettin, nun nicht mehr zur Verfügung standen- auf eine Wassertiefe von etwa 7 m ausgebaggert. Die Betriebsführung in den Häfen wurde seinerzeit sogenannten Hafengemeinschaften übertragen, die für Ausbau und Instandsetzung, den Einsatz der Umschlagmittel, die Kennzeichnung des Fahrwassers, die Bereitstellung von Lotsen und Arbeitskräften, die polizeiliche Sicherung des Hafengebietes und die gesamte Verwaltung der Häfen zu sorgen hatten. Die Eigentumsrechte an den Häfen wurden den Städten belassen, jedoch wurden die finanziellen Mittel teilweise von den Städten, teilweise aber von der Landesregierung des jeweiligen Staates (hier Mecklenburg) aufgebracht. Weisungsberechtigt über diese Hafengemeinschaften waren die Zentralverwaltungen des Verkehrs in den einzelnen Ländern. Einen Einblick in die Entwicklung des Güter-, verkehrs in den Seehäfen der DDR gibt die folgende Statistik:

182

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschifte

Güterumschlag in den Seehäfen der DDR (in 1000 t)

Jahr

insgesamt

Wismar

1955 1956 1957 1958 1959 1960

2341,9 2 650,5 3 281,5 3262,9 3809,9 4460,7

969,5 1 246,1 1 604,7 1 696,0 2138,2 2241,4

Quelle: Statist. .Jahrbuch der DDR 1960/61,

Rostock Überseehafen

Rostock Stadt

417,7

703,5 800,7 1008,9 901,1 972,8 988,4

Stralsund 668,9 603,7 667,9 665,8 698,9 813,2

s. 520.

Im Wettbewerb der Häfen spielt die Schnelligkeit-der Be- und Entladung eine beachtliche Rolle. Angesichts der Entwicklung der Welthandelsflotte zu immer schnelleren und größeren Schiffen und damit des Zwangs zu größeren Investitionen für die Reeder wächst in Zeiten schlechter Frachtraten die Notwendigkeit des schnellen Umsatzes. Zwar sind moderne Spezialschiffe mit eigenem Ladegerät zum schnellen Laden von Massengut ausgestattet. Pumpenanlagen von Tankschiffen können die Gesamtladungen in der Regel in weniger als 24 Stunden löschen. Auch bei Getreide können Schiffe in sehr kurzer Zeit geladen und gelöscht werden. Aber die Häfen müssen doch ihrerseits neue kostspielige Anlagen schaffen. Eine in Bremen 1950 errichtete Getreideanlage mit sechs fahrbaren Saughebern kann pro Stunde bis zu 1000 t Getreide löschen. Bei schwerem Massengut ist es dagegen nicht einfach, Schiffe mit Förderbändern auszurüsten, da zu viel Raum benötigt wird und die Kosten zu hoch sind. Nur in der "Gipsfahrt" zwischen Mittel- und Nordamerika und auf der Erzfahrt auf den großen nordamerikanischen Seen sind derartige Verfahren wirtschaftlich. In anderen Häfen werden eigene Anlagen der Hafenverwaltung erforderlich. In Narvik sind Anlagen in der Lage, pro Stunde 4000 t Erz in das Schiff zu schütten, in Norfolk bis zu 16000tKohle je Stunde. Durch Waggonkipper, Förderbänder und Schütten sind alle Häfen bestrebt, die Hafenliegezeiten im Wettbewerb auf einen kleinen Zeitraum herabzudrücken. Stückgutschiffe, die bisher wesentlich zum Beund Entladen auf menschliche Arbeitskraft angewiesen sind, können durch das Prinzip des "offenen Schiffs" durch Paletten oder vorbereitete Schlingen oder Netze Rationalisierungen erreichen. Auch durch den Container Verkehr wird der Güterumschlag des Hafens erheblich erleichtert. Beim Container werden nur wenige Arbeitsvorgänge im Hafen erforderlich. Die mit dem Lade- und Löschvorgang verbundenen Aufgaben werden weitgehend vom Schiff übernommen. Die zum Versand gelangenden Güter werden nicht mehr am Liegeplatz des Schiffes in Kaischuppen gesammelt und dort sortiert

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

183

und geprüft. Dies kann bereits am Herstellungsort oder erst am Bestimmungsort geschehen. Der Wettbewerb der Häfen äußert sich auch bei der Festsetzung der Beförderungstarife der Hafenschiffahrt durch den Frachtenausschuß. Beispielsweise hinken die Beförderungspreise der Hafenschiffahrt im Hamburger Hafen seit langem hinter dem allgemeinen Preisniveau her. Damit ist es der Hafenschiffahrt seit langem nicht möglich, die erforderliche Modernisierung und Erneuerung der Schutentonnage durchzuführen und dabei außerdem die Kosten zu senken. Im Hamburger Hafen ergab sich eine typische Überalterung der Schutenflotte. Mehr als zwei Drittel der 2495 im Hafen eingesetzten Schuten sind vor 1945 gebaut. Harnburg plant deshalb eine Abwrack- 307 und Rationalisierungsaktion mit einem Aufwand von 4,5 Millionen DM zur Modernisierung der Schiffahrt im Hamburger Hafen, um damit im Wettbewerb der Häfen untereinander besser bestehen zu können. Erste Erfolge sind in folgenden Zahlen zu sehen: Schutenflotte

Tragfähigkeit (t)

Beförderungsleistung (t)

1939 1960

520000 382000

6600000 63000:)0

Nach dem Zusammenbruch 1945 nahm die Hafenleistung der deutschen Nordseehäfen nur verhältnismäßig langsam zu. Ihr Wachstum blieb hinter dem Wachstum anderer Häfen zurück. Dabei stieg der Umschlag der bremischen Häfen zunächst stärker als der Hamburgs. Der Grund lag darin, daß Bremen für den Nachschub der amerikanischen Besatzungsmacht ausgebaut wurde. Antwerpen und Rotterdam gelang ein relativ schneller Wiederaufbau nach dem Krieg. Im Jahre 1956 wurde ein Zehnjahresplan für den weiteren Ausbau des Hafens Antwerpen festgelegt. Ergänzt wurde das Programm durch den Ausbau der Seeschleuse von Zandvliet, die Schiffen mit sehr großer Tonnage den Zugang zum Hafen ermöglichen sollte. Heute ist Antwerpen vor allem ein Hafen fremder Linien, da alle zum nordeuropäischen Kontinent fahrenden Linienschiffe die Sehelde-Mündung passieren müssen und daher in der Regel Antwerpen anlaufen, zumal sich in diesem Gebiet eine erhebliche Industrie angesiedelt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg profitierte Antwerpen von seiner Eigenschaft als Nachschubhafen der Amerikaner, wodurch es sehr früh wieder funktionsfähig wurde. Antwerpen ist heute der bedeutendste Stückguthafen des Kontinents nach Rotterdam, wozu der so1 Die .Abwrackprämie für eine alte Schute soll etwa ein Drittel der Kosten für den Neubau einer modernen Schute ausmachen.

184

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschifte

Export der Eisen- und Stahlindustrien seines Hinterlandes in beträchtlichem Ausmaß beiträgt3os. Die unbestritten größte Entwicklung der europäischen Häfen hat Rotterdam erfahren. Begünstigt durch seine vorteilhafte Lage war dieser Hafen schon vor dem Krieg von großer Bedeutung für die im Hinterland konzentrierte Industrie. Der wichtigste Aufschwung kam jedoch mit dem neuen Hafen "Europoort". 1957 beschloß das Stadtparlament von Rotterdam den Bau des Hafens "Europoort" vornehmlich, um Massengüter nach Rotterdam zu ziehen. Um von Anfang an eine umfassende Planung zu gewährleisten, wurde für das Gebiet Rotterdam-Europoort ein regionaler Verband aus 24 Gemeinden gebildet, der die Regionalpläne für diesen neuen Großraum aufstellte. Heute ist Rotterdam der größte Massenguthafen des Kontinents. Er ist zugängig für beladene Tanker mit einem Tiefgang von 16,5 m und einer Tragfähigkeit von 100 000 t. Die wichtigsten Umschlaggüter in Europoort sind Massengüter wie Getreide, Düngemittel, Erze, Kohle und Mineralöle. Die dominierende Stellung von Rotterdam-Europoort geht auch aus folgender Statistik hervor: Umschlag der fünf größten Nordseehäfen

Hafen

Umschlag 1962 in Mill. t

1963

Rotterdam ............ . Antwerpen ........... . Harnburg ............. . Bremen ............... . Amsterdam ........... .

96,6 41,5 31,4 16,0 12,2

103,3 46,6 33,3 15,4 14,5

Quelle: Rotterdam Europaart 1964, No 1 und No 2. Statistisch Maandberlcht, Haven van Antwerpen.

Auch Amsterdam hat Anstrengungen unternommen, um trotz seiner Binnenlage im Wettbewerb der übrigen Nordseehäfen bestehen zu können. Mit 15m Wassertiefe kann der Nordseekanal, die Verbindung zwischen der Nordsee und Amsterdam, die zur Zeit üblichen großen 308 Einige Zahlen sollen die Entwicklung Antwerpens von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart demonstrieren: 1863 wurde der Zoll abgeschaftt, der auf alle Schifte, die die Scheide hinauf- und hinabfuhren, erhoben wurde. Der gesamte Seegüterverkehr Antwerpens, der 1863 rd. 840 000 t ausmachte, hatte 1869 bereits einen Umfang von 1,5 Mill. t, 1879 waren es 3 Mill. t, 1889 4,5 Mill. t, 1899 8,5 Mill. t und 1913 19 Mill. t. 1927 war ein Höhepunkt mit 28,4 Mill. t, 1962 mit 41,5 Mill. t. Als Vergleich für die Entwicklung des Hafens sei weiter die Zahl der eingelaufenen Schifte angegeben: 1863 waren es 2553 Einheiten mit einer Tonnage von rd. 600 000 t, 1913 7056 Seeschifte mit 14 Mill. t und 1962 liefen 17 966 Schifte mit einer Kapazität von 50 Mill. t Antwerpen an.

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

185

Frachter aufnehmen. Eine Schleuse macht den Hafen unabhängig von Flut und Ebbe. Damit ist der Amsterdamer Hafen für Schiffe bis 100 000 Tonnen Tragfähigkeit erreichbar. Die fortschreitende Integration Europas hatte die Wirkung, daß die Rhein-Scheide-Häfen weiter begünstigt wurden. Der Ausbau der westund süddeutschen Binnenwasserstraßen wirkte in der gleichen Richtung, da die Transportkosten bei der Binnenschiffahrt vor allem für Massengüter niedriger liegen als bei einer Beförderung mit anderen Verkehrsmitteln. Auch ist der Weg über Triest und Genua durch organisierten Sammelverkehr von Stuttgart und München aus verbessert worden. Die Verladungseinrichtungen in Triest sind zwar in mancher Hinsicht nicht auf dem neuesten Stand. Aber Schiffe, die auf dem Weg nach dem Nahen und Fernen Osten von den Nordseehäfen ausgehen, benötigen bis zu dem ersten Mittelmeerhafen ungefähr eine Reisezeit von 10 Tagen. Die geschilderte Entwicklung geben die folgenden Indices wieder: Hafen

1936-1938

1961

Rhein -Scheide-Häfen Deutsche Nordsee-Häfen ..... . Triest ....................... .

100

199

100 100

147

236

Die günstigen Verhältnisse in den holländischen und belgischen Rhein-Mündungshäfen und die Qualität der sich anschließenden Wasserstraße führte dazu, daß etwa 2/a der deutschen Erzeinfuhr über die holländischen und belgischen Rhein-Mündungshäfen liefen. Bei einem Vergleich der Leistung verschiedener Häfen miteinander ist jedoch zu beachten, daß die Bedeutung der Umschlagergebnisse nicht allein von der Menge her gewürdigt werden darf. Auch Arved Bolle weist darauf hin, daß eine bestimmte Ware, die in einem Hafen umgeschlagen wird, für jeden Hafen einen anderen Nutzeffekt bedeutet309. Bei Beurteilung von Hafensituationen ist Tonne in qualitativer Hinsicht auf keinen Fall gleich Tonne. Auch in räumlicher (in gewissem Sinn quantitativer) Hinsicht ist 1 t Stückgut etwas ganz anderes als 1 t Erz oder 1 t Öl. Ausdrücklich sei auch darauf hingewiesen, daß die Statistiken der verschiedenen Häfen in ihrer Methodik stark voneinander abweichen. Bei einem Vergleich der "Hafenfazilitäten" zwischen Rotterdam und Harnburg (s. die folgende Aufstellung) zeigt sich, daß Harnburg über 309 Arved Bolle: Betrachtungen zur gegenwärtigen verkehrspolitischen Situation der Hafenreihe Hamburg-Antwerpen im Rahmen europäischer Häfen. Schriften des Verkehrswissenschaftlichen Seminars der Universität Hamburg. Sonderheft Harnburg 1955.

186

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

beträchtlich mehr Hafenanlagen verfügt als Rotterdam. Daraus geht deutlich hervor, daß die Basis für die Spitzenstellung Rotterdams die Massengüter bilden, die in der Regel weit weniger Geräte, Schuppen und dergleichen erfordern als Stückgüter. Die Umschlagsfazilitäten Rotterdams und Bamburgs

Hafen

km Kaimauern mit seeschifftiefem Wasser

Rotterdam .... Harnburg .....

36,7

24,5

I

Schuppen- u. Speicherflächen inMill. m2

Zahl der Kaikräne

0,7

397 887

1,13

Um einen Anhalt von der Größe der Hafenanlagen in einem modernen Großhafen zu geben und um zu verdeutlichen, welche erheblichen Beträge große Häfen zum Bau und zur Erhaltung ihrer Anlagen aufwenden müssen, seien einige Zahlen des Hamburger Hafens (Stand 1963) angeführt: Gesamtgebiet des Hafens . . . . . . . . . . . . . davon: Landfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wasserfläche ................. Erweiterungsfläche . . . . . . . . . . . Gebiet des Freihafens . . . . . . . . . . . . . . . . Zahl der Seeschiffhäfen . . . . . . . . . . . . . . . Zahl der Binnenschiffhäfen . . . . . . . . . . . Länge der Uferstrecken . . . . . . . . . . . . . . . Kaimauern für Seeschiffe . . . . . . . . . . . . . Kaimauern für Binnenschiffe . . . . . . . . . . Liegeplätze an Dalben für Seeschiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . für Binnenschiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Länge der Hafenbahngeleise . . . . . . . . .

100 41 34 25 16 37

kmZ km2 km2 km2 km2

23

269 km 36,7 km 20,7 km 20,4 km 26,0 km 541 km

Die Qualität der Wasserstraßen der meisten Welthäfen wird seit Ende des Zweiten Weltkrieges durch Radarketten erheblich verbessert, um eine Zu- und Abfahrt zum Hafen auch bei schlechtem Wetter zu ermöglichen. Auch die deutschen Nordseehäfen Bremen und Harnburg verfügen über ein seit einigen Jahren arbeitendes Radarleitsystem. Vom Feuerschiff "Elbe 1" bis zum Harnburger Hafen und vom "Feuerschiff Weser" bis nach Bremerhaven wird jedes ein- und auslaufende Schiff mittels einer Kette von Radargeräten überwacht. Ein Nautiker unterstützt dabei jeweils den Seelotsen im Funksprechverkehr. Der Ausbau beispielsweise der Weser-RadarstraBe über 60 km hinweg hat bei einem Kostenaufwand von 9,7 Mill. DM fast 10 Jahre in

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

187

Anspruch genommen. Auf diese Weise wird auch bei schlechten Sichtverhältnissen ein reibungsloser Verkehrsfluß erreicht. Durch einen großzügigen Ausbau soll der Hafen BremerhavenWeserport zum größten deutschen Erzhafen werden. Durch eine große Seeschleuse wird ein tidefreier Hafen geschaffen, der von Schiffen bis zu 70 000 t Tragfähigkeit angelaufen werden kann. Mit 2 modernsten Entladeanlagen - jede mit einer stündlichen Kapazität von 1000 t können in Weserport 4 bis 5 Mill. t Erz pro Jahr gelöscht werden. Im Endausbau ist eine Jahreskapazität von 10 Mill. t vorgesehen. Anlagen für einen reibungslosen Umschlag der Erze auf Eisenbahn und Binnenschiffe sind im Bau. Auch Lagerplätze mit einer Aufnahmefähigkeit bis zu 0,6 Mill. t sind vorhanden. Im weiteren Ausbau ist die Errichtung einer Erzbrech- und -siebanlage vorgesehen. Der Ausbau ist in der ersten Stufe (5 Mill. t Kapazität) im Oktober 1964 abgeschlossen. Durch den mit ca. 65 Mill. DM Kosten durchgeführten Ausbau des Hafens Weserport wird es jetzt sogar Gesellschaften der Stahlindustrie im östlichen Ruhrgebiet möglich gemacht, ihren Erzbedarf frachtgünstig über Bremerhaven zu decken. Greifen wir noch einen Seehafen des Nordens heraus. Der Hafen Oslo, der aus einem großen, natürlichen Becken am oberen Rand des Oslofjords besteht, ist ein Hafen mit verhältnismäßig hohem Stückgutverkehr (Anteil des Stückguts an der insgesamt gelöschten Fracht: 52 vH). 47 vH der Einfuhr und rund 20 vH der Ausfuhr Norwegens nehmen den Weg über Oslo (1963). Die Bedeutung dieses Hafens für Norwegen wird deutlich, wenn man bedenkt, daß rund die Hälfte der Gesamtbevölkerung Norwegens etwa in einem Umkreis von zwei Stunden Anfahrt mit der Eisenbahn oder mit dem Wagen um Oslo herum wohnt. 1963 hatte der Schiffsverkehr ungefähr 23 000 Ankünfte mit 2,9 Mill. NRT. In Schweden konzentriert sich der Stückgutverkehr auf die größten Häfen des Landes, etwa Göteborg, Malmö und Stockholm. Darüber hinaus gibt es zahlreiche kleine Häfen. Einige der größeren schwedischen Reedereien laufen nahezu 100 Plätze in Schweden an. Der überwiegende Teil dieser Häfen ist aber nicht in Liniendienste einbezogen, sondern wird hauptsächlich durch kleine Trampschiffe bedient, die in der Holzfahrt tätig sind. Diese Häfen liegen meist an Flußmündungen, wo das Holz oft in Sägewerken und Zellulosefabriken vor dem Weitertransport be- bzw. verarbeitet wird. Die mangelnde Konzentration auf wenige große Häfen hat daher zur Folge, daß die Leistungsfähigkeit der einzelnen kleinen Häfen nur sehr gering ist.

188

§ 4: Die Seehäfen im Prozeß der sich vergrößernden Dampfschiffe

Vor kurzem hat die britische Regierung die Situation der Häfen Englands untersuchen lassen. Es sollte ein optimaler Aufbauplan ermittelt werden. Es wurde daher ein nationaler Hafenbeirat konstituiert, der als beratende Körperschaft des Transportministeriums folgende Aufgaben zu erfüllen hat: Aufstellung eines Hafenplanes für das gesamte Land und Überwachung der Ausführung, Vorschlagsrecht und Einspruchsrecht bei Hafeninvestitionen, Überwachung und Regulierung der Hafenkosten, Erstellung und Vereinheitlichung der Hafenstatistik, die Gestaltung der Hafenforschung. So hat z. B. ein Untersuchungsausschuß unter Leitung von Lord Rochdale eine Empfehlung ausgearbeitet, in der vorgeschlagen wird, den Ausbau auf ausgewählte Haupthäfen zu konzentrieren. Weniger und besser ausgebaute und große Häfen sind nach Ansicht des Ausschusses vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus sinnvoller als zahlreiche mittlere Häfen. Geben wir noch ein Beispiel von einem zur Zeit anlaufenden Hafenneubau in Ghana. Die von jugoslawischen Ingenieuren durchzuführende Planung und Erstellung von Port Sekondi ist mit 6 Jahren veranschlagt und enthält an Material etwa 2,4 Mill. m 3 Stein und 70 000 m 3 Beton. Die vier zum Einsatz kommenden Großbagger stammen aus der Produktion der Bundesrepublik. Wenn man die Entwicklung der Häfen in der Welt gegenwärtig beobachtet, so zeigen sich generell zwei Gruppen: Einmal die schnellen und daher kostengünstigen Häfen. Zum anderen die Häfen mit langsamer Abfertigung, deren Anlaufen für die Reedereien also erhebliche Kosten verursachen. Allgemein lassen sich die größeren Häfen in den hochindustrialisierten Ländern in die erste Gruppe einordnen. Die Häfen in den Entwicklungsländern gehören überwiegend zur zweiten Gruppe. Allerdings gibt es durchaus auch in Entwicklungsländern Häfen, die sinkende Umschlagskosten aufweisen, so z. B. Akkra, Chittagong u. a. 910 • Es wird in der nächsten Zeit mit zu den wichtigsten Aufgaben der Entwicklungsländer gehören, die Ursachen der langsamen Abfertigung in ihren Häfen (nicht ausreichend moderne Umschlags- und Lagereinrichtungen, Mangel an genügend qualifiziertem Personal) zu beseitigen. Leistungsfähige Häfen sind wichtige Stimulanten des Welthandels.

sto Nach Untersuchungen des Seeverkehrsausschusses der OECD.

111. Die Entwicklung der Seekanäle Unter Seekanälen verstehen wir künstlich geschaffene Verkehrswege der Seeschiffahrt. Sie gliedern sich in Verbindungs- und Stichkanäle, wobei Stichkanäle - wie z. B. der 1876 gebaute Nordsee-Kanal nach Amsterdam oder der Manchester Ship Canal von 1894 - vom Meer entfernt liegende Seehäfen an die Hochseeschiffahrt anschließen.

§ 1: Die Geschichte des Suezkanals 1. Die Vorgänger des Suezkanals a) Um 2000 - der genaue Termin ist umstritten311 - gab es eine Wasserverbindung zwischen dem Nildelta und dem Roten Meer bzw. dem heutigen Timsal-See, die wahrscheinlich einem alten Nillauf folgte und damals durch das Land Gosen von West nach Ost führte. Dieser Weg ist heute durch eine Kette von Oasen gekennzeichnet, entlang deren die Bahn Kairo-Ismailia verläuft. b) Ein zweiter Verbindungsweg zwischen dem Nildelta und dem Roten Meer wurde im 14. oder 13. Jahrhundert v. Chr. wahrscheinlich unter Ramses II. geschaffen, verfiel jedoch ebenfalls nach einigen Jahrhunderten. c) Eine Verbindung zwischen dem Oberlauf des Nils und dem Roten Meer wurde von Mecho (619-604 v. Chr.) begonnen und von Darius (521-486 v. Chr.) wahrscheinlich um 491 vollendet 312 • Nachdem sie fast 311 E. Kienitz: Der Suezkanal, Berlin 1957, S. 12 datiert den ersten Kanal auf 1950 v. Chr. (Sesostris I.). Ebenso H. J. Schonfield: The Suez-Canal in World Affairs, London 1952, S. 3 und Gerb. Herrmann: Der Suez-Kanal, Leipzig 1936, S. 14. Sie nennen die Zeit um 2000 v. Chr. Vgl. auch Otto Blum: Die Entwicklung des Verkehrs, 2 Bde., Berlin 1941, S. 40; Martin Voss: Der Suezkanal und seine Stellung im Weltverkehr, Wien 1904, S. 2. Möglicherweise war dieser Wasserweg ein natürlicher Arm des Nils. Einige Jahrhunderte später wurde aber zweifellos ein Kanal gebaut. 312 Nach Ch. W. Hallberg: The Suez Canal, its history and diplomatic importance, New York 1931, S. 24 ff. ist es notwendig, mindestens 3 Kanäle in der alten Zeit zu unterscheiden. Der bekannteste ist der Kanal der Pharaonen. Nach arabischer Geschichtsschreibung soll dieser Kanal von dem Pharao Tarsis-ben Malia gebaut worden sein. Der Name Tarsis scheint die arabische Form von Sesostris zu sein, einem König der 12. Dynastie. Auch Geschichtsschreiber des Altertums, wie

190

§ 1: Die Geschichte des Suezkanals

ein halbes Jahrtausend bestanden hatte, war auch diese Verbindung zur Regierungszeit der Kleopatra weitgehend versandet. Zwar wurde sie unter Trajan noch einmal ausgebaggert und an verschiedenen Stellen verbessert, versandete jedoch schließlich im 8. Jahrhundert n. Chr. völlig. Im Jahre 640 n. Chr. wurde unter den Arabern erneut ein Kanal zum Roten Meer gebaut, 767 jedoch wieder zerstört.

2. Der moderne Suezkanal Der Suezkanal in seiner heutigen Form wurde von 1859-1869 nach einem Entwurf von Negrelli unter der Leitung von Ferdinand v. Lesseps (1805-1894), einem französischen Diplomaten, errichtet313 • Nachdem sich England diesem Plan gegenüber zunächst lange Zeit feindlich verhalten hatte, da es engere Beziehungen zwischen Frankreich und Ägypten sowie eine gleichzeitige Abwertung des von ihm beherrschten Kapweges als auch der großen englischen Segelflotte befürchtete314, kam es schließlich nach langen Verhandlungen315 aufgrund einer Konzession des Vizekönigs Said Pascha doch zum Bau. Zur Ausnutzung der auf 99 Jahre ab Inbetriebnahme befristeten Konzession wurde die "Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez" zwar in Ägypten registriert, jedoch mit dem Sitz der Zentralverwaltung in Paris und einem technischen Verwaltungssitz in Ismailia gegründet. Strabo, Plinius und Aristoteles verfolgen den Bau dieses Kanals bis Sesostris zurück. Ein zweiter Kanalbau, der ebenfalls in der 11. oder 12. Dynastie entstanden sein dürfte, führt vom Nil in nördlicher Richtung zum See Balla. Auf ihm wurden oftmals Heere nach Sinai und Syrien transportiert. Ein dritter Kanal soll von Ptolemäus II. (285-246 v. Chr.) zwischen dem Pelusiac, einem Nebenfluß des Nils, und dem Kanal der Pharaonen gebaut worden sein. 313 Pläne zur Wiedererrichtung des Suezkanals waren auch schon vorher immer wieder aufgetaucht, so in der Republik Venedig, unter Sultan Sotimann II., Colbert und Napoleon. Letzterer ließ nach der Eroberung Ägyptens sogar schon Vorarbeiten ausführen, der endgültige Bau des Kanals unterblieb jedoch, weil Geologen infolge einer Fehlberechnung die Undurchführbarkeit des Planes erklärten, da der Wasserspiegel des Roten Meeres über 9 m höher läge als derjenige des Mittelmeeres. Jahrzehnte später tauchten neue Pläne einer französischen und deutschen Studiengruppe (1846 gegründet) auf, angeregt durch die Schule Saint-Simons, insbesondere Enfantins! 314 Schon 1830 hatte ein englischer Leutnant einen Landweg von Indien nach Großbritannien über Ägypten eröffnet. 1837 richtete England aufgrund dieser Vorarbeiten auf diesem Wege einen regelmäßigen Postdienst Großbritannien-Indien ein, der mit Schiff bis Alexandria, von dort über Land nach Suez lief und dann wieder aufs Schiff ging. 1854 wird "als Alternative zu den Kanalplänen", die England ablehnte, durch Betreiben der englischen Regierung eine Eisenbahnlinie von Alexandria nach Kairo gebaut. 315 Auch der türkische Sultan ratifizierte die Konzession des ägyptischen Vizekönigs von 1854/1856 zunächst nicht. Erst 1866 stimmte er zu.

2. Der moderne Suezkanal

191

Obwohl das Aktienkapital von 200 Mill. Goldfranken in 400 000 Aktien zu je 500 Francs- ursprünglich in erster Linie von Frankreich und Ägypten gestellt werden sollte, boten die Gründer darüber hinaus allen Staaten, bei denen man ein Interesse an dem Kanal vermutete (so Rußland, Österreich, Großbritannien, USA) Aktienpakete an, die jedoch nicht abgenommen wurden. Allein Frankreich steuerte voll bei, während die übriggebliebenen Aktien über die ganze Welt hin an Privatpersonen verkauft wurden. Demgegenüber zahlte Ägypten zunächst mit den Frondiensten seiner Untertanen. Als der Vizekönig, der persönlich Aktien im Werte von über 80 Mill. Francs genommen hattem, in finanzielle Schwierigkeiten geriet, kaufte England 1875 von ihm 7/ts des Aktienkapitals auf. Nach wie vor aber blieb die Gesellschaft französisch mit dem Sitz in Paris und französisch als Amtssprache. Rechtsstreitigkeiten um die Gesellschaft zogen sich jedoch noch Jahrzehnte hin. So behauptete ein Urteil eines französischen Gerichts aus dem Jahre 1902, daß die Konzession der Gesellschaft auf gefälschten Dokumenten beruhe und die Suezkanalgesellschaft demnach "zwar praktisch, nicht aber rechtlich" bestehe317 • Vor der Enteignung befanden sich von den Aktien der Suezkanalgesellschaft 44 vH im Besitz der englischen Regierung, 15 vH in Händen einer französischen Bank, 21 vH bei französischen Privatpersonen und sonstigen Gesellschaften und 20 vH in Händen der Verwaltungsratsmitglieder. Die Verwaltung des Kanals oblag einem Verwaltungsrat, der zuletzt aus 16 Franzosen, 9 Engländern, 5 Ägyptern, einem Holländer und einem Amerikaner zusammengesetzt war, die von der Generalversammlung der Aktionäre· gewählt wurden. Nach Art der Eisenbahngründer schätzte v. Lesseps die Baukosten des Kanals bewußt niedrig. Sie betrugen schließlich 430 Mill. Ffs. und erhöhten sich durch Ausbau bis auf 990 Mill. Goldfrancs. Die Bewirtschaftung des Kanals erfolgte von Anfang an nach dem Gewinnprinzip, wobei Ägypten zunächst einen vertraglichen Anspruch auf 15 vH des Reingewinns des Unternehmens hatte, den es aber 1880 an den französischen Credit Foneier bzw. der Societe Civile verkaufte. Von diesem wurde der Gewinnanspruch einer Gesellschaft abgetreten, die der französischen Schuldenverwaltung unterstand. 1949 wurde die ägyptische Regierung durch einen Vertrag wieder mit 7 vH der Roheinnahmen beteiligt. In Verfolg des Gewinnprinzips waren die Kanalabgaben stets erheblich höher als zur Deckung der Kosten und des weiteren Ausbaus des Kanals notwendig war. Sie wurden entsprechend der Verhaltenss1s Nach E. Kienitz: Der Suezkanal, Berlin 1957, S. 30 besaß Said Pascha 177 642 Anteile zu je 500 Francs. 317 Otto Blum: Die Entwicklung des Verkehrs, 1. Bd., Die Vergangenheit und ihre Lehren, Berlin 1941, S. 129.

§ 1: Die Geschichte des Suezkanals

192

weise eines privatwirtschaftliehen Monopolisten festgelegt, der Substitutionsbeziehungen - beispielsweise die Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung - berücksichtigen muß. Die Kanalabgaben betrugen ab 1954: für beladene Schiffe ....................... . für leere Schiffe . . ........................ . Betriebseinnahmen 1955 .................. . Betriebsausgaben 1955 .................... .

34 ägyptische Piaster pro Suezkanal-Tonne318 15'12 Piaster 34,5 Mill. Pfund 18,3 Mill. Pfund,

wobei gemäß dem Vertrag von 1949 7 vH des Bruttoüberschusses, die an Ägypten gehen, vorher abgezogen sind. Von dem verbleibenden Überschuß gingen 71 v H 2 vH 10 vH 2 vH 15 vH

an an an an an

die die die die die

Aktionäre, Pensionskasse der Angestellten, Erben der Gründer, Verwaltungsratsmitglieder, Societe Civile.

Die Dividenden der Gesellschaft bewegten sich seit der Jahrhundertwende jährlich zwischen 30 vH und 50 vH und sind seit Gründung der Gesellschaft um das Vielfache höher als das Aktienkapital, das seinerzeit aufgebracht wurde. Infolge seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung sowie seiner Leistungsfähigkeit führte der Kanal von Anfang an zu stärksten weltpolitischen Spannungen319 • Nachdem Ägypten 1882 durch Großbritannien besetzt worden war, wurde in der Konvention vom 29. Oktober 1888 festgelegt, daß der "maritime" Suezkanal in Kriegs- wie in Friedenszeiten jedem Handelsund Kriegsschiff ohne Unterschied der Flagge offenstehen solle320 • Durch die Internationale Konvention, die in Konstantinopel von der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, 318 Eine besondere hierfür geschaffene Maßeinheit, die zwischen Bruttound Nettoregistertonne liegt (Tons net - NRT-Suezkanalvermessung). 319 Übersichtliche Darstellung der Rechtslage bei Dietrich Rauschning: Der Streit um den Suezkanal, hektographierte Veröffentlichungen der Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität Harnburg Nr. 27, Harnburg 1956. Vgl. ferner: G. Ambrosius: La situazione internazianale dell'Egitto e il regime del Canale di Suez, Florenz 1927; J. Charles-Roux: L'isthme et le canal de Suez, Paris 1901; A. Hasenclever: Geschichte Ägyptens 1798-1914, Halle 1917. 320 Konvention, um zu jeder Zeit und für alle Mächte die freie Benutzung des maritimen Suezkanals sicherzustellen, vom 29. Oktober 1888, amtliche deutsche Übersetzung, veröffentlicht in: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, 1889 Nr. 85.

2. Der moderne Suezkanal

193

Italien, Spanien, den Niederlanden und Rußland unterzeichnet worden war, wurde ausdrücklich vereinbart, daß das Blockaderecht im Kanal niemals ausgeübt werden dürfe. Diese Abmachung blieb selbst im Abessinien-Krieg bestehen, und der Kanal wurde nicht gesperrt. Nachdem der Kanal jedoch bereits im zweiten Weltkrieg 64mal mit Bomben und Minen angegriffen worden war, sperrte Ägypten die Durchfahrt für israelische Schiffe - ohne Rücksicht auf die Konvention von Konstantinopel. Ebenfalls unbestritten war nach dem alten Vertrag, daß Ägypten das Heimfallrecht besitzen solle, sobald 1968 die Konzession abläuft. Darüber hinaus vereinbarten die Vertragsschließenden, daß kein Kriegsrecht und kein Akt der Feindseligkeit im Kanal und seinen Einfahrtshäfen durchgeführt werden dürfe. Diese Regelung erstreckt sich auf einen Umkreis von drei Seemeilen um die Einfahrtshäfen herum. Der Aufenthalt eines Kriegsschiffes in Port Said darf 24 Stunden nicht überschreiten, noch ist es zu Kriegszeiten kriegführenden Mächten gestattet, im Kanal und dessen Einfahrtshäfen Truppen, Munition oder Kriegsmaterial aus- oder einzuschiffen. Im Anschluß an die Verträge von 1922 und 1936, durch die Ägypten seine Souveränität wiedererlangte, blieb England das Recht, seine Truppen in der Kanalzone zu belassen. Im Oktober 1951 sagte sich Ägypten von dieser Abmachung los, und am 26. 6. 1956 wurde der Suezkanal durch Dekret des Präsidenten der Republik Ägypten nationalisiert. Dabei wurde die Erklärung abgegeben, daß die internationalen Verpflichtungen Ägyptens aus der Suezkanal-Konvention von 1888 bestehen bleiben sollten. Wenn man die starke Stellung Englands im Seeverkehr berücksichtigt, ist es nicht verwunderlich, daß die Schiffe Großbritanniens stets die stärksten Benutzer des Kanals waren. Der Anteil Großbritanniens am Schiffsverkehr im Suezkanal betrug: 1913 1930 1950 1955

60 vH 50 vH 32,5vH 28,3vH

Die zweite Stelle nahmen vor dem Ersten Weltkrieg sowie 1930-1935 Deutschland, 1921-1929 die Niederlande, 1935-1939 Italien und 1950 Norwegen ein. Legen wir das Jahr 1950 zugrunde, so ergeben sich weiter folgende Benutzeranteile: Panama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Voigt 1111

9,7 vH 7,7 vH 6,5 vH 5,5 vH

§ 1: Die Geschichte des Suezkanals

194

Nun ein paar Worte zur technischen Leistungsfähigkeit des Suezkanals: Der Kanal besitzt eine Länge von 162 km321 , eine Wassertiefe von ursprünglich 8 m, dann 13 m und eine Sohlenbreite von 22m, dann 60 m. Damit können zur Zeit schon nicht mehr die größten Schiffe322 den Kanal durchqueren. Für die wichtigsten Relationen beträgt die Verkürzung des Seeweges gegenüber dem Umweg um die Südspitze Afrikas 4000 Seemeilen, d. h. der Kanal verkürzt die Entfernung von den Häfen in Frankreich, Großbritannien und anderen Nordseestaaten nach Ostasien um 25 vH, nach Indien um 33-40 vHa2a. Die auffällig starke Zunahme des Verkehrs durch den Kanal seit dem Ersten Weltkrieg beruht vorzugsweise auf dem Erdöltransport. Es kann festgestellt werden, daß die Tankschiffe 1950 einen Anteil von 64 vH der Gesamttonnage erreichten. Da der Suezkanal die Reisedauer in den wichtigsten Verkehrsrelationen beträchtlich verkürzte und trotz empfindlich hoher Durchfahrtsgebühren die Gesamtkosten eines Schiffstransports von Europa nach dem Fernen Osten erheblich senkte, wirkte er darüber hinaus auch auf Schiffsgrößen und -typen ein324 . Schon oben wurde vermerkt, daß die vielen Klippen des Roten Meeres den nur schwer zu manövrierenden Segler benachteiligten, und daß die Gebühren außerdem noch Schiffe mit großer Tonnagezahl begünstigten. Da andererseits die Höhe der Zinsen den Grad des Interesses an einer möglichst kurzen Transportdauer zu bestimmen pflegt, erhielt die Verkürzung der Fahrzeit durch den Kanal umso größere Bedeutung, je höher die Zinssätze und die Preise der beförderten Güter stiegen 325 • Das Ansteigen des Verkehrs durch den Suezkanal

Jahr

Zahl der Schiffe

Bruttotonnage

Nettotonnage

1870 1880 1900 1909

486 2026 3441 4239

654915 4 344 519 13699 237 21 500847

436 609 3057 421 9 738152 15 407 527

QueUe: Georg Brodnttz: 3. Aufl., 7. Bd., S. 1051.

Suezkanal, Handwörterbuch der Staatswissenschaften,

Die Statistiken des "Suez Canal Reports" legen ein besonderes Maß "Tons net" (NRT-Suezkanalvermessung) zugrunde. 321 Einschließlich Zufahrtsrinnen 173 km. 322 Tanker z. Z. bis etwa 48 000 BRT. 323 Geringer dagegen ist die Kürzung der Entfernung zwischen Europa und Australien. 324 Vgl. S. 73 u. 111 f. 326 Als in der Suezkrise der Kanal gesperrt wurde, änderten sich sofort die bei Werften in Auftrag gegebenen Schiffsgrößen der Neubauten. Nunmehr wurde das größere Schiff bevorzugt, das bisher bei der Durchfahrt durch den

2. Der moderne Suezkanal

195

Verkehr durch den Suezkanal (Gesamter Güterverkehr in beiden Richtungen seit 1946) in 1000 Tonnen

Jahr

Nord/Süd

Süd/Nord

Insgesamt

1946 ......................... 1947 ......................... 1948 ......................... 1949 ......................... 1950 1951 ......................... 1952 1953 1954 1955 1956 1. 1. 1956 bis 31. 10. 1956 1957 10. 4. 1957 bis 31. 12. 1957 1958 1959 1960 1961 1962 .........................

5995 7 821 9716 13028 12 141 17 420 22001 22518 22370 20082 18 100 14100 24943 31247 28862 32795 31201

15 931 22767 39653 48027 60468 59333 61 447 67 881 74511 87426 82700 67200 114 431 118 229 139 650 139599 151 220

21 926 30588 49369 61055 72609 76 753 83448 90399 96881 107 508 100800 81300 139374 149476 168 512 172394 182421

•••••••••••••••

••••••••••

0.

•••••••••••

0

0

•••••••••

••••••••••••

•••••••

•••••••••••••••

0.

0

••••••

0

•••••••

•••••••••••••••••••

0

•••••

•••••••••••••••••••

0

•••••

•••••••

0

••••••••

•••••••••••••••••

00

•••••••••••••

•••••••••••••••••••

00

0.

••••

QueUe: Suezkanal-Behörde und Organisation for Economie Co-Operation and Development (OECD), Maritime Transport 1962, S. 50.

§ 2: Die Geschichte des Panamakanals Ähnlich wie die Geschichte des Suezkanals ist auch diejenige des Panamakanals höchst dramatisch. Überhaupt läßt sich aus der Geschichte dieser Kanäle ersehen, welche großen weltpolitischen Spannungslinien ein neuer leistungsstarker Verkehrsweg auszulösen vermag. J ahrhundertelang 326 wurden immer wieder Pläne eines Durchstiches der engsten Stellen327 zwischen Nord- und Südamerika erörtert. Auch heute, nach Fertigstellung des Panamakanals, sind diese Pläne noch keineswegs abgeschlossen, sondern es wird immer wieder erwogen, neben dem Panamakanal noch einen weiteren Kanal zu bauen. Im Jahre 1855 wurde zunächst eine von den USA finanzierte, 76 km lange Eisenbahnlinie über die Panamaenge hinweg gebaut, nachdem Kanal auf Schwierigkeiten gestoßen war. Das Übergewicht der großen Schiffseinheiten über 48 000 BRT, die den Kanal nicht mehr benutzen konnten, nahm nunmehr zu, obgleich die Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung herum gewählt werden mußte. So wurden Tanker mit 80 000, 100 000 ja sogar 150 000 tdw in Auftrag gegeben! 326 Brief Cortez an Kaiser Karl V. vom 15. 10. 1524. Fr. Regel: Der Panamakanal, Halle a. S. 1909. 327 Nicaragua-Plan, Tehuantepec-Plan. 13°

196

§ 2: Die Geschichte des Panamakanals

schon im Jahre 1850 ein Vertrag (Clayton-Bulwer) über die Neutralität eines etwaigen künftigen Kanals abgeschlossen worden war 328 • Von dem Erbauer des Suezkanals, Ferdinand v. Lesseps, wurde schließlich 1872 in Frankreich eine Gesellschaft (Compagnie universelle du Canal interoceanique de Panama) zur Erbauung des Panamakanals gegründet. Obgleich ein 102 m hoher Höhenrücken im Wege stand, plante v. Lesseps, den Durchschnitt meeresspiegelgleich durchzuführen. 1878 erteilte die Republik Columbien die erforderliche Konzession. Wie schon beim Suezkanal hatte v. Lesseps zum Zwecke der Werbung von Aktienzeichnern auch für den Bau des Panamakanals seinen Kostenvoranschlag mit 680 Mill. Frs .. bewußt zu niedrig angesetzt. Die französische Kanalbaugesellschaft "Compagnie universelle du canal interoceanique de Panama", die mit einem Kapital von 300 Mill. Frs. ausgestattet war, begann 1881 mit dem Bau. Obwohl der Kanal 1888 erst zu einem Drittel fertiggestellt war, hatten die Ausgaben bereits eine Höhe von 1,15 Mrd. Frs. erreicht und stiegen dann noch bis auf 2 Mrd. Frs. an, woraufhin die Gesellschaft zusammenbrach. Diese Überschreitungen sowie die Entdeckung, daß die Gesellschaft einige hundert Abgeordnete bestochen hatte, lösten den sog. "Panama-Skandal" aus. Der 87 Jahre alte v. Lesseps wurde auf diese Vorfälle hin wegen Betruges verurteilt. Zwar wurde er acht Jahre später im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, schied jedoch, innerlich zerbrochen, aus den weiteren Planungen aus. Die im Jahre 1894 neugegründete französische Gesellschaft "Compagnie Nouvelle duCanal de Panama" geriet bereits 1899 in neue Schwierigkeiten329 , woraufhin die USA- eben als Sieger aus dem Spanischen Krieg hervorgegangen- in die Pläne eintraten. Mehrere Erdbeben und Vulkanausbrüche (Mont Pelee am 8. 5. 1902) ließen jedoch Nicaragua als ungünstiges Gelände erscheinen, so daß sich das Interesse wieder Panama zuwandte (Kongreßbeschluß 19. 6.1902, als staatliches Bauvorhaben). 1903 wurde mit Columbien, zu dem das Panamagebiet staatsrechtlich gehörte, ein Vertrag abgeschlossen, den der columbianische Kongreß jedoch ablehnte. Daraufhin brach - unzweifelhaft auf Betreiben amtlicher amerikanischer Stellen - in der Panamazone eine Revolution aus, was zum Erscheinen amerikanischer Kriegsschiffe führte. Präsident Roosevelt erkannte Panama umgehend als selbständigen Staat an und schloß einen Vertrag mit der neugegründeten Republik Panama ab. Diese tritt eine Kanalzone in einer Breite von 16 km ab, für welche die USA das Recht der dauernden Benutzung, Besetzung und Kontrolle 328 Verbot jedes staatlichen Kanalbaus in Mittelamerika. Aufgehoben 1901 (Hay-Pauncefote). 329 Kurz nachdem die französische Gesellschaft mit dem Bau begonnen hatte, begann eine amerikanische Gesellschaft mit dem Bau eines Konkurrenzkanals in Nicaragua. Auch dieses Unternehmen brach 1893 zusammen.

§ 2: Die Geschichte des Panamakanals

197

erhalten, wohingegen die USA sich ihrerseits zu jährlichen Zahlungen verpflichten. Gleichzeitig garantierte der Vertrag die freie Durchfahrt für Handels- und Kriegsflotten aller Nationen. Zu dem außergewöhnlich niedrigen Betrag von 40 Mill. Dollar erwerben die USA den gesamten Besitz der französischen Gesellschaft und verlassen den ehemaligen Lesseps'schen Plan eines Kanals in Meeresspiegelhöhe-was die französische Gesellschaft 1887 auch schon beschlossen hatte. Nach dem Verzicht Großbritanniens auf Beteiligung (Hay-Pauncefote Vertrag 1901) errichten die USA den Kanal unter Leitung des Pionierobersten G. W. Goethals als Schleusenkanal mit 6 Schleusen, wobei die höchste Stelle 26 m über dem Meeresspiegel liegt. Da der Panamakanal durch ein höchst ungesundes Tropengebiet verläuft, war die Sterblichkeit beim Kanalbau außerordentlich hoch. Sie betrug bis zu 17,7 vH der eingesetzten Arbeitskräfte im Monat. In fünf Jahren wurden 22 189 Menschen verloren, und zwar 1/s durch Gelbfieber und 2/a durch Malaria. Der Durchbruch durch die Anden mißglückte immer wieder, da die über 100 m hohen Böschungen im Gaillard-Einschnitt nicht hielten. Im Endstadium erhielt der Panamakanal eine Länge von 67 km330, eine Wassertiefe von 13,7 m (zeitweise 12,8 m) und eine Sohlenbreite von 91,5 m. Die Höhe der Scheitelhaltung liegt 26 m über dem Meer. Da die Größe der durchfahrenden Schiffe vor allem durch die zu engen Schleusen zur Zeit auf 40 000 t begrenzt ist, ist der Kanal für größere Schiffe nicht mehr ausreichend. Vor allem vom strategischen Gesichtspunkt aus ist diese Begrenzung für die USA-Flotte außerordentlich hinderlich. Für Europa ist der Panamakanal zwar nicht so bedeutsam, da die Verkürzung des Transportweges zur Westküste Amerikas, vor allem zur Westküste Südamerikas verhältnismäßig gering ist. Umso größer ist seine Bedeutung jedoch für die Verbindung der Ost- und Westküste Amerikas und darüber hinaus für die Verbindung der Ostküste Nordamerikas mit Ostasien (z. B. Hongkong). Der Panamakanal hat für Amerika folglich eine hervorragende militärische und politische Bedeutung. Die Rechtskonstruktion des Kanals weicht infolge seiner Entstehungsgeschichte erheblich von derjenigen des Suezkanals ab, indem "The Panama Canal" als selbständige Dienststelle der USA fungiert3 31 • Ein unmittelbar dem Präsidenten - in der Verwaltung durch den Kriegs330 Einschließlich Zufahrtsrinnen 81 km. aat Vgl. Annual Report of the Governor of the Panama Canal.

§ 2: Die Geschichte des Panamakanals

198

minister vertreten - unterstellter Gouverneur stellt die oberste Verwaltungsbehörde dar332 • Der Hay-Pauncefote-Vertrag von 1901 verlangt die Gleichbehandlung aller Kanalbenutzer, insbesondere auch hinsichtlich der Abgaben. Von Abgaben befreit sind lediglich Schiffe, die in Eigentum oder Charter der Regierung von Panama und den USA stehen. Da in der Regel nur nach voller Kostendeckung ohne erheblichen Gewinn gestrebt wurde, sind die Abgabesätze erheblich geringer als beim Suezkanal. Tonnagemäßig gehört über die Hälfte der den Panamakanal benutzenden Schiffe zur Flotte der USA. An zweiter Stelle folgt Großbritannien, dann Norwegen, Panama, Honduras (1950). Verkehr durch den Panamakanal

Jahr 1914/15a) 1919/20a) 1922/23a) 1930 1939 1950 1963

Anzahlder Durchfahrten

Nettotonnage (in 1000 NRT)

1 075 2478 3 966 6027 5 903 5448 11186b)

3793 8546 14890 30 018c) 27 86N 28872 0>

"' -:I 0

1. Besonderheiten der Binnenschiffahrt auf einigen Wasserstraßen

271

Güterverkehr auf dem Rhein nadl Gütergruppen in den Jahren 1957 und 1961 Beförderte Güter (in 1000 t)

vH des gesamten Transportaufkommens

1957

1961

1957

1961

Getreide ............... Zucker ................ Erze ................... Steinkohlen ............ Braunkohlen Mineralöle ............. Natur- und Kunststeine Erden, Kies und Sand .. Kalk und Zement ...... Stein- und Siedesalz ... Düngemittel ........... Holz ................... Roheisen, Rohstahl .... Alteisen ................ Übrige Güter ..........

3499 333 18828 26427 3 115 10579 3305 14477 1 109 1 770 2931 966 1410 1654 17 736

4032 165 23227 21168 2804 17649 5273 21 440 2351 1937 3565 1377 2623 1426 24027

3,2 0,3 17,4 24,4 2,9 9,8 3,1 13,4 1,0 1,7 2,7 0,9 1,3 1,5 16,4

3,0 0,1 17,5 16,0 2,1 13,3 4,0 16,2 1,7 1,4 2,6 1,0 1,9 1,0 18,2

Insgesamt ..............

108 139

133064

100,0

100,0

•••••••

0

••

K. H. Küh!: Binnenschiffahrt in Zahlen, 2. Auf!. Duisburg-Ruhrort 1957, Blatt 33 und 1961, Blatt 33.

Als Folge des zweiten Weltkrieges baute die Schweiz die eigene Rheinflotte aus. Die moderne Binnenschiffahrt auf dem Rhein zur Schweiz ist verhältnismäßig jung (1904 erstmalig Kohleverkehr mit Rheinschiffen nach Basel). Im Jahrzehnt von 1952 zu 1962 nahmen über 30 vH des schweizerischen Außenhandels in Einfuhr und Ausfuhr den Weg über die Binnenschiffahrt des Rheins, wobei in einem sehr ungleichgewichtigen Verhältnis die Talfahrt nur etwa 4 vH des Bergverkehrs beträgt. Jahresumschlag in den Basler Rheinhäfen in Mill.

ta)

Jahr

Bergverkehr

Talverkehr

1910 1924 1930 1937 1950 1955 1956 1962

0,05 0,21 1,01 2,74 3,25 4,13 4,87

0,02 0,07

6,79

a) QueUe: Binnenschiffahrt in Zahlen, Blatt 65/1, 1962.

0,94

0,22 0,25 0,46 0,42 0,29

272

§ 6: Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Weltkrieges

Drei Gütergruppen: a) feste Brennstoffe, b) flüssige Treib- und Brennstoffe, c) Getreide und Futtermittel nehmen 3/4 des gesamten Bergverkehrs ein. Das letzte Viertel stellen die übrigen, für die Schweiz lebensnotwendigen Güter wie Zucker, Zellulose, Eisen und Stahl, Pyrit, Holz, Baumwolle, Fette, Öle usw. Frankreich organisierte den Rheinverkehr über den HafenStraßburg straff unter einheitlicher Leitung mit einer besonderen Rheinflotte. In den Niederlanden hat sich eine auffällige Scheidung zwischen Binnenverkehr und dem Rheinverkehr herausgebildet. Der Binnenverkehr vermochte 1954 39,8 Mill. t zu befördern, während im fremden Hinterland 56,2 Mill. t Güter transportiert wurden110• Während Frankreich die Rheinschiffahrt monopolisiert hat, ist auf dem französischen Wasserstraßennetz überwiegend der Privatschiffer zu finden. Er wurde zeitweise sogar vorn Staat subventioniert. Die Anpassungsschwierigkeiten der Marktordnung an den Wettbewerb waren auf deutschem Gebiet besonders groß. Als beispielsweise 1955 die Eisenbahntarife nicht den allgerneinen Preissteigerungen folgten, fühlte sich der Staat verpflichtet, den Partikulierschiffern eine Prämie auf Frachten zu gewähren, um deren Unrentabilität zu vermeiden. In dem Selbstverwaltungsrnechanisrnus, in dem die Reeder auf vertraglicher Basis eine angemessene Beschäftigung der Partikuliere sicherten, hatte sich der Staat bei Notlagen eine Eingriffsmöglichkeit vorbehalten. Als 1958 die Beschäftigung der Partikuliere auf dem Rhein stark absank, wurde z. B. durch eine vorn Bund erlassene Rechtsverordnung111 festgelegt, daß die Reeder von den arn Rhein aufkommenden Kies- und Bimstransporten dem Schiffsbetriebsverband laufend eine feste Quote anbieten sollten. Die Schutzgesetzgebung für die deutschen Partikuliere wurde vor allem nach Beendigung des zweiten Weltkrieges vorn Ausland scharf angegriffen. Die Niederlande sahen darin einen Verstoß gegen die Mannbeimer Akte von 1868. Die Montan-Union wurde mit dem Ziel errichtet, die optimale Entwicklung des Bergbaus, der Stahlindustrie und der anderen unter den Vertrag fallenden Wirtschaftszweige insbesondere dadurch sicherzustellen, daß grundsätzlich alle hemmenden Beschränkungen im internationalen Verkehr innerhalb der angeschlossenen Staaten wegfallen und einseitige Begünstigungen der eigenen Industrie unterbleiben. Als Folge no Ursula v. Koeppen: Die Binnenschiffahrt in der Welt. In: Die deutsche Binnenschiffahrt, Hrsg. 0. Most, Düsseldorf 1957, S. 247. Unter "fremdem Hinterland" versteht man das Gebiet außerhalb des Landes, in dem das Schiff beheimatet ist. In diesem Fall ist es der Rhein, der von den niederländischen Schiffen befahren wird. 111 Juli 1959 gültig für ein Jahr.

2. Die Verbesserung und Erweiterung des Wasserstraßennetzes

273

der Gründung der Montan-Union wurde zur Vermeidung von Diskriminierung im Rheinverkehr ein Abkommen betr. Frachten und Beförderungsbedingungen im Verkehr mit Kohle und Stahl auf dem Rhein am 9. 7. 1957 geschlossen, dem auch die Schweiz als assoziiertes Mitglied beitrat. Es sah grundsätzlich vor, daß sich die deutschen Frachten an das Niveau der grenzüberschreitenden, freigebildeten, langfristigen, repräsentativen Frachten angleichen sollten. Schwierigkeiten traten bereits auf, als in der zweiten Hälfte des Jahres 1958 die Pool- und Konventionsfrachten auf dem Rhein zusammenbrachen. Vorläufig war es noch nicht möglich, die bestehenden unterschiedlichen Frachtsysteme zu vereinheitlichen. Auf Grund der von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erlassenen Vorschriften (Verordnung Nr. 11, August 1960) sollte die Binnenschitfahrt verpflichtet werden, jeden Transport (mit Ausnahme der Montan-Güter) durch Beförderungspapiere begleiten zu lassen, aus denen Art, Menge, Relation, Absender und Empfänger ersichtlich sind. Nicht einmal diese Maßnahme konnte wegen der Mannheimer Akte von 1868 verwirktlicht werden. Schon hieraus sieht man die Schwierigkeiten, denen ein gemeinsames europäisches Rechtssystem der Binnenschiffahrt entgegensteht. Eine gemeinsame europäische Verkehrspolitik steht noch in den Anfängen. Dazu kommt, daß es bis Ende 1965 im EWG-Vertragswerk die Möglichkeit gibt, mit einer einzigen Stimme den Fortgang der europäischen Verkehrsintegration zu blockieren. Erst von Beginn des Jahres 1966 an haben nach dem EWG-Vertrag Mehrheitsbeschlüsse Gültigkeit112 • Am 20. Nov. 1963 wurde die Rheinschiffahrtsakte von 1868 von den beteiligten Staaten Bundesrepublik, Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz revidiert (Italien ist vor einigen Jahren aus der Zentralkommission ausgeschieden). In dieser "kleinen Revision" wurde die einseitige Vorzugsstellung Frankreichs, die aus dem Versailler Vertrag herrührt, beseitigt. Ferner wurde der Zentralkommission "richterliche Unabhängigkeit" für Rechtssprechungen eingeräumt. Das Abstimmungsverfahren wurde verbessert. Amtssprachen sind jetzt Englisch, Französisch, Niederländisch und Deutsch. Der der Rheinschiffahrtsakte zugrundeliegende Begriff der "Freiheit der Rheinschiffahrt" wurde nicht angetastet. Jedes Mitglied der Zentralkommission kann Fragen der Rheinschiffahrt in der Kommission zur Debatte stellen. 112 Bekanntlich wurde der Deutsche Zollverein erst funktionsfähig, als das Vetorecht abgeschafft wurde. Vgl. Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Art. 75, Abs. 1.

18 Voigt II/1

274

§ 6:

Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Weltkrieges

2. Die Verbesserung und Erweiterung des Wasserstraßennetzes Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Wasserstraßen überall dort, wo sich die Binnenschiffahrt hatte behaupten können, systematisch verbessert. Schon vor dem Kriege ermöglichten Talsperren in Zeiten niedriger Wasserstände durch Abgabe von Wasser einen größeren Tiefgang der Binnenschiffe. Zu nennen sind die Talsperre Ottmachau für die Oder, die Saale-Talsperren für die Elbe sowie die Eder- und Diemel-Talsperren für die Weser. Da der Talsperreninhalt oft nicht für die ganze Niedrigwasserzeit ausreicht, werden zuweilen nur Wellenabgaben durchgeführt113. Die Kanalisierung der Mosel zwischen Koblenz und Diedenhofen zu einer Großschiffahrtsstraße für den Verkehr mit 1500 t-Schiffen mit 2,50 m Tiefgang wurde 1964 abgeschlossen. Sie wurde vorgenommen auf Grund eines im Oktober 1956 geschlossenen Vertrages zwischen Frankreich, Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland 114. Die Kanalisierung des Mains, - der Berechnung liegen die gleichen Schiffsgrößen wie für die Mosel zugrunde - erreichte im Zuge des Ausbaues des Rhein-Main-Donau-Kanals 115 1962 Bamberg. Der Rhein-MainDonau-Kanal, zu dessen Gesamtwerk die Kanalisierung des Mains gehört, wird nun zunächst bis Nürnberg weitergebaut Die Kanalisierung des Neckars durch die Neckar A. G. wurde 1958 bis Stuttgart durchgeführt. In den Rahmen dieser systematischen Verbesserung der Wasserstraßen gehören weiter die Kanalisierung der Mittelweser und der Ausbau des Dortmund-Ems-Kanals für 1000 t-Schiffe. Während die Brutto-Investitionen der Deutschen Bundesbahn in den Bahnanlagen von 1950 bis 1962 13,1 Milliarden DM betrugen, zu denen noch 4 Milliarden DM für die Elektrifizierung hinzutraten, und für den Straßenbau 27 Milliarden DM aufgewandt wurden, erfolgten Investitionen auf dem Gebiet der Binnenwasserstraßen (ohne Binnenhäfen) im gleichen Zeitraum in Höhe von nur 1,8 Milliarden DM116. An Projekten für die Verbesserung von Wasserstraßen bestehen: a) die Vertiefung des Rheins auf der Strecke Mannheim-St. Goar von 1,70 auf 2,10 m (bei normaler Wasserführung); 113 Ein ähnliches Verfahren gab es schon früher einmal bei der Stecknitzfahrt. 114 Finanzierung durch die Internationale Mosel GmbH in Trier, gegründet 1957.

115 Vgl. S. 310 f., 321 f. und 345. 116 Dazu ist weiter zu beachten, daß Investitionen !ür Binnenwasserstraßen gleichzeitig auch die Wasserwirtschaft und die Energieversorgung mit berühren.

2. Die Verbesserung und Erweiterung des Wasserstraßennetzes

275

b) die Vertiefung des Mittellandkanals für den Verkehr von 1350 tSchiffen; c) eine allgemeine Verbesserung der Schiffahrtsverhältnisse auf der deutschen Donau, insbesondere die Inangriffnahme der Vollkanalisierung der Donau zunächst bis Regensburg. Diskutiert wird weiterhin der Bau eines Nord-Süd-Kanals. Grundsätzlich wird eine Reihe von Schiffahrtsstraßen, auf denen heute 300 bis 600 t-Schiffe verkehren, für den Verkehr des Europaschiffs von 1350 t umgebaut. Besonders hemmend macht sich der Engpaß des Mittelrheins, vor allem am "Binger Loch", bemerkbar, der die Schiffahrt daran hindert, in den Monaten mit Niedrigwasser ihre Kähne voll auszulasten. Die Schleusenkapazität des Wesei-Datteln-Kanals ist unzureichend. Schiffe müssen manchmal 2 bis 3 Tage vor den Schleusen liegen, bevor sie passieren können. Andererseits ist auf Teilstrecken des DortmundEms-Kanals wie auf dem Mittellandkanal die nutzbare Wasserspiegelbreite nicht genügend, um Überholungen zu ermöglichen. Für die Gesamtleistung des Kanals ist dann nicht die Geschwindigkeit maßgebend, die die Uferbefestigung und die Motorenleistung maximal vertragen, sondern die Geschwindigkeit des langsamsten Fahrzeuges 117 • Vor dem 2. Weltkrieg waren im Deutschen Reich rund 11 000 km befahrbar. In der Statistik des Statistischen Reichsamtes wurden nur die hauptsächlich in Betracht kommenden Strecken erfaßt. Danach ergab sich 1932 folgendes Bild: Ostpreußische Wasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . 524 km Odergebiet ................................ 1102 km Märkische Wasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . 898 km Eibegebiet ................................ 1537 km Nordwestdeutsches Wasserstraßengebiet ... 1525 km Rheingebiet ............................... 1713 km Donaugebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 km Zusammen ................................ 7512 km Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1934, S. 180; vgl. die erheblich anderen Zahlen im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927, s. 138, die sich daraus erklären, daß mit den ansteigenden Schiffsgrößen viele Wasserstraßen mit größeren Kähnen nicht mehr befahren werden konnten. Diese Wasserstraßen wurden daher in die neuere Statistik nicht mehr mit aufgenommen. 117 Erich Otremba: Die geographisch·en Grundlagen der deutschen Binnenschiffahrt, in: Die Deutsche Binnenschiffahrt, 2. Aufl., Bad Godesberg 1964; Franz J. Schroifj: Die Binnenwasserstraßen als allgemeinwirtschaftliches und staatspolitisches Problem, in: Die Deutsche Binnenschiffahrt, 2. Aufl., Bad Godesberg 1964; Erich Seiler: Die Binnenwasserstraßen als technisches und finanzielles Problem, in: Die Deutsche Binnenschiffahrt, 2. Aufl., Bad Godesberg 1964.

18*

276

§ 6: Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Weltkrieges

Länge der Binnenwasserstraßen im Bundesgebieta) 1950--1962 (31. 12.)

Jahr

Schiffbare Binnenwasserstraßenb) Länge in km

1950 1955 1962

4460 4259 4493

a) Bundesgebiet ab 1960 einseht. Saarland. b) nur Wasserstraßen, deren Verkehr statistisch erfaßt wird. Que!!e: Statistisches Bundesamt.

Wasserstraßen der Bundesrepublik Deutschland 1953 Leistung in Mill. tkm

Verkehrsdichte inMill. t

713 128 255

15469 366 773

21,70 2,86 3,03

51 62

558 395

10,94 6,37

269

2285

8,50

258 242 96

1296 364 249

5,02 1,50 2,59

Länge in km Rhein von Rheinfelden bis niederländische Grenze ........... Neckar von Lauffen bis Mannheim .. Main von Würzburg bis Mainz ...... Rhein-Herne-Kanal von Duisburg bis Datteln ....................... Lippe-Kanal von Wesel bis Datteln Dortmund-Ems-Kanal von Dortmund bis Emden ....................... Mittelland-Kanal von Bergeshövede bis Rühen ........................ Weser von Minden bis Seegrenze ... Hunte und Küstenkanal ............ Elbe von Schnackenburg bis Seegrenze ........................ Donau von Kelheim bis Österreichische Grenze ............ Sonstige Wasserstraßen

251

529

2,11

•••••••

213 1 721

412 345

1,93 0,20

Insgesamt ..........................

4259

23041

66,75

0

s~~~~~t.HWB,

••••

3. Aufl., Stuttgart 1956, Sp. 1187/88. -

A. F. Napp-Zinn: Art. Binnen-

3. Die Entwicklung der Transportleistungen der Binnenschiffahrt Während die Binnenschiffahrt früher für Personen- und Güterverkehr gleich wichtig war, haben Eisenbahn und Kraftwagen den Personenverkehr dort völlig abgezogen, wo sie parallel zu den Binnenwasserstraßen verlaufen. So groß auch die Transportleistung der Binnenschifffahrt in einigen Ländern im Massenguttransport wieder geworden ist, im Personen- und Stückgutverkehr sank die Binnenschiffahrt zur Be-

3. Die Entwicklung der Transportleistungen der Binnenschi:ffahrt

277

deutungslosigkeit herab. Eine Ausnahme gilt nur für Finnland und für einige Strecken, an denen keine Eisenbahn entlangführt, z. B. PassauLinz, Belgrad-Orsowa und für Ausflugsstrecken, z. B. die Rheinschifffahrt. Schi:ffahrt auf dem Rhein 1962 • . . . . . . . . . . . . . . . 4,4 Mill. Fahrgäste Binnenwasserstraßen in West-Berlin 1955 ...... 2 Mill. Fahrgästeus Die Binnenschiffahrt vollbrachte ihre Verkehrsleistung nach Aufkommen der Eisenbahn und des Kraftwagens mit den Gütern, deren Streuung der Affinität durch Massenhaftigkeit, verhältnismäßig geringem Wert, Unempfindlichkeit gegen Erschütterungen, lange Lebensdauer bestimmt ist. Der Hauptvorteil der Binnenschiffahrt im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln liegt in ihren niedrigen Anlagekosten und ihren niedrigen Transportkosten, eine Folge des geringen Energieverbrauches für die Transportbewegung großer Massen, wie auch des geringen Bedarfs an Arbeitskräften im Verhältnis zu anderen Verkehrsmitteln. Die Möglichkeit, die Kähne als Lagerraum verwenden zu können, bedeutet einen weiteren Vorteil der Binnenschiffahrt. Die Notwendigkeit einer zeitlich begrenzten Lagerung ist oft mit der Güterbewegung zwischen dem Zeitpunkt des Entstehens und der Verwendung der Güter verbunden. Langfristig hat- schon oben wiesen wir darauf hin- die Binnenschitfahrt seit Jahrzehnten im Bereich der heutigen Bundesrepublik ihren Anteil an dem Volumen der Transportleistungen119 konstant halten können. Der Anteil schwankte zwischen 26 vH (1938) und 31 vH (1963). In den letzten Jahren ergaben sich unter den Massengütertransporten der Binnenschiffahrt erhebliche Verschiebungen. Auf dem Rhein ging als Folge der Strukturkrise der Kohle120 und des verschärften Wettbewerbs durch die Eisenbahn121 der Anteil der Kohle am Gesamtschiffsverkehr auf 20 vH zurück. Ungefähr der gleiche Anteil entfiel 1961 auf us Alfons Schmitt, Die Binnenschi:ffahrt der Bundesrepublik Deutschland in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung, in: Otto Most (Hrsg.), Die deutsche Binnenschi:ffahrt, Düsseldorf 1957, S. 89. Besonders wertvoll: Karl Förster, Die volkswirtschaftliche Leistung der Binnenschi:ffahrt, in: Otto Most (Hrsg.), Die deutsche Binnenschi:ffahrt, 2. Aufl., Bad Godesberg 1964. m Gemessen in tkm. Der Anteil des Güternahverkehrs auf Straßen ist in den Gesamttransportleistungen nicht enthalten. 12o Vgl. hierzu Fritz Voigt: Zur Theorie und Praxis der Mitbestimmung, Schriften des Vereins für Socialpolitik N. F. Bd. 24, I, Berlin 1962, S. 250, 256. Fritz Voigt: Eingliederung der Rohrleitungen in das Deutsche Verkehrssystem, in Bernd Holland.· Die Rohrleitung als Ferntransportmittel, Verkehrswissenschaftliche Forschungen, Band 4, Berlin 1961, S. 154 :ff. 121 Als Folge der sogenannten Liberalisierung der Verkehrspolitik.

278

§ 6: Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Weltkrieges

Dynamische Verkehrsdichte und mittlere Transportweite auf den Binnenwasserstraßen des Bundesgebietes

Jahr

1936 1950 1953 1955 1959 196Ja) 1962 1936 1950 1953 1955 1960 1961

Verkehrsdichte in Mill. th)

Mittlere Transportweite km

a) auf den Binnenwasserstraßen insgesamt 4,6 3,8

5,4 6,7 7,6 9,1 9,2 b) auf dem Rhein 19,5 15,9 21,7 27,2 38,4

37,9

201 233 227 230 235 233 233 187 204 201 205 206 204

a) Inklusive Saargebiet. b) Mill. tkm dividiert durch km (Länge der Wasserstraßen). Que!!e: "Die Binnenschiflahrt im Jahre 1960", herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, s. 53°. "Wirtschaft und Statistik", Heft 10/1952. Jahre 1959-61 nach: Statistisches Jahrbuch für die BRD, 1962, 1964.

Transporte von Sand, Kies und Steinen122 , während der Mineralölverkehr, der sich im Verlauf eines Jahrzehntes fast vervierfachte, einen Anteil von 13,4 vH zu verzeichnen hatte123 • Nur der Anteil des Erztransportes blieb mit etwa 15,5 vH annähernd konstant. Die Veränderung in der Energieversorgung, die sich seit einigen Jahrzehnten anbahnt und in Zukunft vor allem auch nach Verwendung der Atomkernenergie größere Ausmaße annehmen kann, wird voraussichtlich die Struktur der Binnenschiffahrt erheblich verändern. Mit einem Rückgang der Kohletransporte ist zu rechnen. Die Rohrleitungen für Rohöl bringen eine weitere Einbuße für die Binnenschiffahrt, selbst wenn bisher der Transport von Rohöl vielfach mit eigenen Schiffen der Ölkonzerne durchgeführt wurde. Dagegen dürfte anzunehmen sein, daß Transporte für die chemische Industrie und die Baustoffindustrie zunehmen werden. 122 Deutsche Binnenschiffahrt 1961, Hrsg.: Der Bundesminister für Verkehr, Abt.: Binnenschiffahrt, o. 0., o. J., H. 1, S. 37; H. 2, Bl. 24a, Bl. 26. 123 Der Anteil der Mineralöltransporte am Gesamtgüterverkehr der Binnenschiffahrt betrug 1951 nur 3,9 vH. - vgl. Deutsche Binnenschiffahrt 1961, Hrsg.: Der Bundesminister für Verkehr, Abt.: Binnenschiffahrt, H. 2, o. 0., o. J., Bl. 15, Bl. 29a.

3. Die Entwicklung der Transportleistungen der Binnenschiffahrt

279

In der Transportleistung der Binnenschiffahrt rückte seit 1961 der Kohleverkehr, obwohl seine absolute Höhe gleichblieb, vom ersten auf den zweiten Platz. Die erste Stelle wird von den Baurohstoffen, Steinen, Sand und Kies eingenommen. Erzverkehr und Transport von Eisen und Stahl waren rückläufig. Verkehrsleistungen und Umsclllag der Binnensclliffahrt im Bundesgebieta) Verkehrsleistungen Jahr

Netto-Tonnenkilometer in Mill. insgesamt

I I

1936 1950 1955 1958 1960 1961 1962

20103 16 753 28624 32 768 40390 40214 39626

darunter deutsche Schiffe 11682 10087 18025 19979 24278 24462 23976

Verkehrsmengen Gütereinladungen

I ausladungen Güter-

in den Binnenhäfen in 1000 t 53978 85 724 93438 120 028 124 677 123 094

47184 95425 106 470 132160 132 961 132 598

a) Bundesgebiet ab 1960 einschl. Saarland. Queue: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, Fachserie H, Verkehr, Reihe 1: Binnenschiffahrt 1962.

Güterverkehr der Binnenschiffahrt (Bundesgebiet ohne West-Berlin) 1961

Verkehrszweig Verkehrsart

1963a)

Mill.

Binnenschiffahrtb) Beförderte Tonnen Verkehr zwischen Häfen des Bundesgebietes ............ Verkehr mit Häfen außerhalb des Bundesgebietes ........ Versand Empfang ..................... Durchgangsverkehr .......... ••••••••••••••••••••

1962

0

Binnenschiffahrt insgesamt .. darunter: Seeverkehr der Binnenhäfen Geleistete Effektiv-tkm ......

90,8

90,8

84,9

32,2 42,7 6,6

30,6 42,9 6,4

30,7 44,1 6,5

172,2

170,8

166,2

1,6 40214

1,5 39691

1,4 39400

a) Vorläufige Zahlen. b) Nur innerhalb des Bundesgebietes erbrachte Leistungen. QueLle: Wirtschaft und Statistik, Hrsg. Statistisches Bundesamt 1964, Heft 2,

s. 12L

~

~5,1 4,8 4,7 20,2 63,2 1,1 13 665,1 12 276,7 II 964,7 51 896,6 162407,3 2818,4

5,4 5,4 4,7 20,4 62,6 1,5

10 634,8 10678,0 9344,9 40262,8 123 690,2 3007,0

9,3 4,9 2,9 22,6 59,7 0,6

~

13 103,1 6895,6 4076,2 31 728,5 83 794,0 882,3

1:1:1

vH 1000 t

vH

vH

1000 t

"'

(!)

[&"

!r

~

~

~.....

N

"'

(!)

0.

Q.

(!)

"' l!!. ....

1000 t

::r :4.

Gesamtumschlag

Gesamtumschlag

Gesamtumschlag

Quelle: Für 1936 und 1958 nach der Verkehrsbezirksstatlstik, für 1961 nach der Hafenumschlagsstatlstlk. Für 1961 Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. Verkehr, Reihe 1, Binnenschlffahrt 1961, s. 16.

Elbe ..... . ............. Weser ... . ............. Mittellandkanal ........ Westdeutsche Kanäle . .. Rhein ........... . ...... Donau .................

Wasserstraßengebiet

1961

Anteil der Wasserstraßengebiete

1958

g.

~

§"

1:1:1

Cl)

rO>

Anteil der Wasserstraßengebiete

Anteil der Wasserstraßengebiete

1936

Güterverkehr in den Binnenhäfen des Bundesgebietes nach Wasserstraßengebieten (Versand und Empfang)

~

0

CX)

3. Die Entwicklung der Transportleistungen der Binnenschiffahrt

281

Verkehr auf internationalisierten Flüssen 1962al 1000 t A. Rhein Internationaler Verkehr 1. Über die deutsch-holländische Grenze ............. .

davon: stromabwärts ............................. . stromaufwärts ............................ . 2. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich: und der Schweiz auf dem Rhein ............. . 3. Transport auf dem niederländischen Teil des Rheins 4. Insgesamt (1 + 2 + 3) ............................. . Innerer Verkehr

5. Zwischen Häfen der Bundesrepublik ............. . 6. Zwischen niederländischen Häfen ................. . 7. Insgesamt (5 + 6) ................................. . Gesamtverkehr:

8. Tonnen (4

+ 7)

................................... .

66150 (23 248) (42 902) 5236

13375 84761 59689 44500 104 189 188950

B. Donau

Beförderte Tonnen

a) Auf österreichischem Gebiet

Innerer Verkehr ................................. . Internationaler Verkehr .......................... . davon: Einfuhr .................................. . Ausfuhr ............... ." ................. . Transitverkehr ........................... . Insgesamt ....................................... .

690 4700 (2 708)

(I 239)

(753)

5390

b) Jugoslawischer Anteil

Verkehr in Jugoslawien: beladen .......................................... . unbeladen ....................................... .

2853

874

Internationaler Verkehr 196lh):

Export ........................................... . Import ........................................... . Insgesamt ....................................... . Transitverkehr: stromabwärts .................................... . stromaufwärts ................................... . Insgesamt ....................................... .

367 326

693

589 3125

3714

a) Die Zahlen für den Rhein sind vorläufig. b) Für 1962 keine Zahlen vorhanden. QueUe: Annual Bulletin of Transport Statistics for Europe 1962, New York 1963,

s. 34/35.

282

§ 6: Binnenschiffahrt seit Beendigung des zweiten Weltkrieges

Güterverkehr auf den Binnenwasserstraßen des Bundesgebietes nach Gütergruppen (in 1000 t) Gütergruppen

1936

1958

1962a)

Mehl u. Getreide ....... Zucker ................. Erze Kohle .................. Mineralöle Steine Sand Kalk und Zement ...... Salz Düngemittel Holz ................... Roheisen u. -stahl ...... Alteisen ................ Übrige Güter

3993 657 16574 37 857 2932 4193 10873 1 354 1092 2488 2378 963 729 14170

5879 313 20636 33695 16 246 5 036 21 771 1847 1 920 4040 1 663 1669 1178 21107

6246 365 22 032b) 35233 25244

Insgesamt ..............

100 253

137 000

•••••••••

0

•••••••••

••••••••••



•••••

0

0

••

0.

0

0

••••••••••••••••

•••••

0.

•••••

0

••••••••••

0

•••

••••••••••

••

0

0

•••••••

45

usc)

3109 2418 5 409 1583 1604 2158 20256 170 775

a) 1962: QueUe: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1964. b) Eisenerze, NE-Metallerze,- abfälle und -schrott. c) Sand, Kies, Bims, Ton, Schlacken, sonst. Steine, Erden u. verwandte Rohmineralien. Quelle: Binnenschiffahrt in Zahlen, Binnenschiffahrts-Verlag G.m.b.H, DuisburgRuhrort. Blatt 25 1961 und 1959.

Erzverkehr auf den Binnenwasserstraßen des Bundesgebietes (ohne Durchgangsverkehr)a) beförderte Erze:

Jahr

1 1955 1956 1958 1960

darunter auf deutschen Schiffen

insgesamt 1000 t

17 314,2 21 167,1 20 624,4 29 041,1

darunter ab:

I I

1000 t 2 9146,3 9 537,8 10 218,5 13 827,0

Emden

I v. vH Sp. 1 I

Mittellandkanal

Oberrhein

vH

Spalte 1

Rheinmündungshäfen

3

4

5

6

7

52,8 45,1 49,5 47,6

10,2 7,8 11,5 10,0

2,2 1,6 1,8 1,5

2,9 2,6 2,8 2,5

63,8 70,7 66,2 71,2

a) Bundesverkehrsministerium, Abt. Binnenschiffahrt.

918 834 847 788 771 763

Anzahl

I

321 319 323 290 287 283

1000PS

3477 3614 3470 2931 2712 2469

Anzahl

I 2496 2651 2 603 2459 2 309 2130

1000 te)

ohne eigene Triebkraft

I

I I

5161_1

1958 3094 4094 4560 4889

Anzahl

-

636 1364 2040 2381 2603 2843 -

1000 te)

mit eigener Triebkraft

Güterschiffed)

I

-

5435 6708 7 564 7 491 7601 7 630

Anzahl

I

I 3132 4015 4643 4840 4912 4973

1000 te)

insgesamt

497 628 575 491 504 506

Anzahl

I

I

126 164 137 125 131 132

1000 Personen

Fahrgastschiffe

a) Im Bundesgebiet beheimatete Binnenschlffe. - b) Bundesgebiet ab 1960 elnschl. Saarland. - c) Ohne Hafenschlepper. - d) Ohne Güterschifte mit einer Tragfähigkeit von 20 t und weniger sowie ohne Schuten u. Leichter. - e) Tragfähigkeit. Que!!e: Statistisches Bundesamt, Wasser- u. Schiffahrtsdirektionen Dulsburg u. Malnz. Eingefügte Zahlen für 1950 aus: Die Blnnenschlffahrt im Jahre 1950, Hrsg. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, s. 1.

1950 1955 1958 1960 1961 1962

Jahr (31. 12.)

Schlepperc)

Bestand an fahrfähigen Binnenschi1fena) im Bundesgebietb)

tl

CA)

N 00

~

::t

§" ~ g. §i

til

~

~p.

::s

"'

CT.> CO

698 950 1 133 1 241

Ortsverkehr

330 431 551 644

737 840 863 917

ÜberNachbarorts- landverkehr verkehr

Linienverkehr

43 54 61 62

Arheiterverkehrb)

41 50 94

72

Gelegenheitsverkehre)

Linienverkehr

150 243 309 369

343 445 482 525

31 43 75 111

I

I 185 253 287 329

Gelegenheitsverkehre)

c) einschließlich Ferienziel-Reisev erkehr.

107 139 190 233

Arbeiterverkehrb)

Einnahmen in Mill. DM

ÜberNachOrtsbarorts- landverkehr verkehr verkehr

a) Bundesgebiet ab 1960 einseht Saarland. - b) linienähnlicher Arbeiterverkehr. Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt: Statistische Mitteilungen.

1955 1958 1960 1962

Jahr

Personenbeförderungsfälle in Mill.

Kraftomnibusverkehr im Bundesgebiet gegliedert nach Verkehrsartena)

~

p.

CO

cn

~

lltl

"' §

Sll

(t

~

[

C/l

'1

~

f

~

::I

tzj

ro·

ö

470

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

und Zugmaschinen über 55 PS Motorleistung nahmen zwischen 1955 und Anfang 1963 von 18 945 auf 34 731 Lkw und von 1074 auf 4301 Zugmaschinen zu. Insgesamt wurden 17 336 Konzessionen für den allgemeinen Güterfernverkehr erteilt (1964). Hiervon entfielen 4859 auf Nordrhein-Westfalen, 2638 auf Bayern, 2457 auf Baden-Württemberg, 1931 auf Niedersachsen, 1233 auf Hessen, 1137 auf Rheinland-Pfalz und 1029 auf Berlin. Im Bezirksgüterfernverkehr wurden (1964) 1908 Genehmigungen für N ordrhein-Westfalen, 1231 für Bayern, 877 für Baden-Württemberg ausgegeben. Der grenzüberschreitende Güterverkehr auf der Straße spielte bis zum 2. Weltkrieg kaum eine Rolle. Seitdem hat er sich rapid entwickelt. Die mit Lastkraftwagen über die Auslandsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland beförderte Gütermenge belief sich 1962 auf insgesamt rund 17 Mill. t, davon machten 65,1 vH die Einfuhr, 31,6 vH die Ausfuhr und 3,3 vH die Durchfuhr aus. In nur 7 Jahren (seit 1955) hatte sich der grenzüberschreitende Straßenverkehr in der Bundesrepublik mehr als verdreifacht. Infolge der ungleichen Wettbewerbsbedingungen sank jedoch der Anteil westdeutscher Lastkraftwagen am internationalen Güterverkehr über die Straßengrenzen der Bundesrepublik Deutschland, der früher vorherrschte, auf 37 vH ab. Mit der "5. Verordnung über die Höchstzahl der Kraftfahrzeuge des Güterfernverkehrs und der Fahrzeuge des Möbelfernverkehrs" wurden erstmalig speziell internationale Genehmigungen eingeführt. Um den grenzüberschreitenden Verkehr zu erhöhen, dessen deutscher Anteil in den vorangegangenen Jahren stark zurückging, soll den Inhabern dieser Genehmigung gestattet werden, in Verbindung mit jeder Auslandsfahrt, und zwar entweder auf der Hin- oder Rückfahrt, eine Beförderung im Binnenverkehr durchzuführen. Zum Zwecke der Erhöhung der Betriebssicherheit wurden vom Staat immer größere Anforderungen an die Konstruktion und die Ausrüstung von Straßenfahrzeugen gestellt. Zunächst hat jeder Staat für sich Vorschriften erlassen. Die Straßenverkehrszulassungsordnungen wurden in verschiedenen Ländern verhältnismäßig häufig revidiert. In der Bundesrepublik Deutschland wurden mit der Verordnung vom 21. März 1956 die zulässigen Abmessungen und Gewichte der Nutzkraftfahrzeuge erneut begrenzt, um die Sicherheit und Flüssigkeit des Straßenverkehrs zu erhöhen. Die Grenzwerte der Einzelachslast wurden auf 8 t, des Gesamtgewichts des Lastzuges auf 24 t und die Länge des Lastzuges auf 14 m beschränkt. Angesichts der starken Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs wurden die verhältnismäßig kleinen europäischen Länder gezwungen, ihre Vorschriften einander anzupassen und in weitem Umfang zu einer

2. Die Entwicklung der Straßenbelastung

471

gemeinsamen Verkehrspolitik überzugehen. Beispielsweise wurden durch die Verordnung vom 7. Juli 1960 die Abmessungen und Gewichte neu festgesetzt (die Einzelachslast der Antriebsachse auf 10 t, die Doppelachslast auf 16 t, das höchstzulässige Gesamtgewicht des Lastzugs und des Sattelkraftfahrzeugs auf 32 t beschränkt278, die Höchstlänge eines Lastzugs auf 16,5 m festgelegt). Zwei Drittel des gesamten Straßen-Gütertransportes in der Bundesrepublik Deutschland werden über Lastkraftwagen aus nur vier Bundesländern abgewickelt277 • Gerade aus dieser Tatsache sieht man deutGewerblicher Güterfernverkehr

im Bundesgebiet mit Lastkraftfahrzeugena)

Jahr

Beförderte Güter in 1000 t

Tonnenkilometer in Mill.b)

Frachteinnahmen inMill. DM

Mittlere Versandweite in km

47259 57487 70181 72955 76832

5 300 12666 14937 18234 18943 19918

1235 1 625 2027 2127 2232

268 260 260 260 259

1950 1955 1958 1960 1961 1962

a) Mit im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) und ab 1960 einschließlich Saarland beheimateten Kraftfahrzeugen; ohne gewerblichen Möbelfernverkehr. b) 1950 durch Repräsentativerhebung ermittelt. Que!!e: Kraftfahrt-Bundesamt, Bundesanstalt für den Güterfernverkehr, Statistisches Bundesamt.

Im grenzüberschreitenden Verkehr mit Kraftfahrzeugen empfangene Gütera) in 1000 t Jahr

Insgesamt eingeführte Güter

1955 1958 1960 1961 1962

2671,3 4574,8 7892,5 9238,8 11 127,8

a) In das Bundesgebiet einschl. Berlin (West) und ab 6. 7. 1959 einschl. Saarland eingeführte Güter; der Verkehr zwischen dem Saarland und den anderen deutschen Gebieten wurde bis zum 5. 7. 1959 als grenzüberschreitender Verkehr erfaßt. Que!!e: Kraftfahrt-Bundesamt, Statistisches Bundesamt. 276

§34.

Vgl. 2. Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO)- Stand v. 6. 12. 1960,

2 77 Länderanteile an der im Straßengüterfernverkehr beförderten Gütermenge: Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . . 3,2 Nordrhein-Westfalen ......... . 29,2 Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,8 Hessen ....................... . 6,7 Harnburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,3 Rheinland-Pfalz .............. . 7,4 Niedersachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,6 Baden-Württemberg .......... . 13,4 West-Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3,8 Bayern ....................... . 15,9

472

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

Im grenzüberschreitenden Verkehr mit Kraftfahrzeugen versandte Gütera) in 1000 t

Jahr

Insgesamt ausgeführte Güter

1955 1958 1960 1961 1962

1 519,4 2694,3 3 846,8 4353,5 5 402,6

a) Aus dem Bundesgebiet einschl. Berlin (West) und ab 6. 7. 1959 einschl. Saarland ausgeführte Güter; der Verkehr zwischen dem Saarland und den anderen deutschen Gebieten wurde bis zum 5. 7. 1959 als grenzüberschreitender Verkehr erfaßt. Que!!e: Kraftfahrt-Bundesamt, Statistisches Bundesamt.

Werkfernverkehr mit Lastkraftfahrzeugen im Bundesgebieta)

Jahr 1955 1958 1960 1961 1962

Beförderte Güter in 1000 t

Tonnenkilometer in Mill.

Mittlere Versandweite in km

22423 19873 23469 24999 26070

3836 3298 3897 4187 4416

171 166 166 167 169

a) Mit im Bundesgebiet einschl. Berlin (West) und ab 1960 einschl. Saarland beheimateten Kraftfahrzeugen. Que!!e: Kraftfahrt-Bundesamt, Statistisches Bundesamt.

Gewerblicher Möbelfernverkehr mit Kraftfahrzeugen im Bundesgebieta)

Jahr

Beförderte Güter in 1000 t

Tonnenkilometer in Mill.

Frachteinnahmen inMill.DM

Mittlere Versandweite in km

1955 1958 1960 1961 1962

760,6 915,6 1 139,9 1042,7 602,1

200,7 246,0 317,7 304,6 180,3

16,59 26,44 34,37 66,86 117,00

264 269 279 292 299

a) Mit im Bundesgebiet einschl. Berlin (West) und ab 1960 einschl. Saarland beheimateten Kraftfahrzeugen; 1961 gegenüber früher Vergleich wegen der ab August 1961 geänderten Berechnungsgrundlagen des neuen Tarifs für den Möbelfernverkehr gestört, desgl. 1962 gegenüber 1961. Que!!e: Bundesanstalt für den Güterfernverkehr.

lieh die Bedeutung des Verhältnisses zwischen der Verkehrswertigkeit eines Kraftfahrzeugs und der Affinität. Eine vom Bundesverkehrsministerium erarbeitete Verkehrsmengenkarte zeigt, daß die Straßen seltener, als meist angenommen wird, Mittel

2. Die Entwicklung der Straßenbelastung

473

des Fernverkehrs sind. Sogar die Autobahnen leisten vorwiegend Nahund Mittelstreckenverkehr. Diese Erkenntnis läßt sich aus einer kritischen Analyseder Verkehrszählungen erkennen, und zwar nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für andere Länder. Der Anteil des über weite Strecken hinwegführenden Reiseverkehrs und einige Dienste des gewerblichen Güterfernverkehrs, Spediteur- und Werkverkehrs sind im Verhältnis zur gesamten Verkehrsbelastung der meisten Straßen gering. Schon aus der unterschiedlichen Belastung der verschiedenen Straßen oder gar einzelner Streckenabschnitte von Straßen wie auch aus Stichprobenerhebungen der polizeilichen Zulassungsorte der Kraftwagen bei einer Verkehrszählung läßt sich ein ungefährer Überblick über die auf Straßen gefahrenen Entfernungen gewinnen278 • Das Schwergewicht der Verkehrsleistungen des privaten Kraftwagens liegt im Nahverkehr. In kritischer Auswertung der Ergebnisse der Verkehrszählungen kann man eine mittlere Fahrzeit des Durchschnitts aller in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Kraftwagen von nur 2 Stunden pro Tag annehmen. In der restlichen Zeit des Tages steht dieses Fahrzeug in der Regel still. Die Probleme des ruhenden Verkehrs sind daher oft noch schwieriger als die des fließenden. Das Wachstum des Kraftwagenbestandes wurde bisher noch nicht einmal dort, wo ein verhältnismäßig schlechtes Straßensystem besteht, gehemmt, noch wesentlich durch die sich immer mehr verstärkenden Stokkungen in Spitzenzeiten des städtischen Straßenverkehrs und des Reiseverkehrs auf den Autobahnen beeinträchtigt. Nimmt freilich in der Zukunft - wie am Beispiel der USA vorausgesagt werden kann - der Kraftfahrzeugbestand entlang einer Verhulst'schen Kurve weiter zu, so werden die Stockungen in Spitzenzeiten des Straßenverkehrs die Entwicklungsfähigkeit des Kraftwagens erheblich beeinflussen. Die Straßen in den Städten Europas sind erheblich enger und weniger verbesserungsfähig als beispielsweise in den USA. Will man trotzdem den Straßenzustand in den europäischen Großstädten dem wachsenden Verkehrsstrom anpassen, geraten unersetzliche Werte der oft aus dem Mittelalter stammenden Stadtkerne in Gefahr. Wir müssen rechnen, daß sich bei einem Anstieg der Bevölkerung um 1 vH und dem mittleren jährlichen Anstieg des Sozialproduktes um 3,5 vH der Kraftwagenbestand in etwa 8 Jahren verdoppelt, bis etwa bei einem Bestand von 1 Kraftwagen für 2,3 Einwohner die Verhulst'sche Kurve sich dem Sättigungspunkt nähern dürfte. Aber auch dann wird 278 Nach der Verkehrsmengenkarte lag 1962 die Spitzenbelastung der Autobahn Harnburg-Basel mit 37 000 Kraftfahrzeugen zwischen Mannheim und Heidelberg; in der Mitte zwischen Hannover und Göttingen zeigte sich eine Frequenz-Belastung bei 3750, eine ähnliche Belastung ergab sich unmittelbar vor der Schweizer Grenze.

474

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs

seit dem 2. Weltkrieg

die Verschiebung der Einkommen noch eine Variationsbreite der Entwicklungsfähigkeit des Kraftwagens bringen. b) Die E n t w i c k l u n g in den USA Werfen wir nun einen Blick auf die Entwicklung des Kraftfahrzeugbestandes in den USA. Die USA mit ihrem Bevölkerungsanteil von 6 vH der Weltbevölkerung besitzen ungefähr 60 vH aller Kraftfahrzeuge der Welt. 82 vH aller Reisen werden in den USA in Personenwagen ausgeführt. Die Entwicklung der Zahl der Kraftfahrzeuge in den USA

Jahr 1930 1940 1950 1955 1961 1964

Zahl der Kraftfahrzeuge in Mill. 26,7 32,5 49,2 60,8 81,7 (31. 12. 61) 83,7

Einwohnerzahl in den USA in Mill.

Motorisierungsziffer

122,8 131,7 150,7 166,7 179,3 (1. 4. 1960) 189,3

1 :4,59 1 :4,50 1:3,06 1 :2,70 1:2,20 1:2,20

QueUe: Statist. Bundesamt: Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland. Internat. Teil.

Motorisierungsziffer einiger Städte der USA (1957)

Boston . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 : 4,0 Detroit ...................... 1 : 2,0 Los Angeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 : 1,6 Nach statistischen Untersuchungen, die 1957-1962 in den USA vorgenommen wurden, verwendet der Amerikaner durchschnittlich 9 vH seines Einkommens für den Ankauf von Kraftfahrzeugen und deren Betrieb, dagegen nur 3 vH für öffentliche Transportmittel. In den USA wurde die Entfaltung des Überlandstraßentransports (Intercity Truck Transportation) wesentlich von der schnellen Verbreitung des Personenkraftwagens und der Befriedigung des Straßenbedarfs für dieses Verkehrsmittel begünstigt. Auch das private Transportgewerbe ist in den USA in ständiger Expansion. 85 vH = 12 Mill. Lastzüge in den USA sind in privater Hand. Die Bedeutung dieser Zahl läßt sich daraus ersehen, daß fast 1/a der gesamten geschätzten Frachtleistungen in der Welt auf der Straße transportiert werden.

2. Die Entwicklung der Straßenbelastung

475

c) D i e E n t w i c k 1 u n g i n e i n i g e n a n d e r e n L ä n d e r n 2 79 Die Entwicklung des Kraftfahrzeugbestandes über die Welt hinweg beweist die Richtigkeit der theoretischen Analyse der Entwicklungsfähigkeit eines Verkehrsmittels, die wir im ersten Teil dieses Buches erarbeitet haben. Die Entwicklungsfähigkeit des Kraftwagens ist einmal eine Funktion der Höhe des Realeinkommens. Bildet man Einkommensklassen, so zeigt sich, daß, makroökonomisch gesehen, bei Einkommensgruppen, die sich dem Einkommensniveau der Facharbeiter angenähert haben, die Nachfrage nach Kraftwagen in bezug auf das Einkommen hochelastisch ist. Bei den folgenden Einkommensklassen mit jeweils höherem Einkommen nimmt die Elastizität ab, um einem Sättigungsgrad zuzustreben, d. h. bei Überschreiten eines niedrigen Einkommens werden plötzlich hohe Ausgaben für Kraftwagenkauf und -Unterhaltung gemacht, weit höhere als in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Bei einem niedrigen Einkommen werden zunächst kaum Kraftwagen gekauft. Bei hohen Einkommen wiederum werden im Verhältnis zur Einkommenssteigerung relativ geringere Fahrzeugausgaben gemacht. Eine Familie kauft zunächst einen Wagen, wenige einen zweiten. Ausgaben für zunehmende Qualitäten der Wagen entsprechen aber nicht den SteigerunBestand an Lastkraftwagen in verschiedenen Länderna) 1962 bzw. 1963, 1964

Land

Zeitpunkt

Bundesrepublik Deutschland mit Berlin (West) ..... Belgien ............. Dänemark .......... Frankreichc) Italien .............. Niederlande ........ Schwedend) ......... Sowjetunion ........ •••••••

0

1. 7. 1. 8. 31. 12. 1. 1 31. 12. 1. 8. 31. 12. l. 1.

1963 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1964

Insgesamt in 1000

791,2 194,0 201,0 1 839,8 738,3 171,7 110,3 3 700,0

davon mit Nutzlast in kg bis

1999b)

invH 61,2 67,0 80,9 82,9 72,8 69,9 55,0

12000 bis 4999

in vH 21,0 19,4 8,6 11,5 17,4 12,9 14,2

I u.5000 mehr in vH 17,6 13,6 10,5 5,6 9,8 17,2 30,8

a) b) c) d)

Nach amtlichen und privaten Quellen. Einschließlich Fahrzeuge mit unbekannter Nutzlast. Größenklassen: bis 2,9 t, 3,0 t bis 6,5 t, 6,6 t und mehr t. Größenklassen: bis 3 t, 3 bis 5 t, über 5 t. Quelle: Verkehrswirtschaftliche Zahlen 1963, herausgegeben von der Arbeitsgernelnschaft Güterfernverkehr Im Bundesgebiet e. V. 279 Peter Rocholl: Vergleichende Analyse der Entwicklung des Personenkraftverkehrs im westeuropäischen Wirtschaftsraum. Verkehrswissenschaftliche Veröffentlichungen des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand tmd Verkehr, Nordrhein-Westfalen. H. 51, Düsseldorf 1962.

476

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

gendes Einkommens, so daß makroökonomisch verhältnismäßig schnell Sättigungsgrenzen gesetzt sind. Eine Rolle spielt weiter das Steuersystem, beispielsweise die Möglichkeit, Ausgaben für den Kraftwagen bei der Lohn- oder Einkommensteuer in gewissem Umfang abzusetzen. Aber auch der Ausbaugrad der Eisenbahnen spielt für die Durchsetzung des Kraftwagens eine beachtliche Rolle. Die französische Statistik zeigt für das Jahr 1963, daß der Kraftfahrzeugbestand im Laufe der letzten Jahre jährlich um ungefähr 10 vH gewachsen ist. Nur 4,7 vH der Kraftfahrzeuge gehören Gesellschaften. Von 100 Kraftfahrern, die erstmalig ein Kraftfahrzeug kauften, sind 40,7 vH Arbeiter und 26 vH Angestellte. Die durchschnittliche Benutzungsdauer der Kraftfahrzeuge beträgt hier erstaunlicherweise 15 Jahre. 9 vH der Kraftfahrzeuge werden wieder nach einem Jahr verkauft, nach 3 1/2 Jahren etwa 50 vH der Fahrzeuge. Durchschnittlich rechnet diese Statistik damit, daß nach 4 Jahren der Wert eines neuen Kraftwagens auf die Hälfte gesunken ist. In England wurde unter der Herrschaft der Sozialisten nach dem zweiten Weltkriege der Straßengüterfernverkehr verstaatlicht. Dabei sollte auch der Wettbewerb zwischen Schiene und Straße geregelt werden. Die Verstaatlichung stieß aber auf viele Schwierigkeiten. Die Konservativen hoben sie vier Jahre später wieder auf, als sie in der folgenden Legislaturperiode zur Macht kamen. Das Britische Verkehrsministerium führte sowohl im Jahre 1958 wie 1962 für die Monate April bis Juni eine Untersuchung des Straßenverkehrs durch, um die Entwicklungstendenzen festzustellen. Es zeigte sich ein ähnliches Bild wie in den anderen Industriestaaten Europas, daß sich nämlich in diesem Zeitraum die Transportleistungen auf der Straße um fast ein Drittel erhöhten, während die Transportleistungen der Eisenbahnen um 12 vH zurückgingen. Transportleistungen auf Straßen und Eisenbahnen in England, jeweils in den Monaten April bis Juni 1958

Straße ............................ . Eisenbahn ........................ .

in Mrd. tkm

9,928 6,278

1962 12,556 5,548

Que!le: Untersuchungen des Britischen Verkehrsministeriums.

An dem Zuwachs des Straßenverkehrs hatte in England der Werksverkehr einen Anteil von etwa 50 vH. Aber auch der gewerbsmäßige Güterverkehr zeigte eine Steigerung (23 vH). An den Langstreckenfahrten betrug der Anteil des gewerbsmäßigen Güterkraftverkehrs 75 vH.

2. Die Entwicklung der Straßenbelastung

477

Die durchschnittliche Beförderungslänge auf der Straße beträgt 40 km (im Schienenverkehr 110 km). Die Eisenbahn verlor vor allem Rohstofftransporte (insbesondere Kohle und Stahl). Auf weite Entfernungen über 160 km ist dagegen der Werksverkehr nur noch mit 3 vH der Beförderung beteiligt. Das britische Verkehrsministerium führte erstmalig für das Jahr 1962 eine Analyse nach Branchen durch. Es zeigte sich, daß die Fahrzeuge der Warenhäuser, Konsumläden, Lebensmittel-, Getränke- und Tabakindustrie mit 50 vH am Werksverkehr beteiligt sind. Das Baugewerbe und die Baumaterialindustrie nehmen weitere 20 vH ein. Die Belastung der Straßen ist schon innerhalb eines Staates sehr unterschiedlich, ebenso innerhalb eines Kontinents. Nehmen wir als Beispiel Europa im Jahre 1963 und den oben angegebenen Bestand an Personenkraftwagen, sowie Ausdehnung des Straßennetzes und die von den zuständigen statistischen Ämtern errechnete durchschnittliche Jahresfahrleistung280, so ergibt sich eine Straßenbelastung je Straßenkilometer durch den Verkehr der privaten Kraftfahrzeuge pro Jahr in Frankreich von 64 000 und in Großbritannien von 211 700 im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland von 274 000 durchschnittlich. Die Zurückdrängung des individuellen Konsums durch Zwangssparprozesse zum Zwecke höchstmöglicher Förderung der Schwerindustrie im lndustrialisierungsprozeß führte dazu, daß in der Sowjetunion (1959) nur 3 Personenkraftwagen auf 1000 der Bevölkerung entfielen, während zum gleichen Zeitpunkt vergleichsweise dazu in der Bundesrepublik Deutschland auf je 1000 der Bevölkerung 69 Kraftwagen und in den USA sogar 332 Kraftwagen gezählt wurden. Beförderungsleistungen im Güterverkehr (Mrd. tkm) in der UdSSR

Jahr 1913b) 1928

1940 1950 1960

Straßenverkehra) 0,1 0,2 8,9

20,1

98,5

a) Beförderungsleistungen und Beförderungsmengen des gesamten Straßentransports. Der allgemein genutzte Straßentransport führt Transportleistungen für staatliche, genossenschaftliche und kommunale Organisationen durch. Dagegen steht zum Beispiel der Straßentransport verschiedener Verwaltungen in Industrie und Landwirtschaft (Kolchosen) nicht der allgemeinen Nutzung offen. Auf ihn entfällt der weltaus überwiegende Teil der Beförderungslelstungen, 1961 etwa 72 °/o oder 76 434 Mill. tkm. b) In den Landesgrenzen vor dem 17. September 1939. Que!!e: Johannes Friedrlch Tismer: Die Transportentwicklung im Industriallsierungsprozeß der Sowjetunlon. Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlln, Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen, Bd. 19, Berlin 1963, Anhang s. 218.

2so Durchschnittliche Jahresfahrleistung (allerdings nur) der Personenkraftfahrzeuge: Bundesrepublik Deutschland (1962) 16 400 km, Großbritannien 11 400 km, Frankreich 9000 km.

478

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

Der Gütertransport mit Lastkraftwagen wurde in der Planwirtschaft der UdSSR zunächst nur sehr wenig gefördert. Die mittlere Versandweite der Güter erstreckt sich nur auf eine Entfernung von nahezu 12 km. Die Leistung - gemessen in t - beträgt zwar das Vielfache des Eisenbahntransportes. Da aber der Eisenbahntransport sich über eine mittlere Versandweite von 810 km (1960) erstreckt, ist der Anteil der Güterbeförderung des Lastkraftwagens an der TonnenkilometerLeistung aller Verkehrsmittel nur 5 vH. In den folgenden beiden Tabellen wird ein beachtlicher Anstieg, den die Entwicklung der Beförderungsmengen bzw. Beförderungsleistungen des Straßengüterverkehrs in der UdSSR genommen hat, deutlich.

Beförderungsmengen im Güterverkehr (Mill. Jahr 1913b) 1928 1940 1950 1960

t) in

der UdSSR

Straßenverkehra) 10,0

20,0

858,6 1859,2 8492,7

a) Beförderungsleistungen und Beförderungsmengen des gesamten Straßentransports. Der allgemein genutzte Straßentransport führt Transportleistungen für staatliche, genossenschaftliche und kommunale Organisationen durch. Dagegen steht zum Belspiel der Straßentransport verschiedener Verwaltungen in Industrie und Landwirtschaft (Kolchosen) nicht der allgemeinen Nutzung offen. Auf ihn entfällt der weitaus überwiegende Teil der Beförderungslelstungen, 1961 etwa 72 °/o oder 76 434 Mill. tkm. b) In den Landesgrenzen vor dem 17. September 1939. Que!le: Johannes Frledrich Tismer: Die Transportentwicklung im Industrlal!sierungsprozeß der Sowjetunion. Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berl!n, Wlrtschaftswissenschaftiiche Veröffentlichungen, Bd. 19, Berl!n 1963, Anhang S. 219.

3. Die Entwicklung des Straßenwesens seit dem 2. Weltkrieg a) D i e E n t w i c k l u n g i n d e r Bundesrepublik Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst durch das Bundesfernstraßengesetz vom 6. August 1953 ein über die Ländergrenzen hinweg gültiges allgemeines Wegerecht geschaffen. Es übernahm Rechtsinstitute aus dem Recht des Deutschen Reiches über die Reichsautobahn und normierte andere Rechtsinstitute, die das Verwaltungsrecht und die Recht-

3. Die Entwicklung des Straßenwesens seit dem 2. Weltkrieg

479

sprechung geschaffen hatten, z. B. den Begriff des Gemeingebrauchs, der Widmung, der Straßenbaulast, der Sondernutzung. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai

1949 war bei der Regelung der Kompetenzen der Verkehrspolitik281 und

insbesondere des Straßenbaues und der Straßenverwaltung von historischen "Reminiszenzen" befangen, die geradezu zu einer hemmenden Anteludialbindung wurden. Eine zentral finanzierte und zentral organisierte Straßenbaupolitik in dem erforderlichen Ausmaß; gemessen an der Entwicklung der Verkehrsströme; ist deshalb kaum möglich. Die Kompetenz in der Gesetzgebung und Verwaltung im Straßenwesen wie insbesondere die Verteilung der Straßenbaulasten und die Zuweisung der Finanzierungsmöglichkeiten sind denkbar unglücklich geregelt. Das Grundgesetz hatte zwar festgelegt, daß der Bund Eigentümer der bisherigen Reichsautobahnen und Reichsstraßen ist282 • Grundsätzlich verlangte aber der Art. 90, Abs. 2, daß die Länder oder die für das Landesrecht zuständigen Selbstverwaltungskörperschaften die Bundesautobahnen und sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs im Auftrag des Bundes verwalten. Diese Vorschrift, mit der der Gesetzgeber dem föderativen Staatsaufbau der Bundesrepublik gerecht werden wollte, führte verwaltungstechnisch zu manchen Schwierigkeiten und hemmte den großzügigen Ausbau des Straßensystems in dem zugleich durch die zunehmende Motorisierung und die Erhöhung der Geschwindigkeiten "kleiner gewordenen" Staatsraum sehr283 • Sollen aus bisher untergeordneten Straßen neue Bundesstraßen entstehen, so muß eine "Umwidmung" von der obersten Landesstraßenbaubehörde mit vorherigem Einverständnis des Bundesverkehrsministers ausgesprochen werden. Im Jahr 1954 entwarf die Regierung der Bundesrepublik Deutschland einen verkehrspolitischen Gesamtplan 284 , um die Disproportionen und die Spannungen zu beseitigen, die zwischen dem schnell wachsenden Kraftverkehr und dem Straßenbau, zwischen den gemeinwirtschaftliehen Lasten der Bundesbahn und ihren Betriebseinnahmen und endlich zwischen dem Eigenverkehr der Firmen in Handel und Produktion 281 Vgl. hierzu auch Carl Wienecke: Grundlagen und Aufbau des deutschen Straßenwesens nach 1945 bis zum Ende des zweiten Bundestages. Forschungsarbeiten aus dem Straßenwesen, N. F., H. 38, Bielefeld o. J. 282 Vgl. Gesetz über die vermögensrechtlichen Verhältnisse der Bundesautobahnen und sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs vom 2. 3. 1951 (BGBl. I, S. 157). 283 Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte das Gesetz von 1934 die Verwaltung aller klassifizierten Straßen den Ländern überlassen. Diese Dezentralisierung wurde in gewisser Hinsicht dadurch ausgeglichen, daß die Länder außer ihren eigenen Straßen, den Landstraßen I. Ordnung, auch die Landstraßen II. Ordnung im Auftrag der Landkreise zu verwalten hatten und außerdem die Position des Generalinspektors für das Straßenwesen geschaffen wurde. 284 Vgl. Protokoll der 38. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 9. Juli 1954.

480

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

und den öffentlichen und privaten Verkehrsunternehmen entstanden waren285 • Das Gesetz über den Ausbauplan für die Bundesfernstraßen vom 27. Juli 1957 (BGBI. I, S. 1189) legt einen Ausbauplan für die Bundesfernstraßen fest, der zunächst in drei 4-Jahresplänen verwirklicht werden soll286 • Das Verkehrsfinanzierungsgesetz vom 6. April 1955 (BGBl. I, S. 166) und das Straßenbaufinanzierungsgesetz vom 28. März 1960 waren einerseits Werkzeuge, um den Wettbewerb der Verkehrsmittel zu verändern, zum anderen sollten die Gesetze die Grundlage der Finanzierung des weiteren Straßenbaues werden. Die Dichte des Straßennetzes innerhalb der Bundesrepublik Deutschland für alle klassifizierten Straßen einschließlich Ortsdurchfahrten kam 1961 durchschnittlich auf 550 m je km 2 • In Nordrhein-Westfalen betrug sie 650 m je km2 , in Bayern, wo sie am geringsten war, 395m je km2 • Das Netz der klassifizierten Straßen (Autobahnen, Bundesstraßen, Landstraßen erster Ordnung, Kreisstraßen, d. h. Landstraßen zweiter Ordnung) hat sich im Jahre 1963 insgesamt um rund 7800 km auf 151 772 km erweitert. Allerdings muß bedacht werden, daß der Anteil des tatsächlichen Neubaues von Straßen verhältnismäßig gering ist. Vielmehr beruht ein großer Teil der Erweiterung des Netzes auf dem Ausbau nicht klassifizierter Straßen zu klassifizierten Straßen. An direkten Neubauten sind vor allem zu nennen die Verlängerung des Autobahnnetzes um 141 km, das Ende 1963 eine Länge von 3061 km aufwies. Die Entwicklung des klassifizierten Straßennetzes der Bundesrepublik zeigt nebenstehende Tabelle. Für die Vervollkommnung des Straßennetzes sind nicht nur die klassifizierten Straßen von Interesse, sondern auch die Entwicklung des Gemeindestraßennetzes. Die Länge der Gemeindestraßen in der Bundesrepublik Deutschland betrug nach der Bestandsaufnahme zum 31. 3. 1956 223 007 km, davon 104189 km Innerortsstraßen287 und 118 818 km Außerortsstraßen. Adamek288 gibt an, daß vor 1939 das Verhältnis zwischen Land- zu Gemeindestraßen etwa 50 : 50 war. Da die statistische Erfassung der Länge der Gemeindestraßen nicht jährlich vorgenommen 285 In Wahrheit war diese gesetzespolitische Initiative nur ein verhältnismäßig eng begrenzter Versuch, auf den Wettbewerb der verschiedenen Verkehrsmittel einzuwirken. Immerhin wurde auf dem Gebiet des Straßenverkehrs die Grundlage weiterer Planungen geschaffen. 286 Vgl. hierzu: Ausbauplan für die Bundesfernstraßen, aufgestellt vom Bundesminister für Verkehr, Bonn 1957. 287 Ohne Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen. 288 Robert Adamek: Artikel "Straßen" Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1958, 10. Bd., S. 213.

3. Die Entwicklung des Straßenwesens seit dem 2. Weltkrieg

481

Länge der klassifizierten Straßen im Bundesgebieta) (in km) (31. 3.)

Jahr

Bundesautobahn

Bundesstraßen

1950 1955 1958 1960 1964

2078 2175 2 260 2539 3077

24253 24369 24395 24866 29586

LandLandstraßen straßen 1. Ordnung 2. Ordnung 49313 53400 56701 57669 66163

51961 49294 48672 50097 53058

Insgesamt 127 605 129238 132028 135 171 151 884

a) Bundesgebiet ab 1960 elnschl. Saarland; ohne Prlvatstraßen. Quelle: Bundesverkehrsmlnlsterium, Statistisches Bundesamt (Statistische Jahr-

bücher).

wird, sondern nur in mehrjährigen Abständen, liegen Anfang 1964 erst die Ergebnisse einer Erhebung vom Stichtag 1. Januar 1961 vor. Zu jener Zeit hatte das Gemeindestraßennetz eine Länge von 232 318 km289 • b) D i e E n t w i c k 1 u n g im Aus 1 an d Eine ganze Reihe von Staaten stellt seit dem 2. Weltkrieg langfristige

Straßenbauprogramme auf. Die Bundesrepublik folgte dieser Politik,

die die zunehmende Verkehrsdichte erzwang, erst sehr spät. Fast in allen Kontinenten der Welt wurde im letzten Jahrzehnt mit der systematischen Planung von Netzen internationaler Durchgangsstraßen begonnen. Beispielsweise legte die Europäische Wirtschaftskommission (CEE) in Genf 1950 ein Netz internationaler Durchgangsstraßen fest und normierte Bemessungsgrundlagen für ein Netz von "Europastraßen". Die Europäische Konferenz der Verkehrsminister (CEMT) führte diese Planung fort. Ausbau und Finanzierung müssen freilich ausschließlich im nationalen Bereich erfolgen. In Afrika und Asien bereiteten die Wirtschaftskommissionen der Vereinten Nationen Planungen für Durchgangsstraßen vor, in Afrika beispielsweise einen Verbindungsweg Sahara-Kapstadt, in Asien eine Verbindung von Ankara über TeheranDelhi-Kalkutta-Ost-Pakistan-Burma-Thailand-Vietnam (bzw. Singapur). Nordamerika schuf sogar schon früher systematisch interkontinentale Durchgangsstraßen, beispielsweise im 2. Weltkrieg die Alaska-Straße (Kanada-Alaska 2500 km) und die P-anamerika-Straße. Die TranskanadaStraße mit einer Länge von 7400 km erhielt die Trasse von Neufundland über Nova Scotia und New Brunswick durch den Süden von Kanada parallel zur Grenze bis etwa Vancouver. Die 10 036 km lange Panamerika-Straße in Südamerika führt von Buenos Aires in westlicher Richtung nach Santiago und von hier aus nördlich nach Chile-Peru-Ecuador 288

Vgl. Wirtschaft und Statistik 1964, Heft 2, S. 119.

31 Volfl; II/1

482

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

(Quito)-Kolumbien (Bogota) und Venezuela. Brasilien baut als Fernstraße die "Transbrasiliana". Die Rechtsfigur der Turnpikes als gebührenpflichtige Autobahnen wurde in jüngster Zeit in mehreren Ländern, insbesondere in den USA und in Italien, wieder eingeführt. In den USA werden die Turnpikes z. T. als Körperschaften des Öffentlichen Rechts errichtet. Sie finanzieren ihre Investitionen durch Obligationen. Verzinsung und Tilgung der Obligationen erfolgt aus den Gebühreneinnahmen. Straßendichte und Leistungsfähigkeit des Straßennetzes sind schon in Europa recht unterschiedlich. Spanien beispielsweise verfügt über ein sehr altes und ausgedehntes Straßennetz. Aber nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von ihm ist für Kraftwagen voll benutzbar. 132 000 km wurden kurz nach dem ersten Weltkrieg gebaut. Weder Anlage noch das Verfahren der Instandhaltung entsprechen der Stärke und der Art des heutigen Verkehrs. Spanien hat zwar mit 1,6 Millionen289a 2lhmal soviel Kraftfahrzeuge wie 1957, dennoch steht der Kraftfahrzeugverkehr in weiten Teilen des Landes erst am Anfang seiner Entwicklung. Die Regierung hat deshalb ein allgemeines 16-Jahres-Straßenprogramm (Plan General de Carreteras) in Angriff genommen. Die Verbesserung oder Verlegung von 745 km Straße werden zum Teil mit einem Darlehen der Weltbank finanziert, das eine Laufzeit von 20 Jahren bei einer Verzinsung von 5 1/2 vH p. a. besitzt. Zwisdtenstaatlicller Vergleich der Straßendichte

Land

Belgien ················ Frankreich ············ Großbritannien ........ Niederlande ............ Schweden .............. Schweiz ................ USA .................. im Vergleich hierzu: Bundesrepublik Deutschland ..........

Netzdichte der Landstraßenm km2

LandNetzBevöl- Kraftstraßen- kerungsfahrdichte zeugdichte der dichte dichtea) (km je Eisen(Ein1000 bahnen 1 Mill. wohn er (jeEinEinm je km2) wohner) wohner) km2

725 626 621 390 206 405 589

2 526 8118 2980 1248 12645 3408 29386

291 79 210 336 16 122 21

101,8 159,6 135,0 59,7 199,2 119,9 389,1

161 72 126 95 34 79 46

527

2554

206

82,4

124

a) In Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge am 1. 1. 1957 ohne Zugmaschinen, einschl. Krafträder. QueUe: Robert Adamek: Art. "Straßen", Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart-Tübingen-GötUngen 1958 10. Bd., s. 215.

2soa 530 800 Personenkraftwagen, 248 000 Lastkraftwagen, 16 500 Kraftomnibusse, 800 000 Krafträder (1964).

3. Die Entwicklung des Straßenwesens seit dem 2. Weltkrieg

483

Innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besitzt Belgien das dichteste Straßennetz, Frankreich kann sich andererseits rühmen, das in seiner Länge größte Straßennetz zu haben. Das Straßennetz der Vereinigten Staaten hat einen Umfang von 3,3 Mill. km befestigte Landstraßen (1960). Es ist erheblich weitmaschiger als in Westeuropa. Vergleichen wir alle für den Kraftverkehr nutzbaren Straßen (sie gehen über den Umfang der klassifizierten Straßen hinaus), so haben die Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Durchschnitt eine mehr als doppelt so große Straßendichte im Vergleich zu den USA. Hier sei auch kurz auf die Situation in der UdSSR verwiesen, die im Vergleich zu den westlichen Industrieländern durch eine relativ geringe Straßendichte gekennzeichnet war. Länge der Verkehrswege in der UdSSR

Jahr 1913b) 1928 1940 1950 1960

Straßenlängea) davon mit fester Decke in lOOOkm 59,4 32,0 143,4 177,3 270,8

mit Zement-AsphaltBetondecke in lOOOkm

7,1 19,2 77,1

a) Die sowjetische Transportstatistik enthält keine Klassifikation der Straßen. Straßen der genannten Art sind zum großen Teil Orts- bzw. Stadtstraßen. b) In den Landesgrenzen vor dem 17. September 1939. Que!!e: Johannes Friedrich Ttsmer: Die Transportentwicklung im Industrialisierungsprozeß der Sowjetunion. Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen, Bd. 19, Berlin 1963, Anhang S. 217.

Während früher die Straßen mühselig hohe Bergketten überwinden mußten und langgestreckte Tunnel ausschließlich den mit so hoher Verkehrswertigkeitins Leben getretenen Eisenbahnen vorbehalten waren, kam es nun endlich auch zur Durchtunnelung großer Gebirgsketten für die Zwecke des Straßenverkehrs. Nennen wir ein Beispiel eines Alpentunnels. Der Anstoß für den Bau der Straßentunnel durch die Alpen erfolgte auf Grund privater Initiative. 1947 wurde ein italienisches Aktionskomitee für den Bau einer Bundesstraße durch den großen St. Bernhard gegründet. Neben privaten Unternehmungen aus den Kreisen der italienischen Wirtschaft unter Führung der Automobilfabrik Fiat schlossen sich schließlich auch die Provinz Piemont, die autonome Region Aosta und die Stadt Turin dem Bauvorhaben an. Als schließlich 1958 die italienische Tunnelbauaktiengesellschaft gegründet wurde, beteiligte sich die Kraftwagenbauindu31°

484

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

strie, nämlich die italienischen Fiatwerke, mit der Hälfte des Aktienkapitals. Die eidgenössische Straßenplanungskommission war zunächst nicht bereit, das Projekt finanziell zu unterstützen und hielt den Durchstich für unwirtschaftlich. Schließlich gründeten im Jahre 1958 die westschweizer Kantone Waadt und Wallis zusammen mit der Stadt Lausanne eine Aktiengesellschaft für den Tunnelbau auf schweizerischer Seite. Die Kantone mußten sich sogar der Eidgenossenschaft gegenüber verpflichten, die Zentralbehörden von einer etwaigen Finanzierungshaftung zu entlasten. Daraufhin wurde am 23. Mai 1958 ein Vertrag zwischen der Schweiz und Italien über den Bau und Betrieb des projektierten Straßentunnels geschlossen. Der schließlich am 19. März 1964 eröffnete Tunnel hat eine Länge von 5828 m. Von Bourg St. Pierre auf schweizerischer Seite und St. Rh{mny auf italienischer Seite führen auf insgesamt 15 km Länge winterfeste überdachte Zufahrtsstraßen zu den Tunneleingängen empor. Durchquert wurde der Berg auf etwa 1900 m Höhe über dem Meeresspiegel. Die Baukosten betrugen annähernd 130 Mill. Schweizer Franken. Als Betriebsgesellschaft wurde von beiden Baugesellschaften eine gemeinschaftlich gegründete privatwirtschaftliche Erwerbsgesellschaft bestimmt. Sie erhielt - erstmalig in der Schweiz - die Genehmigung, einen Straßenzoll zu erheben. Ein weiteres Projekt ist in vollem Gange: Der Tunnelbau von Courmayeur nach Chamonix durch den Mont Blanc in 1380 m Höhe. Zur Zeit werden einige andere interessante Projekte innerhalb des europäischen Straßennetzes diskutiert. Die Untertunnelung des ÄrmelKanals ist ein Projekt, das schon lange erörtert wird. Schon 1750 hat die Universität Amiens einen Preis für den besten Plan eines direkten Unterwasserweges zwischen England und Frankreich ausgeschrieben. 1802 legte ein französischer Ingenieur einen Entwurf für den Bau eines Tunnels vor. Nach dem derzeitigen Plan ist ein Zwillingstunnel vorgesehen. Beide Fahrtunnel sollen in regelmäßigen Abständen mit einem Versorgungstunnel verbunden werden, der gleichzeitig als Notausgang dienen wird. Wegen der schwierigen Belüftungsprobleme ist es geplant, Kraftwagen mit elektrisch betriebenen Zügen zu befördern, da sonst für die Frischluftzufuhr Belüftungs-Türme notwendig geworden wären, die möglicherweise die Schiffahrt behindert hätten. Vorgesehen ist der Tunnel bei Westenhanger nahe Folkestone auf der britischen Seite, bei Sangatte, südlich Calais, auf der französischen Seite, mit einer Länge von 48,75 km, wovon 35,8 km unter Wasser laufen290 • 290 Der ebenfalls lange schwebende Plan einer Kanalbrücke stieß auf Bedenken, da die Stützpfeiler ein Hindernis für die Schiffahrt dargestellt hätten. Außerdem hätte nach den Berechnungen die Brücke etwas mehr als doppelt soviel wie ein Tunnel gekostet.

4. Das Problem zunehmender Unfälle im Straßenverkehr

485

4. Das Problem zunehmender Unfälle im Straßenverkehr Die Unfallziffer im Straßenverkehr nimmt im Ausmaß der Verdichtung des Straßenverkehrs in erschreckender Weise zu. Allein in den Jahren 1953-1962 kamen in der Bundesrepublik Deutschland bei Verkehrsunfällen 110 000 Menschen ums Leben. In diesem Zeitraum ereigneten sich 6,5 Mill. Verkehrsunfälle. Die Zahl der Verletzten betrug 3 Millionen. Die relativ große Schutzlosigkeit der Fußgänger und die Zunahme der Verkehrsdichte ließen die Zahl der Unfälle mit getöteten Fußgängern sehr hoch steigen. Im Jahre 1962 waren 39 vH der getöteten Fußgänger über 65 Jahre alt. Ein großer Teil der Straßenverkehrsunfälle ereignete sich dabei außerhalb der geschlossenen Ortschaften. Bezogen auf die gefahrenen Kilometer schneidet die Bundesrepublik Deutschland nicht ungünstig ab: Zahl der Unfalltoten pro 100 Millionen gefahrener km (1963)

Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesrepublik Deutschland . . . Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . .

29,8 13,1 12,1 11,2 6,0

Die Zahl der Getöteten und Verletzten insgesamt im Jahre 1961 betrug in 1000291 : Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesrepublik Deutschland . . Großbritannien ...............

227,9 85,6 222,7 445,4 349,7

Die Zahl der Straßenverkehrsunfälle in der Bundesrepublik zeigt die in der umstehenden Tabelle belegte Entwicklung. In den Ländern der Europäischen Verkehrsministerkonferenz (CEMT) haben die tödlichen Unfälle (1960) die Höhe von jährlich 50 000 Menschen erreicht. In den USA wurden im Vergleichsjahr 933 000 Unfälle registriert, in Großbritannien 271 800, in Frankreich 141 300. 1962 wurden nach der Französischen Straßenunfallstatistik bei 172 400 von der Polizei registrierten Unfällen, 229 779 Personen verletzt und 10112 getötet. Die Zunahme innerhalb von drei Jahren schwankt zwischen 5 und 7 vH. In der Bundesrepublik Deutschland entfielen 1960 auf 1000 Kraft291 Vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1963, Stuttgart und Mainz 1963, Internat. Teil, S. 96.

486

§ 8: Die Entwicklung des Straßenverkehrs seit dem 2. Weltkrieg

Straßenverkehrsunfälle und dabei Verunglüclde sowie Kraftfahrzeugbestand (Bundesgebiet einschl. Berlin (West))a)

Straßenverkehrsunfälle Jahr

1950 1953 1955 1958 1960 1962 1963d)

insgesamt 248124 466 129 593 970 751 784 990127 1 079 101 1115 000

mitnur Sachschaden

mit Personenschaden

I

125 620 247989 291 159 296 697 349 315 321 257 314688

Verunglückte Getöteteb) Verletzte

122504

I 218140

I

302811 455087 640 812 757 844 800 OOOe>

7 300 11299 12 651 12 169 14406 14445 14502

I

149 700 310 511 364872 372 524 454960 428 488 438 675

Kraftfahrzeugbestandc) in 1000 1 949,8f) 3 490,5 4 654,5 6 224,5 7 295,1 8 777,6 9 512,9

a) b) c) d) e)

1953-1956: Ohne Saarland. Einschlleßllch der innerhalb 30 Tagen an den Unfallfolgen Gestorbenen. Im Verkehr befindliche Kraftfahrzeuge ohne Mopeds am 1. Juli jeden Jahres. Vorläufige Zahlen. Zum Teil geschätzt, gemeldet wurden von der Polizei 781 737 ( + 3,2 °/o). f) 1. 7. 1950. Quelle: Wirtschaft und Statistik 1964, Heft 3, S. 177.

wagen 107 Getötete und Verletzte, in Italien 101, in der Schweiz 71, in Schweden 17, in den USA 20. Bei diesen Zahlen muß man freilich beachten, daß in dem dichtbesiedelten Raum Deutschlands die Zweiräder im Verkehr eine verhältnismäßig große Rolle spielen. Als die Eisenbahnen aufkamen, herrschte allgemein die Besorgnis, daß das neue Verkehrsmittel eine sehr hohe Unfallziffer im Vergleich zum überkommenen Straßenverkehr mit sich bringen werde. Die Gesetzgeber fast aller Länder griffen deshalb zu einer zum Teil sehr empfindlichen Verpflichtung der Gefährdungshaftung für die Eisenbahnen. Der technischen Entwicklung der Eisenbahnen gelang es aber, die Sicherheit dieses Verkehrsmittels in vorher nicht für möglich gehaltenem Ausmaß zu verstärken. Das gleiche gilt leider nicht für den Straßenverkehr. Dabei darf man aber nicht glauben, daß der Straßenverkehr früher im höchsten Grade unfallfrei war. 1878 wurden beispielsweise in London 3716 Menschen durch Reiten und Fahren verletzt, 159 getötet. Durch Überfahren verunglückten in Berlin von 1874 bis 1876 168 Menschen tödlich292 • In dieser Entwicklung des Straßenverkehrs tauchen, selbst wenn man die hohe Zahl der Verletzten und Toten als überaus bedenklich wertet, noch andere schwerwiegende Probleme auf, deren sich die Öffentlichkeit meist nicht genug bewußt wird. Nach Auskunft des Bundes2o2

Engel: Statistische Korrespondenz 1879.

4. Das Problem zunehmender Unfälle im Straßenverkehr

487

justizministeriums der Bundesrepublik Deutschland (1964) kommt die Zahl der bei Gerichten schwebenden Verfahren aus VerkehrsdeZikten nahezu an die schwindelerregende Höhe von 2 Millionen heran: In dieser Flut von Rechtsverfahren ersticken die Gerichte; es wird aber auch das Rechtsbewußtsein in nicht mehr vertretbarem Ausmaß geschädigt. Allein im Jahre 1961 wurden in der Bundesrepublik Deutschland (ohne Westberlin) 283 613 Personen für Delikte im Straßenverkehr abgeurteilt293. Konnte man bisher als Verurteilte vor Strafgerichten gewöhnlich asoziale Elemente finden, die sich nicht in die Rechtsordnung eingliederten, vielfach getragen von einer verbrecherischen oder wenigstens moralisch minderwertigen Gesinnung, so wird nun immer mehr der normale Staatsbürger zum Delinquenten. Während man bisher sagen konnte, daß Zeiten einer Hoch-Kultur durch einen verhältnismäßig geringen Anteil der Straffälligen an der Gesamtzahl der Bevölkerung gekennzeichnet waren, geht die Entwicklung nunmehr dahin, daß das "Verwickeltsein" in gerichtliche Verfahren fast als normales, zu bagatellisierendes Geschehen im Ablauf des Lebens eines Menschen angesehen wird. Hier liegen Gefahren für die Rechtsordnung, die nicht ernst genug genommen werden können.

§ 9: Jüngere Entwicklungstendenzen Sowohl im Bau von Straßen wie in der Konstruktion von Kraftwagen werden zur Zeit an den verschiedensten Stellen Wege einer Fortentwicklung erprobt oder zumindest diskutiert. Erwähnen wir einige von ihnen: a) Im Rahmen des Interstate Highway Systems der USA, das bis 1972 ein zusammenhängendes Autobahnnetz vorsieht, das sich über eine Gesamtlänge von 65 000 km erstrecken soll, wird erwogen, in einem 1,6 km langen Streckenabschnitt versuchsweise eine vollautomatische Autobahn zu bauen, auf der entsprechend ausgerüstete Autos elektronisch gesteuert werden können; ein Versuch, der schon auf der Weltausstellung 1964 diskutiert wurde. b) In der schottischen Hauptstadt Edinburgh befindet sich seit 3 Jahren eine elektrische Heizdecke in Erprobung, die sich unter der Straßenoberfläche befindet. Ihre Aufgabe ist es, Schnee sofort zum Schmelzen zu bringen und Glatteisbildung auszuschließen. Auch an anderen Stellen ist die Straßenbautechnik bestrebt, die UnfaZZgefahr bei Vereisung zu vermindern. Die Möglichkeit von "Heizdecken" wird zur Zeit an vielen Stellen der Welt erforscht und erprobt. 293 §§ 142, 315 a, 316 Abs. 2, 222, 230, 330 a StGB in Verbindung mit Verkehrsunfall; Quelle: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1963,

s. 124 f.

488

§ 9: Jüngere Entwicklungstendenzen

c) Werfen wir noch einen Blick auf einige andere neuere technische Planungen und Entwicklungen. Nach dem Prinzip der Hovercraftm wurde auch ein Fahrzeug entwickelt, das auf einer eigenen Fahrbahn läuft. Auch hier erzeugen Düsen ein Luftkissen. Das Fahrzeug wird damit etwa 13 mm über dem Spezialoberbau in der Schwebe gehalten. Der Energiebedarf für die Aufrechterhaltung des Luftkissens ist verhältnismäßig hoch. Neben Versuchen in Großbritannien experimentiert ein Unternehmen im Westen Australiens mit dem Prototyp eines neuen Luftkissenfahrzeugs, das aus Aluminium besteht. Bei den ersten Versuchen wurde mit etwa 36 km/h gefahren, die Konstrukteure rechnen mit einer Spitzengeschwindigkeit von 90 km/h. d) Das Aufkommen neuer Aggregate für die Energieverwertung ließ auch die Geschwindigkeitsrekorde des Kraftfahrzeuges auf dem Lande verhältnismäßig schnell ansteigen. Die Leistungsfähigkeit der Motoren nahm von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu. Der Engländer John Cobb fuhr mit einem Rennwagen, der mit 2 Flugzeugmotoren von 3000 PS Leistung betrieben wurde, einen Geschwindigkeitsrekord von 634,403 km/h295• Anfang August 1963 erreichte der Amerikaner Craeg Breedlove auf der Salzwüste Bonneville mit einem von einem Düsenaggregat angetriebenen Dreiradwagen eine Geschwindigkeit von 656,75 km/h288 •

Vgl. S. 148, 302 ff. Die Schwierigkeiten dieser Versuchsfahrten liegen vor allem in der Reifenbelastung und in dem Problem, das Fahrzeug gegen Seitenwind unempfindlich zu machen. 2ue Der strahlgetriebene "Spirit of America" ist etwa 10m lang, 3,3 m breit und an der höchsten Stelle rund 3 m hoch. Die Strahlturbine ist 376 cm lang und hat einen Durchmesser von 93 cm. Bei dem Rekordversuch wurde ein von der Shell entwickeltes Spezial-Flugbenzin verwendet. m

295

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs* Kiepert: Die persische Königsstraße, in: Monatsber. d. Kgl. Preuß. Akademie

d. Wiss., Berlin 1857.

Herrmann, Albert: Die alten Seidenstraßen zwischen China und Syrien,

Heft 21 der ,Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie', Berlin 1911. Boulnois, Luce: Die Straßen der Seide, nach der Originalausgabe: La route de la soie, aus dem Franz. übertragen von Joachim A. Frank, Wien, Berlin, Stuttgart 1964. Curtius, Ernst: Zur Geschichte des Wegebaus bei den Griechen, Berlin 1855. Bulle, Heinrich: Geleisestraßen des Altertums, München 1948. (Sitzungsberichte d. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. Jg. 1947, 2.) Forbes, R. J.: Notes on the history of ancient roads and their construction, Amsterdam 1934.

Birk, Alfred: Die Straße. Ihre verkehrs- und bautechnische Entwicklung im

Rahmen der Menschheitsgeschichte, Karlsbad 1934.

Weise, Alfred: Vom Wildpfad zur Motorstraße, Berlin 1933. Knoll, A.: Geschichte der Straße und ihrer Arbeiter, Leipzig 1925.

Lotz, W.: Die Verkehrsentwicklung in Deutschland, 3. Aufl., Leipzig 1910.

Treue, Wilhelm: Vom Lastträger zum Fernlastzug, München 1956.

Gassner, E.: Zum deutschen Straßenwesen von der ältesten Zeit bis zur

Mitte des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1889.

Schneider, J.: Die alten Heer- und Handelswege der Germanen, Römer und

Franken, Leipzig 1885.

Schrod, K.: Reichsstraßen und Reichsverwaltung im Königreich· Italien (754

bis 1197) (Vierteljahresschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch., Beih. 25), Stuttgart 1931. Herrmann, Albert: Die Überlandverbindungen durch Zentralasien im 7. bis 9. Jahrhundert und ihre kulturgeschichtlichen Auswirkungen, Asien-Berichte, 5. Jg. 1943/44, H. 21. Schlett, J.: Die Römerstraßen im allgemeinen mit besonderer Rücksicht auf den Isarkreis des Königreiches Bayern, München 1833. Scheffel, P. H.: Verkehrsgeschichte der Alpen, 2 Bde., Berlin 1908, 1914. Naeher: Die römischen Militärstraßen und Handelswege in der Schweiz und in Südwestdeutschland, 2. Auf!.., Straßburg 1888.

* Weiteres Schrifttum am Ende des Bandes. Das hier aufgenommene Schrifttum soll Literatur über historische Abläufe nennen. Es werden vor allem auch Bücher und Aufsätze angegeben, die einen Einblick in das Denken und Bewerten verkehrsgeschichtlicher und verkehrspolitischer Probleme einer bestimmten Zeit vermitteln.

490

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

Rodtow, 0. W. v.: Der Verkehr über den Paß von Pontebba-Pontafel und den Predil im Altertum und Mittelalter, Prag 1900. WeHer, K.: Die Hauptverkehrsstraße zwischen dem westlichen und südlichen

Europa und ihre geschichtliche Bedeutung bis zum Hochmittelalter, in: Festschr. d. Württ. Gesch.- und Altertumsver., S. 89-129, Stuttgart 1932. Simon, A.: Die Verkehrsstraßen in· Sachsen und ihr Einfluß auf die Städteentwicklung bis zum Jahre 1500, Stuttgart 1892. Fischer, W.: Linienführung, Bau und Verkehrsumfang spätmittelalterlicher Staatsstraßen, dargestellt an den Straßen der Pflege Coburg, Diss. T. H. Berlin 1942. Wopfner, Hermann: Urkunden zur deutschen Agrar-Geschichte, III. Band, Stuttgart 1928. (Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte.) Keibtinger, Ignaz: Geschichte des Benedictinerstiftes Melk, Wien 1867. Kretschmer, K.: Historische Geographie von Mitteleuropa, München 1904. KnüH. B.: Historische Geographie von Deutschland im Mittelalter, Breslau 1903. v. Doblhoff: Europäisches Verkehrsleben vom Altertum bis zum Westfälischen Frieden, in: Mitt. d. Geogr. Ges. in Wien, Bd. 48, H. 10-12, 1905. Müller, J.: Das spätmittelalterliche Straßen- und Transportwesen, 1905. Landau, G.: Beiträ11:e zur Geschichte der Heer- und Handelsstraßen in Deutschland, in: Zeitschr. f. deutsche Kulturgesch., Nürnberg 1856. Müller, J.: Die Hauptwege des Nürnbergischen Handels im Spätmittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte, 5. Bd. (1907), S. 1-23. Bruns, Friedrich, Weczerka, Hugo: Hansische Handelsstraßen, Weimar 1962. (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Bd. 13.) Götz, Leopold Karl: Deutsch-russische Handelsgeschichte im Mittelalter, Hansische Geschichtsquellen, N. F. Bd. 5, Lübeck 1922. Priebatsch: Der märkische Handel am Ausgang des Mittelalters, in: Schriften d. Ver. f. d. Gesch., Berlin 1936. Schmidt, H.: Der Einfluß der alten Handelswege in Niedersachsen auf die Städte am Nordrand des Mittelgebirges, Hannover 1896. Rauers, Friedrich: Zur Geschichte der alten Handelsstraßen in Deutschland. Erweiterter Sonderdruck aus Dr. A. Petermanns Geogr. Mitt. 1906, Heft 3. Hrsg. vom Verein für Hansische Geschichte, Gotha 1907. Precht, Georg M.: Güterbestätter und Frachtführer, Bonn 1962. HeUer, Friedrich Hermann: Die Handelswege Inner-Deutschlands im 16., 17. u. 18. Jahrhundert und ihre Beziehungen zu Leipzig, Dresden 1884. Bugge, Alexander: Die nordeuropäischen Verkehrswege im frühen Mittelalter und die Bedeutung der Wikinger für die Entwicklung des europäischen Handels und der europäischen Schiffahrt, in: Vierteljahresschr. f. Soz. u. Wirtschaftsgesch. Bd. 4 (1906), S. 227~277. Kachet, Johanna: Herberge und Gastwirtschaft in Deutschland bis zum 17. Jahrhundert. (Vierteljahrsschrift für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte. Beihefte. H. 3.) Stuttgart 1924. Bruder: Die Wirtshäuser des Mittelalters, ih: Oesterr. Monatsschr. f. christl. Sozialreform, 1886. v. Liebenau, T.: Das Gasthof- und Wirtshauswesen der Schweiz in ält. Zeit, Zürich 1891. Hoyer, Karl: Das ländliche Gastwirtsgewerbe im deutschen Mittelalter nach Weistümern, Oldenburg 1910, Phil. Diss. Freiburg 1910.

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

491

Franklin, Alfred: La vie privee d'autrefois (Arts et metiers, modes, usages

des Parisiens du XIIe au XVIIre siecle d'apres documents originaux ou inedits), Paris 1887-1902. Cochrane, John Dundas: Fußreise durch Rußland und die Sibirische Tartarei von der Grenze Chinas bis zum Eismeere und Kamtschatka. Aus dem Englischen, Jena 1825. Blinzer: Studien über das Wegewesen insbes. die alten Landstraßen im Herzogtum Lauenburg, in: Archiv d. V. f. d. Gesch. d. Hz. Lauenburg, Bd. 5, H. 2, S. 1-28. Becker, Willi Ferdinand: Die preußischen Militärstraßen im Deutschen Bund (1815-1866), vornehmlich in Hessen. Ein Beitrag zu den Hegemoniebestrebungen Preußens im nördlichen Deutschland, Marburg, Phil. F., Diss. 1957. Pechmann, Heinrich Frhr. von: über den früheren und den gegenwärtigen Zustand des Wasser- und Straßenbaues im Königreich Bayern, München 1822. Cassinone, Heinrich: Die geschichtliche und technische Entwicklung des Straßenwesens in Baden 1810-1920, Karlsruhe, Diss. 1925. Baer, F. J.: Chronik über Straßenbau und Straßenverkehr in dem Großherzogthum Baden, Berlin 1878. Wollheim, S.: Staatsstraßen und Verkehrspolitik in Kurhessen von 1815-1840. (Schriften d. Lds.-Amts f. gesch. Lds.-Kunde v. Hessen u. Nassau XIV.) Frankfurt/M. 1931. Speck, A.: Die historisch-geographische Entwicklung des sächsischen Straßennetzes. Wiss. Veröff. d. Deutschen Inst. f. Länderkunde, N. F. 12, Leipzig 1953. Searight, Thomas, B.: The Old Pike, Uniontown 1894. Durrenberger, Joseph A.: Tumpikes: A Study of the Toll Road Movement in the Middle Atlantic States and Maryland, Valdosta, Ga., 1931. Lepp, Ernst: Das badische Straßenwesen. Abriß der Größen- und Verkehrsentwicklung, Leip;dg 1926. (Wirtschafts- u. Verwaltungsstudien mit bes. Berücks. Bayerns, 71.) Landau, Georg: Beiträge zur Geschichte der alten Heer- und Handelsstraßen in Deutschland, in: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte, Jg. 1856, Kassel, Basel i95ll. [Sammlung von Aufsätzen zum 150. Geburtstag d. Verf.] Kurt, Alfred: Zur Geschichte von Straßen und Verkehr im Land zwischen Rhein und Main, Frankfurt, Phil. F., Diss. 1957. Kofler, F.: Alte Straßen in Hessen, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Trier 1893. Hesse-Wartegg, E.: Mexiko - Land und Leute. Reisen auf neuen Wegen durch das Aztekenland, Wien 1890. Hartung, Gottfried: Die bayerischen Landstraßen, ihre Entwicklung im XIX. Jahrhundert und ihre Zukunft, Leipzig 1902. (Wirtschafts- u. Verwaltungsstudien, 10.) Gerbing, L.: Die Straßenzüge von Südwest-Thüringen, in: Mitt. d. Geogr. Gesellschaft, Bd.17, Jena 1898. Wood, J. J.: Turnpikes of New England, Boston 1929. Dollacker, A.: Altstraßen der mittleren Oberpfalz, in: Verhandlgn. Hist. Ver. Oberpfalz und Regensburg, 88, 1938 (mit Kartenbeil.). Braun, P.: Die Hauptverkehrswege über den Franken- und Thüringer Wald und ihre Bedeutung für den Innerdeutschen Verkehr im Mittelalter und Neuzeit, in: Thür.-Sächs. Zs. für Geschichte und Kunst, Bd. 4, S. 150-172.

492

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

Amberger, Carl W.: Das oberfränk. Staatsstraßennetz, seine geschieht!. Ent-

wicklung, sein Zustand und die Maßnahmen zu seiner Verbesserung und Vervollständigung; Rechtswiss. und staatswiss. Diss., Würzburg 1931.

von Lüder, Christian Friedrich: Vorschlag, wie Deutschland mit Chaussees

durchkreuzt werden könne, Frankfurt a. M. 1779.

Krünitz, J. G.: Die Landstraßen, Chausseen etc., historisch, technologisch,

policeymäßig etc. abgehandelt, Berlin 1804.

Mason, 0. T.: Primitive travel and transportation, New York 1897. Hulbert, A. B.: Historie Highways of America, 16 Bde., Cleveland 1902-05. von Lüder, Christian Friedrich: Vollständiger Inbegriff allerbeydem Straßen-

bau vorkommenden Fällen, samt einer vorausgesetzten Weegegeschichte und einem Verzeichnis der unentbehrlichen Weegegesetze, Frankfurt a. M. 1779. Baumeister, L.: Zur Geschichte und Problematik des deutschen Straßen- und Wegerechts, Bielefeld 1957 (Forschungsarbeiten aus dem Straßenwesen N. F. 31). Krüger, Herbert: Gegen eine Entstaatlichung der öffentlichen Wege. Rechtsgutachten, Bielefeld 1954. (Schriftenreihe d. Arbeitsgemeinschaft Güterfernverkehr im Bundesgebiet e. V. 1.) Haselau, Klaus: Die Freiheit der Straße als Rechtsproblem. Rechtsnatur der Erlaubnisse und Genehmigungen in der Bundesrepublik Deutschland. Schriftenr. d. Arbeitsgem. Güterfernverkehr im Bundesgebiet e. V., H. 11, Bad Godesberg 1960. Thimme, Faul: Straßenbau und Straßenpolitik in Deutschland zur Zeit der Gründung des Zollvereins. (Beihefte zur Vierteljahrschr. f. Sozial- und Wirtschaftsgesch.) Stuttgart 1931. Newhouse: Über Chaussee-Dampfwagen statt Eisenbahnen mit Dampfwagen in Deutschland, Mannheim 1834. Sass, Friedrich: Geschichte des deutschen Verbrennungsmotorenbaues von 1860-1918, Berlin 1962. Krüger, K.: Die Straßen der Welt. Eine Straßengeographie, Berlin 1937. Krüger, K.: Straßen der Erde, Berlin 1949, Adamek, Robert: Art. "Straßen", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaf-

ten, 10. Bd., Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959, S. 213-222.

Elsen, P. v.: Die deutsche Landstraße, Diss. Köln 1929. Adamek, Robert: Straßenwirtschaft und Straßenverwaltung. Ein Beitrag zur

Reform der Straßenbauverwaltung in der Bundesrepublik, WiesbadenBerUn 1956. Davies, Ernest: Roads and their Traffic, Glasgow 1960. Labatut, Jean, and Lane, Wheaton J.: Highways in Our National Life: A Symposium, Princeton 1950.

Wienecke, Carl: Entwicklungskritische Betrachtung des deutschen Straßen-

wesens in den Jahren 1871-1945. Forschungsarb. a. d. Straßenwesen, N. F., H. 28, Bielefeld 1956. Wienecke, Carl: Grundlagen und Aufbau des deutschen Straßenwesens nach 1945 bis zum Ende des zweiten Bundestages. Forschungsarb. a. d. Straßenwesen, N. F., H. 38, Bielefeld.

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

493

Voss, Heinz: Die Entwicklung der Kraftfahrzeugstraßen in Deutschland, Köln,

Wirtsch.- u. sozialwiss. Diss. 1947.

Hafen, Paul: Das Schrifttum über die deutschen Autobahnen. Forschungs-

arbeiten aus dem Straßenwesen. Neue Folge, Bd. 19, Bonn, Hannover, Stuttgart 1956. Ausbauplan für die Bundesfernstraßen (Bundesstraßen und Bundesautobahnen), aufgestellt vom Bundesminister für Verkehr, Bonn 1957. Feuchtinger, M. E.: Das schweizerische Nationalstraßennetz. Sonderdruck aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 10, Bad Godesberg 1958. Le Cosquino de Bussy, Ir. M.: Straßenverkehr und Straßenbau in den Niederlanden, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen, 16. Jg. (1964), Heft 3, S. 46 ff. Vrebos, Jean: Das Belgisehe Straßennetz und seine Anpassung an den Straßenverkehr, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen, 16. Jg. (1964), Heft 3, S. 44 ff. Spearman: The Strategy of Great Railroads, London 1905. Owen, Wilfred, and Dearing, Charles L.: Toll Roads and the Problem of Highway Modernization (The Brookings Institution), Washington, D. C., 1951. Migliorini, E.: Strade e commercio dell'Iran, Messina 1939. Martzsch, U.: Moderne Verkehrswege im tropischen Negerafrika, Würzburg 1939.

Linden, Walter: Kraftverkehr, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften,

6. Bd., Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959, S. 257 ff.

Linden, Walter: Art. Straßenverkehr, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Auf!., Bd. 3, Stuttgart 1958, Sp. 5272 ff.

Schmitz, E.: Straßenverkehrsstatistik, in: Handwörterbuch der Sozialwissen-

schaften, Bd. 10, Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1959, S. 222 ff.

Rocholl, Peter: Vergleichende Analyse der Entwicklung des Personenkraft-

verkehrs im westeuropäischen Wirtschaftsraum. (Verkehrswissenschaftliche Veröffentlichungen des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand u. Verkehr, Nordrhein-Westfalen, Heft 51.) Düsseldorf 1962. Schlums, J.: Untersuchungen des Verkehrsablaufes auf deutschen Landstraßen. Straße und Autobahn. Sept. 1955. Taff, Charles A.: Commercial Motor Transportation, Homewood, Ill. 1955, 2. Aufl. 1956. Schmidt, Helmut: Gegenwartsprobleme der Straßenwirtschaft in der Bundesrepublik, in: Handbuch der Offentliehen Wirtschaft, 1. Bd., Stuttgart 1960, s. 249 ff. Piepenhagen, Günther: Die Stellung des gewerblichen Kraftverkehrs in der deutschen Verkehrswirtschaft, Bühl-Baden 1936. Kreft, Hans Wilhelm: Der gewerbliche Güternahverkehr in der Verkehrswirtschaft, in: Schiene und Straße 1960, S.128 ff. Jünemann, E.: Die Entwicklung des Güterverkehrs auf der Straße in Deutschland und Frankreich. Eine vergleichende Analyse, Diss. Münster 1963. Krech, Klaus: Die strukturellen Wandlungen in der westdeutschen Verkehrswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kraftverkehrsentwicklung, Innsbruck, Diss. 1954.

494

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

Hammer, K. H.: Der deutsche Eisenbahn- und Kraftfernverkehr (Entwick-

lung und Krisen seit dem ersten Weltkrieg), Diss. Kiel 1951.

GZahe, W.: Die Determinanten der Nachfrage nach Verkehrsleistungen auf

der Straße (Vorträge und Beiträge aus dem Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster, Heft 21), Göttingen 1959. Frank, Bruno: Der Personenverkehr mit Kraftfahrzeugen, in: Handbuch der Öffentlichen Wirtschaft, 1. Bd., Stuttgart 1960, S. 573 ff. Berkenkopf, Paul: Die Stellung des Straßenverkehrs in der modernen Verkehrswirtschaft, Düsseldorf 1954. Heimes, Anton: Die Tarifkontrolle im gewerblichen Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen unter besonderer Berücksichtigung der Frachtabrechnung durch den Reichs-Kraftwagen-Betriebsverband, Diss. Frankfurt 1938. Heder, Lanislaws v.: Die Konkurrenzfähigkeit der Kraftwagen und Kraftwagenlinien gegen Eisenbahn und Kleinbahn unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Deutschland, Diss. Berlin 1931. Stabenow, Wolfgang: Die Sicherung des Tarifzwanges für den Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen. Schriftenr. d. Arb. Gern. Güterfernverkehr im Bundesgebiet e. V., H. 8, Bielefeld 1959. Seidenfus, Helmuth St.: Die Bedeutung des Lastkraftwagens im Güterfernverkehr - dargestellt am Beispiel des linken niederrheinischen Raumes. Buchreihe des Inst. f. Verkehrswiss. an der Universität Köln, Bd. 16, Köln 1959. SchoZz, Wilhelm: Der Güterverkehr mit Lastkraftwagen im Rahmen des deutschen Güterumschlages, Leipzig 1938. Precht, Georg M.: Das Organisationsproblem des gewerblichen Güterfernverkehrs mit Kraftfahrzeugen, Diss. Nürnberg, Wertheim a. M. 1937. Heimes, A.: Was hat der Straßenverkehr von der EWG zu erwarten?, in: Schiene und Straße 1960, S. 123 ff. Ostermann, Fritz: Die wirtschaftliche Bedeutung der Benzinlastkraftwagen im Vergleich mit Pferdefuhrwerk, Zugmaschine, Elektromobil und Eisenbahn, Diss. Köln 1927. Netzen, Alfred: Die Regelung des gewerblichen Straßenverkehrs in der Schweiz von 1920-1960. Unter besonderer Berücksichtigung der Vereinbarung Schiene/Straße vom Mai 1952 (Wirtschaftswiss. Diss. Bern), Wintertbur 1963. Linden, Walter: Der Werkverkehr auf Lastkraftwagen. Seine Entwicklung und Bedeutung für die gewerbliche Wirtschaft (Schriftenreihe der Deutschen Wirtschafts-Zeitung, Heft 1), Berlin 1956. Kritz, Lars: LastbUstransporter i Sverige 1950-61, Stockholm 1963. CoughZin, E. W.: Freight car distribution and car handling in the United States. Association of American Railroads. Car Service. Division Washington 1956. Der Werkverkehr mit Lastkraftwagen. Umfang, Aufgaben und Voraussetzungen für seine Betätigung (eine Strukturuntersuchung). Bearbeitet im Institut für Konjunkturforschung. Schriftenr. d. verkehrswissenschaftl. Forschungsrats beim Reichsverkehrsministerium, Verkehrsw. Abhandlungen, H. 8, Jena 1939. Vergnaud, P.: Les Transports Rautiers Internationaux, Paris 1960. Institut für Konjunkturforschung, Stand und Aussichten des gewerblichen Güterfernverkehrs mit Lastkraftwagen, Schriftenreihe des Verkehrswissenschaftlichen Forschungsrates beim Reichsverkehrsministerium, Jena 1937.

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

495

Kellerer, Hans: Güterverkehr mit Kraftfahrzeugen, in: Die Statistik in

Deutschland nach ihrem heutigen Stand, Ehrengabe für F. Zahn, Berlin 1940. Adamek, Robert: Zur Frage der voraussichtlichen Entwicklung des Kfz-Bestandes und -Verkehrs. Sonderdruck aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 1, Bad Godesberg 1961. Campredon, E.: Röle economique et sociale des vois de communication, Paris 1900. Lerch: Das Fahrrad und seine Bedeutung für die Volkswirtschaft, in: Schmollers Jahrb. für Verw. Ges. und Volksw. 1908, S. 73 ff. Albrecht, Jürgen: Beziehungen zwischen Straßenverkehr und Wirtschaftsstruktur, Teil I, Nr. 1125 der Forschungsberichte des Landes NordrheinWestfalen, Köln und Opladen 1963. Feindler, Robert: Internationale Verflechtungen im Straßenverkehr, in: Schriften des Wissenschaft!. Vereins für Verkehrswesen, H. 7, Essen 1950. Filippow, W. K.: Awtomobilnyj TransportS. S. S. R. (Der Autotransport der UdSSR), Moskau 1957. Werner: Statistische Betrachtungen des Güternahverkehrs, in: Der gewerbl. Kraftverkehr, Berlin 1938, Nr. 7. Harper, D. V.: Economic Regulation of the Motor Trucking Industry by the

States, Urbana, Ill. 1959.

Dearing, Charles L.: American Highway Policy, Washington, D. C., 1941. Fairbairn, H. A.: Treatise on the political economy of railroads, London 1836. de Waele, A.: Güterkraftverkehrspolitik in Belgien. Zeitschrift für Verkehrs-

wiss., Düsseldorf 1963.

Peschel, Karin: Die Koordinierung von Schiene und Straße im Binnengüter-

verkehr Belgiens, Frankreichs und der Niederlande- unter Berücksichtigung der europäischen Integration, Diss. Univ. Münster, Münster 1964. Bleiss, Paul: Güterkraftverkehr und Verkehrspolitik, in: Handbuch der Öffentlichen Wirtschaft, 1. Bd., Stuttgart 1960, S. 316 ff. Friedrich, Otto A.: Die Gefährdung des Güterkraftverkehrs, Harnburg 1956. Schmidt, Helmut: Die Dringlichkeit gemeinwirtschaftlicher Verkehrsordnung, Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 1954, Heft 5, S. 274. Schmidt, Helmut: Verkehrskoordinierung durch Verteilung der gemeinwirtschaftliehen Aufgaben, Wirtschaftsdienst, Jg. 1953, Heft 9, S. 559. Winch, D. M.: The Economics of Highway Planning; Canadian Studies in

Economics, No. 16, Toronto 1963.

Rappaport, Philipp und Heller: Allgemeine Straßenverkehrsplanung, Halle

1929.

Korte, Josef W.: Grundlagen der Straßenverkehrsplanung in Stadt und Land,

Wiesbaden-Berlin 1958, 2. Auflage 1960.

Feuchtinger, M. E.: Verkehrserhebungen als Grundlagen der Straßenplanung.

Sonderdruck aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 9, Bad Godesberg 1955. Feuchtinger, M. E.: Straßenverkehr und Straßenplanung in USA und in Deutschland. Arch. f. Verkehrswesen 15/1954. Die Durch- oder Umfahrung von Städten und Dörfern, Automobil-Club der Schweiz (Hrsg.), Bern 1955.

496

Schrifttum zur Entwicklung des Straßenverkehrs

Peschel, Karin: Der Zeitfaktor in Wirtschaftlichkeitsrechnungen für den

Straßenbau. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Düsseldorf 1963.

Krell, K.: Theorie der Zeitlücken von Straßenverkehrsströmen. Sonderdruck

aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 4, Bad Godesberg 1958.

Krell, K.: Ermittlung der Leistung ungesteuerter Straßenknoten mit Hilfe

der Zeitlückentheorie. Sonderdruck aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 8, Bad Godesberg 1958. Korte, J. W.: Die Geschwindigkeit im Straßenverkehrsablauf. Sonderdruck aus der Zeitschrift Straße und Autobahn, Heft 5, Bad Godesberg 1956. Eichhorn, Otto: Straßenunfälle und ihre Verhütung, 2. Aufl., Halle 1939. Buhtz, Gerhard: Der Verkehrsunfall, Stuttgart 1938. Berthold, Franz: Verkehr, Verkehrsunfälle und Verkehrserziehung, Halle 1937. Jöhr, Walter Adolf: Probleme einer Straßenrechnung, in: Schweizerisches Archiv für Verkehrswissenschaft und Verkehrspolitik, Bd. 15, 1960, S. 297 ff. Griffith, A. E. T.: Cost Variation in Transport: A comparison of Road and

Rail, in: British Transport Review, 4. Bd., 1957.

Flister, E.: Wirtschaftlichkeit im Straßenbau. Sonderdruck aus der Zeitschrift

Straße und Autobahn, Heft 2, Bad Godesberg 1955.

Huber, Ernst Rudolf: Wegekosten und Kraftverkehr. Rechtsgutachten, Frei-

burg (1954).

Dreskornfeld, W.: Die Wegekosten des Straßenverkehrs in der Bundesrepublik

Deutschland, Bielefeld 1959.

Adamek, Robert: Die Straßenkosten und ihre Finanzierung, Bad Godesberg

1964.

Ritschl, Hans: Die Deckung der Straßenkosten und der Wettbewerb der Ver-

kehrsmittel, Berlin-Köln 1956.

Adamek, Robert: Testberechnung der Wegekosten der Bundesstraßen in der

Bundesrepublik Deutschland zu Preisen von 1954. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Düsseldorf 1964.

Viertes Kapitel

Die Entwicklung der Eisenbahnen § 1: Die Vorläufer der Eisenbahn Die Erfinder, die eine Dampfmaschine zur Raumüberwindung zu konstruieren suchten, dachten zunächst nicht an ein Schienen-, sondern an ein Straßenfahrzeug. 1769 baute ein französischer Artillerieoffizier, Niebolas Joseph Cugnot, einen Dampfwagen, der sich auf der Straße bewegen konnte1• Dieser zeigte jedoch noch viele Mängel und konnte sich ebenso wie eine fünfzehn Jahre später zum Patent angemeldete Dampfmaschine zur Fortbewegung von Räderfuhrwerken nicht durchsetzen. Besser als Cugnot's Dampfwagen war die Konstruktion des englischen Mechanikers Richard Trevithick 2, der ebenfalls einen Dampfwagen zunächst für die Straße entwickelte. Diese Versuche scheiterten weniger an den unvollkommenen Konstruktionen als an den ungünstigen Straßenverhältnissen in jener Zeit. Das Gewicht der Fahrzeuge war für die meist unbefestigten Straßen zu groß; besonders galt dies für die Jahreszeiten, in denen durch Regenfälle die Grundkörper der Straßen in Morast verwandelt wurden. So waren schwere Dampfmaschinen nach Regenwetter hilfloser als die leichteren Pferdefuhrwerke und langsamer als Reiter. Der Versuch, zu einer leichteren Bauweise der Maschinen überzugehen, um das Gewicht des Wagens zu verringern, mißlang. Darüber hinaus verursachten die ersten Konstruktionen von Dampfmaschinen auf den Straßen viele Unfälle, so daß kein großer Anreiz für die Konstruktion besserer Maschinen bestand3 • Die Unzulänglichkeit des damaligen Straßennetzes ließ daher die Konstrukteure Ausschau halten nach einem geeigneten eigenen Fahrkörper mit festem Untergrund für die 1 Schon 1618 nahm David Ramsey ein Patent auf einen Apparat, um die Erde ohne Pferde und Ochsen nur mit Hilfe der Dampfkraft zu pflügen. 2 Richard Trevithick konstruierte 1801 auch einen Dampfwagen zur Personenbeförderung und 1803/04 die erste Schienendampflokomotive (s. u.). 3 An der Verbesserung der Straßenlokomotive arbeiteten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts folgende Konstrukteure: Edgeworth (1768), Cugnot (1769), Watt und Murdock (1784) und Read (1790). 1804 montierte der Amerikaner Oliver Evans ein Dampfboot auf Räder und ließ es durch die Straßen von Philadelphia fahren. (Vgl. Enzyklopädie des Eisenbahnwesen, hrsg. v. Röll, Berlin-Wien 1915, Bd. 7, S. 145.) Russel E. Westmeyer: Economics of Transportation, 3. Auft., New York 1956.

32 Voigt IVl

498

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn

schweren Fahrzeuge. Dabei bot die Bergbautechnik, durch die ebenfalls das Problem der Bewegung von besonders schweren Wagen bewältigt werden mußte, Lösungsmöglichkeiten an. Schon vom 15. Jahrhundert an wurden nämlich in Bergwerken vereinzelt mit Holz ausgelegte Fahrwege zur besseren Bewegung von Loren benutzt4 • In der Mitte des 17. Jahrhunderts verlegte man anstelle der schnell abgenutzten Holzschienen solche aus Eisen5 • Diese "Schienen" waren gewöhnlich so breit, daß sie von normalen Fuhrwerken befahren werden konnten 6 • Dabei brachte man an ihnen Leitplanken an, um ein Abrutschen der Fahrzeuge zu verhindern7 • Im 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert wurden die Räder dann mit einer Art Spurkranz versehen und so ebenfalls gegen ein Abrutschen vom "Eisenweg" gesichert. Schließlich wurden sogar "Privatwege" dieser Art zum Zwecke des Güterverkehrs zu nahen Hafenstädten gebaut. Diese Wagen wurden von Pferden gezogen. In England wurden bis 1825 diese sogenannten "Iron Railways" nur von privaten Grundeigentümern wie Bergwerksbesitzern (für Förderanlagen in Kohlengruben) und Kanalgesellschaften (zur Fortbewegung der Schiffe von den Kanalufern aus) für eigene Zwecke auf eigenem Grund und Boden gebaut; sie dienten nur lokalen Beförderungsaufgaben. Dabei handelte es sich keineswegs nur um vereinzelte Versuche. Derartige Schienenwege wurden außer in England im 18. Jahrhundert auch in anderen europäischen Ländern sowohl in Kohlenbergwerken als auch in der Kanalschiffahrt angelegt. So wurde in Rußland in den Jahren 1763-65 von K. D. Frolow in den Werken von Kulywano-Woskressensk im Altai eine Gleisbahn mit mechanischer Zugkraft konstruiert: als Antrieb diente ein Seilzug, der von einem Wasserrad aus bedient wurde. 1806-10 baute P. K. Frolow ebenfalls im Altai eine 2 km lange Pferdeeisenbahn mit gußeisernen Schienen, um das Erz der Grube in Smejnogorsk zu befördern. In Frankreich wurde die Dampfkraft zuerst in der Binnenschiffahrt eingeführt. Die ersten Eisenbahnkonzessionen dagegen waren für Güterbahnen bestimmt, die den Kohletransport zur Rhöne und Loire Vgl. H. Nordmann: Die Frühgeschichte der Eisenbahnen. Berlin 1948, S. 4. s Wohl der erste Antrieb hierzu erfolgte bei einer Absatzkrise von Eisen. Als die hölzernen Schienen unbrauchbar geworden waren, ersetzte sie 1617 der Unternehmer einer englischen Eisenhütte, Reynolds, durch eiserne Schienen, "lron Roads" genannt. Duncan behauptet freilich, der Nordamerikaner Robert Livingstone Stevens habe die Eisenschiene erfunden (Quelle Julian S. Duncan: Introduction to Transport Economics, Albuquerque 4

1953).

6 Auf dem Höhepunkt der Eisenbahnära in den USA (1851) wurden dort noch Holzschienen beim Bau der Savannah-Bahn verwendet. 7 1820 gelang es erstmalig Birkenshaw, Schienen zu walzen (vgl. H. Nord· mann, a.a.O., S. 4).

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn

499

durchführten und zwar von Saint Etienne nach Andrezieux des Forez (1823) und Lyon (1826) sowie von Andrezieux nach Roanne (1828) 8 • Als Zugkraft dienten zunächst ausschließlich Pferde, später auch Lokomobile. Später (1832) wurde auf der Strecke Lyon-Saint Etienne auch der Personenverkehr aufgenommen, zum Teil mit Pferdebetrieb und bereits teilweise mit Dampflokomotiven'. Auch in Deutschland sind aus jener Zeit Projekte für den Bau von Gleisbahnen bekannt. Am 27. April 1815 erhielt der bayerische Oberbergrat Josef Ritter von Baader vom bayerischen König ein Patent auf 25 Jahre zum Bau eines Schienenstraßenwagens10 • Er hatte schon 1807 eine auf bestehenden Straßen anzulegende Eisenbahnverbindung zwischen Donau und Main über Nürnberg nach Kitzingen vorgeschlagen, um damit eine Handelsverbindung zwischen dem Rhein und der Donau einzurichten. Seine projektierte Eisenbahn war jedoch keine Eisenbahn im heute üblichen Sinne. Von Baader stellte sich vielmehr eigens gebaute Wagen vor, die auf Schienen liefen, aber auch durch doppelte Radsätze auf Straßen verwendbar waren11 • Die Schienen wurden benötigt, um Zugkraft einzusparen und größere Massen befördern zu können. Für die Landstraße waren größere Fuhrwerksräder, für das Eisenbahngleis kleinere Räder ohne Spurkranz vorgesehen. Die Gleise sollten auf bereits bestehende Landstraßen verlegt werden und die Zugpferde sollten neben den Gleisen laufen. 1818 und 1825 fanden erfolgreiche Versuche in Gegenwart des bayerischen Königs statt1 2 • Zur endgültigen Durchführung des Plans kam es jedoch nicht, da inzwischen die Vorzüge der Dampflokomotive auf der Schiene bekannt wurden. In den Jahren 1828-29 wurde im Ruhrgebiet zur Beförderung von Kohle vom Himmelfürster Stollen bei Überruhr in Richtung Elberfeld eine 7,3 km lange Pferdebahn gebaut, nachdem der Großindustrielle Friedrich Harkort13 schon 1826 Versuche mit Ein-Schienenbahnen in Wetter hatte anstellen lassen, die auch zum Gütertransport durch Pferde gedacht waren. Dieser konstruktive Gedanke kehrte später in der Schwebebahn des Wuppertals wieder. s Vgl. Henri See, Französische Wirtschaftsgeschichte, 2. Bd., Jena 1936, S. 209. ' Vgl. Gras, Histoire des premiersehernins de fer, Saint-Etienne 1924. 10 Es war ein Wagen, der sowohl auf Schienen als auch auf der Straße fahren konnte. Das Patent war das erste, das im deutschen Eisenbahnwesen erteilt wurde. (Material des Verkehrsmuseums Nürnberg.) n Vgl. "100 Jahre Deutsche Eisenbahnen", Berlin 1935, S. 12 f. und B. Stumpf, Kleine Geschichte der Deutschen Eisenbahnen, 2. Aufl., Mainz und Heidelberg 1955, sowie Max Hoeltzel, Aus der Frühzeit der Eisenbahnen, Berlin 1935, S. 13. 12 Material des Staatsarchivs Bamberg. 13 Wolfgang Köllmann: Gesellschaftsanschauungen und sozialpolitisches Wollen Friedrich Harkorts. In: Rheinische Vierteljahresblätter, 25. Jahrgang (Heft 1-2) 1960, S. 81-99. 32•

500

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn

Der erste Schienenweg für Güter- und Personenverkehr im deutschsprachigen Bereich war die Pferdebahn, die von Budweis nach Mauthausen an die Donau führte. Sie wurde 1825 begonnen; 1828 wurde sie teilweise und 1832 ganz in Betrieb genommen 14 • An die früheren Entwicklungen eines gesonderten Schienenweges wurde dann angeknüpft, als die Versuche des Baues eines Straßendampfwagens fehlgeschlagen waren. Die Struktur der meisten Volkswirtschaften hätte heute ein völlig anderes Aussehen und der Weg wie das Ausmaß ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung wären grundlegend von dem unterschiedlich geworden, was sich nun historisch formte, wenn zuerst die Konstruktion eines Straßenfahrzeuges gelungen wäre. Auf der Straße wären nie Züge mit 50 aneinandergekoppelten Wagen mit gleichem Sicherheitsgrad und gleicher Massenleistungsfähigkeit und Geschwindigkeit möglich gewesen. Die volkswirtschaftliche Gestaltungskraft hätte den Prozeß der Industrialisierung erheblich anders geformt und auch jeweils veränderte Grenzen in dem sich selbst nährenden Prozeß 15 aufgestellt. Bedenken wir: Die für die Eisenbahn typische Kostenstruktur - hohe fixe Kosten und flacher Verlauf der kurzfristigen Grenzkostenkurve - hätte sich im Straßenverkehr nie herausbilden können. Die Konzentration im Bereich des Verkehrs als Resultat dieser Kostenstruktur und die geographisch konzentrierten Standortbildungen für bestimmte Industrien, sowie die damit für andere Bereiche so auffällige Entleerung als Folgeerscheinung der geringen Netzbildungsfähigkeit, wie sie tatsächlich im 19. Jahrhundert die Eisenbahn hervorgerufen hat, hätte der Straßenverkehr niemals bewirken können.

Ausgangspunkt der Eisenbahnlokomotive war die Hochdruckdampfmaschine. Sie wurde zur gleichen Zeit von Oliver Evans in Amerika und Trevithick in Cornwall (England) konstruiert. Allerdings waren diese Lokomotiven wegen der zu schwachen Schienen zunächst nicht verwendungsfähig. In Großbritannien war die erste Lokomotive schon im Jahre 1803 von Trevithick (1771-1833) gebaut und 1804 auf einer Pferdebahnanlage (Merthyr-Tydvil-Bahn) in Wales zur Roheisenbeförderung eingesetzt worden. Eine verbesserte Lokomotive konstruierte im Jahre 1813 der Engländer Hedley für eine Kohlenbahn. Eine Lokomotive 14 Vgl. Otto Mayer, Entwicklung und Neuordnung der Österreichischen Bundesbahnen, Jena 1928, S. 2 und Max Hoeltzel, a.a.O., S. 14. Als erste Dampfeisenbahn wurde 1838 die Teilstrecke Wien-Wagram der Kaiser Ferdinand Nordbahn von Wien nach Galizien in Betrieb genommen. (Vgl. Art. "österreichische Eisenbahnen", in: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. Hrsg. v. RöH, a.a.O., Bd. 7, S. 426.) 15 Hierzu Fritz Voigt: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrssystems, Berlin 1960. S. lOB ff., 148 ff., 171 ff.

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn

501

gleicher Bauart war bis 1862 in Dienst1 6 • Im Jahre 1821 baute Julius Griffith bereits eine Lokomotive mit zwei Zylindern. 1826 konstruierte er die "Wilson of Newcastle", eine Lokomotive mit vier Zylindern 17• Bei einer der Iron Railways war seit 1812 ein Maschinenmeister namens George Stephenson (1781-1848) beschäftigt, der die Aufgabe hatte, sich mit den Reparaturen maschineller Zuganlagen zu befassen18 . Er interessierte sich für die neuen Konstruktionen. Für die 1825 eröffnete Bahn von Stockton nach Darlington lieferte er eine Zugmaschine, die die 41 km lange Strecke mit einer Fahrgeschwindigkeit von 15 km in der Stunde fuhr 19 (3 Achsen, 2 Feuerbüchsen und an den Seiten angebaute Zylinder). Die Dampflokomotive für die Strecke StocktonDarlington wurde zunächst nur für den Transport von Kohlen und Gütern verwendet, da die Betriebsleitung glaubte, daß die Reisenden sich nicht einer "qualmenden Feuermaschine" anvertrauen wollten. Für den Personenverkehr wurde ein Pferd angeschafft, das die auf Eisenbahnräder gestellte Postkutsche täglich einmal zwischen Stockton und Darlington hin- und her zog. Erst 1833 wurde auf dieser Strecke auch der Personenverkehr durch lokomotivbespannte Züge eröffnet. Als die Gesellschaft der zunächst mit Pferden betriebenen Bahn von Liverpool nach Manchester eine Ausschreibung für die beste Dampfmaschine durchführte, beteiligte sich Stephenson. Er ließ in seine Maschinen Flammröhren einbauen, die der Franzose Mare Seguin (1828) erfunden hatte. In jenem berühmten Lokomotivwettkampf in der Ebene von Rainhili zwischen den Städten Liverpool und Manchester siegte die "Rocket" von George und Robert Stephenson und Henry Booth. Ursprünglich war geplant, zwischen Liverpool und Manchester eine Eisenbahn zu bauen, die mit ortsfesten Dampfmaschinen und mit Seilen betrieben werden sollte, da der Dampflokomotive noch nicht getraut wurde. Eine beauftragte Kommission sprach sich für den Seilbetrieb aus. Dennoch wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem der Gewinner einen Preis von 500 i erhalten sollte, wenn folgende Bedingungen erfüllt wären: Die Lokomotive sollte ihr dreifaches Gewicht bei einer Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde über die Strecke Liverpool-Manchester ziehen können, ohne unterwegs Kohlen und Wasser zu ergänzen. Die Maschine durfte selbst nicht mehr als 4,50 t wiegen. Der Kesseldruck durfte nicht mehr als 3,5 atü betragen, der Verkaufs16 Vgl. Art. "Lokomotive", in: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, a.a.O., Bd. 7, S. 146. 17 George Stephenson hatte also namentlich in England eine Reihe von Vorgängern: u. a. Trevithick, Blenkinsop, Chapman, Bruntun, Blackett und Hedley. 18 Material des Staatsarchivs Nürnberg. 19 Vgl. Max Hoeltzel, a.a.O., S. 10.

502

§ 1: Die Vorläufer der Eisenbahn

preis durfte nicht höher als 550 englische Pfund sein. Es stellten sich fünf Maschinen, die eine 1,5 Meilen lange Prüfstrecke zehnmal befahren mußten. Die Rocket wog 4,25 t. Mit einer Last von 12,75 t erreichte sie eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 13,8 Meilen in der Stunde. Dabei kam sie sogar einmal auf eine Höchstgeschwindigkeit von 24,1 M/h (etwa 38 km/h), bei der "Ehrenrunde" sogar auf 29 M/h. Eine zum Wettbewerb angetretene Maschine, die "Cycloped", wurde von einem Pferd angetrieben, das sich im Fahrzeug befand. Ebenso wie eine andere Maschine, die "Perseverance", schaffte sie nur 6 M!h. In Deutschland20 wurden im Jahre 1815 die ersten beiden Lokomotiven gebaut. In ihre jeweils zwei Kessel waren die Dampfzylinder eingebaut, die eine dahinterliegende Welle mit einem Zahnrad antrieben. Da die Konstrukteure glaubten, die Reibung auf der glatten eisernen Schiene werde nicht ausreichen, um auf der Maschine noch Lasten fortbewegen zu können, sollte ein Zahnrad als Unterstützung dienen, indem es in eine entsprechend gezähnte Stange neben den Schienen eingriff. Die erste dieser beiden Lokomotiven wurde in Berlin gezeigt, und man konnte gegen Eintrittsgeld auf ihr fahren. Sie war für ein Bergwerk in Königshütte (Oberschlesien) bestimmt und sollte Pferde ersetzen; versehentlich war jedoch die Spur falsch gewählt worden. Aus diesem Grunde hat die erste deutsche Lokomotive nie einen Zug gezogen, sondern fand (wahrscheinlich) als feste unbewegliche Dampfmaschine Verwendung. Die im gleichen Jahr gebaute zweite Dampflokomotive sollte im Saarrevier eingesetzt werden, erwies sich aber als nicht betriebssicher21 . Öffentliche Eisenbahnen, betrieben mit Dampf, wurden erstmalig in England - wie bereits erwähnt - 1825 auf der 41 km langen Strecke Stockton-Darlington, 1830 in den USA22, 1832 in Frankreich23, 1835 in Deutschland und Belgien24 , 1838 in Österreich und Rußland25 , 1853 in Indien26 , 1854 in Norwegen, 1855 in Australien2 7 und 1856 in Ägypten2s errichtet. 2o Eine ausführliche übersieht der geschichtlichen Daten der Entwicklung in Deutschland ist in den Anhang von "Hundert Jahre deutsche Eisenbahn", Berlin 1935, S. 503 ff., aufgenommen worden. 21 Material des Verkehrsmuseums Nürnberg. 22 1830 wurde das erste Teilstück der Baltimore-Ohio-Eisenbahn in Betrieb genommen, zunächst allerdings noch mit Pferdekraft (Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, a.a.O., Bd. 10, S. 101). 23 Saint Etienne-Lyon (vgl. Henri See: a.a.O., S. 209). 24 Die erste belgisehe Eisenbahn war die 21 km lange Strecke BrüsselMalines. 25 Es handelt sich um die Strecke Petersburg-Zarskoje-Selo-Pawlowski (27 km). 1851 war in Rußland der Bau der Eisenbahn Moskau-Petersburg (644 km) fertiggestellt 26 Bombay-Thana (20,5 Meilen). 21 Sidney-Paramatta (22 km). 2s Alexandria-Kairo (209 km).

1. Die Anfänge der englischen Eisenbahnentwicklung

503

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in ihrer Frühzeit

in England und Deutschland

Die Eisenbahnen entwickelten sich in den verschiedenen Ländern der Welt unter den unterschiedlichsten ökonomischen und politischen Bedingungen. Dementsprechend sind trotz vieler Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Einflüsse wirksam, die bei der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Bahnsysteme eine Rolle spielen. An dieser Stelle kommt es nur darauf an, einzelne typische Beispiele aufzuzeigen.

1. Die Anfänge der englischen Eisenbahnentwicklung a) D i e E n t w i c k I u n g d e s E i s e n b a h n b a u e s Die Eisenbahn setzte sich selbst in England, dem Land mit der ersten dampfbetriebenen Eisenbahn, nicht sofort stürmisch durch. Hier entstanden in ihrer Frühzeit eine Reihe von erbitterten, oft mächtigen Gegnern; insbesondere stellten sich die Eigentümer von Kanälen (z. B. der einflußreiche Herzog von Cleveland) feindlich der Eisenbahn gegenüber, aber auch Fuhrleute wandten sich vielfach recht kämpferisch gegen sie. So wurde Stephenson bei der Vermessung einer neuen Strecke sogar tätlich angegriffen 29 • Roscher 30 weist darauf hin, daß Cancrin (Ökonomie der menschl. Gesellsch., 1845, S. 95 ff.) sich gegen den Telegraphen wandte, der doch die Couriere niemals ersetzen könnte, ebenso gegen Eisenbahnen, in denen er eine bereits abnehmende Luxusmode (1845!) erblickte. K. L. v. Haller31 bekämpfte die Eisenbahnen, "deren Erbauung den Völkern und Fürsten ungeheuere Lasten auflegt, während sie andererseits vielen Tausend Familien ihren Broterwerb rauben, jede Anhänglichkeit an die Heimat ertöten und die Hälfte der Bevölkerung zu Vagabunden machen". (S. 5.) 29 George Stephenson wagte vor einem Parlamentsausschuß nicht einmal, die erreichte Geschwindigkeit seiner Lokomotive anzugeben. Er berichtet: "Kaum befand ich mich in der Vemehmungsbank, da wäre ich gerne wieder zu einem Loch herausgekrochen ... Ein Ausschußmitglied frug mich, ob ich Ausländer sei; ein anderes gab zu verstehen, daß ich nicht bei gesundem Verstand sei". Alderson, ein anderes Ausschußmitglied, meinte: "Ich denke, es ist erwiesen, daß Stephenson's Plan der abgeschmackteste ist, der je in einem Menschenkopf ausgeheckt wurde." Das Mitglied Sir Isaac Cofjin: "Die Eisenbahn wird der größte Unfug sein, sie wird die vollständige Störung der Ruhe und des körperlichen sowohl wie des geistigen Wohlbefindens der Menschen bringen, die jemals der Scharfsinn zu erfinden vermochte". (vgl. E. Mathys: Beiträge zur schweizerischen Eisenbahngeschichte, 2. Auf!., Berlin

1954,

s. 13 f.)

Wilhelm Rascher: Nationalökonomik des Handels und Gewerbefieißes, 3. Auf!., Stuttgart 1882, S. 373, Anm. 13. s1 K. L. v. Haller: Wahre Ursachen der allg. Verarmung (1850). so

504

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Fünf Jahre nach Errichtung der ersten Eisenbahnlinie von Darlington nach Stockton-on-Tees wurde die 50 km lange Strecke von Liverpool nach Manchester eröffnet. Die Konzessionierung und der Bau neuer Eisenbahnen wurde nun in England beschleunigt vorangetrieben. Insbesondere in der Spekulationsperiode von 1836-1844 wurde eine große Zahl von Konzessionsgesuchen vom Parlament genehmigt. Anders als in anderen Ländern ging in England infolge der Impulse der Seefahrt und der Kanalbauten die industrielle Revolution der Eisenbahnentwicklung voran. Viele der neuen Industriestädte hatten bereits zu Beginn des Eisenbahnzeitalters als Auswirkung der volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft von Hochsee- und Binnenschiffahrt Großstadtumfang erreicht. So hatte um 1830 Liverpool 165 000, Manchester 164 000, Birmingham 111 000 und Sheffield 74 000 Einwohner32 • Thomas Gray legte in England bereits 1824 einen Plan für ein Staatseisenbahnsystem vor. Der Plan blieb jedoch unbeachtet. Sir R. Peel, der damals für die Ablehnung verantwortlich war, sprach sogar die Hoffnung aus, die Regierung werde es niemals nötig haben, die Verwaltung selbst zu übernehmen. Das Eisenbahnnetz, das nun auf der Basis privatwirtschaftlicher Initiative nach den sich jeweils im Zeitablauf ergebenden privatwirtschaftlich maximalen Gewinnchancen entstand, wurde ein recht unvollkommenes System mit viel zu großen Umwegen, um möglichst viele Orte in die Streckenführung einer geplanten Strecke einzubeziehen und möglichen Konkurrenzlinien den Zugang zu den Orten zu erschweren, die ein günstiges Verkehrsaufkommen erwarten ließen. Zwischen großen Orten entstanden sehr oft zwei oder drei Linien33 , sich nach verschiedenen Himmelsrichtungen "ausbuchtend". Das Verkehrssystem legte sich deshalb nicht optimal über den Gesamtraum, sondern wurde zum Produkt jener sich selbst nährenden34 Entwicklung; hierbei trieb die hohe Investitionstätigkeit in Verbindung mit dem sich schnell ausweitenden Prozeß der Geldschöpfung und der volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft neuer Verkehrslinien den Prozeß der Industrialisierung in schroff differenzierender Weise voran und ließ dabei immer neue Gewinnchancen für zusätzliche Eisenbahnlinien erwachsen. Diese eigenartige Dynamik im Zeitablauf muß man erkennen, wenn man die Struktur der auf diese Weise entstandenen Eisenbahnnetze richtig bewerten will. Da die Eisenbahnen wesentliche Impulse zur weiteren Industrialisierung auslösten, wurden zunächst die Schwächen dieses Systems "überdeckt". Die so entstandene Anteludialbindung bedeutete 32 Hierzu A. M. Mitne: The Economics of Inland Transport, London 1955. Zum Vergleich die heutige Größe der Städte (um 1961): Liverpool 1 386 000, Manchester 2 427 000, Birmingham 2 344 000 und Sheffleld 512 800 (1951). ss Hierzu s. Bd. 3. 34 Vgl. Bd. 1.

1. Die Anfänge der englischen Eisenbahnentwicklung

505

aber für den Zeitpunkt, zu dem die Eisenbahnen ihren Vorrang im Verkehrssystem einbüßten, eine schwere Belastung im Wettbewerb. Im Jahre 1838 waren in England und Wales bereits ca. 800 km Eisenbahnlinien in Betrieb35 • Nach dem ungeheuren Aufschwung des Eisenbahnhaus trat 1847 ein empfindlicher Rückschlag der Bautätigkeit ein. Schon zeigten sich Bestrebungen nach einer Zusammenfassung der bereits bestehenden Eisenbahnnetze zu wenigen großen Netzen. Zu diesem Zweck bildeten sich bis 1850 mehrere große Eisenbahngesellschaften, von denen zahlreiche neue Linien als Zusammenschluß bereits bestehender Streckenführungen errichtet wurden. Der Ausbau des englischen Eisenbahnnetzes fand um die Jahrhundertwende seinen Abschluß. Das Streckennetz der Eisenbahnen Großbritanniens wuchs in den sieben Jahrzehnten von 1830-1900 in folgender Weise: 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900

152km 2308km 10 653km 16 786km 24999km 28854km 32297km 35165 km3&

b) Die E n t w i c k 1 u n g der englischen Eisenbahngesetzgebung In der englischen Eisenbahngesetzgebung lassen sich zwei Perioden unterscheiden37 • Die erste Periode von 1801-1825 erbrachte eine ganze Reihe von Railway- oder Tramway-Acts. Die Periode begann 1801 mit dem Act für den Bau einer Bahn von Wandsworth nach Croydon, bei der es sich um eine von Pferden gezogene Bahn handelte. Bestimmt wurde, daß "alle Personen die Freiheit haben sollten, alle Wege und sonstigen Straßen der Eisenbahngesellschaften mit Pferden und Wagen zum Zwecke der Beförderung von Gütern, Passagieren oder Vieh zu benutzen". Das Parlament setzte eine Benutzungsgebühr fest, die nicht 35 Vgl. Art. "Großbritanniens und Irlands Eisenbahnen" in: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, a.a.O., Bd. 5, S. 375. 38 Für die Zahlen vgl. Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, a.a.O., Bd. 5, s. 387. 37 Ähnlich· übrigens auch G. Cohn, Die Entwicklung der Eisenbahngesetzgebung in England, Leipzig 1874, S. 20, der drei Perioden unterscheidet. Seine "erste Periode" vor 1801 bezieht sich auf eine Zeit, die für die späteren Eisenbahnen ohne wesentliche Bedeutung war, da die damals bestehenden Vorläufer der Schienenwege Hilfseinrichtungen von Bergwerksbesitzern oder anderen Grundstückseigentümern waren.

506

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

überschritten werden durfte. Insoweit wurde die Eisenbahn einer öffentlichen Straße gleichgestellt. Grundsätzlich sollte dieses Verkehrsmittel - ähnlich wie die Straßen oder die Kanäle - nur Hilfsinstitut für private Unternehmen (z. B. den Bergbau) sein. Wie stark sich schon in dieser Periode die englische Gesetzgebung mit dem Eisenbahnwesen befaßte, geht aus der Tatsache hervor, daß allein im Jahre 1824 24 neue Tramway-Acts vom Parlament gebilligt wurden38 • Die zweite Periode der englischen Eisenbahngesetzgebung begann 1826 mit der "Liverpool-Manchester-Railway-Act". Auch dieses Gesetz bestimmte, daß die Eisenbahn eine freie Straße sei, die wie die Straßen und Kanäle gegen Zahlung von Wegegeldern von jedermann benutzt werden durfte. Das Gesetz lehnte sich aber nun stärker an die Regelung jener Teile des Verkehrssystems an, die als wichtigstes Verkehrsmittel im Inneren des Landes bereits wesentliche Impulse zur Industrialisierung ausgelöst hatten: das Rechtssystem der Kanäle. Wegegelder sollten nach Maßgabe der jährlichen Abschlüsse geregelt werden39. In den Artikeln 165-172 der Konzessionsurkunde der Eisenbahn von Liverpool nach Manchester wurde zwar wieder festgelegt, daß alle Personen volle Freiheit hätten, die Strecke mit Maschinen und Wagen zu benutzen, um Güter, Passagiere oder Vieh zu befördern. Darüber hinaus wurde aber den an die Bahn grenzenden Grundbesitzern das Recht erteilt, Zweigbahnen zum Anschluß an die LiverpoolManchester-Bahn zu bauen. Weiter wurde verlangt, daß die Lokomotiven ihren eigenen Dampf verzehren sollten4o. Die viel zu scharfe Gesetzgebung des Haftungs- und Strafrechts und die Anlagevorschriften hemmten darüber hinaus den Wagemut der Anfangszeit, ein interessantes Beispiel für die Umprägung des virtuellen Aktionssektors. Die Erreichung höchstmöglicher Sicherheit und Fahrplanmäßigkeit sowie Berechenbarkeit drängte sich in den Vordergrund der Zielrichtung der Eisenbahnunternehmer. Die Great Western Eisenbahn in Großbritannien erreichte schon 1847 über eine Strecke von 92 km hinweg eine Höchstgeschwindigkeit von 93 km/h im planmäßigen Verkehr. Es ist aber eigenartig, daß trotz verschiedener Versuchsfahrten für fast ein Jahrhundert keine größere fahrplanmäßige Geschwindigkeit verwirklicht wurde. Die Eisenbahnen waren das dominierende Verkehrsmittel im Landverkehr geworden. Unter William Gladstone wurde ein Gesetz (1844) erlassen, das eine Verstaatlichung der Eisenbahnen zuließ. Die hier geschaffene Vollmacht wurde aber nie ausgenutzt. Einzelheiten bei G. Cohn: a.a.O., S. 22. Schon in der Genehmigungsurkunde der Liverpool-Manchester Eisenbahn usw. 40 Einzelheiten bei G. Cohn: a.a.O., S. 35 ff. 38 39

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

507

In welchem Maße Zufälligkeiten auf die weitere Entwicklung der englischen Eisenbahngesetzgebung Einfluß hatten, zeigt das Beispiel des englischen Staatssekretärs William Huskisson, Finanz- und Kolonialminister, der bei der Einweihung der Eisenbahn von Liverpool nach Manchester von der Eisenbahn überfahren wurde, ein Bein verlor und 9 Stunden später starb. Derartige Zufälligkeiten prägten die zukünftige Gesetzgebung sehr entscheidend. Ausgehend von der daraufhin erfolgten englischen Eisenbahngesetzgebung mit gegenüber dem bisherigen Verkehrsrecht verschärften Haftungsbestimmungen legte auch in anderen Rechtssystemen die Eisenbahngesetzgebung dem neuen "gefährlichen" Verkehrsmittel Eisenbahn eine besonders weitreichende Gefährdungshaftung auf. Ebenfalls einem Zufall entspringt die, abgesehen von Spanien, Rußland und Portugal, heute noch allgemein übliche Spurbreite der Eisenbahn von 1435 mm. Sie wurde zum erstenmal bei der Strecke StocktonDarlington verwendet und geht zurück auf die Achsbreite der Postkutschen (5 engl. Fuß). Sie wurde Stephenson 1825 für die Konstruktion seiner Zugmaschine auf dieser Strecke vorgeschrieben. Dieses Maß gestattete es ihm jedoch nicht, die beiden Zylinder, die seinerzeit noch an der Innenseite der Räder angebracht waren, unterzubringen. Infolgedessen erwirkte er eine Verbreiterung der ursprünglichen Spurbreite um einige Zoll, so daß die Spurweite für diese Bahn insgesamt 5 Fuß und 81/2 Zoll betrug, was 1435 mm ergibt41 •

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland a) V o r b e m e r k u n g Als in England bereits die ersten Eisenbahnen gebaut waren, fanden sich in deutschen Blättern noch verschiedene andere Pläne. So schrieb Leucks im Jahre 1818: "Es wäre in dieser Hinsicht das beste, Eisenoder vielmehr Schlittschuhbahnen von Eisen oder jedem anderen tauglichen Körper für Fußgänger zwischen Städten, die vielen Verkehr miteinander haben, anzulegen. Da man mit Schlittschuhen äußerst schnell vorwärts kommt, so würde man auf diesen Eisenbahnen in kurzer Zeit große Räume durcheilen können, Zeit sparen und zugleich eine gesunde Bewegung haben. Der gegenseitige Verkehr würde dadurch sehr erleichtert, denn nicht jeder ist imstande, und nicht jeder 41 Später wurden beim Bau andererEisenbahnstrecken auch breitereSpurweiten verwendet. Bei einer Vereinheitlichung des Eisenbahnnetzes in den vierziger Jahren in England wurde die Spur von 1435 mm jedoch vom Parlament einheitlich festgesetzt. Diese englische Spurweite wurde auch in den meisten kontinentaleuropäischen Staaten eingeführt. Seit 1886 ist sie durch die Berner Vereinbarung festgelegt.

508

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

findet es für sich zuträglich oder angenehm, im Wagen zu fahren . . . . Die Schlittschuhbahnen müßten, um die Reibung zu vermindern, mit Graphit oder einer Mischung von Graphit und Fett bestrichen werden" 42 • In der Allgemeinen Handelszeitung des Jahres 1833 greift Leucks diesen Gedanken wieder auf: "Denken wir uns eine solche Bahn zwischen Nürnberg und Fürth, so wäre zum Beispiel die Abfahrt in Nürnberg vielleicht nur einen halben Stock hoch, da die Straße nach Fürth Ghnehin einen Abfall hat; die Abfahrt in Fürth, welche nach Nürnberg führt, dagegen ein Stockwerk hoch, und statt bloßer Pfeiler würden, soweit die Höhe es erlaubt, gleich Häuser gebaut, die sich durch Vermietung verzinsen würden. Später, wo die Bahn niedriger würde, ginge sie entweder bloß auf Mauern oder auf Balken, die auf Pfeilern ruhten. Eine Treppe würde in Fürth zur Bahn hinaufführen, oder eine Hebmaschine die Personen zu ihr hinaufheben. Dort würden sie sich in bereitstehende Wagen setzen, und (so schnell wie Knaben im Winter auf einem Eisberg) nach Nürnberg hinabrollen. So abenteuerlich eine solche Reiseart vor fünfzig Jahren erschienen wäre, vielleicht manchem auch noch jetzt erscheint, so gewiß ist es, daß man, ehe fünfzig Jahre vergehen, zwischen vielen Orten auf diese Art hin- und herreisen und nach Vergnügungsorten spazierenfahren wird. Die Welt kommt immer weiter" 43 • Erstmalig Erwähnung fanden die Eisenbahnen in einer deutschen Zeitung durch Friedrich Harkort44 • Auch entstand zu jener Zeit der großzügige Plan des Wiener Professors Franz Xaver Riepl einer Eisenbahn Triest- Wien- russische Grenze. Der erste Plan, auf deutschem Boden eine dampfbetriebene Eisenbahn zu bauen, geht auf den König von Württemberg zurück. Er erteilte 1828 dem Oberleutnant Duttenhafer, den er vorher zum Studium der Eisenbahnen und Kanäle nach England und Amerika gesandt hatte, den Auftrag nachzuprüfen, wie eine Eisenbahn von Cannstatt über den Albrücken zwischen den Quellen der Schmiech und der Erms nach Ulm gebaut werden könnte. Als Ergebnis des Auftrags wurde freilich dann festgestellt, daß diese Eisenbahn wegen der Höhenunterschiede und der Terrainverhältnisse nicht als bauwürdig und ausführbar erschien4s. Auch sonst wurden manche Bedenken gegen die Eisenbahnen geäußert. Staatsrat Nebenius erklärte beispielsweise in der zweiten Kammer Badens am 22. 10. 1833, "daß die Anlegung einer Eisenbahn nicht 42 Material des Verkehrsmuseums Nürnberg. Vgl. auch M. Beckh, Deutschlands erste Eisenbahn, Nürnberg 1935, S. 62. 43 Material des Verkehrsmuseums Nürnberg. 44 In: Herman: Zeitschrift von und für Westfalen oder die Lande zwischen Weser und Maas, Schwelm, 30. März 1825. 45 Max Hoeltzel: Aus der Frühzeit der Eisenbahnen, Berlin 1935, S. 17.

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

509

zu den dringenden Bedürfnissen in unserem Land gehört" 48 • Maßgeblich für die Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland wurden jedoch die zu ihrer Zeit revolutionären Pläne von Baader, Harkort, Grote, Motz sowie List. Als die Güte der oberschlesischen Kohlenvorkommen erkannt worden war, eine Erweiterung der Förderung aber wegen der Schwierigkeit des Abtransports auf den schlechten Landstraßen und den unzureichenden Wasserwegen nicht möglich war, schlug die staatliche Bergbauverwaltung (Oberhüttenverwaltung Karsten) in einem Bericht 1815 eine Eisenbahn mit Dampfbetrieb von Hindenburg über Groß-Strehlitz nach Breslau vor. Über eine lebhafte Diskussion kam aber dieser Plan nicht hinausn. b) Die Ludwigsbahn von Nürnberg nach Fürth Die erste Eisenbahn mit Dampflokomotive auf deutschem Boden wurde auf der 61/2 km langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth eingerichtet. Hier waren die Bedingungen verhältnismäßig günstig. Einerseits hatte Nürnberg eine polytechnische Schule, zum anderen betrug das Steigungsverhältnis zwischen Nürnberg und Fürth nur 1 : 1000; die Strecke ist also fast eben. Auch waren Brücken und andere Kunstbauten nicht erforderlich. Die Finanzierung der geplanten Strecke stieß (bei einer versprochenen Rendite der Aktien von 12,5 vH) trotzdem zunächst auf manche Schwierigkeiten. Von dem Aktienkapital von 132 000 (später 175 000) Gulden zeichnete die bayerische Regierung ganze zwei Aktien48 • Die Initiative für den Bau dieser ersten deutschen Eisenbahn ergriffen Georg Zacharias Platner, ein Nürnberger Handelsvorsteher, dem seine Stadt eine ganze Reihe sozialer Einrichtungen, Stiftungen und Parkanlagen verdankt, und der ehemalige 2. Bürgermeister von Nürnberg, Johannes Scharrer, in einem Aufruf in der ersten Nummer des Jahrgangs 1833 der Allgemeinen Handelszeitung in Nürnberg 411 • Einige Jahre vorher (1827) hatte das gleiche Projekt in ähnlicher Fassung schon einmal zur Diskussion gestanden. Das Kollegium der Marktadjunkten von Nürnberg hatte aber die Planung einer Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth abgelehnt. 46

Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogtums Baden

1833 II. Kammer, Bd. 127. Albert Kuntzemüller: Die badischen Eisenbahnen, 2. Aufl., Karlsruhe 1953, S. 3.

47 O.Wehde-Textor: Oberschlesien und seine Eisenbahnen. In: Archiv für Eisenbahnwesen, 72. Jg., (1962), S. 307 f. 48 Material des Staatsarchivs Bamberg. 48 Material des Verkehrsmuseums Nürnberg.

510

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Nachdem die Bahn nun doch als Ludwigsbahn von Nürnberg nach Fürth gebaut worden war, wurde ihr bei der Eröffnung von den Festrednern gewünscht, daß sie sich als Ausgangspunkt eines deutschen Eisenbahnnetzes bald nach allen Seiten fortsetzen möge. Dieser Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Die Ludwigsbahn blieb bis zu ihrem Ende eine Einzellinie ohne jeden Anschluß; sie wurde 1922 eingestellt. Auf ihrem Bahnkörper verkehrt seit dieser Zeit eine Linie der Nürnberg-Fürther Straßenbahn. Die heute von der Deutschen Bundesbahn betriebene Verbindung Nürnberg-Fürth wurde später von einem anderen Eigentümer (der Bayerischen Staatseisenbahn) unabhängig von der alten Ludwigseisenbahn gebaut. Die Bedeutung dieser Eisenbahn für die Volkswirtschaft schätzten die Erbauer und Gesellschafter zunächst nicht richtig ein. So hatte man die Bahn zunächst als eine reine Personenbeförderungsbahn geplant und gebaut. Am Anfang wurde es sogar abgelehnt, Gütertransporte zu übernehmen. Später wurden aus Gefälligkeit täglich zwei Faß LedererBier zum Beförderungspreis für eine Person 3. Klasse mitgenommen. Der Bahnbetrieb von Nürnberg nach Fürth entwickelte sich von Anfang an sehr gut. So war die Gesellschaft bestrebt, möglichst viele Züge laufen zu lassen. Da die für den Betrieb erforderliche Kohle mit den überkommenen Verkehrsmitteln nicht in genügendem Maße heranzubringen war, konnten zunächst täglich nur zwei Fahrten mit der Dampflokomotive durchgeführt werden, die übrigen Züge mußten mit Pferden gezogen werden50• Die Lokomotive "Der Adler" mit einer Leistung von 40 PS, hatte einen Kohlenverbrauch von 5 kg/PS/h51 • Der Vergleich ihrer Leistung mit modernen Lokomotiven ergibt sich aus der Tabelle von S. 511. Die erste brauchbare, in Deutschland gebaute und in Dienst gestellte Lokomotive, die "Saxonia" (1839), wurde mit 2 Triebachsen und einer Laufachse konstruiert52 • Reglerstange und Reglerrohre lagen außen, die Zylinder lagen sehr tief, die Schieberkästen zwischen den Zylindern. Eine Handbremse wirkte auf den oberen Radumfang der hinteren Triebräder. c) Weiter e B es t r e b u n g e n zur E n t w i c k 1 u n g eines deutschen Eisenbahnsystems Die größten Verdienste um den Eisenbahnbau in Deutschland sind Friedrich List zuzuschreiben, der von 1827 an von den Vereinigten Material des Verkehrsmuseums, Akten der Ludwigsbahn. Moderne Dampflokomotiven mit 2500-3000 PS verbrauchen 0,7 kg/PS/h. Die Triebachsen werden mit großen Buchstaben (A, B ...), die Laufachsen mit arabischen Zahlen (1, 2, 3) bezeichnet. Die Saxonia war also eine B Lokomotive. 50 51 52

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

511

Dampflokomotiven

Adler

(1835)a}

Achsanordnung ....... . Höchstgeschwindigkeit (km!h) .............. . Leistung (PS) ......... . Zylinderzahl .......... . Kesseldruck (atü) ...... . Treibraddurchmesser

1A 1

40d) 41 2 3,3

(m) ••.•........•..•..

1,37

(m) ••••.•...•.•.•....

7

LÜP (einschl. Tender)

Dienstgewicht (t) mlo Tender ......... . Größte Achslast (t) .... .

14,22 (m) 6

Lokomotiven der Baureihe Baureihe Ol!J)

2'

c 1'

130 3000 3 16

lQC)

2'

c 1'

140 3000 3

18

2,0

2,0

23,9

26,4

lll (o) 20,2

200 (m) 22

Quellen:

a) Lehmann-Pflug, Der Fahrzeugpark der Deutschen Bundesbahn und neue, von der Industrie entwickelte Schienenfahrzeuge, Berlin und Bielefeld, o. J., S. 19. b) Hans Wendler, Die Dampflokomotiven der Deutschen Reichsbahn, Berlin 1960,

s. 220.

c) Nach Material des Verkehrsmuseums Nürnberg. d) Nach Angabe Lebmanns 23 km/h.

Staaten aus systematisch für die Errichtung von Eisenbahnen in Deutschland warb 33 • List hatte bereits 1824 in England die Eisenbahn kennengelernt. Als Volkswirt ahnte er, welche Bedeutung sie für eine völlige Umgestaltung des Verkehrswesens und der Volkswirtschaften erlangen könnte. Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten fanden die Ideen von List in Deutschland zunächst nur geringes Interesse. Es gelang ihm nicht, den bayerischen König Ludwig davon zu überzeugen, daß die Eisenbahn in vieler Hinsicht größere Leistungen vollbringen könne als der schon seit Jahrhunderten geplante Kanal zwischen dem Main und der Donau. Er fand dafür aber offenere Ohren in Leipzig, wo er den Bau einer Eisenbahnlinie von Leipzig nach Dresden propagierte. Die Messestadt war nicht durch die in den vorangegangenen Generationen überall in der alten Welt entstandenen oder verbesserten Wasserstraßen berührt worden. Mit Sorge sah sie ein schon sichtbares Zurückbleiben in der Entwicklungsfähigkeit im Vergleich zu anderen Orten an den neuen Wasserwegen. Leipzigs tatkräftige und wagemutige Kaufmannschaft ahnte deshalb, welche Aufschwungkräftefür ihre Stadt das neue Verkehrsmittel Eisenbahn bringen würde. Sie unterstützte List mit allen Kräften. Von Leipzig aus 53 So in einem Schreiben an den König von Bayern um Erteilung eines Patents auf "Einführung des Eisenbahnwagens", (1829).

512

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

ließ List im Jahre 1833 seine Schrift über das sächsische Eisenbahnsystem erscheinenM. Bewußt gab List die Baukosten für die Strecke Leipzig-Dresden im Prospekt, der für den Bau der Eisenbahnlinie werben sollte, als sehr gering an. Er bezifferte sie nur mit einer halben Million Taler. Das Komitee gab schon vorsichtig Aktien für die dreifache Menge aus. Die Aktien wurden tatsächlich im Laufe eines Tages untergebracht. Schließlich wurde sogar ein mehr als neunfacher Betrag für den Bau der Bahnlinie benötigt55. Als Nicht-Sachse gelangte List zu keinerlei amtlicher Stellung in der Bahnleitung. Er erhielt lediglich eine Belohnung in Höhe von 2000 Talern und dies noch in recht verletzender Form. List wandte sich daraufhin an den preußischen König und bat um die Genehmigung zum Bau einer Eisenbahn von Harnburg nach Berlin und einer Bahn von Magdeburg nach Leipzig. Er gab weiter an, daß er Pläne zum Bau einer Eisenbahn von Frankfurt nach Basel habe. Damit sei das Rückgrat eines Eisenbahnsystems für ganz Deutschland geschaffen. Auch besitzeer-was durchaus nicht stimmte- gute Beziehungen zu Banken, die mit großzügiger Kreditgebung die Bauarbeiten unterstützen würden. Die Verhandlungen schlugen jedoch fehl, da von Leipzig aus ein ungünstiges Urteil über List abgegeben worden war. Außer in Deutschland warb Friedrich List (1831) auch in Frankreich für ein planmäßig aufzubauendes nationales Eisenbahnnetz56 • Er wies darauf hin, daß Frankreich durch die Eisenbahn strategisch gewinnen könne. Paris könne als Kreuzungspunkt aller Linien Mittelpunkt des ganzen Handels des Kontinents werden. Pläne für ein systematisch aufgebautes Eisenbahnnetz auf deutschem Boden in jener Zeit stammen jedoch nicht ausschließlich von Friedrich List. So sind z. B. Entwürfe von dem hannoverschen Bergrat Grote und dem bereits genannten Rheinländer Friedrich Harkort bekannt. In Osterreich wurden derartige Pläne von Franz Xaver RiepL und von Gerstner entworfen, ohne daß sie zunächst genügend Resonanz fanden. Die staatsrechtliche Situation und die ökonomischen Anschauungen waren für derartige systematische Pläne nicht günstig. Der Bau der ersten sächsischen Eisenbahn von Leipzig nach Dresden hatte mit manchen, heute kurios erscheinenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Beim Bau der Eisenbahn klagte beispielsweise ein Wind64 Friedrich List, Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden, Leipzig 1833. 65 Archiv der (ehemaligen) Industrie- und Handelskammer Leipzig. 66 Friedrich List: Idees sur les reformes economiques, commerciales et financieres, applicables a la France (Revue Encyclopedique. Bd. 49, 50, 52), Paris 1831.

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

513

mühlenbesitzer, daß ihm die Eisenbahn den Wind abziehe. Ein anderer Müller verlangte vor Gericht eine Entschädigung, weil die Ackerflur durch den Rauch beschädigt und damit sein Verdienst geschmälert werde. Einige Dörfer erhoben sogar tätlichen Widerstand gegen die Planungs- und Bauarbeiten57 • Infolge geringer Fähigkeit der Eisenbahn, Steigungen zu überwinden, war man sehr bald vor das Problem gestellt, Tunnel zu bauen. An dem ersten Eisenbahntunnel in Deutschland- bei überau für die LeipzigDresdner Eisenbahn58 -der 512 m lang war, wurde drei Jahre bis 1838 gearbeitet. Beschäftigt wurden daran zwischen 380 und 700 Arbeiter. Der Bau eines ersten Eisenbahntunnels galt als "Wagnis", obgleich der Bergbau in der Nähe, nämlich in Freiberg, betrieben wurde. Zehn Jahre nach dem Bau der englischen Schienenbahnen scheute man sich aber in Deutschland an vielen Stellen immer noch vor der Einführung dieses neuen Verkehrsmittels. Vielfach wurde gesagt, daß die Dampfmaschinen viel wirtschaftlicher auf den vorhandenen Straßen fahren könnten und jeweils ein Teil der Straße für Dampfwagen abzugrenzen sei. Eine Denkschrift des späteren deutschen Staatsministers Ludolf Camphausen untersuchte das Problem der Transportkosten auf "Straßendampfwagen und Schienen" 59 • Ebenso wie in anderen Wirtschaftsbereichen waren auf deutschem Gebiet in der Frühzeit der Entwicklung des Eisenbahnwesens zunächst private Unternehmer die Pioniere. Zwar wurde in einigen deutschen Ländern gleich von Anfang an die Idee eines Staatseisenbahnsystems erwogen, der Staat scheute sich jedoch vielfach, das Risiko zu übernehmen. Ihm stand in der ersten Phase angesichts des Geld- und Kreditsystems im ausgehenden Merkantilismus und der Widerwilligkeit der meisten Parlamente, die die Steuern zu genehmigen hatten, zu wenig Kapital zur Verfügung. Die Nürnberg-Fürther Eisenbahn und die Eisenbahn Leipzig-Dresden wurden als Privatbahnen von Privatgesellschaften gebaut. Als Folge des unerwartet hohen Gewinns, den die Unternehmer beim Betrieb der ersten Privatbahnen verzeichnen konnten, wurden nun immer mehr Privatunternehmer zur Übernahme des Risikos des Eisenbahnbaues angeregt. Immer fieberhafter suchten 57 Akten der früheren Reichsbahndirektion Dresden. Vgl. z. B. die Einwendungen der Stadt Beucha. Nicht anders war es bei dem Bau der ersten Linien in anderen Ländern: In Baden wurden die Fuhrhalter damit getröstet, daß die Eisenbahnen nur bei Tag fahren werden. Es gab ja auch· bis 1863 keinerlei künstliche Beleuchtung. Au.f den Hauptrouten werden deshalb Reisegelegenheiten für die Fuhrhalter nachts erforderlich werden. (Albert Kuntzemii.ller: Die badischen Eisenbahnen. 2. Auf!., Karlsruhe 1953, S. 29.) 58 Der überauer Tunnel wurde 1933 "aufgeschnitten". 69 Vgl. L. Camphausen: Zur Eisenbahn von Köln nach Antwerpen. Zwei Denkschriften, Köln 1833 und 1835.

33 Voigt II/1

514

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

die Unternehmer nach Projekten, die eine möglichst hohe Rentabilität des eingesetzten Kapitals versprachen. Auch in Preußen begann die Entwicklung des Eisenbahnwesens zunächst grundsätzlich in der Form eines Privatbahnsystems, denn Preußen war durch das Staatsschuldenedikt von 1819-1821 gebunden. In ihm hatte Friedrich Wilhelm III. die Verpflichtung übernommen, solange keine Staatsanleihen aufzunehmen, als nicht die Zustimmung der Stände gegeben wurde. Da sich der König in der politischen Situation der damaligen Zeit bis zu seinem Tode nicht entschließen konnte, die Volksvertretung einzuberufen, war es auch nicht möglich, daß der Staat in größerem Umfang durch Kreditaufnahmen den Bau von Staatseisenbahnen finanzieren konnte. Daneben waren jedoch auch andere Kräfte maßgeblich an der Verzögerung des Beginns des Eisenbahnbaues in Preußen beteiligt. Einer dieser hemmenden Faktoren war eine Zeit lang der preußische Generalpostmeister Nagler, der sich heftig gegen den Bau von Eisenbahnen sträubte. Er schilderte beispielsweise in einer Sitzung des Staatsrates die Gefahr einer Entwertung des Staatsvermögens, das durch die Eisenbahn entstehen würde. Er wies darauf hin, daß viele der noch verhältnismäßig neuen Postwagen nicht mehr genügend ausgenützt würden, die neuen Pferde verkauft und die Anlagen für die Post an Wert verlieren würden. Auch andere gegnerische Kräfte traten auf: Fuhrunternehmer, verschiedentlich Gastwirte. Diese hemmenden Kräfte in Preußen sind auch dafür verantwortlich, daß der verhältnismäßig früh geplante Bau einer Eisenbahn von Berlin nach Potsdam, dessen Konzessionierung bereits im Jahre 1833 beantragt wurde, erst im Jahre 1837 begonnen werden konnte60 • Aus der geschilderten Datenkonstellation entwickelte sich in Preußen und Sachsen bis etwa 1880 ein typisches Privatbahnensystem, dessen Streckenführung ausschließlich Rentabilitätsgesichtspunkten Rechnung trug. Die Heraushaltung des Staates aus dem Eisenbahnbau stand darüber hinaus durchaus im Einklang mit den herrschenden Lehren des Liberalismus, der durch die englischen Klassiker der Nationalökonomie auch nach Deutschland getragen wurde. Oberflächlich betrachtet scheint dem zu widersprechen, daß es in einigen deutschen Ländern dagegen von Anfang an auch Staatsbahnen61 ao Der erste vergebliche Anstoß zur Errichtung der ersten preußischen Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam kam von Struve und Sirnon Schrop. Sie stellten im Jahre 1833 einen Antrag an die Staatsregierung, eine Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Magdeburg über Potsdam herzustellen. In diesem Antrag baten sie gleichzeitig um unentgeltliche Herausgabe von Staatsgelände für die Trassierung der Eisenbahn. 61 Über die Entwicklung der deutschen Eisenbahnen in der Frühzeit gibt das interessante 6bändige Werk von Freiherr Friedrich Wilhelm von Reden einen ausgezeichneten Überblick (F. W. von Reden, Die Eisenbahnen Deutsch-

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

515

gab. Aber hier lagen meist besondere Verhältnisse vor, die z. T. in der komplexen Situation der deutschen Kleinstaaterei zu finden sind. Erst in der zweiten Phase der Eisenbahnentwicklung- in einigen Ländern ab etwa 1841, in anderen später - als die überraschend große Rentabilität einiger Strecken deutlich geworden war, wurde der "Staatsbahngedanke" bewußt der privatwirtschaftliehen Eisenbahn gegenübergestellt. Die erste Staatseisenbahn auf deutschem Boden wurde 1838 von Braunschweig nach Wolfenbüttel gebaut. Der braunschweigische Staat mag Befürchtungen gehegt haben, bei den verschiedenen zur Diskussion stehenden Eisenbahnprojekten der damaligen Zeit ausgeschaltet zu werden. Er versuchte, sich dagegen 1841 durch einen Staatsvertrag abzusichern. Das junge, 1830 erst entstandene Staatswesen Belgien baute beispielsweise von vornherein Staatsbahnen (1835 erste Strecke Brüssel-Mecheln). Auch die Strecke von München nach Augsburg (1839) wurde von Anfang an auf Staatskosten gebaut62 • Das Großherzogtum Baden folgte 1838 mit dem Bau einer Staatsbahnlinie von Mannheim nach Basel, einem Vorhaben, das besonders lange Zeit in Anspruch nahm. Die Anregung zu dieser Bahn stammte von Friedrich List. Sein Konzessionsgesuch, das er im Jahre 1835 einreichte, wurde jedoch abgelehnt. Erst als im Jahre 1837 das Konkurrenzprojekt einer Bahn zwischen Straßburg und Basel aufkam, wurde der Landtag sofort einberufen, die Arbeiten an der Strecke Mannheim-Heidelberg 1838 in Angriff genommen und 1840 fertiggestellt; aber zur Fertigstellung der Gesamtstrecke brauchte man die ungewöhnlich lange Zeit von 17 Jahren. Die Bahn wurde- auch das war eine Sonderheit dieser Bahn - in einer eigenen Breitspur von 1,60 m gebaut. Das Großherzogturn, eine Schöpfung der napoleonischen Politik, wollte durch die Eisenbahn sein noch nicht geeintes Staatsgebiet zusammenschweißen63 • Die erste Staatseisenbahn in Preußen wurde 1847 von Forbach in Frankreich nach Neunkirchen in Deutschland erbaut. Es handelte sich dabei um die sogenannte Saarbrücker Bahn. Am Ende des Jahres 1847 waren in Preußen bereits 27 Eisenbahnunternehmen mit einem lands. Statistisch-geschichtliche Darstellung ihrer Entstehung, ihres Verhältnisses zu der Staatsgewalt, sowie ihrer Verwaltungs- und Betriebseinrichtungen. Berlin, Posen und Bromberg, Bd. 1, 1843; Bd. 2, 1844; Bd. 3, 1844; Bd. 4, 5, 6, 1845). 62 über die interessante "komplexe" Argumentation vgl. die im Verkehrsmuseum Nürnberg vorhandenen Bau-Akten. 63 Albert Kuntzemüller: Die badischen Eisenbahnen. 2. Auflage Karlsruhe 1953. Karl von Rotteck, der Historiker an der Universität Freiburg erklärte freilich in der Sitzung der II. Kammer vom 31. Juli 1835 im Hinblick auf die Eisenbahnen: "Ein so großer Teil des Staatsgebietes kann nimmermehr in das Privateigentum der Unternehmer gegeben werden." (Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogtums Baden 1835 II. Kammer, 6. Protokollheft, S. 106 f. 33*

516

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Streckennetz von etwa 3200 km konzessioniert. Der Staat unterstützte dabei acht Bahnen mit Zuschüssen. Vergeblich versuchte der Staat, einen Unternehmer für die Ostbahn von Berlin nach Danzig-Königsberg zu finden. Preußen lag daran, in den Ostprovinzen die wachsende Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Verelendung zu beseitigen. Gerade die wirtschaftliche Armut des Zielgebietes der Bahn schreckte andererseits die privaten Unternehmer ab, die fürchteten, daß die Bahn keine genügende Rentabilität erwirtschaften würde. Der Staat mußte deshalb die Strecke selbst bauen. Wie in allen heutigen Industrieländern zeigt der Trend des Wachstums des Eisenbahnnetzes eine logistische Kurve, die in ihrer ersten Phase schnell steigende Zuwachsraten zeigt, dann aber um die Jahrhundertwende dem Sättigungsgrad zustrebt. Der Trend war dabei überlagert von Oszillationsbewegungen, auf die wir unten noch einzugehen haben. In der ersten Phase war die Intensität, mit der am Ausbau des neuen Verkehrsmittels gearbeitet wurde, gemessen an heutigen Leistungen für das Verkehrssystem64 , erstaunlich groß. Im Jahre 1859 wurde beispielsweise das Eisenbahnnetz um fast 1000 km erweitert. Die Art des Ausbaus des Eisenbahnnetzes brachte jedoch viele Schwächen mit sich. Greifen wir einige Beispiele heraus. Im Westen hatten drei Eisenbahngesellschaften, nämlich die Bergisch-Märkische, die Köln-Mindener und die Rheinische Eisenbahngesellschaft den Ausbau des Streckennetzes selbständig unter schärfstem Konkurrenzkampf geführt. Die Eisenbahnlinien, die hierbei entstanden, sind in der Trassierung höchst unzweckmäßig. Beispielsweise wurde die Rheinische Bahn zwischen Düsseldorf und Hagen auf einer Länge von 55 km unmittelbar neben der Bergisch-Märkischen Eisenbahn mit verhältnismäßig hohen Kosten erbaut65 • Die Verkehrslinien der Eisenbahn waren meist auf privatwirtschaftZiehe oder regionale Interessen und billige Trassierungen abgestellt 66 • 64 Ein Vergleich sei hierzu gestattet, obgleich heute die technischen Möglichkeiten des Bauens um das Vielfache erweitert sind: Die Bauleistungen an den Bundesautobahnen betrugen von 1945 bis zum 1. 4. 1955 nur 58,6 km einbahnige Weiterführungen. Zwischen 1. 4. 1955 und dem 31. 12. 1961 wurden 726,1 km zweibahnige und 83,0 km einbahnige Autobahnen neu dem Verkehr übergeben. Gemessen an diesen Neubauten ist die damalige Bauleistung der Eisenbahnen in einem einzigen Jahr, nicht zuletzt im Hinblick auf die viel primitiveren damaligen Arbeitsmethoden, beachtlich hoch. Vgl. hierzu Wilhelm Logemann: Vor hundert Jahren {1861). Ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die 1861 neu eröffneten Eisenbahnstrecken, in: "Die Bundesbahn", 1961, Heft 16, S. 3 ff. 65 1850-1950, 100 Jahre Eisenbahndirektion Wuppertal, S.18. 66 Das Verkehrsmuseum Nürnberg sowie eine Reihe von Staatsarchiven {z. B. Bamberg) enthalten gerade hierüber viel aufschlußreiches Material. Baugeschichte, Streckenbeschreibung, Fahrleistungen, Ausgaben und Einnahmen aller deutschen Eisenbahnen werden weiterhin beschrieben in der schon erwähnten Schrift: Friedrich Wilhelm v. Reden: Die Eisenbahnen

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

517

Nennen wir aus der reichen Fülle nur einige Beispiele für diesen Partikularismus im Eisenbahnbau: Mühselig hält sich die Strecke von Berlin nach dem Ruhrgebiet über Magdeburg-Schöningen-BörssumSeesen in den Grenzen des viel zu engen braunschweigischen Staatsgebietes, um nicht das feindliche hannoversche Gebiet berühren zu müssen, obgleich die Streckenführung dort 67 viel günstiger möglich gewesen wäre. Die Strecke Heidelberg-Würzburg, die als große Durchgangslinie geplant wurde und deren erstes Teilstück Heidelberg bis Moosbach im Jahre 1862 eröffnet wurde, wurde nicht auf der von der Natur vorgezeichneten kürzesten Entfernung den Neckar aufwärts geführt, sondern biegt in Neckargemünd in das Elsenz-Tal ab, obgleich der Weg den Neckar entlang nicht nur kürzer gewesen wäre, sondern auch weniger Schwierigkeiten bereitet hätte. Sie mußte sich mit 130m verlorener Steigung und durch zwei Tunnel über Meckesheim durch Waidstadt nach Neckarelz quälen. Der Grund für diese Streckenführung lag darin, daß das hessische Ausland "im Neckartal umgangen werden sollte68." Bayern hatte die Linie über Eberbach-AmorbachMiltenberg-Wertheim .gewünscht. Baden erzwang die viel ungünstigere Streckenführung über Moosbach-Osterburger-Lauda. Heute noch zeigen sich in vielen Linienführungen des deutschen Eisenbahnnetzes Launen des seinerzeitigen territorialen Aufbaues Deutschlands, bei:::;pielsweise in der Streckenführung der Linie zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet Lübeck mußte lange auf eine Eisenbahnverbindung nach Harnburg verzichten, da Dänemark die Linie nach Harnburg aus Furcht vor einer Konkurrenz für dänische Häfen nicht genehmigte. Auch Mecklenburg stemmte sich gegen eine Eisenbahnverbindung von Lübeck nach Schwerin, damit wiederum seinen Häfen keine Konkurrenz entstehe. Einer Abneigung des Landesfürsten von Hannover gegen die qualmenden Ungetüme war es zuzuschreiben, daß die die Stadt anstrebenden Linien nach Wunstorf und Lehrte geführt wurden, nicht aber direkt nach Hannover. Geplant war 1840 eine Strecke der Berlin-Potsdamer-Eisenbahn-Gesellschaft von Berlin über Brandenburg- Genthin.;._Tangermünde- Stendal- Salzleben- Lüneburg nach Bergedorf mit einer Zweigbahn von Genthin nach Magdeburg. In Bergedorf sollte die damals schon gebaute Strecke Harnburg bis Bergedorf erreicht werden. Eine andere Gesellschaft von Berliner und Deutschlands. Statistisch-geschichtliche Darstellung ihrer Entstehung, ihres Verhältnisses zu der Staatsgewalt, sowie ihrer Verwaltungs- und Betriebseinrichtungen, 6 Bde., Berlin, Posen und Bromberg 1843 ff. 67 Einheck und Detmold blieben abseits der Linie liegen und verloren ihre beherrschende wirtschaftliche Bedeutung in ihren Räumen. es Vgl. W. Logemann: Vor 100 Jahren (1862). Ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die 1862 neu eröffneten Eisenbahnstrecken. In: Die Bundesbahn, 1962, S. 3 ff.; Albert Kuntzemülter: Die badischen Eisenbahnen, 2. Auflage, Karlsruhe 1953, S. 55.

518

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Hamburger Bankiers forderte zu einer Zeichnung von Aktienkapital für eine Bahn auf, die von Harnburg auf dem rechten Elbufer über Wittenberge geführt werden sollte. Mecklenburg verlangte, daß die Bahn Schwerin, Ludwigslust und Wittenberge einbeziehen sollte. Es begnügte sich dann damit, nach Schwerin eine Abzweigung bauen zu lassen, verlangte aber, daß die Bahn die Strecke über die neue Residenz Ludwigslust und Hagenow nehme. Nennen wir noch ein Beispiel für die Art der Investitionen im Verkehrswesen in der Frühzeit der Entwicklung der Eisenbahnen. 1843 beschloß der Bayerische Landtag den Bau der Süd-Nord-Bahn. Hierbei spielte nicht etwa die optimale Streckenführung im Interesse einer späteren zweckmäßigen Weiterentwicklung des Verkehrsnetzes in Bayern eine Rolle. Vorzugsweise entstand diese Strecke als Produkt des Kleinstaatgeistes. Bayern wollte der Leipzig-Kassel-Frankfurter Eisenbahnstrecke eine Konkurrenzbahn entgegenstellen, um den Güterverkehr zwischen Frankfurt und Leipzig nebst demjenigen von Berlin und Prag an sich zu ziehen. Auch die Kopfbahnhöfe sind heute noch ein lästiges Überbleibsel der damaligen Konzessions-Praxis, in denen Eisenbahnen zwischen Stadt und Stadt gebaut wurden, aber die weiträumige Netzgestaltung vernachlässigt wurde. Viele Linien wurden von Privatunternehmen aber auch vom Staat in Konkurrenz gebaut. So ist die württembergische Linie Ulm-Friedrichshafen eine Konkurrenzstrecke zur bayerischen Linie Augsburg-Lindau. Beide Staaten wollten den Zugang zum Bodensee, um die erwarteten Verkehrsströme für sich zu sichern. Eine von der kürzesten Verbindung zwischen zwei Orten abweichende Trassierung der Eisenbahn war auch aus dem Grunde sehr beliebt, weil möglichst viele zwischen den Endpunkten der Linien liegende Orte berührt werden sollten. Sogar Friedrich List war noch für eine derartige Trassierung in Zick-Zack-Linien8g. Die Schaffung des Kreuzungspunktes Mühlacker ist ähnlich zu bewerten. Mühlacker war ein unbedeutender Weiler. In dem partikularistischen Spannungsfeld zwischen Württemberg und Baden wurde nicht Pforzheim, sondern ein ziemlich willkürlich gewählter Flecken Kreuzungspunkt Das Rathaus Dürrmenz, auf dessen Gemarkung der neue Bahnhof lag, weigerte sich, ihm den Namen Dürrmenz zu geben. So wurde der unbedeutende Weiler Mühlacker zum Namensgeber. Die Einwohnerzahl der Gesamtgemeinde Dürrmenz betrug 1853 2341 Einwohner. Bis 1870 gehörte zu Mühlacker davon ein Drittel. Bis 1930 kannte 69 Vgl. W. Rascher, Nationalökonomik des Handels und Gewerbfieißes, 3. Aufl., Stuttgart 1884, S. 460.

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

519

die württembergische Staatsverwaltung nur die politische Gemeinde Dürrmenz, nicht Mühlacker. Inzwischen hat sich der Industrialisierungsprozeß gerade an diesem Knotenpunkt durchgesetzt. Als Beispiel heute unverständlicher Anteludialeffekte infolge partikularistischer Interessen der beteiligten Staaten können die ständigen Streitigkeiten zwischen Baden und Württemberg dienen. Die Zahl der blind endenden Stichbahnen betrug in Baden 31, in Württemberg 41. Ein anderes Beispiel: 1835 schlug eine englische Gesellschaft eine direkte Strecke Hamburg-Braunschweig vor. Aus politischen Gründen kam sie damals nicht zustande. Ein drittes Motiv, das für die Wahl der Streckenführung der Eisenbahn an einigen Stellen eine große Rolle spielte, war der Wettbewerb mit den Wasserstraßen. So wurde die Strecke Passau-Linz mit großen Umwegen weit von der Donau entfernt geführt. Die Planer der Eisenbahnen wagten hier nicht den Wettbewerb mit dem seit einem Jahrtausend leistungsfähigen Verkehrsweg der Binnenwasserstraße. Das gleiche gilt beispielsweise für die Strecke der damaligen hannoverschen Staatsbahnen von Bremen nach Geestemünde. Aus Wettbewerbsgründen wurde eine Trasse gewählt, die bei. Burglesum einen großen Umweg nach Osten nimmt, statt den direkten Weg am Fluß entlang zu wählen. So kommt es, daß die Orte Vegesack, Blumenthai und Farge nur mit Stichbahnen angeschlossen wurden und in der Entwicklung auffällig zurückblieben70 • Sehr spät erst wurden die Eisenbahnen eines Landes an das Netz anderer Länder angeschlossen, nämlich das deutsche Netz an Österreich ausgerechnet bei Oderberg, also ganz im Osten, 1848, an Holland bei Emmerich 1856, an Frankreich bei Forbach 1852, an die Schweiz bei Basel 1858, an Rußland bei Eydtkuhnen 186F1 • Die Eisenbahnnetze wuchsen dementsprechend in wohl allen Ländern nicht planmäßig, sondern in zufälligen staatlichen Grenzen, weitgehend voneinander isoliert, entsprechend den Wachstumsgesetzen, die wir in Band 1, Kp. 5 analysiert haben, zudem belastet mit einer Fülle von Anteludialeffekten; nicht nur beim Eisenbahnbau durch private Unternehmungen, sondern sogar dort, wo der Staat die Weiterentwicklung selbst unternahm. Zunächst wurde diejenige Strecke herausgesucht, die die größte Rentabilität versprach, Umwege wurden in Kauf genommen, um abseits liegende Orte zur Verkehrssteigerung noch mitzunehmen72 • Damit war in einer gewissen 1o Vgl. auch: hierzu Wilhelm Logemann: Vor hundert Jahren (1862). Ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die 1862 neu eröffneten Eisenbahnstrecken. In: Die Bundesbahn, 1962, S. 4. 71 A. Sartorius von Waltershausen: Die Entstehung der Weltwirtschaft, Jena 1931, S. 232 f. 12 Als Beispiele: Hannover-Lehrte-Uelzen-Lüneburg: Umweg 54 km; Leipzig-Altenburg-Crimmitzschau-Werdau-Neumark-Reichenbach -Plauen-Mehlteuer-Schöneberg-Hof: Umweg 48 km.

520

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Flächenbreite der Anreiz zum Bau einer weiteren Strecke verbraucht. Dennoch sich ergebende Verkehrsnotwendigkeiten wurden durch Nebenbahnen und Stichbahnen bedient. Um billig zu bauen, vermied man vielfach in der Anlage teuere Streckenführungen, vor allem Privatbahnen mußten Grundstücken ausweichen, die "hohen Herren" gehörten. Damalige Staatsgrenzen machen sich heute noch in der Streckenführung bemerkbar73 . Da die alten Straßen mit ihrer Gestaltungskraft die reichsten Städte- oft durchaus nicht völlig im Einklang mit der Grundstruktur der Volkswirtschaft- hatten entwickeln lassen, klammerten sich die Eisenbahnbauer oft an die überkommenen Wege 74 . Trotzdem wurde durch die Art des Entstehens der Netze, weil man schon durch die zuerst errichteten Strecken möglichst viele Städte in die Linienführung einbeziehen wollte, die Verbindung weit entfernt liegender Orte mit viel mehr Umwegen verbunden, als die Straßen aufweisen- und dies nicht allein aus Gründen ungünstiger Geländeverhältnisse. Auch zu hohe Grundstückspreise verhinderten manche erwünschten Streckenführungen. So endeten viele Bahnen vor dem eigentlichen Stadtkern75. d) D i e w e i t e r e E n t f a l t u n g d e r E i s e n b a h n e n in Deutschland bis zum 1. Weltkrieg Gleichzeitig mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie entwickelte sich wie in anderen europäischen Ländern auch in Deutschland eine spezielle Eisenbahngesetzgebung. So erließ Bayern 1836 die "Fundamental-Bestimmungen" für die Errichtung von Eisenbahnen, Sachsen das Dekret über das Eisenbahnwesen 1842. Das preußische Eisenbahngesetz vom 3. 11. 1838, wie die anderen Gesetze noch in der Periode des auslaufenden Merkantilismus erlassen, bestimmte fast ein Jahrhundert lang das Verhältnis zwischen Staat und Privatbahnen. Wenngleich die Privatwirtschaft Pionier des Eisenbahnwesens war, verzichtete der Staat jedoch nicht auf die vielfach merkantilistischen, staatlichen Reglementierungen und Bürgschaften. Dieses preußische Eisenbahngesetz veränderte im Gegensatz zu den Eisenbahngesetzen anderer Staaten, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Postregal, die Annahme- und Beförde73 Beachte z. B. den übergang von Bayern nach Württemberg. 74 Man vergleiche beispielsweise die Straßenkarte der wichtigsten Straßen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Die Frühentwicklung der Eisenbahnen knüpfte ganz auffällig an die volkswirtschaftliche Gestaltungskraft dieses Systems an, da sich hier jeweils di,e größte Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ergab. 75 Vgl. die Umwege der Strecke Berlin-Leipzig-Hof innerhalb des Stadtgebiets von Leipzig (Schwierigkeit der Strecke Leipzig Hbf.-Leipzig Bayr. Bhf.; ähnlich München-München-Ost).

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

521

rungspflicht ohne Unterschied der Interessenten (vgl. § 32, Abs. 2 und § 26, Abs. 2 dieses Gesetzes). Schwierig erschien der Ausgleich mit den zum Teil noch nicht lange vorher mit Hindernissen aufgebauten Staatsposten. Ursprünglich mußten die Verkehrsleistungen der Eisenbahnen der Post für ihre Aufgaben unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden 76 . Für lange Zeit bildete später das Eisenbahn-Post-Gesetz vom 20. Dezember 1875 die Grundlage für die Beziehungen der Deutschen Reichspost zu den Eisenbahnen77. Die Eisenbahnen wurden nach diesem Gesetz grundsätzlich verpflichtet, mit jedem für den regelmäßigen Beförderungsdienst bestimmten Zuge auf Verlangen der Post einen oder mehrere Postwagen zu befördern oder auch eine Abteilung eines Eisenbahnwagens zur Verfügung zu stellen78 . Die Gestaltung der Beförderungstarife wurde in den ersten drei Jahren den Verwaltungen überlassen, jedoch enthält das preußische Gesetz von 1838 bereits eine Anzeigepflicht für die Tarife. Mit dem Bau der ersten Eisenbahn auf der Spurweite von 1435 mm 79 wurde eine andere Anteludialbindung geschaffen, die sich entscheidend auf die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen zur Durchführung von Massentransporten bis auf den heutigen Tag ausgewirkt hat. Glücklicherweise gelang es in Deutschland in der Frühzeit, einheitliche Normen für die Eisenbahn festzulegen 80 und einheitliche Vereinbarungen über entscheidende Entwicklungslinien zu treffen. 1847 wurde der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen gegründet, der aus dem 1846 entstandenen Verband der Preußischen Eisenbahnen hervorging. Es ist bezeichnend, daß schon ein Jahrzehnt nach dem Entstehen der ersten Eisenbahnen die Tendenz zur Vereinheitlichung sehr deutlich war. Dieser Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen erstrebte den Austausch von Betriebserfahrungen. Ihm ist die Vereinheitlichung der Gleisspur zu verdanken. Er vereinheitlichte ferner die Brücken- und Tunnelprofile. 76 Auch beispielsweise das schweizerisch·e Bundesgesetz über den Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiet der Eidgenossenschaft vom 28. Juli 1852 verlangte mit der Konzession der Eisenbahn die unentgeltliche Beförderung der Brief- und Fahrpost. 77 Für Privat- und Kleinbahnen: Gesetz betr. die Verpflichtungen der Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung für die Zwecke des Postdienstes vom 28. Mai 1879. 78 Die Unentgeltlichkeit der Beförderungsleistung der Deutschen Reichsbahn wurde als Auswirkung der alliierten Pläne für die Heranziehung der deutschen Eisenbahnen zu den Reparationsleistungen für den Ersten Weltkrieg aufgehoben (Reichsbahngesetz vom 30. 8. 1924). Seitdem war die Deutsche Reichspost verpflichtet, die Leistungen der Reichsbahn nach den im Geschäftsverkehr üblichen Sätzen angemessen zu vergüten. 79 Vgl. die Eigenart der Festlegung dieser Spur in England. Nach Deutschland kam diese Spur, da die ersten EisenbahngeselisclJ.aften englische Maschinen erwarben. 80 Über die Besonderheit der Staatsbahn Heidelberg-Basel vgl. S. 515.

522

§

2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Dennoch muß man bedenken, daß die Festlegungen eine Anteludialbindung darstellen, die die Entwicklungsfähigkeit der Eisenbahnen und auch die spätere Wettbewerbsfähigkeit beeinflußten. 1871 wurde ein Reichshaftpflichtgesetz für Personenschäden und ein einheitliches Betriebs- und Bahnpolizeireglement für die deutschen Eisenbahnen erlassen. Ein Reichseisenbahnamt wurde 1873 als Aufsichtsbehörde gegründet. 1875 folgte der Erlaß einer einheitlichen Signalordnung. Relativ frühzeitig setzten auch in Deutschland Verstaatlichungstendenzen ein. Diese Bestrebungen erwuchsen in Deutschland wie in anderen Ländern einmal als Reaktion gegen Machtpositionen, die durch die überaus große volkswirtschaftliche Gestaltungskraft des neuen dominierenden Verkehrsmittels im Verkehrssystem entstanden, zum anderen aus dem ökonomischen Anreiz, sinkende Grenzkosten besser ausnutzen zu können, oder- was auf gleicher Ebene liegt- aus verwaltungstechnischen Notwendigkeiten. So wurden in Deutschland schon früh Tendenzen erkennbar, die Eisenbahnen innerhalb des gesamten Staatsgebietes organisatorisch zusammenzufassen. 1871 bestimmte die damalige Reichsverfassung, die deutschen Eisenbahnen sollten wie ein einheitliches Netz verwaltet werden. 1877 kam eine Tarifreform zustande, die die formelle Einheit im Tarifschema auf den deutschen Bahnen schuf. 1886 wurde der deutsche Eisenbahnverkehrsverband geschaffen. Aber schon 1875/76 hatte Bismarck eine einheitliche Reichseisenbahn geplant. Die preußische Regierung ließ sich durch ein Gesetz ermächtigen, die damaligen preußischen Staatsbahnen auf das Reich zu übertragen. Jedoch waren es noch verhältnismäßig wenig Bahnen, die hierfür in Aussicht genommen waren. Dennoch stieß dieser Plan damals auf gewaltigen Widerstand der föderativen Kräfte dieses eben erst mühselig vereinten Bundesstaates. Bayern behauptete, daß bei Durchführung dieses Planes seine bei der Reichsgründung zugesicherten Reservatsrechte verletzt würden. Aber auch Sachsen und Württemberg bekämpften den Plan erbittert. Sogar private Industrieunternehmen wandten sich ihrerseits -gleichzeitig beunruhigt durch die aufkommenden marxistischen Ideen - sehr heftig gegen derartige Pläne, da sie eine Verstärkung der Verstaatlichungswelle fürchteten 81 • st Die Ansicht der liberalen Nationalökonomen äußerte sich in den Beschlüssen des "Volkswirtschaftlichen Kongresses liberaler Theoretiker von 1876", der sich gegen die Verstaatlichung der Eisenbahn mit folgenden Argumenten wandte: Der Ausbau des Bahnnetzes müßte durch Verdrängung des Privatkapitals leiden. Die Konjunkturen des Weltmarktes könnten dann im Interesse des Verkehrs keine Berücksichtigung finden. Die Finanzen des Reiches würden gefährdet (A. Sartorius von Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914, 2. Aufl., Jena 1923, S. 298).

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

523

Als Reaktion auf den Plan Bismarcks- "um diesen Plänen ein für allemal ein Ende zu bereiten" - verstaatlichte 1875 Bayern 770 km der bayerischen Ostbahn und 1876 Sachsen seinerseits die Eisenbahnlinie Dresden-Leipzig. Der Plan Bismarcks, die wichtigeren Linien in Besitz des Reiches zu bringen, scheiterte damit. Nunmehr wurde die Verstaatlichung der Privatbahnen auch durch andere Einzelstaaten des Deutschen Reiches mit großer Energie in Angriff genommen. Von 1878 an verstaatlichte Preußen, das noch im Jahre 1866 zum Zwecke der Kriegsfinanzierung Eisenbahnaktien aus Staatsbesitz verkaufte, systematisch die Privatbahnen. Zwischen 1876 und 1912 wurden in Preußen hiervon 57 private Eisenbahngesellschaften mit einer Streckenlänge von etwa 10 800 km erfaßt. 1885 sind die Hauptlinien in staatlicher Hand. Von etwa 1887 an kann man von einem geschlossenen preußischen staatlichen Eisenbahnnetz sprechen. Bayern verstaatlichte 1909 die Pfalzbahn (825 km Streckenlänge) 82 , 1890 Mecklenburg-Schwerin seine Bahnen, 1896 Hessen seine Ludwigsbahn. Die Staatsbahnen arbeiteten zwar auf vielen Gebieten der Technik und der Verwaltung zusammen. Dennoch herrschte zwischen ihnen lebhafte Konkurrenz. Lange tobte ein Eisenbahnkrieg zwischen Preußen und Sachsen. Die Strecke über Halle wurde besser bedient und schneller gefahren als die gleiche Verbindung über Leipzig nach dem Süden. Auch in der Tarifpolitik war der Wettbewerb oft rücksichtslos. Nachdem die Pläne zur Herstellung eines einheitlichen großen deutschen Netzes gescheitert waren und die einzelstaatlichen Eisenbahnen durch die vielfachen staatlichen Grenzen gehindert wurden, versuchte Preußen, sein Netz zu erweitern. 1896 wurde die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschaft gegründet. 1901 trat die Main-Neckar-Bahn dieser Gemeinschaft bei (Frankfurt-Mannheim-Heidelberg). Damit waren also die gleichen Staaten, die seinerzeit den Zollverein schufen, wiederum Ausgangspunkt einer einheitlichen Staatsbahn über die Grenzen einzelner Länder hinweg. Die durch die Eisenbahn bewirkte Expansion der Wirtschaftsräume strahlte immer wieder auf die Entwicklung der Eisenbahn zurück. Sie wurde dadurch gezwungen, sich in ihrer technischen Ausrichtung mit den Nachbarlinien abzustimmen, um den reibungslosen Übergang der Transporte und Wagen zu ermöglichen. Im Jahre 1909, als es in Deutschland noch sieben eigenständige Staatsbahnnetze gab, wurde unter der Beteiligung sämtlicher deutscher Hauptbahnen die sog. Güterwagengemeinschaft (Deutscher Staatsbahnwagenverband) geschaffen. Betrachten wir nunmehr die privatwirtschaftliche Rentabilität der Eisenbahnen. Studiert man von der Perspektive einer 130jährigen Ents2 Vgl. C. Maiholzer, Die Rentabilität der bayerischen Staatseisenbahnen, Leipzig 1911, S. 3.

524

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

wicklung die ausgewiesenen Ergebnisse83 kritisch, so wird gerade bei der Entfaltung der Eisenbahnen deutlich, wie wenig privatwirtschaftlicher Gewinn und Verlust über die volkswirtschaftliche Bedeutung einer Investition im Verkehrswesen auszusagen vermögen. Nicht jene Eisenbahnen haben die wichtigsten industriellen Wachstumsprozesse und die größte Steigerung des Sozialprodukts je Kopf der (ursprünglich vor Einführung der Eisenbahnen) ansässigen Bevölkerung ausgelöst, die den höchsten privatwirtschaftliehen Gewinn erbrachten. Vielfach waren Eisenbahnen, die jahrelang mit Verlust arbeiteten, für die Entwicklungsfähigkeit eines Raumes viel wichtiger. Diese Frage enthält einen wichtigen theoretischen Hintergrund, den wir schon im 1. Teil zu analysieren suchten. Privatwirtschaftlich errechneter Gewinn und Verlust vermögen in einer Marktwirtschaft nur dann als Maßstab der volkswirtschaftlichen Leistung einer Investition zu dienen, wenn die unmittelbaren und mittelbaren Folgeprozesse dieser Investitionen sich in Leistungen niederschlagen, die am Markt zu Gunsten oder zu Lasten des Investors bewertet und gehandelt werden. Die wichtigsten Folgen einer Verbesserung des Verkehrssystems schlagen sich aber in Größen und Veränderungen außerhalb marktmäßiger Bewertung nieder, und sie befruchten zu einem großen Teil andere Wirtschaftsobjekte, die beispielsweise infolge einer neuen Vorzugsposition an der Eisenbahn zusätzliche Gewinnchancen erhalten. Nur ein oft verschwindend kleiner Teil dieses Einkommens- und Vermögenswachstums schlägt sich- über Transportkosten-in der Gewinn- und Verlustrechnung der neuen Bahn nieder. Ja man muß sogar sagen: je niedriger die Tarife waren, je höher also u. U. der Verlust wurde, um so größer wurde ceteris paribus - die Gewinn- und weitere Entwicklungschance der Unternehmen, die hiervon profitierten. Entscheidend in der hier gezeigten Problematik ist ja die Tatsache, daß in einer Privatwirtschaft um so eher investiert wird, je größer die Gewinnerwartungen sind. Die große volkswirtschaftliche Wirkung der Eisenbahnbauten lag darin, daß sie immer neue derartige Vorzugspositionen entstehen ließ, die zu Investitionen anreizten. Die Investitionen mit ihren Einkommens- und Kapazitätseffekten schafften in den eigenartigen, an das Verkehrsnetz geklammerten Vorzugspositionen immer weitere zusätzliche Impulse für Investitionen und damit für eine Erhöhung des Sozialprodukts je Kopf der Bevölkerung. sa Verwendet wurden Angaben, die in den reichhaltigen Archiven des Verkehrsmuseums Nürnberg gesammelt sind. Leider können die Ergebnisse monatelanger Archivstudien einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Verfassers hier nicht im einzelnen belegt werden, da dies den Rahmen des Buches sprengen würde. An weitere Bearbeitung und Veröffentlichung ist aber gedacht.

2. Der Beginn des Eisenbal10baus in Deutschland

525

Diese weitreichenden Folgeerscheinungen sind das Entscheidende des marktwirtschaftliehen Wachstumsprozesses, nicht die demgegenüber verhältnismäßig nebensächliche Bewertung der eigentlichen Transportleistung in Aufwand und Ertrag. Dort, wo es einer Eisenbahn gelang, in einem weiten Raum ein Monopol zu erhalten, waren die Gewinne meist höher als in anderen Räumen, in denen allmählich ein ganzes System von Eisenbahnen gebaut worden war. Der volkswirtschaftliche Effekt war im letzten Fall aber in der Regel erheblich größer, auch wenn die Eisenbahnen sich kaum rentierten. Es gab sogar Fälle, in denen sich eine Eisenbahn "gesundschrumpfte", indem sie unrentable Strecken stillegte oder geplante Strecken nicht baute, damit aber den gesamten Raum zur Stagnation verurteilte. Marktwirtschaftliche Maßstäbe haben eben nur dann Aussagekraft, wenn die Folgeeffekte einer Investition insgesamt- bewertet in Vermögensgewinn oder Verlust- für den Investor über den Markt laufen. Das heißt also: Da nur ein kleiner Teil der volkswirtschaftlich wichtigen Folgen des Betriebs der Eisenbahnen sich als Gewinn oder Verlust der Eisenbahnen selbst niederschlagen, die entscheidenden, für Entwicklungsprozesse relevanten Auswirkungen aber die Unternehmen und die Bevölkerung des anschließenden Raumes treffen, können Gewinn und Verlust der EisenbahnkeinMaßstab dafür sein, ob die betreffende Eisenbahn wichtig ist oder zweckmäßigerweise eingestellt wird. Übrigens haben die Eisenbahnen sich nie völlig rein marktwirtschaftlieh verhalten können. Die Tarifbeeinflussung durch den Staat, hohe Konzessionsabgaben und ein ganzes Bündel von Eingriffsmöglichkeiten seitens hoheitlicher Gewalt verzerrten das Bild. Entwicklung der Einnahmen der deutschen Eisenbahnen (in Mill. Talern)a)

Jahr 1840 1850 1869

Personenverkehr 1,2 8,8 68,3

Güterfracht 0,6 8,2 173,1

a) Quelle: Berechnungen des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen.

Die Staatseisenbahnen brachten in Preußen 1869 einen Überschuß der Einnahmen über die Betriebsausgaben von 17 291 Mill. Talern. Das bedeutete eine Verzinsung des Anlagekapitals mit 7,2 vH. In Bayern betrug im gleichen Jahr die Verzinsung nur 3,57 vH 84 • 84 C. Maiholzer: Die Rentabilität der bayerischen Staatseisenbahnen, Leipzig 1911.

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

526

Rente der Eisenbahnen (in vH des Anlagekapitals)a) Jahr

Preußen

Baden

Bayern

Sachsen

Württemberg

1883 1900 1910

4,86 7,14 6,34

3,38 3,41 3,60

3,86 3,41 4,85

5,06 3,71 4,63

3,09 2,91 3,50

a) Que!te: Walter Linden, Eisenbahn und Konjunktur. Diss. Freiburg 1926, S. 96.

Verkehrseinnahmen der Eisenbahnen der Länder Preußen, Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg (in Millionen Mark)a) Jahr

Personenverkehr Mill. M.

Einnahmen aus dem Güterverkehr Mill. M.

Gesamtüberschußb) Mill. M.

1883 1890 1900 1910 1913

197,0 314,3 518,2 810,0 947,4

502,9 786,2 1 184,9 1820,8 2 114,8

319,7 445,3 694,4 932,8 1 025,9

a) Que!te: Walter Linden: Eisenbahn und Konjunktur. (Diss.) Freiburg 1926, S. 85 ff. b) Der Gesamtüberschuß bildet sich aus der Summe der Einnahmen aus dem Personenverkehr, dem Güterverkehr und sonstigen Einnahmen abzUglieh der Gesamtausgaben.

Die Staatsbahnen lieferten vor dem 1. Weltkrieg auffällig hohe Beträge an den Staatshaushalt ab. Diese Abgaben stellten vielfach sogar das Rückgrat der Finanzen dar; in der liberalen Zeit mit ihren zahlreichen Schwierigkeiten waren sie für die staatliche Finanzbeschaffung zumindest eine gesicherte Einnahmequelle. Geleistete Personen- und Tonnenkilometer der Eisenbahnen in Preußen, Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg (in Milliarden) Jahr 1885 1890 1900 1910 1913a)

Personenkilometer absolut

I Zunahme

6,9 9,9 18,3 33,1 38,4

3,0 8,4 14,8 5,3

-

Tonnenkilometer

Zunahme in vH

I

-

43,5 84,7 80,9 16,0

absolut 14,1 20,0 31,4 48,2 63,0

Zunahme I z~~a~.;-e -

5,9 11,4 16,8 14,8

a) (Zu beachten ist die geringere Zeitdifferenz zum Beziehungsjahr.) Que!te: Walter Linden: Eisenbahn und Konjunktur. (Diss.) Freiburg 1926,

-

41,8 57,0 53,5 30,7

s. 94.

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland

527

Das Prinzip des Privat-Eisenbahnhaus zeigte damals schon recht negative Auswirkungen für das Entstehen eines einheitlichen Netzes von Eisenbahnen in Deutschland. Im Westen war zwar an manchen Stellen ein sehr dichtes Netz entstanden, da hier von der Privatwirtschaft große Gewinne erwartet wurden. Eine Fülle von Bahnen war im Wettbewerb miteinander gebaut worden. Im Vergleich dazu wies das Eisenbahnnetz im Osten erhebliche Lücken auf. Eine Reihe von Bahnen im Osten konnte schließlich überhaupt nur errichtet werden, indem der Staat den Bau übernahm. An dieser Stelle sei noch einmal auf den Bau der deutschen Ostbahn von Berlin nach Königsberg durch den preußischen Staat hingewiesen. Charakteristisch für das Privateisenbahnwesen ist die Auswahl günstiger Strecken ohne Berücksichtigung verkehrsarmer Gebiete. Ein derartiges Vorgehen bedeutet die weitere Begünstigung zuvor wirtschaftlich schon entwickelter Gebiete und eine Entleerung zurückgebliebener Regionen. Fügen wir an dieser Stelle noch einige Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen an. Ein Wort sei zur Geschichte der Eisenbahnkursbücher gesagt, da ja die Berechenbarkeit eine wichtige Dimension der Verkehrswertigkeit ist. Der Fürstlich Thurn- und Taxis'sche Oberpostamtssekretär Hendschel schuf 1845 ein Handbuch der Abgangs- und Ankunftszeiten von Postchaisen und Eisenbahnzügen für mehr als 500 Orte nebst Angaben der Entfernungen und Fahrpreise. Ab 1847 erschien das Kursbuch in großem Format als "Telegraph für Post-, Eisenbahn- und Dampfschiffsverbindungen in Deutschland und den angrenzenden Ländern". 1850 erhielt das Kursbuch amtlichen Charakter und muß als erstes Reichskursbuch angesehen werden. Dort waren die Fahrpläne von 200 Eisenbahnlinien mehrerer europäischer Länder aufgeführt. Der offizielle Titel eines Reichskursbuches entstand aber erst 1878. Der erste Schnellzug verkehrte seit 1. Mai 1851 zwischen Berlin und Köln. Er benötigte für die Strecke 16 Stunden. Seine Reisegeschwindigkeit betrug 40 km/h gegenüber 30 km/h der gewöhnlichen Züge. 1852 wurde noch ein Kurierzug eingeführt, der 11/2 Stunden weniger brauchte. Nach der Betriebsordnung für die Haupteisenbahnen Deutschlands vom 5. Juli 1892 durften Personenzüge ohne durchgehende Bremse höchstens 60 km/h, mit durchgehender Bremse 80 km/h, bei besonders günstigen Umständen bis 96 km/h gefahren werden. Für Güterzüge waren 45 km/h bis 60 krnlh als Höchstgeschwindigkeit festgelegt. Im regelmäßigen Verkehr erreichte die höchste fahrplanmäßige Geschwindigkeit der Schnellzug zwischen Wittenberge und Harnburg mit 86 km/h. Im Gegensatz zu Deutschland hatte England keine die Lokomotivführung bindende Höchstgeschwindigkeit. Die englischen Lokomotivführer konnten nach eigenem Ermessen Geschwindigkeiten bis zu 120 km/h fahren. Für die 684 km lange Strecke London-Sheffield-Glasgow mit 5 Zwi-

528

§ 2: Die Entwicklung der Eisenbahn in England und Deutschland

Sehenaufenthalten konnte ein Schnellzug 74 km/h Reisegeschwindigkeit entwickeln. Auch die Strecke Paris-Orleans wurde durchweg mit 80 km/h Reisegeschwindigkeit befahren. Die Eisenbahnen traten also schon ziemlich vollkommen in geschichtliche Wirksamkeit. Die Geschwindigkeit des Reiseverkehrs änderte sich bis nach dem 2. Weltkrieg - also für fast ein Jahrhundert --'- nur verhältnismäßig wenig. Auf der Strecke Marienfelde-Zossen fuhr 1903 ein elektrischer Triebwagen bei einer Probefahrt mit einer Geschwindigkeit von 210 km/h. Aber diese Versuche führten- ähnlich wie dies oben bei der Entwicklung der englischen Eisenbahnen angedeutet wurde- während mehr als einem halben Jahrhundert zu keinen entscheidenden Verbesserungen der Geschwindigkeiten der planmäßigen Züge. Im Verlauf der Jahrzehnte bis zum 1. Weltkrieg wurde vorzugsweise eine Verringerung der Aufenthaltsdauer an den Zwischenstationen angestrebt und erreicht85 , ein längerer Stationsabstand der Schnellzüge und eine systematische Abkürzung der Wartezeiten für Anschlüsse. Die hierbei u. a. erreichte Verkürzung der Haltezeiten der Eisenbahn führte 1880 zur Einrichtung des Speisewagens 86 • Die erste Schlafwagenverbindung im Deutschen Reich wurde 1873 zwischen Berlin und Ostende eingerichtet. 1883 kam es zu einer Verbindung von Schlaf- und Speisewagen im ersten internationalen Luxuszug mit dem Namen Orient-Expreß. Auf der nachfolgenden Tabelle ist die Entwicklung des deutschen Eisenbahnnetzes ersichtlich. Für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg ist eine Trennung nach Bundesrepublik Deutschland und DDR vorgenommen worden. Schon ab etwa 1885 zeigte sich, daß die logistische Kurve des Trends des Wachstums des Eisenbahnnetzes keine steigenden Zuwachsraten mehr aufwies. Die Neubaukurve strebte einem Sättigungspunkt zu. Auch in den Gewinnchancen neuer Strecken zeigte sich dies deutlich. Um 1902 hatten von 147 nebenbahnähnlichen Kleinbahnen im Deutschen Reich mit einem Anlagekapital von 214 Mill. Mark 50 mit einem ss Es gab bis zu diesem Zeitpunkt Mittagspausen, um Gelegenheit zum Mittagessen in Bahnhofswirtschaften zu geben. 86 Georg Mortimer Pullman, ein Zimmermann, bot in den USA 1858 der Gesellschaft, die die 1300 km lange Strecke von Chicago nach Albany (N. Y.) betrieb, seine Erfindung eines "fahrbaren Schlafzimmers" an. 1863 konstruierte er einen Speisewagen und im gleichen Jahr den "Pullman Car". Erst 20 Jahre später übernahm die Britische Great Northern Railway als erste den Puliman Car. 1881 führte die Berlin-Anhalter-Bahn den Restaurations-Wagen ein, um den langen Aufenthalt auf den damaligen "Eßstationen" zu streichen.

2. Der Beginn des Eisenbahnbaus in Deutschland Jahr 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1937

Insgesamt km

529

Staatseisenbahnen km

Das deutsche Eisenbahnnetz 1840-1931

549 47 2 092 6044 11633 5 229 8598 19575 33 711 22146 42869 37 476 45 712 51678 55 353 61 209 51944 57 565 58176 52721 58821 54336 Das Eisenbahnnetz der Bundesrepublik Deutschland 1950 38 608 30 732 1960 36019 30761 1961 35 421 30 693 1962 35 638 30 672 Das Eisenbahnnetz der DDR 1960 1961

16174 16160

16174 16160

Que!!e: Statistische Praxis 1949, 8, S. 118; Statistische Jahrbücher f. d. BRD 1952, 1962, 1963, 1964; Stat. Jahrb. der DDR 1960/61; Stat. Jahrb. der DDR 1962, S. 490.

Anlagekapital von 100 Mill. Mark noch keine Rente erbracht; und nur 10 waren in der Lage, mehr als 4 vH Gewinn zu erwirtschaften87 • Im einzelnen konnten die deutschen Eisenbahnen in der Zeit von 1868-1913 folgende Verkehrsleistungen erbringen: Verkehrsleistung der deutschen Eisenbahnen

Jahr

Personenkilometer in Mill.

Tonnenkilometer in Mill.

1868 1880 1890 1910 1913

3212 6469 19999 35419 41210

5042 13487 36911 56276 67 515

Que!!e: Gustav Schmotter: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Leipzig 1923, 2. Teil, S. 15. 87 Festschrift des Verbandes Öffentliche Verkehrsbetriebe und des Verbandes Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen. 60 Jahre Arbeit für den öffentlichen Verkehr. Essen-Köln 1955, S. 24. Vgl. hierzu auch: v. MühZenfels, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Eisenbahnwesens, Berlin 1911.

34 V Oi&t 11/1

530 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs Besonders auffällig ist die Entwicklung der Kohlentransporte. 1885 wurden 54,1 Mill. t, 1910 157,9 Mill. t befördert. Dies waren 1885 48,7 vH und 1910 39,9 vH des gesamten Güterverkehrs der Eisenbahnen88 •

§ 3: Die Eingliederung der Eisenbahnen in das überkommene System des Weltverkehrs 1. Gesamtwertung des Prozesses Während die Entwicklung der Binnenschiffahrt und der Hochseefahrt über Jahrtausende hinweg allmählich vonstatten ging und dabei nur selten auf kurze Zeitabschnitte zusammengedrängte, revolutionär wirkende Impulse zur Veränderung der überkommenen Wirtschaftsstruktur sichtbar wurden, können wir bei der Entwicklung der Eisenbahnen deutlich in dem ersten Jahrhundert ihres Wirkens verfolgen, wie groß, ja geradezu umwälzend ihre volkswirtschaftliche Gestaltungskraft war: positiv wie negativ die Entwicklungsfähigkeit einzelner Räume der Welt in verschiedenem Ausmaß begünstigend oder hemmend, da sie - von vornherein bereits verhältnismäßig hoch entwickelt und zur Massenleistung befähigt - in unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zeiten in den Kontinenten und ihren einzelnen Teilräumen eingeführt wurde. Überlegen wir uns nochmals, wie sich bis dahin die Entwicklung der Weltwirtschaft formte. Jahrhundertelang hatte vorzugsweise die Schifffahrt die Entwicklungsfähigkeit der Welthäfen - und im arbeitsteiligen Prozeß daraus resultierend, die angrenzenden Räume - bestimmt. In diesem Prozeß vermochte sich in der technischen und organisatorischen Entwicklung vorzugsweise die Seeschiffahrt immer wieder zu verbessern. Die Landverkehrsmittel blieben demgegenüber meist sekundär. Die Seeschiffahrt entfaltete dabei die entscheidende Gestaltungskraft, die zur Hebung des Lebensstandards, zur Stärkung der staatlichen Macht und (oder) der kulturellen Leistungen entscheidende Impulse vermittelte. Das Schwergewicht fiel dabei jeweils jenem Kulturkreis zu, der die Herrschaft über die Seeschiffahrt und über die damals bekannten Weltmeere erreichen konnte. Insoweit war das Verkehrssystem unabhängige Variable der Entwicklung. Es wurde innerhalb dieses Entwicklungsprozesses insoweit zur abhängigen Variable, als die durch die staatliche Macht garantierte Sicherheit auf den Welt88 Vgl. hierzu die Strukturänderungen der Transportgüter, die Gas und Elektrizität grundsätzlich mit sich brachten und nochmals die Wandlungen, die die Einführung von Rohrfernleitungen verursachte.

1. Gesamtwertung des Prozesses

531

meeren, die Erweiterung des Schiffsparks und die Einflüsse auf die Organisationsform ihre Verkehrswertigkeit mit bestimmten. Jedenfalls war dank dieser Gestaltungskraft des führenden Verkehrsmittels im System des Weltverkehrs jahrhundertlang derjenige Staat die dominierende Weltmacht, dem es gelang, als Seemacht Zentrum des damaligen Verkehrssystems zu werden. Den gleichen Vorgang- nur in völlig anderer Perspektive- sehen wir im nationalen, aber auch im internationalen Rahmen jetzt beim Aufkommen der Eisenbahnen. Sie verbesserten in hohem Ausmaß die Verkehrswertigkeit des Weltverkehrssystems - d. h. die Möglichkeit zur Bildung von Weltmärkten und zu einer weltweiten Arbeitsteilung. Deutlich können wir bei der Analyse der Entwicklung der Eisenbahnen feststellen, wie wenig man mit nur quantitativen Werkzeugen verkehrswirtschaftliche Abläufe erfassen kann, wenn man nicht beachtet, daß die hier wichtigsten Prozesse qualitativer Art sind. Wieder ist die Entwicklung der Eisenbahnen - wenn wir ihre unterschiedliche Geschichte im internationalen Rahmen analysieren - teils abhängige Variable der wirtschaftlichen Entwicklung, teils ist dieses gleich hochwertig in die Wirklichkeit tretende und das überkommene Weltverkehrssystem umformende Verkehrsmittel entscheidender Anlaß zu sich selbstnährenden Industrialisierungsprozessen - anklammernd an die oft zufälligen89 Streckenführungen. Dabei dürfen wir nicht nur die positiven Impulse sehen, die von der Veränderung des Verkehrssystems ausgingen. Manche ungenügend an das Weltverkehrssystem angeschlossenen Eisenbahnstrecken riefen wirtschaftliche Entleerungstendenzen hervor. Die Öffnung eines bisher schlecht erschlossenen Raumes kommt ja - wie wir im theoretischen Teil sahen -, wenn es sich um einen Raum ohne besondere Standortvorteile handelt, nur der weiter fortgeschrittenen und weiter ausdehnungsfähigen Wirtschaft anderer Räume zugute, soweit sie sinkende Grenzkosten und vorteilhafte Preis-Absatzfunktionen ausnutzen kann. Wir dürfen bei der Analyse der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Eisenbahnen also nie nur von deren Gestaltungskraft innerhalb einer Volkswirtschaft ausgehen (so groß ihre Wirkung etwa gerade für Deutschland war, wo die Eisenbahn immer wieder neu jene Vorzugspositionen schuf, die in einigen Räumen typische sich selbstnährende Industrialisierungsprozesse auslöste, aber auch die Entwicklungsfähigkeit einiger Teilräume verhältnismäßig eng begrenzte). Noch wichtiger waren die Auswirkungen der Eisenbahnen auf die Gesamtheit des Welt-Ver89 d. h. der damaligen Zeit in der jeweiligen Periode der Planung zweckmäßig erscheinende Streckenführung, bestimmt von einer Fülle von Anteludialeffekten, z. B. Staatsgrenzen, militärische Interessen der damaligen Staaten.

532 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs kehrssystems, das in seinen Schwergewichten, seiner Gestaltungskraft und seiner eigenständigen Entwicklungsdynamik grundlegend umgestaltet wurde. Für eine marktwirtschaftliche Entwicklung sind Präferenzen in den Entwicklungschancen entscheidend; denn Investitionen werden in der von der Initiative freier Unternehmer abhängigen Wirtschaft nur dann vorgenommen, wenn und wo sich besonders hohe Gewinnchancen ergeben. Für Wachstumsprozesse sind aber Netto-Investitionen notwendige und hinreichende Bedingungen. Da Nettoinvestitionen zusätzliche Einkommen schaffen, hängt es von der Ausbreitungsfähigkeit der zusätzlichen Kaufkraft ab, wo es zu Sekundärinvestitionen kommt und sich der eingeleitete Prozeß fortpflanzen kann. Die Einwirkung der neuen Verkehrsmittel innerhalb des Systems des Weltverkehrs lag folglich darin, daß Entwicklungschancen neu geschaffen wurden und arbeitsteilig durchführbare Produktionen, die bisher wegen zu hoher Transportkasten oder zu schlechter Verkehrsleistungen nicht möglich waren, infolge der höheren Verkehrswertigkeit des neuen Verkehrsmittels plötzlich der Unternehmerischen Initiative zugänglich wurden. Aber das umgeformte Verkehrssystem differenzierte die sich neu ergebende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, da die im Gesamtraum unterschiedlichen Preise und Qualitäten der Produktionsfaktoren und die kaufkräftige Nachfrage nur mittels unterschiedlicher Transportkosten vereinigt werden können. Unter sonst gleichen Bedingungen wurde der Punkt bevorzugt, der von dem gestaltenden Verkehrssystem begünstigt wurde. Hier erwuchs fortgesetzt neu die größte Neigung zur Investition. An diese Plätze klammerten sich vorzugsweise die Sekundärimpulse, die von der Streuung der Einkommenseffekte anderer Investitionen ausströmten. Für die weltweiten volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Eisenbahnen wurde also entscheidend, ob und inwieweit sich selbstnährende Entwicklungsprozesse-nach Möglichkeit Industrialisierungsprozesse - innerhalb von Wirtschaftsräumen ausgelöst wurden, die nun im Rahmen des übrigen Weltverkehrs-Systems weiterzustrahlen vermochten. Der ins Leben gerufene Prozeß setzte sich fort, teils durch Weiterleitung der im engeren Raum ausgelösten neuen Industrialisierungsimpulse oder durch Steigerung der Nachfrage nach Rohstoffen und Konsumgütern (z. B. tropischen Früchten), teils aber auch dadurch, daß überkommene, auf den bisherigen Raum abgestellte Produktionsstätten unrentabel wurden. Im letzteren Fall übernahmen die jungen Industrien der Kernländer in den Schwerpunkten des neugeformten Verkehrssystems mit ihren im größeren und wachsenden Absatzbereich immer mehr ausnutzungsfähigen Grenzkostenverläufen die Befriedigung des Bedarfs. Hierdurch wurden weitere Investitionen veranlaßt, und die neuen Einkommensströme begünstigten wieder die Kerngebiete.

1. Gesamtwertung des Prozesses

533

Analysieren wir kritisch die historischen Abläufe bei Umgestaltung des Weltverkehrssystems, so müssen wir feststellen, daß nun entscheidend wurde, welche Räume zuerst das neue Verkehrsmittel so einführten, daß sich selbstnährende Prozesse der Industrialisierung ergaben und welche Räume zurückblieben, so daß sie die "Leidtragenden" des Prozesses wurden. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters hätte jeder Staat die Chance gehabt, ein Netz von Eisenbahnen zu bauen. Es waren nicht einmal in der Ausgangslage nur die reichsten Räume der Welt, in denen die Initiative zur Einführung von Eisenbahnen entstand. Einige der reichsten Länder der Welt begannen nur sehr zögernd mit der Einführung der Eisenbahnen. Andererseits gab es einige damals fast völlig unterentwickelte Räume, die sich nur darin von anderen "unterentwickelten" Räumen unterschieden, daß sich hier innerhalb der Bevölkerung eine wagemutige, fast spekulationssüchtige Schicht fand - im Prozeß der Selbst-Elektion aus allen Erdteilen zusammen geströmt - die die Basis für den Ausbau eines die Entwicklung schnell vorantreibenden Eisenbahnsystems schuf. Wenn sich auch in einigen der damals unterentwickelten Räume in dieser Periode der Entwicklung der Eisenbahnen Vorgänge abspielten, die manche Krisenzeichen, manche unerträgliche Zustände im "Eisenbahnfieber" enthielten, so haben doch dort die Eisenbahnen entscheidend die Grundlagen der Industrialisierung geschaffen, sie immer wieder mit neuen Impulsen befruchtend. Der Weg ging auch über viele Mißerfolge und Konkurse, d. h. über Vorgänge, die in der damaligen Zeit als Mißerfolge erschienen. Viele Eisenbahnen haben nicht nur einen, sondern mehrere Zusammenbrüche über sich ergehen lassen müssen. Viel Geld ist dabei verloren worden. Diese nur in spekulativer Absicht durchgeführten Eisenbahnbauten müssen wir hier positiv werten. Sie haben, auch wenn sie sich zunächst nicht rentierten- und z. T. jetzt schon wieder nicht aus der Verlustzone herauskommen - dort, wo sie zu einem sich selbst nährenden Industrialisierungsprozeß beitrugen, mit den entscheidenden Anlaß gegeben, daß die Räume wirtschaftlich erschlossen wurden, Vorzugspositionen für gewinnbringende Investitionen und deren Folgeimpulse entstanden, verbunden mit dem im Prozeß sich immer wieder erneuernden Differenzierungseffekt des Verkehrssystems, sinkende Grenzkostenverläufe ausnutzungsfähig wurden, so daß die typische Entwicklungsdynamik der Industrialisierung einsetzte. Im Verlauf dieses Prozesses befruchteten sich im Schwerpunkt die Entwicklung des Verkehrssystems und die Entfaltung der Industrie gegenseitig. Zunehmende wirtschaftliche Tätigkeit erhöhte die Güterund Personenströme. Ein größerer Verkehr reizte zum Ausbau immer weiterer Strecken, die bessere Ausnutzung der fixen Kosten zur Sen-

534 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs kung der Transportkosten; diese wiederum zur Erweiterung der Märkte, zur Vergrößerung der Absatzmöglichkeiten, zu erneuten Investitionen und vergrößertem Einkommen mit erhöhter kaufkräftiger Nachfrage. So hat die Eisenbahn dem Verkehrssystem der Welt für nahezu ein Jahrhundert eine andere Entwicklung und eine veränderte Entwicklungsdynamik aufgeprägt. Die ökonomische und soziale Gestaltungskraft des umgeformten Weltverkehrssystems zwang der wirtschaftlichen Entwicklung der Welt - wie wir in dem theoretischen Teil sahen, im Maßstab seiner Unvollkommenheit und der hierdurch ausgelösten Differenzierungseffekte - eine Dynamik auf, die den marktwirtschaftliehen Industrialisierungsprozeß in der Welt auf einige wenige, verhältnismäßig enge Bänder in einigen Kontinenten beschränkte, andere Räume zu Entleerungsgebieten machte und Generationen lang den größten Teil der Erde nahezu indifferent ließ. 2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

Eingehend muß die Entwicklung der Eisenbahnen in den USA behandelt werden, da hiervon in dem ursprünglich armen Flüchtlingsland der stärkste sich selbst nährende Prozeß der Industrialisierung ausging. Deshalb sei die Schilderung sogar von Einzelheiten gestattet. Weite Teile der heutigen Vereinigten Staaten von Nordamerika waren zu Beginn des Eisenbahnzeitalters völlig unerschlossene Räume. In Amerika war der Bau der Eisenbahnen eine der entscheidenden Leistungen der Privatwirtschaft. Sie eilten vielfach wie in anderen Kolonialländern den Siedlungen und den Verkehrsströmen voraus; die Gesellschaften, die die Eisenbahnen bauten, waren häufig mehr Gesellschaften der Bodenspekulation. Sie haben aber trotzdem die wirtschaftliche Entwicklung dieses riesigen Landes entscheidend geformt und die heutige Position der USA in der Welt wesentlich mit geschaffen, wenngleich ihre heutige Bedeutung im Verkehrssystem der Kontinente schon wieder empfindlich absinkt. Vielfach entstanden Eisenbahnen dort, wo Unternehmer hofften, einen Finanzierungsgewinn durch den Bau erzielen zu können. Häufig wurden sie lediglich gebaut, um dann sofort mit Gewinn verkauft zu werden, manchmal sogar auch nur geplant. So entstand ein Netz, das alles andere als überlegt und planmäßig wirkt. Zwischen New York und Chikago gab es allein 6 verschiedene Eisenbahnverbindungen, während andere Gebiete - geschichtlich zufällig viel zu wenig von Eisenbahnen erschlossen worden sind. Den ersten Eisenbahngesellschaften stellte der Staat Land zur Verfügung, das größer war als Deutschland und Frankreich90 • Die erste dieser Landuo

19l53.

Julian

s.

Duncan: lntroduction to Transport Economics, Albuquerque

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

535

schenkungen wurde 1850 an die Illinois Central Railroad vorgenommen, wobei das Land zunächst dem betreffenden Bundesstaat und von diesem später dann direkt der Gesellschaft geschenkt wurde. Zwischen 1850 und 1871 wurden etwa 62,78 Mill. ha vomKongreß dem Eisenbahnbau gewidmet. Beispielsweise erhielt die Northern Pacific eine Landfläche von 17,7 Mill. ha. Ab 1871 wurden diese Landzuweisungen eingestellt. a) F r ü h g e s c h i c h t e d e r amerikanischen Eisenbahnen Ähnlich wie in England gab es auc.."'l in den USA schon kurze Eisenbahnstrecken, bevor eine leistungsfähige Dampflokomotive erfunden worden war. Hier lieferten Pferde oder stationäre Dampfmaschinen die Antriebskräfte 91 • Die erste Bahn dieser Art wurde 1807 von S. Whitnay in Boston gebaut. Ihr folgten zahlreiche andere kurze Strecken, deren Zweck es beispielsweise war, Kohlen oder Steine zu befördern. Baltimore, Charleston und Boston, alles Städte, die über keine reguläre Wasserverbindung zum Westen verfügten, waren die Pioniere des amerikanischen Eisenbahnbaus. Mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie, die für die Durchführung allgemeiner Transporte vorgesehen war, der Baltimore & Ohio Railroad, wurde 1828 im Staate Maryland begonnen. Die Eröffnung der ersten 13 Meilen fand 1830 statt, also im gleichen Jahr, in dem in England die Strecke Liverpool-Manchester in Betrieb genommen wurde. Auf dieser Strecke wurden zu Anfang noch Pferde eingesetzt, bis die von dem Amerikaner Peter Cooper konstruierte Dampflokomotive "Tom Thumb" ihre Probefahrt erfolgreich bestand. Schon ein Jahr zuvor waren in den USA Versuche mit Dampflokomotiven unternommen worden. So hatte die Delaware & Hudson Canal and Railway Co. bereits 1829 eine aus England importierte Lokomotive, die "Stourbridge Lion", eingesetzt, die sich jedoch als zu schwer für den Unterbau erwies und deshalb als stationäre Dampfmaschine verwendet werden mußte92 • 1831 wurde die South Carolina Railroad mit einer Streckenlänge von 135 Meilen in Betrieb genommen, die zwei Jahrzehnte lang die längste Eisenbahnlinie der USA bleiben sollte. Eine Vielzahl anderer Linien entstand vor allem in New York, Pennsylvanien und in den Neu-England-Staaten. Die meisten dieser ersten Eisenbahnen hatten nur lokalen Charakter. Sie waren dafür vorgesehen, den Fracht- und Personenverkehr zwischen nahe gelegenen Orten abzuwickeln. Der Ausbau der 91 Vgl. D. Philip Locklin: Economics of Transportation, 5. Aufl., Homewood, Illinois 1960, S. 82. 92 Vgl. Marvin L. Fair und Ernest W. Williams jr.: Economics of Transportation, New York 1950, S. 38.

536 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs

großen Hauptlinien nach Westen schritt zunächst verhältnismäßig langsam voran. Pennsylvanien übernahm die Initiative im Eisenbahnbau. 1840 befanden sich noch die meisten Eisenbahnen östlich der Appalachen. Verhältnismäßig schnell wurden die Eisenbahnen in den USA nicht als bloße Zubringerstrecken zu den Wasserwegen gebaut, sondern als bewußte Konkurrenzlinien zu diesen. Erst nach etwa 1845 beschleunigte sich der Streckenvortrieb in Richtung Westen. Die Erie-Eisenbahn wurde angelegt, eine Verbindung von Boston nach Albany geschaffen und New York mit Boston verbunden93 • Nahezu 3/s der bis 1850 hinzugekommenen Strecken verteilten sich auf die Neu-England-Staatenund New York. Einezeitlang war Boston der Hauptknotenpunkt der amerikanischen Eisenbahnen. 1860 wurden die Staaten Ohio, Illinois und Indiana zu Schwerpunkten des Eisenbahnbaus. Die Rentabilität der Southern Pacific Companya)

Perioden

Entwicklung des GesamtUnternehmungskapitals in 1000$ von bis

1900-1910 1911-1920 1921-1930 1931-1936

578 725- 935 783 935 783-1 415 386 1 415 386-1 676 132 1 676 132-1 701 446

Rentabilität in vH zwischen 3,69 3,87 3,57 1,47

und und und und

5,95 6,27 4,68 2,62

a) 1900-1906 schüttete dle Gesellschaft keine Gewinne aus. 1906 wurde eine Dividende auf dle Stammaktien gezahlt ln Höhe von 21/o 1/o. 1908-1930 betrug sle 6°/o, 1931 51/o 1/o. 1932-1936 wurde keine Dividende ausgeschüttet. Que!le: H. Gutsche, Dle Southem Paclflc Company, Ihre Geschichte, Finanzierung und Rentabllität, Leipzig 1939, Tabellenanhang.

Bis 1860 erreichte das Eisenbahnsystem östlich des Mississippi seinen gegenwärtigen Stand. Nur wenige Linien stießen bereits in das Gebiet westlich des Mississippi vor. Chikago entwickelte sich schließlich mit seinen 11 Hauptstrecken zum größten Eisenbahnknotenpunkt der Welt. Allerdings war die Schaffung eines geschlossenen Eisenbahnnetzes zunächst dadurch gehemmt, daß unterschiedliche Spurweiten, sowie eine Vielzahl unabhängiger Gesellschaften existierten. Allmählich begannen sich jedoch die einzelnen kleinen Gesellschaften zu wenigen großen zusammenzuschließen. Eine scharfe Trennung bestand auch zwischen dem Netz der Nord- und demjenigen der Südstaaten. oa George Rogers Taylor: The Transportation Revolution 1815-1860, New York 1951, S. 84 ff. D. Ph. Lockli.n: The Economics of Transportation, 5. Aufl., Homewood 1960, S. 85.

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

537

Auch in den USA erwiesen sich kriegerische Ereignisse als besonders wirksames Antriebselement zum Ausbau der Eisenbahnen. Während des Sezessionskrieges, Juni 1862, erwuchs das dringende Bedürfnis, trotz des bisher als unüberwindbar angesehenen Risikos eine transkontinentale VerbinduHg anzustreben. Der Kongreß hatte schon 1853 die Durchführung von Vermessungsarbeiten beschlossen, die 1855 ohne Erfolg vorzeitig eingestellt worden waren. Auch das erste Gesetz von 1862 gab noch nicht genügend Anreiz. In der Zwischenzeit hatten Privatleute zwei Gesellschaften gebildet, die Union Pacific RR Co. und die Central Pacific RR Co. of California. Letztere war 1861 auf Initiative eines Bahningenieurs Judah von den Eisenhändlern Huntington und Hopkins, dem Rechtsanwalt Stanford und dem Kaufmann Crocker mit einem Aktienkapital von 8,5 Mill. Dollar gegründet worden; die Einzahlung betrug zunächst nur 125 000 Dollar. Die Finanzierung der eigentlichen Bauarbeiten hoffte man, mit Hilfe von Bundesmitteln durchführen zu können. 1863 wurde mit dem Bau der Central-Pacific-Linie von der Westgrenze Iowas aus begonnen. Ein Jahr später begann die Union Pacific, von Omaha aus ostwärts zu bauen. Die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung entstand am 10. Mai 1869, als sich die Linien der Central Pacific Railroad und der Union Pacific Bahn an der Nordspitze des großen Salzsees in Utah trafen. Eisenbahnen der USA - Betriebslängen

Jahr

Bahnlänge in km

1830 1835 1840 1850 1855 1860 1865 1870 1875

37 1768 4 537 14524 29581 49322 56487 85166 120 200

1883 wurde die Northern Pacific von Duluth, Minneseta zur Nordküste des Pazific fertiggestellt, es folgte die Southern Pacific von Portland über San Franzisko nach New Orleans. Weitere Verbindungen zwischen der Atlantik- und Pazifik-Küste wurden geschaffen, bis um 1910 das Netz der großen Hauptlinien in seiner heutigen Gestalt weitgehend fertiggestellt worden war. Mit einer Streckenlänge von rund 400 000 km wurde im Jahre 1916 die größte Ausdehnung des Eisenbahnnetzes erreicht.

538 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs Räumliche Verteilung der Bahnstrecken in den USA

Bezeichnung der Staatengruppen Neuenglandstaaten ........... Mittelstaaten (übrige Ostküste) Weststaaten (nördlich des 37. Breitengrades, ausschl. Westküste) ................. Südstaaten (südlich des 37. Breitengrades) .......... Pazifikstaaten (Westküste) ... Zusammen in den Vereinigten Staaten ....................

in Kilometern ausgedrückte Bahnlängen in den Jahren 1845

I

1855

I

1865

1875

I

1 566 3381

5585 8812

6173 13748

9077 23 731

602

7 353

20684

57 714

1 910 -

7 820 11

15 507 375

25 620 4048

56487

120 200

7 459

I

29581

I

Que!te: Ernest Pontzen: Das Eisenbahnwesen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wien 1877, s. 5 f.

Die Entwicklung der Eisenbahnen in Großbritannien und in den USA verlief unterschiedlich. Auf englischem Boden konnten sie sich auf die bereits weitgehend vorgedrungene erste Phase der Industrialisierung stützen. Hier war für die Eisenbahnentwicklung verhältnismäßig viel Kapital verfügbar. In den USA mußten demgegenüber weiträumige Strecken mit weniger Kapital überwunden werden 94 • Die Finanzierung der Eisenbahnen war mit einem hohen Ausmaß an Staatsverschuldung verbunden. Dazu trat ein noch zu schilderndes eigenartiges System von Zusammenbrüchen und Bereinigungen, so daß gerade hier deutlich sichtbar wird, wie sehr die Eisenbahnen das Geld- und Kreditsystem revolutionierten. Andererseits wurde der durch die Eisenbahnen hervorgerufene Wachstumsprozeß durch ein neu geformtes Geldsystem, d. h. durch großzügige Geld- bzw. Kreditschöpfung, erleichtert. Damit war über lange Perioden in den wichtigsten Räumen ein Wachstum im Gleichgewicht möglich. Hinsichtlich des Betriebes der Eisenbahnen waren die Amerikaner im Vergleich zu den Engländern oder Deutschen von Anfang an mehr an höherer Geschwindigkeit interessiert. b) E n t w i c k 1 u n g der staatlichen Politik und des Eisenbahnrechts in den USA Wie in manchen Ländern W esteuropas, ging in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Nordamerika die Verkehrspolitik von der Auf94

1953,

Julian S. Duncan: Introduction to Transport Economics. Albuquerque

s. II/2.

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

539

fassung aus, daß Schienenbahnen in ihrer Eigenschaft als Fahrweg den Landstraßen gleichzusetzen seien und daß mithin ihr verkehrswirtschaftlicher Charakter der eines öffentlichen Weges sei. Sie mußte freilich zugestehen, daß der Betrieb von Fahrzeugen auf der Eisenbahn aus technischen Gründen in Händen einer einheitlichen Verwaltung liegen müsse. Gerade in den USA formte sich damals die liberale Grundkonzeption stark aus, die, von der "Freiheit vom Staat" ausgehend, d~e Initiative des privaten Unternehmers als entscheidende Garantie der Freiheit und der bestmöglichen wirtschaftlichen Entwicklung ansah, geprägt aus dem Erlebnishorizont der Einwanderer, die vielfach den absoluten Staat ihrer früheren Heimat hassen gelernt hatten. So kam nicht der Staat für die Betriebsführung in Betracht, sondern allein das private Unternehmertum. Allerdings wurden Bau und Betrieb von Eisenbahnen einem Konzessionszwang unterworfen. Die Konzession, die in einer Urkunde, der sog. Charter, verbrieft wurde, stellte eine formelle Überlassung von Rechten und Privilegien dar, die sonst nur dem Staat zustanden. Dennoch gab es Ausnahmen. Der Staat Pennsylvanien kann sich beispielsweise rühmen, in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die erste staatseigene Eisenbahn der Welt, die Philadelphia & Columbia Railroad, gebaut zu haben. Ebenso waren die Staaten Illinois, lndiana, Michigan, Georgia und North Carolina Eigentümer von Eisenbahngesellschaften, da sich dort nicht genügend privates Kapital aufbringen ließ. Jedoch immer, wenn Krisenzeiten eintraten, übertrugen die amerikanischen Bundesstaaten aus finanziellen Gründen ihre Rechte privaten Gesellschaften. Verschiedene Städte wurden ebenfalls zu Gründern und Eigentümern von Eisenbahngesellschaften. Aber diese öffentliche Initiative war und blieb Ausnahme. Für den Bau der Eisenbahnlinien benötigten folglich die Gesellschaften in der Anfangszeit eine Konzession, die ihnen jeweils vom Parlament erteilt wurde 95 • Ab 1850 gingen zahlreiche Bundesstaaten dazu über, die Verlegung von Eisenbahnlinien an keine Genehmigung mehr zu binden. Lediglich für Strecken, bei denen von vornherein die Durchquerung mehrerer Staaten geplant war, bedurfte es einer Genehmigung der Bundesregierung. Wo der Staat sich nicht direkt am Eisenbahnbau beteiligte, förderte er ihn durch die Zeichnung von Aktien, durch Anleihen, durch Staatsgarantien oder durch Landschenkungen. Besonders hoch waren vielfach die Unterstützungen vonseitensolcher Städte und Gemeinden, die unbedingt eine Eisenbahnlinie an sich ziehen wollten. us Vgl. D. Ph. Locklin: The Economics of Transportation, 5. Aufl., Homewood, Illinois 1960, S. 98.

540 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs In vielen Staaten der Nordamerikanischen Union wurden den privaten Eisenbahngesellschaften neben direkten finanziellen Unterstützungen Anreize in Form von Ausschließlichkeitsrechten oder Steuerprivilegien gewährt. Auch von der Bundesregierung erhielten die Eisenbahngesellschaften staatliche Hilfe. So wurde der Zoll auf Importe von Eisenbahnmaterial von 1832 bis 1843 erheblich reduziert96 und den Eisenbahngesellschaften ein bestimmter Streifen Land entlang der Bahntrasse aus Staatsbesitz zur Verfügung gestellt, den diese dann verkaufen konnten 97 • Um den Bau von Transkontinentalverbindungen zu fördern, gab die Bundesregierung ab 1862 bzw. 1864 mit dem Pacific Railroad Act den Grundsatz der indirekten Förderung der Eisenbahnen auf und gewährte pro fertiggestellter Meile Eisenbahnstrecke zur Pazifikküste je nach Beschaffenheit des Geländes einen Kredit von 16 000 bis 48 000 Dollar98 • Insgesamt wurden etwa für 64 Mill. Dollar solcher Kredite gewährt, wobei der größte Teil an die beiden Gesellschaften Union Pacific und Central Pacific floß, die die erste Ost-West-Verbindung schufen99 • In der Zwischenzeit hatte der Staat die Beteiligungen an Eisenbahngesellschaften weitgehend veräußert. Nur aus besonderem politischen Anlaß wurde der Staat schließlich vor dem 1. Weltkrieg nochmals beim Bau der Alaska Railroad und der Panama Railroad in "Unternehmereigenschaft" aktiv. Eine staatliche Bindung der privaten Eisenbahngesellschaften ergab sich über lange Zeit hinweg nur aus der Delegierung eines "Power of eminent domain", das Recht, Privateigentum für eine öffentliche Verwendung ohne Zustimmung des Eigentümers gegen eine "gerechte" Entschädigung zu übernehmen 100 • Auch in den USA gab es, wie wir schon kurz erwähnten, zunächst eine größere Anzahl unterschiedlicher Spurweiten. Die Entwicklung der Eisenbahn wurde hierdurch mindestens in der Anfangszeit stark gehemmt. Ein im Jahre 1863 erlassenes Gesetz legte die einheitliche Spurweite fest und ließ nur wenige Ausnahmen zu. 96

Es wird geschätzt, daß hierdurch die Kosten für den Streckenbau um

97

Das Gesetz zur Landüberlassung an die Eisenbahngesellschaften wurde

2000 Dollar pro Meile gesenkt werden konnten. Vgl. D. Pb. Locklin: Economics of Transportation, a.a.O., S. 105. 1850 geschaffen und 1871 aufgehoben, nachdem es zu erheblichen Interessen-

konflikten zwischen Siedlern und Eisenbahngesellschaften gekommen war. 98 Vgl. E. Picard: Die Finanzierung nordamerikanischer Eisenbahngesellschaften, Diss. Freiburg i. B. 1912, S. 28. 89 Vgl. ebenda, S. 29. too Vgl. hierzu: Pb. Locklin: Economics of Transportation, 4. Aufl., Chicago 1954,

s. 103.

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

541

Eine grundlegende Änderung der fördernden staatlichen Politik101 gegenüber den Eisenbahngesellschaften begann sich ab 1870 durchzusetzen, als die diskriminierenden Praktiken der nach Maximierung der Gewinne strebenden Eisenbahngesellschaften offenbar wurden. Als 1870 der Getreidepreis fiel und der Absatz des Getreides darüber hinaus infolge verhältnismäßig hoher, als "ungerecht" empfundener Eisenbahntarife gehemmt wurde, trat unter den betroffenen Farmern im Mittelwesten eine fast revolutionäre Situation auf. Hieraus erwuchs die Granger-Bewegung102, eine Bauernrevolte mit schroffer Frontstellung zur Eisenbahn und gegen die schnell steigenden wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen ihrer führenden Persönlichkeiten. Mit den "Granger Laws" wurden von einigen Staaten Gesetze geschaffen, die eine Festlegung der Frachtraten vorsahen. Diese Gesetze waren jedoch nur für Transporte innerhalb der einzelnen Staaten anwendbar. Zur Beaufsichtigung zwischenstaatlicher Transporte wurde im Jahre 1887 der "Interstate Commerce Act" verabschiedet, der "ungerechtfertigt" hohe Frachtraten, personelle Tarifdifferenzierung und Preisabsprachen zwischen den einzelnen Eisenbahngesellschaften verbot. Die Überwachung der Einhaltung wurde der im gleichen Jahr gebildeten "Interstate Commerce Commission" übertragen. Die Tarifpolitik der Bahngesellschaften wurde seitdem mehr und mehr vom Staat beeinflußt. Während 1887 nur bestimmt wurde, daß die Frachtsätze gerecht und angemessen sein mußten, wurde 1906 die Interstate Commerce Commission (I.C.C.) ermächtigt, in Streitfällen die Tarife festzusetzen. Hervorgegangen aus dem Erlebnishorizont der Zeit, in der offenkundig wurde, wie sehr durch die an und für sich "marktgerechten" Methoden der Preisdifferenzierung und -diskriminierung der Gewinn erhöht und wirtschaftliche wie politische Macht für die herrschenden Persönlichkeiten der Eisenbahngesellschaften erworben werden kann, richtete sich die Politik ganz besonders - wenn auch nicht immer mit genügendem Erfolg- gegen die "personal discriminations", d. h. die bevorzugte Behandlung einzelner Verlader, die in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte eine bedeutende Rolle spielt. Schon in den 60er Jahren hatte die Union Pacific RR der ihren Direktoren gehörenden Wyoming Company erhebliche Frachtvorteile gewährt; die Southern Pacific senkte immer dann, wenn die Standard Oil Company, die unter Einfluß ihres Großaktionärs Rockefeller stand, größere Öltransporte durchführen wollte, ihre Ölfrachten um rd. 30 vH. 101 Vgl. D. Ph. Locklin: Economics of Transportation, 5. Aufl., Homewood, Illinois 1960. 1o2 Siehe hierzu: Stuart Dagget: Principles of Inland Transportation, 4. Aufl., New York 1955.

542 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs In dem Land, in dem die privatwirtschaftliche Initiative bei der Entwicklung der Eisenbahnen die größte Rolle gespielt hatte, wurde das Verkehrswesen Ausgangspunkt der Antitrustgesetzgebung, ausgelöst von den vielen Mißbräuchen der hier entstandenen ökonomischen Macht. Als 1906 sowohl die Union Pacific als auch die von ihr kontrollierte Southern Pacific ihre Dividenden stark erhöhten, führte die Interstate Commerce Commission (I.C.C.) eine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen beiden Gesellschaften durch. Die darauf angestrengten Prozesse wegen Verstoßes gegen das Anti-Trust-Gesetz zogen sich bis 1912 hin und erzwangen dann eine Auflösung der Kapitalverftechtungen. Der Wettbewerb in marktwirtschaftliehen Formen war typisch ein solcher zwischen "Mehrproduktunternehmen mit hohen fixen Kosten und stark sinkenden Grenzkostenverläufen bei Mehrproduktion". Im unbestrittenen Raum wurden alle Möglichkeiten ausgenutzt, durch hohe Tarife die Gewinne zu erhöhen, da hier die Elastizität der Nachfrage notwendig starr war. In Wettbewerbsrelationen setzte sich dagegen eine unerbittliche Strategie durch, den Gegner mit allen denkbaren Mitteln niederzuzwingen, um nach errungenem Sieg einen höheren Gewinn anstreben zu können. Der scharfe Wettbewerb nahm auch bei den transkontinentalen Bahnen ruinöse Formen an, gegen die ein Einschreiten des Staates allerdings kaum möglich war, da die Bestimmung des Interstate Commerce Act von 1887 lediglich "just and reasonable" Transportpreise verlangte. So konnte der Staat bis zur Verschärfung der Antitrustgesetzgebung immer erst dann eingreifen, wenn eine Gesellschaft wegen Zahlungsunfähigkeit unter Geschäftsaufsicht gestellt wurde. Die erste bundesstaatliche Gesetzgebung zur Regulierung des Eisenbahnwesens, die des Interstate Commerce Acts, wurde im Laufe der folgenden Jahre zuungunsten der Eisenbahnen weiter ausgebaut. Mit dem Elkins Act (1903) war eine rechtliche Handhabe gegeben, bei ungerechtfertigten Frachtnachlässen nicht nur den Frachtführer, sondern auch die Verfrachter strafrechtlich zu verfolgen. Der Hepburn Act von 1906 ermächtigte die Interstate Commerce Commission sogar, Höchstsätze für die Frachttarife festzusetzen. Nach der Verabschiedung des Mann-Elkins-Acts 1910 mußten die Eisenbahngesellschaften Tarifänderungen beantragen und nachweisen, wozu die Änderungen erforderlich waren. 1910 erhielt die I.C.C. das Recht, allgemein die Tarife festzusetzen. Später, im Jahre 1920, wurden genaue Ric.~tlinien in der Form festgelegt, daß die Frachteinnahmen den Bahngesellschaften eine Rendite von 5 bis 6 v H gewährten. Um den Wettbewerb zu fördern, wurde den Eisenbahngesellschaften in den USA verboten, Schiffahrtsgesellschaften in irgendeiner Form zu kontrollieren, die durch den Panama-Kanal verkehrten. Nachdem der

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

543

Panama-Kanal, der besonders für die amerikanische Wirtschaft wichtig wurde, eröffnet worden war, sollte damit der Wettbewerb mit den Eisenbahnen, insbesondere den Pazifikbahnen, die damals schon eine Monopolstellung erlangt hatten, garantiert werden. c) Z ur E n t w i c k I u n g der Organisationsform der amerikanischen Eis e n b ahnen im 19. J a h r h u n d er t Die amerikanischen Eisenbahngesellschaften wurden vorzugsweise in der amerikanischen Form der Aktiengesellschaften betrieben und wichen zunächst in ihrem Aufbau und ihrer Unternehmerischen Verhaltensweise kaum von Gesellschaften dieser Rechtskonstruktion in anderen Wirtschaftszweigen ab. Besser gesagt, der Rechtsmantel wurde - genauso wie in anderen Wirtschaftszweigen - das Werkzeug für wagemutige, aktive Persönlichkeiten, sich zunächst ohne genügende Kapitalbasis in den noch wenig entwickelten Teilen Amerikas unternehmerisch erfolgreich zu betätigen. Die meisten der Eisenbahngesellschaften wurden durch private Initiative gegründet, obwohl, wie schon erwähnt, auch eine Anzahl von Eisenbahnlinien direkt von den Regierungen der Bundesstaaten oder der Bundesregierung gebaut worden sind. Als wesentliche spätere Ausnahmen vom Prinzip der privaten Unternehmung sind die Alaska-Eisenbahn und die 1916 gebaute Panama-Eisenbahn zu nennen, deren Aktien die Bundesregierung übernahm. Die Menschen der damaligen Zeit glaubten damit das Prinzip des Wettbewerbs gesichert zu haben, das sie als wichtigsten Garanten für eine optimale Entwicklung jedes Wirtschaftszweiges ansahen. Nach dem damals geltenden Rechtssystem genügte es zur Gründung einer Eisenbahnunternehmung, wenn eine Anzahl Personen sich vereinigten, Betrag und Anzahl der Aktien feststellten, eine geringe Anzahlung auf die Aktien leisteten und die Eintragung in das öffentliche Register erreichten. Jahrelang prüfte keine staatliche Stelle, ob die Linienführung der neu zu erstellenden Bahn zweckmäßig war, noch ob das Aktienkapital der neugegründeten Gesellschaft ausreichte103 • Die Finanzierung erfolgte bis 1837 überwiegend aus privatem Kapital und Inanspruchnahme von Staatskredit. Eisenbahnen wurden mithin nur dort gebaut, wo die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals hoch war, nämlich ausschließlich in den relativ dicht besiedelten Staaten der Ostküste. Die Gewinnchancen der Bahngesellschaften waren gerade hier zunächst allgemein sehr groß, da die Festsetzung der Transportpreise den Gesellschaften überlassen war. Eine Bindung brachte nur die in den tos Vgl. hierzu auch Paul Graber, Die amerikanischen Eisenbahngütertarife und ihre Beeinflussung durch die Konkurrenzverkehrsmittel, Bern 1949, S. 1.

544 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs meisten Charters enthaltene Klausel, daß landwirtschaftliche Erzeugnisse aus den von der betreffenden Bahn erschlossenen Gebieten zum Beförderungssatz für leere Güterwagen zu transportieren waren 104 • Es läßt sich schätzen, daß 1838 nahezu 43 Millionen Dollar der Staatsschulden dem Eisenbahnbau zurechenbar waren. Vor allem die Staaten des Westens, die glaubten, daß die Eisenbahn der Schlüssel zum Reichtum sei, wagten auffällig hohe Investitionen "ohne jeden Skrupel" 105 vor einer unweigerlich folgenden untragbaren Verschuldung. Beispielsweise gewährte der Staat Missouri bis 1857 sieben Eisenbahngesellschaften Kredite in Höhe von 25 Mill. Dollar. In einzelnen Orten erreichte die Verschuldung für Eisenbahnanleihen bis über 100 Dollar je Kopf der Einwohner. Zwischen 1838 und 1860, als das Eisenbahnnetz der USA bereits eine Ausdehnung von rd. 4000 km besaß, begann, wie wir oben schilderten, der Bund, zur Erleichterung der Finanzierung die Errichtung von Eisenbahnen durch Landschenkungen an die Bahngesellschaften zu fördern. Im allgemeinen wurde der Landstreifen entlang der zu bauenden Linie schachbrettartig in Sektionen zu je 2,6 qkm aufgeteilt, von denen jede zweite der Bahngesellschaft übereignet wurde. Die Bahngesellschaften erhielten damit die Möglichkeit, sich mit hypothekarisch gesicherten Pfandbriefen ("Mortgage Bonds") Mittel für den Bahnbau zu beschaffen. Die Hypotheken wurden zu Gunsten eines die Gläubigerinteressen vertretenden Treuhänders ("Trustee") eingetragen106 • War bisher ein Grundstück eine oder mehrere Tagesreisen von der nächsten Stadt entfernt, so bedeutete das Heranführen einer Eisenbahn eine vielfache Steigerung des bisherigen Wertes des Grundstückes. Kam die Eisenbahn zustande, lohnte sich jeder Aufwand auf Grund des Steigens der Bodenpreise. Bis etwa 1860 reichten die genannten Finanzierungsmethoden im allgemeinen aus. Vom Bahnbau erschlossen wurden bis dahin allerdings nur die Gebiete, in denen von vornherein gewinnbringende Nachfrage nach Beförderungsleistungen in genügendem Ausmaß erwartet wurde, 104 Hierbei ist zu beachten, daß der Güterwagenbestand der Bahnen zu einem großen Teil im Eigentum besonderer Transportgesellschaften stand und mithin nicht an das Netz einzelner Bahngesellschaften gebunden war. 1os George Rogers Taylor: The TransportaUon Revolution 1815-1861, New York 1951, S. 92 ff. in etwas anderer Wertung als D. Ph. Locklin: Economics of Transportation, 5. Aufl., Homewood, Illinois 1960, S. 96 f. 1oa 1862 beispielsweise wurden der Gesellschaft für den Bau der Central Paciflc die Ländereien von der Regierung als Geschenk zur Verfügung gestellt. Die alten indianischen Rechte wurden für erloschen erklärt. Die Eisenbahn erhielt Land, das unmittelbar an der Strecke lag. Der Staat reservierte für sich das an das Eisenbahneigentum anschließende Land, um an der Steigerung der Werte teilzuhaben, die aus dem Betrieb der Eisenbahnen erwartet wurde.

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

545

um den Bau von Eisenbahnen zu rechtfertigen. Das Netz blieb fast ausnahmslos auf die Staaten östlich des Mississippi beschränkt. Vielfach gelang es den Gründern der Eisenbahngesellschaften, über das Privileg der Tarifautonomie hinaus auch noch andere, die Gewinnchancen erhöhende Bestimmungen in die Charter einzubauen, vor allem solche, die die latente Gefahr des Entstehens von Konkurrenzlinien milderten. So erhielt z. B. die Boston and Lowell-Railroad eine Monopolstellung für diese Verkehrsbeziehung garantiert, die Amboy and Camden-Railroad Co. bekam vom Staate New Jersey gegen Zahlung geringerBeträgedas Monopol für die Verbindung zwischen New York und Philadelphia, das bis 1868 bestand. Einige Bahngesellschaften erhielten auch das Recht, sich über eine Lotterie Finanzierungsmittel zu beschaffen, andere bekamen das Privileg, Bankgeschäfte zu betreiben. So gestattete der Staat Georgia, daß die Central-Railroad und Georgia-Railroad die Hälfte ihres Kapitals für bankgeschäftliche Zwecke verwenden und Noten bis zum dreifachen Betrag des Bankkapitals ausgeben durften. Picard erwähnt einen Fall, in dem zwar der Bankbetrieb florierte, die Eisenbahn jedoch nie gebaut wurde107 • Gestützt auf die zweite Pacific Railroad Act bestanden ab etwa 1863 für die sich nun bildenden Bahngesellschaften- insbesondere die transkontinentalen Linien - folgende Finanzierungsquellen:

1. Aktien-Emissionen. An und für sich müßten bei Aktiengesellschaften die Emissionen von Aktien Grundlagen der Finanzierung sein. Bei den wichtigen amerikanischen Eisenbahn-Gesellschaften war dies nicht der Fall. Die Aktien dienten ganz anderen Zwecken: Bei der Gründung der Gesellschaft für den Bau der Central-Pacific beispielsweise zeichneten nur 15 Aktionäre Aktien. Der hierdurch aufgekommene Betrag reichte gerade knapp für die Bestreitung der Kosten für die ersten Vorbereitungsarbeiten. Diese Arbeiten mußten auf Kosten der neuen Gesellschaften durchgeführt werden. Gewarnt durch die vielen Fehlgründungen, gewährte nämlich der Staat einer Gesellschaft gewöhnlich erst dann eine bundesstaatliche Beihilfe, wenn sie 25 Meilen gebaut hatte. 2. Verkauf von United States Bonds. Die Regierung gewährte den Gesellschaften nach Fertigstellung von jeweils 20 Meilen ein Darlehen von 16 000 Dollar pro Meile, für Gebirgsstrecken sogar bis zu 48 000 Dollar. Die Bonds, die 30 Jahre Laufzeit hatten, wurden vom Staat zu 6 vH verzinst. Zur Tilgung sowie der Erstattung der vom Staat gezahlten Zinsen sollten die Gesellschaften jährlich 5 vH ihres Gewinnes verwenden. Außerdem wurden 50 vH derPreise für Staatstransporte gutgeschrieben. 107 Ernst Picard: Die Finanzierung nordamerikanischer Eisenbahn-Gesellschaften, Jena 1912, S. 14-16.

35 Voigt lift

546 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs Zur Sicherung wurde auf die gesamten Bahnanlagen einschließlich des rollenden Materials eine zweite Hypothek eingetragen. 3. Emission von Obligationen (mortgage bonds). Die Bahngesellschaften erhielten das Recht zur Emission von mortgage bonds bis zu einem Betrag des Regierungsdarlehens. Die Mortgage Bonds waren mit einer staatlichen Zinsgarantie ausgestattet und mit einer ersten Hypothek auf die Bahnanlagen gesichert. Zu ihrer Sicherung wurde ein Vertrag zwischen der Eisenbahngesellschaft und einem Treuhänder (Trustee) abgeschlossen, der die Interessen der Gläubiger vertreten sollte. Zugunsten des Treuhänders wurde das Vermögen der Gesellschaft verpfändet und eine Hypothek eingetragen.

Weiter wurden equipment bonds zur Finanzierung einiger Gesellschaften ausgegeben, die durch das rollende Material gesichert waren. Zur Sicherung dieser Wertpapiere erwarb der Treuhänder das Eigentum an rollendem Material (Lokomotiven und Wagen). Er verpachtete diese an die Eisenbahn und lieferte ebenfalls unter Eigentumsvorbehalt. Diese Konstruktion der Finanzierung der Eisenbahngesellschaften gab kapitallosen, energischen und wagemutigen Unternehmern eine Chance, sich schnell einen Herrschaftsapparat aufzubauen. Viele Gründungen von Eisenbahngesellschaften wurden nur vorgenommen, um zunächst einmal Gründungsgewinne zu erzielen. Dann waren die so bedachten Gründer verhältnismäßig wenig am weiteren Schicksal der Eisenbahn interessiert. Um beim Bau der Southern Pacific Eisenbahn eine Sicherung zu haben und Gründungsgewinne realisieren zu können, wurde von den Gründern im Jahre 1867 zusätzlich eine besondere Finanzierungsgesellschaft gegründet. Das Aktienkapital bestand aus eigenen "Schuldversprechen" seitens der Gründer. Diese Finanzierungsgesellschaft, die Contract and Finance Co., die also die gleichen Aktieninhaber wie die Eisenbahngesellschaft hatte, schloß mit der Eisenbahngesellschaft, also praktisch die Gesellschafter mit sich selbst, einen Vertrag folgenden Inhalts: Es wurde eine Verpflichtung zum Bau übernommen. Dafür erhielten Aktionäre hohe Gründungsgewinne, die zur Hälfte in bar und zur Hälfte in Aktien gezahlt wurden. Auf diese Weise wurden auch die Machtpositionen der Gesellschaften stabilisiert, die ihre Gewinne in Form von Aktien erhielten. Vorzugsweise wurde also die Eisenbahnlinie durch die Obligationenausgabe finanziert. Die Obligationen wurden teilweise von den interessierten Gemeinden übernommen und weiter durch staatliche Subventionen ermöglicht. Die Aktien stellten hier also im Grunde genommen keine Kapitalinvestierung dar, sondern sie waren Gründergewinne. Der Verkauf der Bonds reichte bei den beiden ersten transkontinentalen Ge-

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

547

sellschaften zur Bestreitung der Baukosten aus. Die Aktien gerieten auch bei anderen Bauten im Laufe der Bauzeit in das Eigentum der Bahndirektoren, ohne daß diese zur Finanzierung beitrugen. Sie gründeten Bau- und Finanzierungsgesellschaften und übertrugen die Bauaufträge an die ihnen gehörenden Gesellschaften. Als Bezahlung gewährten sie diesen Gesellschaften neben Barmitteln aus dem Verkauf der Bonds auch Bonds und Aktien, die zu einem sehr niedrigen Kurs übernommen wurden. Aus diesem Grunde waren verschiedene Bahnen erheblich überkapitalisiert, wie Gutsehe ausführt108• Nehmen wir als Beispiel den Kapitalaufbau der Central Pacific. Er bot folgendes Bild: 33,76 Mill. Dollar Kasse 3,0 Mill. Dollar Bonds

38,44 Mill. Dollar Aktien rd. 75,20 Mill. Dollar Die 1887 eingesetzte United States Pacific RR Commission, die den Mißständen nachspüren sollte, schätzte die Baukosten auf nur rd. 36 Mill. Dollar, eine Summe, die etwa dem aufgenommenen Fremdkapital (Kasse aus Bondsverkäufen, Bondsübereignungen an Baufirmen) entsprach. Für die Union Pacific gibt Reimann 109 eine Überkapitalisierung von rd. 43 Mill. Dollar an. Die Folge dieses Geschäftsgebarens war zum ersten, daß die eigentlichen Kapitalgeber, die Käufer von Obligationen, keinen Einfluß auf die Geschäftspolitik besaßen, zum anderen, daß die Gewinnstruktur trotz des eingetretenen starken Verkehrs äußerst ungünstig war, so daß kaum die hohen Zinsen für die Anleihebeträge herausgewirtschaftet werden konnten. In der Zeit zwischen Fertigstellung der Bahn 1869 und 1881 stand die Geschichte der Central Pacific und der Union Pacific, deren Strecken sich in Ogden (Utah) trafen, im Zeichen zahlreicher, zum großen Teil undurchsichtiger finanzieller Manipulationen seitens der Geschäftsführung. So kaufte etwa der Spekulant Gould sukzessive Aktien der Union Pacific und machte sich 1873 zum Leiter. Aus dieser Finanzierung heraus erwuchs eine vielfache Verschachtelung der Machtpositionen. Meist war nicht feststellbar, welche Gesellschaft herrschte und wie weit jemand, der an der Spitze einer Eisenbahngesellschaft stand, in der Lage war, seine Machtpositionen auszustrecken. Der wirkliche Geldgeber hatte also meist keinen Einfluß auf die Bahn. Die Gründer nahmen dagegen die Herrschaftspositionen ein, obgleich sie kaum Kapitalinvestitionen erbracht hatten. 1os Vgl. Heinz Gutsche: Die Southern Pacific Company, ihre Geschichte, Finanzierung und Rentabilität, Leipzig 1939, S. 54 f. H. Kuhn: Die Canadian Pacific Railway, ihre Finanzierung und Rentabilität, Leipzig 1931. 109 Alfred Reimann: Die Union Pacific Bahn, ihre Entwicklung und Rentabilität, Leipzig 1930, S. 13. 35*

548 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs In die amerikanischen Eisenbahnen wurde dabei vorzugsweise europäisches Kapital investiert. Das Eisenbahnnetz der Neuenglandstaaten wurde sogar entscheidend durch englische und holländische Kapitalbesitzer finanziert. Meist waren es in diesen Ländern kleine Leute, die Aktien und Obligationen dieser scheinbar guten Kapitalanlage zeichneten. Insbesondere die Pazifikbahnen wurden wesentlich von westeuropäischem Kapital, darunter auch erhebliche Mengen deutschen Kapitals, gebaut. Die vielen Konkurse innerhalb dieser Entwicklung bedeuteten wiederum ein "Abwerfen des Kapitalisten", eine Bereinigung der Kostenstruktur zu Lasten des ehemaligen Geldgebers, also der europäischen Volkswirtschaften. Aus dem System dieser Verflechtungen schwangen SichPersönlichkeiten empor, so z.B. die Familien Harriman, Vanderbilt, Hili und Fink. Der ursprüngliche Geldgeber wurde aber überall verhältnismäßig schnell enteignet und aus dem Machtbereich der Unternehmung herausgedrängt. Die Geschichte der amerikanischen Eisenbahnen ist übersät mit Konkursen. Diese Konkurse haben aber in volkswirtschaftlicher Perspektive eine ganz andere Funktion, als gemeinhin angenommen wurde. Kaum eine der Bahnen ging in einem derartigen Konkurs ein. Durch Abschüttelung eines Teils der fixen Kosten nahm die Konzentrationstendenz ihren Fortgang, die "Eisenbahnkönige" festigten ihre Position. Bereits in den ersten 30 Jahren der amerikanischen Eisenbahngeschichte finden wir auffällig steigende Tendenzen zu Zusammenschlüssen. Zunächst entstand eine große Zahl selbständiger Bahngesellschaften, die meist nur kurze Strecken betrieben. Der Wettbewerb in Parallelrelationen, der häufig ruinösen Charakter annahm, führte zum Untergang zahlreicher Gesellschaften, deren Anlagevermögen dann von den überlebenden Gesellschaften billig übernommen wurde. In einigen Staaten erfolgte die Konzentration in der Form von Fusionen, in anderen, deren Gesetze vollständige Verschmelzungen nicht zuließen, pachtete die eine Gesellschaft die Anlagen der anderen. Dabei kam es in einem Fall zu einem Pachtvertrag mit einer Laufdauer von 999 Jahren. So vereinigten sich die sich aneinanderreihenden oder sich bekriegenden, nebeneinander verlaufenden Bahnen zu großen Bahngesellschaften (die Pennsylvania; die Philadelphia-Reading; die New York Central and Hudson River Railway). Nehmen wir als typisches Beispiel der langfristigen Unternehmenspolitik die Entwicklung der Union Pacific RR. Zunächst betrieb Gould, der sich zum führenden Kopf der Gesellschaft emporgearbeitet hatte, eine Umschuldung, indem er hochverzinsliche Schulden einzog und dafür hypothekarisch gesicherte, niedriger zu verzinsende Anleihen ausgab. 1875 zahlte die Union Pacific RR Co. erstmals eine Dividende von 8 vH, wodurch Gould, der seine Aktien für etwa 30 vH erworben hatte,

2. Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in den USA

549

eine Rendite von rd. 25 vH erzielte. Zwar konnten dabei keine Rückstellungen zur Tilgung der Staatsschulden gebildet werden, doch war dies in rechtlicher Hinsicht auch nicht erforderlich, da 1875 der Oberste Gerichtshof festgestellt hatte, daß der Staat erst dann eingreifen dürfe, wenn die Schuld bei ihrer Fälligkeit (1894-1899) nicht zurückgezahlt würde. Erst 1878 erließ der Kongreß ein Gesetz, nach dem jährlich 25 vH des Gewinns an die Regierung abgeführt werden mußten. Die Dividendenpolitik der Union Pacific RR führte zu einem Ansteigen des Aktienkurses auf etwa 70 vH. Nun verkaufte Gould den größten Teil seines Paketes und erzielte wiederum einen hohen Gewinn. Im Jahre 1880 fusionierte Gould die Union Pacific RR, die Kansas Pacific und die Denver Pacific, die die Verbindung zwischen Cheyenne und Kansas City herstellten, zur Union Pacific Railway Company. Die beiden letzteren Gesellschaften waren zuvor im transkontinentalen Verkehr auf dem Streckenabschnitt Ogden-Cheyenne auf die Leistungen der Union Pacific Railroad angewiesen, welche für die Transporte dieser beiden Gesellschaften auf dem genannten Abschnitt hohe Beförderungsentgelte verlangte. Beide, ebenfalls erheblich überkapitalisierte Bahnen, waren wirtschaftlichlieh sehr schwach, ihre Aktien entsprechend billig. Gould kaufte die Gesellschaften auf. Mit der Fusion wurden die Aktien der drei Bahnen zusammengelegt und zum Nennwert durch solche der neuen Gesellschaft ersetzt. Gould, der seine Kansas Pacific Aktien zu 12 vH gekauft hatte, tauschte zu pari um. Der Kurs der neuen Union Pacific Aktien stieg stark an, da der Fortfall der Konkurrenz durch die Kansas Pacific höhere Tarife und damit bessere Dividenden ermöglichte, so daß Gould aus dem Verkauf seiner Aktien enorme Gewinne erzielen konnte. Der Typ des Eisenbahnmanagers wurde in besonders eindringlicher Form durch den Präsidenten der Union Pacific, Harriman, verkörpert. Harriman kaufte ein großes Aktienpaket der Southern Pacific Co. und erreichte damit eine Beilegung des Tarifkampfes zwischen beiden Linien. Da ihm der Kauf von Aktien der Northern Pacific nicht gelang, leitete er eine Verständigung ein, die zur Gründung einer Holding, der N orthern Security Company, führte, in deren Vorstand auch Direktoren der Union delegiert wurden. Diese Gesellschaft mußte allerdings wegen Verstoßes gegen das Antitrust-Gesetz von 1890 wieder aufgelöst werden. 1905 gelang es Harriman, durch Aktienkäufe Einfluß auf die Atchinson, Topeka and Santa Fe Bahn und die San Pedro-Los Angeles and Salt Lake Bahn zu gewinnen. Somit kam ein einheitliches System zustande, das sämtliche Magistralen des Westens umfaßte. Da der Wettbewerb fortfiel, besserte sich die Ertragslage aller am System beteiligten Gesellschaften. Die Großaktionäre setzten durch, daß die Unternehmensgewinne zum größten Teil zur

550 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs Selbstfinanzierung von Verbesserungsinvestitionen verwendet wurden. Die steigenden Unternehmenswerte förderten darüber hinaus die Bereitschaft des Publikums zum Kauf von Eisenbahnschuldverschreibungen, so daß keine Finanzierungsschwierigkeiten mehr auftraten. Als die Emission von Mortgage-Bonds mangels geeigneten Grundbesitzes nicht mehr möglich war, wurden nach 1913 in großem Umfang weitere sog. Equipment-Bonds und Equipment-Trust-Certificates mit Umlaufzeiten von 10 bis 15 Jahren ausgegeben. Zu einer Zeit, als in vielen Ländern sich schon das System der Staatsbahn durchgesetzt hatte, herrschte in den USA noch lebhafter Wettbewerb. Die Tarifpolitik der Bahnen war ausschließlich ein Ergebnis dieses Konkurrenzkampfes, der innerhalb des Raumes notwendig von unterschiedlicher Effizienz war. Es war vorzugsweise ein Wettbewerb nur in den Hauptrelationen, den Knotenpunkten und im Einzugsbereich. Im "unbestrittenen" Raum war dagegen die Nachfrageelastizität in bezug auf den Preis sehr starr. Diese Gebiete mußten die Kosten des Wettbewerbs tragen und für den Gewinn sorgen. Aber ein Wettbewerb von Eisenbahnen dauerte nie lange. Sehr schnell kam es zu Vereinigungen, zu Poolverträgen. Auch in den USA war die Verkehrspolitik zunächst bestrebt, zwischen bestimmten Relationen mehrere Eisenbahnen entstehen zu lassen. Hier führte der Wettbewerb sehr schnell zum Zusammenschluß der konkurrierenden Eisenbahnen. Die scharfe Antitrustpolitik versuchte später systematisch, diese Möglichkeiten zu verhindern. Über Jahrzehnte hinweg entstand ähnlich wie in anderen Wirtschaftszweigen der USA ein Wettlauf zwischen neuen Formen von Wettbewerbsbeschränkungen, die die beteiligten Unternehmen nach kurzfristigen sehr heftigen, meist ruinösen Preiswettkämpfen trafen und der staatlichen Antitrustpolitik, die Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern suchte. Da sich in den USA seit Erwerb der Unabhängigkeit der zwischenstaatliche Verkehr nahezu frei und unbehindert bewegen konnte, hat sich hier die Wirtschaft erheblich mehr spezialisieren können als dies in Europa mit den oft recht kleinen, voneinander vielfach durch Zölle und sonstige hoheitliche Maßnahmen scharf getrennten Staatsgebieten möglich war.

3. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern Ein Vergleich über die Entwicklung der Eisenbahnen in den verschiedenen +-ändern der Welt würde ergeben, daß im einzelnen viele Unterschiede festzustellen sind. Diese ;Einzelheiten der internationalen Entwicklung einander gegenüberzustellen ist aber nicht erforderlich, denn in der langfristigen Entwicklung der Eisenbahnen ergibt sich in allen Staaten der Welt, daß die

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

551

Unterschiede sich allmählich immer mehr verwischen und typische gemeinsame Entwicklungstendenzen beherrschend hervortreten, ein Wesenszug, der genauso bei anderen Verkehrsmitteln zu beobachten ist und den wir mit dem Begriff "eigenständige Entwicklungsdynamik" zu erfassen suchen. Es genügt an dieser Stelle, daß wir einige Extremfälle der Anfangszeit des Eisenbahnwesens schildern. Diese Aufgabe hatte die etwas ausführliche Analyse der Entfaltung der Eisenbahnen in Großbritannien, den USA und in Deutschland zu erfüllen. Wenn einige wenige Streiflichter und Daten aus anderen Räumen gegeben werden, so interessiert eigentlich dabei nur die Überlegung, wann und wo jeweils die Eisenbahnen einer weitergehenden positiven Entwicklung die entscheidenden Impulse gaben, in welcher Datenkonstellation der Entwicklung der Eisenbahnen gar ein sich selbst nährender Prozeß der Industrialisierung erwuchs, und wann und wo trotz des Baues von Eisenbahnlinien wirtschaftliche Entleerungstendenzen sichtbar wurden. Diese Tatbestände sind unter der Perspektive der Eingliederung des neuen Verkehrsmittels "Eisenbahn" in das Weltverkehrssystem zu sehen. Das Weltverkehrssystem mit seiner großen Anzahl von Verkehrsmärkten mit unterschiedlichen Substitutionslücken erfuhr durch den Bau der Eisenbahnen neue Verdichtungen sowie erhebliche Verlagerungen des Schwergewichts. Es formten sich neue Märkte, die Substitutionslücken änderten ihre Form und ihre Struktur wesentlich. Dieser Prozeß im Zeitablauf ist es, der - als Funktion der Unvollkommenheit des Systems - insgesamt auch eine Gestaltungskraft im weltweiten Maßstab entwickelte. Deshalb ist es besonders wichtig zu beobachten, in welcher Reihenfolge, welche Verdichtungen neu erzeugend, welche Sekundärprozesse veranlassend, jeweils Räume durch die Eisenbahnen neu oder besser an diesen eigenartig unvollkommenen Komplex "Weltverkehrssystem" angeschlossen wurden. Wir brauchen also nur noch einige Skizzen über Besonderheiten oder Gemeinsamkeiten der Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern der Welt anzufügen. Die Streckenführung der Eisenbahnen, des Hauptverkehrsmittels des vorigen Jahrhunderts, war meist auf regionale Interessen und billige Trassierungen abgestellt. Erhebliche Steigerungen der Geschwindigkeiten über große Entfernungen hinweg, die nach dem technischen Stand möglich gewesen wären, spielten bei den Planungen eine verhältnismäßig geringe Rolle. Die Eisenbahn war damals allen übrigen Verkehrsmitteln weit überlegen, so daß von dieser Seite die Chancen, die in den Steige'rungen der Geschwindigkeit lagen, nicht genutzt wurden. In den Industrieländern, in denen für die Allgemeinheit sichtbar geworden war, wie sehr sich die Industrialisierung ausschließlich an das Streckennetz der Eisenbahn klammerte, war man vielmehr bestrebt, Eisenbahnstrekken auch in bisher vernachlässigte Räume zu führen, obgleich deren Ent-

552 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs

wicklungschance bereits durch die Erschließung anderer Plätze "verbraucht" war109a, und die Gestaltungskraft der Eisenbahn in diesem Raum unter der gegebenen Technik nicht ausreichte. a) Oberblick über die Entwicklung in einigen Ländern

Die ersten in Österreich in Betrieb genommenen Privatbahnen waren die Strecken von Wien nach Deutsch-Wagram (23. 11. 1837) und von Wien nach Brünn (1840). Durch ein Dekret der Hofkanzlei vom 23. 12. 1841 wurde ein Eisenbahnprogramm aufgestellt. Man plante damals, von Staats wegen nur Hauptstrecken anzulegen, die verbindendenNebenstrecken jedoch der Privatinitiative zu überlassen. Der Betrieb auf allen Linien wurde zunächst an private Gesellschaften verpachtet. Ähnlich wie an einigen Stellen in Bayern blieben die Erträge aber wegen der zu zaghaften Initiative und der zu isolierten, ja kleinräumlichen Planung weit hinter den hochgespannten Erwartungen zurück. Das private Interesse ließ dementsprechend nach. Die ungünstigen Ergebnisse eines zeitweise angestrebten Pachtbetriebes zwangen den Staat, auch die Betriebsführung wieder zu übernehmen. Anders als im benachbarten Deutschland wurden die neu entstandenen Entwicklungschancen des Gewerbes nur sehr zögernd und mit wenig unternehmerischem Wagemut ausgenutzt. In den Jahren 1850-1854 wurden daher die ersten unrentablen Privatlinien vom Staat aufgekauft. Ende 1854 betrug die Gesamtlänge des Österreichischen Eisenbahnnetzes 1433 km; rd. 69 vH ( = 994 km) davon waren Staatsbahnen. Die Verzinsung des Anlagekapitals des Staates betrug 1851 2,4 vH, 1854 3,1 vH. Unter dem Einfluß der sich immer stärker durchsetzenden liberalen Wirtschaftslehren und der schlechten Finanzlage des Staates stieg in den darauffolgenden Jahren dann immer mehr die Neigung, wieder Privatbahnen zu bauen. Die Staatsbahnen wurden durch französisches Kapital übernommen110 • Der staatliche Einfluß wurde aber stärker gesichert, als bei den ersten privaten Bahnbauten (z. B. bei der Tarifgestaltung). In dieser Periode waren es vor allem ausländische Gesellschaften, die den Bau neuer Strecken vorantrieben111 • Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Schule von Saint-Sirnon schwankten in Frankreich von vornherein die Meinungen zwischen Staats1oea Vgl. Fritz Voigt: Das Gesetz der Priorität, in: Schiene und Straße 1959, Dortmund 1959, S. 61-71. 11o Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der Eisenbahnen in der Welt bis ungefähr 1900 fast ausschließlich von europäischem Kapital bestimmt wurde. Vgl. auch Kurt Wiedenfeld: Die Eisenbahn im Wirtschaftsleben, Berlin 1938, S. 120 ff. 111 Vgl. 0. MayeT: Entwicklung und Neuordnung der Österreichischen Bundesbahnen, Jena 1928, S. 2 f.

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

553

eisenbahn und Privatkonzessionen 112 • 1837 legte die französische Regierung einen Eisenbahnbauplan vor. Er war verbunden mit einem umfassenden Programm für den gesamten Land- und Wasserverkehr. Als Finanzierungsschwierigkeiten für die hohen Investitionskosten auftraten, überreichte List König Louis-Philippe eine Denkschrift über die Finanzierung des Eisenbahnbaus durch Notenbanken 113 • Die Pläne der Regierung kamen freilich nur bruchstückweise zur Vollendung. Eine Wirtschaftskrise von 1838 traf die jungen Eisenbahngesellschaften und vor allem die noch im Bau befindlichen Linien. Die wichtigsten bereits erteilten Konzessionen wurden zurückgegeben. Außerdem scheiterten die Vorlagen der Regierung am Parlament. Stark ansteigende Rüstungsausgaben belasteten Staatshaushalt und Kapitalmarkt. Heute noch zeigen die französischen Eisenbahnen die Spuren der damaligen schweren Krisen als Anteludialeffekt, in Netzaufbau, Linienführung und in ihrem Rechtsnormensystem. Das Gesetz vom 11. Juni 1842 zog die Bilanz aus den bisherigen Schwierigkeiten. Es entstand von diesem Zeitpunkt an ein Privatbahnsystem unter starkem öffentlichen Einfluß und zunächst wesentlich englischer Initiative. Der Staat übernahm in der Regel die Beschaffung des Grund und Bodens, er baute die Bahnhöfe und den Unterbau; der Oberbau und das rollende Material waren von den Privatgesellschaften zu liefern. Ihnen wurde der Betrieb auf 99 Jahre übertragen. Nach Ablauf der Konzessionen sollten die Anlagen entschädigungslos an den Staat fallen. Das Gesetz vom 11. Juni 1842 sah in einem Zehnjahresplan den Bau eines systematischen Bahnnetzes vor, das aus 6 Radiallinien bestand und von Paris seinen Ausgangspunkt nahm114 • Ab 1852 wurden in Frankreich 6 große Eisenbahngesellschaften gegründet. Durch zahlreiche Fusionen existierten 1859 außer diesen 6 großen Gesellschaften nur noch 11 Bahnen untergeordneter Bedeutung 115 • Die 6 großen Gesellschaften waren folgende: 1. Die Nordbahn,

2. 3. 4. 5. 6.

Die Die Die Die Die

Paris-Orleans-Bahn, Paris-Lyon-Mittelmeer-Bahn, Ostbahn, W estbahn, Südbahn.

Alle Linien mit Ausnahme der Südbahn hatten ihren Ausgangspunkt in Paris. Unter starker staatlicher Einflußnahme kam somit ein plan112 M. Vatton: Les Saint-Simoniens et les Chemins de Fer, Annales de l'Ecole de Seiences Politiques 1908. ua Henri See: Französische Wirtschaftsgeschichte, 2. Bd., Jena 1936, S. 213. 114 Vgl. H. NoTdmann: a.a.O., 8.17. 11ll Vgl. Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, a.a.O., Bd. 5, S. 170.

554 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs mäßiges Eisenbahnsystem zustande. Die Querverbindungen wurden dagegen kaum ausgebaut, um nicht zu sagen, vernachlässigt. Generationenlang fehlte eigentlich der Charakter eines Netzes. Diese Struktur mußte eine schärfere Konzentrationswirkung mit sich bringen als in Ländern, deren Eisenbahnsystem nicht in dieser Weise strahlenförmig von der zentralgelegenen Hauptstadt aus, sondern mehr netzförmig aufgebaut war. Sie hat das unvergleichlich schnelle Wachstum von Paris mit verursacht. Die Hauptstadt wurde zum Mittelpunkt der gesamten volkswirtschaftlichen Kraft, die Provinzen dagegen verödeten in bedenklicher Weise. Auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich ein fast merkantilistisch anmutender Staatseinfluß beim Ausbau der Eisenbahnen in Frankreich: Finanzierung von Zuschußlinien mit Schuldverschreibungen, für die der Staat 4prozentige Garantie übernahm. Durch Gesetze von 1878 und 1879 wurden Staatsbahnstrecken gebaut. Die Staatsverwaltung war zwar nur als Übergangszustand bis zur Übergabe an finanzkräftige Privatgesellschaften gedacht, trotzdem erhielt sich dieses Staatsbahnsystem inmitten staatlich beeinflußter Privatgesellschaften (Gesetze 1883, 1909, 1911). Nach Erwerb der Westbahn (1909) umfaßte das Staatsbahnnetz 9000 km, das Privatbahnnetz bis zur Gründung der Societe Nationale des Chemins de Fer kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs 37 000 km. Belgien stellte 1834 von vornherein einen Plan für die Schaffung eines Netzes von Staatsbahnen auf. Als aber dann Privatbahnen zugelassen wurden, wurde dieser Plan nicht durchgeführt. Entsprechend dem föderativen Aufbau des Landes war die Entwicklung der Eisenbahnen in der Schweiz in starkem Maße durch das regionale Interesse der einzelnen Kantone bestimmt. Dieses trug vielfach zu einer von der wirtschaftsgeographischen Perspektive aus unzweckmäßig festgelegten Streckenführung bei. Das Eisenbahngesetz aus dem Jahre 1852 bestimmte, daß der Bau und der Betrieb von Eisenbahnen entweder den Kantonen oder der Privaten Hand, nicht aber dem Bund zustehe. Die Kantone hatten das Recht, die Konzession des Bahnbaus zu erteilen. Erst 1872 wurde durch ein neues Eisenbahngesetz die Eisenbahnhoheit und das Konzessionsrecht auf den Bund übertragen, gleichzeitig aber auch das Privatbahnsystem betont. Erst das besonders statuierte Rückkaufsgesetz von 1897 gab die Möglichkeit zur Errichtung der Schweizerischen Bundesbahn, die am 1. 1. 1902 ihren Betrieb aufnahm. Aber auch heute noch sind vom schweizerischen Eisenbahnnetz von rd. 5000 km nur 3/s in der Verwaltung der Bundesbahn. Die bedeutendsten Privatbahnen sind die Berner Alpenbahngesellschaft, die die Linie von Bern über Lötschberg nach Simplon betreibt und 1906 unter dem Einfluß des Kantons Bern errichtet wurde,

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

555

sowie die Rhätische Bahn, die ein Schmalspurbahnnetz des Kantons Graubünden betreibt116 • Die erste Eisenbahn in Dänemark wurde 1847 zwischen Kopenhagen und Roskilde gebaut. 1856 wurde sie bis Korsör verlängert. Auch hier spielte die private Initiative eine große Rolle. Auf Rechnung des Staates wurden Eisenbahnen in Jütland und Fünen gebaut, deren Betriebsführung der Staat 1867 übernahm. 1880 wurde die Seeländische Eisenbahngesellschaft der staatlichen Betriebsführung unterstellt. Gerade bei diesem Land spielen die Fährverbindungen eine große Rolle. 1871 wurde die erste Dampffährlinie über den Kleinen Belt geschaffen. Das staatliche Streckennetz, das 1887 eine Länge von 1538 km ausmachte, wuchs bis 1907 zu einem Umfang von 1912 km und bis 1927 auf 2457 km an 117 • Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges bestanden die Eisenbahnen je zur Hälfte aus Privatbahngesellschaften und aus Staatsbahnlinien. Der späte und unvollkommene Ausbau der Eisenbahn in Spanien hat die Entwicklung des ganzen Landes sichtbar beeinträchtigt. Als erste spanische Eisenbahngesellschaften von Bedeutung wurden die MadridZaragoza & Alicante-Eisenbahn und die SpanischeNord-Eisenbahn (1857 bis 1858) gegründet. Im Wettbewerb wurden allmählich die selbständigen kleineren Eisenbahnlinien übernommen, 1898 die Katalonische Eisenbahn zusätzlich erworben. 1934 schloß die Spanische Nord-Eisenbahn eine Betriebsgemeinschaft mit der Madrid-Zaragoza & AlicanteLinie. Der Landkoloß Rußland wurde infolge der ängstlichen und zögernden Wirtschaftspolitik seiner mit vielen inneren Problemen ringenden Regierung durch Eisenbahnen sehr spät und ganz besonders unvollkommen erschlossen. Als erste Eisenbahn in Rußland wurde zwar schon im Jahre 1836 die Strecke von Petersburg nach Zarskoje-Selo-Pawlowsk gebaut. Die von Ausländern errichtete Bahn hatte nur eine Länge von 26 km. Die Spurweite betrug 1829 mm11 s. Bis 1850 ging jedoch der Eisenbahnbau nur sehr zaghaft vorwärts. In diesem Zeitraum wurde in den ausgedehnten und für den Eisenbahnbau günstigen Tiefebenen lediglich eine Strecke von 600 km fertiggestellt. Zur Zeit des Krimkrieges gab es erst die Strecken Petersburg-Moskau und Warschau-Krakau. Die asiatischen Gebiete Rußlands blieben zunächst völlig ohne Eisenbahnen. 11 '

Vgl. zu den Schweizer Bahnen auch: Ein Jahrhundert Schweizer Bahnen

1847-1947, Jubiläumswerk des Eidgenössischen Post- und Eisenbahndepartments in fünf Bänden, Frauenfeld 1957.

117 E. v. Wissmann: Die Dänischen Staatsbahnen. In: Archiv für das Eisenbahnwesen, 72 Jg. (1962), S. 148 ff. 11s Vgl. N. S. Schilnikow: Transport SSSR i jego raswitije (Das Transportwesen der UdSSR und seine Entwicklung), Moskau 1957, S. 5 f. - W. Obraszow: Die Eisenbahnen der Sowjetunion, (aus dem Russ.) Ost-Berl1.n

1946,

s. 3.

556 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs

Die Binnenschiffahrt spielte in Rußland sogar für den Ost-West-Verkehr noch die übergeordnete Rolle, als in anderen Teilen Europas schon der durch die Eisenbahnen ausgelöste Industrialisierungsprozeß sichtbar war. In der ersten Zeit wurde daher als wichtigste Aufgabe des Eisenbahnhaus die Verbindung der Wasserwege angesehen, um das Schleppen der Lasten beim Ost-Westverkehr zu vermeiden. Die Linie Kalatsch-Zarizyn (das jetzige Wolgograd), die die Wolga mit dem Don verbindet, wurde zu einer der ersten Eisenbahnlinien. Verhältnismäßig früh wurde die Linie Perm-Tjumen gebaut, die das Bassin der Wolga mit dem Bassin des Ob verbindet. Im Jahre 1851 wurde die Strecke Petersburg-Moskau in Betrieb genommen. Sie hat eine Länge von 644 km und war die erste Linie, die mit einer Spurweite von 1524 mm118 gebaut wurde. Dies ist seither die Standardweite der russischen Bahnen. Die vorher errichteten Strecken wurden auf diese Spurweite umgebaut12o. Bis 1861 wurden die Eisenbahnen in Rußland hauptsächlich als Staatsbahnen gebaut; dann wurde angesichts der besonderen Situation Rußlands in dieser Zeit auch die Privatinitiative zugelassen, vorzugsweise mit ausländischem BankkapitaL Nach dem russisch-türkischen Krieg 1877-1878 wurde wieder der Bau staatlicher Eisenbahnen verstärkt. 1913 gehörten dem Staat etwa 70 vH des sehr weitmaschigen Eisenbahnnetzes121. Im Jahre 1910 umfaßte das europäische Netz der russischen Eisenbahnen rd. 60 000 km, das asiatische dagegen nur 17 000 km. Damals war die große sibirische Eisenbahn noch nicht fertiggestellt. Nachdem nunmehr die Bedeutung der Eisenbahnen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erkannt worden war, wurde die Schiffahrt vernachlässigt. Wie Relikte der volkswirtschaftlichen Bedeutung der kleinen Flüsse als wichtige Verkehrsmöglichkeiten früherer Jahrhunderte blieben die an ihnen angelegten Handelsstädte bestehen. Allmählich wurden sie auch kraft des in ihnen liegenden Strebens, die alte, überkommene Position wieder zu gewinnen, Anziehungspunkte neuer Eisenbahnstrecken und Straßen. Im 1. Weltkrieg zeigte sich das russische Eisenbahnnetz in jeder Hinsicht als ungenügend. Auch im ersten Fünfjahresplan wurde es vernachlässigt. Es ergaben sich im Laufe des Planes große Unzuträglichkeiten und Stockungen. In späteren Fünfjahresplänen wurde deshalb dem Verkehrswesen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Kurz vor Beginn des 119 Daneben gibt es Schmalspuren mit Spurweite von 1000 mm, 750 mm und weniger. 120 Vgl. W. Gumpet: Zur Geschichte der sowjet-russischen Eisenbahnen, Archiv für das Eisenbahnwesen, 72. Jg., H. 1/1962, S. 42. 121 Vgl. Große Sowjetenzyklopädie, Reihe Technik, Bd. 23, Eisenbahnwesen I, deutsche Übersetzung, Leipzig 1954, S. 19.

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

557

2. Weltkrieges wurde die transsibirische Eisenbahn zweigleisig gebaut. Es entstand die Süd-Sibirische Eisenbahn. Die Industrialisierung der UdSSR konnte erst von dem Zeitpunkt an Erfolg haben, als das Eisenbahnsystem besser ausgebaut war. Wäre die Eisenbahn nicht erfunden worden, so wären die Landkolosse in der dumpfen Abgeschiedenheit vom Weltverkehr und der industriellen Entwick:lung zurückgeblieben. Tatsächlich fand dort, wo die Eisenbahnen mit einem so dünnen Netz ausgebaut worden waren, daß sie keinen sich selbstnährenden Prozeß der Industrialisierung auszulösen vermocht hatten, fast keine Entwicklung statt. Der Berliner Vertrag von 1878, in dem die Freiheit Bulgariens von den Großmächten gesichert wurde, verpflichtete Bulgarien, das Land durch ein Eisenbahnnetz mit Westeuropa zu verbinden. Die daraufhin erbaute Bahn führte, weil man Baukosten sparen wollte, mitten durch das Land und ließ selbst die Hauptstädte der Provinzen mehrere Kilometer von der Bahn entfernt liegen122 • Besonders einseitig bestimmen die Eisenbahnen die wirtschaftliche Erschließung eines Landes, wenn militärische oder andere außenwirtschaftliche Gesichtspunkte den Vorrang erhalten. In Nordchina wurden beispielsweise von Rußland und Japan allein aus taktischen Gründen Eisenbahnen gebaut, die ihrerseits nun für Generationen das wirtschaftliche Gesicht des Landes prägten. In Mittelund Südchina waren zwar die Eisenbahnen vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen entstanden, jedoch spielten auch hier ausländische Staaten eine entscheidende Rolle. 1901 gab es in China insgesamt nur 850 km Eisenbahnen. 1937 war das Netz auf 21 000 km und 1945 auf 29 000 km, 1950 auf 30 000 km angewachsen. Dabei haben aber große Gebiete, z. B. Sinkiang und Tibet, noch keine Eisenbahnen. Das Eisenbahnnetz in China entwickelte sich wie folgt: Entwicklung des Eisenbahnnetzes in China (in Tausend)

Jahr 1901 1909 1931 1937 1945

km 0,85 6

14 21 29

122 Zum Eisenbahnverkehr in weiteren Zentralverwaltungswirtschaften und Jugoslawien vgl. auch: Zottan Palotas: A Közlekedes Koordinäci6ja

558

§ 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs

Aus der folgenden Aufstellung ist ersichtlich, wie unterschiedlich die Entfaltung des Eisenbahnsystems in den Kontinenten von 1840 bis 1910 verlaufen ist. Besonders spät (1860) nahm Asien den Eisenbahnbau auf. Entwicklung der Eisenbahnen in den Erdteilen bis zum ersten Weltkrieg (1000 km) Jahre

Europa

Amerika

1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1913

3,1 14,4 51,9 103,0 168,4 223,4 283,9 333,8 346,7

5,5 24,1 54,0 93,8 170,3 330,6 402,2 526,4 567,1

Afrika

Australien und Ozeanien

-

-

-

0,4 1,8 4,6 9,8 20,1 36,8 44,3

-

0,3 1,6 7,8 18,9 24,0 31,0 35,7

Asien -

-

1,4 7,8 15,9 33,2 60,3 101,9 108,0

Insgesamt 8,6 38,5 107,9 207,9 367,0 615,9 790,5 I 030,0 1 102,0

Quelle: Große Sowjet-Enzyklopädie, Eisenbahnwesen I, Leipzig 1954, Seite 47.

b) Bewertung dieser Entwicklung Der vorstehende kurze Abriß der Entwicklung der Eisenbahn in verschiedenen Ländern zeigt deutlich die unterschiedliche Intensität, mit der sich der Eisenbahnbau in den verschiedenen Staaten der Welt entfaltete. Bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verfügten die Länder Europas sowie die Vereinigten Staaten über rd. 70 vH des gesamten Streckennetzes der Eisenbahnen auf der Welt. Die Entwicklungsdynamik von Staat zu Staat variierte dabei. So stieß beispielsweise in Frankreich in der Anfangszeit die Finanzierung der Eisenbahnen auf große Schwierigkeiten. Jahrzehntelang waren aus diesem Grunde die Engländer im französischen Eisenbahnbau führend. Die Errichtung des Credit MobHier 1852 war dann die Reaktion auf diese Entwicklung. Sie wurde wesentlich durch die hohe Investitionstätigkeit der Eisenbahnen und die hier ausgelöste Gestaltungskraft hervorgerufen. Die Vervollständigung des Eisenbahnnetzes ging im Zeitablauf sehr ungleichartig voran. Zeiten stürmischer Neubautätigkeit wechselten mit Perioden auffälliger Stagnation. Vielfach finden wir an den Börsen Kämpfe der "Eisenbahnkönige" um Machtpositionen. So kämpften um nehany tervallamban (Die Koordination des Verkehrs in einigen Planstaaten). Közlekedesi Közlöny (Verkehrswissenschaftliche Rundschau) Budapest 1959, Nr. 43; ders.: Jugoszlavia közlekedesenek tizeves fejlödese. In: Különlenyom.at a Közlekedestudomänyi Szembe 1956, evi 7...,...S. szämäbol.

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

559

1900 Harriman und Hm um die Herrschaft über die Bahnen des Westens der USA. Der Kampf wurde noch an den europäischen Börsen fortgesetzt. Die Aktienkurse der Northern Pacific stürzten mehrfach auf Bruchteile des früheren Wertes und stiegen dann wieder um das Zehnund Zwanzigfache. Der Bahnbau durch private Unternehmer war angesichts der in der Anfangszeit vorherrschenden Metallumlaufswährung von der jeweiligen Lage des damals im Vergleich zu heute viel engeren und starreren Kapitalmarktes abhängig. Die Spekulation spielte oft eine sehr entscheidende Rolle. Der Bau neuer Linien wurde durch sie stark beschleunigt. So folgten auf Perioden völliger Stockung des weiteren Eisenbahnbaues immer wieder solche stürmischster Bautätigkeit, die allgemeinen Konjunkturwellen geradezu entscheidend mitformend. Die von den ersten Eisenbahnen erzielten hohen Gewinne hatten zur Folge, daß in wirtschaftlich bevorzugten Gebieten immer neue Anreize erwuchsen, um die Konzession für weitere Eisenbahnlinien nachzusuchen. In diesen privilegierten Wirtschaftsräumen setzte der Eisenbahnbau kumulative Expansionsprozesse in Gang. Die Multiplikatorwirkung der Eisenbahninvestitionen auf das Volkseinkommen konnte jedoch erst eintreten, nachdem das überkommene System der Geldverfassung und des Kapitalmarktes durchbrachen und damit die Möglichkeit zur Geldschöpfung gegeben war. Eigenartig ist bei diesem Prozeß nur, daß er den Beteiligten lange nicht zum Bewußtsein kam. Beim Entstehen der Eisenbahnen waren die Lehren der klassischen Nationalökonomie bereits Allgemeingut. Die hiervon beeinflußten staatlichen Stellen versuchten deshalb dort, wo sie Privateisenbahnen zuließen, den Wettbewerb im Eisenbahnwesen zu sichern. Doch ergab sich sehr schnell, daß die Prinzipien der freien Konkurrenz nicht das hielten, was man sich von ihnen versprach123. Der Wettbewerb unter den Eisenbahnen führte schnell zur Konzentration und Monopolbildung. Erst dann wurde der Öffentlichkeit bewußt, welche politische und wirtschaftliche Macht der großen volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft der Eisenbahn innewohnte und damit denjenigen zuwuchs, die Wirtschaftsgebaren und Geschäftspolitik der Eisenbahnen bestimmten. Durch die Eisenbahnen und insbesondere ihre die volkswirtschaftliche Struktur prägende hohe Gestaltungskraft entstanden wichtige Machtpositionen bei Personen, die innerhalb des Eisenbahnwesensführende privatwirtschaftliche Stellungen innehatten. Dazu gehörten Strousberg in Deutschland, George Hudson in England und Henry Villard in Amerika. 12s Sehr klar sah Otto Lüning die voraussichtliche Entwicklung der Eisenbahn bzw. ihre Auswirkungen auf die Industrie in der Monatsschrift "Das westphälische Dampfboot", 2. Jg., Biele!eld 1846, S. 362 ff.

560 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs Als Reaktion gegen dieses auffällig schnelle Entstehen wirtschaftlicher und politischer Macht- nochmals sei es betont: infolge der hohen volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft der Eisenbahnen- mußte es in liberalen Staaten sogar zu Gegenmaßnahmen gegen die privatwirtschaftliehe Struktur dieser für die Entwicklung jeder Landschaft so entscheidend wichtigen Monopolmacht kommen. Die hier im Bereich der privatwirtschaftlichen Entwicklung der Eisenbahn entstehende wirtschaftspolitische Macht war sogar erheblich wirksamer als alle wirtschaftspolitischen Werkzeuge, die dem liberalen Staat zur Verfügung standen. Eine der wichtigsten Reaktionen war die Verstaatlichungswelle gegenüber privaten Eisenbahngesellschaften 124 , fast überall dort, wo die Eisenbahnen in privatwirtschaftlicher Initiative begonnen hatten. Dieser Prozeß zog sich über ein ganzes Jahrhundert hin. Und noch eine Feststellung darf nicht vernachlässigt werden: Wo die Entwicklung des Eisenbahnnetzes von privatwirtschaftlicher Initiative bestimmt war, wurden neue Eisenbahnlinien nur dort im Raum errichtet, wo sich im Entwicklungsprozeß jeweils die höchste Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals erwarten ließ. Da aber die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals wesentlich von der Streuung der Einkommensund Kapazitätseffekte vorhergegangener Investitionen abhing, war das Ergebnis nicht ein gleichmäßiges, dichtes Eisenbahnnetz über einen Raum oder gar die Erde hinweg, sondern sehr enge Verdichtungen an manchen Stellen, hier sogar über das Optimum125 hinausschießend. An anderen Stellen aber war das Netz sehr weitmaschig; oder es kam überhaupt nicht zu einer Ausbildung des Netzes, sondern lediglich zu einigen vereinzelten Linien. In einem Einheitsstaat ist eine günstig gelegene Hauptstadt der Punkt, in dem sich die höchste Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ergibt. 124 Zu dem Ringen zwischen Staatsbahnsystem und privatwirtschaftlich betriebener Eisenbahn vgl. G. Cohn: Zur Geschichte und Politik des Verkehrswesens, Stuttgart 1900, S. 113 ff., und speziell für Österreich: 0. Mayer: Entwicklung und Neuordnung der Österreichischen Bundesbahnen, Jena 1928,

s. 5 ff.

125 Wie wir im theoretischen Teil sahen, ist das Optimum bestimmt durch die volkswirtschaftliche Gestaltungsfähigkeit des Verkehrssystems und den jeweiligen Stand des technischen Wissens, der über die Lage der ausnutzbaren Grenzkostenverläufe entscheidet. Neuinvestitionen in der marktwirtschaftliehen Dynamik werden aufgrund von Entschlüssen der Unternehmer durchgeführt. Diese Entschlüsse basieren zwar auf der Erfahrung der Vergangenheit, stützen sich aber für die Zukunft auf Schätzungen. Da in einer Marktwirtschaft ein Unternehmer ohne Rücksicht auf den anderen plant und demgemäß der Sättigungszustand für den einzelnen oft sehr schwer übersehbar ist, sind Fehlschätzungen sehr leicht möglich. Sie treten vor allem dort ein, wo aus den Erfahrungen der Vergangenheit ein falscher Eindruck über die Möglichkeit der Ausweitung des Verkehrssystems und anderer Investitionen entsteht.

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

561

Zielen die errichteten Eisenbahnlinien auf die Hauptstadt ab, bildet sich hier immer wieder die höchste Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, da die Streuung von Einkommens- und Kapazitätseffekten immer erneut auf den bevorzugten Brennpunkt des sich gerade hier verstärkenden Eisenbahnnetzes fällt. So kommt es, daß wir beispielsweise für Frankreich eine beachtliche industrielle Entwicklung in Paris finden, aber weite Teile der ursprünglich blühenden Provinz keine Chance einer ähnlichen Entwicklung erhielten. Dort, wo der Staat die Initiative zum Ausbau des Eisenbahnnetzes ergriff, hat er sich vielfach über diese Dynamik hinweggesetzt. Er baute Strecken dort, wo die private Initiative die Errichtung nicht gewinnbringend genug empfand. Aber auch der Staat brauchte zur Vornahme von Bauarbeiten Steuermittel oder Kredit. Es kam also ebenfalls darauf an, inwieweit schon vorhandenes Einkommen für die Erweiterung des Eisenbahnnetzes herangezogen werden konnte oder der Weg der Inanspruchnahme von zusätzlichem Kredit gangbar war, ohne daß der Staatshaushalt zu stark beansprucht wurde oder gar inflationistische Tendenzen auftraten. Er hätte also auch von einem durch das Verkehrssystem ausgelösten lndustrialisierungsprozeß profitieren können. Oft hatte aber der Staat, vielleicht unter der Einwirkung des Parlaments, nicht genügend Wagemut und Initiative, die Vorleistungen zu erbringen, die derartige Folgeprozesse hätten auslösen können. Immerhin hat die Initiative des Staates manche Einseitigkeiten behoben, die in der privatwirtschaftliehen Dynamik entstanden wären. Man darf das Eisenbahnnetz eines Landes nicht isoliert betrachten. Mindestens ebenso wichtig ist die Art seiner Eingliederung in das Weltverkehrssystem, das in seinen Schwergewichten und in seiner eigenständigen Entwicklungsdynamik durch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn völlig umgestaltet wurde. Hier ist nämlich entscheidend, ob die Eisenbahnen ein Netz bildeten, das zu einem sich selbst nährenden, räumlich beschränkten Industrialisierungsprozeß Anlaß gab, oder ob der Anschluß neu gebauter Strecken an das Verkehrssystem der Welt nur einen weiteren Raum für die überlegene Wirtschaftskraft anderer Räume eröffnete. Neue, im Entwicklungsprozeß bereits überlegen gewordene Industrien vermochten sinkende Grenzkosten durch die Steigerungsfähigkeit des Absatzes auszunutzen. Dem neu erschlossenen Raum wurde Kaufkraft entzogen. Er erhielt aber nicht genügend Impulse sofort konkurrenzfähig zu werden. Dabei kommt es, wie wir sahen, nicht darauf an, ob das Land oder die Wirtschaft des Raumes in der Ausgangslage reich oder arm war. In der Entwicklung fortgeschrittene wie auch in der Ausgangslage ausgesprochen arme Länder brachten ein dichtes Eisenbahnnetz zustande 36 Voigt II/1

562 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs und erreichten über den selbstnährenden Prozeß der Industrialisierung eine schnell zunehmende Steigerung der Wirtschaftskraft, die wiederum Anlaß war, das Verkehrssystem weiter zu verbessern. In einigen Räumen, die in der Ausgangslage im Vergleich zu den damaligen weltwirtschaftliehen Verhältnissen reich waren, in denen aber die Eisenbahn zu spät oder zu unvollkommen entwickelt wurde oder bei denen der volkswirtschaftliche Sparprozeß zu unelastisch war, insbesondere die Ausdehnung des Kredits und damit die Giralgeldschöpfung unüberwindbare Hemmungen bereitete, traten bei dem späteren Bau eines viel zu weitmaschigen Netzes nicht genügend Impulse auf, um größere Unternehmen gewinnbringend zu errichten, mehr Maschinen einzusetzen, bessere Energiequellen zu erschließen. Sie blieben in der Entwicklung zurück. Das Eisenbahnsystem verharrte in seiner Dürftigkeit und Weitmaschigkeit, da das Land arm blieb und angeblich das "Kapital" fehlte, denn die Struktur der Wirtschaft wurde durch das Aufkommen der Eisenbahn kaum verändert. Damit fanden hier die Prozesse nicht statt, die in anderen Ländern oft durchaus in übersteigerter Form, mit vielen Fiebererscheinungen und häßlichen Begleitumständen stattfanden, langfristig aber doch revolutionierend wirkten und die Wirtschaftskraft gewaltig steigerten. Ein typisches Beispiel für Räume, die in der Ausgangslage nahezu unerschlossen waren und von einer armen Flüchtlingsbevölkerung bewohnt wurden, war die langfristige Entwicklung in Teilen des nordamerikanischen Kontinents. Viele Vorgänge beim Aufbau der Eisenbahn gemäß dem Prinzip des Laissez-faire waren - etwa von der mittelalterlichen katholischen Auffassung aus gesehen - ungesund. Die Möglichkeit, mit dem Bau von Eisenbahnen schnell ökonomische und politische Macht zu erwerben, war oft geradezu bedrückend. Aber die einkommensbildende Kraft der Investitionen des Eisenbahnbaues, die Möglichkeit der Erschließung neuer Absatzwege, die steigende und immer wiederkehrende Chance der Gewinnerzielung durch zusätzliche Investitionen und damit erneut die Erhöhung der Einkommen ließen in diesem Land ein eigenes begrenztes Zentrum der Industrialisierung entstehen, in dem durch fehlende staatliche Beschränkung alle Chancen steigender Massenproduktionen, der Anwendung modernster arbeitskraftsparender Maschinen unter Ausdehnung der Nachfrage genutzt werden konnten. War Nordamerika vor Einführung der Eisenbahnen ledigZieh ein nicht eigenständiges Glied des Weltverkehrssystems, das, auf Europa ausgerichtet, Satellit der wirtschaftlichen Entwicklung der Heimatländer war, wurde es nun zu einem eigenständigen Zentrum wirtschaftlicher, insbesondere industrieller Entwicklungsfähigkeit. Ganz anders war die Situation in anderen Ländern, die in der Ausgangslage verhältnismäßig reich waren, wie z. B. Spanien, Portugal, Italien, Indien,

3. Entwicklung der Eisenbahnen in anderen Ländern

563

China. Hier gab die Einführung der Eisenbahn nur wenig Impulse, da sie im großen und ganzen zu spät kam und sich die Konkurrenten in anderen Ländern bereits zu höheren Stadien entwickeln konnten. Das Eisenbahnsystem dieser Länder - vor allem Chinas und Indiens- wurde zu einem wenig gewichtigen Anhang des Weltverkehrssystems, so daß die sich schnell entwickelnden Industrieländer dort einen beschränkten Absatz- und Bezugsmarkt aufgrund ihrer steigenden Wirtschaftsmacht erschließen konnten. Betonen wir nochmals: Versuchen wir die unterschiedliche Entwicklung der Eisenbahnen in der Welt zu analysieren, so stellen wir zunächst fest, daß die Unterschiede in der Intensität der Entwicklung des Eisenbahnhaus nicht etwa nur eine Folge von Reichtum oder Armut in der Ausgangslage der Entwicklung waren. Einige der damals reichen Länder vernachlässigten den Eisenbahnbau, einige der damals armen Länder - dazu gehörten auch deutsche Räume - forcierten ihn. Deutlich sehen wir in der Folgezeit, wie dieses wichtigste und leistungsfähigste Verkehrsmittel auf dem Land sich selbst nährende Prozesse der Industrialisierung auslöste. Sie entwickelten sich entsprechend der Fähigkeit des Verkehrsmittels, differenzierende Entwicklungschancen zu erzeugen und die Einkommenseffekte der Investitionstätigkeit nicht gleichmäßig über die Räume der Welt zu streuen, sondern eng an sein Netz zu binden, vorzugsweise in den Räumen maximalen Baues von Eisenbahnen. Andererseits darf man aber auch den Entleerungseffekt nicht übersehen, den einseitige Anschlüsse an das Verkehrssystem mit sich brachten 128 • Länder ohne genügenden Eisenbahnbau blieben in der Folgezeit in der wirtschaftlichen Entwicklung immer mehr zurück, auch wenn sie in der Ausgangslage zu den "reichsten Ländern" gehörten. Ihnen fehlte der Impuls, den die Gestaltungskraft d.es neuen Verkehrsmittels auslöste, und sie kamen schnell in die nachteilige Situation des zu schlechten Anschlusses an das sich durch die Eisenbahn nun verändernde Weltverkehrssystem. Ein schlechter Anschluß bedeutet, wie wir sahen, häufig die Gefahr von Tendenzen wirtschaftlicher Entleerungen. Vor allem machten diese Länder jene grundlegenden Strukturwandlungen nicht oder zu spät mit, die das neue Verkehrsmittel in Mittel- und Westeuropa und den USA erzwang. Wir haben sie später zu behandeln. Das in sehr unterschiedlicher Dichte aufgebaute Eisenbahnsystem führte aufgrundseiner Gestaltungskraft in Form der im theoretischen Teil analysierten Differenzierungseffekte dazu, daß die bereits in wirtschaftlicher Blüte stehenden Landesteile einen noch stärkeren Auf128 Vgl. Fritz Voigt: Die gestaltende Kraft der Verkehrsmittel in wirtschaftlichen Wachstumsprozessen. Bielefeld 1959. Untersuchung der Auswirkungen der bayerischen Staatsbahnen.

38*

564 § 3: Eingliederung der Eisenbahnen in das System des Weltverkehrs schwung erlebten, der Abstand zu wirtschaftlich schwachen Räumen dagegen immer größer wurde 127•

4. Gründung internationaler Organisationen Der erste wichtige Zusammenschluß von Eisenbahnverwaltungen war der 1846/47 gegründete Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen, dem sich nach den Österreichischen Staatsbahnen 1849 die ungarischen Staatsbahnen, später die Bahnen von Luxemburg, den Niederlanden und Rumänien anschlossen128• Ähnliche Vereinigungen entstanden auch in anderen Teilen der Welt. 1885 wurde durch Vertreter von 24 Regierungen aus vier Kontinenten und von 136 Eisenbahnverwaltungen der Internationale Eisenbahnkongreß gegründet. Er hat zunächst versucht, ähnlich dem Weltpostverein, zu einem Welteisenbahnverein mit bindenden Beschlüssen der Mitgliederversammlung zu kommen, was ihm aber nicht gelang. Der Kongreßverband, der nach dem 1. Weltkrieg in Kongreßvereinigung umbenannt wurde, beschränkte sich deshalb bis heute auf die Forschung 12 ~. 1886 wurde das Berner Obereinkommen über die Technische Einheit im Eisenbahnwesen (L'Unite technique des ehernins de fer- UT) getroffen, dem sich fast alle Eisenbahnverwaltungen Europas anschlossen. Seine Aufgabe ist es, die technischen Bedingungen festzulegen, denen die Eisenbahnzüge im internationalen Durchgangsverkehr entsprechen müssen. Festgelegt wurden beispielsweise Bestimmungen über den Achsdruck und die Bremsen. Das 1902 gegründete Internationale Eisenbahn-Transport-Komitee (Comite International des Transportspar Chemins de Fer - CIT) brachte, fußend auf dem Berner Abkommen, bis zum 2. Weltkrieg 5 Übereinkommen, in denen Regelungen über den Eisenbahngüterverkehr wie auch der gemeinsamen Rechte und Pflichten der Eisenbahnverwaltungen immer wieder der Entwicklung angepaßt wurden. Aus Fahrplankonferenzen, die zwischen Deutschland und den Nachbarländern seit 1870 regelmäßig abgehalten wurden, entstand 1891 die 121 Vgl. Fritz Voigt: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrssystems. Berlin 1960. 12s 1929 traten die Dänischen, Norwegischen und Schwedischen Staats-· bahnen und die Schweizer Bundesbahnen bei. Die Ausweitung veranlaßte die Änderung der Bezeichnung in "Verein Mitteleuropäischer Eisenbahnverwaltungen". Mit dem 2. Weltkrieg endete die Tätigkeit der Vereinigung. 129 Die Vorbereitung von Gese-tzen und Verträgen wurde anderen Organisationen überlassen, deren Mitgliederzahl erheblich geringer war. Die Kongreßvereinigung hat seitdem 18 internationale Eisenbahnkongresse durchgeführt, den letzten 1962 in München. Von ihr werden monatlich zwei Zeitschriften herausgegeben, eine über das Gesamtgebiet des Eisenbahnwesens, die andere über das Gebiet der elektrischen Zugbeförderung.

1. Die Erhöhung der Produktivität des volkswirtschaftlichen Prozesses 565

jetzige Europäische Reisezug-Fahrplankonferenz. Ab 1930 wurde hierzu die Europäische Güterzug-Fahrplankonferenz geschaffen. Aus schon vorangegangenen Vereinbarungen über die gegenseitige Benutzung des Wagenmaterials wurden 1921 der Internationale Güterwagenverband (RIV) und 1923 der Internationale Personen- und Gepäckwagenverband (RIC) gebildet. Der Internationale Eisenbahnverband (Union Internationale des Chemins de Fer - UIC), 1922 auf Anregung der Wirtschaftskonferenz des Völkerbunds gegründet, wurde zum umfassenden Zusammenschluß fast aller europäischen sowie einer großen Zahl afrikanischer und asiatischer Verwaltungen.

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen Die von der Eisenbahn ausstrahlende Gestaltungskraft formte das gesamte Wirtschaftssystem, ohne daß sich der Staat dieser vom Eisenbahnwesen ausgehenden Impulse voll bewußt wurde. Die staatliche Wirtschaftspolitik hatte Generationen lang unzureichende Vorstellungen über die volkswirtschaftlichen Folgeprozesse, die von dem neuen Verkehrsmittel induziert wurden. Zwar haben wir schon im theoretischen Teil dieses Werkes bewiesen, daß jedes Verkehrsmittel volkswirtschaftliche Gestaltungsprozesse auslöst und neue Verkehrsmittel oder Veränderungen der Verkehrswertigkeit bestehender Verkehrsmittel besonders deutlich derartige Impulse verbreiten. Das Beispiel der Eisenbahnen ist aber ganz besonders eindrucksvoll, da hier ein von Anfang an technisch hochentwickeltes Verkehrsmittel auftrat und das überkommene Verkehrssystem revolutionierte, während sonst bei anderen Verkehrsmitteln die Wandlungen sich viel mehr über längere Zeitperioden verteilen und demzufolge unauffälliger wirken.

1. Die Erhöhung der Produktivität des volkswirtschaftlieben Prozesses Wir wollen nunmehr versuchen, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Eisenbahnwesens zu erkennen, einen Vergleich zwischen der Leistung des Verkehrssystems vor ihrer Einführung und nachher zu schaffen. Die Zahl der für den Fracht- und Reiseverkehr im Bereich des Deutschen Zollvereins zur Verfügung stehenden Pferde betrug 1846 38 349 130• Gehen wir von einer Jahresleistung von 5000 tkm je Pferd aus, t3o Eine Arbeitsgruppe meines Instituts versuchte diese Angaben zu überprüfen, und zwar anhand statistischen Materials des Verkehrsmuseums Nürn-

566

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

so betrug damals die Leistung des gesamten Straßentransportes rd. 192 Mill. tkm. 1961 erbrachten allein im Bundesgebiet die Eisenbahnen eine jährliche Beförderungsleistung von 57 258 Mill. tkm. 1831 wurden im Königreich Preußen etwa 1/2 Million Personen mit der Post befördert, im Gebiet der heutigen Bundesrepublik von der Deutschen Bundesbahn im Jahre 19611,2 Mrd. Personen.

Müßte die heutige Verkehrsleistung von dem Verkehrssystem erbracht werden, wie es vor Einführung der Eisenbahn bestand, so würden alle Arbeitskräfte der Volkswirtschaft als Kutscher gebraucht und die Zahl der Pferde würde ein Ausmaß annehmen, das wenig Raum für die Erzeugung anderer landwirtschaftlicher Produkte als Pferdefutter ließe. Rechnet man sogar nach, welchen Raum die Straßen angesichts der geringen Leistungsfähigkeit des Straßenfahrzeugs, seines Platzbedarfs und seiner geringen Transportgeschwindigkeit erfordern würden, kommt man zu phantastischen Zahlen. Gerade diese Überlegungen zeigen, wie sehr die Industrialisierung von der Durchsetzung eines leistungsfähigen Verkehrsmittels vor allem für den Massentransport abhing. Gäbe es keine Eisenbahn, müßte sie entwickelt werden. Nicht einmal der motorisierte Straßenverkehr wäre in der Lage, diese Transportleistung ohne eine Vervielfältigung der für den Verkehr erforderlichen Verkehrsräume und der für die Durchführung von Transportvorgängen erforderlichen Arbeitskräfte zu bewältigen. Die Eisenbahn brachte insoweit also eine gewaltige Einsparung von Produktionsfaktoren mit sich, die nun für die Industrialisierung der Güterproduktion frei wurden. Anders ausgedrückt: Die Besserung der Verkehrswertigkeit des Verkehrssystems durch Einführung der Eisenbahnen bedeutet eine beachtliche Erhöhung der Produktivität der arbeitsteiligen Gesamtleistung der Volkswirtschaft. 2. Strukturänderungen des Marktes Die Klassiker der Nationalökonomie gingen in ihren Modellen in der Regel davon aus, daß es für jede Ware einen Markt gäbe, auf dem sich Angebot und Nachfrage treffen, daß vollkommene Markttransparenz bestehe und die Wirtschaftssubjekte sich unendlich schnell an neu entstehende Chancen anpaßten. Von diesem Idealbild war die Wirklichkeit vor Einführung der Eisenbahnen sehr weit entfernt. Das minderwertige Verkehrssystem vor allem auf dem Land war nicht fähig, Überschuß und Mangel sogar in verhältnismäßig nahen Räumen auszugleiberg, der Postmuseen in Nürnberg und Frankfurt sowie verschiedener Staatsarchive. Das Quellenmaterial ist nicht eindeutig; vorsichtige Schätzungen aufgrund dieses Materials bewegen sich zwischen 35 000 und 43 000 Pferden (vgl. Anm. 218 zu S. 436).

3. Differenzierungseffekte als wichtigster Impuls

567

chen, wennirgendwo Mißernten eintraten. Die Preise ein und derselben Ware innerhalb eines Landes waren oft recht unterschiedlich. Nennen wir einige Beispiele, wie die Eisenbahnen die Preisunterschiede innerhalb eines Staatsraums erheblich verringerten: 1817 stellte sich der Durchschnittspreis eines Scheffels Weizen in der Rheinprovinz auf 1661/4 Sgr., in Posen dagegen auf 96 Sgr. 10 Pfg. Der Roggen in der Rheinprovinz im gleichen Jahr auf 1321/2 Sgr., in Posen auf 76 Sgr. 10 Pfg. 1855 betrug der Unterschied zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen beim Weizen 17 Sgr., beim Roggen 23 Sgr. Die Eisenbahnen drückten den früheren Preisunterschied auf einen kleinen Bruchteil herab 1s1.

Knut Borchardt 132 weist mit Recht darauf hin, daß man den Integrationsgrad von Wirtschaftsräumen daran messen kann, daß man die regionale Preisstruktur, das Preisgefälle und die Korrelation von Preisänderungen untersucht. Während (nach Sax) die Spannweite der durchschnittlichen Weizenpreise in den preußischen Provinzen von 1821 bis 1830 24,2 vH betrug, umfaßte sie 1910 nur noch 3,9 vH. Das Verkehrssystem hatte also eine verhältnismäßig hohe Integration bewirkt. Zwar war der Markt durchaus noch nicht einheitlich. Aber der Marktzusammenhang war erheblich enger geworden. Die Korrelation der Jahresdurchschnittspreise für Roggen in Danzig und Berlin war von 1880 bis 1900 mit r = 0,99 und zwischen Berlin und Köln mit r = 0,97 sehr hoch1ss. Die Verbesserung des Verkehrssystems war es, die Unterschiede in der Produktivität zur Auswirkung kommen und nun aus diesen neue Verkehrsströme erwachsen ließ. Diese Verkehrsströme wiederum, verbunden mit entgegengesetzt laufenden Einkommensströmen, waren andererseits wieder Impuls für eine unterschiedliche Entwicklung innerhalb des Gesamtraumes und noch stärker innerhalb der Kontinente.

3. Differenzierungseffekte als wichtigster Impuls marktwirtschaftlicher Wachstumsprozesse Für den marktwirtschaftlich ablaufenden Prozeß der Industrialisierung noch wichtiger wurde eine Gruppe anderer Impulse, die nunmehr das Verkehrssystem veranlaßte: die Folgen von z. T. schroffen Differenzierungseffekten. 131 Quelle: Engel: Statistische Beilage zum Preußischen Staatsanzeiger 1861. 132 Knut Borchardt: Integration in wirtschaftshistorischer Perspektive. Tagung des Vereins für Socialpolitik, Travemünde 1964. 1ss Aufgrund von Preisreihen nach den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich von 1888 bis 1914.

568

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

Unter Differenzierungseffekt verstehen wir die Schaffung immer neuer "bevorzugter und benachteiligter Positionen", die zu Nettoinvestitionen anreizen bzw. von ihnen abhalten, weil eine Unternehmerische Tätigkeit an den von der Eisenbahn begünstigten Plätzen besonders hohe Gewinne verspricht, während andere in der Ausgangslage mögliche gleichwertige oder sogar überlegene Standorte von Unternehmen nunmehr nur noch Verluste erwarten lassen. Die aus derartigen Investitionen sich ergebenden Wachstumsimpulse wurden weiter durch das Verkehrssystem wesentlich mit geformt und "differenziert". Die auf Unternehmerische Initiative abgestellte Marktwirtschaft lebt davon, daß immer wieder neue "Vorzugspositionen" den Anreiz zu Nettoinvestitionen auslösen. Da aber die Eisenbahn nicht über einen Raum oder gar über die Erde hinweg eine gleiche Erhöhung der Produktivität bzw. eine Senkung der Transportkosten und eine Steigerung der Verkehrswertigkeiten bewirkt, sondern bevorzugte und benachteiligte Plätze schafft, erwachsen daraus immer wieder - verbunden mit den Sekundärprozessen aus den Einkommenseffekten - neue zusätzliche Investitionschancen. Wir können den Prozeß deutlich beobachten, wenn wir bedenken, daß die Eisenbahnen eine ungeheure Zunahme der Leistungsfähigkeit in allen Ebenen der Verkehrswertigkeit im Vergleich zu früheren Verkehrsmitteln mit sich brachten, insbesondere auch die Kosten eines Transports auf den Bruchteil der früheren Transportkosten senkten, aber dabei sehr stark "differenzierten", d. h. also: geschichtlich gesehen kamen die Vorteile aus der Verbesserung der Dimensionen der Verkehrswertigkeitnur den Unternehmungen zugute, die in unmittelbarer Nähe der Stationen ihre Standorte aufschlagen konnten. Je weiter entfernt hiervon die Standorte lagen, um so mehr gingen die Vorteile durch Umladezwang verloren. Dazu kam, daß die Senkung der Beförderungspreise innerhalb des Raumes im Zeitablauf sehr ungleichmäßig vor sich ging; noch stärker wirkte der unterschiedliche Zeitpunkt des Anschlusses der möglichen Standorte an das Eisenbahnnetz prägend (Gesetz der Priorität). Die Senkung der Beförderungsentgelte erfolgte viel weniger in der Personenbeförderung als beim Transport von Massengütern. Die Tarife der Personenbeförderung bei der Post bewegten sich in Sachsen und Bayern zwischen 10 bis 27 Pfg. pro km, nach 1830 zwar nur noch um 15 Pfg. pro km, die der Eisenbahn - abgesehen von der allerersten Zeit- schließlich in der Periode niedrigster Eisenbahntarife auf einigen Strecken mit Entfernungsstaffel aber nur zwischen 1/• und 1/2 Pfg. pro km133a. Noch tiefgreifender war die Senkung der Transportentgelte der 133a Die Tarife müssen selbstverständlich mit dem Geldwert, d. h. mit den Marktpreisen der Transportgüter, verglichen werden, die jeweils galten.

3. Differenzierungseffekte als wichtigster Impuls

569

Eisenbahn vor allem bei den Massengütern im Vergleich zu den Preisen des bisherigen Straßentransportes134• Die Frachtpreise waren auf den Straßen Europas, je nachdem, ob der Transport durch Tragtiere (Pferde, Maultiere) oder Karren erfolgte, recht unterschiedlich und weiter je nach der Qualität der Straßen und der Kosten des Futters differenziert. Schmoller berechnete die Transportpreise auf den englischen Straßen vor dem Kanalbau auf 69 Pfg. jetund km, für Deutschland schon z. Z. der Chausseestraßen zwischen 1840 und 1860 pro t und km 30-50 Pfg. Fracht135 • Man kann sie für die günstigste Zeit auf rund 1/2o der bisherigen Transportentgelte beziffern. Der durchschnittliche Eisenbahntarif (pro t) in Deutschland betrug: 1844 1860 1872 1887

15 Pfg. (Schätzung Engel) 7,3 Pfg. (Schätzung Engel) 5,9 Pfg. (Schätzung Cohn) 4,9 Pfg. (Schätzung Cohn)

Unter Leitung des Verfassers untersuchte eine Arbeitsgruppe die Entwicklung der Frachtraten bestimmter Relationen anhand von Material verschiedener Staatsarchive wie auch des Verkehrsmuseums Nürnberg und des Postmuseums Frankfurt. Es wurden weiter Ausarbeitungen benutzt, die der Verfasser am früheren Institut für Wirtschaftswiss. und Statistik, Leipzig aus dort gesammelten Unterlagen gemacht hatte. Insgesamt standen 920 Transportpreise vorzugsweise in Sachsen, im fränkischen Raum und von Verbindungen, die von Harnburg und Frankfurt ausgingen, zur Verfügung. Als Basis des Vergleichs wurden die Jahre um 1830 gewählt. In Einzelfällen mußten frühere, in anderen spätere Jahre genommen werden, um vergleichbare Relationen zur Verfügung zu haben. Bei kritischer Analyse zeigte sich, daß die Transportkostenermäßigung durch die Einführung der Eisenbahn von Raum zu Raum, aber auch im zeitlichen Ablauf, sehr variiert. In der Frühzeit der Eisenbahnen versuchten sich die Unternehmer des neuen Verkehrsmittels auffällig an den üblichen Transportkosten des jeweils billigsten Verkehrsmittels zu orientieren, diese aber zu unterbieten. Es läßt sich in der Folgezeit deutlich feststellen, wie in der Preisgestaltung des neuen Verkehrsmittels die Nachfrageelastizität in bezug auf den Preis abgetastet und Preisdifferenzierungen mehr unbewußt als bewußt, entsprechend der unterschiedlichen Nachfrageelastizität - eingeführt wurden. Für Massengüter kam es, wenn wir den Tiefstand der Tarife der Eisenbahnen im Zeitablauf nehmen, bis zu einer Verbilligung von 94,2 vH. Die Verbilligung war am größten, wo ein Wettbewerb zur Schiffahrt und zu anderen Eisenbahnen auftrat. In verschiedenen 134 Infolge der durch das Aufkommen der Eisenbahnen neu entstandenen Wettbewerbssituation sanken bezeichnenderweise aber auch die Beförderungspreise auf der Straße beträchtlich. 135 Engel ging davon aus, daß zu Beginn des Jahrhunderts in Deutschland als Durchschnittsfrachtsatz pro Tonne und Meile 200 Pfennige anzusetzen waren. Zu Beginn des Wettbewerbs der Eisenbahnen ermäßigten sich die Sätze. v. Reden nennt beispielsweise für die Beförderung von Berlin nach Königsberg 0,8 Silbergroschen pro Zentner und Meile, nach Danzig 0,7 Silbergroschen für herkömmliche Transportmittel, 0,33 Silbergroschen nach Danzig für die Beförderung auf der Ostbahn.

570

§· 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

Relationen von Harnburg und Nürnberg aus betrug die Ermäßigung nur 42,3 bzw. 48,6 vH, wobei allerdings zu beachten war, daß, wenn man die Quellen richtig wertet, größere Massentransporte vorher auf der Straße gar nicht unterzubringen waren. Im Stückgutverkehr streute die Ermäßigung der Transportkosten zwischen 42,4 vH und 76,8 vH, im Personenverkehr zwischen 42,3 vH und 73,7 vH in den untersuchten Fällent3e, Die große Verkehrswertigkeit der Eisenbahnen weitete im Vergleich zu der Postkutschenzeit den Wirtschaftsraum stark aus. Die Eisenbahn wirkte entscheidend mit, die kleinen abgeschlossenen, selbständigen Staatsgebiete im Inneren Deutschlands aufzusprengen und größere Wirtschaftsräume zu schaffen. Staaten, die sich längere Zeit der Entwicklung versperrten, wurden bei der Industrialisierungswelle zunächst übergangen und mußten sich dann doch anschließen, wenn sie nicht zurückbleiben wollten. Dennoch war das Netz der Eisenbahnen sehr weitmaschig. Die Vorteile des verbesserten Verkehrssystems trafen nur die Plätze an den Eisenbahnlinien und hier - angesichts des minderwertigen Systems des Nahverkehrs- vorzugsweise die an den Bahnhöfen. Zu- und Abfahrt von den Bahnhöfen verursachten zusätzliche Kosten, verminderten also entsprechend den Ertragswert etwa geplanter Investitionen. Jede neue Linie schuf neue begünstigte und benachteiligte Plätze. Bedenken wir: Das Wesen der Marktwirtschaft liegt darin, daß derjenige, der zu niedrigsten Kosten produzieren kann, die Möglichkeit erwirbt, andere Unternehmer, die mit höheren Kosten arbeiten müssen, aus dem Markt zu drängen. Der Preis, der sich in diesem Prozeß bildet, wird von der Lage des Cournot'schen Punktes bestimmt. Die Voraussetzungen der vollkommenen Konkurrenz sind nur selten gegeben. Der Cournot'sche Punkt hängt ab von der Grenzkostenkurve und der Elastizität der Nachfrage in bezug auf den Preis. Beide Determinanten sind im Verlauf eines langfristigen Prozesses bei der Umgestaltung des Verkehrssystemsdurch Einführung eines neuen Verkehrsmittels keine Konstanten, sondern Variable, die durch die Ebenen der Verkehrswertigkeit des Verkehrssystems in bezug auf den betreffenden Platz beeinflußt werden. Wird ein Verkehrssystem durch ein neues Verkehrsmittel grundlegend umgestellt, ergeben sich völlig neue Investitionschancen, da sich an manchen Stellen fast alle Kostenarten wie auch die Absatzmöglichkeiten ändern. An anderen Stellen, die von der Eisenbahn nicht berührt werden, verändern sie sich in einem anderen Verhältnis. So differenzierte die Eisenbahn die Preis-Absatzfunktion und die Kosten der Standorte des größten Teils der im Industrialisierungsprozeß wichtigsten Produktionszweige, d. h. der Wirtschaftszweige mit sinkenden Grenzkastenverläufen im damals relevanten Horizont sowie der Zweige mit damals tse Vgl. Ulrich: Die fortschreitende Ermäßigung der Eisenbahngütertarüe, Jahrbücher f. Nationalökonomie und Statistik 1891, S. 53 :li.

3. Differenzierungseffekte als wichtigster Impuls

571

hoher ·Einkommenselastizität. An begünstigten Plätzen erwuchsen fortwährend neu und in immer zahlreicheren Wirtschaftszweigen die höchsten Gewinnchancen. In Verfolg der Verdichtung des Eisenbahnnetzes und der Erschließung immer weiterer Räume entstanden regelmäßig neue Anreize zu zusätzlichen Investitionen. So entstehen neue Standorte, die einen höchsten Ertragswert der Investitionen versprechen. Einkommenseffekte und die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Kapazitätseffekte erstrecken sich nicht gleichmäßig über den Raum, sondern werden, wie wir im theoretischen Teil sahen, durch das Verkehrssystem gestaltet. Das heißt also, daß sich hier - vor allem in den Brennpunkten des neuen Verkehrssystems und in den durch sie optimal erschlossenen kostengünstigsten Rohstoffplätzen-immer wieder die Folgewirkungen der Einkommenseffekte kumulieren, so daß hier als Induktion besonders günstige Nachfrageverhältnisse aus dem sich stauenden Einkommen erwachsen und damit zusätzlich die Ertragswerte für neue Investitionen steigen, selbst wenn dieser Platz in der Ausgangslage keinerlei Voraussetzungen für günstige Standortbedingungen besaß. Dieser sich selbstnährende Prozeß, ausgelöst vom Differenzierungseffekt des Verkehrssystems, verändert also grundlegend sogar die Standortbedingungen. Die unterschiedlichen Kostensenkungen werden zudem- je nach der Lage des Cournot'schen Punktes - nicht voll an die Abnehmer weitergegeben. Neben der Funktion der Ausscheidung der "Grenzkonkurrenten" bringen diese Unterschiede verschieden hohe Differentialrenten, d. h. unterschiedlich hohe Möglichkeiten der Selbstfinanzierung des technischen Fortschritts und formen damit langfristig die Struktur der Volkswirtschaft. Bei einer Untersuchung des Industrialisierungsprozesses in Bayern haben wir festgestellt, daß sich bis zur Motorisierung des Verkehrs auf der Straße die Industrialisierung nahezu ausschließlich auf einen Raum von höchstens 5 km links und rechts der Eisenbahnen beschränkte, sich um die Bahnhöfe der Hauptlinien, also den Plätzen mit der höchsten Verkehrswertigkeit, weitaus am stärksten gruppierte und entsprechend sich auch die Kapitalintensität unterschied - d. h. also vor allem der Grad, in dem neuer arbeitskraftsparender technischer Fortschritt eingeführt worden war. Am weitesten ging der Prozeß an den Brennpunkten des Verkehrssystems. Hier war- ceteris paribus- die Chance zur Investition bei maximalem Ertragswert am größten, hier wuchsen durch die immer wiederkehrende Streuung der Einkommenseffekte aus Investitionen in anderen Gebieten die Einkommen, die Vermögen und die kaufkräftige Nachfrage am meisten; hier konzentrierte sich die Bevölkerungsvermehrung des 19. und 20. Jahrhunderts vorzugsweise. Der wesentlichste Impuls ist die Folge jenes Differenzierungseffektes, den die Umgestaltung des Verkehrssystems durch die Eisenbahn erfuhr.

572

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

Man muß freilich bedenken, daß diese Vorteile des verbilligten Transports und der Verbesserung aller Verkehrswertigkeiten nicht die Kontinente der Erde gleichzeitig, nicht einmal gleichmäßig einen bestimmten engeren Raum trafen, sondern große Unterschiede auftraten. Einige Kilometer von den Bahnhöfen entfernt waren die Vorteile der Eisenbahn schon erheblich geringer. Dazu kommt, wie wir im theoretischen Teil sahen, daß ein und dieselbe Verkehrslinie begünstigte Plätze schafft, andere bisher vorhandene Entwicklungschancen aber gerade dadurch zerstört und daß das Verkehrssystem im weltweiten Maßstab diese Unterschiede noch weit stärker hervortreten läßt. Dies ist ein typischer Prozeß der Differenzierung. Von ihm lebt der marktwirtschaftliche Entwicklungsprozeß, da er auf Unternehmerische Initiative angewiesen ist, die nach den jeweils höchsten Gewinnchancen strebt und andere zum Untergang zwingt, die nicht mithalten können, ein Prozeß, der vom jeweiligen Verhältnis von Kosten und Ertrag eines bestimmten Projektes und damit von Sekundärimpulsen abhängt, die ihrerseits wieder das Verkehrssystem differenzieren. Der Differenzierungseffekt, der im Wachstum des Verkehrsnetzes und des gesamtwirtschaftlichen Prozesses sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Kosten als auch der Einkommen und der kaufkräftigen Nachfrage immer neue "bevorzugte Positionen" hervorbringt- d. h. immer neue Plätze maximalen Ertragswertes des Kapitals für die verschiedenen Wirtschaftszweige, die im technischen Fortschritt jeweils Änderungen ihrer bisherigen Produktionsfunktion über sich ergehen lassen mußten -, gibt immer wieder Anreize zu unternehmerischer Initiative, die hier entstandenen Gewinnchancen zu nutzen, rufen immer wieder neue Impulse für Investitionen hervor. Diese Investitionen erzeugen über das von ihnen neu geschaffene Einkommen Sekundärimpulse und unterschiedlich zu realisierende Gewinne. Diese wiederum - verbunden mit typischen Verschiebungen der Faktorkosten-bringen differenzierende Anreize zum technischen Fortschritt. Technischer Fortschritt bedeutet eine Änderung der Produktionsfunktion. Auf jedes dieser Glieder im Prozeß wirkt also - zumindest als eine Komponente - das Verkehrssystem - sei es auf der Kosten- oder Ertragsseite - ein. Nur wenn wir diese Vorgänge durchdenken, können wir verstehen, weshalb die Eisenbahnen in einigen Räumen der Welt so umwälzende, sich selbstnährende Industrialisierungsprozesse auslösten. Wir können nun auch verstehen, weshalb dieser Prozeß andere charakteristische Begleiterscheinungen mit sich brachte; innerhalb der verhältnismäßig engen Bänder nämlich, die er zur stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung veranlaßte, erzeugte er im Zeitablauf - trotz der Oszillationen im Trend (fast annähernd an

4. Durchbrechung der Geldverfassung und des Kapitalmarktes eine Exponentialfunktion) vestitionsanreize.

573

einen ständigen Anstieg zusätzlicher In-

In diesem Differenzierungsprozeß - ausgelöst von dem neuen Verkehrsmittel Eisenbahn - lag eine eminent dynamische Antriebskraft des gesamtwirtschaftlichen Prozesses der Industrialisierung. Die Einführung der Eisenbahn ermöglichte es in der arbeitsteiligen Marktwirtschaft überhaupt erst, daß sich auch abseits der Wasserstraßen und außerhalb verhältnismäßig enger Regionen ein Ausgleich unterschiedlicher Produktionskosten und Preise bilden konnte, der dem volkswirtschaftlichen Phänomen des Marktes wenigstens etwas näher kam und schnellere Anpassungsfähigkeit an veränderte Chancen und bessere Markttransparenz ermöglichte. Die hohe volkswirtschaftliche Gestaltungskraft des neuen Verkehrsmittels verstärkte die im Ansatz schon früher auftretenden typischen Wellen wirtschaftlicher Wechsellagen nunmehr Generationen lang in besonders prägnanter Weise. VomEisenbahnbau ausgehend, wurde dadurch ein im Sinne vonOszilIationsbewegungen sich selbst nährender Industrialisierungsprozeß mit auffälligen Differenzierungseffekten geformt137 • Aber auch dort, wo der Staat die Eisenbahn baute, wurde er von dem entstandenen eigenartigen Rhythmus mit berührt, der von den Nachbarländern induziert wurde.

4. Die Durchbrechung der Geldverfassung und des überkommenen Kapitalmarktes durch die Eisenbahn Der Bau der Eisenbahn war eine der Hauptantriebskräfte zur Um-

gestaltung des überkommenen Kapitalmarktes und der Geldverfassung

der Edelmetallumlaufswährung. Jede Metallumlaufswährung ohne wesentlichen Giroverkehr mußte in Schwierigkeiten geraten, wenn große Anforderungen für Investitionen an sie herantraten und damit die Notwendigkeit einer Ausdehnung der Geldmenge weit über den möglichen Zuwachs an neu produzierbarem Edelmetall auftrat. Die Anforderungen des Zeitalters der Eisenbahnbauten bedeutete für die Volkswirtschaft im Vergleich zu allen früheren. Zeiten eine bisher nie erlebte Beanspruchung des Geldumlaufs und des Kapitalmarktes 13 8 • Die Multiplikator137 Im einzelnen theoretisch analysiert bei Fritz Voigt: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrssystems, Berlin 1960, S. 101 ff., 153 ff., 171 ff. 138 Die Kosten der preußischen privaten und staatlichen Bahnen betrugen bis 1851 149,5 Mill. Taler, d. h. fast 1/: Mrd. Mark. Für ganz Deutschland berechnet Sombart zu diesem Zeitpunkt 800 Mill. Mark. Bis Mitte der 60er Jahre war das Anlagekapital der Preußischen Staatsbahn auf 111,7 Mill. Taler, dasjenige der Privatbahnen auf 357,3 Mill. Taler gestiegen. Nach den Ergebnissen der Reichsstatistik wuchs das "Anlagekapital" sämtlicher deutscher Bahnen folgendermaßen:

574

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

wirkung der Investitionen und die im Gefolge auftretende Industrialisierung beanspruchten die Geldumlaufsgeschwindigkeit des Metall• geidesmeinem Maße, daß der Verrechnungsverkehr über Wechsel- und schließlich über Girokonten immer mehr Gewicht erhielt. Die ständige Zunahme der Einkommen und die zwischenzeitlich hohen Gewinne139 der kreditsuchenden Unternehmen verliehen dem erst ängstlich erteilten, dann aber - aus finanziellen Gründen - immer wagemutiger ausgeweiteten Kredit immer größere Sicherheit, so daß sich immer mehr eine Finanzierungsweise der Investitionen durchsetzte, die früher als unsolide abgelehnt worden wäre: Die Vorfinanzierung durch kurzfristige Kredite. Diese Kredite wurden immer mehr ausgedehnt, ohne daß infolge der Gleichartigkeit des Vorgehens der Banken und der zu erwartenden hohen Gewinnchancen sowohl der Eisenbahnen und Industrieunternehmen als auch der Banken - von vorübergehenden Perioden abgesehen - Liquiditätsschwierigkeiten erwuchsen. Diese Geldschöpfung erhöhte ihrerseits im Multiplikatoreffekt die Einkommen; anschließend wurde eine Konsolidierung des aufgenommenen kurzfristigen Kredits für die Investitionen durch Abschöpfung der auf diese Weise durch die Investitionen neu geschaffenen Kaufkraft durchgeführt. Dies geschah entweder durch Aktienemission, durch Begebung neuer Anleihen oder durch Besteuerung. Mit der Zunahme der Bedeutung des Eisenbahnbaues mußten die Banken gleichfalls an Bedeutung gewinnen. So ist es nicht verwunderlich, daß viele Banken eng mit der Eisenbahnfinanzierung verbunden waren und mit ihr groß wurden140 • Der Effektenmarkt aller Industriestaaten entwickelte sich aus dem Handel mit Eisenbahnaktien und Eisenbahnobligationen aus ursprünglich kleinsten Anfängen zu einer großen Blüte. Noch 1870 bestand die Hälfte (175) aller an der Berliner Börse gehandelten 359 Wertpapiere aus Eisenbahnpapieren; daneben gab es nur 9 Aktien und Obligationen von Industriegesellschaften141 • An der Pariser Börse waren 1850 von 1865 1870 1880 1910

2,4 Milliarden Mark

4

Milliarden Mark

9 Milliarden Mark 17 Milliarden Mark

Im Jahrzehnt zwischen 1870 und 1880 waren das Wachstum und die Entwicklung der Eisenbahn am stürmischsten. 1so Die Dividende der rentabelsten Eisenbahngesellschaften in Deutschland hielt sich jahrelang zwischen 15 und 20 vH. Die durchschnittliche Verzinsung aller preußischen Bahnen betrug 1865 6lA, vH. Einzelne Rückschläge, z. B. unmittelbar nach der Reichsgründung, konnten aber der Gesamtentwicklung nur wenig Abbruch tun. Erheblicher war der Einfluß als Anteludialeffekt aul die Rechtsnormen und die öffentliche Meinung. uo Vgl. K. Wiedenfeld, Die Eisenbahnen im Wirtschaftsleben, Berlin 1938, s. 122 ff. w Vgl. J. Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2. Bd., Berlin 1954, S. 523.

4. Durchbrechung der Geldverfassung und des Kapitalmarktes

575

nominal 9 Mrd. frs. notierten Wertpapieren 2/s Staatsrenten, 1869 von inzwischen auf 26 Mrd. frs. angewachsenen notierten Wertpapieren fast 60 vH keine staatlichen Papiere mehr; davon waren 2 /s Eisenbahnaktien und -Obligationen. Einer der bedeutendsten Eisenbahngründer der damaligen Zeit war Hansemann. Er strebte den Bau einer Eisenbahn von Köln nach Antwerpen an, um die bezüglich der Rheinmündung bestehende Abhängigkeit von Holland zu vermeiden. Auf ihn ging auch die Gründung der Diskontogesellschaft zurück, aus der die spätere DeutscheBank entstand. Eine weitere Persönlichkeit, die die Verflechtung des Bankwesens der damaligen Zeit mit dem Eisenbahnbau verdeutlicht, war Mevissen, der Gründer der rheinischen Bahn, der später eine der leitenden Persönlichkeiten des Schaffhausischen Bankvereins in Köln wurde. Weiterhin zählen zu diesen Persönlichkeiten die Brüder Harkort. Gustav Harkort gehörte zum Gründerkreis der Bahn von Leipzig nach Dresden, der später die Allgemeine deutsche Creditanstalt (Adca) in Leipzig errichtete. Die Verflechtung zwischen dem Bank- und Eisenbahnwesen ist in jenen Jahren auch in anderen Ländern anzutreffen. So finanzierte beispielsweise das Haus Rothschild die französische Nordbahn. Das Bankhaus selbst profitierte erheblich an diesem Bahnbau. Der Eisenbahnbau und die durch die Gestaltungskraft der Eisenbahn ausgelöste Industrialisierung waren folglich wesentliche Antriebsfaktoren für die Geldschöpfung und für die Weiterentwicklung des Eisenbahnbaues auf privatwirtschaftlicher Grundlage. Das Geldkapital, das für die Durchführung der Investitionen der Eisenbahn selbst und der hierdurch induzierten weiteren Vorhaben benötigt wurde, überstieg um ein Vielfaches die Anforderungen, die für die bisher größten industriellen Anlagen der damaligen Zeit erforderlich waren. Das Eisenbahn-, das Geld- und Kreditwesen sind somit in dieser historischen Dynamik als ein Kräftepaar anzusehen, das sich in der Entwicklung gegenseitig vorantrieb und befruchtete, wobei sich auch hier eine Art selbst nährender Prozeß entwickelte, der dadurch ausgelöst wurde, daß der Bau neuer Eisenbahnlinien wie jede andere Investition neue zusätzliche Einkommen schuf. Derartige kumulative Prozesse brachten notwendigerweise immer tteu gesteigerte InveStitionsneigungen hervor, da die Produktion zusätzlich erzeugter Güter, die das Güterangebot erhöhten, erst nach Ablauf von Zeit dem erhöhten Geldeinkommen nachfolgte. Die dadurch hervorgerufene Preissteigerung führte zu verhältnismäßig erhöhten Gewinnen in der Industrie. Hierdurch wurde wiederum die Rentabilität der Industrie an den Plätzen, zu denen das erhöhte Einkommen hinfloß -ein Problem der jeweiligen Verkehrswertigkeit

576

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

des Verkehrssystems (im Maßstab der Nachfrageelastizität in bezugauf das Einkommen) - im Vergleich zu vorher wesentlich erweitert. Eine erwartete hohe Rentabilität ist die Grundlage für die Kreditaufnahme, die Verzinsung und die spätere Zurückzahlung dieses Kredits aus den Gewinnen. Andererseits bedeutet für die Banken eine Kreditvergabe an Industriezweige mit hoher Rentabilität ein verhältnismäßig geringes Risiko. Dadurch wurde auch den Banken eine hohe Rentabilität garantiert.

5. Die Wirkung der Eisenbahn auf den technischen Fortschritt anderer Wirtschaftsbereiche Unter dem alten Verkehrssystem des Straßenfuhrwerks konnten die meisten technischen Erfindungen des 16. bis 18. Jahrhunderts abseits von Wasserstraßen überhaupt nicht angewandt werden, da es im Landesinnern nicht möglich war, die erforderliche Menge von Rohstoffen, insbesondere von Kohle oder Holz heranzubringen, und es war ebenso unmöglich, die Vorteile des Großunternehmens auszunutzen, da die Kostenersparnisse des Großbetriebes infolge der Unsicherheit des Transports und der Höhe der Transportkosten schon bis zu nicht weit entfernten Absatzpunkten verlorengingen. Nach Einführung des neuen Verkehrsmittels, der Eisenbahn, fiel diese Beschränkung durch das Verkehrssystem fort. Massentransporte wurden nun möglich. Kohle, Holz und sonstige Rohstoffe konnten in genügender Menge mit der Eisenbahn transportiert werden. Die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen war groß genug, um die vom Betriebsablauf eines höher mechanisierten Betriebs her erforderliche Berechenbarkeit und Sicherheit zu erfüllen. Die Kosten waren im Vergleich zum bisherigen Transport mit Pferdefuhrwerken auf der Straße so niedrig, daß Vorteile, die sich bei einem größeren Betrieb aus einer sinkenden Grenzkostenkurve 142 ergaben - nämlich beispielsweise aus dem Übergewicht der Leistungsfähigkeit größerer Maschinen, aus dem good will eines Großbetriebes, aus dem höheren Grad der Spezialisierung - auch wirklich ausgenutzt werden konnten. Für das "Selbstnähren" des Industrialisierungsprozesses war es entscheidend wichtig, daß diese schnell zunehmende Verbesserung des Verkehrssystems im Zeitablauf in gewissem Umfang sich ändernde Diffet42 Die Grenzkostenkurve wird hier nicht in üblicher Weise auf eine bestehende Kapazität bezogen. Abgestellt wird vielmehr im Gegenteil auf eine Kapazitätserweiterung. Als Grenzkosten werden dann die Durchschnittskosten der zusätzlichen Kapazität angesehen, die dann niedriger liegen als die der alten Kapazität, wenn bei der Kapazitätserweiterung der technische Fortschritt Berücksichtigung gefunden hat. In diesem Sinne soll hier von langfristig sinkenden Grenzkosten die Rede sein. (Vgl. zum Begriff der langfristig sinkenden Grenzkosten auch F. Voigt, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Verkehrssystems, a.a.O., S. 52 ff.)

6. Impulse für Strukturänderungen in der langfristigen Entwicklung 577 renzierungseffekte hinsichtlich der Entwicklungschancen in sich trug. Die Industrialisierung setzte ganz besonders scharf an Knotenpunkten des neuen Verkehrsmittels ein, sowie an Kreuzungs- und Berührungspunkten mit Wasserstraßen. Die Ergebnisse der Entwicklung entsprechen in jeder Hinsicht den Erkenntnissen, die wir im allgemeinen Teil theoretisch gewonnen haben. Die sich schon theoretisch abzeichnende Überlegenheit der Knotenpunkte wurde aber durch die Art und Organisation des Eisenbahnwesens in der Frühzeit noch verstärkt. Der Staat war- wie wir sahen- in der Anfangszeit dort, wo er auf privatwirtschaftliche Organisationen Wert legte, bestrebt, im Eisenbahnwesen einen möglichst hohen Grad an Wettbewerb zustande kommen zu lassen. Grundsätzlich wurden zwischen zwei wichtigen Orten in manchen Ländern zwei oder mehr Eisenbahnen konzessioniert, damit eine gegenseitige Konkurrenz stattfinden konnte. Dieser Wettbewerb entspann sich aber nur zwischen den Berührungspunkten, den sogenannten Knotenpunkten. Da die Eisenbahnen eine voneinander unterschiedliche Streckenführung nehmen mußten, hatte jede von ihnen ein bestimmtes, von der Konkurrenz nicht erreichbares, unbestrittenes Einzugsgebiet. Die privatwirtschaftlich rechnenden Eisenbahnverwaltungen haben dementsprechend durchaus betriebswirtschaftlich zweckmäßig kalkuliert, als sie die Beförderungsentgelte in den umstrittenen Knotenpunkten sehr niedrig festlegten, aber im unumstrittenen Bereich versuchten, entsprechend dem aus der volkswirtschaftlichen Theorie bekannten monopolistischen Verhalten möglichst hohe Beförderungseinnahmen durchzusetzen. Auf diese Weise wurden Knotenpunkte noch ganz besonders begünstigt, da sich hier ein niedrigerer Konkurrenzpreis bilden mußte. In der Anfangszeit kalkulierte jede Eisenbahnverwaltung für sich. Sie schuf die Tarife so, daß sie möglichst viel Verkehr auf ihre Linie zog. Sie achtete deshalb nur im bestrittenen Bereich auf Leistungen und Tarife der Konkurrenz. Aber dort, wo sie den Markt allein beherrschte, war ihr Verhalten dasjenige eines Monopolisten.

6. Impulse für Strukturänderungen in der langfristigen Entwicklung Wir sehen deutlich, wie sich die Kosten der Eisenbahn in dem Maße verringerten, in dem das Netz besser ausgebaut wurde. Um 1885 war der Kulminationspunkt sinkender Eigenkosten und der Transporttarife der Eisenbahnen erreicht. Dann sank das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben zu Lasten der Eisenbahn nach jahrzehntelanger Stagnation wieder etwas ab; d. h. der Ausbau des Eisenbahnnetzes hatte einen Sättigungspunkt erreicht. 37 Voigt II/1

578

§ 4: Folgeprozeß der Einführung der Eisenbahnen

Im Laufe der Entwicklung wurden viele Güter neu transportfähig, deren Transport sich bisher wegen der zu hohen Beförderungspreise nicht lohnte. Ganze Industrien wanderten von Orten mit ungünstigen Standortbedingungen zu den Plätzen, die der Differenzierungseffekt des neuen Verkehrsmittels begünstigt hatte. Die hohen Einrichtungskosten im Eisenbahnbau, die in volkswirtschaftlicher Sicht als Einkommenszahlung anzusehen sind, bewirkten, daß die in der Ausgangslage schon reichen und entwicklungsfähigen Gebiete erheblich mehr gefördert wurden als arme verkehrsschwache Gebiete, denn ein nach privatwirtschaftliehen Gesichtspunkten aufgebautes Eisenbahnnetz orientiert sich an den Gewinnchancen, die unzweifelhaft dort am größten sind, wo wirtschaftlicher Reichtum herrscht. In diesen Regionen wurden dann auch die zusätzlichen Einkommenszahlungen im Gefolge der Errichtung der Eisenbahnlinien wirksam. In verkehrsschwachen Gebieten waren für die privatwirtschaftliche Planung der Eisenbahngesellschaften die zu erwartenden Einnahmen im Verhältnis zu den Kosten zu niedrig. Es mußten also verhältnismäßig hohe Tarife aus privatwirtschaftliehen Gründen gefordert werden. Als Folgeerscheinung ergibt sich dann eine Wanderungsbewegung in die verkehrsmäßig besser erschlossenen Gebiete. Sie wird in Deutschland am Beispiel der Ost-West-Wanderung sichtbar. Derartige Wanderungsbewegungen verstärkten die industrielle Entwicklung der verkehrsmäßig begünstigten Gebiete und führten zu schroffen wirtschaftlichen Konzentrationen. Nicht dort also, wo die Eisenbahnen privatwirtschaftlich die höchsten Erträge lieferten, war unter allen Umständen ihr volkswirtschaftlicher Effekt am höchsten, sondern dort, wo sie Anlaß zu immer neuen Investitionen gaben; auch wenn sie selbst eine niedrige privatwirtschaftliche Rentabilität aufwiesen. Gerade im Verkehrswesen sind die Gesamtheit von Aufwendungen - nennen wir sie soziale Kosten - und die Gesamtheit der Erträge, auch wenn sie sich nicht in den Kassen der Investoren niederschlagen, viel wichtiger als das unmittelbare Verhältnis zwischen Einnahme und Ausgabe des betreffenden Verkehrsmittels. Da das Verkehrssystem wesentlicher Bestandteil "des Marktes" ist, seine Güte und Entwicklungsfähigkeit bestimmen, war ein "zu gut" ausgebautes Verkehrssystem in einemRaumAnlaß zu viel entscheidenderen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsprozessen - selbst wenn sich die Eisenbahnen nicht rentierten - als ein zu minderwertiges Verkehrssystem-selbst wenn die Verkehrsmittel dabei privatwirtschaftlich rentabel arbeiteten. Drücken wir dies anders aus: Auch dort wo die Eisenbahnen unrentabel waren, war ihr volkswirtschaftlicher Effekt positiv, falls sie zu Wachstumsprozessen des Sozialprodukts, etwa durch Erhöhung der Nettoinvestitionen, beitrugen.

6. Impulse für Strukturänderungen in der langfristigen Entwicklung 579 Da es in der Marktwirtschaft nur dann zu Investititionen kommt, wenn möglichst hohe Gewinne erwartet werden können, war es entscheidend, daß während der ständigen Verbesserungen des Verkehrssystems immer neue Vorzugspositionen in gleichen Räumen erwuchsen, die zu Investitionen in weiteren Wirtschaftszweigen Anlaß gaben. So kam es, daß der Prozeß sich in den Bändern konzentrierte, in denen er zuerst begann, und es im Verlauf der Zeit schwierig war, auch wenn an anderen Stellen das Verkehrssystem verbessert wurde, einmal erreichte Vorteile in technischem Wissen und Erfahrung, der erreichten Elastizität des Geldsystems und der Marktbeherrschung, einzuholen. Die Bänder weiteten sich zwar im Verfolg des Prozesses etwas aus, jeder Anreiz des wirtschaftlichen Wachstums jedoch, der irgendwo in der Welt gegeben war, induzierte vorzugsweise wieder die Entwicklungsfähigkeit der Wirtschaft innerhalb der Bänder; denn hier war infolge der nunmehr erreichten Überlegenheit der Produktionskapazität, der Qualitäten, der Marktmacht und der unternehmerischen Erfahrungen die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals am größten. Immer lösten zusätzliche Investitionen weitere Investitionen in anderen Zweigen aus, sich infolge der räumlichen Streuung von Einkommens- und Kapazitätseffekten jeweils eng an die bereits bestehenden Vorzugspositionen des Verkehrssystems klammernd. Auf diese Weise konnte die Eisenbahn an einigen Stellen der Weltdort also, wo "zu viel" gebaut worden war (z. B. USA, Teile Europas), nicht aber dort, wo sie sich spärlich durchsetzte (wie z. B. in ursprünglich reichen Ländern wie Spanien, Portugal, Italien, Indien, China), sich selbstnährende Prozesse der Industrialisierung entfachen. Aber auch diese sich selbstnährenden Prozesse beschränkten sich auf Vorzugszonen, Schwerpunkte des Verkehrssystems der Welt. Die Eisenbahn war es, die das Weltverkehrssystem verlagerte. Ursprünglich war die Seefahrt Kern des Weltverkehrs, da sie die höchste Massenleistungsfähigkeit der Transporte zu niedrigsten Kosten ermöglichte. Die Eisenbahn schuf in dieses System hinein in den bisher verkehrsmäßig schwer erschließbaren Landmassen der Kontinente nun besonders dichte Verkehrsnetze mit sich selbstnährenden Industrialisierungsprozessen. Welche Bedeutung hierbei nunmehr ausnutzungsfähige sinkende Grenzkostenverläufe gewannen, soll in dem in Kürze erscheinenden Lehrbuch der Industrie- und Gewerbepolitik dargestellt werden. Das Endergebnis der Prozesse ist die schnelle Industrialisierung einiger weniger Räume der Welt, weltweite Verschiebung landwirtschaftlicher Strukturen und ein immer größerer Abstand zwischen den schnell wachsenden Industriestaaten und Räumen, die die geschilderten Impulse nicht empfingen. 37°

580

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland unter dem Einfluß des motorisierten Straßenverkehrs und des Luftverkehrs Der technische Fortschritt, der die Konstruktion leichter, insbesondere für den individuellen Straßenverkehr geeigneter Fahrzeuge und später auch von Luftfahrzeugen ermöglichte, mußte die überkommene eigenständige Entwicklungsdynamik der Eisenbahnen grundlegend wandeln. Es ist bezeichnend, daß man sich der einschneidenden Änderung in der Stellung der Eisenbahn innerhalb des Verkehrssystems auch lange nicht bewußt wurde. Vielmehr hatte die überkommene Entwicklungsdynamik für eine Zeitlang traditionsgebundene Konstanz entwickelt, die zunächst dazu führte, Entwicklungen als Sekundärwirkungen von Revolutionen weiterzuführen, die in früheren Jahrzehntentrotz der ökonomischen Zweckmäßigkeit nicht durchgesetzt werden konnten: Die Eisenbahn hatte sich in Deutschland zum staatlichen Großunternehmen mit wichtigen politischen Aufgaben umgebildet. Nach wie vor glaubte man, daß sie weiterhin bedeutsame Finanzierungsquelle für den Staatshaushalt bleiben würde. Die nun in verschiedener Hinsicht einsetzende Gesetzgebung wie auch die internationalen Regelungen gingen also von dem Erlebnishorizont der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aus. Die längst schon voraussehbaren Entwicklungen anderer Verkehrsmittel, die die Stellung der Eisenbahn entscheidend berühren mußten, gingen nicht in den virtuellen Aktionssektor derer ein, die zwischen den beiden Weltkriegen die Gesetzgebung, die Organisation sowie die staatsrechtliche und völkerrechtliche Stellung der Eisenbahn maßgeblich zu formen hatten. 1. Organisatorische Wandlungen

Der Erste Weltkrieg hat die Bestrebungen zu einer Vereinheitlichung des deutschen Eisenbahnwesens wesentlich gefördert. Die deutsche Heeresleitung forderte bereits im Jahre 1916 vergeblich "Reichseisenbahnen". Im Jahre 1917 wurde im Reichstag der Beschluß gefaßt, die Vorteile einer Vereinheitlichung in einer Denkschrift niederzulegen. Der Zusammenschluß der acht bestehenden Staatsbahnen kam am 31. März 1920 durch einen Staatsvertrag zwischen den beteiligten Landesregierungen zustande. Das Reichsverkehrsministerium wurde geschaffen. Als nach Ende des ersten Weltkrieges als - geradezu notwendige- Auswirkung der Revolution am 1. 4.1920 die deutsche Reichsbahn geschaffen wurde, war sie noch mit einer Reihe von Reservatrechten der alten bundesstaatliehen Verfassung belastet. Erst 1934 wurden die letzten Reservatrechte beseitigt. Es war die Reaktion auf den

I. Organisatorische Wandlungen

581

Erlebnishorizont der Vorkriegszeit, daß die Niederlage des ersten Weltkrieges die Vereinheitlichung des Eisenbahnnetzes in Deutschland nach sich zog, nachdem schon vorher im Krieg manche Maßnahmen einer einheitlichen Verwaltung durchgeführt werden mußten. Die Weimarer Verfassung bestimmte in Artikel89: "Aufgabe des Reiches ist es, die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen und als eigene Verkehrsanstalt zu verwalten." Die Verfassung verlangte weiter, daß die Reichseisenbahn als selbständiges wirtschaftliches Unternehmen zu organisieren sei. Es sollte seine Aufgaben als Selbstverwaltungsauftrag erfüllen, die Ausgaben zur Zinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld aus der eigenen Verwaltung bewirken und eine Eisenbahnrücklage ansammeln. Im Verfolg der Bestimmung der Verfassung wurde am 31. März 1920 ein Staatsvertrag zwischen der Reichsregierung und den Ländern mit Staatseisenbahnen geschlossen. Die erste Reaktion der jungen demokratisch-parlamentarischen Kräfte auf diesen Machtzuwachs war eine sehr starke Politisierung der Verwaltung. Im Winter 1920/21 entstanden hierdurch sogar Störungen des Verkehrs. Die ungeklärte Lage, die schwierige finanzielle Situation des Staates, die Zerrüttung der Organisation der Eisenbahn und die mangelnde Versorgung der Bahn mit Kohle bewirkten ein überaus hohes Defizit, das innerhalb weniger Monate zu Milliardenbeträgen anwuchs. Schließlich verlangte im November 1921 der Reichsverband der deutschen Industrie Überlassung der Eisenbahnen an die Privatwirtschaft. Außerdem wurde Kredit angeboten, um die Bahn lebensfähig zu erhalten. Bevor über Sanierungsmaßnahmen gesprochen werden konnte, kam 1923 der Zusammenbruch der Währung. Ruhrbesetzung und Kampfmaßnahmen zerstörten die wirtschaftliche Grundlage der Eisenbahn noch weiter. Die progressiv zunehmende Geldentwertung und die Schwierigkeit, die Tarife an den sinkenden Geldwert anzupassen, führten im August 1923 dazu, daß ein Grundtarif geschaffen und täglich wechselnde Schlüsselzahlen festgelegt wurden, durch die bei Aufrechterhaltung des Tarifsystems die Transportentgelte praktisch täglich wechselten. Nach der Inflation wurde der Versuch einer Neuorganisation unternommen. Angesichts der ungünstigen Erfahrungen mit der Politisierung sollten die Bahnen vom Reich selbständig werden. Durch die "Notverordnung" vom 12. 3. 1924 wurde als selbständige juristische Person in loser Anlehnung an die Rechtsform der Aktiengesellschaft ein Unternehmen "Deutsche Reichsbahn" geschaffen, das die Reichseisenbahnen mit allem Zubehör umfaßte. Damit wurde aber auch die vor dem Krieg sich gut rentierende Eisenbahn Objekt von Reparationsforderungen der früheren. Feindmächte.

582

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Zwar waren sie auch schon vorher erhoben worden, kamen aber nunmehr nach Neuordnung der Währungsverhältnisse zur Auswirkung. Das (sogar verfassungsändernde) Reichsbahngesetz vom 30. 8. 1924 (RGBl. II S. 272) verwirklichte die Forderungen der Reparationskommission vom 9. 4. 1924 und die Beschlüsse der Londoner Konferenz nach Überlassung einer sicheren Quelle, indem für Reparationszwecke der Betrieb der Deutschen Reichsbahn auf die Dauer von 40 Jahren dieser besonders gegründeten Gesellschaft, der "Deutschen Reichsbahngesellschaft", verpachtet wurde. Erstmalig taucht auf Veranlassung der Reparationsmächte im § 2 die Forderung nunmehr profiliert auf, daß die Reichsbahngesellschaft ihren Betrieb nach kaufmännischen Grundsätzen zu führen habe. Weiter wurde festgelegt (§ 17), daß die Stellen der Deutschen Reichsbahngesellschaft keine Behörden oder Stellen des Reiches seien, obgleich sie die bisherigen öffentlich-rechtlichen Befugnisse im gleichen Umfang behielten. Die von ihr beschäftigten Reichsbeamten werden zu Reichsbahnbeamten. Dieses wirtschaftliche Unternehmen ,Deutsche Reichsbahngesellschaft' hatte die Aufgabe, die Eisenbahnen des Deutschen Reiches zu betreiben und zu verwalten. Sie war demnach nur Betriebsgesellschaft, während die Eisenbahn selbst im Eigentum des Reiches blieb. Die mit dieser eigenartigen Rechtskonstruktion gegründete Deutsche Reichsbahngesellschaft erhielt das Betriebsrecht für 40 Jahre, sollte also unter dieser Form bis 1964 arbeiten. Sie wurde Trägerin von Reparationsverpflichtungen. Das Vermögen des Reiches blieb aber für die Aufbringung von Reparationslasten verantwortlich. Dem Reich verblieben zwar die Tarifhoheit über die Eisenbahntarife und bestimmte Aufsichtsrechte. Im übrigen entschied aber über die restlichen Fragen der Eisenbahnpolitik der Verwaltungsrat, in dem nunmehr vier ausländische Mitglieder und ein ausländischer Kontrollkommissar saßen. Der Kapitalaufbau der Deutschen Reichsbahngesellschaft wurde nur im Hinblick auf die Reparationsverpflichtungen an die früheren Feindmächte auf eine eigenartige Weise aufgestellt. Das Dawes-Gutachten von 1924 ging davon aus, daß der Betriebsreingewinn der Vorkriegszeit nach Abzug der im Weltkrieg eingeführten Reichstransportsteuer eine Höhe von 660 Mill. Mark hatte. Diesen damals unter ganz anderen Bedingungen- es gab noch keinen Wettbewerb mit dem Kraftwagenerzielten Betriebsreinertrag behandelte die Reparationskommission als ewige Rente, deren Gegenwert sie mit einem Diskontsatz von 5 vH und 1 vH Tilgung auf 11 Mrd. Reichsmark berechnet, in die Bilanz einsetzte. Damit die Tarife der deutschen Eisenbahnen nicht infolge Abwälzung eines großen Teils der fixen Kosten durch die Inflation 1920-1923 die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu ausländischen Konkurrenten zu

1. Organisatorische Wandlungen

583

sehr begünstigen und damit eine zu große Gestaltungskraft entwickeln würden, sollte eine Belastung in gleicher Höhe in die Kostenrechnung der Reichsbahn eingehen. Dieser Betrag ergab den Obligationsbetrag von 11 Mrd. RM. Die Obligationen in Höhe von 11 Mrd. RM erschienen jeweils in der Jahresbilanz bis 1936, d. h. solange die Gesellschaftsform der Deutschen Reichsbahngesellschaft in Kraft war, als Rückstellung für Abschreibung auf das Betriebsrecht am übernommenen Reichseisenbahnvermögen. Die Reichsbahn-Gesellschaft erhielt 13 Mrd. RM Stammaktien und eine halbe Mrd. Vorzugsaktien. Sie sollten an das Reich ohne Gegenleistung gehen und zum Zwecke der Deckung allgemeiner Finanzbedürfnisse verwendet werden können. Die meisten Werte des Kapitalaufbaus der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft standen demnach bis 1936 in keinerlei Zusammenhang mit den Anlagewerten oder den Kostenelementen. Die Reichsbahngesellschaft hatte folglich Reparationssteuer in Höhe von jährlich 660 Mill. Reichsmark an die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel abzuliefern. Sie wurde verpflichtet, für die von ihr vorgenommenen Beförderungsleistungen eine Beförderungssteuer zu erheben und davon jährlich bis zum Ablauf des Betriebsrechts einschließlich etwaiger Verlängerungen 200 Mill. Goldmark an den Agenten für Reparationszahlungen abzuführen. Außerdem wurden "Reparationsschuldverschreibungen", hypothekarisch gesicherte Schuldverschreibungen, im Nennwert von 11 Mrd. Goldmark ausgegeben und zu diesem Zweck zugunsten der Gläubiger dieser Schuldverschreibungen an Grundstücken und Zubehör (einschließlich der Fahrzeuge) eine erststellige, allen bisherigen Pfandrechten vorgehende Hypothek auferlegt. Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft führte insgesamt von 1925 bis 1932 einen Betrag von 4,2 Miliarden RM für Reparationsverpflichtungen aus ihrem Betriebsüberschuß ab. Aufgrund des Raager Abkommens vom 20. 1. 1930 wurde ein neues Reichsbahngesetz am 13. 3. 1930 (RGBl. II, S. 359) erlassen. Die Reparationsschuldverschreibungen wurden zwar beseitigt; an ihre Stelle wurde jedoch eine Reparationssteuer von gleicher Höhe gesetzt. Ferner lieferte die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft in den Jahren 1932 bis 1936 nach Wegfall der Reparationslast noch eine weitere Milliarde RM an den Reichshaushalt ab. Sie investierte aus Überschüssen noch 1,7 Mrd. RM. Insgesamt betrug der Betriebsüberschuß in den Jahren 1925 bis 1936 5,346 Milliarden RM143 • us Vgl. A. Günther, Die Gemeinwirtschaftlichkeit der deutschen Eisenbahnen in ihrer geschichtlichen und inhaltlichen Entwicklung, Archiv für Eisenbahnwesen, 1960, S. 29.

584

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Organisation der Bahn wieder umgestellt, der Charakter des Reparationspfandes genommen und der ausländische Einfluß beseitigt. Das Gesetz zur Neuregelung der Verhältnisse der deutschen Reichsbank und Reichsbahn vom 10. 2. 1937 (RGBl. Il, S. 47) legte fest, daß die Deutsche Reichsbahngesellschaft ohne Liquidation den Namen Deutsche Reichsbahn erhielt. Ihre Dienststellen wurden Reichsbehörden, der bisherige Generaldirektor Reichsverkehrsminister, die Reichsbahnbeamten unmittelbare Reichsbeamte. Das Vermögen der bisherigen Gesellschaft wurde Sondervermögen des Reiches. Damit wurde 1937 die Deutsche Reichsbahngesellschaft wieder in die unmittelbare Staatsverwaltung eingegliedert144. Ihr wurde formell eine eigene Wirtschafts- und Rechnungsführung zugestanden. Vollendet wurde die Entwicklung durch das Reichsbahngesetz vom 4. 7.1939 (RGBl. I, S.1205) mit seinem § 1: Das Reich verwaltet unter dem Namen "Deutsche Reichsbahn" das Reichseisenbahnvermögen als ein Sondervermögen des Reiches mit eigener Wirtschafts- und Rechnungsführung. 1937 gab es im Deutschen Reich 121 Privatbahnen. Sie hatten eine Betriebslänge von 4500 km. Dazu kamen 293 Kleinbahnen mit 9623 km Gesamtstrecke. Von ihnen hatten etwa die Hälfte Schmalspur. Die organisatorischen Umstellungen der Eisenbahnen seit dem 2. Weltkrieg mögen im einzelnen tiefgreifend gewesen sein. Gemessen an der Variationsbreite der möglichen Organisationsformen der Verkehrswirtschaft sind die Wandlungen aber gering. Die in ihrer eigenständigen Dynamik gewachsene Organisationsform der Eisenbahnen hat die Traditionskraft der "Prägung" erhalten, die Organisationsform wurde zur Anteludialbindung145 , zur "Hemmung" der möglichen künftigen Entwicklung des nach wie vor wichtigsten Massenverkehrsmittels zu Lande. Der neue § 28 des Bundesbahngesetzes 1961 legt fest, daß "die Deutsche Bundesbahn unter der Verantwortung ihrer Organe wie ein Wirtschaftsunternehmen mit dem Ziel bester Verkehrsbedienung nach kauf144 Art. 2 des Gesetzes vom 10. 2. 1937 (RGBl. II, S. 47): (1) Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft führt den Namen "Deutsche Reichsbahn". Ihre Dienststellen sind Reichsbehörden [bisher waren es nur mittelbare Reichsbehörden]. Die Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn geht in dem Reichsverkehrsministerium auf. (2) Der Reichsverkehrsminister nimmt die Aufgaben des Generaldirektors, ein Staatssekretär und Ministerialdirektoren nehmen die Aufgaben der übrigen Vorstandsmitglieder wahr. (3) Die Deutsche Reichsbahn verwaltet das Vermögen der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und das Vermögen des Reiches, das dem Betrieb der Reichseisenbahnen gewidmet ist, nach den Vorschriften des Reichsbahngesetzes vom 13. März 1930 (RGBl. II, S. 369) als Sondervermögen des Reiches weiter. us Zu diesem Begriff Fritz Voigt: Verkehr und Industrialisierung, Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., 109. Bd., 2. Heft, S. 214 ff.

3. Kriegsschäden des Zweiten Weltkrieges

585

männischen Grundsätzen so zu führen ist, daß die Erträge die Aufwendungen einschließlich der erforderlichen Rückstellungen decken; eine angemessene Verzinsung des Eigenkapitals ist anzustreben. In diesem Rahmen hat sie ihre gemeinwirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen". 2. Erste Reaktionen gegen den zunehmenden Wettbewerb anderer Verkehrsmittel

Trotz steigender Verkehrsleistungen in den meisten Zeitabschnitten hatte sich schon seit dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich wie in allen Ländern der Welt der Anteil der Beförderungsleistungen der Eisenbahnen am Gesamtverkehrsaufkommen (in tkm) ständig verringert. Im Deutschen Reich stieg der Anteil der Binnenschiffahrt geringfügig an. Überall war es aber das gleiche, daß sowohl Güterfernverkehr als auch Güternahverkehr und Werkverkehr zu Lasten der Eisenbahnen steigende Anteile gewannen. Die Problematik wurde solange nicht offenkundig, als das Güteraufkommen bei der Eisenbahn anstieg. Es wurde aber kritisch, als in der Weltwirtschaftsdepression sowohl die Gesamtbeförderungsleistung der Volkswirtschaft als auch die der Eisenbahnen stark abfiel. Die Eisenbahn hatte zunächst seit 1928 einen unmittelbaren Tarifwettbewerb zum Kraftwagen eingeführt. Am 5. 2. 1931 wurde deshalb ein Vertrag mit der Speditionsfirma Schenker & Co. geschlossen. Ziel sollte es sein, ein weiteres Vordringen des Kraftwagens im Wettbewerb mit der Eisenbahn zu verhindern. Besonders bei einer steigenden Zahl von Kleinbahnen wurde der Verkehr zuerst auf die Straße verlagert, indem die Eisenbahnstrecken stillgelegt und Omnibuslinien eröffnet wurden. Die Unternehmen ersparten damit den Teil der Kosten, die durch die Bahnhöfe wie durch den Unterhalt der Gleisanlagen und der sonstigen Anlagen entstanden. Die Verkehrspolitik des Nationalsozialismus versuchte, die schon damals kritisch werdenden Auswirkungen des Wettbewerbs zwischen Schiene und Straße dadurch beizulegen, daß sie den gesamten gewerblichen Güterfernverkehr unter eine einheitliche Leitung brachte. Weiter wurde durch das Gesetz über die Errichtung eines Unternehmens "Reichsautobahnen" vom 27. 6. 1933 die Führung dieses Unternehmens in die Hände der Deutschen Reichsbahngesellschaft gelegt, eine Verbindung, dietrotzverschiedener organisatorischer Veränderungen erst mit dem Zusammenbruch 1945 gelöst wurde. 3. Kriegsschäden des Zweiten Weltkrieges

Am Ende des 2. Weltkrieges waren von den im Bereich der heutigen Deutschen Bundesbahn vorhanden gewesenen 17 000 Lokomotiven nur noch 38 vH einsatzfähig. Der Bestand an Personenwagen war um 60 vH,

586

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

der an Güterwagen um 25 vH reduziert. Von den Hochbauten waren ungefähr 20 vH des Gesamtbestandes vernichtet oder beschädigt. Von 8100 Lokomotivständen in den Bahnbetriebswerken waren 4300 zerstört. Nicht mehr benutzungsfähig waren 1800 Stellwerke, 5400 Signale, 5000 km Streckenblockeinrichtungen, 4200 km Gleise und 16 900 Weichen. Von 24 970 Eisenbahnbrücken waren 3320 zerstört, und zwar vorwiegend die Brücken mit größerer Spannweite, so nahezu alle Brücken über die großen Ströme. Nach den Zerstörungen im 2. Weltkrieg war die Deutsche Bundesbahn gezwungen, den Wiederaufbau zum großen Teil aus eigener Kraft durchzuführen. Sie wandte an eigenen Mitteln zwischen 1949 und 1960 2,4 Milliarden DM auf146 • Bis Ende 1961 waren 75 vH der Kriegsschäden an Hochbauten behoben.

4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen Der einsetzende Wettbewerb des Kraftwagens und des Luftverkehrs änderte in dieser Periode die Struktur der Nachfrageelastizität in bezug auf den Preis wie auch in bezug auf das Einkommen grundlegend. Da zudem noch die sich im Entwicklungsprozeß herausgebildete Organisationsform der Eisenbahnen zur Anteludialbindung wurde, sank die privatwirtschaftliche Ertragsfähigkeit der Eisenbahnen in dieser Periode überall in der Welt beträchtlich ab. Zwar gab es auch schon früher Eisenbahnnetze, die privatwirtschaftliehe Verluste brachten oder sich nur wenig rentierten. Dennoch waren die Eisenbahnen der wichtigste Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung mit ihrer hohen volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft in verschiedenen Räumen, früher nie geahnte volkswirtschaftliche Wachstumsprozesse auslösend, in anderen aber auch Entleerungsprozesse nach sich ziehend. Lediglich der Eingriff der staatlichen Politik, einerseits mit der Verpflichtung zu hohen Konzessionsabgaben, zu denen teilweise hohe Steuerverpflichtungen kamen, andererseits mit der Beschränkung der Fähigkeit zu freier Preisbildung, vor allem zur vollständigen Ausnützung starrer Preiselastizitäten, gemäß der Lage des Cournot'schen Punktes in den einzelnen Verkehrslagen, ließ bis zum 1. Weltkrieg den überaus hohen "volkswirtschaftlichen" Ertrag sich nur zu einem kleinen Teil in privatwirtschaftlichem Gewinn auswirken. Noch in den Jahren zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg vermochte die Ertragskraft der Deutschen Reichsbahn einen der Hauptbeiträge der deutschen Volkswirtschaft zur Abtragung der von den Siegermächten auferlegten Reparationsverpflichtungen zu leisten. Das Wirtschaftsergebnis beispielsuo Vgl. Die Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1961. Bericht des Bundesministers für Verkehr, Bad Godesberg 1961, S. 105.

4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen

587

weise der Deutschen Bundesbahn nach dem 2. Weltkrieg ist dagegen von Jahr zu Jahr durch Verluste in Höhe von mehreren Hundert Millionen Mark gekennzeichnet. Die Bruttoerträge der Eisenbahnen stiegen zunächst in den meisten Relationen und hinsichtlich der meisten angebotenen Dienstleistungen noch an. Aber von Jahr zu Jahr zunehmend machte sich die geringere Einkommenselastizität der Ausgaben für die Eisenbahn infolge der vordringenden Benutzung des privaten Kraftwagens für den Personenverkehr bemerkbar. Vor allem nahm die Bedeutung der Personenzüge außerhalb des Nahverkehrs der Großstadt schroff ab. Auch erhöhte sich die Nachfrageelastizität in bezug auf den Preis für Gütertransporte, die bisher in den höchsten, gewinnbringenden Tarifklassen lagen. Betrachten wir die wichtigsten Einnahmequellen und Leistungen der Deutschen Reichsbahn 1936 mit der Entwicklung der Wirtschaftsergebnisse der Deutschen Bundesbahn und nichtbundeseigener Eisenbahnen: Einnahmen nnd Leistungen der Deutschen Eisenbahn 1936 Deutsche Reichsbahn

Verkehrsart

Einnahmen inMill.RM

invH

Gesamtverkehr ........ Personenverkehr ....... Güterverkehr .......... davon Steinkohle ........... Braunkohle Düngemittel Erze .................

3 692,0 1 055,5 2 636,5

100,0 29,0 71,0

469,0 188,3 83,3 24,9

17,8 7,1 3,2 0,9

•••••••

0000

••

0

••

0

••

Leistungen in Mill.-tkm bzw. Personenkilometer

-

43 490,0 Pers.-km 70713,3 tkm 18862,1 5433,9 3972,6 1779,9

tkm tkm tkm tkm

Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1938, 57. Jahrgang, S. 210,

211,213.

Betriebsleislongen der DBa) in Mill. Zug-km

Jahr

(31. 12.)

1950 1955 1958 1960 1961 1962 1963

insgesamt 448,3 571,1 576,1 564,5 565,0 569,9 583,0

davon Reisezüge

Güterzügeb)

279,8 387,9 396,0 377,8 376,1 376,4 382,9

168,5 183,2 180,1 186,7 188,9 193,5 200,1

a) Bundesgebiet ab 1960 einschl. Saarland. b) Einschl. Dienstzüge. Quelle: Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn.

588

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Während trotz mancher bedenklicher Schrumpfungen in em1gen Dienstleistungen und in einigen Relationen die Gesamtleistung der Deutschen Bundesbahn in dem beachtlichen, allgemein-wirtschaftlichen Wachstums- und Industrialisierungsprozeß nach der Währungsreform 1948 - bei abnehmenden Anteilen an der Gesamtverkehrsleistung in absoluten Mengen zunahm, zeigten sich bei den nichtbundeseigenen Eisenbahnen, also einem der Komplexe der Neben- und Kleinbahnen, erhebliche Verringerungen der effektiven kaufkräftigen Nachfrage. Deutsche Bundesbahna) Erträge im Personen- und Güterverkehr in Mill. DM

Geschäftsjahr 1950 1955 1958 1960b) 1962 19E3l)

I

Personenverkehr

Güterverkehr

1 173,7 1 613,0 2 049,4 2136,1 2 287,5 2394,0

2 335,2 3 733,1 4 136,6 4880,0 5 067,4 5 384,0

Sonstige

Insgesamt

248,4 438,9 645,3 1 097,8c) 698,6 731,0

3 757,3 5785,0 6831,3 8 113,9c) 8053,5 8509,0

a) Quette: Bericht über die Deutsche Bundesbahn (DB) vom 30. Januar 1960, Drucksache IV/840. Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode, Bonn 1962, s. 315. Für 1962 und 1963: Jahrbuch des Eisenbahnwesens, Folge 15, 1964, s. 182. b) Einschlleßllch Saarland. c) Einschließlich 276,0 Millionen DM Abgeltung betriebsfremder Versorgungslasten und 112,5 Millionen DM Tellabgeltung aus dem Bundeshaushalt für Mehraufwendungen wegen der Erhöhung der Gehälter, Löhne und Versorgungsbezüge. d) Vorläufige Zahlen.

Betrachten wir die amtlich ausgewiesenen Verlustquellen der Deutschen Bundesbahn14 7. Deutsche Bundesbahn Die Verlustquellen nach Verkehrsarten (in Mill. DM)

Personenverkehr in Personenzügen ............. Stückgutverkehr ............. Gepäck, Expreßgutverkehr, Postbeförderung ........... Eisenbahnkraftwagenverkehr S-Bahn Harnburg ............ Personenverkehr in Eilzügen Eisenbahnschiffahrtsverkehr Schmalspurverkehr ..........

1957

1958

1959

1960

1961

893,3 331,7

847,3 374,6

818,3 345,7

846,2 313,9

733,1 282,5

143,9 54,4 17,2 14.2 2,2 2,9

119.4 32,7 12,8

100,2

86,0

110,7

4,4 3,4

2,9 3,3

8,9 8.4 1,8 2,9

11,0 29,8

1 459,8

1 394,6

1 282.3

1 268.1

-

-

11,9

-

-

-

3,2 1170,3

Que!!e: Bericht über die Deutsche Bundesbahn (DB) vom 30. Januar 1960, Drucksache IV/840, Deutscher Bundestag - t. Wahlperiode, Bonn 1962, s. 323. 147 Freilich muß auch hier darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Erkenntniswert dieses Nachweises - vor allem, wenn man ihn mit volks-

4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen 589 Wirtschaftsergebnisse der Deutschen Bundesbahn von 1949 bis 1961a) 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71,1 Mill. DM Verlust ..................... 362,6 Mill. DM Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71,7 Mill. DM Gewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140,6 Mill. DM Verlust ..................... 166,7 Mill. DM Verlust ..................... 503,4 Mill. DM Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201,5 Mill. DM Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515,4 Mill. DM Verlust ..................... 678,3 Mill. DM Verlust ..................... 576,8 Mill. DM Verlust ..................... 356,8 Mill. DM Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15,5 Mill. DM Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29,8 Mill. DM Verlust ..................... 110,2 Mill. DM Verlust ..................... 390,0 Mill. DM Verlust ..................... 1000,0 Mill. DM Verlust~>)

a) Quelle: Die Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1961. Schriftenreihe des Bundesministers für Verkehr, Band 22. Bad Godesberg, Juli 1961, S. 116. Die Bilanzsumme der Deutschen Bundesbahn betrug 1962 47 Milliarden DM, Ihr Umsatz 8 Mllllarden DM. Zu der Problematik der Aussagekraft dieser Statistik der Wirtschaftsergebnisse angesichts der sehr eigenwilligen Aufwand- und Ertragsrechnung der Deutschen Bundesbahn vgl. Bd. 3. Zwar ermöglicht die Methode der Ermittlung der Wirtschaftsergebnisse eine nicht zu übersehende weite Variationsbreite des auszuweisenden Ergebnisses. Auch wäre die Bundesbahn in der besonderen Situation der Wlllensblldung in der Politik der Bundesrepublik Deutschland und der überkommenen Eisenbahngesetzgebung schlecht beraten gewesen, wenn sie nicht einen hohen Verlust ausgewiesen hätte. Dennoch sind die grundsätzlichen Verlustausweisungen nicht zu bezweifeln. b) Geschätzte Zahl, Que!!e: Deutsche Bundesbahn, 39. Jg., H. 4, 1965, s. 122.

Betriebsleistungen der nirhtbundeseigenen Eisenbahnen des öffentlichen Verkehrsa) Jahr

Zug- u. Rangierkilometer in 1000

1955 1958 1960 1961 1962

47662 45516 40020 37 882 35833

Wagenachs-Kilometer in 1000 im Reiseverkehr im Güterverkehr 210463 187 805 164674 156 228 147 369

164 021 163 155 176395 180 372 178547

a) Bundesgebiet ab 1960 einschließlich Saarland. Quelle: Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen.

wirtschaftlichen Maßstäben mißt - nicht überschätzt werden darf. Die Art der Zurechnung der Gemeinkosten zu den einzelnen Verkehrsarten läßt eine Variationsbreite der Ermessensentscheidung zu, die nicht übersehen werden darf.

590

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Verkehrsleistungen dt>r nichtbundeseigenen Eisenbahnen des öffentlichen Verkehrsa)

Verkehrsleistungen Jahr

1950 1955 1958 1960 1961 1962

Personenkilometer in Mill.

Nettotonnenkilometer in Mill.

1629 1 518 1 359 1 151 1 067 991

515 666 678 814 845 878

Verkehrsmengen Personenbeförderungsfälle in 1000 insgesamt 186 581 163920 146993 118 059 108 313 102159

I

darunter im Berufs- und Schülerverkehr -

98163 86207 69822 61 102 55914

a) Bundesgebiet ab 1960 einschließlich Saarland. Que!!e: Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen.

Von 1950-1956 leistete die Bundesrepublik Deutschland an die Deutsche Bundesbahn verzinsliche Darlehen in Höhe von rd. 3 Mrd. DM. Ein in diesen 6 Jahren aufgelaufener Verlust wurde gegen die der Bundesbahn zu erstattenden betriebsfremden Versorgungslasten in Höhe von knapp 2 Mrd. DM aufgerechnet. Eine ähnliche Situation wie bei der Deutschen Bundesbahn läßt sich beim Eisenbahnwesen anderer Länder Europas und der USA feststellen. Die mangelhafte Anpassungsfähigkeit des nach wie vor wichtigsten Verkehrsmittels Eisenbahn in allen Verkehrssystemen an die veränderte Wettbewerbslage im gesamten Verkehrssektor durch die Zunahme des zivilen Luftverkehrs und des Kraftwagens für private und gewerbliche Nutzung zeigt sich im besonderen Maße in den Ländern, in denen das Eisenbahnwesen weitgehend dirigistisch vom Staat bestimmt wird, da hier den Eisenbahnen eine ganze Reihe staatspolitischer Aufgaben übertragen wurde, deren Last aufgrund der mangelnden Wirtschaftlichkeit besonders bei zunehmendem Wettbewerb spürbar wird. Beispielsweise hat heute noch die Deutsche Bundesbahn derartige staatspolitische Funktionen wahrzunehmen. Sie ist aber andererseits durch manche Steuern ebenso belastet wie privatwirtschaftliche Verkehrsbereiche. Sie zahlte im Jahre 1962 420 Mill. DM an Beförderungssteuer. Davon entfielen 250 Mill. DM auf den Güterverkehr. Während in den USA, abgesehen von den Kriegsjahren, die Eisenbahnen rückläufige Leistungen im Personen- wie auch im Güterverkehr erkennen lassen, stiegen allerdings in Europa sogar noch in den letzten zwei Jahrzehnten Frachtaufkommen und Personenverkehr an. Bezogen auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befördern beispielsweise die Eisenbahnen im Vergleich von 1880 zu'1962, gemessen

4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen 591

in Tonnenkilometern, etwa das Dreifache. Im Personenverkehr sind die Leistungen, gemessen in Personenkilometern, siebenmal so hoch. Die Entwirklung des Eisenbahngüterverkehrs in Deutschland von 1880 bis 1937a) Jahr 1885 1890

1900 1910 1913 1925 1929 1933 1937

Transportaufkommen in Mill. t

Transportleistungen in Mrd. tkm

111,2 151,7 265,0 395,6 500,5 396,2 466,0 295,1 482,2

16,6 22,4 36,9 56,3 67,5 60,2 77,0 48,2 80,6

a) Vgl. auch Wllhelm Voss: Die langfristige Entwicklung des Eisenbahngüterverkehrs in Deutschland von 1880 bis 1957 in ihrer Abhängigkeit von Wachstum und Strukturwandlungen der Wirtschaft. Diss. Harnburg 1960, S. 24.

Die Entwicklung des Güterverkehrs der Deutschen Bundesbahn seit

1950 ist aus der nachstehenden Tabelle ersichtlich.

Der Güterverkehr der Deutschen Bundesbahn 1955

1958

1960

1962

229,3a) 282,8 43,1 52,2 188 185

302,1 50,9 168

327,2 56,2 172

319,6 59,1 185

203,2 38,9

271,9 46,9

298,7 52,3

291,8 54,7

1950

Güterverkehr insgesamt Beförderungsmengen in Mill. t ..... Tariftonnenkilometer in Mrd. tkm .. Mittlere Versandweite in km ....... davon I. Öffentlicher und Militärverkehr Beförderungsmengen in Mill. t .. Tariftonnenkilometer in Mrd. tkm davon 1. Expreßgutverkehr Beförderungsmengen in Mill. t .. Tariftonnenkilometer in Mrd. tkm 2. Eil- und Frachtgutverkehr und Tiere Beförderungsmengen in Mill. t .. Tariftonnenkilometer in Mrd. tkm II. Dienstgutverkehr Beförderungsmengen in Mill. t .. Tariftonnenkilometer in Mrd. tkm

0,7 0,2

256,1 48,1 0,69 0,2

0,77 0,2

196,0b) 248,0b) 271,1 37,3b) 46,3b) 46,7 26,2 4,1

26,7 4,1

30,2 4,0

0,86 0,2

0,8 0,2

297,8 52,1

291.1 54,5

28,6 3,9

27,7 4,3

a) Deutsche Reichsbahn für 1936: beförderte Güter insgesamt 275,2 Mill. t; BetriebsNetto tkm 46,1 Mrd. b) Ohne Militärverkehr. Quelle: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepubllk Deutschland. Verschiedene Jahrgänge.

592

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Betrachten wir speziell den Unterschied zwischen Effektiv-tkm und Tarif-tkm: Güterverkehr (Bundesgebiet ohne Berlin)

Verkehrszweig Verkehrsart Deutsche Bundesbahnb) Beförderte Tonnen ........ . Geleistete Effektiv-tkm ... . Geleistete Tarif-tkm ...... .

1961

1963a)

1962

Mill. 320 67062 59056

322 64630 57 258

324 71494 63608

a) Vorläufige Zahlen. b) Nur innerhalb des Bundesgebietes erbrachte Leistungen. Quette: Wirtschaft und Statistik, Hrsg. Statistisches Bundesamt 1964, Heft 2,

s. 121.

Im Massengutverkehr lagen der Kohleverkehr, die Erz- und Baustoffbeförderung, der Getreide-, Düngemittel-, Zuckerrüben- und Kartoffeltransport in führenden Positionen. Entsprechend der steil ansteigenden Ziffer der Haltung von Personenkraftwagen in breiten Schichten der Bevölkerung ging die Personenbeförderung der Bundesbahn in den letzten Jahren wieder zurück. Personenverkehr der DB (Bundesgebiet ohne Berlin)

Verkehrszweig Verkehrsart Deutsche Bundesbahnb) Beförderte Personen ....... Personenkilometer .........

1950

1 285 30 265C)

I

1961

I

1962

Mill. 1 195 38469

1 144 38415

I

1963a)

1 109 37736

a) Vorläufige Zahlen. b) Nur innerhalb des Bundesgebiets erbrachte Leistungen. c) Leistungen der Deutschen Reichsbahn für das Deutsche Reich 1936; 748,7 Mlll. beförderte Personen, 23,6 Mrd. Personenkilometer. Que!!e: Wirtschaft und Statistik, Hrsg. Statistisches Bundesamt 1964, Heft 2, s. 122.

Dieses Ergebnis ist im wesentlichen Folge der veränderten Stellung der Eisenbahnen im Verkehrssystem, während die Rechtsordnung heute noch - trotz einiger Abschwächungen - die Eisenbahnen mit den Maßstäben mißt, die aus dem vorigen Jahrhundert erwachsen sind. Vor allem ist es der Wettbewerb des motorisierten Straßenverkehrs, aber auch des sich anbahnenden Flugverkehrs, den dieses nach wie vor wichtigste Verkehrsmittel im Verkehrssystem des Landes, gebunden durch die amtliche Verkehrspolitik fast aller Industrieländer, zu lange Zeit nicht zu bewältigen wußte. Viel zu viel Zeit verstrich, bis die für die Verkehrswirtschaft verantwortlichen Stellen die Situation überhaupt erkannten.

4. Die veränderte privatwirtschaftliche Ertragslage der Eisenbahnen 593

Bei der Analyse der Wirtschaftsergebnisse der Deutschen Bundesbahn darf man Besonderheiten nicht übersehen, die nur diese Eisenbahn mit ihrer Rechtsform als Sondervermögen des Bundes treffen. Dazu gehören insbesondere die Aufwendungen zur Beseitigung der Kriegsschäden und besondere Belastungen, die durch Gesetze auferlegt wurden. Während im Durchschnitt der Wirtschaftszweige innerhalb der Bundesrepublik Deutschland für die Altersversorgung der Mitarbeiter an gesetzlichen und freiwilligen Leistungen durchschnittlich 22-25 vH der Aktivbezüge der dort Beschäftigten ausgegeben werden, eine Summe, die sich aus Beiträgen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und Zuschüssen des Bundes an die soziale Rentenversicherung ergibt, mußte die Deutsche Bundesbahn im Durchschnitt der Jahre 1950-1956 56 vH der Aktivbezüge aufbringen148. Mitte 1962 mußte die Deutsche Bundesbahn eine Versorgungslast von jährlich 1255 Mill. DM tragen. Im Haushaltsplan 1962 wurde davon ein Betrag von 275 Mill. DM vom Staat übernommen. Welche Rolle die privaten Eisenbahngesellschaften in der Bundesrepublik spielen und welche Schrumpfungsprozesse in den letzten Jahren eingetreten sind, läßt sich an den einzelnen Kennzahlen der umstehenden Tabelle entnehmen. Die Nichtbundeseigenen Eisenbahnen haben in einem Transportaufkommen von 100 Mill. t 1962 eine Beförderungsmenge, die an 30 vH der beförderten Gütermenge der Bundesbahn herankommt. Sie war ebenso hoch wie die Menge der im Straßenverkehr transportierten Güter. Der Güterverkehr der nichtbundeseigenen Eisenbahnen ist infolge der kurzen Streckenlängen zu 75 vH Wechselverkehr mit der Deutschen Bundesbahn. Die Tariftonnenkilometer betragen freilich nur 1-2 vH im Vergleich zur Bundesbahn, da die Strecken verhältnismäßig kurz sind14&. Expreßgutverkehr der deutschen nichtbundeseigenen Eisenbahnena) Jahr

Expreßgut in 1000 t

1955 1958 1960 1961 1962

41,7 43,1 46,9 39,5 39,4

a) Bundesgebiet ab 1960 einschileBUch Saarland. Que!!e: Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen.

us Wenn die Versorgungslast der Deutschen Bundesbahn wie in der Industrie nur 22 vH der Besoldungen betragen hätte, hätte die Bundesbahn seit 1959 regelmäßig mit Gewinn abgeschlossen. Ut Vgl. Wirtschaft und Statistik, 1963, Heft 2, .8.115. 38 Voigt II/1

594

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Eisenbahnverkehr der Nichtbundeseigenen Eisenbahnena) Gegenstand der Nachweisung Streckenlängenb) (in km)

Eigentumslänge .............. . Vollspurbahnen .............. . darunter für elektr. Betrieb .. . Schmalspurbahnen ........... . darunter für elektr. Betrieb .. . Betriebslänge .................. . Betriebseinrichtungenb)

Bahnhöfe, Haltepunkte u. -stellen Ausbesserungswerke (Werkstätten) ...................... . Fahrzeugbeständec)

Lokomotiven ................... . Dampflokomotiven ........... . Elektrische Lokomotiven ..... . Diesellokomotiven ........... . Triebwagen .................... . Elektrische Triebwagen ...... . mit Verbrennungsmotor ...... . Personenwagen ................ . Gepäckwagen .................. . Güterwagen ................... .

Personalbestand

Beamte, Angestellte und Arbeiter Betriebsrechnung (in Mill. DM) Erträge ........................ . Personen- und Gepäckverkehr Güterverkehr (einschl. Expreßgut) ....................... . Sonstige ..................... . Aufwendungend) ............... . Überschuß ( +) bzw. Fehlbetrag (-) der Betriebsrechnung ..... . Verkehrsleistungene) (ohne Kraftwagenverkehr) Personenverkehr Beförderte Personen (in 1000) .. Außerdem im Schienenersatzverkehr mit Kraftomnibussen Mittlere Reiseweite (in km) .... Güterverkehr Beförderungmengen (in 1000 t) darunter im Verkehr mit der Deutschen Bundesbahn ..... . Nettotonnenkilometer (in 1000)

1957

1958

1960

1962

5530 4422 299 1 108 290 5611

5472 4419 283 1054 259 5 540

5258 4416 265 842 246 5282

4966 4 210 276 756 200 5045

2343

2344

2122

2042

215

217

194

963 617 79 267 573 289 284 1 283 329 7 074

915 540 73 302 588 289 299 1 221 334 6290

858 423 60 375 543 235 308 995 265 5434

776 297 60 419 504 210 294 859 222 5252

23027

19534

17 843

16173

249 60

260,0 66,6

279,2 58,2

287,1 58

167 22 261

156,7 36,7 270,0

179,2 41,8 279

187,7 41,4 297,9

-12

-10,0

+0,3

-10,8

158 009 132 204 9,4

147 166 139 973 9.5

117 857 151 347 9,7

102 269 168 718 9,7

92096

83941

102 038

99418

69945 739 586

63945 689637

75305 898 241

73 532 943498

a) Bundesgebiet ohne Berlin. - 1957 = 236, 1958 und 1959 - 235, 1960 = 237 nichtbundeseigene Eisenbahnen, die dem Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen e. V. angeschlossen sind. b) Am Ende des Kalenderjahres. c) Einsatzbestände an Voll- und Schmalspurfahrzeugen. d) In den Aufwendungen sind die Abschreibungen nur zu einem geringen Teil enthalten. Bei Berücksichtigung aller Abschreibungen vergrößert sich der Fehlbetrag beträchtlich. e) Einschl. des Verkehrs mit der Deutschen Bundesbahn. QueUe: Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen e. V. In: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1962, S. 353. Für 1957: Statistisches Jahrbuch 1959, S. 290. Für 1962: Statistisches Jahrbuch 1964.

5. Reaktionen aus der veränderten Ertragslage

595

Aber nicht nur die enge Verbindung zwischen Verkehrsunternehmen und Kreditsektor bzw. speziellen Eisenbahnunternehmen und Banken ist für die industrielle Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung, sondern auch die direkte Zusammenarbeit zwischen Verkehrs- und Industrieunternehmen. So zahlt die Aktiengesellschaft für Verkehrswesen und Industrie Frankfurt, die zunächst als eine reine Aktiengesellschaft für Verkehrswesen gegründet worden war, heute ihre Dividende ausschließlich aus der Beteiligung an Bau- und Baustoffgesellschaften, sowie aus Unternehmen einiger anderer Wirtschaftszweige. Aus den 14 Verkehrsunternehmen, an denen die Gesellschaft beteiligt ist, fließt schon lange keine Dividende mehr. 1937 betrieb sie etwa 4000 km Eisenbahnstrecke, fast jedes Jahr wurden aber Strecken stillgelegt, wie etwa 1962 70 km, so daß heute die Betriebsführungsgesellschaft nur noch 1100 km private Eisenbahnstrecken betreibt. 5. Reaktionen aus der veränderten Ertragslage Abgesehen von wenigen Relationen sind die Eisenbahnen heute in den Ländern, in denen der Wettbewerb zum Flugzeug und zum Kraftwagen besonders intensiv ist, nur zu einem kleinen Teil, einem Bruchteil ihrer möglichen Kapazität, ausgenutzt. Der größte Teil des Eisenbahnnetzes könnte erheblich mehr Verkehrsleistungen erbringen, die in vielen Relationen - gemessen in Tonnen- oder Personenkilometern - das Zehnund Zwanzigfache der heutigen Leistungen betragen könnten. Da die fixen Kosten der Eisenbahnen sehr hoch, die variablen Kosten aber verhältnismäßig niedrig sind, würde eine bessere Ausnutzung der Leistungsfähigkeit bedeuten, daß die auf eine Beförderungseinheit entfallenden Kosten der Eisenbahnen stark absinken würden. Da aber in einer Marktwirtschaft dem Konsumenten die Freiheit der Wahl der Verkehrsmittel erhalten bleiben soll und außerdem Wert auf Wettbewerb gelegt wird, ist die Eisenbahn überall gezwungen, nach anderen Wegen zur Einsparung von Kosten zu suchen. Seit Bewußtwerden der Wettbewerbssituation nach Aufkommen des Kraftwagens wird von den meisten Eisenbahnverwaltungen versucht, was früher immer wieder auf Schwierigkeiten stieß: den europäischen Eisenbahngüterverkehr auf verhältnismäßig wenige wirtschaftliche Hauptleistungswege zu konzentrieren, um hierdurch eine Beschleunigung und gleichzeitig Rationalisierung des Verkehrs zu ermöglichen. Wenn sich auch wenigstens in Mitteleuropa, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland 150, die Schrumpfung im Gesamtstreckennetz 160 In der Deutschen Demokratischen Republik wurden verhältnismäßig viele Strecken - vorzugsweise Nebenbahnstrecken - und Strecken in der Nähe der Grenzen nach dem 2. Weltkrieg in Verfolg der von der sowjetischen Besatzungsmacht veranlaßten Demontage abgebaut und fast alle zweiten Gleise beseitigt. Nur ein Teil des Abbaus wurde wieder rückgängig gemacht.

596

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

bis hierher nur wenig bemerkbar macht, so sind doch einige ausschließlich durch Nebenbahnen151 erschlossene Räume bereits erheblich betroffen. Die Schrumpfung des Eisenbahnnetzes, die überall in den entwickelten Industriestaaten zu beobachten ist, bedeutet für die Eisenbahnunternehmen ein Abstoßen von Verlustquellen 152 • Von der Perspektive einer möglichst gleichmäßigen Entwicklung des Gesamtraumes ist dieser Prozeß zu bedauern. Fast nirgends handelt es sich bei diesen Einstellungen von Eisenbahnlinien um Strecken, die in der ersten Welle des Eisenbahnbaues errichtet wurden. Dort ist nämlich inzwischen überall der sich selbst nährende Prozeß der Industrialisierung, den die Eisenbahnen auslösten, weiter fortgeschritten, auch wenn ursprünglich die Entwicklungschance des Raumes verhältnismäßig gering war. Eingestellt werden meist die Linien, die zu spät gebaut wurden und ihrem Raum als Folge des Anschlusses an einen besser entwickelten Raum zunächst nur eine wirtschaftliche Entleerungstendenz aufzwangen. Eine Umformung des Entwicklungsprozesses zu einem positiven Wachstum war in diesen zu spät angeschlossenen Räumen bisher nicht gelungen. Die Einstellung des Eisenbahnverkehrs wird meist gelassen hingenommen, da der Personen- und Güterverkehr auf der Straße angesichts der geringen zu befördernden Mengen ausreichend erscheint und oft sogar noch als Verbesserung empfunden wird. Daß aber die Entwicklungschance für dieses Gebiet, die nur durch ein leistungsfähiges Massenverkehrsmittel nachhaltig gefördert werden kann, damit abgeschnitten wird, wird man in der Regel erst zu spät feststellen. Die Entwicklung der Betriebsstreckenlänge der Eisenbahnen sei an nebenstehenden Tabellen dargestellt. 6. Verbesserung der Verkehrsleistungen

Die Eisenbahn, die schon verhältnismäßig vollkommen in die historische Wirklichkeit trat, hatte, wie wir sahen, von vornherein eine beachtliche Geschwindigkeit entwickelt. Zwar wurden Sicherheit und Berechenbarkeit im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verbessert, und die Betriebsaufenthalte in den Stationen immer mehr verringert, es fehlte aber lange ein wirksamer Anreiz zur systematischen Erhöhung der Geschwindigkeit. 151 Von 721 km stillgelegten Nebenbahnstrecken entfielen auf den Personenverkehr 669 km. Von 1960-1962 verringerte sich die Betriebsstreckenlänge um rd. 250 km. Die stillgelegten Strecken wurden in der Regel durch Kraftfahrzeuglinien ersetzt (vgl.: Wirtschaft und Statistik 1963, Heft 2, S. 113). 152 Der Vorstand der Bundesbahn schätzte, daß die von 1958-1963 stillgelegten insgesamt 750 km Streckenlänge der Bundesbahn eine Ersparnis allein an laufenden Kosten von jährlich 50-60 Mill. DM erbracht hätten.

6. Verbesserung der Verkehrsleistungen

597

Strecken- und Gleislängen der Deutschen Bundesbahn in kJna)

Betriebsstrecken Jahr

(31. 12.)

1950 1955 1958 1960 1G61 1962

insgesamt 30459 30500 30454 30692 30614 30596

I

darunter elektrifi.ziert

Durchgehende Hauptgleise

übrige Gleiseb)

44032 43 738 43632 44026 43938 43867

27073 26590 26622 27 365 27128 26922

1732 2072 3209 3730 4093 4525

a) Bundesgebiet ab 1960 einschl. Saarland. b) Einschl. Weichenverbindungen. QueUe: Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn.

Betriebsstreckenlängen der nichtbundeseigenen Eisenbahnen des öffentlichen Verkehrsa)

Jahr

(31. 12.)

1950 1955 1957 1960 1961 1962

Betriebsstreckenlänge in km insgesamt

darunter elektrifiziert

7 876 5 347 4960 4659 4643 4 521

594 523 494 518 476

a) Bundesgebiet ab 1960 einschließlich Saarland. Quette: Verband Deutscher Nichtbundeseigener Eisenbahnen und Statistisches Jahrbuch der BRD 1953, S. 358.

Ausgebaut wurde unter dem Druck der- als Anteludialeffekt aus der Anfangszeit der Eisenbahnen überkommenen - Gefährdungshaftung, der strafrechtlichen Normen und verwaltungsrechtlicher Bindungen die Sicherheit des betrieblichen Ablaufs. Verbessert wurde weiter der Fahrkomfort. Vor Aufkommen des motorisierten Straßenverkehrs und des Flugverkehrs bestand für das damals unbestritten führende Verkehrsmittel innerhalb des Verkehrssystems zu Lande kein ökonomischer Anreiz, die technisch mögliche Geschwindigkeitssteigerung auszunutzen. Auch als der private Kraftwagen für viele Relationen eine höhere Reisegeschwindigkeit als die Eisenbahn durchsetzen konnte und schließlich das Flugzeug für die Eisenbahn unerreichbare Geschwindigkeiten für weite Entfernungen ermöglichte, dauerte es auffällig lange, bis sich die Eisenbahnverwaltungen - und der Gesetzgeber - dieser Lage bewußt wurden.

598

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

Die systematische Erhöhung der Schnelligkeit begann mit der Einführung neuer Zugtypen des Fernverkehrs. Die FD-Züge (Fern-Durchgangszüge), die 1923 eingeführt wurden und von Berlin nach Köln, Harnburg, München verkehrten, entwickelten durchschnittlich eine Reisegeschwindigkeit von 80 km/h. Dies bedeutete gegenüber den ersten Schnellzügen von 1852 eine Verdoppelung der Reisegeschwindigkeit. Als ab etwa 1930 der Wettbewerb zwischen Schiene und Straße der Eisenbahn bewußt wurde, versuchte die Deutsche Reichsbahn ein Schnelltriebwagennetz mit 160 km/h Höchstgeschwindigkeit zu schaffen. Die stellenweise dafür recht ungünstige Linienführung der Eisenbahnen, ein typischer Anteludialeffekt, war für die Geschwindigkeiten gedacht, die in der Frühzeit des Eisenbahnwesens geplant und erwartet wurden. Das Schnelltriebwagen-Netz war deshalb ohne grundsätzlichen Umbau der Streckenführung nur auf wenigen Relationen möglich. Der "Fliegende Hamburger", der als Triebwagen seit 1933 zwischen Berlin und Harnburg verkehrte, fuhr mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h. Die 287 km lange Strecke legte er in 2 Stunden 17 Minuten zurück. (Reisegeschwindigkeit 126 km/h.) Der geplante weitere Ausbau eines Systems von Schnellverbindungen zwischen den Großstädten unterblieb, als der 2. Weltkrieg begann. Franz Kruckenberg baute nach dem Ersten Weltkrieg einen zweiachsigen Triebwagen in Leichtbauweise aus Aluminium, der durch Luftschrauben angetrieben wurde (Schienenzeppelin). Der Wagen erreichte auf der Strecke Hamburg-Berlin 1931 eine Geschwindigkeit von 230 km/h. Die planmäßigen Geschwindigkeiten der übrigen Reisezüge wurden über Jahrzehnte hinweg nur geringfügig erhöht. Im Vergleich zu den Geschwindigkeiten, die schon in der Frühzeit der Eisenbahnen bei Probefahrten erreicht worden waren, stagnierten dieerlaubten Höchstgeschwindigkeiten der Züge, die sich über ein halbes Jahrhundert kaum änderten, nach wie vor. Nur über große Strecken machte sich die Verbesserung der Reisegeschwindigkeit bemerkbar. Reisegeschwindigkeit der jeweils schnellsten Züge

Reisegeschwindigkeit km/h

Strecke

Berlin-Hamburg ....... Berlin-Köln ........... Berlin-Frankfurt/M. Berlin-München ........ Berlin-Breslau ......... 0

0

0

km

1855

286,8 578,9 538,9 674,2 335,7

44,1 35,6 22,9 16.1 30,5

Quelle: StaUstische Praxis 1949, 8, s. 118.

I 1914 88,8 71,0 76,0 77,6 78,0

I

Reisedauer Stunden

1939

1855

125,6 118,1 110,0 101,8 128,4

6:30 16:15 23:30 34:45 11:0

I 1914

3:14 8:09 7:05 8:42 4:18

I 1939 I 2:17

I 4:54 4:54 6:37 2:37

7. Finanzierung der Investitionen

599

Sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg sanken die durchschnittlichen Geschwindigkeiten der Züge für Jahre stark ab. Erst spät wurden sich die Eisenbahnverwaltungen aller Länder bewußt, daß sie ihre monopolähnliche Stellung im Verkehrssystem der Kontinente eingebüßt hatten. In den meisten Ländern der Welt begannen die Eisenbahnverwaltungen ab etwa 1955-1960 die Leistungen zunächst der Personenbeförderung zu verbessern. Es wurde in erster Linie versucht, Geschwindigkeiten wieder zu erreichen, die einzelne Züge (z. B. der "Fliegende Hamburger") schon vor dem 2. Weltkrieg fuhren. Eingeführt wurde die Zugqualität des Transeuropa-Expreß (TEE). Auch im Bereich des Güterverkehrs wurde systematisch nach Möglichkeiten der Verbesserung der Verkehrsleistungen gesucht. Für jede Marktwirtschaft ist der Grad der Berechenbarkeit der Verkehrsleistung wichtig. Das erste öffentliche Güterkursbuch erschien 1925, 1928 das erste internationale Güterkursbuch, übrigens eine Folge des Wettbewerbs des neuen Transportmittels Güterkraftverkehr auf der Straße. Eine beträchtliche Kostenersparnis bedeuten geschlossene Transporte im Umfang ganzer Züge zwischen bestimmten Relationen, da die Kosten des Umladens und des Rangierens innerhalb der Kostenstruktur aller Eisenbahnen sehr ins Gewicht fallen. Die Ganzzüge wurden deshalb sowohl im Tarifaufbau wie in der organisatorischen und fahrplantechnischen Ausgestaltung sehr gefördert. Bei der Deutschen Bundesbahn wurden 1958 5 vH aller Güter im Ganzzugsystem gefahren. 20 vH aller Transporte wurden durch Schnellund Eilgüterzüge befördert, wobei die Schnellgüterzüge eine Geschwindigkeit von 100 km pro Stunde und die Eilgüterzüge von 80 km pro Stunde auf der Strecke entwickelten. Entsprechend den Transeurop-Expressen werden Güterzüge, genannt TEEM, mit gleicher Geschwindigkeit gefahren. 7. Finanzierung der Investitionen Während im vorigen Jahrhundert die hohe Investitionstätigkeit der Eisenbahnen bei der stürmischen Erweiterung der Netze, verbunden mit der großen volkswirtschaftlichen Gestaltungskraft, wesentlich die Wachstums- und Industrialisierungsprozesse der heute zu Industrieländern gewordenen Räume auslöste, ist sie überall in der Welt gegenüber früher auf einen Bruchteil zurückgegangen. Die Investitionen sind in der letzten Periode zum größten Teil Erneuerungsbedarf, Anlagen der Rationalisierung und des technischen Fortschritts. Die stürmischen Se-

600

§ 5: Die Entwicklung der Eisenbahnen in Deutschland

kundärprozesse, die früher von diesen Investitionen ausgingen, haben berechenbaren und übersehbaren Abläufen Platz gemacht. Die Fähigkeit jedes Unternehmens, sich veränderten Marktbedingungen anzupassen und den technischen Fortschritt zu nutzen, hängt wesentlich von der Verfügung über Geldkapital ab. Dieser Zugang zu neuem Geldkapital ist um so schwieriger und die Gefahr einer Erhöhung der Anpassungshemmungen um so größer, je mehr ein Unternehmen sich in der Verlustzone befindet. Die Investitionen der Jahre 1957 bis 1961 in Höhe von 10 Mrd. DM brutto wie auch beispielsweise die des Jahres 1962 mit brutto etwa 3,2 Mrd. DM wurden zur knappen Hälfte aus verdienten Abschreibungen und im übrigen aus der Inanspruchnahme des Kapitalmarktes finanziert. Die beteiligten Bundesländer gewährten Zuschüsse für eine Erleichterung der Zinsbelastungen. Ähnlich war die Situation in allen anderen Industriestaaten. Zwischen Bundesregierung und Deutscher Bundesbahn wurde vereinbart, daß anstelle einer an und für sich notwendig gewordenen Aufstockung des Eigenkapitals eine Fremdverschuldung der Bundesbahn durchgeführt wird und drei Jahre lang (1962 bis 1964) vom Bund der volle Kapitaldienst-Zinsen und Tilgungsleistung-übernommen wird. Verbindlichkeiten der Deutschen Bundesbahn (in Mill. DM)

Stand am Ende des Jahres

gegenüber dem Bund

1950 1955 1958 1960 1962

250a) 2054 2 752b) 4016 4 145