Urkunden - Schriften - Lebensordnungen: Neue Beiträge zur Mediävistik 9783205794127, 9783205796336

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Urkunden - Schriften - Lebensordnungen: Neue Beiträge zur Mediävistik
 9783205794127, 9783205796336

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Urkunden – Schriften – Lebensordnungen

Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Band 63

2015 Böhlau Verlag Wien

Urkunden – Schriften – Lebensordnungen Neue Beiträge zur Mediävistik Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aus Anlass des 100. Geburtstags von Heinrich Fichtenau (1912–2000) (Wien, 13.–15. Dezember 2012)

Herausgegeben von Andreas Schwarcz und Katharina Kaska

2015 Böhlau Verlag Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Monogramm Karls des Großen, © IÖG

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: General,Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79633-6



Heinrich Fichtenau (1912–2000) Foto: Kobé



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Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Mensch und Schrift Winfried Stelzer Mensch und Schrift. Paläographie im Œuvre von Heinrich Fichtenau.. . . . . . 13 David Ganz Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“. . . . . . . . . . . . . . . . 29 Beat von Scarpatetti Ego Wolfcoz scripsi? Fragen um Subskriptionen und Schriftvarianten im St. Gallen des 9./10. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Kulturgeschichte des Mittelalters Georg Scheibelreiter Mensch sein in anderer Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Barbara H. Rosenwein Rereading „Askese und Laster“: The Case of Alcuin. . . . . . . . . . . . . . . . 77 Christina Lutter Emotionale Repertoires in religiösen Gemeinschaften des 13. Jahrhunderts. Eine Re-Lektüre von „Askese und Laster“. . . . . . . . . . 91 Das Karolingische Imperium Janet Nelson Why „Das karolingische Imperium“ still needs to be read.. . . . . . . . . . . . 113 Helmut Reimitz Viri inlustres und omnes Franci: Zur Gestaltung der feinen Unterschiede in historiographischen und diplomatischen Quellen der frühen Karolingerzeit. . . 123

8 Inhalt

Anton Scharer Das Testament Karls des Großen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Diplomatik und Urkundenforschung Werner Maleczek Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert. . . . .

161

Reinhard Härtel Urkundenlandschaften zwischen Donau, Rhein und Adria.. . . . . . . . . . . 193 Siegfried Haider Die Streitfälle des Klosters Garsten um tradierte Güter. Lebensordnungen im Spiegel von Traditionsnotizen. . . . . . . . . . . . . . . 213 Andreas Schwarcz Außenbeziehungen und „internationale“ Verträge in der Spät­antike und am Beginn des Frühmittelalters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Österreich im Hochmittelalter Christian Lackner Traditionscodices und Skriptorium am Beispiel von Göttweig und Reichersberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Roman Zehetmayer Probleme um die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Claudia Feller Frauensiegel im hochmittelalterlichen Österreich. . . . . . . . . . . . . . . . 273 Heinrich Fichtenau. Persönlichkeit und Wirken Manfred Stoy Studentische Erinnerungen an Heinrich Fichtenau und die Santifaller-Nachfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Thomas Winkelbauer Heinrich Fichtenau als Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (1962–1983). . . . . . . . . . . . . . .

311

Inhalt 9

Herwig Wolfram Heinrich Fichtenau als Mensch und Lehrer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Patrick Geary Heinrich Fichtenau im Ausland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Walter Pohl Abschließende Bemerkungen: Fichtenaus Beiträge zur Mediävistik . . . . . . . 355 Siglenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Verzeichnis der gekürzt zitierten Werke von Heinrich Fichtenau. . . . . . . . . . . 365 Beiträgerinnen und Beiträger.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369





Vorwort Im Jahr 2012 feierte das Institut für Österreichische Geschichtsforschung den 100. Geburtstag des Mediävisten Heinrich Fichtenau (10. 12. 2012–15. 6. 2000), mehr als 20 Jahre (1962–1983) Direktor dieses Forschungsinstituts. Diesem Anlass wurde auch die zweite Jahrestagung des IÖG vom 13. bis 15. Dezember 2012 gewidmet und in deren Rahmen auch eine Wiener Vorlesung im Wappensaal des Rathauses zur Würdigung von Person und Wirken des Jubilars. Die Ergebnisse dieser Veranstaltungen unter reger Beteiligung aus dem In- und Ausland liegen nun gedruckt vor. Die Vorbereitung der Konferenz und ihre inhaltliche Konzeption wurden von einer Arbeitsgruppe des IÖG geleistet, an der nahezu alle Mittelalter- und Österreichhistorikerinnen und -historiker sowie die Direktion des IÖG teilnahmen. Ausgangspunkt der Überlegungen war das umfangreiche Lebenswerk des Jubilars und dabei besonders seine wichtigsten Monographien, die schon zu seinen Lebzeiten internationale Beachtung und Resonanz gefunden hatten. Unter diesen sind besonders „Mensch und Schrift im Mittelalter“ (Wien 1948), „Das karolingische Imperium“ (Zürich, Wien 1949), „Arenga“ (Graz, Köln 1957), „Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert“ (Wien, Köln, Graz 1971) zu nennen und dazu noch seine beiden großen Alterswerke, die „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ (Stuttgart 1984) und „Ketzer und Professoren“ (München 1992). Diesen folgend sind eigene Kapitel den Themen Urkundenforschung und Diplomatik, der Paläographie unter dem Titel „Mensch und Schrift“, der Geschichte und Kultur der Karolingerzeit, der Kulturgeschichte des Mittelalters und Österreich im Hochmittelalter gewidmet. Sie bieten ein breites Spektrum von Essays zu diesen Arbeitsgebieten. Ein eigener abschließender Abschnitt beschäftigt sich mit Leben und Werk des Jubilars als Forscher und Lehrer. Wie bei Tagungen üblich, fanden nicht alle Referate den Weg zur Verschriftlichung und manches wurde für die Drucklegung auch wie üblich verändert, aber dafür kam auch anderes als Bereicherung und Ergänzung. Die Vorträge wurden in dieser Reihenfolge gehalten: - Werner Maleczek, Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert - Reinhard Härtel, Urkundenlandschaften zwischen Donau, Rhein und Adria - Siegfried Haider, Lebensordnungen im Spiegel der Garstener Traditionsnotizen: Die Streitfälle des Klosters um tradierte Güter - Andreas Schwarcz, Internationale Verträge im Frühmittelalter - Thomas Winkelbauer, Heinrich Fichtenau als Vorstand des IÖG - Herwig Wolfram, Heinrich Fichtenau als Mensch und Lehrer - Patrick Geary, Heinrich Fichtenau im Ausland - Winfried Stelzer, Mensch und Schrift. Heinrich Fichtenau und die Paläographie

12 Vorwort

- David Ganz, Reflexionen über „Mensch und Schrift“ - Beat von Scarpatetti, Ego Wolfcoz scripsi? Fragen um Subskriptionen und Schriftvarianten im St. Gallen des 9./10. Jahrhunderts - Christoph Egger, Lesen mit der Feder in der Hand - Dame Janet Nelson, Why „Das karolingische Imperium“ still needs to be read - Richard Corradini, Heinrich Fichtenau und die karolingische Annalistik - Helmut Reimitz, Omnes Franci und viri illustres. Zur Neugestaltung der „feinen Unterschiede“ in karolingischen Geschichtsdarstellungen und Urkunden des 8. Jahrhunderts - Adelheid Krah, Einblicke in die Archivpraxis der Karolingerzeit - Anton Scharer, Das Testament Karls des Großen - Karl Brunner, Le temps retrouvé. Fichtenaus „Lebensordnungen“ als zukunftsweisendes Modell - Georg Scheibelreiter, Mensch sein in anderer Welt - Barbara Rosenwein, Adding Emotions to „Askese und Laster“: The Case of Alcuin - Christina Lutter, Rereading „Askese und Laster“. Emotional repertoires in 13th c. religious communities - Heide Dienst, Nochmals: Probleme des Klosterneuburger Traditionsbuches. Nebst Bemerkungen zu den genera Traditionsnotiz und -codex - Christian Lackner, Traditionscodices und Scriptorium am Beispiel von Göttweig und Reichersberg - Roman Zehetmayer, Probleme um die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark - Claudia Feller, Frauensiegel im hochmittelalterlichen Österreich - Zusammenfassung: Walter Pohl Heide Dienst und Karl Brunner verzichteten auf eine Drucklegung, weil ihre Beiträge von vornherein als mündliche Würdigung des Jubilars konzipiert waren. Richard Corradini musste sich auf seine mittlerweile eingereichte Habilitationsschrift konzentrieren und hat seine Ergebnisse dort eingearbeitet. Christoph Egger und Adelheid Krah arbeiten noch an der Erweiterung und Überarbeitung ihrer Thematik und werden diese in geeigneter Form anderswo publizieren. Als Ergänzung des biographischen Teils lieferte Manfred Stoy eine Darstellung Fichtenaus aus der Sicht eines seiner Studenten. Das Ergebnis bietet ein breites Spektrum sowohl in Hinblick auf die Vielfältigkeit von Fichtenaus wissenschaftlichem Œuvre als auch der am IÖG laufenden wissenschaftlichen Vorhaben und Projekte auf den Gebieten der Mediävistik und der historischen Hilfswissenschaften. Gerade deswegen musste auch auf die Erstellung eines Registers verzichtet werden. Unser Dank gilt sowohl allen Beitragenden für ihre Referate und Aufsätze als auch den Förderern, der Stadt Wien, den Ländern Niederösterreich und Oberösterreich, der Universität Wien und dem IÖG. Andreas Schwarcz, Katharina Kaska



Mensch und Schrift Paläographie im Œuvre von Heinrich Fichtenau Winfried Stelzer

Wenn von Krisen der Paläographie die Rede ist, werden so manche, die sich in Forschung oder Lehre mit Paläographie befassen – die meisten ja nur mit mehr oder weniger umfangreichen Teilgebieten –, damit Fichtenaus Buch „Mensch und Schrift“ von 1946 assoziieren, das eine Krise der Paläographie beschwor1. Das Buch war aus einer Wiener Habilitationsschrift hervorgegangen, die im Krieg unter ungünstigsten Bedingungen entstanden und 1942 mit dem Titel „Neue Wege der paläographischen Forschung“ vorgelegt worden war. Mit heraufbeschworenen Krisen konnte und kann man verlässlich die Aufmerksamkeit der Fachwelt gewinnen. Peter Rück rief 1999 als Herausgeber des Bandes „Methoden der Schriftbeschreibung“ im Klappentext nicht ohne Ironie in Erinnerung: „Seit der Jahrhundertwende [vom 19. zum 20. Jahrhundert] erlebt jede Generation ihre ,Krise der Paläographie‘, in der sie versucht, ihren Standpunkt innerhalb ihres Arbeitsgebietes neu zu bestimmen. Um 1910 waren es Karl Brandi, um 1940 Heinrich Fichtenau, in den 70er Jahren Attilio Bartoli Langeli, die das Wissenschaftsverständnis der Disziplin in Frage stellten, und jedesmal ging es dabei um die Klage über die Abschottung der klassischen Paläographie gegenüber neuen Fragestellungen.“2 Nur vier Jahre nach Rücks Bemerkung über die Krisenwahrnehmung jeder Generation, pünktlich nach mittlerweile wiederum einer Generation, registrierte Albert Derolez 2003 neuerlich eine Krise der Paläographie3. Ich komme zum Schluss kurz darauf zurück. Fichtenau hatte bei Hans Hirsch in dessen großem Paläographie-Kolleg im Rahmen des Ausbildungskurses am (damals) Österreichischen Institut für Geschichtsforschung in Wien eine vorzügliche Ausbildung genossen. Auch wenn paläographische Fragen in den Publikationen von Hirsch nur eine untergeordnete Rolle spielten, so kann man sich   Fichtenau, Mensch und Schrift.   Methoden der Schriftbeschreibung, hg. von Peter Rück (Historische Hilfswissenschaften 4, Stuttgart 1999). Die Bemerkungen über den 30-Jahre-Rhythmus der ausgerufenen Krisen der Historischen Hilfswissenschaften finden sich schon zuvor bei P(eter) R(ück), La diplomatique face à la codicologie triomphante. Gazette du Livre Médiéval 17 (1990) 1–7, hier 2, mit der Horrorvision, wenn es in diesem Rhythmus weitergehe, „nous courons tout droit vers les terreurs de l’an 2000“. – Attilio Bartoli Langeli, Ancora su paleografia e storia della scrittura: A proposito di un convegno perugino. Scrittura e Civiltà 2 (1978) 275–294, dazu Alessandro Pratesi, Paleografia in crisi? Scrittura e Civiltà 3 (1979) 329–337. 3  Albert Derolez, The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 9, Cambridge 2003) 2f. 1 2

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Winfried Stelzer

von der Qualität seiner Vorlesung aufgrund der erhaltenen Mitschrift Fichtenaus von 1932/33 ein gutes Bild machen. Hirsch war ein begeisternder Lehrer. Wenngleich er vor allem als Diplomatiker sowie Rechts- und Verfassungshistoriker Rang und Namen hat, so lag ihm auch die Paläographie sehr am Herzen. „Sie zieht“ – so bekannte er in seinem Nachruf auf Emil von Ottenthal aus persönlichem Erleben – „auch wirklich jeden, der sich mit diesem Wissenszweig als Lehrer eingehender zu befassen hat, unwiderstehlich in ihren Bann“4. Hirsch behandelte Paläographie durchaus auch in geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. Der Mitschrift Fichtenaus zufolge hielt er zu Beginn der ersten Vorlesung seines Paläographie-Kollegs (4. November 1932) fest, dass diese Disziplin „alle kulturgeschichtlichen Faktoren (fordert). Paläographie ist Geistesgeschichte“. In der Folge ging er bei der Erörterung der methodischen Grundlagen auch auf die Kunstgeschichte ein und konstatierte „so zum erstenmal Einheit von Kunst und Paläographie“5. Hirschs Akademierede „Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift“ (1932)6, die einzige unter seinen Publikationen, die sich mit einem rein paläographischen Thema befasste, vermittelt einen guten Eindruck von seiner Kompetenz und der höchst anregenden geistesgeschichtlichen bzw. kulturgeschichtlichen Zugangsweise 7. Wenn er – selbst begeisterter Schüler des bedeutenden Kunsthistorikers und Sickel-Schülers Alois Riegl, der den Begriff des „Kunstwollens“ kreiert hat – in einer Anmerkung von „einem dem Kunstwollen vergleichbaren Streben“ sprach, so hat er den Begriff des „Schriftwollens“ avant la lettre gebraucht. An konkreten Beispielen, bei denen er dieses Streben wirksam fand, nannte Hirsch die Humanistenschrift, die karolingische Minuskel und die Unziale8. Man kann sich nicht vorstellen, dass Hirsch in seinem Paläographie-Kolleg 1932/33 nicht eigens darauf eingegangen wäre, auch wenn sich in Fichtenaus Mitschrift nichts darü4   Hans Hirsch, Emil von Ottenthal. Ein Nachruf. MÖIG 45 (1931) 271–277, hier 275, wiederabgedruckt in ders., Aufsätze zur mittelalterlichen Urkundenforschung, mit einem Nachwort hg. von Theodor Mayer (Köln–Graz 1965) 309–315, hier 313. 5  Vorlesungsmitschrift Fichtenaus in Wien, IÖG, Nachlaß Fichtenau; die Zitate fol. 1r bzw. 4v. 6  Hans Hirsch, Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift. Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 82 (1932) 335–364, wiederabgedruckt in ders., Aufsätze (wie Anm. 4) 277–294. 7   Vgl. auch die Selbsteinschätzung: „wir in unseren wesentlich geistesgeschichtlichen Betrachtungen“ in Hirsch, Gotik und Renaissance (wie Anm. 6) 352 Anm. 39, bzw. ders., Aufsätze (wie Anm. 4) 286 Anm. 39. – Zu Hirsch vgl. zuletzt Roman Zehetmayer, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Urkundenforscher, in: Waldviertler Biographien 2, hg. von Harald Hitz et al. (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 45, Horn–Waidhofen a. d. Thaya 2004) 221–236, bzw. Andreas H. Zajic, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in: Österreichische Historiker 1900–1945, hg. von Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) 307–417, zum geistesgeschichtlichen Interesse hier 389 Anm. 372 sowie 408 (Literaturhinweise Anm. 459). – Die Einschätzung von Hirschs paläographischer Kompetenz bei Zajic, Hirsch 389, stützt sich nur auf die eine Publikation ohne Berücksichtigung ihres damaligen Stellenwertes und wird Hirsch damit nicht gerecht. 8   Hirsch, Gotik und Renaissance (wie Anm. 6) 339 Anm. 6, bzw. ders., Aufsätze (wie Anm. 4) 278 Anm. 6. – Den Begriff des „Kunstwollens“ hat bei der Erörterung paläographischer Grundsatzfragen erstmals Harold Steinacker einbezogen (1917 bzw. 1923), vgl. dazu unten bei Anm. 18. Zu dem von Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie 1 (Wien 1901), geprägten Begriff des „Kunstwollens“ Hans Sedlmayr, Die Quintessenz der Lehren Riegls, in: Alois Riegl, Gesammelte Aufsätze (Augsburg–Wien 1929), Einleitung, XII–XXXIV, wiederabgedruckt in Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte (rowohlts deutsche enzyklopädie 71, Hamburg 1958) 14–34, vermehrte Neuausgabe unter demselben Titel (Mittenwald 1978) 32–48; neuerdings Andrea Reichenberger, Riegls „Kunstwollen“. Versuch einer Neubetrachtung (conceptus-studien 15, Sankt Augustin 2003); Alois Riegl Revisited: Beiträge zu Werk und Rezeption, hg. von Peter Noever–Artur Rosenauer–Georg Vasold (ÖAW, Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 9, Wien 2010), hier 9 in der Einleitung von Artur Rosenauer–Georg Vasold Hinweise auf die entsprechenden Beiträge, die sich mit dem „Kunstwollen“ befassen.



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ber findet. Die intensive Beschäftigung mit der gesamten lateinischen Paläographie war im Übrigen bis vor kurzem ein unumgängliches Erfordernis für die Teilnehmenden des Ausbildungskurses am Institut. Die positive Ablegung der Prüfung darüber war eine der Voraussetzungen für die Aufnahme in den Hauptkurs, die gesamte Paläographie war aber auch Gegenstand der staatlichen Abschlussprüfung mit schriftlicher Klausurarbeit und kommissioneller mündlicher Prüfung9. So war Fichtenau bestens geschult für den Umgang mit paläographischen Problemen, mit denen er in der Praxis bald mehrfach Bekanntschaft machte. Bei Studien, mit denen er als Mitarbeiter von Hirsch bei der Vorbereitung der Edition der Diplome Konrads III. betraut war und die das breite Interesse von Hirsch für das geistige Umfeld von Personen erkennen lassen, die in irgendeiner Weise an der Herstellung von Diplomen dieses Königs beteiligt waren, spielte der paläographische Zugang eine wesentliche Rolle. Im Fokus standen naturgemäß die Schriften von Individuen und damit die Schreiber. Die erste Arbeit befasste sich mit dem Kloster Prüfening. Hirsch hatte zuvor eine Reihe von Prüfeninger Urkunden, die von derselben Hand geschrieben worden waren, zusammengestellt, ohne den Schreiber namentlich nennen zu können. Aufgrund seiner paläographischen Untersuchungen konnte Fichtenau den Schreiber mit Wolfgang von Prüfening identifizieren, die ausgedehnte Schreibtätigkeit dokumentieren und so ein Bild dieses Gelehrten erarbeiten, von dem damals nicht viel mehr als der Name bekannt war10. Die Institutsarbeit galt dem Theologen Gerhoch von Reichersberg. Fichtenau konnte Gerhochs Schrift in ihren verschiedenen Ausprägungen identifizieren, Jugend- und Altersschrift differenzieren, ihm eigenhändig geschriebene Urkunden sowie Einträge und Korrekturen in einem Reichenauer Traditionsbuch zuweisen, aber auch zeigen, dass es sich bei der Niederschrift von Gerhochs Traktat Adversus simoniacos in einer Klagenfurter Handschrift um einen autographen Entwurf handelt. In Reinschriften anderer theologischer Werke, z. B. den Psalmenkommentaren, konnte Fichtenau eigenhändige Verbesserungen und Notizen feststellen, ebenso die autographen Anteile an den Reichersberger Annalen11. So war es möglich, auf eindrucksvolle Art Einblick in die Arbeitsweise des Gelehrten zu gewinnen und damit Facetten seiner Persönlichkeit zu erfassen. Eine andere Studie spürt Beziehungen zwischen Bamberg, Würzburg und der Stauferkanzlei nach, Verbindungen zwischen der königlichen Hofkapelle und bischöflichen Kapellen. Hier finden sich subtile Beobachtungen zur Qualität der diplomatischen Minuskel bei königlichen Kanzleischreibern, so, „daß eben nicht lange Schäfte und diplomatische Kürzungszeichen allein die Minuskel der deutschen Königsurkunden ausmachen, sondern jenes Etwas, das man als ‚Schönheit‘ der Schrift, besser als Formniveau oder künstlerische Ausgewogenheit bezeichnen mag, ohne es im letzten definieren zu können. Dabei kommt es auf die Raumverteilung im ganzen, auf das Verhältnis von Ober- und Unterlängen und manches andere an“ 12. Die Arbeiten wurden in den MÖIG publiziert, 1937, 1938, 1939. Als Hirsch seinen Mitarbeiter aufforderte, sich zu habilitieren, und eine Untersuchung über Konrad III. und den italienischen Adel vorschlug – die Szene spielte sich, wie mir 9   Vgl. Statuten des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Neufassung vom 18. Juni 1963, in: Aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung (Wien 1965) 54–63, darin der Lehrplan. 10  Fichtenau, Wolfger von Prüfening. 11  Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg. – Zum Problem der Gerhoch zugeschriebenen Autographen zuletzt Christian Lackner, Traditionscodices und Skriptorium am Beispiel von Göttweig und Reichersberg, in diesem Band 245–249. 12   Fichtenau, Bamberg, das Zitat 282f.

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Winfried Stelzer

Fichtenau erzählte, bei einer nächtlichen Taxifahrt ab –, eröffnete ihm Fichtenau, der eigene Wege gehen wollte, dass er lieber über Paläographie arbeiten wolle. Hirsch war einverstanden. Dann kam der Krieg. Fichtenau wurde im Juni 1940 eingezogen, drei Monate später starb Hirsch. Fichtenau brachte es zuwege, trotz seines militärischen Dienstes als Fernschreiber in einer slowakischen Dienststelle unter denkbar widrigen Verhältnissen seine Habilitationsschrift abzuschließen und sich im Mai 1942 während eines Kurzurlaubes zu habilitieren13. 1946 erschien die Druckfassung: „Mensch und Schrift“, nach eigener Aussage des Autors ein „Buch bescheidenen Umfangs, aber mit bedeutendem Titel“14, und sorgte umgehend für großes Aufsehen. Fichtenau wollte darin „die Paläographie wieder in jene größeren Zusammenhänge einordnen, aus denen sie eine längst überalterte Methode gelöst hat“15. Gestützt auf eine eingehende, sicher eigenwillige und zugespitzte Analyse der Entwicklung der Paläographie seit Mabillon und ihrer dominierenden Tendenzen, sah er die Paläographie „trotz oder wegen der mit Traube einsetzenden Verfeinerung der Methode in einer Krise“16 und plädierte in Weiterführung methodischer Denkansätze von Karl Brandi und namentlich Harold Steinacker für eine Hinwendung von der Schrift zum Schreiber17. Steinacker, Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung 1897– 1899, hatte in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Historische Hilfswissenschaften an der deutschen Universität in Prag (1917, gedruckt 1923) in souveräner, kritischer Weise auch Probleme der Paläographie erörtert. Hier kann nur auf einzelne Aspekte eingegangen werden. Hervorzuheben ist, dass Steinacker anders als Ludwig Traube, der sich auf Buchschriften in Verbindung mit Handschriftenkunde konzentriert hatte, Wert legte auf die Einbeziehung aller Schriften, auch der Gebrauchsschriften für Urkunden und nichtliterarische Texte. Ihm ging es nicht nur darum, wie sich Schriften veränderten, sondern auch um das „Warum“. Auf Schriften bezogen hat wohl er als erster auf das entsprechende Phänomen verwiesen, das Riegl als „Kunstwollen“ bezeichnet hatte. Neben „dem Anteil der kulturellen Bedingungen und Einflüsse bei der Schriftentwicklung“ war ihm wichtig, die Frage nach „der Physiologie und Psychologie des Schreibens“ zu stellen18, Fragen, die dann auch Fichtenau beschäftigten. 1924 konstatierte Steinacker 13  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 47f. – Im vorliegenden Beitrag wird mehrfach auf meine Ausführungen im Nachruf auf Fichtenau zurückgegriffen: Winfried Stelzer, Heinrich Fichtenau. MIÖG 109 (2001) 272–284. 14   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 47f. 15  Fichtenau, Mensch und Schrift S. V (Vorwort). 16  Ebd. 18. 17  Ebd. 3f., 13, 17ff. 18   Harold Steinacker, Philologische und diplomatische Gesichtspunkte in den Historischen Hilfswissenschaften, in: Festschrift des Akademischen Historikerklubs in Innsbruck, hg. anläßlich seines fünfzigsten Stiftungsfestes 1923 (Würzburg 1923) 22–53, hier 28–38 über Probleme der Paläographie, 36f. zu Physiologie und Psychologie des Schreibens (das Zitat 36), 35 Hinweis auf die Vorstellung Riegls vom „Kunstwollen“. Gegen die „schnellfertige(n) Graphologen mit ihren überkühnen Charakterdiagnosen“ hält er 37 fest: „Aber auch die Paläographie hat noch zu lernen, die Schrift und ihre Schwankungen als Ausdruck psychologischer und physiologischer Vorgänge zu fassen. Wie für die Wandlungen in der Schrift des Einzelnen, ist auch für die in der Schrift ganzer Generationen und Gegenden hiermit wenigstens eine Triebkraft faßbar. Und erst die Zukunft wird lehren, ob nicht am Ende die Entwicklung der Schrift, wie etwa die des Ornaments, irgendwie mit Wandlungen in jener biologischen Rhythmik und Periodizität zusammenhängt, die unser ganzes physisches Leben beherrscht und durchdringt.“ – Über Steinacker: Renate Spreitzer, Harold Steinacker (1875–1965). Ein Leben für „Volk und Geschichte“, in: Hruza, Österreichische Historiker (wie Anm. 7) 191–223, über „Wissenschaftliche Schriften“ freilich nur äußerst knapp 213–215.



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in seiner Studie über den Ursprung der Frühminuskel, die für die polygenetische Entstehung plädierte: „Gegenstand der Paläographie ist ja nicht so sehr die Schrift an sich, als der schreibende Mensch und die gesamten, nach Zeiten wechselnden Bedingungen seiner Schreibtätigkeit“19. Gegen die Vorstellung, „die Schriftarten als geschlossene Grösse und wirkende Kraft, als das Wesentliche und Primäre“ zu behandeln, „die Zwischenformen dagegen als das Sekundäre, gleichsam nur als die Uebergänge, die von einer Schriftart zur anderen führen“, machte er geltend: „In der wirklichen Schriftentwicklung steht es gerade umgekehrt. Die Zwischenformen überwiegen bei weitem, wenn man die Gesamtheit der Schriftdenkmäler, Buch- und Urkundenschriften, in ihrem lebendigen Zusammenhang erfasst. Die Entwicklung der Schrift als Aeusserung und Ausdruck der Kultur und ihrer Zusammenhänge lässt sich unter dem Gesichtspunkt der ‚Schriftart‘ gar nicht erschöpfend erfassen. Das Reale und Primäre sind vielmehr gewisse Schrifttendenzen.“20 Vor allem aber unterstrich er die Bedeutung der individuellen Schriften21. Solche Überlegungen aufgreifend und bestärkt durch die eigenen Erfahrungen, die er bei der intensiven und kreativen Befassung mit den Schriften von Individuen gesammelt hatte, postulierte Fichtenau, dass „der schreibende Mensch in seinem Lebenszusammenhang und die Schrift als lebendige Form“ als Grundvoraussetzungen erfasst werden sollten, freilich neben „der Behandlung der Schrift nach Art von natürlichen Gegebenheiten“22. Fruchtbar waren bei diesen Überlegungen auch Anregungen von kunsthistorischer Seite, namentlich von Hans Sedlmayr, der damals in Wien lehrte, seit 1936 auch dem Lehrkörper des Instituts angehörte, in seine Arbeit Erkenntnisse der Gestaltpsychologie einbezog, Strukturanalyse mit Schwerpunkt auf dem Einzelkunstwerk propagierte und durch unkonventionelle Ideen faszinierte23. Analog dem von 19   Harold Steinacker, Zum Liber diurnus und zur Frage nach dem Ursprung der Frühminuskel, in: Miscellanea Francesco Ehrle. Scritti di storia e paleografia IV: Paleografia e diplomatica (StT 40, Roma 1924) 105–176, die paläographischen Erörterungen („II. Schriftgeschichtliche Folgerungen“) 126–176 mit genauer Inhaltsübersicht 126f., das Zitat 130. – Seine methodischen Ansätze zur Lösung des Problems der Entstehung der karolingischen Minuskel präzisierte Steinacker in einem Schreiben an Luigi Schiaparelli vom 28. Dezember 1925: Giulia Ammannati, Una lettera inedita di Harold Steinacker a Luigi Schiaparelli e il problema dell’origine poligenetica della carolina. Scrittura e Civiltà 23 (1999) 421–434. 20   Steinacker, Zum Liber diurnus (wie Anm. 19) 134. 21  Dazu ebd. 135–137. 22  Fichtenau, Mensch und Schrift 18. 23   Zitate aus Arbeiten Sedlmayrs in Fichtenau, Mensch und Schrift 41 Anm. 111, 46 Anm. 119, 49 Anm. 126, 51 Anm. 135, 194 Anm. 379, Erwähnung freundlicher Hinweise Sedlmayrs 92 Anm. 47 und 193 Anm. 375. Sedlmayr war vom Wintersemester 1936/37 bis Kriegsende Mitglied des Lehrkörpers des Instituts, von 1937 bis 1942 auch Mitherausgeber der MIÖG (damals MÖIG). Hier erschien auch der grundlegende Beitrag Hans Sedlmayr, Geschichte und Kunstgeschichte. MÖIG 50 (1936) 185–199; für Sedlmayr ist „der ideale Kunsthistoriker eine Legierung aus einem ‚reinen‘ Kunsthistoriker, einem historischen Hilfswissenschaftler und einem ‚Real‘-historiker“, nicht „eine bloße Personalunion dieser drei historischen Gebiete“ (S. 187); 187–189 geht er ein auf den Kunsthistoriker und die historischen Hilfswissenschaften, 192–195 auf „die Strukturanalyse des einzelnen Kunstwerks“, hier 193 auch auf die Gestalttheorie. Zu Sedlmayrs Lehrtätigkeit am Institut Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (MIÖG Ergbd. 50, Wien–München 2007) 107, 136 (hier der Hinweis, dass Sedlmayr „an der Forderung der verpflichtenden Teilnahme der Kunstgeschichtsstudenten an der Paläographie festhielt“). Zu seinem Wirken und seinen Anschauungen Hans H. Aurenhammer, Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938–1945, in: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, hg. von Jutta Held et al. (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 5, Göttingen 2003) 161–194, sowie ders., Zäsur oder Kontinuität? Das Wiener Kunsthistorische Institut im Ständestaat und im Nationalsozialismus, in: Wiener Schule. Erinnerung und Perspektiven (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 53, Wien 2004) 11–54, bes. 18–49. – Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale (Zürich 1950), verweist übrigens mehrfach auf

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Alois Riegl geprägten Begriff des „Kunstwollens“ gebrauchte Fichtenau den Begriff des „Schriftwollens“: „Das Verlangen nach Prägung einer Schrift (das Schriftwollen) führt durch Stilisierung zum Kanon. Das Erfassen der kanonisch geprägten Schrift (Gestalt­ erlebnis) löst im Individuum neues Verlangen nach Prägung aus und kann diese zu neuer und stärkerer Stilisierung steigern.“24 Die geistigen Voraussetzungen als prägende Faktoren sollten in gebührender Weise berücksichtigt werden. Hier wurde an die zuvor erwähnten Gedanken von Hirsch angeknüpft, merkwürdigerweise ohne Hirsch auch nur zu erwähnen25. Wesentliche Anliegen waren weiters die Einbeziehung von Methoden der wissenschaftlichen Graphologie und der Ausdruckspsychologie, das Schreiben als physiologischer und technischer Vorgang, die ganzheitliche Betrachtung der jeweiligen Schrift und nicht nur die Analyse von Einzelbuchstaben und Einzelformen. Die Gestaltpsychologie spielte dabei eine nicht unwichtige Rolle. In den 1920er bis 1940er Jahren befasste sie sich mit dem Problem, wie der Mensch „Figuren“/„Ganzheiten“ wahrnimmt. Wesentlich war die Erkenntnis, dass das Ganze („Gestalt“) anders wahrgenommen wird als die Summe seiner Teile. Ein Kunstwerk – so definierte es Sedlmayr – ist „etwas Komplexes, … ein ‚Ganzes zusammengesetzt aus Teilen‘“ und hat insofern Struktur. Das Verstehen dieser Struktur ist „kein intellektueller Prozeß der Interpretation, sondern ein anschauliches Begreifen, ein ‚gestaltetes Sehen‘ …, – eine Einsicht, die wir der Gestalttheorie verdanken“26. Zwischen zwei Polen, so brachte Fichtenau es auf die Paläographie bezogen auf den Punkt, „zwischen diesen beiden Polen, Schrift als Strukturgebilde ähnlich dem Kunstwerk und Schrift als graphologischer Ausdruck, liegt das riesige Material der Paläographie verstreut“27. Bildeten diese Überlegungen den ersten, als „Das Problem“ bezeichneten Teil des Buches, so folgte im zweiten Teil „Abendländische Schriftstrukturen“ der Versuch einer Anwendung auf die Schriften von der alten Welt bis zum Buchdruck. Das Buch war ein Produkt der Kriegszeit und bot gewiss nicht nur dank der katastrophalen Entstehungsbedingungen Angriffsflächen. Es war polemisch, ja – wie Fichtenau selbst gesprächsweise nicht verhehlte – frech, aber doch ein kühner, herausfordernder Entwurf, der zu einer regen Diskussion hätte führen können. Die Reaktionen der Rezensenten waren indes, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so kühl bis ablehnend, dass Fichtenau auf eine Auseinandersetzung verzichtete28. Beifall fanden die Ausführungen Fichtenau, Mensch und Schrift, bes. 301–303 in Kapitel 106 („Die gotische Schrift und die Kathedrale“), dazu 322, 335, 359. 24  Fichtenau, Mensch und Schrift 51f., das Zitat 52; zu den Begriffen Kanon und Stilisierung ebd. 48–51, zum Begriff des Kunstwollens oben Anm. 8. 25  Hirschs Abhandlung (wie Anm. 6) wird nur einmal in anderem Zusammenhang zitiert: Fichtenau, Mensch und Schrift 212 Anm. 435. Die „Verdrängung“ geht so weit, dass Fichtenau MIÖG 74 (1966) 233f. in seiner höchst anerkennenden Rezension der oben Anm. 4 genannten Aufsatzsammlung von Hirsch nicht einmal erwähnte, dass sich darin auch der Wiederabdruck der paläographischen Arbeit findet. 26  Sedlmayr, Geschichte und Kunstgeschichte (wie Anm. 23) 192f. 27  Das Zitat Fichtenau, Mensch und Schrift 48. 28   Ein Verzeichnis der ihm bekannten Rezensionen stellte mir Fichtenau vor Jahren zur Verfügung: D. M. Cappuyns, Recherches de théologie ancienne et médiévale 15 (1948) 194–196; J(ohn) P(etersen) Elder, Speculum 22 (1947) 639–643; Ursmar Engelmann, Benediktinische Monatszeitschrift 23 (1947) 355f.; Étienne Hajnal, Revue d’histoire comparée N. S. 6, 25e année (1947) 258–262; N. R. K(er), EHR 63 (1948) 129f.; Paul Kirn, HZ 171 (1951) 338f.; Bruno Meyer, Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 26 (1946) 536–538; Jacques Stiennon, Le Moyen Age 54 (1948) 188–190; knapp (Fritz) Popelka, ZHVSt 39 (1948) 179; Étienne Barta, L’histoire en Autriche après la seconde guerre mondiale. Revue d’histoire comparée N. S. 7, 26e année (1948) 77– 95, hier 93; Percy Ernst Schramm, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5 (1951) 305 (nur zwei Sätze). In



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über die physiologischen und technischen Vorgänge des Schreibens29. Auf die Reaktion der Fachwelt im Spiegel der Rezensionen kann hier nur knapp eingegangen werden. Viele Äußerungen, die in Rezensionen – oft kopfschüttelnd, mitunter auch durchaus genüsslich – zitiert wurden und von denen man nicht einmal sagen kann, dass sie aus dem Zusammenhang gerissen worden seien, stießen auf Widerspruch, ja Ablehnung. Zur Charakterisierung werden wenige Beispiele genügen: „Was an den germanischen Schriften der frühen Jahrhunderte plump und ungeschlacht anmutet, die außerordentliche Stärke der Innervation und Hemmung, kann ja gemäß dem anerkannten Prinzip der Ausdruckslehre nur als Spiegelung von Tatsachen der allgemein-leiblichen und seelischen Struktur der Schreiber aufgefasst werden. Die Vitalkraft, der ‚Biotonus‘ dieser Menschen muß außerordentlich hoch gewesen sein, ohne voll nach außen durch alle Bindungen durchdringen zu können. Dieser Zustand entspricht im Leben des einzelnen nicht mehr der Kinderzeit mit ihrer Harmonie und Fülle der geistigen wie leiblichen Koordination, sondern den Entwicklungsjahren.“30 Oder: „Denn man kann den karolingischen Kanon auch als eine Abzweigung, eine ‚Maske‘ auf dem germanischen Schriftwollen ansehen, das hinabgedrückt, aber nie völlig unterdrückt werden konnte.“31 Oder, ebenfalls von der karolingischen Minuskel: „Sie ist breit, nicht gedrängt und gespannt, wie es der Lebensfülle des Germanentums entsprochen hätte.“32 Oder die Überlegung, dass die karolingische Minuskel als „asketische Buchschrift einfach nicht in die ‚Tiefenperson‘ herabreichte und ihr die Quellen der Vitalkraft verschlossen blieben. In diesem Sinne ist sie Maske, wie auch das Vorwalten der Arkadenform von den Graphologen als ‚Überdeckung‘, das Verschließen der Eigenpersönlichkeit, gedeutet wird“33. Und weiter: „Aus antiken Mustern und klösterlichen Schulschriften wurde, freilich durch außerkünstlerische Mittel, ein Neues geschaffen, das im übrigen allein durch die Propagierung der offenen Form germanischem Wesen treu blieb.“34 Oder: „Das Germanentum … war immer schon zur Bildung der Schäfte nach Art eines soliden eingewurzelten Pfahles geneigt“35, usw. usf. Soweit die Äußerungen das Germanentum betrafen, so waren sie freilich – auch ohne Bezug auf NS-Ideologie – zeitbedingt und hatten in den 1940er Jahren einen ganz anderen Klang als heute nach 70 Jahren. Der Gebrauch dieses Begriffes, dem man heute sehr distanciert gegenübersteht, war damals durchaus gängig. Extrem die psychologisierende Charakterisierung der Unziale, einer „Schöpfung eines neuen ‚Kunstwollens‘, nicht des Beschreibstoffes“36, bei der vor allem die Frage wichtig lokalen Wiener Publikationsorganen: Anna Coreth, Die Zeit im Buch 1/1 (Mai 1947); Rudolf Geyer, Wiener Zeitung vom 2. 2. 1947; F(riedrich) Heer, Wort und Tat Nr. 4/1947, 141f. (hier eine der frühen Erwähnungen des Begriffs der Mentalität); A(dam) Wandruszka, Wiener Tageszeitung vom 5. 12. 1948 (drei Sätze); anonym (ein vom Inhalt begeisterter Antiquar), Mitteilungen vom Büchermarkt, Nr. 12 vom 18. 12. 1946; eingehend Anton Julius Walter, Die Schrift als Kulturobjekt. Bemerkungen zu dem Buche: Heinrich Fichtenau, „Mensch und Schrift im Mittelalter“. MIÖG 57 (1949) 375–382. 29  Wiederholt in einzelnen Rezensionen, siehe auch die Hinweise bei Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Mit einer Auswahlbibliographie 1986–2008 von Walter Koch (Grundlagen der Germanistik 24, Berlin 42009, Text nach 21986) 59, 63, 72. 30   Fichtenau, Mensch und Schrift 98. 31   Ebd. 160 32  Ebd. 168. 33  Ebd. 34  Ebd. 169. – Zum Begriff der „Maske“ ebd. 169 Anm. 304. 35  Ebd. 180. 36   Ebd. 91.

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ist, warum die Rundbogenformen „bis dahin ein Aschenbrödeldasein in der profanen Gebrauchsschrift fristeten und nun auf einmal einer neuen Kultschrift das Gepräge geben“ 37: „ … im Vergleich zur Kapitale mit ihren wie einem Lehrbuch der euklidischen Geometrie entnommenen Formen, ist nun auf einmal die Harmonie dieser Gebilde alles eher denn geometrisch zu erfassen; sie ruhen nicht mehr auf der Fußlinie, sondern sind an einer Mittelachse aufgereiht wie eine Perlenschnur. Wo Schäfte nicht der Tendenz zur Rundung gewichen sind, reichen sie unter oder über die Zeilen hinaus, nicht mit vollem Strich oder gar kolbenförmig abgesetzt, sondern sanft verfließend. Ein neues irrationales Moment wird deutlich, eine Vorstufe byzantinischer Wesensart, wie sie dem echten Römertum ebensowenig lag wie die vom Osten herkommende neue Religiosität. Traubes mit Recht angefochtene Formulierung vom christlichen Charakter der Unziale meint, so betrachtet, doch etwas Richtiges. Aber es wäre vergebens, tiefer in das eigentliche Wesen dieser Schrift eindringen zu wollen. Sie ist uns innerlich so fremd wie die Menschen, die sie geschaffen haben. – Steigerung des Schmuckbedürfnisses, traditionsarmes Provinzlertum, Mangel an architektonischem Aufbau und Hang zum Irrationalen – das alles zusammengenommen ist nichts anderes als eine erste Stufe der ‚Barbarisierung‘ römischer Kultur; wir können vermuten, wenn auch nicht erweisen, dass nicht nur östliche und afrikanische, sondern auch germanische Kräfte an der Gestaltung der Unziale beteiligt waren.“38 Im Zusammenhang mit dem bis in die 1940er Jahre zu einem Aspekt der Weltanschauung hochstilisierten Gegensatz zwischen den Schriftarten Fraktur und Antiqua räsonierte Fichtenau: „Man muß nicht wie Klages den Geist als Widersacher der Seele erklären, um es aussprechen zu können: Die Antiqua ist die Schrift des rationalen, kühlen, objektiven Denkers; die Fraktur jene des mehr subjektiven ‚Täters‘, zumindest des mit hoher Vitalkraft Begabten, der so häufig bloß am Rande einer verpflichtenden Gemeinschaft steht, ohne ihr dienend anzugehören.“39 Es waren solche Formulierungen, die am stärksten Unwillen provozierten. Der Schweizer Historiker Bruno Meyer, Institutskurskollege von Heinrich Appelt, aber auch Besucher der École des Chartes in Paris, begann seine Rezension in der Zeitschrift für Schweizerische Geschichte mit den Sätzen: „Es gibt wohl kaum ein treffenderes Zeugnis für die Erschütterung des Geistes durch den Nationalsozialismus und Krieg, als das Buch von Fichtenau. Daß an einer derart traditionsreichen Forschungsstätte, wie dem österreichischen Institut für Geschichtsforschung zu Wien nur ein solches Werk erscheinen konnte, läßt erst die tiefe Wirkung des Aufstandes der Halbgebildeten ahnen, der beinahe zum Kulturbruche führte. Diese Verhältnisse treten bei Fichtenau um so deutlicher zutage, als er selbst durchaus im Gegensatz zu jenen Strömungen stand, einen eigenen Weg zu gehen versuchte und doch in seinem Werk verrät, wie sehr auch er, trotz dem Schwimmen gegen den Fluß, von ihnen mitgerissen wurde.“ Zum Schluss heißt es: „Am besten   Ebd. 92.   Ebd. 92f. 39   Ebd. 170. Vgl. dazu Peter Rück, Paläographie und Ideologie. Die deutsche Schriftwissenschaft im Fraktur-Antiqua-Streit von 1871–1945, in: Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag von Peter Rück, hg. von Erika Eisenlohr–Peter Worm (elementa diplomatica 9, Marburg an der Lahn 2000) 159–168, hier 167 (ursprünglich erschienen in: Signo 1 [1994] 15–33). – Zu den Anschauungen des von Fichtenau zitierten Graphologen Ludwig Klages vgl. Fichtenau, Mensch und Schrift 37f., namentlich das Zitat 38: „Klages hat … die Anschauung von einer grundsätzlichen Feindschaft des Geistes gegen die gefühlshaften Erlebnisse, von seinem ‚Verrat‘ an der Seele und ihrer Unterjochung zu einem Dualismus ausgestaltet, der … die Einheit der Persönlichkeit gefährdete.“ 37 38



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ist, dem Verfasser die Wirren der vergangenen Jahre zugute zu halten und zu hoffen, daß er nach einem neuen geistigen Fußfassen dort weiterarbeitet, wo er der Tradition nach hingehört.“40 Das desillusionierende Echo auf „Mensch und Schrift“, das Fehlen der Möglichkeit, Paläographie auf einer anspruchsvollen Ebene zu lehren – Fichtenau konnte nur einige Male im Rahmen der universitären Lehrveranstaltungen eine „kleine“ Paläographie-Einführungsvorlesung halten41, im Institutskurs war die Paläographie-Vorlesung als eine der zentralen Lehrveranstaltungen Leo Santifaller vorbehalten –, und andere Aufgaben ließen eine vorrangige Befassung mit Paläographie zurücktreten. Fichtenau hatte inzwischen andere Publikationen vorgelegt, darunter 1949 das Aufsehen erregende Buch „Das karolingische Imperium“. In seinem wissenschaftlichen Œuvre, vielseitig wie bei nur wenigen anderen Gelehrten, spielte die Paläographie weiterhin eine untergeordnete Rolle. Wie man seinen Rezensionen, auf die noch kurz eingegangen wird, entnehmen kann, hielt er aber stets Schritt mit dem Stand der paläographischen Forschung, der jeweils auch in seinem Paläographie-Kolleg Berücksichtigung fand. Wichtige Kontakte konnte Fichtenau im Rahmen des „Colloque International de Paléographie“ in Paris 1953 knüpfen, an dem er als Delegierter Österreichs teilnahm42. Er trat vor allem in der Diskussion über die Terminologie der gotischen Buchschriften auf und machte gegenüber den Vorschlägen Lieftincks geltend, dass sie auf einen beträchtlichen Teil der Schriften unseres Raumes nicht anwendbar seien. Im Rahmen des großen Unternehmens des Katalogs der datierten Handschriften, das damals beschlossen wurde, war ihm die Bearbeitung der österreichischen Bestände zugedacht. Die Aufgabe zog allerdings Franz Unterkircher, der Leiter der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek, an sich; hier ist sicher einer der Gründe dafür zu suchen, dass es später in der Ära Fichtenau nicht zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Institut und Handschriftensammlung kam. Selbstverständlich spielten paläographische Probleme auch weiterhin immer wieder eine Rolle in Fichtenaus Arbeiten, z. B. in seinem Beitrag „Karl der Große und das Kaisertum“ (1953, nachgedruckt 1971)43, in dem er sich eingehend mit den Lorscher Annalen befasste44. Bei den Vorbereitungen auf die Pariser Tagung des „Colloque International de Paléo­ graphie“ hatte sich Fichtenau besonders auch mit Handschriften des 15. Jahrhunderts befasst und dabei die langgesuchte Vorstufe der „Gebetbuchfraktur“ genannten Drucktype entdeckt, in der der Augsburger Drucker Schönsperger 1513 das Gebetbuch Maximilians I. druckte. Mit Schönspergers Gebetbuchtype hatte sich Fichtenau ja schon in „Mensch und Schrift“ befasst45 und dem Buch als letzte Abbildung ein Facsimile aus 40   Meyer, Rezension (wie Anm. 28) 536 bzw. 537f. Über Bruno Meyer vgl. Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 23) 332f., sowie André Salathé, Meyer Bruno, in: Historisches Lexikon der Schweiz 8 (Basel 2009), auch http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13389.php (Zugriff 30. 9. 2012). 41  Den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Wien zufolge im WS 1949/50, WS 1954/55 und SS 1956. 42   Vgl. den Bericht in MIÖG 61 (1953) 252. 43   Fichtenau, Karl der Große. 44  Siehe den Vortrag von Richard Corradini auf diesem Kongress. Die wesentlichen Punkte des Vortrages sind eingegangen in: Richard Corradini, ZeitNetzWerk. Karolingische Gelehrsamkeit und Zeitforschung im Kompendium des Walahfrid Strabo (hist.-kultwiss. Habilitationsschrift Univ. Wien, 2014; in Druck, erscheint 2015) Kapitel 2.2, 2.3.3–4. 45   Fichtenau, Mensch und Schrift 215–217.

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dem Gebetbuch beigegeben. Die Studie „Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift“, die aus diesen Recherchen erwuchs und im Wesentlichen 1954 abgeschlossen war46, ist für Fichtenaus Arbeitsweise und seinen Blick für die Ergiebigkeit von Fragestellungen im Hinblick auf die menschliche Dimension besonders charakteristisch; sowohl das paläographische als auch das psychologische Einfühlungsvermögen kommen hier eindrucksvoll zur Geltung. In den Lehrbüchern des jungen Maximilian, deren künstlerisch experimentierende Schriftform nach Auffassung Fichtenaus der kaiserliche Kanzlist Wolfgang Spitzweg im Auftrag Friedrichs III. geschrieben haben soll, meinte er die frühesten Vorformen dieser Fraktur gefunden zu haben. Er zog daraus die verblüffend einfache Schlussfolgerung, dass Maximilian 1513 bei der Suche nach Drucktypen, die seinen künstlerischen Vorstellungen entsprachen, sich der Schrift seiner Lehrbücher entsann, die zu den optisch prägenden Eindrücken seiner Jugend gehörte, und auf sie zurückgriff. Fichtenau arbeitete aber nicht nur die paläographischen und paläotypographischen Aspekte heraus, sondern widmete sich auch den Lehrbüchern, die ja zu den ersten richtigen Kinderbüchern gehören, und dem Unterricht Maximilians sowie der zeitgenössischen Pädagogik. Die Ergebnisse wurden allgemein akzeptiert und haben Eingang in die entsprechenden Handbücher gefunden. Vor einigen Jahren hat allerdings Alois Haidinger, auf dem Gebiet der Paläographie selbst ein Schüler Fichtenaus, wesentliche Argumente gegen einige der Thesen vorgebracht, v. a. was die Rolle Wolfgang Spitzwegs anbelangt47. Dass Fichtenau bei der Befassung mit den Lehrbüchern das von dem als Fälscher bekannten Wiener Privatgelehrten Georg Zappert 1858 publizierte „Gesprächbüchlein“ für den Jugendunterricht Maximilians I. einbezog und seiner Publikation zwei Abbildungen daraus beigab, ohne Verdacht gegen die Echtheit zu schöpfen, hat später – wohl nicht zuletzt auf entsprechende Bemerkungen von Alphons Lhotsky hin – zu einem Kabinettstück sondergleichen geführt: der eingehenden Untersuchung der zum Teil glänzend ausgeführten Fälschungen Georg Zapperts und davon ausgehend dem Versuch, die Persönlichkeit dieses Mannes zu erfassen (1970)48. An der Fälschung des „Gesprächbüchleins“ war – auf meine direkte Frage hin – nach Meinung Fichtenaus nicht zu zweifeln. In der Publikation lautete sein Resumee indes salomonisch: „So ist das ‚Gesprächbüchlein‘ verdächtig geworden, ohne daß das Problem einwandfrei gelöst wäre, das es aufgibt. Handelt es sich um eine Fälschung, was nunmehr als das Wahrscheinlichere bezeichnet werden kann, dann ist sie ausgezeichnet gelungen – nicht nur der äußeren Form nach, sondern auch im Inhaltlichen.“49 Andere paläographische Arbeiten Fichtenaus galten dem Problem der italienischen Riesenbibeln (1950)50 sowie den Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau (1964)51. Immer wieder sind souveräne Kenntnisse paläographischer Eigenheiten, des Layout von Handschriften, der Aufbereitung von Texten durch rubrizierte   Fichtenau, Die Lehrbücher Maximilians I.   Alois Haidinger, Schrift und Zieralphabet, in: Karl-Georg Pfändtner–Alois Haidinger, Das ABC– Lehrbuch für Kaiser Maximilian I. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex 2368 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Kommentar (Codices Selecti, Commentarium 109, Graz 2004) 17–28, sowie ders., Mitteleuropäische Vorläufer der Gebetbuchfraktur Maximilians I., in: Régionalisme et internationalisme. Pro­ blèmes de paléographie et de codicologie du moyen âge. Actes du XVe colloque du Comité international de paléo­ graphie latine, Vienne 2005, hg. von Otto Kresten–Franz Lackner (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 364 = Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters IV/5, Wien 2008) 189–203. 48  Fichtenau, Die Fälschungen Georg Zapperts. 49   Ebd. 293. 50  Fichtenau, Riesenbibeln. 51  Fichtenau, Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau. 46 47



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Überschriften, Initialen, Paragraphenzeichen und Randnotizen in Fichtenaus Arbeiten eingeflossen, z. B. in den Beitrag „Monastisches und scholastisches Lesen“ (1993)52. Auch ein Werk wie das faszinierende Buch „Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert“ (1971)53 konnte nur jemand verfassen, der mit sämtlichen paläographischen Finessen vertraut war. Fichtenaus Kompetenz kommt auch in seinen Rezensionen paläographischer Publikationen zur Geltung54. An paläographischen Forschungsarbeiten und Darstellungen, die er besprochen hat, sind etwa zu nennen Bernhard Bischoff und Josef Hofmann, Libri sancti Kyliani (1952)55, Bernhard Bischoff, Paläographie (1979) sowie Die südostdeutschen Schreibschulen, Teil 2 (1980)56, Jacques Stiennon, L’écriture diplomatique dans le diocèse de Liège (1960) sowie dessen Paléographie du Moyen Age (1973)57, Giorgio Cencetti, Compendio di paleografia latina (1968)58, István Hajnal, L’enseignement de l’écriture aux universités médiévales (1959)59, und Karl Forstner, Die karolingischen Handschriften und Fragmente in den Salzburger Bibliotheken (1962)60, an Tafelwerken Joachim Kirchner, Scriptura latina libraria (1955) bzw. Scriptura gothica libraria (1966)61, T. A. M. Bishop, Scriptores regis (1961)62, Albert Bruckner und Robert Marichal, Chartae latinae antiquiores 3 (1963) und 4 (1967)63, sowie Franz Unterkircher, Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Teil 1 (1969)64, an Facsimile-Ausgaben Franz Unterkircher, Das Wiener Fragment der Lorscher Annalen (1967)65, sowie Pierre Dumon, L’alphabet gothique dit de Marie de Bourgogne (1972)66, an neuzeitlichen Schreibmeisterbüchern Werner Doede, Schön schreiben, eine Kunst. Johann Neudörffer und seine Schule im 16. und 17. Jahrhundert (1957), und dessen Bibliographie deutscher Schreibmeisterbücher von Neudörffer bis 1800 (1958)67 sowie Leonhard Wagner, Proba centum scripturarum (1963)68, schließlich – Vollständigkeit in der Aufzählung war nicht angestrebt – Johannes Trithemius, De laude scriptorum. Zum Lobe der Schreiber, in der Ausgabe von Klaus Arnold (1973). Dazu bezeichnend die einleitende Bemerkung Fichtenaus: „Der bedeutende Humanist und Büchersammler hat, was wie eine Ironie auf sein eigenes Werkchen aussieht, 1494 die Schrift drucken lassen.“69 1962 wurde Fichtenau Nachfolger Santifallers sowohl im Ordinariat als auch in der Direktion des Instituts. Und er übernahm die achtstündige Paläographie-Vorlesung (zwei   Fichtenau, Monastisches und scholastisches Lesen.   Fichtenau, Urkundenwesen. 54   Schriftenverzeichnisse, die auch die Rezensionen erfassen, finden sich für 1937–1975 in Fichtenau, Beiträge 2 271–284, für 1976–1985 in ders., Beiträge 3 337–340. 55  MIÖG 61 (1953) 180f. 56  MIÖG 88 (1980) 372–374 bzw. 89 (1981) 114f. 57   MIÖG 70 (1962) 427f. bzw. 81 (1973) 433–435. 58   MIÖG 77 (1969) 514f. 59  MIÖG 69 (1961) 393f. 60  MIÖG 72 (1964) 230f. 61  MIÖG 64 (1956) 97–99 bzw. 75 (1967) 207. 62   MIÖG 69 (1961) 445. 63   MIÖG 72 (1964) 447f. bzw. 77 (1969) 150f. 64   MIÖG 77 (1969) 431f. 65  MIÖG 76 (1968) 445f. 66  MIÖG 81 (1973) 516. 67  MIÖG 66 (1958) 206f. bzw. 67 (1959) 206f. 68  MIÖG 72 (1964) 237f. 69   MIÖG 82 (1974) 268f., das Zitat 268. 52 53

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Semester je vierstündig), eine der zentralen Lehrveranstaltungen des dreijährigen Ausbildungskurses. Ich selbst habe die Paläographie Fichtenaus 1965/66 gehört und als seine anregendste Lehrveranstaltung empfunden. Hier gab er sein Bestes. Methodisch vorzüglich, bot er klassische Paläographie unter Einbeziehung der Urkunden- und Gebrauchsschriften, unterstrich die Bedeutung der Übergangsschriften und die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung, machte behutsam an Beispielen auf individuelles Gepräge aufmerksam, berücksichtigte die sozialen Aspekte der Träger der Schriftlichkeit und legte größten Wert auf das Zusammenspiel von Paläographie und Handschriftenkunde und die Einbettung in die Kultur- und Geistesgeschichte. Einige der seinerzeit in „Mensch und Schrift“ erhobenen Postulate wurden neben anderen als Probleme, die im Auge behalten werden sollten, bewusst gemacht, über allem naturgemäß der schreibende Mensch. So wurden in insgesamt sieben Ausbildungskursen einige Forscher- und Archivarsgenerationen mit dem erforderlichen methodischen Rüstzeug ausgestattet, in dem das Problembewusstsein eine herausragende Rolle spielte. Dass nicht wenige, mehr praktisch veranlagte Teilnehmer und Teilnehmerinnen für unnötigen Luxus hielten, was über die Fertigkeit, Schriften lesen und datieren, allenfalls klassifizieren zu können, hinausging, steht freilich auf einem anderen Blatt. Ein schmaler Beitrag zur „Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden“ (1974) bietet fast so etwas wie eine Summe von Fichtenaus Ansichten: „Die historischen Hilfswissenschaften und ihre Bedeutung für die Mediävistik“70. In nuce werden Aufgaben, Probleme und Perspektiven skizziert und postuliert, es nicht bei der Materialerfassung bewenden zu lassen, sondern nach möglichst vielseitiger Auswertung zu streben. In Analogie zur Differenzierung zwischen Diplomatik und der über sie hinausführenden Arbeitsweise der „Urkundenforschung“71 wird für eine Erweiterung der Aufgabenstellung der Paläographie geworben, für die Fichtenau die Bezeichnung „Schriftenforschung“ vorschlug. Kunsthistorische Methoden und solche der Psychologie und „eine[r] wissenschaftlich anerkannte[n] Graphologie“ sollten einbezogen werden. Die Quintessenz seiner Anschauungen hat Fichtenau, der in der „historischen Anthro­ pologie“ eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft sah, im Nachwort zu seinem „Urkundenwesen in Österreich“ (1971) pointiert formuliert: „Zur Wissenschaft vom Menschen gehört es, sein Verhalten in der Vergangenheit zu studieren, und dies kann umso eher gelingen, je konkreter unser Wissen um die typischen Situationen und die Spuren der jeweiligen Reaktion auf sie ist. Einfacher ausgedrückt: Kodikologie und Urkundenforschung zeigen, wie ein Mensch vor tausend Jahren mit Feder und Schabmesser, mit Auge und Hand Gedachtes verewigte, in traditionellen Formen und doch individuell reagierend.“72 Viele Fragen, die Fichtenau in „Mensch und Schrift“ erstmals aufgegriffen hatte, werden heute aktuell diskutiert. Jacques Stiennon z. B. hat seine Paléographie du Moyen Age (1973) mit einem Abschnitt über die Physiologie und Neurologie des Schreibvorganges eingeleitet73. Als neueres Beispiel mag der von Colette Sirat und anderen herausgegebene Band „L’écriture: le cerveau, l’œil et la main“ (1990) angeführt werden74. Darin wird die Hirnforschung (auch Linkshänder betreffend) ebenso einbezogen wie die Feinmoto  Fichtenau, Die historischen Hilfswissenschaften, Art. Paläographie 125–129.   Fichtenau, Diplomatiker und Urkundenforscher. 72  Fichtenau, Urkundenwesen 256. 73  Dazu die Bemerkungen von Fichtenau in MIÖG 81 (1973) 433–435, hier 433f. 74  L’écriture: le cerveau, l’œil et la main, hg. von Colette Sirat et al. (Bibliologia. Elementa ad librorum studia pertinentia 10, Turnhout 1990). 70 71



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rik (auch die Haltung der Feder), der schreibende Mensch („Une autre perspective sur l’écriture: La personne“), das Schreibenlernen sowie die Entwicklung der Schrift von Kindern aus klinischer Perspektive. Daran schließen sich Ausführungen über die griechischen und lateinischen Alphabete bzw. ihre Schreibweisen und die Schreibweisen des Hebräischen und Arabischen. In dem eingangs genannten, von Peter Rück herausgegebenen Band „Methoden der Schriftbeschreibung“ (1999) finden sich auch hochinteressante Beiträge mit dem Ziel, „den paläographischen Diskurs über die Schrift durch psychologische, forensische, graphologische, typographische, didaktisch-pädagogische, graphetische und linguistische Ausblicke zu erweitern“75. Das Anliegen, „die Paläographie mit wirklich pluridisziplinären Öffnungen neu anzugehen“, hat Beat von Scarpatetti 1982 artikuliert in seinem programmatischen Artikel „Réintégrer la paléographie“ im ersten Heft der neuen „Gazette du Livre Médiéval“ 76. Fichtenau wird hier zitiert. Drei Jahre später, 1985, publizierte Scarpatetti einen Artikel über Paläographie und Kalligraphie, in dem er dem Buch Fichtenaus breiten Raum einräumt. Scarpatetti berichtet hier „von einem Effekt der ‚Wiederentdeckung‘ der Ansätze Fichtenaus bei sich und einzelnen Forscherkollegen“. Er konstatierte, „dass die in der ‚Gazette du Livre Médiéval‘ und andernorts angestrebte thematisch-methodologische Innovation sich bisher ausschließlich in quantifizierenden, bibliometrischen und ökonomisch-soziologischen Ansätzen bemerkbar gemacht hat. Das ist, zugegebenermaßen, auch am klarsten und einfachsten, … da man sich so eine ganze Reihe schwieriger Fragen, mit denen auch Fichtenau sichtbar zu ringen hatte, vom Halse hält“77. Aus einer Umfrage unter lebenden Kalligraphen hat Beat von Scarpatetti ein sehr anschauliches, ja berührendes persönliches Zeugnis eines jungen Skriptors bekanntgemacht, das es verdient, hier zitiert zu werden78: „Das Schreiben bedeutet für mich eine Tätigkeit, in welcher ohne Aufwand an Material, mit Herz, Hirn und Hand der höchste Grad an Dichte und Leichtigkeit des Empfindens und Schaffens erreicht werden kann. – Als ich mich in jungen Jahren mit dem Schreiben zu befassen begann, öffnete sich mir jenes Wechselspiel von Druck und Flug, von sich entgegengesetzten Elementen wie Weiss und Schwarz, und es gewann an Gestalt, als eine dem Schreiben innewohnende fließende Bewegung. In dieser Bewegung geht eine ununterbrochene Linie weiter, gleich einem Strom lebendig gespannter Energie, und wird zur Komposition. – Das technische Können und die Kenntnisse genügen allein nicht mehr. Die Technik muß überschritten werden mit dem Ziel einer ‚nichtgekonnten Kunst‘, die aus dem Unbewußten erwächst. Schreiber und Schrift sind dann nicht mehr zwei entgegengesetzte Dinge, sondern eine einzige Wirklichkeit.“ Scarpatetti dazu: „Dieses persönliche und anspruchsvolle Zeugnis eines jungen Scriptors muß in unserer Welt des technischen Ausleuchten-Wollens aller Geheimnisse der alten Künste, des Haben-, Reproduzieren- und Quantifizieren-Wollens, noch etwas einsam dastehen. Es formuliert sich auch umso absoluter, je weniger Kommunikation mit den Vertretern der etablierten Wissenschaft besteht. Der Autor der angeführten Zeilen wäre wohl überrascht gewesen, wenn er im Laufe seines Werdegangs wie auch seiner Überle  Das Zitat aus dem Vorwort zu Rück, Methoden (wie Anm. 2) 7.   Beat von Scarpatetti, Réintégrer la paléographie. Gazette du Livre Médiéval 1 (1982) 20–23, das Zitat aus einem privaten Schreiben von Scarpatetti. 77  Beat von Scarpatetti, Paläographie und Kalligraphie heute. Codices manuscripti 11 (1985) 146–160, das Zitat 158. 78   Ebd. 157. 75 76

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gungen Heinrich Fichtenaus Schrift ‚Mensch und Schrift im Mittelalter‘ kennengelernt hätte. In diesem Werk des heute [d. h. 1985] 73jährigen österreichischen Paläographen findet sich die Quintessenz des geistigen Aufbruchs der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Paläographie hineingetragen.“ Fichtenau war angetan, als ich ihn damals auf diese Resonanz aufmerksam machte. Pünktlich eine Generation nach der letzten Krise der Paläographie ist der belgische Paläograph Albert Derolez in seinem Buch „The Palaeography of Gothic Manuscript Books“ (2003) in einem eigenen Abschnitt auf „The Crisis of Palaeography“ eingegangen: „There can be no doubt that a crisis now exists in the discipline.“79 Er weist darauf hin, dass die Zahl der heute publizierten Handbücher und Abbildungswerke in deutlichem Gegensatz zu der gegenwärtig geringen Wertschätzung der Paläographie als akademischer Disziplin stehe. Neue Trends in historischer und literarischer Forschung, der Niedergang des Lateinstudiums bzw. der Lateinkenntnisse seien die eine Seite. Paläographen selbst seien aber vom Tadel keineswegs ausgenommen. In ihrem Bestreben, sich von den altmodischen, rein deskriptiven Methoden zu distancieren, würden viele heutige Spezialisten in der Geschichte der Schrift nach gesellschaftlichen Entwicklungen, die hinter der Schrift stehen, suchen und damit ihre Aufmerksamkeit auf andere Aspekte als die eigentliche Schrift richten. Dazu kämen ein starker Trend zu Theorie und eine Tendenz, jeweils nationalen paläographischen Schulen anzuhangen. Derolez klagt über die Vorstellung, dass die Zeit für Paläographie und ihre traditionelle Konzeption vorbei sei und die Geschichte des Schreibens („the ‚history of writing‘“) ihren Platz einnehmen solle. Ich meine dazu, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Man soll klassische Paläographie betreiben und lehren (auch wenn nicht alle, die Paläographie umfassend lehren, deswegen gleich Handbücher oder Grundrisse vorlegen oder den Schwerpunkt ihrer Forschungs- und Publikationstätigkeit auf diese Disziplin legen müssen) und ganz im Sinne Fichtenaus offen sein für alle Anregungen und Aspekte, die mit Schriften und Schreiben zusammenhängen. Die von Fichtenau kreierten neuen Ansätze in der Diplomatik sind ungleich stärker und folgenreicher aufgegriffen worden als seine Ideen zu einer Erneuerung der Paläographie. Wenngleich nach außen in Publikationen kaum sichtbar, haben aber auch manche, durchaus nicht alle seiner die Paläographie betreffenden Anschauungen und Einsichten ihre Wirkung dadurch entfaltet, dass sie integriert waren in sein großes Paläographie-Kolleg. Von extremen Interpretationen in „Mensch und Schrift“ hat er sich in seiner Vorlesung ebenso wie auch im persönlichen Gespräch deutlich distanciert. Wenn Bernhard Bischoff 1979 die Paläographie pointiert als „eine Kunst des Sehens und der Einfühlung“ charakterisierte80, so entsprach diese Einschätzung völlig den Ansichten Fichtenaus81. Auch wenn Fichtenau, soweit ich mich erinnere, nicht die Formulierung gebrauchte, dass Paläographie eine „Schule des Sehens“ sei, so verstand er die Disziplin primär durchaus als eine solche Schule. Als sein Nachfolger im Ordinariat (1983–2009) habe ich es für richtig gehalten, die wichtigsten der zuvor genannten Aspekte auch in meinem Paläographie-Kolleg im Rahmen des Institutskurses zu tradieren. Und so sind in den   Derolez, Palaeography (wie Anm. 3) 2f.   Bischoff, Paläographie (wie Anm. 29) 11979 S. 17, 21986 = 42009 S. 19: „Mit technischen Mitteln ist die Paläographie, die eine Kunst des Sehens und der Einfühlung ist, auf dem Wege, eine Kunst des Messens zu werden.“ 81  In seinem Nachruf gab er diese „pessimistische Voraussage“ wieder: Fichtenau, Bernhard Bischoff 509. In den Unterlagen für seine eigene Paläographie-Vorlesung hat Fichtenau das Zitat notiert und bei der Formulierung „Kunst des Messens“ das Wort „Kunst“ unterwellt und mit einem Fragezeichen versehen. 79 80



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Jahrzehnten von 1962 bis zu dem vor wenigen Jahren erfolgten Exitus des Institutskurses, der im Zuge der Universitätsreformen im Prokrustesbett eines „Masterstudiums“ gestrandet ist82, alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Wiener Ausbildungskurses damit bekannt geworden, auch ohne „Mensch und Schrift“ je gelesen zu haben. Wie fruchtbar der Ansatz ist, dem schreibenden Menschen nachzuspüren, nachzuspüren in seiner Schrift, seinen unterschiedlichen Schreibweisen, in seinem Schreiben, in seinem Schriftgebrauch, davon kann man sich in zahlreichen Arbeiten auch jüngerer Kollegen ein Bild machen, ganz gleich, ob sie sich nun auf Fichtenau berufen oder nicht83. Was das Buch „Mensch und Schrift“ von 1946 anbelangt, so hat Fichtenau dazu später eine distancierte Position eingenommen. Mit zugegeben vielen Abstrichen ist es, vor allem der erste Teil, auch heute noch lesenswert, auch wenn manches zu Widerspruch reizt. Der an der Harvard University wirkende John P. Elder, Schüler und Mitarbeiter des Paläographen und Philologen Edward K. Rand, der 1947 einen Artikel über die Datierung florentinischer humanistischer Handschriften publizierte, in dem er auch die eingangs erwähnte Abhandlung von Hans Hirsch zitierte84, beschloss seine im selben Jahr in der Zeitschrift „Speculum“ erschienene, sehr kenntnisreiche und sehr faire Rezension mit einer Bemerkung, der man auch noch heute nach 65 Jahren uneingeschränkt zustimmen möchte: „But whether or not, however, one accepts Fichtenau’s ‚problem‘ as a real problem – which I for one certainly do – and whether one accepts it as the chief problem concerning script – which I certainly do not – this book has still many solid virtues. These await not merely the paleographer but the student of almost any phase of early and late medieval culture. The doses of ‚new‘ psychology employed to induce an appetite for the geistesgeschichtliche Methode may at times be hard to swallow, but there are compensations. Not every fresh wind blows good, but the breezes here are stimulating and help air the room. All in all, I recommend this book, not for diversion, not for conversion, but for thoughtful consideration.“85 Dem ist nichts hinzuzufügen.

82   Vgl. dazu [Herwig Weigl,] Die Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung – teilweise ein Nachruf. MIÖG 116 (2008) 452–469 mit Anhang I: Studienplan des dreijährigen Lehrganges des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung (verlautbart 4. August 1998) bzw. Anhang II: Studienplan des zweijährigen Lehrganges des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung (verlautbart 21. Februar 2001) sowie Curriculum für das Masterstudium „Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft“ [an der Universität Wien] (veröffentlicht 26. Juni 2008). MIÖG 119 (2011) 565–580 Nr. II. 83  Als Beispiel sei genannt die Publikation: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart–Lorenz Hollenstein (St. Gallen 2006); die Benennung sowohl dieses Bandes als auch der gleichnamigen Ausstellung in St. Gallen, die er begleitete, war (vgl. 7) im Gedenken an Fichtenau († 2000) und sein Buch gewählt worden. 84   J. P. Elder, Clues for Dating Florentine Humanistic Manuscripts. Studies in Philology 44 (Chaple Hill, North Carolina, 1947) 127–139, Erwähnung der Abhandlung von Hirsch 128 Anm. 5. 85  Elder, Rezension (wie Anm. 28) 642f.; „Fichtenau’s ‚problem‘“ bezieht sich auf den ersten Hauptabschnitt von „Mensch und Schrift“ mit der Bezeichnung „Das Problem“. Zu Elder (1913–1985) vgl. Michael C. J. Putnam, Elder, John Petersen, in: Biographical Dictionary of North American Classicists, hg. von Ward W. Briggs, Jr. (Westport/Connecticut–London 1994) 159f.





Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“ David Ganz

Der Schweizerische Archivar Bruno Meyer, ein Mann, der Lehrgänge am Österreichischen Institut für Geschichtsforschung und an der École des Chartes absolviert hatte, gab in seiner Besprechung von Heinrich Fichtenaus „Mensch und Schrift im Mittelalter“ ein vernichtendes Urteil ab: „Es gibt wohl kaum ein treffenderes Zeugnis für die Erschütterung des Geistes durch Nationalsozialismus und Krieg als dieses Buch von Fichtenau.“ 1 Fichtenaus Entscheidung, sich mit einer Arbeit über Paläographie anstatt über Konrad III. zu habilitieren, war ein Ausbruch aus seinem Militärleben – in seinen Worten: „Das führte mich in eine illusionäre friedliche Welt.“2 Seine Arbeit war ein Versuch, „die Paläographie wieder in jene größeren Zusammenhänge einzuordnen, aus denen sie eine längst überalterte Methode gelöst hat“3. „Es geht um die Grundfrage der Methode, ... ob nicht … der schreibende Mensch in seinem Lebenszusammenhang und die Schrift als lebendige Form wird erfaßt werden müssen.“4 Das Buch wurde als Habilitationsschrift verfasst, mit dem Titel „Neue Wege der paläographischen Forschung“, die Habilitation fand am 7. März 1942 statt5. Fichtenau hatte als Student im 39. Institutskurs 1932–1935 den vom Direktor des Instituts Hans Hirsch gehaltenen lateinischen Paläographiekurs6 und wohl auch dessen Paläographiekolleg besucht. 1936 war er wissenschaftliche Hilfskraft von Hirsch. Diskussionen mit dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, Lehrer am Institut seit Dezember 1936, werden auch erwähnt7. Sedlmayrs programmatischer Aufsatz „Zu einer strengeren 1   Bruno Meyer, Besprechung von Fichtenau, Mensch und Schrift. Zeitschrift für schweizerische Geschichte 26 (1946) 536–538. – In den folgenden Ausführungen ist die Form des mündlichen Vortrags weitgehend beibehalten. 2  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 48; Winfried Stelzer, Nachruf Heinrich Fichtenau. MIÖG 109 (2001) 272–284. 3   Fichtenau, Mensch und Schrift, Vorwort, S. V. 4   Ebd. 18. 5  Zum Habilitationsverfahren vgl. Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (MIÖG Ergbd. 50, Wien 2007) 264–268. 6  Vier- und fünfstündig 1931–1937. Zu Hirsch vgl. Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 212–241; Andreas H. Zajic, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in: Österreichische Historiker: Lebensläufe und Karriere 1900–1945, hg. von Karel Hruza (Wien 2008) 307–417. 7  Fichtenau, Mensch und Schrift 92, 193. Sedlmayr wird zitiert auf S. 42. Meyer spricht in seiner Be­sprechung (wie Anm. 1) 536 von „dem massgebenden Einflusse der Anschauungen des Kunsthistorikers Sedlmayr“. Vgl. Hans H. Aurenhammer, Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938–1945, in: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, hg. von Jutta Held–Martin Papenbrock (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 5, Göttingen 2003) 161–194; und das

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Kunstwissenschaft“8 hat wohl für Fichtenaus Konzept Pate gestanden9. Mit seinem Ansatz stand Fichtenau nicht allein: In der Einleitung zu Bernhard Bischoffs „Schreibschulen“ fand Fichtenau den Wunsch und das Ziel „zu den Menschen vorzudringen, die sie (sc. die Handschriften) schreiben und für die sie geschrieben wurden“10. Das Zitat kommt in „Mensch und Schrift“ vor, wie auch Karl Brandis Worte über die Schrift als „ein zartes Abbild des Menschlichen“11. Zu den schreibenden Menschen gelangt Fichtenau mit den Werkzeugen der Gestaltpsychologie und der Graphologie12. Ein Hinweis auf die Rolle eines naturwissenschaftlich begründeten Wissens für Fichtenau mag in seiner Bemerkung über „Sickels Beeinflussung durch die Naturwissenschaft“ liegen. Mit Recht hat Fichtenau die Banalität und Armseligkeit der paläographischen Terminologie kritisiert: „Stoff und Technik waren die wichtigsten Begriffe geworden.“13 Der Grapho­ loge und Philosoph Ludwig Klages, der bei Fichtenau häufig zitiert wird 14, hat die Frage gestellt: „Wie kann sich Seelisches in leiblichen Bewegungen ausdrücken?“ Für Klages verwirklicht „der Ausdruck … nach Stärke, Dauer und Richtungsgefolge die Gestalt einer seelischen Regung“15. Fichtenau geht dem Seelischen nach: sein Buch „will auch gar nicht ausgeführte Strukturanalysen bieten, sondern nur eine vorläufige Überschau, erste Näherung“16. Wie Sedlmayr so zitiert auch Fichtenau die Arbeit von Philipp Lersch, „Der Aufbau des Charakters“17, der an dem charakterologischen Werk von Klages orientiert war, und wie Lersch spricht er von „quantitativer Lebensfülle“18 und „endothymem Grund der Persönlichkeit“. Für den Aufbau seines Interpretationsmodells übernahm Sedlmayr Lerschs Schichtmodell des Charakters19, und Fichtenau findet Lerschs Menschentyp, Urteil von Meyer Schapiro, The New Viennese School. The Art Bulletin 18 (1936 ) 258–266, hier 259: „The authors often tend to isolate forms from the historical conditions of their development, to propel them by mythical, racial-psychological constants, or to give them an independent self-evolving career.“ Vgl. auch ebd. 260: „We reproach the authors for offering us as historical explanations a mysterious racial and animistic language in the name of a higher science“. Schapiros Briefwechsel mit Otto Pächt über Konstanten: Cindy Persinger, Reconsidering Meyer Schapiro and the New Vienna School. Journal of Art Historiography 3 (2010) 1–17. 8  Hans Sedlmayr, Zu einer strengeren Kunstwissenschaft. Kunstwissenschaftliche Forschungen 1 (1931) 7–32. 9  Siehe Fichtenau, Mensch und Schrift 42. Auch der Wiener Kunsthistoriker Dagobert Frey hat den ­jungen Fichtenau gefördert. Zum Studium der Geschichte in Wien vgl. Gernot Heiss, Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in: Zukunft mit Altlasten: die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. von Margarete Grandner–Gernot Heiss–Oliver Rathkolb (Innsbruck–Wien 2006) 189–210. 10  Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit 1 (Leipzig–Wiesbaden 1940) 2. 11  Fichtenau, Mensch und Schrift 36. 12   Fichtenau, ebd. 37, unterscheidet zwischen Pseudographologen und „einer graphologischen Wissenschaft“. 13  Ebd. 8. 14  Ebd. 37f., 42f., 51–54, 64, 68. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter (Leipzig 1917), erlebte zwischen 1917 und 1925 fünfzehn Auflagen. 15   Ludwig Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck (Leipzig 51936) 147. Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967: Holism and the Quest for Objectivity (Cambridge 1995). 16  Fichtenau, Mensch und Schrift 45. 17  Ebd. 36, 39f., 55f., 203. 18   Ebd. 54f.; vgl. 118: „das mit hoher Lebensfülle ausgestattete Germanentum” und „gebändigte Lebensfülle der gotischen Buchschrift“. 19   Zur Rezeption von Klages und Lersch in der Kunstgeschichte vgl. Daniella Bohde, Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft: Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre (Berlin 2012) 105f.,



Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“ 31

„dem mehr ein stilles Hinhorchen auf das innere Erlebnis gegeben war, voll passiver Gefühlsbestimmtheit“, als Typ, dem die Bastarda „für Reinschriften von Texten, in denen von der Pflege des Lebensgrundes, der geläuterten Tiefenperson und dem Seelenfünklein die Rede war“ als Schrift am besten geeignet war20. In einem Brief zeigt sich Sedlmayr mit den Grenzen der Gestalttheorie vertraut: „Die Wichtigkeit der Gestalttheorie hört sofort auf, wo man statt der Gestaltung zum Beispiel die Probleme der ‚Bedeutung‘ untersucht“21. Die Theorien von Klages und von Pophal, dessen Studium der Handschrift Fichtenau erwähnt22, wurden in der Berliner Dissertation des Kunstpsychologen Rudolf Arnheim experimentell untersucht23. Arnheims Doktorvater Max Wertheimer, ein Begründer der Gestaltpsychologie, wird auch bei Fichtenau zitiert24. Arnheim wiederum zitiert Kainz25, dessen Begriffe Gestaltgesetzlichkeit und Ornamententwicklung Fichtenau übernommen hat26. Bei Fichtenaus Analyse der Rustica-Schrift werden die anatomischen Begriffe Pronation und Supination nach Pophal verwendet27. Besonders wichtig für die Analyse der Schrift sind Fichtenau die Begriffe Kanon und Stilisierung28. Fichtenau wollte letztlich „eine Analyse des „Schriftwollens“29. Immer noch lehrreich ist Fichtenaus Verständnis vom Schreibvorgang. „Der Schreibvorgang ist vielmehr ein verwickeltes Zusammenwirken von Unterarm, abrollender Hand, Finger und Feder.“30 Diesen Vorgang hat Fichtenau durch Auswertung der antiken und mittelalterlichen Schreiberdarstellungen wie beispielsweise in seiner Diskussion der Handhaltung des Kardinals Stefaneschi erfasst31. Seine Analyse des Federschnitts32, der

118–130, 138f.; Gregor Rinn, Der Kampf um das Subjekt, in: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, hg. von Wolfgang Hardtwig (Göttingen 2005) 343–374; Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus (Frankfurt 1984) 124–128. Hans Kasdorff, Ludwig Klages im Wiederstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 1895–1975 (Bonn 1978), war mir leider unzugänglich. Klages wird auch bei Walter Benjamin zitiert: Gesammelte Schriften 3 (Frankfurt 2006) 135–139. Benjamin kritisierte den Begriff des „physiognomischen Charakters“, ebd. 363–374. 20  Fichtenau, Mensch und Schrift 203. 21  Evonne Levy, Sedlmayr and Schapiro correspond, 1930–1935. Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 59 (2010) 234–263, hier 240. Vgl. Frederick. J. Schwartz, Blind Spots: Critical Theory and the History of Art in Twentieth-century Germany (New Haven 2005). 22   Fichtenau, Mensch und Schrift 53, 63. 23  Rudolf Arnheim, Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem. Psychologische Forschung 11 (1928) 2–132. 24  Fichtenau, Mensch und Schrift 46. 25   Rudolf Arnheim, Spatial aspects of graphological expression. Visible Language 12 (1978) 163–170. Arnheim hat die Einleitung für Alfred O. Mendel, Personality in Handwriting: a Handbook of American Graphology (New York 1947), geschrieben. Zu Klages und Pulver bei Arnheim vgl. Ian Verstegen, Arnheim, Gestalt and Art: A Psychological Theory (Wien–New York 2005) 88f. 26  Fichtenau, Mensch und Schrift 37, 48. 27   Ebd. 90. 28  Zum Kanon ebd. 50, 77, 134, 169, zur Stilisierung ebd. 48, 50, 80, 134, 168. 29  Stelzer, Nachruf (wie Anm. 2) 275. 30  Fichtenau, Mensch und Schrift 59. Vgl. Otto Hurm, Der Einfluß von Schreibhaltung und Unterlage auf die Schrift. Gutenberg-Jahrbuch 40 (1965) 58–63. 31   Fichtenau, Mensch und Schrift, Taf. 1 u. S. 167. Vgl. jetzt Pen in hand. Medieval scribal portraits, colophons and tools, hg. von Michael Gullick (Walkern 2006). 32  Fichtenau, Mensch und Schrift 62, 129, 188.

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Handhaltung33 und des Schreibdruckes 34 zeigen, dass er sich mit den Schreibmeisterbüchern befasst hat. Seine Reflexionen über Stilisierung und Kanon in der Schriftentwicklung sind von großem Wert, auch die Idee einer Entstilisierung, die er bei der Entstehung der Geschäftskursive konstatiert, scheint mir noch instruktiv35. Der psychologische Begriff der Versteifung von Bewegungen, die Fichtenau in Schriften des achten Jahrhunderts erkennt36, ist leider noch unklar. Auch ist Fichtenau einer der wenigen, der Inschriften und Handschriften behandelt. Seine Behandlung der Gemeinsamkeiten von Schrift und Ornamentik, auch in Urkunden, öffnet ein Gebiet, das allzu oft in der Paläographie keinen Platz findet37. Fichtenaus paläographische Begabung wird in seinem Buch oft unter Beweis gestellt: So beschreibt er die Schriftzüge von bestimmten Handschriften in den Abbildungen der Palaeographical Society (137, 143) und gibt Erläuterungen zu den sechzehn Tafeln seines Buchs. Seine Behandlung der Ornamentik bezieht sich häufig auf Köhlers Studie der Schule von Tours38, und er hat auch die 1943 veröffentlichte Monographie von Paolo Collura über Bobbio gelesen39. Er registriert Zusammenhänge zwischen Sprach- und Schriftbau unter Bezugnahme auf Wilhelm Niemeyer, „Sprachbau und Schrift“40. Niemeyer wird auch von Klages zitiert. Man vergleiche dazu Marc Bloch: „L’histoire de l’écriture retarde étrangement sur celle du langage. Elle attend son Diez, ou son Meillet.“41 Fichtenaus differenzierte Sicht der Phänomene zeigt sich etwa in der Auseinandersetzung mit Petrau: „Waren wirklich immer Rechtswendungen Ausdrucksformen für Vorwärts, Schenktrieb, Zielstrebigkeit, Kurvenzüge Ausdruck von Gefühlswerten?“ 42 Fichtenaus Formulierung von der „Lebendigkeit einer Schrift“ geht wohl zurück auf Klages „innere Lebendigkeit“43. Fichtenau geht es auch in origineller Weise um die „Erfassung der inneren Einheit von Schrift und Buchschmuck“44. In seiner Besprechung behauptet Meyer: „Die Darstellung ist weitgehend nur noch eine Aufreihung von Empfindungen und Gefühlen.“ Beispielhaft dafür sei die von Fichtenau im Anschluss an seine Behandlung der „byzantinischen ,Gotik‘ des 10. und 11. Jahrhunderts mit ihrer extremen Ausbildung von Haar- und Schattenstrichen …“ geäußerte Frage: „Handelt es sich etwa um das Einfließen slawisch-barbarischen Blutes?“45 Er spricht vom „sakralen Wert und Charakter der Kapitale“46. Wucht und Würde bestimmen das Leitbild des Vatikanischen Vergil. 33   Ebd. 83, 131, 142, 166, 188f. Streckung des Mittelfingers 167. Fichtenau zitiert die Schreibmeisterbücher von Wolfgang Fugger (1553), Urban Wyss (1549) und Ludovico Arrighi (1522). Vgl. Arthur Sidney Osley, Scribes and Sources: Handbook of the Chancery Hand in the Sixteenth century Texts from the Writing Masters (London 1980). 34   Fichtenau, Mensch und Schrift 97f., 195. 35   Ebd. 80, 168. 36  Ebd. 97. 37   Ebd. 67–70, 120, 136–145 (keltische Kunst), 193f. (Pariser Buchmalerei im 13. Jahrhundert). 38   Ebd. 95, 113, 152. 39   Ebd. 128, 146. 40   Ebd. 21–23, 147. 41   Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou métier d’historien (Paris 2006 [erstmals 1949]). 42   Fichtenau, Mensch und Schrift 33. 43  Ebd. 52. 44   Ebd. 67. 45  Ebd. 85. 46   Ebd. 88.



Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“ 33

Die Unziale bezeichnet Fichtenau mit Recht als Schöpfung eines neuen Kunstwollens, geht aber wohl zu weit mit dem Satz: „Wir können vermuten ..., daß nicht nur östliche und afrikanische, sondern auch germanische Kräfte an der Gestaltung der Unziale beteiligt waren.“47 Ähnliche Empfindungen verraten die Feststellung, dass „die Worttrennung ,per cola und commata‘ dem germanischen Empfinden als offene Form mehr entsprach als dem irischen“48, die Schilderung der karolingischen Minuskel „mit ihrer Abschaltung der Tiefenperson“49 oder die Charakterisierung von Cluny: „Militant und zielbewußt wie die Schrift sind auch ihrer Vertreter“50. Zur Fraktur sagt Fichtenau: „Die Antiqua ist die Schrift des rationalen, kühlen, objektiven Denkers; die Fraktur jene des mehr subjektiven ,Täters‘, zumindest des mit hoher Vitalkraft Begabten, der so häufig bloß am Rande einer verpflichtenden Gemeinschaft steht, ohne ihr dienend anzugehören.“51 Hier steht Fichtenau in einer Tradition. Der Honorarprofessor und Göttinger Handschriftenbibliothekar Alfred Hessel schrieb 1925: „Die deutsche Nation ... schuf sich selbständig noch eine neue Type“52, und Hermann Delitsch, Professor an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig, sah in seiner Geschichte der Abendländischen Schreibschriftformen die Deutsche Schriftform als Symbol germanischen Geistes. In einer instruktiven Analyse hat Peter Rück die Rolle des Nationalismus in der Debatte über Fraktur und Antiqua behandelt53. Die Besprechungen von „Mensch und Schrift“ sind generell eher skeptisch. Der Historiker und Hilfswissenschafter Paul Kirn sah in Fichtenaus Buch den Versuch, „in der Paläographie eine Hinwendung auf das Menschliche zu vollziehen … . Es ist geschrieben, um auf Probleme hinzuweisen und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren.“54 Der britische Paläograph N. R. Ker fand es „a difficult book, full of ideas expressed in a complicated way. In his introductory pages the author asks the fundamental question whether palaeo­ graphers can afford to deal only with what they see in the manuscripts. … When it comes to the point it is not possible to treat palaeography in the same sort of way as botany. Nor has the fact that writing is a human activity been altogether forgotten in the past.“55 Kers negative Beurteilung findet einen Widerhall in Julian Browns Formulierung: „the bleak generalisations which have so far been the only fruit of this kind of enquiry“56. Positiver beurteilte J. P. Elder das Buch als eine Studie von der „relationship [of script] to Geistesgeschichte as understood in the Dilthey program“. Es sei „a work of synthesis, seeking to increase our powers of interpreting scripts in the general pattern of the spiritual and cultural development of Western Europe“. Fichtenau hätte „a number   Ebd. 93.   Ebd. 145. 49   Ebd. 211. 50   Ebd. 181 51  Ebd. 170 52   Alfred Hessel, Neue Forschungsprobleme der Paläographie. AUF 9 (1925) 161–167, hier 164. 53   Peter Rück, Paläographie und Ideologie: Die Deutsche Schriftwissenschaft im Fraktur-Antiqua Streit von 1871–1945. SIGNO. Revista de Historia de la Cultura Escrita 1 (1994) 15–33. Vgl. Norbert Hopster, Das „Volk“ und die Schrift. Zur Schriftpolitik im Nationalsozialismus, in: Schreiben – Schreiben lernen. Rolf Sanner zum 65. Geburtstag, hg. von Dietrich Bouecke–Norbert Hopster (Tübinger Beiträge zur Linguistik 249, Tübingen 1985) 55–77, wo die Rolle der Graphologie auf S. 67f. ihren Platz findet. 54   HZ 171 (1951) 338f. 55   EHR 63 (1948) 129f. 56   T. Julian Brown, Latin Palaeography since Traube, in: ders., A Palaeographer’s View (London 1993) 34. 47 48

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of sensible and illuminating things to say about Handhaltung, Stilisierung, Versteifung, Koordination“57. Der Belgier Stiennon sah „l’ambition de nous présenter une philosophie de la paléographie“, doch war seine Meinung „il est capable de mieux faire“58, und sein Landsmann, der Theologe Maïeul Cappuyns, sprach von „les virtualités de la nouvelle orientation“, „le dynamisme germanique saura maintenir pendant un temps sa créature à lui, la gothique“. Er fand aber, dass „un esprit hégélien, nettement aprioristique, anime malheureusement tout le livre“59. Ursmar Engelmann konstatiert „Wege, die aus der unfruchtbaren Atmos­ phäre leerer Methodik herausführen können“60. Anton Julius Walter, der 1929/31 bei Hirsch studierte und dem man 1938 die venia legendi entzog, hat 1949 seine Bemerkungen zu Heinrich Fichtenaus „Mensch und Schrift im Mittelalter“ veröffentlicht61. Er spricht von Fichtenaus „beabsichtigte[r] Aggressivität“, unterstützt dessen Neuansatz und lobt die Fortschritte. Mit einem Ausdruck des Bedauerns meint er, dass „wir Historiker, durch unsere intransigente Haltung bisher den Graphologen das paläographische Rüstzeug vorenthalten haben“62. „Mensch und Schrift“ ist positiv in den Lehrbüchern von Cencetti63 und Battelli64 erwähnt; in der Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften konzediert Ahasver von Brandt bei aller kritischen Distanz: „Fichtenau wirkt da am anregendsten, wo er (mit Recht) die Vernachlässigung gewisser physiologischer Grundlagen des Schreibens und Gestaltens kritisiert …“65. Fichtenau selbst hat die historischen Hilfswissenschaften 1974 behandelt, wo er die ausdruckskundliche Seite der Schrift nochmals betont und das Schriftwollen erwähnt66. Seine Hoffnung auf eine Unterstützung der Paläographie durch die Psychologie und eine wissenschaftliche Graphologie kommt auch zu Wort. Das Buch wird von Charles Perrat „un brillant exposé“ genannt67. Bischoff sieht die Schreibmechanik „am eindringendsten“ in „Mensch und Schrift“ behandelt68. Fichtenaus Appell für eine systematische Teilwissenschaft ist von Gudrun Bromm, Schülerin von Peter Rück, in ihrer Diskussion der paläographischen Schriftbeschreibung aufgegriffen worden69. Rück lobte den „einzige[n] ernsthafte[n] Versuch, die Ergebnisse psychologischer 57   John Petersen Elder, Speculum 22 (1947) 639–643. Der Serviusforscher J. P. Elder war Professor of Greek and Latin in Harvard. 58  Le Moyen Age 54 (1948) 188–190. Stiennon war Professeur d’histoire et d’histoire de l’art in Liège. 59   Recherches de Théologie Ancienne et Médiévale 15 (1948) 194–196. 60   HJb 62–69 (1949) 884–886. Ursmar Engelmann war Mönch, später Erzabt von Beuron. 61  Anton J. Walter, Die Schrift als Kulturobjekt. Bemerkungen zu dem Buche: Heinrich Fichtenau, „Mensch und Schrift im Mittelalter“. MIÖG 57 (1949) 375–382. 62  In seiner Besprechung verweist Walter unter anderem auf die graphologischen Studien von Hermann Görtheim, Wissenschaftliche Graphologie und gerichtliche Schriftidentifizierung (Lübeck 1942), und von Kurt Rohner, Kleines Handbuch moderner Graphologie. Praktische Einführung in die Handschriften-Deutung (Bern 1948). 63  Giorgio Cencetti, Lineamenti di storia della scrittura latina (Bologna 1954) 481. 64  Giulio Battelli, Lezioni di paleografia (Città del Vaticano 1949) 4, 6, 42. 65   Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers (Stuttgart 182007, zuerst 1958) 65, 166, Zitat 176. 66   Fichtenau, Die historischen Hilfswissenschaften. 67   Charles Perrat, Paléographie romaine. X Congresso internazionale di scienze storiche 1 (Florenz 1955) 345–384, hier 349. 68  Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Berlin 42009) 59 Anm. 7. 69  Gudrun Bromm, Neue Vorschläge zur paläographischen Schriftbeschreibung, in: Methoden der Schriftbeschreibung, hg. von Peter Rück (Stuttgart 1999) 21–43, bezieht sich auf Fichtenau, Mensch und Schrift 21 und 33.



Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“ 35

und graphologischer Forschung auch bezüglich der Bindungsformen in der Paläographie einzubringen“70. Der italienische Paläograph Alessandro Pratesi hat in Spoleto noch 1981 Fichtenaus Arbeit gepriesen: „Il Fichtenau vede un profondo ed intimo rapporto, proprio nel momento cruciale per l’avvento della minuscola carolina, tra scrittura e stile di vita degli scriventi; lo scrivere è un esercizio ascetico, e come la vita ascetica si viene unificando attraverso l’estensione della regola benedettina promossa dai capitolari di riforma, così la scrittura, ispirandosi allo stesso modello di vita e in stretta relazione con l’uniformità filologica dei testi della cui moltiplicazione era strumento espressivo, raggiunge, entro i confini dell’impero, la propria unità. Coerentemente con la sua visione della scrittura quale segno della soggettività dell’uomo e perciò strettamente legata nelle sue manifestazioni alle idee imperanti in un preciso ambito locale e temporale, il Fichtenau lega dunque l’origine della carolina al movimento di cultura creatosi intorno a Carlomagno, non tanto come emanazione della sua corte, o della scuola palatina, quanto come estrinsecazione dello sforzo di ricondurre ad unità tutte le manifestazioni dello spirito.“71 In ihrer Studie über Freisinger Handschriften des 10. Jahrhunderts zitiert Natalia Daniel Fichtenaus Diskussion der Handhaltung in „Mensch und Schrift“72. Die Handhaltung ist neuerdings von Colette Sirat73 und von Randall Rosenfeld74 untersucht worden, wobei Rosenfeld die Terminologie des Graphologen Pophal verwendete75. Die Graphologie war von dem Leidener Papyrologen Eefje Wegener auf griechische Papyri angewendet76 und von Waldemar Schlögl bei seiner Untersuchung der Unterschrift deutscher Könige ins Spiel gebracht worden77. Bei der Erforschung der Authentizität von Bildern Rembrandts wird eine Untersuchung der Unterschriften durch forensische Experten mit Hinweis auf die Graphologie häufig zitiert78. Fichtenau hat in Wien glänzend Paläographie gelehrt. 1953 war er zum Mitglied des Comité internationale de Paléographie latine gewählt worden und nahm aktiv an den Diskussionen zur Nomenclature des écritures latines teil. Seine Studie über „Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift“ behandelt die Vorgeschichte der kaiserlichen Kanzleischrift und ihre Verbreitung. Auch in seinen Besprechungen zeigt 70  Peter Rück, Ligatur und Isolierung: Bemerkungen zum kursiven Schreiben im Mittelalter, in: Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit, hg. von Jürgen Baurmann–Klaus B. Günther–Ulrich Knoop (Hildesheim– New York 1988) 111–138, hier 118. 71   Alessandro Pratesi, Le ambizioni di una cultura unitaria: la riforma della scrittura, in: Nascita dell’Europa ed Europa carolingia: un’equazione da verificare (Settimane 27, Spoleto 1981) 507–530. 72  Natalia Daniel, Handschriften des zehnten Jahrhunderts aus der Freisinger Dombibliothek (München 1973) 12. 73   Colette Sirat, Handwriting and the Writing Hand, in: Writing Systems and Cognition, Perspectives from Psychology, Physiology, Linguistics and Semiotics, hg. von William C. Watt (Dordrecht 1994) 375–460. 74  Randall Rosenfeld, Tres digiti scribunt: A Typology of Late-Antique and Medieval Pen Grips, in: ­Music and Medieval Manuscripts. Palaeography and Performance. Essays dedicated to Andrew Hughes, hg. von John Haines–Randall Rosenfeld (Aldershot 2004) 20–48. 75   Rudolf Pophal, Die Handschrift als Gehirnschrift. Die Graphologie im Lichte des Schichtgedankens (Rudolstadt 1949). Pophal (1893–1966, Professor für Graphologie an der Medizinischen Fakultät Hamburg) wird bei Fichtenau, Mensch und Schrift 53, 58 und 63–65, zitiert. 76  Eefje Prankje Wegener, De Betekenis der Grafologie voor de Griekse Papyrolgie (Leiden 1947). 77  Waldemar Schlögl, Die Unterfertigung deutscher Könige von der Karolingerzeit bis zum Interregnum durch Kreuz und Unterschrift (Kallmünz 1978) 215ff. 78  Wiebo Frontjes–Huub Hardy–Rita Ter Kuille-Haller, Een schriftkundig onderzoek van Rem­ brandt signaturen. Oud Holland 105 (1991) 185–208.

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Fichtenau eine souveräne Beherrschung der lateinischen Paläographie79. Ein Versuch, Fichtenaus „Programm“ zu verwirklichen, wird in dem Buch von Malcolm Parkes, „Their Hands before our Eyes“, unternommen. Parkes will durch die Augen von Schreibern und Lesern die kulturellen, politischen und sozialen Kontexte, die bei der Anerkennung der Bedeutung einer Schrift eine Rolle spielen, besser verstehen80. Am Anfang bietet Parkes eine reiche Dokumentation über Schreiber („Scribes in their Environment“) mit Listen von geistlichen und Laienschreibern in England und ihren Handschriften. Am Beginn seines Buches sprach Fichtenau von „einer Anzahl von Begriffen …, die vor dem Eingehen auf die geschichtlichen Abläufe der Schriftentwicklung gestreift werden müssen“81. Parkes bezieht sich auf sein Glossar, wo er Traces, Configuration, Decorum Ductus, Equilibrium und vor allem Graphic Ideas und Personal Idiom definiert82. Wichtig sind seine Hinweise auf die emblematischen Eigenschaften von Schrift83 und auch die Erwartungen von Schreibern und Lesern84. Parkes beschreibt die „new attitude to the decorum of the page“ als Folge der Reform von Latinität unter den Karolingern 85. Die „gotische“ Periode sieht er dadurch charakterisiert, dass „commercial scribes operating in the market assessed and exploited applications of the resources of style and penmanship“86. Schnellschrift wird als „personal idiom“ erkannt87. Die Analyse der Schrift der Reimser Schreiber Hrannigil und Adelrad und von deren Bewegungen in der Zeichnung von Kurven ist für unser Verständnis von Individuum und Schreibschule besonders lehrreich88. Weiters wird die Handschrift des Schreibers verglichen „to a speaker’s ideolect“89, und es kommen Dinge wie grammar of legibility, movements, changes in lettershapes, attention to style und French attitudes to style and decorum in fifteenth century England zur Sprache90. Parkes betont die Möglichkeiten der Selbstdarstellung in der Schrift91. Wie Fichtenau, so behandelt auch Parkes Federschnitt und Seitenbild. Am Ende seines Buchs spricht Parkes von der Individualität der Schreiber in ähnlicher Weise wie Fichtenau bei seinem Versuch eines „Zurückgehen[s] auf den Menschen“92. Ohne Erwähnung von Fichtenau 79   Besprechungen von Joachim Kirchner, Scriptura latina libraria. MIÖG 64 (1956) 97–99; von Chartae Latinae Antiquiores III. MIÖG 72 (1964) 447f., Chartae Latinae Antiquiores IV. MIÖG 77 (1969) 150f.; von Giorgio Cencetti, Compendio di paleografia Latina. MIÖG 77 (1969) 514f.; von Jacques Stiennon, Paléographie du Moyen Age. MIÖG 81 (1973) 433–435; von Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. MIÖG 88 (1980) 372–375; von dems., Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken II. MIÖG 89 (1981) 114. 80   Malcolm B. Parkes, Their Hands before our Eyes. A Closer Look at Scribes (London 2008). 81  Fichtenau, Mensch und Schrift 48. 82  Parkes,Their Hands 149–155. „Graphic ideas: for example the choice of module, ratio of nib-width to minim height, variant forms borrowed from different scripts and, especially, the exploitation of particular elements or resources of style to embellish components of letter shapes, in order to enhance the image of a scribe’s handwriting on the page.“ (152) Alle kursiv gedruckten Wörter sind im Glossar definiert. 83  Ebd. 57–65, 133–140, 144f. 84  Ebd. 133. 85  Ebd. 90. 86   Ebd. 103. 87   Ebd. 123. 88   Ebd. 90f. 89  Ebd. 53. 90  Ebd. 117–119. 91  Ebd. 144: „Handwriting is a versatile medium that has always allowed scribes opportunities for selfexpression.“ 92   Ebd. 145: „the individuality, as well as the skills, of those who handled the pen“. Fichtenau, Mensch



Reflexionen über Fichtenaus „Mensch und Schrift“ 37

hat Parkes ein Pendant geschaffen und den Schreiber anstatt einer Serie von extrapolierten Schrifttypen in den Vordergrund der paläographischen Forschung gestellt. Sein Buch bezeugt nachdrücklich die Stichhaltigkeit von Fichtenaus Unterfangen. Die Lage der Paläographie unter den Hilfswissenschaften hat sich seit 1946 kaum verändert. Sie befindet sich erneut in einer Krise93. Die forensische Untersuchung von Schrift mag die Paläographie bereichern94; die Graphologie will immer noch ihren Platz unter den Wissenschaften verteidigen95. Paul Kirns Besprechung von „Mensch und Schrift“ endet mit dem schönen Satz: „Das Buch ist allen denen zu empfehlen, die selbständig dazu Stellung nehmen können.“ Dies ist wohl das beste Urteil über Fichtenaus Leistung.

und Schrift 217, sieht „den Durchbruch des Individuums nirgends so deutlich wie in den Handschriften der Reformationszeit“. 93  Von einer Krise (so Fichtenau, Mensch und Schrift 18) spricht Albert Derolez, The Palaeography of Gothic Manuscript Books (Cambridge 2003) 2f. 94   Michael Caliguri–Linton A. Mohammed, The Neuroscience of Handwriting. Applications for Forensic Document Examination (Boca Raton 2012). 95  Teut Wallner–Renate Joos, Grundlagen und Methoden der Schriftpsychologie (Norderstedt 2006).





Ego Wolfcoz scripsi? Fragen um Subskriptionen und Schriftvarianten im St. Gallen des 9./10. Jahrhunderts Beat von Scarpatetti

Lassen wir den Blick schweifen über Stätten der Schreibkultur in der Karolingerzeit. Der Reichtum ist eindrücklich. Mit den Scriptoria von Arras, Bobbio, Cambrai, Corbie, Fleury, Freising, Fulda, Köln, Lorsch, Lyon, Mainz, Mondsee, Murbach, Reichenau, St. Emmeram/Regensburg, Reims, St. Amand, St. Denis, St. Gallen, St. Germain, Salzburg, Tours, Verona, Werden, Weissenburg ... sind bei weiten nicht alle genannt1. Angesichts dieser erstrangigen Scriptoriums-Orte möchte ich einmal mehr in Erinnerung rufen, dass mir der kontinuierliche Tanz um das Goldene Kalb St. Gallen bewusst ist, auch als eine stets offene Frage der Bedeutung und Wertung dieser Kulturstätte. Die Schriftzeugnisse des Stifts St. Gallen stellen in der Substanz nicht eigentlich etwas Besonderes oder ganz Außerordentliches dar. Aber sie bilden das quantitativ größte Erhaltungswunder einer eindrücklich geschlossenen Scriptoriumstradition in Europa. Gleichwohl, wer die Heidelberger Ausstellung von 1986 mit den Handschriften der Bibliotheca Palatina noch vor Augen hat, dem haben die europaweiten Zeugnisse höchststehender Schriftkultur auch einen Fingerzeig gegeben, bezüglich St. Gallen, wie der Franzose sagt: Remettre les pendules à l’heure. Aber erhaltungsmäßig und quantitativ ist St. Gallen unübertroffen, und auch qualitativ ist sein Scriptorium beachtlich2. Also erfreuen wir alle uns an der hohen Zahl von 450 erhaltenen St. Galler BuchHandschriften der gesamten Zeit der karolingischen Schrift (7./8 bis 11./12. Jahrhundert) und der 873 erhaltenen Urkunden aus der Zeit des 8. bis 10. Jahrhunderts. Für mein Thema mit der Frage nach der Schreibersubskription eines Textes ist aber relevant, dass unter diesen 450 Handschriften der Katalog der datierten Handschriften (CMDCH) lediglich vier sicher durch sich selbst datierte Codices verzeichnet, und ganze fünf sicher als Scriptoren homologierbare Namen (Winithar, Waning, Adalger, Hartker, Ekkehard IV.)3. 1   David Ganz, Die karolingische Minuskel, in: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart–Lorenz Hollenstein (St. Gallen 2006) 153–155, hier 153. – Abkürzung: CMD – Catalogue de manuscrits datés/Katalog der datierten Handschriften. – In den folgenden Ausführungen ist die Form des mündlichen Vortrages weitgehend beibehalten. 2  Beat von Scarpatetti, Das St. Galler Scriptorium, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter, hg. von Peter Ochsenbein (Darmstadt–Stuttgart 1999) 31–67. 3   Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters

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Angesichts dieser 450 Handschriften gibt es also nicht einmal ein Dutzend Exemplare mit sicherer Jahresdatierung oder mit als Schreiber verbürgbaren Namen. Damit begnügte sich die alte und breite Forschergemeinschaft natürlich nicht. Vielmehr war erst recht das Feld weit offen für die Hypothesen-, Zuweisungs- und Verbindungsfreude der Schule der Zeiten um Bernhard Bischoff, Albert Bruckner und Heinrich Fichtenau, wie wir es am Fall von Wolfcoz gleich näher anschauen werden. Zunächst aber ein Grundgedanke. Wir stehen, verglichen mit den späteren Handschriften der Vor- und Frühmoderne, vor dem unverkennbaren Phänomen, dass die schreibenden Menschen der Zeit zwischen 700 und 1200 in ihren Handschriften fast immer über sich schweigen oder nur Frommes hinschreiben. Man kann das bedauern – aber vielleicht kommen wir nicht um die Erkenntnis herum: offenbar fragen wir das Falsche gegenüber diesen damals schreibenden Menschen? Wir sind ja als Menschen sehr verschieden von jenen Menschen, die damals geschrieben haben. Und fragen etwas anderes, als was sie damals beim Schreiben für wichtig erachtet haben. Das ist zu respektieren und zu akzeptieren. Insoweit müssen wir uns immer vor Augen halten, dass bei unserem modernen Forschen, Fragen und Quantifizieren eine Inkongruenz besteht zu dem, was unsere Vorfahren mit ihrem Schreiben wollten, und demzufolge, was sie in ihre Handschriften schrieben und was nicht. Für meine Ausführungen habe ich drei Fragen formuliert. Frage 1. Sind die St. Galler Codices nach 800 mit der sogenannten „Wolfcoz-Schrift“ (s. Abb. 1 und 2) Zeugnisse eines Individuums oder eines Kollektivs? Das sagen uns die Handschriften selbst nicht. Und eindeutig auch nicht das „Wolfcoz-Psalterium“, der St. Galler Codex 20. Belegbare Fakten kann es angesichts der Natur unserer Vorlage gar nicht geben. Unsere Frage entspricht nicht dem, was uns die Alten, auf dem Pergament geschrieben, zu hinterlassen gewillt waren. Das Psalterium, das die Wolfcoz-Widmungsschrift trägt, zeigt eine Buchschrift aus dem 2. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts, welche in St. Gallen reichlich belegt ist und die Albert Bruckner die „jüngere alemannische Minuskel“ genannt hat4. Caeli enarrant gloriam dei ... (Abb. 2) – leider aber erzählen die Handschriften nichts über sich und ihre Schöpfer, die unsrige nennt nur ihren Dedicator. Der Codex trägt am Schluss folgenden Widmungsvers (siehe unten Abb. 7): Psalterium hóc dominò sempér sancíre curávi / Wolfcoz síc suppléx nómine qui vocitór / Obtestór modò presentés omnésque futúros / Hoc minime hínc tollánt sed stábile híc maneat / prò me fundé precés lectór depósce tonántem / Ut mihi dét uitám síc tibi pérpetuám. Um dem Versmaß leichter folgen zu können, habe ich nach barocker Manier Akzente gesetzt. Zusammengefasst sagt der Vers: Wolfcoz curavit Psalterium sancire. Sancire kann heißen: weihen, widmen, versichern, verordnen, verschaffen, bestätigen, zueignen ... – aber nicht: schreiben. Nun aber zur Schrift. Gemäß elementarem ersten Eindruck, den diese Schrift auf uns macht, lässt sich sagen: es ist eine ausgeprägt charakteristische Schrift. Heinrich Fichtenau konnte es sich bis 1550. Bd. 3: Die Handschriften der Bibliotheken St. Gallen–Zürich in alphabetischer Reihenfolge, hg. von Beat von Scarpatetti et al. (Zürich 1991). Vide die Namen im Verzeichnis der Schreiber auf Seite 281–315, mit Verweisen auf Beschreibungen und Abbildungen. 4  Albert Bruckner, Scriptoria Medii Aevi Helvetica. Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters 2: Schreibschulen der Diözese Konstanz: St. Gallen Teil I (Genève 1936) 13–34, besonders 26–28, und nochmals Teil II (Genève 1938) 14–23, mit der kühnen Hypothese von 100 Schreibern der Frühzeit auf S. 23.



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Abb. 1, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 20, p. 111.

Abb. 2, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 20, p. 38.

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noch leisten, einfach von der „Schrift als Abbild des Menschlichen“ zu sprechen5. Ich stimme dem hier zu. Diese Schrift spricht einen an. Sie kann sehr wohl von einem leitenden Scriptor zurechtgelegt worden sein6. Ihre Charakteristica sind allen augenfällig: sowohl die Buchstabenkörper wie auch Wörter und Zeilen bieten äußerst kompaktes Schriftbild, man möchte es „pyknisch“ nennen. Insbesondere ist der Mittelkörper sehr gedrungen, ferner sind auch das lange S und das F kurz gehalten; sie sind nicht hoch, und stark und weit nach rechts gebogen. Die Schäfte sind generell kurz, auch die Unterlängen von q, p und g geben sich knapp und diszipliniert, nicht ausgreifend. Der junge Forscher Bernhard Zeller hat die Schrift 2006 gut charakterisiert, er bezeichnet sie als einfach und ruhig, an der Vertikalen orientiert, gleichzeitig anspruchsvoll und variantenreich7. Es ist augenfällig, wie sehr das Runde und Weiche diese sympathische Schrift prägt, noch unter Mitwirkung des häufigen cc-a. Soweit zum etablierten Stand des Urteils und Wissens über diese Schrift. Zu Wolfcoz nur kurz, dass sein Name auch in zehn St. Galler Urkunden mit Ego Wolfcoz (Levita) aus den Jahren 816–822 figuriert, allerdings divergieren dort die Schriften völlig, sowohl untereinander als auch zu unserm Codex8. Beim Versuch, die „Wolfcoz“-Schrift ein wenig in ihrem geschichtlichen Kontext zu situieren, gibt es Einiges zu bedenken. Es gibt zeitcharakteristische Passagen bei Heinrich Fichtenau über das Germanische in den frühen Nationalschriften. Aber heute, 66 Jahre nach Fichtenau, stehen wir doch vor einer neuen Forschungs- und Faktenlage. Die Fragestellung ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts nun einmal die nach Daten, Namen, Fakten, auf Grund der schriftlichen Zeugnisse; das bezeugt vor allem die Lancierung eines Repertoriums der datierten Handschriften (siehe unten zum CMD). Das Fragen hat sich heute, seit dem schon strengen des 19. Jahrhunderts, noch intensiviert. Fichtenau hat es noch 1946 thematisch zu einem Maximum ausgeweitet; seither ist es wieder rückläufig. Und da keine durch Belege erhärtete Antworten vorliegen konnten, musste gemäß dem Streben des Positivismus dieses Fragen ab dem 19. Jahrhundert weiter vorwärts drängen in ein Vermuten, Abwägen, Verbinden, Hypothesen erstellen über die Genese eines Codex und über die damals Schreibenden. Die Ansätze waren vielfältig, unter diesen dominiert natürlich das Vergleichen der Schriften und Hände, das ist legitim und notwendig. Für Datierungen und Lokalisierungen von Handschriften gelangte man an Experten der Quellen und an Päpste der Paläographie, im karolingischen Zeitraum vor allem an das „Orakel von Planegg“ – Bernhard Bischoff (1906–1991); Orakel deshalb, weil Bischoff seine Bestimmungen und Zuweisungen nie begründet hat – Bernhardus locutus, causa definita9. Und in der Schweiz wirkte etwa zeitgleich Albert Bruckner (1904–1985), in un  Fichtenau, Mensch und Schrift 3.   Zu Cod. 20 CMD-CH (wie Anm. 3) 258f. Nr. 829, mit den Abb. Nr. 731f.; Bruckner, Scriptoria 2/I (wie Anm. 4) 26f. und Hss.-Verzeichnis 56f.; Scarpatetti, Scriptorium (wie Anm. 2) 44–50. 7  Bernhard Zeller, Wolfcoz und die Wolfcoz-Schrift, in: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter (wie Anm. 1) 156–160. 8  Stiftsarchiv St. Gallen, alle Urkunden ediert in Chartae Latinae Antiquiores. Facsimile-edition of the Latin charters prior to the ninth century 2: Switzerland II, ed. Albert Bruckner–Robert Marichal (Olten 1956), vide die Konkordanz auf Seite XIX; für die Urkunden nach 814: Chartae Latinae Antiquiores. Facsimileedition of the Latin charters. Ser. 2: Bd. 100–106, ed. Peter Erhart et al. (Dietikon–Zürich 2007–2013). Die mit Wolfcoz signierten Urkunden in Bd. 100: Switzerland III, St. Gallen I, hg. von Peter Erhart et al. (Dietikon–Zürich 2006) mit Schreiberverzeichnis auf S. 19. 9   Beat von Scarpatetti, Schreiber-Zuweisungen in St. Galler Handschriften des achten und neunten Jahrhunderts, in: Codices Sangallenses. Festschrift für Johannes Duft zum 80. Geburtstag, hg. von Peter Ochsenbein–Ernst Ziegler (Sigmaringen 1995) 25–56, besonders die Konklusion 52–55. 5 6



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serm Land der Begründer der „Scriptoria“-Forschung, im Gefolge seines Vorbildes Ludwig Traube. In den 14 Bänden der „Scriptoria Medii Aevi Helvetica“ (1935–1978) galten zwei Bände St. Gallen, früh erschienen: 1936–1938. In diesen sind insgesamt 305 Handschriften erfasst oder einbezogen. Unter den frühen karolingischen hat Bruckner rund 50 Codices insgesamt sieben Schreibern zugewiesen; im Besondern hat er zehn Handschriften dem Schreiber Wolfcoz zugewiesen, dessen Name nur in einem Codex, dem unsrigen (Cod. 20) vorkommt. Dazu wies er noch dem, wie er es nannte, „Wolfcoz-Kreis“ weitere 15 Handschriften zu10. Bruckner war eben ein Enthusiast. Warum ich diese alte Forschung zitiere? Ihre Befunde sind zeitbedingt, erwiesen sich gleichzeitig aber als nicht mehr eliminierbar. Sie wurden routinemäßig zitiert, auch wenn sie nicht immer geglaubt wurden. Wenn Wolfcoz alle diese Handschriften geschrieben hätte, wären das rund 3600 paginae. Wenn der Vielbeschäftigte 400 Seiten im Jahr geleistet hätte, kämen wir auf ein Schreiber-Arbeitspensum von neun bis zehn Jahren. Dazu hat Bruckner, nota bene, weitere 15 Codices einem, wie er ihn nannte, „Wolfcoz-Kreis“ zugeschrieben. Konnte Wolfcoz soviel schreiben? Wie lange hat er gelebt? Wie lange war er Konventuale? Als Urkundenschreiber – falls wirklich er es war – ist er maximal sieben Jahre belegt, mit insgesamt zehn Urkunden. Bei der wichtigen Stellung, die ihm immer eingeräumt worden ist, war er viel unterwegs; er urkundete auswärts, hatte Mandate inne, gehörte zu den führenden Konventualen. Zur Arbeit des Schreibens der mehreren Tausend Seiten trat noch die Illuminierung, wem immer diese dann überantwortet wurde. Welchen Schluss dürfen wir ziehen? Das Spektrum der Möglichkeiten ist weit. Wolfcoz kann in leitender Stellung beschlossen haben, das Corpus der liturgischen und pa­ tristischen Handschriften zu erneuern und dafür ein Scriptorium zu bestellen. Er oder ein begabter Scriptor, vielleicht ein Lieblings-Scriptor, können den Schreibstil vorgegeben haben. Alle dem Namen Wolfcoz später zugeschriebenen Codices, also die bei Bruckner involvierten zehn plus die 15 des „Wolfcoz-Kreises“, kann er schwerlich geschrieben haben. Für die von Bruckner enger Wolfcoz zugeschriebene Gruppe von Handschriften ergibt sich als (naheliegende) Konklusion: diese Codices dürfen als im Stil ziemlich persönlich geprägtes Gemeinschaftswerk eines Schreiberkollektivs im klösterlichen Scriptorium gelten. Diese Schreibergemeinschaft war zugleich sehr offen bezüglich Schriftvarianten, wie es vor allem die stilistisch ausfransenden weiteren Handschriften des Bruckner’schen „Wolfcoz-Kreises“ zeigen. Mit dem Bild des „Kreises“ lag er näher am Phänomen Wolfcoz als mit einer stark individual-personenbezogenen Sicht. Von den weniger bekannten Handschriften dieser Gruppe seien daher wenige ausgewählte Beispiele gezeigt. Betrachtet man im Cod. 115 (Abb. 3) diese Schrift des „Wolfcoz-Kreises“ in Relation zu derjenigen der „echten“ Codices, die direkt von Wolfcoz’ Hand stammen würden, so wird im Vergleich zu den massiveren Zügen des Cod. 20 (Abb. 1 und 2) klar, dass wir uns bereits auf einer späteren Nachfolgestufe befinden. Der Kielschnitt ist anders, die Oberschäfte sind länger, der Wortkörper gibt sich schon enger. Aber noch prägt der alte Ductus die Schrift, die Morphologie der Einzelbuchstaben. In der Version des Cod. 113 (Abb. 4) ist die Vertikale stärker betont. Die Ober- und Unterschäfte sind länger. Hier trifft einer der markigen Sätze Heinrich Fichtenaus zu: „Wir können als Germanisch die Kraft der oft verdickten Schäfte ansprechen“, oder an anderer Stelle zum gleichen Thema: „Das Germanentum war immer schon zu Schäften

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  Ders., Schreiber-Zuweisungen (wie Anm. 9), „der Fall Wolfcoz“ 38–42.

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Abb. 3, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 115, p. 1.

Abb. 4, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 113, p. 1.



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nach Art eines solid eingewurzelten Pfahles geneigt.“11 Mit den Zeiten, da man noch so geschrieben hat, verbindet uns nur noch Nostalgie. Weitere zahlreiche Variationen in den 15 Codices des Brucknerschen „Wolfcoz-Kreises“ beeindrucken durch Schriftbilder einer Übergangszeit. Albert Bruckner hat einer Reihe weiterer Schreiber ganze und große Serien von Handschriften zugewiesen. Dies betraf dann allesamt Schreiber, deren Namen in den Buchhandschriften überhaupt nicht vorkommen, sondern nur in Urkunden. Prominent der Name des berühmten nachmaligen Abtes Waldo, vor Bruckner nur aus Urkunden bekannt, um welchen Bruckner im Übrigen Verdienste hat, weil er seine Hand in einer Buchhandschrift aufgespürt und überzeugend nachgewiesen hat. Der quantitativ dominanteste Zuweisungsfall ist bei ihm ein weiterer Urkundenschreiber namens Cunzo (von ihm liegt ein einziges Urkundendatum vor: 824). Diesem hat er neun vollkommen unsignierte und undatierte Handschriften zugewiesen12. Damit nicht genug, er hat hier einen noch größeren „Cunzo-Kreis“ geschaffen, mit sagenhaften 30 Codices. Vergessen wir nicht – das alles geschah in den Dreißigerjahren, als Fichtenaus Ideen für Mensch und Schrift noch in Statu nascendi waren! Bruckner soll, als er lange noch nicht Basler Staatsarchivar war, die Manuskripte für seine Scriptoria-Bände als Adjunkt des Staatsarchivs im Verborgenen geschrieben haben. Er schuf seine Scriptoria ohne amtlich/akademischen Auftrag und ohne eine Institution. Die Sololeistung der Scriptoria mit ihren vielen Tafeln und ihre Drucklegung bei einem völlig unbekannten Genfer Verlag war eine abenteuerliche Pioniertat, und ebenso kühn waren oft auch seine Sichtweisen, seine Kombinationen, seine Hypothesen über dem damals vielfach noch undefinierten Material. Mittlerweile aber, im Gefolge des 2. Weltkrieges, haben die Franzosen das Steuer der Paläographie in die Hand genommen, in einem ganz anderen Stil als jenem der großen deutschen Schulen. Sie haben Fragestellungen und Forschung in eine rational-quantitative Bahn gelenkt und ihr auch ein neues Gremium geschaffen. 1953 haben Charles Samaran und Robert Marichal mit einer Gruppe, darunter Bernhard Bischoff, Albert Bruckner und anfänglich auch Heinrich Fichtenau, das Comité International de Paléographie gegründet. Im gleichen Zug stellten sie diesem eine Aufgabe im besagten rationalen Geist und begründeten den Katalog der datierten Handschriften (CMD) als systematischen „Fichier“ aller datierten Handschriften. 1959 erschien der erste französische Band; zehn Jahre später übrigens Franz Unterkirchers erster österreichischer Band13. Bruckner, der Forscher von Schreiberlandschaften und Kloster-Scriptoria, war aber für alles offen. Nach 1953 hat auch er sein eigenes Paläographie-Segelschiff der Vermutungen, Zuweisungen und Bauchgefühl-Urteile durch ein strammes Motorschiff ersetzt und das Steuer selbst in Richtung Rationalität und Fakten herumgeworfen: Er hat, obwohl noch an den letzten Bänden seiner Scriptoria-Reihe arbeitend, 1969 den CMD-CH begründet, zunächst im Rahmen seines paläographischen Seminars, dann als autonomes Forschungsprojekt; ein erster Band erschien 1977, der dritte schloss es 1991 ab. Schon 1982 wurde in Neuchâtel (CH) das Projekt einer ersten Evaluation durch die Redak-

  Fichtenau, Mensch und Schrift 127 und 180.   Scarpatetti, Schreiber-Zuweisungen (wie Anm. 9), „der Fall Cunzo“ 45–49. 13  Gesamtverzeichnis aller in bisher zehn Ländern erschienenen Bände in: http://www.palaeographia.org/ cipl/cmd.htm (eingesehen 25. 5. 2014). 11 12

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Abb. 5, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 165, p. 278.

torInnen selbst unterzogen14. Mittlerweile ist es in der Paläographie allerdings so, dass diese streng cartesianisch-rationale Versessenheit auf Daten allgemach überholt erscheinen kann. In dieser Konstellation beeindruckt die Lektüre des Fichtenau-Bandes wieder durch eine gewisse Weite, durch denkerische Freiheitlichkeit und Modernität. Freilich: dorthin zurück können wir so nicht mehr, viele und wichtige Partien in diesem unter prekären Umständen verfassten Werk sind zu spekulativ. Leicht war es nie zu entscheiden, was in den Handschriften all die Namensnennungen in variierter Form, meist am Schluss der Texte, nun bedeuten sollten. Als wir in St. Gallen für den CMD-CH unter Prälat und Stiftsbibliothekar Johannes Duft in den 1970er Jahren Handschrift für Handschrift, Signatur für Signatur durchzugehen hatten und dabei, im Bereich der karolingischen Handschriften, auch die einschlägige Literatur der genannten Hohepriester Bischoff und Bruckner zu berücksichtigen hatten, standen wir viele Male vor Phantomschreibern und Phantom-Scriptorien, und bei allen vorkommenden Namen war darüber zu befinden: ist das eindeutig der Schreiber? Für die karolingische Zeit steht fest und ist bekannt, dass am Schluss der Texte eine individuelle, explizite Selbstnennung des Schreibers die Ausnahme bildet; sie war allgemein nicht Usus. Die Regel ist das Schweigen oder eine Gebetswendung und im gegebenen Fall eine Widmungs- oder Weiheformel an den Klosterpatron oder einen hohen Prälaten oder Fürsten. Nehmen wir als elementares Forschungsfeld die dafür bestimmten datierten Handschriften; allein im dritten Schweizer Band, besonders unter den dominierenden St. Galler Handschriften, verzeichne ich ganze fünf klare, explizite Selbstnennungen als Schreiber. Unter diesen wiederum kommt das Wort „scribere“ ein einziges Mal vor (fast scheint es, das Wort sei vermieden worden). Am Schluss eines Psalmenkommentars Augustins steht sehr lakonisch: Waningus scripsit (Abb. 5).

14  Les Manuscrits datés. Premier bilan et perspectives – Die datierten Handschriften. Erste Bilanz und Perspektiven. Neuchâtel 1983, hg. von Geneviève Grand–J. P. Gumbert–Denis Muzerelle–Beat Matthias von Scarpatetti (Rubricae. Histoire du livre et des textes 2, Paris 1985).



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Diese elementare Subskription ist glaubhaft, gemäß allen Kriterien15. Vielleicht ist sie erfolgt, weil der Schreiber von auswärts stammte? Waningus ist ein westfränkischer Name, welcher fortlebt im französisierten Vaneng; ein Saint Vaneng hat im 7. Jahrhundert das Kloster Fécamp in der Normandie gegründet. Neben den fünf als sicher geltenden St. Galler Schreibern liegt das breitere Feld der Schreiberschaft-Option. Auf Grund frommer Widmungsverse und weiterer vager Elemente sind im CMD 28 Namen festgehalten. Hier waren die strengen Kriterien des CMD besonders angebracht, da ein für alle Mal die klaren Linien gezogen wurden. Kein einziger der 28 Namen wird als Schreiber geführt, aber alle sind sie in einem speziellen Kapitel der offenen, zweifelhaften Schreiberschaften ebenfalls verzeichnet und dokumentiert. Sie ergeben ein wahres frühdeutsches Namenbuch: Folchart, Sintram, Rifine, Kerhart, Regimar, Ratger, Werinbert, Notker (es gibt eine ganze Gruppe), Ruotpert, Adelgoz, Wolfhein, Oltadel ... und so fort16. Für die alte Schule, enthusiastisch und affirmativ wie sie war, waren viele davon gut und gerne Schreiber, haben also Folchart den FolchartPsalter, Wolfcoz das Psalterium in der Wolfcoz-Schrift eigenhändig geschrieben. Wo liegt die Wahrheit, zwischen dem cartesianischen Doute méthodique und dem affirmativen Enthusiasmus? – Wohl schon irgendwo in der Mitte, wir sind ja nicht fanatisch. 2. Frage: Warum eigentlich wurde in St. Gallen die perfekt ausgeformte alemannische Minuskel durch die karolingische ersetzt? Am Schluss des bereits besprochenen Psalteriums Cod. sang. 20 findet sich dieser Widmungsvers in karolingischer Schrift, der den Namen Wolfcoz nennt. Diese Partie mit der Widmungsschrift ist das Schlüssel-Bild am Scharnier zweier Epochen, Dokument eines Übergangs. Forschungsgeschichtlich pikant ist, dass in Bruckners Scriptorienband kein Wort steht über diesen Schriftwechsel, also, dass die Widmungsverse in einer andern Schrift als der des ganzen übrigen Codex stehen17. Er hat diese Handschrift und alle genannten zehn Codices und auch die 15 Codices des weiteren Kreises gesamthaft mit „Wolfcoz“ abgestempelt. Das war schicksalshaft, denn es ist stets übernommen worden und bis heute geblieben, in den „E-Codices“ von St. Gallen ist Bruckner immer die erste Literatur-Angabe. Keine kritischen Raisonnements werden dieses Epitheton „Wolfcoz“ je mehr zu beseitigen vermögen. Und dennoch – wir haben zunächst unbeirrt festzuhalten, dass der Name Wolfcoz selbst, der dieser Jüngeren Alemannischen Minuskel ihren Namen gegeben hat, gar nicht in Form dieser Schrift im Buch steht! Sondern in Carolina. Und ebensowenig stehen die von Wolfcoz subskribierten Urkunden in Wolfcoz-Schrift. Fragen wir also ganz unvoreingenommen: was ist da geschehen? Hat ein späterer Nachtragsschreiber in lupenreiner St. Galler Carolina dem verehrten Wolfcoz einen Memorialvers hingesetzt, wonach Wolfcoz eben dieses Psalterium St. Gallen verschafft habe? Oder hat Wolfcoz mehrere Schriftstile geschrieben? Das ist gut möglich. Wollte er seinen Dedikationsvers in antikisierendem Latein, in den poetischen Hexameterversen der karolingischen Renaissance und in deren neuer Schrift hinsetzen? Und die Zäsur durch die auffälligen vier leeren Zwischenlinien betonen? Ein freies Feld ist offen für paläographische Interpretationen und Hypothesen. Ich persönlich konnte   CMD-CH III (wie Anm. 3) 242 Nr. 743 mit den Abb. 725f.   Im St. Galler Band des CMD findet sich das größte Kapitel überhaupt der „Zweifelhaften Fälle / Douteux“ betreffend Datierungen und Schreibernamen, vide CMD-CH III (wie Anm. 3) 257–271 (Kapitel III). 17   Zu Cod. 20 in den Scriptoria siehe Anm. 6. 15 16

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Abb. 6, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 20, p. 327.

mich nie entschließen, zu behaupten, diese beiden Schriften stammten von einer und derselben Hand. Nun aber gilt heute auch: Hommage à Fichtenau! Wir gehen zu den Hintergründen, zum Kontext, zum geschichtlichen Umfeld dieser Herausforderung, mit Fichtenau tragen wir den „Tatsachen des Völkerlebens und des Weltverkehrs“18 Rechnung. Wenn wir Wolfcoz als Kanzlisten datieren, so fällt er als stilistisch sehr divergierender Urkundenschreiber in die sieben Jahre 816–822. Wir müssen nun zeitgeschichtlich etwas ausgreifen, bis in die politische Geschichte. Die Ausschaltung der alemannischen Herzöge und Vasallen durch die Karolinger, die schon nach 700 begann und durch Karlmann ihren Schlusspunkt in der Katastrophe von Cannstatt vom Jahre 746 fand, deren Ausmaß offen ist, lag erst gut 70 Jahre zurück19. Noch etwas weniger lang gilt dies für die Gefangennahme, Drangsalierung und Exilierung des St. Galler Abtes Otmar, eines Alemannen, der mit diesen sympathisierte, durch karolingische Granden von 759 – also nur zwei Generationen trennten den Konvent von 820 von diesen Geschehnissen20. Nun aber sind wir   Fichtenau, Mensch und Schrift 11.   Dieter Geuenich, Geschichte der Alemannen (Stuttgart 22005) bes. Kap. V.5: Die Alemannenherzöge als Gegner der karolingischen Hausmeier, S. 103–108 und 174 (Register); Thomas Zotz, Art. Cannstadt, Gerichtstag von (746). LMA 2 (1983) 1436f.; Gunther G. Wolf, Das sogenannte „Blutgericht“ von Cannstatt 746. AfD 44 (1998) 1–5. 20  Johannes Duft et al., Die Benediktiner in der Schweiz. St. Gallen, in: Frühe Klöster, die Benediktiner und Benediktinerinnen in der Schweiz (Helvetia Sacra III/1/2, Bern 1986) 1266–1268. 18 19



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mit der Krönung Ludwigs des Frommen in Aachen 813 durch Karl den Großen, mit der Synode von Aachen wenige Jahre danach (deren Datierung variiert) in einem Zenith der Reichspolitik und der Klosterreform, im Rahmen welcher die Benediktregel für die Zönobien obligatorisch wird und etwa das Kloster Fulda zwangsreformiert wird. Die Ordinatio Imperii, in welcher Benedikt von Aniane für die Reorganisation des Klosterwesens zeichnet, wird als Höhepunkt der Einheits-Reichspolitik bezeichnet21. Analoges zeigt die Konventsgeschichte: Abt Gozbert, Erbauer der neuen Basilika, erhielt 816 Privilegien von Ludwig dem Frommen, und ihm ward aus der Reichenau auch der St. Galler Klosterplan gewidmet22. Wenn der Wolfcoz-Psalter gemäß den Urkunden in diesem Zeitraum zu datieren ist: war dann der Moment gekommen, da die alte Minuscula Alemannica Schnee von gestern war und der neuen Schrift weichen musste? Also quasi, dass, wie es Fichtenau anmahnte, „Höhepunkte der Staatlichkeit auch Höhepunkte der Schriftentwicklung“ waren23? Dies mag hier als plausibel scheinen. Wenden wir uns aber noch dem Graphischen zu. Hier plädiere ich für enge Nähe von Text-Genus und Schriftwahl. Die Wolfcoz-Schrift war ganz dem Sakralen und Feierlichen gewidmet: ausschließlich Liturgica, Biblica, Kirchenvätertexten galt ihr Inhalt. Und noch in diesem Hoheits-Reservat war für diese atavistische Schrift die Stellung offenbar schwer zu halten. Dies zeigt ein signifikantes Beispiel eines Abdriftens von der ursprünglich vorgeschriebenen Musterschrift.

Abb. 7, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 121, p. 1.   François Ganshof, Observations sur l’Ordinatio imperii de 817, in: Festschrift Guido Kisch. Rechtshistorische Forschungen. Anläßlich des 60. Geburtstags dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern (Stuttgart 1955) 5–31. 22  Helvetia Sacra III/I/2 (wie Anm. 20) 1272f. 23   Fichtenau, Mensch und Schrift 24. 21

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Der Hieronymus-Bibelkommentar war offensichtlich vom Vorschreiber in Alemannica introduziert; dieser muss ab Mitte der 3. Textzeile (ohne Titelei) ab dem Wort legere den Gänsekiel den Amanuenses des Scriptoriums überlassen haben, mit dem Effekt, dass diese Juvenes Richtung Carolina drifteten. Die noch ziemlich formsichere Strenge der Zeilen 1–7 ist aufgegeben, auch im Rest der Handschrift. Dieser Schriftwechsel mutet wie ein Vorausblick auf die Wolfcoz-Zeile im Cod. 20, allerdings stehen sich dort zwei Schriften qualitativ gleichwertig gegenüber.

Abb. 8, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 121, p. 36.

Eine Hybrida-Partie im gleichen Codex (Abb. 8) illustriert schriftmorphologisch den Übergang von Alemannica zu einer frühen Carolina. Hier drängt sich die Frage auf, ob es damals im Scriptorium Mode war, in beiden Schriften zuhause zu sein; ich möchte das sehr vermuten. Weiter unten im gleichen Codex 121 (Abb. 9) sind wir bereits bei der Carolina angekommen, in einer frühen Version. Die starke Schräglage bringt uns in die Nähe einzelner Hände der St. Galler Turonenser Bibel, von der gleich zu sprechen sein wird. Fassen wir zusammen: die jüngere Alemannische Minuskel war zu Eingang des 9. Jahrhunderts eine stilistisch vollausgereifte, sehr schöne Schrift, stark vereinfacht, gut lesbar, in der Schreibschule gut lehrbar, und auch raummäßig verhältnismäßig sparsam, da sehr gedrungen, wenngleich sie nicht eng geschrieben wurde. Und vor allem war sie, wie ich meine, sehr eigenständig sankt-gallisch. Obwohl später auch die St. Galler Carolina für den Kenner der Szene sofort erkennbar ist, hatte diese nie den Originalitätscharakter der St. Galler Alemannica. Aber deren Anwendungsbereich war offenbar zunehmend begrenzter.



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Abb. 9, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 121, p. 218.

Und das Schreibtempo war langsamer, da die ganze Schrift durchaus kalligraphisch, nicht funktionell-tachygraphisch ausgerichtet war. Ein Hauptvorzug der neuen Carolina war aber gerade ein zu vermutendes höheres Schrifttempo, ein schmalerer Kielschnitt, ein anderer Schriftwinkel, eine mehr vorwärtsstrebende Rechtsschräge. Auch Fichtenau redet von einer „Abkehr von Monumentalität“24. Diese Elemente prägten denn auch stark das Jahrhundertwerk der „Bible de Tours“, einem auf Alkuin und seiner Schule beruhenden VerbreitungsInstrument der Textreform, von welcher ein Exemplar nach St. Gallen kam. Leider ist sie schwer zu datieren; man kann sie aber sicher vor 830 ansetzen. Wir wenden uns kurz diesem ca. zehn Jahre später in St. Gallen eingetroffenen gallischen Import-Modell aus Tours zu. Dieses Monumentalwerk mit der ganzen Textmasse der Vollbibel wird eindeutig weniger voluminös und sehr rasch geschrieben. Das Ganze wirkt partienweise sogar kursivnahe, ist es aber graphisch nicht (Abb. 10 und 11). Die damaligen „Franzosen“, also die Westfranken, haben die Carolina nicht immer rechtsschräg geschrieben, wie man im CMD-F häufig feststellen kann25. Die Hände im Cod. 75, dieser St. Galler „Bible de Tours“, gehören zum Faszinierendsten, sind aber noch keineswegs untersucht, wie der ganze Codex – als Desiderat ist das überfällig. Einzelne Hände wirken nachgerade preziös, viele arbeiten extrem raumsparend und tendieren zur Vertikalen, samt starker Elongierung.   Fichtenau, Mensch und Schrift 146.   Beispiele im CMD-France: Catalogue des manuscrits en écriture latine portant des indications de date, de lieu ou de copiste. Bd. VII: Ouest de la France et pays de Loire, hg. von Monique-Cécile Garand et al. (Paris 1984) 355 Taf. I (St. Benoît sur Loire, nach 817); 233 Taf. I (St. Martin de Tours, vor 834). 24 25

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Abb. 10, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 75, p. 735.

Abb. 11, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 75, p. 677.



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Andere Hände schreiben wieder mit dickerem Kiel (Abb. 11); diese Züge stehen generell dem Ductus auf Reichsgebiet (östlich des Rheins) näher. Das scriptoristische Fazit des eindrücklichen Gemeinschaftswerks der Turonenser Bibel ist: hier sind Professionalität, Eleganz und Effizienz in singulärer Weise verdichtet.

Abb. 12, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 77, p. 11.

Der schicksalsträchtige Schluss wurde auch für St. Gallen nach der Jahrhundertwende unumgänglich: die Scriptura alemannica musste weichen. Der „Mainstream“ ging ab 820 in Richtung Carolina; wer mithalten wollte, hatte sich ihm zu fügen. Aber es bleibt für St. Gallens Eigenständigkeit ein Trost. In der sakral-kalligraphischen Version wurde dann die St. Galler Carolina selbst wieder stärker eigenständig, gesetzter, gemütvoller sozusagen. Dies zeigt die unter Abt Hartmut (872–883) erfolgte Abschrift der Turonenser Bibel (Abb. 12). Im feierlich-ruhigen Ductus dieser Zeilen, eindeutig einer Reformschrift, schwingt immer noch eine Erinnerung an die Alemannica, angesichts einer gewissen Gedrungenheit und auch Solennität. Sie erinnert an das Dictum Fichtenaus: „Der vollendete kapitale Buchstabe ist ... ganz Sein, der gotische ganz Wollen“26. 26

  Fichtenau, Mensch und Schrift 99.

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3. Frage: Blieb in St. Gallen das Spannungsfeld Individuum – Kollektiv bestehen, auch in der folgenden Ära der karolingischen Schrift, im 9. und im 10. Jahrhundert? Die Antwort ist Ja. Das Kollektiv im Scriptorium dominiert nach wie vor, auch in der hoch- und spätkarolingischen Zeit. Wir wählen zur Illustration bewusst ein Beispiel aus der Zeit um 900, einer Phase, in der sich St. Gallen als Scriptorium und als Kulturstätte bereits eine Reputation geschaffen hatte. Es ist ein Beispiel noch aus dem Übergang vom ausgehenden 9. zum 10. Jahrhundert. Im Cod. 672 finden wir eine Gruppe von Schreibern vor, die uns nach wie vor mit der Frage konfrontiert: Wer hat nun wirklich was geschrieben? Ins Bild rückt ein noch berühmterer Name als Wolfcoz, der eines Notker und seiner Schreibgefährten – wir wissen aber nicht, wer dieser Notker wirklich war. Eine kleine Schreibergemeinschaft um Notker schreibt in einem Band mit Texten der frühen Konzilien und mit Bibelkommentaren. Der ganze Cod. 672 ist Gemeinschaftswerk sich abwechselnder Schreiberhände, aber das Besondere ist, dass – ganz ausnahmsweise / oder erstmals? – einer der Schreiber, namens Notker, sich explizit zu Anteilen des Geschriebenen äußert. Es ist schon befunden worden, es handle sich um die Hand des Notker Balbulus; dies erscheint aber als nicht möglich27.

Abb. 13, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 64.

Hucusque patrauit Notker: Hier stehen wir einmal vor einer expliziten Botschaft der Handschrift über deren Schreiber. Bleibt noch zu entscheiden, ob wir sie glauben wollen. Diese Pars a Notkero patrata besteht aus vier zeitgenössisch numerierten Lagen, also Quaternionen. Jedes der vier Schriftbilder, auf jeweils 16 Seiten, ist aufschlussreich. Diese erste Lage der Handschrift (Abb. 14) beginnt offensichtlich mit einer Vor-Schrift, vielleicht des Schreibmeisters. Nach Theopolitane magne übernimmt eine andere Hand. Die 27  Susan Rankin, Ego itaque Notker scripsi. Revue Bénédictine 101 (1991) 268–298, zu unseren Handschriften 272f., 280–286, 296. Dazu bereits CMD-CH III (wie Anm. 3), Schreiberverzeichnis 305 und besonders 53f. Nr. 146 mit den Abb. Nr. 7–11, und nun die vorliegenden Darlegungen.



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Abb. 14, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 6, 1. Lage.

Abb. 15, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 17, 2. Lage.

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Vorlagehand erinnert sogar ein Quentchen an den st. gallischen Bibel-Codex 77 (siehe oben Abb. 12). Zu bedenken bleibt aber: Wenn es Notker Balbulus, der Sequenzendichter Notker der Stammler wäre, un homme des lettres, so bräuchte dieser doch keine Vorschrift eines Schreibmeisters oder wessen auch immer! Dazu tritt noch der Verschrieb: Domnino. Die zweite Lage (Abb. 15) ist im Bild der Schriftzüge die meist st. gallische28 unter den vier; als Beispiel der oft nach links abgebogene Mitteldorn des m und die ausgeprägte Oberlinie des Schrift-Mittelkörpers. Gegenüber der nachfolgenden Lage ist hier der Zuschnitt der Kielfeder breiter und divergierend.

Abb. 16, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 33, 3. Lage.

Diese Partie, die dritte Lage (Abb. 16), steht quasi vertikal da und divergiert am stärksten. Unter den diversen Schreiberfehlern der Handschrift ist auf unserem Bild Incolomem statt incolumem sichtbar; Notker Balbulus wäre ja ein erstklassiger Lateiner gewesen, auch als Schreiber. Diese vierte Lage (Abb. 17) verkörpert wiederum einen ganz anderen Ductus und Federschnitt, ferner zeigt die Schrift mehr Rechtsschräge. Zu vermerken ist schließlich, wie die folgende Abbildung (Abb. 18) zeigt, dass die Nota am unteren Rand nicht die einer der Hände der vier Lagen ist. Dieser letzte Vermerk in der Handschrift hält fest: Von hier fürwahr durch fünf Jahre vom vierten Jahr des Abts Bernhard bis zum vierten Jahr des Abts Salomon ist das alles gemeinschaftlich erarbeitet (in commune patratum) (Abb. 18). Das Gesamtbild der vier Lagen ergibt bezüglich der Schriftzüge einen Eindruck ziem28

  Zu den spezifischen Eigenschaften der St. Galler Schrift Scarpatetti, Scriptorium (Anm. 2) 52–55.



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Abb. 17, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 49, 4. Lage.

Abb. 18, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 672, p. 64, Schreibernotiz.

licher Disparität. Das Ganze berührt wie ein Versteckspiel. Abgesehen davon, dass hier nicht Notker Balbulus im Spiel gewesen sein kann, erscheint es mir schwer nachvollziehbar, dass dieser Notker die pp. 1–64 ganz allein geschrieben hätte. Wenn es eine Hand war, könnte man in der Not noch Rückgriff nehmen auf ein Schreiben mit sehr langen Pausen zwischen den Lagen. Aber warum? So riesig sind die Texte der vier Quaternionen nicht. Der Vermerk lässt also Fragen ungelöst. Nach meiner Erfahrung und Meinung ist dieser präsumptive Notker-Abschnitt, die vier Quaternionen pp. 1–64, nicht von einer Hand geschrieben, a) wegen der Verschie-

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Beat von Scarpatetti

denheit in Ductus und Buchstaben-Morphologie der vier Lagen, b) wegen der seltsam anmutenden Vorschrift der 8¼ Linien zu Textbeginn (Abb. 14). Sodann ist zu fragen, ob es sich hier nicht um Übungs- oder Prüfungsarbeiten des Scriptoriums gehandelt habe. Etwa mit diesem Notker als Schreibmeister des Scriptoriums. Ein gleicher Befund findet sich auch seitens der jüngeren Forschergeneration in der St. Galler Katalogisierung, in der Handschriftenbeschreibung, erarbeitet ohne Einfluss des Unterzeichneten29. Zu diesem Befund der disparaten Hände kommt ein Element, das bislang noch niemand bedacht hat: indem die Datierung dieser Schreiberschaften nach Äbte-Regierungszeiten Bernhard und Salomon angegeben wird, muss sie doch wohl eher ex post, Jahre darnach, erfolgt sein? Bernhard war Abt 883–890, Salomon 890–919. Das erklärte auch die Divergenz der Schrift der Notae und jener der Haupttexte, also: der ganze MarginalVermerk mit feiner Feder ist später und damit „historisch“. Zudem bleibt in der Zeitrechnung dieser Äbte-Regenzen ein Spielraum von zwei Jahren offen. Sei ihm, wie ihm wolle, es ist ungefähr so, wie wenn heute ein Mitglied des IÖG sagen würde: Ja, diesen Text habe ich in Zeiten von Bruno Kreisky geschrieben. Ich fasse zusammen: wir stehen auch hier fraglos vor einem Schreiberkollektiv, und die hier vorhandenen Aussagen (solches ist ja die Ausnahme) decken sich schlicht nicht mit dem, was unsere Augen an den verschiedenen Schriftbildern feststellen. Stets noch hat, auch am Ende des 9. Jahrhunderts, das Kollektiv die Überlegenheit vor dem Individuum, und diese Rangordnung gilt noch bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts.

Konklusion In Konklusion zur dritten Frage, und auch zur ersten nach dem Wolfcoz-Schreiberkollektiv, darf gelten: Mensch und Schrift, Individuum und Kollektiv, Einzelpersönlichkeit und Allgemeinnorm sind als echte Spannungsfelder in der ganzen karolingischen Ära vom 8./9. bis zum 11./12. Jahrhundert gültig und wirksam. Dabei ist das Kollektiv mehr prägend als das Individuum. Das letzte Bild des Cod. 672 mit dem Vermerk: In commune patratum nennt das erstgültige Prinzip: gemeinsam erarbeitet. Das ging fallweise noch über 200 Jahre weiter! Zu erinnern ist nur etwa an das Engelberger Scriptorium unter Abt Frowin (1147–1178), dessen Handschriften in einer zur Prägotica tendierenden, noch sehr einheitlichen Spätcarolina die gleichen Fragen betreffend Einzelschreiber und Schreibschule aufwerfen, also noch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts! Allerdings war mit dem Engelberger Fall endgültig Matthaei am Letzten, auch hoch in den Vor­ alpen. Konsequenterweise äußert und manifestiert sich auch das schreibende Individuum allmählich in den Jahrhunderten 13.–16., in einer vom Verfall klösterlicher Gemeinschaften und Scriptorien gezeichneten Ära, gezeichnet aber auch vom Beginn der Moderne, dem Aufkommen der Renaissance, gemäß Jacob Burckhardt der Entdeckung des Men29   Katalogeintrag zu Cod. 672 in Philipp Lenz, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Abt. V, Mss. iuridica, Codd. 670–749 (St. Gallen 2014) 13–17 mit seiner Hand-Einteilung unserer Partien: „Karolingische Minuskel der 2. Hälfte des 9. Jhs., charakteristisch für St. Gallen, von mindestens 6 Händen, in dunkelbrauner und brauner Tinte, p. 65–136 mit vielen und teilweise handunabhängigen Tintenwechseln: 1. Hand (...) p. 6, Zeile 1–12; 2. Hand p. 6, Z. 12 – p. 16 (1. Lage); 3. Hand p. 17–32 (2. Lage); 4. Hand p. 33–48 (3. Lage); 5. Hand p. 49–64 (4. Lage); 6. Hand p. 65–112 (5.–7. Lage).“ Philipp Lenz hat in der 1. Lage auch die 12 Zeilen Vor-Schrift erkannt.



Ego Wolfcoz scripsi? 59

schen als eines Individuums. Ein schreibendes Individuum wird also in der karolingischen Ära, in dieser hohen Zeit kollektiven Schreibens und Schaffens nur ausnahmsweise, mehrheitlich nicht so leicht, und nie mit ganzer Sicherheit „definiert/deklariert“ werden können; dies noch dann, wenn – in sprachlich bewusst allgemeiner Form – Namen genannt werden. Der Satz: In commune patratum ist daher ein Mahnmal in unserer heute exzessiv individualistischen, ja egoistischen Zeit. Es gab im karolingischen Scriptorium begabte Leute, die anonym geblieben sind, ihren Namen und ihr Ich zugunsten einer Gemeinschaft zurückgestellt und sich selbstlos und auch demütig in einen Formenkanon eingefügt haben. Heinrich Fichtenau schreibt30, dass eine wertvolle Textvorlage die Persönlichkeit des Schreibers zum Mitschwingen brachte, und so wurde „durch den lebendigen Bezug zum Kanon das Schreiben zu einem Kollektiv-Erlebnis“.

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  Fichtenau, Mensch und Schrift 51.





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Nicht nur der Historiker kennt den Spruch von der Geschichte als Lehrmeisterin der Gegenwart und nicht nur von diesem wird er vor dem Hintergrund erfahrenen Geschehens – des politischen wie des privaten – in Frage gestellt. Weniger bekannt ist die Umkehrung dieses Satzes, die der bedeutende österreichische Volkswirtschaftler Friedrich von Wieser (1851–1926) vorgenommen hat1: Geschichte sei wohl Lehrmeisterin der Gegenwart, doch ebenso auch die Gegenwart Lehrerin bei der Erkenntnis vergangener Zeiten2. Aus dem Pulsschlag der eigenen Zeit entwickelt der Historiker eine spezifische, vielleicht schärfere Durchleuchtung des vorhandenen Quellenmaterials (von neuen Hilfsmitteln und neuen Funden gar nicht zu reden) und schafft eine gegenwartsnahe Sicht der Vergangenheit, ohne modernes Gedankengut in die fremde Welt vergangener Epochen zu verpflanzen. „Gegenwartsnahe, nicht gegenwartsverfälscht“ sollen die Ergebnisse einer solch neuen Sicht sein3! Im Grunde scheinen uns derartige Forderungen weder neu noch kann man sich vor ihrer Gültigkeit verschließen. Dennoch werden jene weitgehend missverstanden, und viele Historiker, die in der Überzeugung von der absoluten Richtigkeit heutiger Regeln und Anschauungen werken, tragen die Gegenwart in die Vergangenheit hinein und stecken diese in ein modernes Gewand. Was für die Maler des Spätmittelalters damals zeitgenössische Kleidung, Rüstung, Bewaffnung, Behausung in weit zurückliegenden biblischen Szenen ist, scheint dem modernen Historiker vielfach eine Sichtweise gespeist aus den geistigen und sozialen Kriterien unserer Zeit, nicht im Sinne von Hilfsmitteln, sondern von einer Deutung aus den zur Verfügung stehenden Quellen. „Gegenwartsnah“ wollte Heinrich Fichtenau die von ihm erforschten Perioden der Geschichte verstehen und verstehen helfen. Mit modernen Methoden, in moderner Betrachtungsweise wollte er eine Welt zeigen, die aus sich selbst zu erklären ist, zu erklären aus dem Handeln, Denken und Glauben der Menschen, die sie letztlich ausmachen4. Ihr Zeitzeuge versuchte er zu sein, bei aller Berücksichtigung der zeitlichen Gebundenheit des Wissenschaftlers. „Welt“ und „Mensch“: das waren die untrennbaren Zielpunkte seiner Forschungen. „Welt“ hat ja ursprünglich eine Zeitdimension: wer-alt heißt althoch1   Friedrich von Wieser war Professor an der Universität Wien und 1917/1918 österreichischer Finanzminister. Als Volkswirtschaftler gehörte er zu den Hauptvertretern der so genannten Grenznutzenlehre. 2  Dazu auch Ernst Kornemann, Römische Geschichte, in: ders., Gestalten und Reiche. Essays zur Alten Geschichte (Wiesbaden 1943) 134–168, hier 134. 3   Ebd. 134f. 4   Fichtenau, Lebensordnungen 5.

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deutsch „Menschenalter“5, wird aber bald zur Einheit des Seienden in räumlicher Hinsicht, zum Daseinsraum des menschlichen Lebens, für den Historiker jedoch zur Bühne samt den darauf Agierenden, die auftreten und wieder abgehen, während sich das Bühnenbild ändert. Um sich in der Welt zu etablieren braucht der Mensch Ordnung, besser Ordnungen. Sie stellen sich in Gruppen, Institutionen, Verbänden dar, scheinbar ipso facto aus der existenziellen Notwendigkeit oder bewusst durch menschliche Einteilung geschaffen. Darin fand sich der Mensch aufgehoben, als deren Mitglied identifizierte er sich, weit – aber nicht ganz – weg vom Individualismus unserer Gegenwart. Von dieser Anschauung ging Fichtenau aus, aber es genügte ihm nicht den Menschen der Vergangenheit nur als austauschbaren Träger kollektiven Seins, als Exponent von Gruppen und deren starren Regeln zu sehen. Ein Unterschied im Tun und Denken, im Bewirken und Versagen war auch im Rahmen fester Ordnungssysteme gegeben und konnte entdeckt und erfasst werden: Nur so war es möglich den Menschen in seiner Welt zu erkennen, menschlich eben in seinem Ungenügen, in seiner Fügsamkeit, in seinen Ansätzen die Welt zu verändern, aber auch in seiner vielfach existenziellen Gleichförmigkeit. So findet man Menschen, die mit den Erscheinungen der Welt übereinstimmten und sie problemlos gestalten konnten, und Menschen, die scheiterten, weil sie mit den Gegebenheiten nicht zu Rande kamen, aber auch, weil sie nicht im Stande waren sich eindeutig zu positionieren. Fichtenau betrieb keine „integrative Forschung“, deren Ziel auf die Herausarbeitung allgemeiner Prinzipien einer historischen Periode gerichtet ist, der Einzelphänomene lästig und störend sind, unerheblich, nur als Summe für die leicht erkennbare Gesamtheit brauchbar6. Demnach scheint es möglich die Fülle der Erscheinungen auf eine Grundform zurückzuführen. Prinzipien bestimmen die Geschichte, Menschen, welcher geistigen und sozialen Stellung auch immer, sind nur deren Ausführende. Eine derartige, hinter aller Gelehrtheit im Grunde recht einfache Geschichtsmorphologie lag Fichtenaus Denken und Forschen fern. Er war überzeugt, dass man letztlich nicht bei einem grenzenlosen Positivismus stehen bleiben durfte. Man musste den Bezug des Einzelnen zur Ordnung suchen, nur dann war es möglich historische Zusammenhänge zu begreifen, wenn auch immer in begrenztem Sinne7. Einzelschicksale über ein ganzes Leben hin zu verfolgen und sie mit dem Ganzen der jeweiligen Epoche zu kontrastieren war für das frühere Mittelalter, Fichtenaus bevorzugtes Forschungsgebiet, nicht möglich. Erkenntnisse liefern konnte jedoch der biografische Moment, wenn man ihn zu dem vorgegebenen Ordnungszwang in Beziehung setzte. Was war daran typisch und spiegelte die Abhängigkeit des Menschen, welches Verhalten hingegen ging an die Grenzen? Wie war es möglich Ordnungskonflikten auszuweichen, und wo riskierte man die Selbstzerstörung? Eine Revolution in heutiger Bedeutung des Wortes konnte es gegen die Herrschaft der ordines zu jenen Zeiten nicht geben, eine Reform schon, die ja den „gottgewollten Zustand“ herbeiführen musste8. So konnten Menschen die Ordnung umgestalten, Menschen, die oft an den Rändern des scheinbar abgegrenzten Systems zu Hause waren und sich neue Identitäten schufen! Zu einem Individualismus in unserem Sinne gelangten die Menschen jener frühen Jahrhunderte deswegen aber nicht, ihre Existenz hing von den Kriterien der jeweiligen Ordnung ab, doch innerhalb dieser   Im Sinne von „Menschenzeit“; vgl. englisch wor(o)ld.   Fichtenau, Walter Ullmann 403. 7  Fichtenau, Vier Reichsbischöfe 96. 8   Fichtenau, Lebensordnungen 567f. 5 6



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Grenzen entwickelten sie eine Vielfalt von Formen des Lebens und Erlebens, denen das Interesse Heinrich Fichtenaus galt. Eine einförmige, pastose, auf Schlagworte und wissenschaftliche Modebegriffe eingeengte Sicht- und Erklärungsweise behagte ihm nicht9. Um eine daher nicht genau genug betrachtete Periode der abendländischen Geschichte wirklich verstehen und aus sich heraus deuten – nicht bis ins Letzte erklären – zu können, scheute er sich nicht die Grenzen des Fachs zu überschreiten und Kunstwissenschaft, Theologie, Philologie, vor allem aber Psychologie mit ihren spezifischen Erklärungen und Ergebnissen für seine Sichtweise zu verwenden und in die historische Befragung einzubauen. Gegenwartsnah wollte er dabei vorgehen und war sein ganzes Forscherleben hindurch überzeugt, dass an den „Grenzen“ der Geschichtswissenschaft die noch ungeklärten, wahrhaft herausfordernden Probleme der Forschung zu finden wären! Umwelt und Welt waren für den Menschen des 9., 10. und 11. Jahrhunderts also nur im Zusammenhang spezifischer Ordnungen zu begreifen. Aber mit einer Art abstrakter Zugehörigkeit war es nicht getan, weil eine solche Vorstellung das Selbstverständnis des Einzelnen überfordert und ihm auch keine Hilfe bei der Bewältigung des täglichen Lebens geboten hätte. Es bedurfte eines Kanons von Verhaltensweisen, deren „Sichtbarkeit“ Vertrauen und Beruhigung erzeugte10. Doch ließ sich eine solche Ordnung nur mühsam aufrichten und noch weniger reibungslos verwirklichen. Ein „durchgehendes System“ als Voraussetzung fehlte. Es hätte für den Menschen Klarheit bedeutet, wenn sich nicht verschiedene Prinzipien in jedem von ihnen getroffen und überschnitten hätten! Soziale Großgruppen waren mit einander verknüpft, selbst das Mönchtum vermochte sich nicht wirklich gegen die „Welt“ abzuschließen (und wollte es wohl gar nicht!)11. Konflikte ereigneten sich schon in jenen Jahrhunderten und verunsicherten die Menschen, die dadurch keine doppelte Sicherheit gewannen, sondern in ihrer Existenz bedroht wurden. Die Überzeugung, dass vor dem vielfältigen Aufbruch des 12. Jahrhunderts eine völlig statische Gesellschaft mit kritiklos gelebten und weitergegebenen Traditionen das Feld beherrschte, schien Fichtenau zu einfach. Für ihn war die Zeit vor dem gepriesenen 12. Jahrhundert der (unleugbare) „Wurzelgrund“ für diese Erneuerung und von hoher Bedeutung dafür12. Weltsicht und Sozialstruktur waren schon früher keineswegs monolithisch geschlossen. Durch Neues, Fremdartiges, Unerwartetes wurde die als erstarrt verschriene Ordnung beeinträchtigt und in ihrer Festigkeit erschüttert. Und selbst wenn sie sich durch Brauchtum, Ritus, Gestik in ihrer Gesamtheit erhielt, blieben schöpferische Möglichkeiten mit Tendenzen einer Veränderung schon damals offen! Als Beispiel für seine Überzeugung, dass ein gesellschaftlicher Wandel schon vor dem Ende des 11. Jahrhunderts eingetreten ist, führt Fichtenau die Entwicklung des Reiterkriegers an, wie sie sich seit der späten Karolingerzeit darstellt. Ausgangspunkt ist die „Dreiständelehre“ Bischof Adalberos von Laon (977–1030), der in seinem dialogischen Carmen ad Rotbertum regem im Gegensatz zur verkehrten Welt der Cluniazenser oratores, bellatores, laboratores unterscheidet. Bellatores sind Kriegführende, Waffen Gebrauchende und werden als Schützer der Geistlichen und Bauern definiert. In den Quellen der Zeit wird ein solcher als nobilis bezeichnet. Schon im 10. Jahrhundert 9  Fichtenau verfocht eine geografische, chronologische und (am schwersten zu erkennen!) „individuelle“ Unterscheidung in Hinblick auf die Quellenüberlieferung. 10  Fichtenau, Lebensordnungen 2. 11  Ebd. 5. 12   Ebd. 572.

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jedoch wurde dieser Adelsbegriff durch den Terminus miles ersetzt, ein antikes Wort mit sehr allgemeiner Bedeutung, der nun aber im frühen Mittelalter gerade nicht den „Fußsoldaten“ meint, sondern eben den gepanzerten Reiterkrieger! Diese Bezeichnung wurde nun so auf den Kämpfer zu Pferd eingeengt, dass jeder berittene Waffenträger gemeint sein konnte, auch der Nicht-Adelige. Dass die von Adalbero verwendete Gleichsetzung von nobilis und bellator der Wirklichkeit nicht mehr entsprach, kann für manche Gegenden Europas nachgewiesen werden. Adalbero in seiner Gegnerschaft zu Cluny erzählt von dem wüsten Mönch, der hoch zu Ross einhersprengt und sich selbst als miles versteht. Hier ist eindeutig kein Adeliger gemeint, sondern ein bewaffneter Reiter, der für jedermann und überall zu kämpfen bereit war! Bei Adalberos Text handelt es sich um eine Satire, doch hat er zweifellos Bezüge zur Realität, die den Zuhörern bewusst werden mussten13. Anderswo liest man von caballarii, die in den Quellen den milites entsprechen. Es konnte sich durchaus um Angehörige der gens plebeia handeln, die sich als Berufskrieger auf den Straßen herumtrieben und in Fehden und Schlachten anzutreffen waren14. Hier ist der Schluss zu ziehen, dass der ordo der bellatores als „Stand“ der weltlichen Adeligen bereits am Zerfallen war15. Er mochte im Denken der theologischen Theoretiker eine feste Existenz haben: in der Wirklichkeit war er in Auflösung begriffen. Aus disparaten sozialen Welten entwickelte sich schließlich ein neuer ordo, der zur Ritterschaft führen sollte. Es scheint eine Bestätigung dieses Wandels, dass gerade der caballarius, der eigentlich nicht-adelige Berittene seinen Namen in den romanischen Sprachen für den Ritter hergab (caballero, caballeiro, cavaliere, chevalier)16! Andererseits hat man auch im 12. Jahrhundert die exempla gentium republikanischer Adelssippen Roms noch ohne Umdeutungen verstanden 17. Die Erklärung dafür mag in der Verfestigung des Adels zu suchen sein, der zumindest im Reich durch die Heerschildordnung Friedrich Barbarossas in ein neues System gebracht wurde: dieses sollte die Unklarheit der hierarchischen Stellung im Allgemeinen beseitigen und eine verlässliche Ordnung garantieren, was auch im Interesse des Königs war, aber dennoch vor allem die Orientierungslosigkeit des Adels im Hinblick auf die Tendenzen sozialer Einebnung durch das aufblühende Rittertum beseitigen. Es ging hier also wieder um Abgrenzung und Ausgrenzung, die wesentlichen und notwendigen Folgen von Ordnung im Zusammenhang mit dem menschlichen Selbstverständnis. Wie stark aber der Gedanke an Ordnung als Leben sicherndes Element der Existenz auch noch im späteren Mittelalter war, als die Ansätze eines Individualismus mehr und mehr deutlich werden, sieht man am besten bei deren Ironisierung: Die Lieder der Vaganten schildern einen „Orden des Lebensgenusses“, dem genaue Regeln gegeben werden18. Diese beruhen selbstverständlich auf dem Gegensatz zu Zucht und Askese. Das Ausbrechen aus der christlichen Ethik und ihren Vorschriften, die das einzelne Leben, aber auch die Gesamtheit einschränken, führt zu einer neuen Regelhaftigkeit, in der das Bekenntnis zur Herrschaft der Triebe den Ton angibt. Es ist die Ordnung der „Welt“ und des Flei  Fichtenau, Soziale Mobilität 16f.   Ebd. 18. 15  Ebd. 12f. 16  Ursprünglich bedeutete caballarius sogar „Pferdeknecht“, „Pferdewärter“, also einen sozial sehr tief stehenden Mann! 17  Fichtenau, Vom Verständnis der römischen Geschichte 23. 18   Fichtenau, Askese und Laster 57. 13 14



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sches, beides im theologisch-paulinischen Sinne als die Gemeinschaft derer, die sich von Gott abwenden19. Das obige Beispiel von Unsicherheit bei der sozialen Fixierung eines Reiterkriegers zeigt, dass bereits im 10. Jahrhundert Ansätze sozialer Mobilität sichtbar sind, die bei einer voreingenommenen, undifferenzierten Behandlung jener Epoche nicht wahrgenommen werden. Doch musste diese Erneuerung keine grundsätzlichen Veränderungen bringen. Der Aufsteiger war meist willens sich den Lebensformen der sozialen Schicht, in die er sich emporgearbeitet hatte, anzupassen. Aber innerhalb des Ordnungssystems war es möglich Kritik zu üben und auf eine neue Lebensgestaltung hinzuarbeiten. Voraussetzungen dafür lagen zunächst in der eigenen Familie; und noch wichtiger war ein energisch in Taten umgesetztes Selbstbewusstsein. Fehlten jene, so war herausfordernde Kritik am Bestehenden allein zu wenig. Fichtenau machte das am Schicksal des Bischofs Rather von Verona und Lüttich deutlich: Reformideen eines Intellektuellen lassen sich ohne Machtrückhalt und persönliche Durchschlagskraft nicht verwirklichen20! Eine Selbstsicherheit, die dauernd durch Reflexion und Gewissensbisse geschwächt wird, kann nichts durchsetzen. Bei Rather kam dazu noch eine innere Ruhelosigkeit, die es verhinderte sich an Ort und Stelle entsprechend einzurichten und damit ein Fundament für seine Reformvorschläge zu schaffen21. Wenn schon so viele Voraussetzungen für eine Durchsetzung fehlten, hätte es nüchterner Einschätzung der jeweiligen Gegebenheiten und politischer Klugheit bedurft, die dem sich in Ironie flüchtenden Intellektuellen Rather gänzlich abgingen. Ein positives Beispiel bei einer ähnlichen Ausgangssituation stellt ein anderer ottonischer Bischof dar: Burchard von Worms. Auch ihm fehlte die einflussreiche, mächtige Familie als politischer Rückhalt, obwohl er vornehmer Herkunft war, auch er war ein „intellektueller Einzelgänger“ wie Rather mit Neigung zur Schriftlichkeit. Doch Burchards Leben glückte auf Grund seines überlegten Tuns, seiner Fähigkeit die politische Lage richtig einzuschätzen und sich die einflussreichsten Männer auf lange Sicht zu verpflichten. Man könnte sagen, dass sein Leben zielorientiert war und daher mehr und mehr erfolgreich, dazu im Sinne der Zeit durchaus Gott wohlgefällig, der ja zwei Kandidaten für den Bischofsstuhl in Worms schnell wegsterben ließ um Burchard freie Bahn zu schaffen22. Die ottonischen Reichsbischöfe wurden für Fichtenau schon bald Exempel, an denen er seine moderne Sichtweise zur Geltung kommen ließ und die tradierte modellhafte Vorstellung eines einheitlichen Typs von Helfern der Könige problematisierte. Karl Lamprecht (1856–1915) ließ mit dem 10. Jahrhundert das „Zeitalter des Typismus“ beginnen, indem er den Bischof als abstrakten Typ hinstellte, der jederzeit austauschbar und überall im Sinne des Königs eingesetzt werden konnte 23. Fichtenau kritisierte die Vorgangsweise, die oft recht vordergründigen Charakterschilderungen, wie sie die Viten des 10. und 11. Jahrhunderts bieten, nur oberflächlich oder wie beiläufig wahrzunehmen und diese Haltung dann immer wieder bestätigt zu finden. Dieses Typische als Wesen der hagiografischen Literatur der Zeit sah er als bloßen Firnis, unter dem eine Vielfalt mensch19 20

milie.

  Ebd. 29.   Fichtenau, Vier Reichsbischöfe 95. Rather stammte zwar aus vornehmer, aber wohl städtischer Fa-

  Fichtenau, Soziale Mobilität 20.   Vita Burchardi episcopi, c. 4 und 5, ed. Georg Waitz (MGH SS 4, Hannover 1841, Nachdr. Stuttgart 1981) 834. 23  Vgl. dazu die Dissertation von Lamprechts Schüler Johannes Kleinpaul, Das Typische in der Personenschilderung der deutschen Historiker des X. Jahrhunderts (Leipzig 1897). 21 22

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licher Charaktere zu entdecken war. Zuerst stellte er seine Vorstellung von differenzierten Persönlichkeiten aller angewandten Topik zum Trotz in einem Seminar über die ottonischen Reichsbischöfe zur Diskussion. Dann zeigte er seine tiefere Sicht der Quellen an ausgewählten Beispielen, quasi als einen Probelauf, in einem Festschriftartikel: Rather von Verona, Burchard von Worms waren die wandelbaren, unterschiedlich erfolgreichen Vertreter des intellektuellen Bischofs24; Adalbero II. von Metz ließ sich als konturloses Ergebnis seiner zeitlichen und familiären Gegebenheiten zeigen, ein adeliger Kleriker, der als Individuum vor dem Hintergrund seiner Zeit kaum wahrzunehmen ist25; zuletzt Udalrich von Augsburg, der bei größerer Wendigkeit ein ähnliches Exempel adelig-bischöflichen Lebensstils bot, mit den Unwegbarkeiten der Zeit aber schon individueller zu ringen hatte und verschiedentlich scheiterte26. In diesem Zusammenhang hat sich Heinrich Fichtenau auch mit Bischof Pilgrim von Passau beschäftigt. Der Mann, dessen Name mit einer anscheinend wichtigen Etappe auf dem Weg mehrerer völkerwanderungszeitlicher Heldenlieder zum mittelhochdeutschen Nibelungenlied verbunden ist, interessierte im Allgemeinen primär als Fälscher, der Passau zur Kirchenprovinz machen wollte: ein vielbehandeltes Thema, dem Fichtenau sich jedoch jenseits der Fälschungsproblematik, wenn auch von ihr ausgehend, zuwandte, auf der Suche nach individuellen Zügen der handelnden Personen. In kritischer Interpretation des kargen zeitgenössischen Quellenmaterials, aber mit psychologischen und mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen hat er der Gestalt Pilgrims Züge verliehen, die ihn für den heutigen Menschen verständlich und sogar ein wenig plastisch erscheinen lassen. Auch Pilgrim ist ein ottonischer Reichsbischof, aber scheinbar aus einer ganz anderen Welt herkommend als die vorhin Genannten! Es ist ein Doppeltes, das Fichtenau gleichsam en passant gelungen ist: Pilgrim tritt als klassischer Exponent seiner Zeit vor uns hin; hochadeliger Herkunft und als ein „mit Beziehungen gesegneter junger Mann“, der vor allem die Protektion seines erzbischöflichen Onkels Friedrich von Salzburg genießt27. Bei ihm lernt er offensichtlich den lockeren und bei entsprechender Gelegenheit Vorteil suchenden Umgang mit Urkunden und deren Rechtsinhalt28. Ein Wissen, dass der ehrgeizige junge Bischof im Zuge der politischen Geschehnisse im Reich – der Befriedung der Ungarn und deren endgültiger Wende zum Christentum – dann gegen seinen Förderer kehrt, um mit ihm rangmäßig gleichzuziehen. Was heute als Verbrechen angesehen und gewertet wird, zeigt Fichtenau mit wenigen Strichen als interne Auseinandersetzung in einer mächtigen bayerischen Adelsfamilie. Wichtig war es für ihn von jeher eine klare Unterscheidung zwischen der Sichtweise des mittelalterlichen Geschichtsschreibers und derjenigen des modernen Historikers zu treffen. Dieser soll den Menschen der Vergangenheit nach Möglichkeit in seiner charakterlichen Vielfalt sehen, in seinem Handeln bestimmt durch die persönlichen Voraussetzungen und die seiner Umwelt. Für den fernen Historiografen geht es um eine Schwarzweiß-Malerei bei der Darstellung des Menschen und seines Tuns29. Sein Schreiben ist nicht danach ausgerichtet Zeugnis von einer eigenständigen Persönlichkeit zu geben, sondern soll sich in die „Generallinie“ christlicher Autoren der Vergangenheit fügen und deren (vorbildliche)   Fichtenau, Vier Reichsbischöfe 93.   Ebd. 89f. 26  Ebd. 88. 27   Fichtenau, Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau 160. 28  Ebd. 161f. 29  Fichtenau, Vom Ansehen des Papsttums im 10. Jahrhundert 105f. 24 25



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Gedanken nachvollziehen30. Dies zu bedenken ist gerade bei der Vitenliteratur vonnöten, die für die Geschichte des 10./11. Jahrhunderts von herausragender Bedeutung ist. Daher muss man die Welt des Verfassers zuerst studieren, ehe man sich dem Inhalt der Quelle zuwendet31. Gerade bei der Vitenkritik hat die Schwarzweiß-Malerei in die „moderne“ Geschichtsforschung wieder Einzug gehalten: der ursprüngliche Glaube an die wortwörtliche Richtigkeit der hagiografischen Texte wurde im 19. Jahrhundert von einer grundlegenden Skepsis abgelöst, die bis zu deren genereller Ablehnung reichte. Schließlich existierten beide Ansichten nebeneinander, was dem wissenschaft­lichen Austausch nicht eben förderlich war, sondern im Vorhinein gelehrte Gegnerschaften erzeugte! Fichtenau hingegen erfasste schon früh, dass Individuelles und mit anderen Gemeinsames in einem Text zu sehen möglich ist, dass Topoi die Wahrheit vermitteln können, wenn man bei deren philologischer Feststellung nicht stehen bleibt. So kann es gelingen persönliche, unverwechselbare Züge zu erkennen, die durch das Vorkommen typischer Momente und typischer Mittel der literarischen Gestaltung weder verwischt noch zerstört werden können, die auch nicht im Stande sind selbst ein nur ansatzweise konturiertes Menschenbild auszulöschen. Um eine „Analyse des Menschen“ im Sinne Wilhelm Diltheys war Fichtenau von früh auf bemüht, um einen Strukturzusammenhang des Menschlichen. Doch war er ebenso von jeher überzeugt, dass der komplexe Charakter eines durch viele Jahrhunderte währenden und sich wandelnden menschlichen Verhaltens nicht einfach oder gar allgemein gültig dargelegt werden konnte. Geschichte war für ihn immer eine Wissenschaft vom Menschen, Teil einer umfassenden Anthropologie höherer Art. Deren Ansätze waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts schattenhaft erkennbar, dann immer deutlicher wahrzunehmen und im letzten Lebensjahrzehnt Fichtenaus schon weit darüber hinaus gediehen. Doch fehlte ihm dabei eben die „höhere Art“. Menschliches Verhalten wollte er eher psychologisch durchdringen oder durchdrungen sehen. Leider wurden auch dabei von jeher vor allem Teilprobleme behandelt, was Fichtenau problematisch fand, weil immer die Gefahr bestand den Menschen als Ganzes aus den Augen zu verlieren – und auf dieses Ganze kam es ihm an. So verwundert es nicht, dass Fichtenau auch in den Hilfswissenschaften der Mediävistik immer wieder auf den Menschen verwies, als Verursacher und quasi lebendigen Hintergrund von Formen und Formeln, deren Betrachtung nicht in die totale Abstraktion führen sollte32. Formale Evidenzen von Urkunden beziehen sich auf Menschen, die diese ausstellen, sie ausstellen lassen oder empfangen sollen. Geisteshaltung und Weltsicht, die sich in Formen und Formeln aussprechen, können unter Umständen in eine ferne Vergangenheit zurückführen33. Das beschriftete und besiegelte Pergament verlange daher eine Betrachtung, die dies einbezieht. Erst dann sei eine vertiefte Fragestellung möglich und die Urkunde als Ganzheit, das heißt als vielfältige Lebensäußerung des Menschen, zu verstehen. Fichtenau selbst hat beachtliche Beiträge zu einer solchen Behandlung des urkundlichen Materials geliefert: sein Werk über die Arenga wäre hier an erster Stelle zu nennen. In mehreren großen Aufsätzen hat er sich anderen Urkundenformeln gewidmet, deren Bezug zu den von der Urkunde betroffenen Menschen erforscht und dabei ungewöhnliche Einblicke in die allgemeine Geschichte geboten34.   Fichtenau, Bildung und Schule im 10. Jahrhundert 117.   Fichtenau, Vier Reichsbischöfe 81f. 32  Fichtenau, Mensch und Schrift 35. 33  Fichtenau, Zur Lage der Diplomatik 14f. 34   Hervorgehoben sei nur Fichtenau, „Politische“ Datierungen. 30 31

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Ein erster und von der damaligen Fachwelt mit Verwunderung und teilweise mit (heftiger) Ablehnung aufgenommener Versuch bezog sich auf die Schrift(en) des Mittelalters, aber in Hinblick auf den schreibenden Menschen. Dass er bei einem paläografischen Thema, das bisher fast ausschließlich von der Warte einer abstrakten Entwicklung von Buchstabenformen und ihrer Verbindung untereinander gesehen und beurteilt wurde, das Schwergewicht der Forschung auf den Schreiber, den schreibenden Menschen, verlegte, schien allzu befremdlich. Karl Brandi (1868–1946) und Harold Steinacker (1875–1965) hatten schon früher diese Hinwendung von der Schrift zum Schreiber gefordert und Einzelfälle behandelt. Fichtenau aber verlangte eine ganzheitliche Betrachtung, da der Mensch „zusammen mit allen seinen Äußerungen ein Ganzes und Unteilbares“ sei. Vom Rande der Disziplin wollte er den schreibenden Menschen in die Mitte des wissenschaftlichen Blickfeldes rücken35. Die „Idee der psychologischen Ganzheit“ kann freilich zur Annahme scheinbar vorgegebener Qualifikationen führen, die ihrerseits bestimmte Fähigkeiten bedingen und dadurch soziale Unterschiede festlegen. Oswald Spengler meinte, dass der Adelige, der Mensch, der Rasse hat, die Tätigkeit des Schreibens verachtet, weil die Schrift Kennzeichen historischer Begabung sei, die dem Tatmenschen fern liege. Schreiben und Schrift dagegen eignen als sichtbare Ergebnisse von Reflexion den so genannten „Tabumenschen“: Priestern, Dichtern, Gelehrten. Eine solche Einteilung vorweg lehnte Fichtenau ab: ihm schien es entscheidend, dass der Mensch psychologischen Fragestellungen immer neu und anders offen sein muss36. Der Versuch den Menschen in seiner Historizität zu verstehen bedingt eine Beschäftigung mit seinen Erzeugnissen, zu denen die Schrift ganz wesentlich gehört. Mehr als fraglich ist jedoch, ob man Details der Erkenntnis zu einer Tendenz verdichten kann, die angebliche Rückschlüsse auf den schreibenden Menschen zulassen: etwa das unziale Streben nach Rundung oder später die Gebrochenheit gotischer Schriften. Ist ihre Erscheinung wirklich in Auge und Hand des Schreibers begründet und wird schließlich noch spezifischer durch die Wahl von Beschreibstoff und Schreibgerät37? Und erst dann käme dazu noch die Vermutung, dass ein gewissermaßen individuelles Stilgefühl seinen kaum nachweisbaren Beitrag zur Gestaltung der Buchstaben leiste: ein ganz bestimmtes „Schriftwollen“! Geht man so vor, wird die Psychologie zur Ausdruckskunde, wozu man noch Handhaltung und Sitzposition des Schreibers zur Erklärung der Schrift, die so und so und nicht anders aussieht, heranziehen möchte. Aus der Fülle der angeführten Kriterien wäre dann eine mehr als annehmbare Schlussfolgerung zu erzielen, doch sieht jeder ein, dass sich diese Methode nicht in die Praxis der Forschung restlos überführen lässt. Lebensäußerungen, wie die mimischen, gestischen und physiognomischen Expressionen sind hier eben nicht in ihrer Gesamtheit aus den Quellen zu erschließen und dadurch in ihrer Bedeutung für die Schrift zu begreifen38. Wesentlich für das Verstehen menschlicher Existenz im frühen und hohen Mittelalter ist deren Bezug zu Religion, Glaube und Sittlichkeit. Wenn man das Christentum als einzig maßgebend für diesen geistig-seelischen Lebensbereich ansieht, bleibt man vordergründig. In seinem großen Aufsatz über „Askese und Laster“ vertritt Fichtenau die Auffassung, dass es für den Christen jener Zeiten „niemals eine autonome Sittlichkeit“ gegeben   Fichtenau, Mensch und Schrift 9.   Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (München 1923, Nachdr. o. J.) 737–745; Fichtenau, Mensch und Schrift 26. 37  Ebd. 17. 38   Ebd. 48. 35 36



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habe. „Ihm umschloss die Religion alle übrigen geistigen Sphären.“39 Was Fichtenau mit geistigen Sphären in diesem Zusammenhang meint, scheint unklar. Sittlichkeit war bei den Germanen in einem bestimmten, traditionsgebundenen sozialen Denken aufgehoben, das im Alltag durch Gesten, (äußere) Rücksichten, Rangordnungen und dergleichen seine Wirklichkeit fand. Und dass diese angewandten Formen der Sittlichkeit wiederholt mit christlichen religiösen Vorschriften in Konflikt gerieten und selbst Geistliche in einem solchen Fall Verständnis zeigten, lässt sich wiederholt belegen. Fichtenau selbst erkannte, dass der agonale Lebensstil der Germanen in Zeiten der Akkulturation zunächst neben einer christlich-römisch urbanen Moral existiert hätte, schließlich aber, durch eine „psychische Umstellung im Allgemeinen“ herrschend geworden wäre 40. Dabei wurden Lebenshaltungen offensichtlich, die mit christlicher Ethik kaum zu vereinbaren waren. Es ist das ungetrübte – durchaus gottferne – Vertrauen auf sich selbst, das den barbarischen Menschen auszeichnet, aber auch gefährdet. Aus diesem Selbstvertrauen entwickelte der Kelte Pelagius seine die göttliche Gnade ablehnende Lehre von der Möglichkeit des Menschen aus eigener Kraft und durch eigene Leistung selig zu werden: Schutz, Förderung und Hilfe Gottes seien dafür nicht notwendig41. Es überrascht kaum, dass die meisten Anhänger dieser Lehre vom Westrand des weströmischen Reiches stammten. Die „hoffärtige Häresie“, wie Augustinus den Pelagianismus bezeichnete, entsprach in Denken und Handeln dem Selbstverständnis der Germanen. Macht und Ansehen führen zur Selbstverwirklichung, zügelloses Streben nach Ruhm und Ehre ergreift alle und führt zu oft blutigen Auseinandersetzungen, die sich schon an Fragen der Sitzordnung entzünden können. Julianus Pomerius, bedeutender südgallischer Rhetor des späten 5. Jahrhunderts, gibt ein Bild der Germanen, das jene agonale Haltung illustriert, wenn auch mit einiger Übertreibung: Man erkenne sie an ihrem finsteren Angesicht mit trotzigen Blicken, ihr Nacken sei hochmütig aufgerichtet, ihre Rede ist drohend, sie zeichnen sich durch Herrschsucht und Gewalttätigkeit aus, sie streben gierig nach Ehrenstellen und seien stolz auf ihre Verbrechen42! Alle diese seien Opfer der superbia, die nun als Hauptlaster die römische avaritia ablöste. Um aber Ruhm und Ansehen zu erwerben, muss gegen alle, die dasselbe anstreben, gewaltsam vorgegangen werden; und so ist der Kampf ihr eigentliches Lebenselement! Dadurch hoffen sie im Heldenlied verewigt zu werden, und so führt die Verherrlichung der eigenen Person zur erbarmungslosen Härte gegen andere. Diese Sucht Ruhm zu erwerben und bewundertes Vorbild zu werden, dringt in die Welt des Klosters und sogar bis zu den Asketen vor und lässt deren Demut in Hoffart umschlagen43. Wer sich am meisten herabwürdigt und öffentlich seine Demut zeigt, erringt das höchste Ansehen und fällt so der Selbstsucht anheim: aus der humilitas erwächst superbia! Humilitas, längst ein Moralbegriff im Christentum, meint ursprünglich das Liegen auf der Erde als Zeichen der Unterwürfigkeit und hat insofern einen sehr negativen sozialen Beigeschmack. Es   Fichtenau, Askese und Laster 28.   Ebd. 87. 41  Ebd. 89. 42   Iulianus Pomerius, De vita contemplativa, lib. III, c. 8, 1, PL 59 484. Auch Gregor von Tours entwirft ein entsprechendes Bild vom (fränkischen) Adel seiner Zeit, z. B. Liber vitae patrum, c. 6, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 1/2, Hannover 1885, rev. Nachdr. 1969) 229f. Sidonius Apollinaris hingegen schwankt in seiner Beurteilung, z. B. Epistolae, lib. IV, ep. 20, ed. André Loyen (Paris 1970) 155f.: Bewunderung für den rheinfränkischen Königssohn Sigismer und sein Gefolge; hingegen die sehr negative Beschreibung der von Kaiser Maiorian gefangenen Franken (Ungeheuer!); dazu Reinhold Kaiser–Sebastian Scholz, Quellen zur Geschichte der Franken und Merowinger. Vom 3. Jahrhundert bis 751 (Stuttgart 2012) 97 Nr. 8a, 98f. Nr. 8b. 43   Fichtenau, Askese und Laster 89, 92. 39 40

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ließ sich mit dem althochdeutschen Wort thiomuoti nicht ganz sinngemäß wiedergeben44: „den Sinn“, d. h. „die Gesinnung“ eines Abhängigen haben, wobei „Gefolgsmann“ noch ansehnlich ist, im Gegensatz zu „Diener“ oder „Knecht“, was aber wohl eher gemeint ist. Eine solche Eigenschaft als anzustrebende christliche Tugend zu verstehen, konnte man einen Helden, dessen Taten in Liedern besungen wurden und zu dem viele aufblickten, nicht überzeugen. Das gesellschaftliche Ansehen und die Geltung des Namens machten das unmöglich. Selbstverständnis und christliche Forderung waren hier nicht auf einen Nenner zu bringen, und das sah sogar ein christlicher Eiferer wie Bonifatius ein45. Solche Traditionen beherrschten Geist und Gemüt der Neubekehrten noch lange, der christlichen Religion folgte man vor allem, weil man dem mächtigsten Gott dienen wollte. Man braucht nur den so genannten „Heliand“ zur Hand nehmen, die unvollständige Evangelienharmonie, welche in altsächsischer Sprache nach 840 wohl im Auftrag König Ludwigs des Deutschen verfasst worden ist46. Was man früher – nicht ganz zu Unrecht – als Germanisierung der christlichen Religion bezeichnet hat, ein Begriff, den man heute ablehnt47, zeigt die Umdeutung der biblischen Welt in zeitgenössische soziale Verhältnisse: angefangen von den zwölf Aposteln als Gefolgsleuten des truhtin Jesus. Schon früher wurde die Sünde als „Bruch einer Verpflichtung“ gegen Gott angesehen, „Gnade“ entsprach der „Huld“ des Herrn oder der „Wiederaufnahme in seinen Schutz“, und der Taufakt wurde als „Annahme der Mannschaft“ durch einen neuen Gefolgsherrn verstanden. Es handelt sich also um die Umdeutung der Werte der christlichen Religion in die Gesellschaftsethik und Lebenssicht des barbarischen Menschen48. Wenn also Sittlichkeit angeblich nur im Zusammenhang mit der christlichen Religion oder als deren Element gesehen wurde – und nur so zu verstehen wäre –, dann in einer solchen, die in die Lebensgrundsätze der kriegeraristokratischen Welt integriert worden war und die sich aus dieser Integration erst langsam befreien sollte. Wie lange die alles überwölbende Idee des Ruhmerwerbes auch den hohen Klerus beherrschte, zeigt beispielhaft die wertvolle Charakteristik des Erzbischofs Adalbert von Bremen (1043–1072) durch dessen Domscholaster Adam. Mit körperlichen Vorzügen ausgestattet, reich und prachtliebend, glücklich in seinen Unternehmungen und freigebig, wurde er letztlich von 44  Ebd. 104; zur Wortgleichung „humilitas: Demut“ siehe Heinrich Götz, Lateinisch–Althochdeutsch– Neuhochdeutsches Wörterbuch (Althochdeutsches Wörterbuch. Beiband, Berlin 1999) 308. 45   Er bestellte seinen Schüler Gregor nicht zum Bischof von Utrecht, weil dieser von den Einwohnern wegen einer Blutrache seiner Verwandten nicht akzeptiert wurde! 46  Es käme auch Ludwig der Fromme als Auftraggeber in Frage, dann müsste man das Werk schon in die Dreißiger Jahre des 9. Jahrhunderts datieren. Die herrschende Lehre aber tritt für Ludwig den Deutschen ein. Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/1, Tübingen 21995) 272–287, hier 277. 47  Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter (Darmstadt 22009) 1–7; doch zeigt Angenendt selbst in seiner Ablehnung des Begriffs letztlich, dass es sich dabei im Wesentlichen um einen Kampf der Sichtweisen unter Einfluss der Sozialwissenschaften handelt und meiner Meinung nach nicht um einen Fortschritt vom Falschen zum Richtigen! 48   Fichtenau, Askese und Laster 95. Haubrichs, Anfänge (wie Anm. 46) 283–285, spricht in Bezug auf die Gestaltung des Heliand vom „Kolorit der heimischen Adelskultur“ und schildert ausführlich Stil und Werte des germanischen Heldenliedes, die in dieser Evangelienharmonie deutlich werden, um zuletzt festzustellen, dass es sich dabei „keinesfalls um Ansätze zu einer ‚Germanisierung‘ des Christentums“ handle! Inhaltlich scheint daran aber kaum ein Zweifel zu bestehen, doch das Wort – vielleicht zu allgemein – meidet man übervorsichtig!



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seiner unbeherrschbaren Ruhmsucht zu Grunde gerichtet. Es ist bemerkenswert, dass Adam nur dem Adeligen entsprechende und für ihn wichtige Eigenschaften aufführt, keinerlei geistliche49! Die Notwendigkeiten des adeligen Lebens machten eine maßvolle, zurückhaltende, tieffromme oder gar demütige Haltung des Erzbischofs unmöglich50. Adalbert von Bremen steht an der Bruchstelle von traditionellem Heldenideal und christlicher Forderung, wie sie für den Kleriker maßgebend sein sollte. Von Adalberts Zeitgenossen Gunther von Bamberg (1057–1065) erfahren wir – jetzt freilich schon tadelnd –, dass er lieber Attila und Dietrich von Bern et cetera id genus portare tractat als sich mit Augus­ tinus und Gregor dem Großen zu beschäftigen51. Auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem 1064/1065 zeichnete sich Gunther bei schweren und zeitweise hoffnungslos scheinenden Auseinandersetzungen mit den Muslimen durch Kampfkraft und kluge Strategie aus. Es waren gesellschaftliche Ideale, die Adalbert und Gunther primär zu erfüllen trachteten, ohne sich deswegen in ihrer christlichen Lebensgestaltung als nachlässig oder fehlerhaft zu empfinden! Unter christlicher Hülle lebte das alte Heldenideal noch lange weiter und war für viele Adelige nicht nur Ziel des Daseins, sondern überhaupt die gelebte Form ihres Christentums. Diese Vorstellung verwandelte sich mit dem Aufkommen einer christlichen Laienethik im höfischen Rittertum52. Erst jetzt wurde der adelige Krieger wirklich von einer in ihrem Wesen grundsätzlich tragischen Schicksalhaftigkeit befreit, die bisher im christlichen Lebensgefühl immer mitgeschwungen hatte. Nun gab es auch für den Laien erste Ansätze eines Individualismus, der dem Christentum gleichsam einen Platz in der Seele des Einzelnen ermöglichte und zu einer bisher kaum vorhandenen Innerlichkeit des neuen Menschen führte: Diesen Übergang im seelischen und weltanschaulichen Bereich stellt der Parzival Wolframs von Eschenbach in unübertroffener Weise dar. Heinrich Fichtenau hat in seinen Untersuchungen die Schwelle zu dieser neuen Welt nicht mehr überschritten, sieht man von der sehr spezifischen Ausrichtung seines letzten Werks ab. Ein frühes Meisterstück im Erkennen der existenziellen Problematik des historischen Menschen gelang ihm 1949 mit der Darstellung Karls des Großen und Ludwigs des Frommen im Rahmen seines „Karolingischen Imperium“. Der Untertitel des Werks spricht von „sozialer und geistiger Problematik eines Großreiches“ und stellt weitgehend eine Strukturanalyse dar, wie sie vorher kaum versucht worden ist. Und dennoch ruht das Werk im Grunde auf den zwei so unterschiedlichen Herrschergestalten, Vater und Sohn, in denen sich die Zeiten und deren Entwicklungen „bespiegeln“. Sie beide waren die Säulen, die das karolingische Reich trugen, die Herrscher, die es verkörperten. Um Fich49  Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, lib. III, c. 1–2, ed. Bernhard Schmeidler (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [2], Leipzig 31917) 143. 50   Wenn Adam von Keuschheit und Nüchternheit Adalberts spricht, so ist das nicht spezifisch geistlich gemeint. Die gelegentliche Sucht des Erzbischofs seine humilitas zu zeigen ist aber eher ein Zeichen von ruhmwürdiger Maßlosigkeit und seiner alles in den Schatten stellenden Eitelkeit als von wahrer Demut: so etwa, wenn er an manchen Abenden plötzlich dreißig Armen die Füße wäscht! 51  Gunther von Bamberg – Lanzen seien ihm lieber als Bücher – in der Schilderung seines Domscholasters Meinhard, in: Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann–Norbert Fickermann (MGH Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 5, Weimar 1950) 121 Nr. 73. Aus dem Wortlaut des Briefes geht nicht hervor, in welcher Weise sich Bischof Gunther mit der deutschen Heldenepik befasste. Ob er sich etwas szenisch darstellen ließ oder Heldenlieder hörte, bleibt offen. Da er sehr viele Spielleute um sich scharte, ist Letzteres wahrscheinlicher. Ob das Wort tractare meint, dass er selbst dichtete und seine Texte dann vorsingen ließ, wie Fickermann andeutet, ist nicht zu erschließen. 52  Fichtenau, Askese und Laster 99. Doch noch Walther von der Vogelweide klagt darüber, dass guot, werltlich ere und gotes hulde nicht zusammen in ein Herz kommen (können).

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tenaus Anschauung verknappt vorwegzunehmen: der eine formte es, der andere wurde von ihm geformt. In sehr frühen Tagen der Bekanntschaft mit meinem Lehrer sagte er in jenem Zusammenhang einmal zu mir: „Die englische und französische Übersetzung meines Buches enden mit Karls Tod – die wollten wohl nur sehen, was ich nach 1945 zu ‚Karl der Große oder Charlemagne‘ zu sagen habe. Dabei übersehen sie, dass Ludwig als Mensch und Herrscher weit interessanter ist als sein Vater; er gibt psychologisch – und das ist für die historische Erkenntnis unbedingt notwendig – viel mehr her“! Aus meiner bescheidenen Antwort ergab sich ein Dialog, der in einen freundlich belehrenden Monolog Fichtenaus mündete. Diesen möchte ich hier – ut recolo, es sind immerhin vierzig Jahre seither vergangen – in einer Art Synkrisis wiedergeben: Demnach war Karl „unproblematisch, seinem ganzen Wesen entsprechend nach außen gerichtet, tatenfroh und spontan“; Ludwig dagegen „still, zurückhaltend, nachdenklich, einer schwierigen Situation antwortet er nicht sofort, sondern reflektiert erst darüber“. Karl zeigt eine „Naivität des Handelns, hat nie und nirgends Skrupel und ist sich gewiss das Richtige zu treffen“, „die kirchlichen Gebote fügen sich in seiner Auslegung fast nahtlos mit denen des germanischen Kriegertums“. Bei Ludwig „erfasst das Christentum tiefere seelische Schichten, was zu einer dauernden Selbstprüfung führt. Und so fehlt ihm die Sicherheit im Umgang mit der Kirche“. „Ludwig fühlte sich als Repräsentant der Christenheit vor Gott“, „Karl hingegen sah sich als Franke und war vor allem einer der Ihren“. Diese mir damals ad hoc zu Teil gewordene Kurzfassung zweier Charakterbilder beruhte auf einer ausführlichen Behandlung der beiden Herrscher, bei der es Fichtenau eben durchaus angebracht fand psychologische Anschauungen des 20. Jahrhunderts und die Erkenntnisse dieser Disziplin auf Menschen des 8./9. Jahrhunderts anzuwenden, um sie vorsichtig zu veranschaulichen. Dabei durfte man freilich die zeitliche Distanz mit all ihren historischen Bedingtheiten und Implikationen nicht aufheben und die Frankenkönige auf billige Art zu unseren Zeitgenossen machen. Es war das zweifellos eine Forschungsmethode voller Gefahren: nur ein Mann, dem oberflächliche Gleichsetzungen fern lagen wie Heinrich Fichtenau, konnte sie zur Anwendung bringen. Als zyklothym bezeichnet er Karl den Großen, die Konstitutionstypologie Ernst Kretschmers heranziehend53, eine Verhaltensform des Pyknikers, allerdings mit „schizothymen Legierungen“, d. h. „dunkleren Einsprengungen“, also mit leptosomen Einflüssen nach Kretschmers Typenlehre54. Für diese grundsätzliche Festlegung geht Fichtenau von Einhard und seiner Beschreibung des Aussehens Karls des Großen aus: runder Oberschädel, stiernackig, mit leicht hervortretendem Bauch55. Einschränkend muss man freilich anmerken, dass letzteres eine so genannte Alterserscheinung gewesen sein könnte, auf Grund des jahrzehntelangen Bratenkonsums, den sein Biograf ebenfalls erwähnt: Einhard kannte ja nur den bejahrten Kaiser, der junge und männlich-reife Karl mag durchaus noch athletische Konstitution aufgewiesen haben! Hingegen wird man Fichtenaus Bezeichnung des Herrschers als Hypomaniker der ersten Kategorie zustimmen. Viel Treiben, viel Lärm, viel Getöse am Hof: das liebt Karl und dazu die vielen Menschen um sich 56. Er muss sich nicht zurückziehen, und wenn er im Alter einen ausgedehnten Mittagsschlaf   Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter (Berlin 1921).   Fichtenau, Das karolingische Imperium 36. 55  Einhard, Vita Karoli Magni, c. 22, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover–Leipzig 41911) 19f. Den vorspringenden Bauch weisen bei Sueton auch Nero und Titus auf, doch ist es kaum wahrscheinlich, dass Einhard diese körperliche Eigenschaft Karl grundlos zuschreibt. 56   Fichtenau, Das karolingische Imperium 38. 53 54



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hält, dann hat das gesundheitliche Gründe. Für den reflexiv und kontemplativ Veranlagten, für den Gelehrten, war das Hoftreiben auch später immer wieder Grund zur Klage; man denke an den englischen Kleriker Walter Map am Hofe König Heinrichs II. oder an Walther von der Vogelweide und den täglichen höfischen Lärmpegel auf der Wartburg57! Das Wohlfühlen in einem solchen Getriebe gehört ebenso zum Hypomaniker wie das Auftrumpfen bei Festen und Banketten und nicht zuletzt das begeisterte, ja von Karl als notwendig empfundene Zusammensein mit der Familie, ein Zug, den Fichtenau wohl berechtigt dem fränkischen Hauswesen zuordnet58. Das Kriegerleben und die eifrig betriebene Jagd passen weniger zum pyknischen Grundtyp: freilich handelt es sich bei letzterer nicht um ein einsames Aufspüren und Erlegen des Wildes, wie wir es von Siegfried im Nibelungenlied hören59. Der Kaiser kann zwar mit den Jagdwaffen umgehen wie kein zweiter, was grundsätzlich als Topos anzusehen wäre, der aber auch einmal die Realität wiedergeben kann, und bei Karl dem Großen scheint die Waffengewandtheit durchaus glaubhaft. Doch Jagd ist bei ihm vor allem Hofjagd – ein gesellschaftliches Ereignis, an dem seine Töchter zum Wohlgefallen des Vaters reichlich mit Schmuck behangen teilnehmen60. Karl selbst ist vorbildlich schlicht gekleidet, ein einfacher Jagdpelz schützt ihn vor Dornen und Gestrüpp. Das Ende der Jagd sieht die Gesellschaft in gemütlichen Holzhütten, wobei Mann und Frau mit allen Sinnen ihr Recht wird. Das Ganze wirkt wie ein ständiger Wettstreit zwischen Pracht, bezwingender Machtausübung und fröhlicher Offenheit, man möchte fast trivial sagen: fröhlichen Frankentums! Karl gibt sich eben wie er ist, er hat nichts über für steife Würde, für zeremoniöse Distanz, er hat überhaupt kein Leitbild, dem er nachlebt. Er ist und bleibt kriegeraristokratischer Franke zwischen gepflegtem Wohlleben und kriegerischer Härte und Ausdauer61: ein Charakterbild, das sich aus allen Bausteinen gut zusammenfügt. Es ist verständlich, dass Notker in seinen Gesta Karoli in teilweise anekdotischer Manier an diesen Kaiser und König anzuknüpfen vermochte. Hier entsteht ein Karl, der die Schule kontrolliert und sich impulsiv und geradlinig zeigt. Der gefürchtete Zorn des Herrschers bekommt jetzt eine fast humoristische Note, die seine gelegentlich „zupackende Härte“ ebenso vergessen lässt wie den moderaten Terror, womit er nicht nur die Barbaren, sondern auch die eigenen Franken in Zaum hielt! Die spontane Sicherheit bei Entscheidungen und die Unmittelbarkeit des Handelns sind hier schon eine Selbstverständlichkeit bei der Sicht Karls des Großen62.

57   Walter Map, De nugis curialium. Courtiers’ Trifles, ed. M. R. James (Oxford 1983), mit allerdings auch parodistischen Zügen. Walther von der Vogelweide: Der in den oren siech von ungesühte si / daz ist min rat, der laz den hof ze Düringen fri / wan kumet er dar, deswar er wirt ertoeret. Friedrich Maurer, Die Lieder Walthers von der Vogelweide 1 (Altdeutsche Textbibliothek 43, Tübingen 41974) 24. Einen guten Überblick zur Frage der Hofkritik, der allerdings kein Wort über den Aachener Hof Karls des Großen verliert, bietet Thomas Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfischritterlichen Kultur, hg. von Josef Fleckenstein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100, Göttingen 1990) 350–391, hier 361f., 364. 58   Fichtenau, Das karolingische Imperium 40f., 45. 59   16. Aventiure. Dort wird eine prachtvolle Hofjagd geschildert, die allerdings den Männern allein vorbehalten ist und daher kein solch amouröses Finale wie bei Karl dem Großen ermöglicht. Dies hätte dem höfischen Lebensstil vollends widersprochen. Siegfrieds Alleingang mit der tollkühnen, waffenlosen Überwindung des Bären ist nicht comme il faut, sondern die letzte Aristie vor seiner Ermordung. 60   Fichtenau, Das karolingische Imperium 50. 61   Ebd. 38. 62   Ebd. 41f.

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Von der Schilderung des Charakters durch Einhard hält Fichtenau wenig. Dabei gäbe dieser nur die programmatischen Herrschertugenden wieder (temperantia, patientia, constantia, alles schon stoische Forderungen; magnanimitas und liberalitas lassen sich auch aus germanischer Tradition herleiten und werden später als hoher muot und milte für den ritterlich-höfischen Herrscher wichtig). Karls Haltung zum Christentum war von einfacher Klarheit. Fichtenau spricht zu Recht von einer „fränkischen Volksreligiosität“, der wohl auch seine Geistlichen huldigten. Für sein Seelenheil und dessen Wohlfahrt sorgte er mit materiellen Mitteln, zu denen schwere Goldgeräte für die Peterskirche in Rom ebenso zählten wie die komplizierten und rechnerisch festgelegten Anteile an seiner Hinterlassenschaft. In sich selbst die Botschaft des Christentums aufzusuchen, sein Seelenleben ernst zu beobachten passte nicht zu seinem Wesen und hätte die von allen so bewunderte Sicherheit in seinen Entscheidungen in Frage gestellt. Es wäre eine sehr schwierige Aufgabe für den taten- und lebensfrohen Mann gewesen sich in sein Inneres zu versenken oder über sein Tun nachzusinnen. Und dabei hätte ihn die Umwelt kaum verstanden und wäre er seinen Franken fremd geworden63. Als Kaiser musste er gleichsam als oberster Vertreter der Orthodoxie erscheinen, wenn er sich dem Byzantiner gleichstellen wollte. Schon früher aber zielte er in diese Richtung, als er im Bilderstreit seine Meinung kundtat, beraten von seinen Hoftheologen. All das führt aber nicht zum Frankenkönig Karl, zu seinem wahren Charakter und seiner Weltund Lebenssicht zurück. De civitate dei ließ er sich gern beim Mahl vorlesen, was wohl ebenfalls als eine Art offizielle Notwendigkeit erscheint den Worten Augustins lautstark Beifall zu zollen, während man ihm die Freude an den Heldenliedern, die ja stets dramatisch kämpferischen Inhalts waren, durchaus glauben wird64. Immerhin soll er Textstellen von Ambrosius und Augustinus mit dem Bemerken bene oder optime versehen haben. Was wohl seine Fähigkeit auf einer Ebene mit den Kirchenvätern zu diskutieren mehr oder weniger zeigen sollte, im Innersten aber ein Zeichen der unbekümmerten Direktheit und Selbstsicherheit seines Charakters sein mochte65. Fichtenau geht nicht weiter darauf ein und lässt die Frage offen, ob wir bei einer solchen Nachricht den offiziell urteilenden westlichen Oberchristen vor uns haben, der lateinische Texte mit lateinischen Adnotationen versah, obwohl er sonst im Hofkreise wohl fränkisch sprach. Doch ging er immerhin nicht so weit, selbst lateinisch zu dichten und theologische Fragen von sich aus aufzuwerfen, wie wir das vom Merowingerkönig Chilperich I. (561–584) wissen66! Ludwig der Fromme hingegen war nach Fichtenau ein Melancholiker und verkörperte damit eine andere Spielart des Zyklothymen, „der weniger zur Aktion als zu depressiver Untätigkeit“ neigte67. Dagegen ließe sich im Rahmen moderner psychologischer Deutung nichts einwenden, wenn man davon ausgeht, dass Ludwig körperlich seinem Vater ähnlich gewesen sei, was scheinbar stillschweigend vorausgesetzt, wahrscheinlich, aber nicht   Ebd. 44: „Er organisierte sein Seelenheil, so wie er das Reich organisierte“.   Einhard, Vita Karoli Magni, c. 24 (wie Anm. 55) 21f. 65   Fichtenau, Das karolingische Imperium 39f. 66   Gregor von Tours, Historia Francorum, lib. V, c. 44, ed. Bruno Krusch–Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 1, Hannover 1951, Nachdr. 1993) 252–254. Chilperich I. verfasste eine Schrift über die Dreifaltigkeit, er schrieb Gedichte, von denen nur ein Hymnus erhalten ist, und erfand vier neue Buchstaben, die das lateinische Alphabet den sprachlichen Bedürfnissen der Franken anpassen sollten. Chilperich war viel barbarischer als Karl der Große, trachtete im Gegensatz zu diesem aber selbst kulturell und literarisch tätig zu sein! 67   Fichtenau, Das karolingische Imperium 211. 63 64



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erwiesen ist. Dargestellt wurde er jedenfalls nicht mit der Königslanze, sondern mit einem Vortragskreuz und einem leicht gewölbten runden Schild, was beides weniger kriegerisch wirkt, sondern als Symbol des Vorangehens im Christentum, gerüstet und zur Abwehr bereit mit dem „Schild des Glaubens“ anzusehen war. In diesen Vorstellungskomplex gehört auch die Umschrift einer seiner Münzen: Christiana religio, während im Bildfeld eine Kirche abgebildet erscheint! Das musste von Haus aus nicht so gewesen sein: Fichtenau knüpft an die Kindheit und Jugend Ludwigs keine Spekulationen, die etwa eine Veränderung des psychischen Zustands des kleinen Karolingers erklären könnten. Doch er vermutet mit Unterstützung zum Teil späterer Quellen, dass um das Königskind, das da nach Aquitanien abgeschoben wurde, eine Reihe von raffsüchtigen und habgierigen fränkischen Adeligen seine Chancen in einem ohnehin unruhigen, der fränkischen Herrschaft durchaus mit gemischten Gefühlen gegenüberstehenden Land nützen wollte. Immerhin erlebte Ludwig in seiner Kindheit und Jugend den fränkischen Adel vorwiegend so. Derselbe Adel, mit dessen Hilfe, als einer von ihnen, Karl das Reich groß gemacht hatte (nobiliter ampliavit), erschien in Aquitanien als skrupellos Ehren und Vorteile anstrebende Gruppe von Gewaltmenschen, wie Julianus Pomerius die germanischen Krieger fast drei Jahrhunderte früher in Südgallien charakterisiert hatte68. Hier lag nach Fichtenau der Einschnitt in der charakterlichen Entwicklung des Karolingers, der auch zyklothym veranlagt wie sein Vater, aber die weltliches Treiben und offenes Erfolgsstreben ablehnende depressive Form dieser Konstitution ausbildete. Die Mönche, an der Spitze Benedikt von Aniane wurden sein bevorzugter Kreis. Obwohl dieser als gotischer Höfling und Krieger Witiza seine schroffe Härte und gewaltsame Durchschlagskraft in monastische Formen goss und auch als Benedikt an die Spitze strebte, fand Ludwig bei ihm und dessen Mönchen eine Verinnerlichung, die durch Selbstzucht – durchaus nicht ohne barbarische Komponente – erreicht wurde. Als „Mönch auf dem Thron“, wie man die Situation übersteigert genannt hat, konnte man im 9. Jahrhundert kein großes Reich lenken, vor allem wenn man zwischen Selbsterforschung und bedenkenlosem Anwenden der herrscherlichen Macht hin- und herschwankte. Ein geistliches Ideal war am Thron nicht zu verwirklichen und eine auch dem kriegerischen Adel verständliche Laien­ ethik gab es noch nicht, die Ludwigs spätem Nachfolger als neunten seines Namens eine weltliche Frömmigkeit mit mönchischen Elementen ermöglichte, ohne unglaubwürdig und für den Adel unzumutbar zu sein69. Ludwigs unsicherer religiöser Innerlichkeit und ihren Forderungen stand ein weltlicher Adel gegenüber, der sich nur – modern gesagt – an einer Art Leitfaden adeliger Standessitte und an allgemeinen christlichen Lehrsätzen, „zurechtgeschnitten auf den Adel“ orientierte und dem Christentum bloß eine Form äußerer Organisation, aber keineswegs die grundlegende Erneuerung des Menschen bedeutete! Karl war ein Mann, wie ihn die Aufbruchszeit brauchte, Ludwig ein Mann, den die Krisenzeit hervorbrachte: und das bei im Grunde gleichen konstitutionellen Voraussetzungen, die sich aber unterschiedlich konkretisierten, wenn man Fichtenaus psychologisch begründetem Urteil folgen will.

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  Siehe oben S. 69.   Fichtenau, Das karolingische Imperium 217, und ders., Askese und Laster 67.





Rereading „Askese und Laster“: The Case of Alcuin Barbara H. Rosenwein

In his characteristically wide-ranging discussion of the ascetic tradition, „Askese und Laster“, published in 1948, Heinrich Fichtenau argued that, contrary to the Protestant view that denigrated medieval asceticism as hypocritical or positively unhealthy, asceticism was a well-considered method for ordering and guiding emotions: „die historische Form der christlichen Ordnung und Steuerung der Affekte“1.The goal of asceticism was the good health of body and soul – a sort of spiritual orthopedics2. This objective, as Fichtenau noted, owed much to the Stoic tradition, according to which emotions should be avoided in the interest of gaining the calm tranquility of apa­ theia3. Taking its rise in a monastic setting, early asceticism, as represented by Evagrius, taught that the demons infected people with „eight thoughts“. These, the ultimate source of the Christian vice tradition, were for Evagrius equivalent to the Stoic pre-passions (propathé) – the pricking and tingling that the Stoic should counter with reason4. In Evagrius’s scheme, they were to be nullified by other thoughts, equally dangerous in their own right, but rendered null and void in battle. Thus, for example, the ascetic enlisted vainglory to oppose fornication5. Later Christian thinkers dispensed with the Stoic idea of pre-passions. For Evagrius’ pupil Cassian, bad thoughts were understood as vices: they were sins rather than prior to sins6. He called them both vitia (vices) and passiones, a straightforward translation of pathé. Augustine, who knew Stoic theory via Latin interpreters like Cicero, was less enamored of it than Evagrius or Cassian7. In his view, emotions (which he called affectiones, affectus, motus animi, passiones, and perturbationes) were connected to the will8. When the 1  Fichtenau, Askese und Laster 13. I thank Christina Lutter for suggesting this topic to me and Piroska Nagy for her comments. I am enormously grateful to Riccardo Cristiani, who critiqued my original draft and contributed materially to its revision and final form. I dedicate this paper to the memory of Heinrich Fichtenau, a model of scholarly open-mindedness for me and many of my generation. 2   Fichtenau, Askese und Laster 26. 3  Ibid. 32. 4  The pathé, for both the Stoics and Evagrius, were the result of assenting to the preliminary prickings. 5   See Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages (Ithaca 2006) 32–56. 6   Ibid. 45–6. 7   Augustine knew, for example, of Cicero’s discussion of Stoic theory in The Tusculan Disputations and cited it directly in De civitate Dei, lib. 14, c. 5; lib. 14, c. 7; lib. 14, c. 8 etc., ed. Bernardus Dombart–Alphonsus Kalb (CCSL 48, Turnhout 1955) 420, 423. See further Maurice Testard, Saint Augustin et Cicéron 1: Cicéron dans la formation de Saint Augustin (Paris 1958) 59–62. 8   On some of Augustine’s words for emotions, see Simo Knuuttila, Emotions in Ancient and Medieval Philosophy (Oxford 2004) 156.

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will was right (recta), when it was directed toward God, the emotions were praiseworthy; when the will was turned away from God, the emotions were vices9. Gregory the Great grafted this more positive view onto the ascetic’s distrust of emotions. In general, Gregory condemned emotions as cogitations (cogitationes) that tended to overwhelm the mind if not kept in check. In a famous passage on those cogitations, he named the seven capital vices (inanis gloria, invidia, ira, tristitia, avaritia, ventris ingluvies and luxuria), visualizing them organically, as a sort of tree, with pride (superbia) its root. Like the Stoics and the ascetics, Gregory aimed to extirpate all of them, root and branch. However, Gregory admitted that sometimes pastors and holy men had to enlist a few emotions to help weaker men rise to their salvific potential. Thus, like Augustine, Gregory thought that if rightly used emotions (e.g. ira, tristitia) could be praiseworthy10. Thus turned into virtues and vices, theoretical discussions of emotions became almost invisible until the scholastics took them up again. When Carla Casagrande and Silvana Vecchio proposed to look at theories of the passions in the Middle Ages from the fourth to the fourteenth centuries, they first treated the Church Fathers and then jumped straight to the Benjamin minor of Richard of Saint-Victor (d. 1173)11. Rather similarly, Simo Knuuttila’s authoritative survey of emotions in pre-modern philosophy jumps from Gregory the Great to Abelard12. Nevertheless, if we take seriously the fact that emotions had been turned into virtues and vices, then treatises on that topic before the twelfth century should give us a sort of status quaestionis for the period in which they were written. What happens if we follow out this line of thinking with the exceptionally popular treatise on the virtues and vices, De virtutibus et vitiis, written between 801 and 804 by Alcuin for the layman Wido, count of the Breton march in 799 and missus at Tours in 80213? Can we tease out, at the very least, a list of emotions – if not a coherent theory – from this work? Can we say, in short, that thinking about emotions did not stop with Gregory the Great and start up again only with the so-called „Renaissance of the Twelfth Century“? The short answer is: yes, we can.

The text and its sources. Although Alcuin’s treatise on the virtues and vices has attracted a good deal of recent attention, it remains available only in its 1777 edition14. Enormously popular through9  Augustine, De civitate Dei, lib. 14, c. 6 (cit. n. 7) 421: Interest autem qualis sit voluntas hominis; quia si perversa est, perversos habebit hos motus; si autem recta est, non solum inculpabiles, verum etiam laudabiles erunt. („The character of a man’s will is at issue. For if it is turned the wrong way, it will keep these emotions awry; but if it is straight, the emotions will be not only blameless, but even praiseworthy“). Unless otherwise indicated, all translations are mine. I use v for consonantal u in quotations from Latin sources. 10  Rosenwein, Emotional Communities (cit. n. 5) 79–99. 11  Carla Casagrande–Silvana Vecchio, Les theories des passions dans la culture médiévale, in: Le sujet des émotions au moyen âge, ed. Piroska Nagy–Damien Boquet (Paris 2008) 107–22. 12   Knuuttila, Emotions (cit. n. 8) c. 2 and c. 3. 13   Alcuin, De virtutibus et vitiis liber ad Widonem comitem, PL 101 613–38. Alcuin was at Tours in 801 and died there in 804. For the date of the treatise, see Alain Dubreucq, Autour du De virtutibus et vitiis d’Alcuin. Annales de Bretagne et des Pays de l’Ouest 3/3 (2004) 269–88, here 269–70, and Franz Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften der Karolingerzeit: Untersuchungen zu ausgewählten Texten des Paulinus von Aquileia, Alkuins, Jonas’ von Orleans, Dhuodas und Hinkmars von Reims (Neuried 2000) 120–1. For Wido, see Julia M. H. Smith, Province and Empire: Brittany and the Carolingians (Cambridge 1992) 52–3, 67–8. 14   On the editions, see Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften (cit. n. 13) 117–8. Paul E. Szarmach,



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out the Middle Ages, with over 140 manuscripts extant, and translated into a number of medieval vernacular languages, it will here be used as a key source for its own period, that is, for Carolingian norms and values15. One major issue must be confronted before doing so, however: the manual (as Alcuin called it) is largely a pastiche of earlier writings. Even if Donald Bullough was right to suggest that some of those supposed sources should be attributed to Alcuin himself, there is no question that much of the treatise is made up of commonplaces16. This has meant that even historians of treatises on the virtues and vices have not considered Alcuin’s contribution very significant. In Carla Casagrande and Silvana Vecchio’s survey of the genre, Alcuin’s manual for Wido is mentioned only in passing17. The response to this difficulty is to point out that commonplaces can be useful for historians of the vocabulary and theory of emotions. Even had Alcuin borrowed every word, phrase, and idea that he wrote (which is certainly not the case), we would be able to use his bricolage. For Alcuin, who was very well read, made choices when he borrowed from the work of others18. For example, in his Disputatio de rhetorica et de virtutibus sapientissimi Regis Caroli et Albini magistri, an earlier treatise also covering the virtues and to some extent the vices, Alcuin drew largely on Cicero’s De Inventione and Julius Victor’s Ars Rhetorica19. In a later work on the nature of the soul (De ratione animae) he drew on Augustine’s De trinitate and De genesi ad litteram20. But in his De virtutibus et vitiis, he far more often used passages from other authors, chiefly Cassian, Isidore of Seville, Caesarius of Arles, and perhaps pseudo-Augustine, assuming, against the arguments of Donald Bullough, that the pseudo-Augustine sources were not his own texts21. A Preliminary Handlist of Manuscripts containing Alcuin’s Liber de virtutibus et vitiis. Manuscripta 25 (1981) 131–40, announces (p. 131) „an eventual edition“. 15  It is used as a source for Carolingian norms of masculinity in Rachel Stone, Morality and Masculinity in the Carolingian Empire (Cambridge 2012). 16  See below at n. 19–21. 17  Carla Casagrande–Silvana Vecchio, I sette vizi capitali. Storia dei peccati nel Medioevo (Turin 2000) 61, 89, 194, 263. 18  For the range of Alcuin’s sources in general, see Donald A. Bullough, Alcuin: Achievement and Re­ putation (Leiden 2004); Index on Alcuin, his sources, p. 505. Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften (cit. n. 13) 123–4, notes that Alcuin refers to his manual as haec mea dicta, which he ordinarily used when a work was not dependent on others. 19   Alcuin, Disputatio de rhetorica et de virtutibus sapientissimi Regis Caroli et Albini magistri, in: Wilbur Samuel Howell, The Rhetoric of Alcuin and Charlemagne: A Translation, with an Introduction, the Latin Text, and Notes (Princeton 1941). The sources are discussed on p. 22–33, where Alcuin’s indebtedness to Cassiodorus, De rhetorica, and Isidore of Seville, De rhetorica is also noted. 20   Alcuin, De ratione animae ad Eulaliam virginem, in: James J. M. Curry, Alcuin, De ratione animae: A Text with Introduction, Critical Apparatus, and Translation (Ph.D. diss., Cornell University 1966) 39–72. The sources used by Alcuin in this work are discussed ibid. 5–9. See also Paul E. Szarmach, A Preface, Mainly Textual, to Alcuin’s De ratione animae, in: The Man of Many Devices Who Wandered Full Many Ways … . Festschrift in Honor of János M. Bak, ed. Balazs Nagy–Marcell Sebök (Budapest 1999) 397–408. 21   Henri-M. Rochais, Le Liber de virtutibus et vitiis d’Alcuin. Revue Mabillon 41 (1951) 77–86, argued that most of Alcuin’s treatise depended on Defensor of Ligugé. This was roundly disputed by Liutpold Wallach, Alcuin and Charlemagne: Studies in Carolingian History and Literature (Ithaca 1959) 236–7, who asserted that Alcuin’s sources were, rather, Isidore of Seville, Sententiae and pseudo-Augustine, Sermones 98, 108, 254, 291, 297, 302, and 304. Much more recently, Donald A. Bullough, Alcuin and Lay Virtue, in: Predicazione e società nel medioevo / Preaching and Society in the Middle Ages, ed. Laura Gaffuri–Riccardo Quinto (Padova 2002) 85–7 pointed out that some of the Latin flourishes in pseudo-Augustine, Sermo 302 were characteristic of Alcuin and, further, that there is no independent MS tradition for the sermon until its transmission by Hrabanus Maurus, a student of Alcuin (see Clavis patristica pseudoepigraphorum Medii Aevi

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The manual falls into several fairly coherent sections22. The dedicatory letter to Wido places it squarely in the admonitory tradition23. Wido, who is involved in warlike matters (in bellicis rebus), has, Alcuin claims, asked for guidance; Alcuin will give him solace (solatium) via his book, „so that your mind (animus), fatigued by external troubles, may have a joyful return to itself“24. After a chapter on wisdom, Alcuin presents three on the theological virtues (faith, charity, and hope). Next follows a chapter on the importance of reading. Chapters 6–26 cover various virtues alongside what Donald Bullough has label­ed „spiritual exercises“25. These include compunction of heart, confession, and penance. Chapters 27–34 cover the eight principal vices, and chapter 35 summarizes what Alcuin said about the four cardinal virtues (prudence, justice, fortitude, and temperance) in his Disputatio de rhetorica26. A final letter to Wido, included in the current edition as chapter 36, ends the treatise27. 1, part A, ed. John J. Machielsen [Turnhout 1990] 228 no. 1087). Bullough concluded that „it is surely far more probable that Hrabanus’s homily-text is one of a series in which he has combined extracts from one or more chapters of the De virtutibus et vitiis with prefatory and concluding passages of his own. It would therefore be Alcuin who originally drew on the Sententiae [of Isidore of Seville]“. The Clavis patristica suggests that the same MS tradition was the case with pseudo-Augustine Sermones 98 (154 no. 883), 108 (157 no. 893), 291 (225 no. 1076), and 304 (228 no. 1089), i.e., there is no independent source for them until Hrabanus’s homilary. That leaves pseudo-Augustine Sermo 254 unaccounted for, but Bullough, Alcuin: Achievement (cit. n. 18) 354–5, argues that this too is Alcuin’s, albeit heavily dependent on „two or three different works of Isidore“, namely the Sententiae, the Synonyma, and the pseudo-Isidorian Testimoniae divinae scripturae et patrum. The sermons of pseudo-Augustine used by Hrabanus are listed in Raymond Étaix, Le recueil de sermons composé par Raban Maur pour Haistulfe de Mayence. Revue des Études Augustiniennes 32 (1986) 124–37. Wallach, ibid. 242–6, 252–4, adduces other sources for Alcuin, including Peter Chrysologus, Sermo 53, Caesarius of Arles, Sermo 18, Gregory the Great, Moralia in Iob, and Cassian, Collationes. Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 274, adds Julian Pomerius, De vita contemplativa. Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften (cit. n. 13) 130, suggests a different way to think about source use: not which source but how closely (or loosely) Alcuin quoted them. Sedlmeier, ibid. 131–50, makes close comparisons of Alcuin’s text with his purported sources, including the pseudo-Augustinian Sermones. Sedlmeier, ibid. 144–5, could find no sources for one chapter – c. 31, De ira – but thought they might eventually be discovered. Riccardo Cristiani (email communication) has recently found two of them. See below, n. 39–40. 22  Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften (cit. n. 13) 127–9, counts eight sections; Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 270, counts four; Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 87–9, implicitly counts five. On the various ways scholars have counted the parts see Sedlmeier, Die laienparänetischen Schriften 125–7. 23  This opening letter and the final peroratio were edited as Alcuin, Epistola, 305, ed. Ernst Dümmler (MGH Epistolae 4, Epistolae karolini aevi 2, Munich 1994) 464–5: Alcuin writes ut haberes iugiter inter manus paternae ammonitionis sententias. On the tradition of admonition, see Mayke de Jong, The Penitential State: Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840 (Cambridge 2009) 118–22, who explores the vocabulary of admonitio, including the verb increpare, rebuke, which Alcuin uses once, in connection with those who boast of their good deeds rather than attribute them to God: Alcuin, De virtutibus, c. 25 (cit. n. 13) 632: Increpat eos beatus Paulus apostolus qui in suis gloriantur benefactis. Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 84–5, points out that the manual combined „the hitherto-separate genres of admonitory letters to individuals and ,philosophical‘ or pedagogic writings on the Arts“, among other things. Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 271, sees the combination as one „de la lettre d’admonition et du traité de moral politique“. 24  Alcuin, Epistola, 305 (cit. n. 23) 464: ut animus exterioribus fatigatus molestiis, ad se ipsum reversus habeat, in quo gaudeat. It was a topos of the time to claim that one wrote on request. See Wallach, Alcuin and Charlemagne (cit. n. 21) 232–3, and Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 271. 25   Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 85 n. 53. The term was adopted by Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 272, as well. Rochais, Le Liber de virtutibus (cit. n. 21) 79, argued that the original treatise ended with c. 26. This was refuted by Paul E. Szarmach, The Latin Tradition of Alcuin’s Liber de virtutibus et vitiis cap. xxvii–xxxv, with Special Reference to Vercelli Homily xx. Mediaevalia 12 (1989 for 1986) 13–41, esp. 14. 26   Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 88–9. For the Disputatio itself, see n. 19 above. 27   Alcuin, Epistola, 305 (cit. n. 23) 464–5. In PL 101, col. 638, this letter is (wrongly) labeled c. 36.



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An emotional text? For rather obvious reasons, few scholars have previously asked what this text might have to do with emotions28. Unlike Alcuin’s letters and poems, some of which employ what C. Stephen Jaeger has termed a „powerful erotic-religious language of romantic love“, Alcuin’s manual on virtues and vices is hardly „emotional“29. Apart from calling Wido „most beloved son“ (dilectissimo filio) on occasion (for example in both opening and closing letters), there is not a word of affection. Compare this to a letter that Alcuin wrote to Archbishop Arn of Salzburg a few years before he wrote De Virtutibus: „O would that I could be transported to you, like Habacuc: with what eager embraces I would enfold you, o sweetest son … I would kiss all the limbs of your body with the sweetest greetings.“30 Nevertheless, there are good reasons to consider the manual an exploration of emotions, if not itself „emotional“. As Edward Peters has recently pointed out, the seemingly silent gap between the psychological theories of the Church Fathers and the psychological writings of the scholastics is due to our rigid definition of „psychology“. Peters suggests that the practical but no less psychological works of moral theologians dominated the period in between. He proposes calling their writings „palaeopsychology“, citing Alcuin’s De virtutibus et vitiis as one example31. Alcuin himself certainly meant the work to have an emotional impact. His very purpose was to effect an emotional transformation: „so that the reader’s animus, fatigued by external troubles, might have a joyful return to itself“32. What did Alcuin mean by a troubled animus? One answer comes from Cicero’s De inventione, on which Alcuin drew on extensively in his Disputatio de Rhetorica. At the very start of that dialogue he evoked the Ciceronian state of nature, where men „did nothing through the reason of the ani­ mus“ (ratione animi) but acted rather through the body’s strengths (viribus corporis)33. Here the animus was the home of reason. But it was also, in Cicero’s terms, the seat of the unreasonable affectiones – feelings. Cicero, with Alcuin copying, wrote about acts done on impulse (impulsio): that is „without thinking because of some feeling of the animus (affectionem animi), such as love, anger, affliction, intoxication (amor, iracundia, aegritudo, vinolentia), and the like“34. Cicero wanted to explain how a prosecutor should convince 28   Wallach was interested in its sources; Bullough (Alcuin and Lay Virtue, cit. n. 21), Dubreucq, and Sedlmeier wanted to discern Alcuin’s contribution to the genre of lay mirrors. 29   C. Stephen Jaeger, Ennobling Love: In Search of a Lost Sensibility (Philadelphia 1999) 48. 30  Alcuin, Epistola, 193 (cit. n. 23) 319: O si mihi translatio Abacuc esset concessa ad te: quam tenacibus tua colla strinxissem, o dulcissime fili, amplexibus … singulos corporis artus dulcissimis oscularer salutationibus. Translation from Jaeger, Ennobling Love (cit. n. 29) 47. Bullough, Alcuin: Achievement (cit. n. 18) 367 n. 113, dates the letter „?autumn 798“. 31   Edward Peters, Vir inconstans: Moral Theology as Palaeopsychology, in: In the Garden of Evil: The Vices and Culture in the Middle Ages, ed. Richard Newhauser (Toronto 2005) 59–73, with Alcuin’s treatise cited on p. 69. Malcom R. Godden, Anglo-Saxons on the Mind, in: Literature and Learning in Anglo-Saxon England: Studies Presented to Peter Clemoes on the Occasion of his Sixty-Fifth Birthday (Cambridge 1985) 271–98, esp. 285–6, is a pioneering essay that touches on Alcuin’s psychology. See also Leslie Lockett, Anglo-Saxon Psychologies in the Vernacular and Latin Traditions (Toronto 2011). 32   See n. 24 above. 33   Alcuin, Disputatio (cit. n. 19) 68 l. 35–6, cribbing from Cicero, De inventione lib. 1 c. 1.2, ed. Harry M. Hubbell (Cambridge 1960) 4. 34   Alcuin, Disputatio (cit. n. 19) 92 l. 414–17: quae sine cogitatione per quandam affectionem animi facere aliquid hortatur, ut amor, iracundia, aegritudo, vinolentia, et omnino omnia, in quibus animus ita videtur affectus fuisse, borrowed from Cicero, De inventione lib. 2, c. 5.17 (cit. n. 33) 180.

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his audience that a deed was done out of impulse. Alcuin repeated him: „[the prosecutor] will have to amplify on that urge and, as it were, the agitation and feeling of the [criminal’s] mind (commotionem et affectionem animi) with his words and phrases, and he will have to show how great is the force of love (vis amoris), how much perturbation of mind (perturbatio animi) comes from anger (iracundia) or from any of those causes from which he says the impulse came. [He should do this] so that it may not seem strange that a mind (animus) agitated by such an emotion (perturbatione) should commit the crime.“35 In Alcuin’s treatise for Wido, less heavily dependent on Cicero than his Disputatio, the animus was but one part of the human mental, spiritual, and moral apparatus. It was related to (and indeed often assimilated with) the soul (anima), heart (cor), and mind (mens). Along with the body (corpus, caro, carnis), these faculties were responsible for human action, whether moral or immoral. Thus, Alcuin, unlike some of his sources, was not systematic about which human faculty was associated with the emotions. While Cicero had associated anger (iracundia) with the animus, Alcuin said that anger (ira/iracundia) disturbed the mens36. And where Cicero had placed love (in his case using the word amor) in the animus, Alcuin associated love (charitas/dilectio) with the cor, anima, and mens. The Lord himself (Alcuin noted) had said, „love (diliges) our Lord God with all your heart and all your soul and all your mind“. By this He meant (here Alcuin quoted the De imagine dei) „with all your intellect (intellectus), will (voluntas), and memory (memoria)“37. We can see yet again the general equivalence of the animus, anima, cor, and mens in De virtutibus et vitiis by noting the many vices and virtues that Alcuin associated with more than one organ. Thus anger (ira), if not ruled by reason (ratio), turned into fury (furor) „such that a person will be powerless in his animus“ (ita ut homo sui animi impotens erit) and will do what is inappropriate. Similarly, if anger seizes a person’s heart (si cordi insidit), it will affect his good judgment. Again similarly, it will spawn a swollen mind (pullulat tumor mentis), disputes, homicides, desire for revenge, and so on38. Alcuin was in this instance, as in many others, drawing on a rich repertory of sources. When he spoke of a „seized heart“, he was thinking of Cassian39. When he talked about 35   Alcuin, Disputatio (cit. n. 19) 92–4 l. 430–5: illum impetum et quandam commotionem animi affectionemque verbis et sententiis amplificare debebit et ostendere, quanta vis sit amoris, quanta animi perturbatio ex iracundia fiat aut ex aliqua causa earum, qua inpulsum aliquem id fecisse dicet, ut non mirum videatur, si quod ad facinus tali perturbatione commotus animus accesserit, taken from Cicero, De inventione lib. 2, c. 5.19 (cit. n. 33) 182. Perturbatio was Cicero’s translation of the Greek word pathé, i.e. emotion. See Cicero, Tusculanae Disputationes lib. 3, c. 4, ed. Michelangelo Giusta (Turin 1984) 150 l. 5–6, where the pathé are motus animi rationi non obtemperantis („movements of the mind not subject to reason“) and, therefore perturbationes. See also ibid., lib. 4, c. 6, 214 l. 6: Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod pathos ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commotio („The definition of Zeno is this: that an emotion, which he calls a pathos, is an agitation of the mind turned away from right reason and contrary to nature“). 36  Alcuin, De virtutibus, c. 24 (cit. n. 13) 631: Illa ira mala est, quae mentem turbat („anger is that evil thing that disturbs the mind“). The observation is in a chapter on iracundia, strongly suggesting that ira and iracundia were equivalent terms for Alcuin. 37   Ibid., c. 3, 615: (After calling attention to the importance of charitas) ipse Dominus ... respondit: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et ex tota mente tua ... id est, toto intellectu, tota voluntate, et ex omni memoria (Matt. 22:36). On the De imagine dei see Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 87. Godden, Anglo-Saxons (cit. n. 31) 285, already noted that in Alcuin’s De ratione animae the mind, soul, and animus were equated. 38  Alcuin, De virtutibus, c. 31 (cit. n. 13) 634. 39  Cassian, De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis, lib. 8, c. 1, ed. Michael Petschenig (CSEL 17, Wien 1888) 151: hac [ira] enim in nostris cordibus insidente.



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anger’s role in swelling the mind and producing brawls and bloodshed, he was drawing on Gregory the Great40. Indeed, Alain Dubreucq suggests that Alcuin was so keen to combine sources that he devoted t w o chapters to pride (superbia) and the same to anger (ira and iracundia) because he wanted „to reconcile the monastic list of Cassian with the ideas of Gregory“41.

Constructing a list of emotions Not every chapter in the De virtutibus et vitiis named an emotion. This is because it was not entirely a book on the virtues and vices but rather something more general. In his initial letter to Wido, Alcuin called the treatise a „brief exhortatory sermon“ and a handy collection of „sentences of paternal admonition“42. It was only later that Alcuin’s biographer focused on its discussion of virtues and vices43. Thus the first chapter of De virtutibus et vitiis, on wisdom (sapientia), is about a goal, not an emotion. That is, unlike virtues and vices, wisdom is not (in Alcuin’s treatment) „perfectible“, changeable, or subject to human control. It does not exist in the human faculties of mind or body44. It is, by that very token, the way to the vita beata. Wisdom, said Alcuin, is summed up in two commands: „turn from evil and do good“ (Psal. 33:15). The rest of Alcuin’s treatise is, in effect, about how to carry out these injunctions. The emotions (or, in Alcuin’s parlance, the virtues and vices) are quite different from wisdom. They partake in human faculties such as the heart and soul. They are the tools of perfectibility. Consider Alcuin’s discussion of love (charitas). He notes that charitas „gets first place among the precepts of God, and without its perfection nothing can please God … . Hence when the Lord himself was asked … what was the greatest command, he answered, Love your Lord God with your whole heart (corde) and soul (anima) and mind (mente)“45. In what follows in this section, I propose to draw up a list of Alcuin’s emotion words by discovering those terms that he connected to the animus, anima, mens, cor, and corpus. In 40   Gregory the Great, Moralia in Iob, lib. 31, c. 45, ed. Marcus Adriaen (CCSL 143B, Turnhout 1985) 1610: De ira, rixae[,] tumor mentis, contumeliae, clamor, indignatio, blasphemiae proferuntur. 41   Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 276. Superbia is discussed in Alcuin, De virtutibus, c. 23 and c. 27 (cit. n. 13) 630–1 and 632–3; ira/iracundia in c. 24 and c. 31, ibid., 631 and 634. 42   Alcuin, Epistola, 305 (cit. n. 23) 464: Memor petitionis tuae … exhortamentum brevi sermone conscribere, ut haberes iugiter inter manus paternae ammonitionis sententias. („I am mindful of your request that I write a brief exhortatory sermon so that you may have constantly in your hands sentences of paternal admonition“). 43   Vita Alcuini, c. 21, ed. Wilhelm Arndt (MGH SS 15, 1, Hannover 1887) 195, called it omelias de principalibus vitiis et virtutibus („homilies on the principal vices and virtues“), whence its modern title. 44   Alcuin, De virtutibus, c. 1 (cit. n. 13) 614–5. However, Alcuin’s apparent source, Boniface, Sermo 7, PL 89 857 does associate sapientia with emotions in a passage not quoted by Alcuin: Nulla melior est sapientia quam ea qua Deus secundum modulum humanae mentis intelligitur et timetur („No wisdom is better than that by which God is understood and feared according to the small measure of the human mind“). 45   Alcuin, De virtutibus, c. 3 (cit. n. 13) 615: In praeceptis vero Dei charitas obtinet principatum, sine cujus perfectione nihil Deo placere posse ... . Inde et ipse Dominus ... interrogatus quod esset mandatum maximum, respondit: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et ex tota mente tua. The entire passage is lifted from Boniface, Sermo 7 (cit. n. 44) 857: In praeceptis vero Dei charitas obtinet principatum … sine cujus perfectione nihil Deo placere posse … . Unde et ipse Dominus … interrogatus quod esset mandatum maximum, respondit: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et ex tota mente tua. In turn, Boniface may have been building on Isidore of Seville, Sententiae lib. 2, c. 3, 3, ed. Pierre Cazier (CCSL 111, Turnhout 1998) 97: Caritas enim virtutum omnium obtinet principatum or on Isidore’s source.

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the next section I will use an associative method (explained below) to expand the list46. In the end it does not make sense to divide these emotions by the faculty they „belonged“ to, since Alcuin quite blithely associated many of them (as we saw in the case of ira/iracundia) with more than one47. Nevertheless, for ease of exposition, and to demonstrate how the list was arrived at, I consider examples from each faculty. It also does not make sense to divide the emotions into „good“ or „bad“, virtuous or vicious; many, following Saint Augustine’s dictum, are good when rightly used and felt but wrong when turned from God. Let us begin with the animus, which, as we have seen, was able to rejoice as it returned to a sort of quiet equilibrium within itself. Alcuin thought the animus could also experience other delights, such as „spiritual happiness (laetitiam spiritualem) through hope (spem) in future things, the consolation (consolatio) of the bible, and the spiritual cheerfulness (jucunditas) of fraternal colloquy“48. Further, the virtues – fortitude (fortitudo), justice (justitia), patience (patientia), and temperance (temperantia) – were, among other things, positive feelings pertaining to the animus. For, as Alcuin declared, virtue „is the [good] disposition of the animus“, an idea that derived in part from Cicero’s De inventione49. Patience, for example, elsewhere in the manual virtually equated with the Cardinal virtue of courage (fortitudo)50, was closely allied with forgiveness: „True patience is to bear up bravely in the face of injuries and not seek vengeance in the future but forgive from the heart (ex corde ignoscere). We can be martyrs without sword or flames if in our animus we truly preserve patience (patientiam) with our neighbors.“51 Compassion, similarly, was 46   Making lists is in the tradition of Alcuin himself: as Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 79, points out, „Alcuin demonstrably loved lists (singillatim nominare is his term)“. 47  See above, n. 38–40. Other emotions associated with more than one human faculty include amaritudo (cor/animus), compunctio (anima/cor), gula (corpus/mens), humilitas (mens/cor), invidia (animus/mens), patientia (anima/animus), spes (anima/animus), and tristitia (anima/animus). But since cor, anima, and mens are so often associated, this can be only a partial list. 48   Alcuin, De virtutibus, c. 33 (cit. n. 13) 635: Saepe etiam et praesentis vitae nulla delectatio. Quae vincitur per laetitiam spiritualem, et spem futurorum, et consolationem Scripturarum, et fraternum [in spirituali jucunditate] colloquium. 49   Ibid., c. 35, 637: Virtus est animi habitus, naturae decus, vitae ratio, morum pietas, cultus divinitatis, honor hominis, aeternae beatitudinis meritum („Virtue is the [good] disposition of the animus, the dignity of nature, the rule of life, the goodness of morals, the worship of the divinity, the honor of man, and the gaining of eternal beatitude“). As Bullough, Alcuin and Lay Virtue (cit. n. 21) 89 n. 71 notes, the definition of virtus in De virtutibus et vitiis was different from the Ciceronian definition. See Cicero, De inventione lib. 2, c. 53.159 (cit. n. 33) 326: Virtus est animi habitus naturae modo atque rationi consentaneus („Virtue is a disposition of the animus in harmony with the order of nature and reason“). Alcuin gave this Ciceronian version in his Disputatio (cit. n. 19) 148 l. 1264–5, but in De virtutibus et vitiis, he christianized it. For the later influence of Alcuin’s De virtutibus et vitiis definition, see Paul E. Szarmach, Alfred’s Boethius and the Four Cardinal Virtues, in: Alfred the Wise: Studies in Honour of Janet Bately on the Occasion of Her Sixty-Fifth Birthday, ed. Jane Roberts– Janet L. Nelson–Malcolm Godden (Cambridge 1997) 223–35, esp. 230–5. 50   This marked a change from the definition that Alcuin gave in his Disputatio (cit. n. 19) 148 l. 1264–5: Fortitudo est magno animo periculorum et laborum perpessio („Courage is enduring dangers and hardships with great spirit“), which loosely followed Cicero, De inventione, lib. 2, c. 54.163 (cit. n. 33) 330: Fortitudo est considerata periculorum susceptio et laborum perpessio („Courage is the cautious undertaking of dangers and enduring of hardships“). Alcuin also placed justitia in the animus: see De virtutibus c. 35 (cit. n. 13) 637: Justitita est animi nobilitas („Justice is nobility of animus“). Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 280, suggests this change was deliberately aimed at Alcuin’s addressee, Wido, since justice was „centrale de l’honor du noble carolingien“. Note that in both the Disputatio and the De virtutibus et vitiis, Alcuin made the animus the site of justice. 51  Alcuin, De virtutibus, c. 9 (cit. n. 13) 619: Patientia vera est in faciem fortiter sustinere injurias, et in futuro vindictam non quaerere, sed ex corde ignoscere. Sine ferro vel flammis martyres esse possumus, si patientiam veraciter in animo servamus cum proximis nostris. Alcuin was drawing either on Gregory the Great, Homiliae in



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the preserve of the animus: „We merit the mercy (misericordiam) of God and forgiveness of our sins by [our] compassion (miseratione) and alms to the poor, since he who does not turn his animus away from the poor quickly turns the Lord’s ear to himself.“52 At the same time, Alcuin associated the animus with feelings that were the equivalent of vices and not at all happy. Envy (invidia) was one: „Nothing can be more evil than envy“, wrote Alcuin of this chief emotion of the devil, and „every envious man is tormented in his animus“53. Meanwhile anger (ira, iracundia) – which was a virtue when ruled by reason and directed against one’s own sins – was a vice when reason, which was another attribute of the animus, was overcome by it54. Thus, according to Alcuin, anger is that „which, if not ruled by reason, turns into fury, so that a man becomes powerless in his own animus and does what is wrong“55. In a later chapter, when speaking of sadness (tristitia), Alcuin located many emotions that w e would classify under anger, but that for him were the fruit of sorrow and connected to the animus: „The other [sort of sadness] is the sadness of this world, … which perturbs the animus and often throws it into despair. … From [sadness] is born malice (malitia), rancor (rancor), weakness (pusillanimitas) of animus, bitterness (amaritudo), and despair (desperatio).“56 Alcuin worried a good bit about despair. When speaking of mercy, he described the good judge, who balanced mercy with discipline. Too much mercy would lead sinners to think they were free to sin. But too much discipline would „turn the offender’s animus to despair (desperationem)“57. In the section of his manual that considered the nature of penance and confession, Alcuin wrote: „True penance is not counted by years but by bitterness of animus (amaritudine animi). Thus Saint Peter quickly received the Lord’s indulgence, for he wept most bitterly (amarissime flevit) over his sin of triple denial. However short it may be, penance, if done in the intimate bitterness of the heart (intima cordis a­ maritudine), is not despised by God, the just judge, who looks into the heart’s secrets (cordis secreta). For God does not so much require length of time as he weighs the feeling of sincerity (affectum sinceritatis) of the penitent. For he who believes in Christ with his whole mind (tota mente), even if he were to die in multiple sins, lives eternally by his faith.“58 Evangelia 35, 7, ed. Raymond Étaix (CCSL 141, Turnhout 1999) 327: Et nos ergo hoc exemplo sine ferro esse martyres possumus, si patientiam veraciter in animo custodimus or Defensor of Ligugé, Liber Scintillarum, c. 2, ed. Henri-M. Rochais (SC 77, Paris 1961) 74, who himself quoted Gregory. 52   Alcuin, De virtutibus, c. 17 (cit. n. 13) 625: Ita misericordiam Dei et indulgentiam peccatorum nostrorum, pauperum miseratione et eleemosynis meremur: quoniam qui suum ab inope non avertit animum, cito ad se Domini convertit auditum. 53  Ibid., c. 22, 630: Nihil nequius potest esse invidia ... . Omnis enim invidus animo torquetur. On the devil’s envy, Alcuin quoted Wisd. 2:24: Invidia diaboli mors introivit in orbem terrarum („The envy of the devil brought death into the world“). 54   Alcuin, De virtutibus, c. 24 (cit. n. 13) 631. 55  Ibid., c. 31, 634: Ira … quae si ratione non regitur, in furorem vertitur, ita ut homo sui animi impotens erit, faciens quae non convenit. On righteous anger see Alcuin’s discussion of iracundia in ibid., c. 24, 631. 56  Ibid., c. 33, 635: Alia est tristitia hujus saeculi … quae animum perturbat, et saepe in desperationem mittit … . Ex ipsa nascitur malitia, rancor, animi pusillanimitas, amaritudo, desperatio. 57   Ibid., c. 7, 618: Si disciplina sola semper aderit, vertitur animus delinquentis in desperationem. 58   Ibid., c. 13, 622: Poenitentia vera non annorum numero censetur, sed amaritudine animi. Unde beatus Petrus mox a Domino indulgentiam recepit, quia amarissime flevit trinae negationis culpam. Poenitentia, quamvis sit exigui temporis; si intima cordis amaritudine agitur, non despicitur apud judicem justum Deum, qui cordis secreta considerat. Non enim longitudinem temporis tantum requirit Deus, quantum affectum sinceritatis [poenitentis] pensat. The passage is equivalent to one in pseudo-Augustine, Sermo 254, PL 39 2216, and Bullough, Alcuin: Achievement (cit. n. 18) 354, has identified the ultimate sources as „two or three different works of Isidore“.

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Here we see that the animus was where amaritudo resided as it spilled out in bitter weeping. In his chapter on sadness, Alcuin explicitly tied tristitia to the animus: „sadness is salvific when the animus is saddened (contristatur) by the very sins of the sinner, and it is made so sad (contristatur) that [the sinner] seeks to make confession and do penance.“59 But Alcuin also associated tristitia with the heart, and the heart inevitably evoked its companions, the soul and the mind. As we have seen, cor, anima, and mens were habitually linked together by scripture in passages that exhorted men and women to love God: „Love (diliges) your Lord God with all your heart (corde), all your soul (anima), and all your mind (mente).“60 Compunction (compunctio) was typically paired with the heart in the phrase compunctio cordis. An offspring of humility, compunction stood at the beginning of a chain of worthy spiritual events leading to confession, penitence, and pardon61. Like bitterness of animus, compunction was humility of mind (humilitas mentis), and, like amaritudo, it was accompanied by tears (lacrymis). Alcuin took some time to explain the qualities of the affects (qualitates affectionum) with which „the thought of the just (cogitatio justi) is pricked [the root meaning of compunction] to salubrious loathing“. These „qualities“ – a better word might be „causes“ – included the „memory of acts neglected and mindfulness of future punishments“62. Here heart and mind were involved in compunction, and soon the anima participated as well: „The anima of a person, which is pricked in prayer, is extremely effective for his salvation. When compunction is poured forth through prayer, it is certain that the presence of the Holy Spirit is there in our hearts.“63 Finally, the flesh (carnis, corpus) was the site of desire (desiderium, concupiscentia), gluttony (gula), and worldly happiness (laetitia). „Let a person oppose the flames of eternal torment to the desire of the flesh (desiderio carnis)“, wrote Alcuin64. And the first of the corporal sins (which are equally the eight vices of the mens) is gluttony (gula)65. This inquiry results in the list of emotion words in Table 1.

59   Alcuin, De virtutibus, c. 33 (cit. n. 13) 635: Tristitia salutaris est, quando de peccatis suis animus contristatur peccatoris, et ita contristatur, ut confessionem et poenitentiam agere quaerat. 60  Matt. 22:37: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et in tota anima tua, et in tota mente tua. See also Luke 10:27; Deut. 6:5 etc. 61   Alcuin, De virtutibus, c. 11 (cit. n. 13) 621, the promissio indulgentiae … lacrymas poenitentiae excitat cordi nostro („the promise of remission of sins excites the tears of penitence in our heart“). Poenitentiae, too, then is at home in the heart. 62  Ibid.: Quatuor sunt qualitates affectionum, quibus cogitatio justi taedio salubri compungitur, hoc est, memoria praeteritorum facinorum, recordatio futurarum poenarum, consideratio peregrinationis suae in hujus vitae miseria. Much of this was borrowed from Isidore of Seville, Sententiae lib. 2, c. 12, 4 (cit. n. 45) 118 or from Defensor of Ligugé, Liber Scintillarum, c. 6 (cit. n. 51) 124, quoting Isidore in turn. 63   Alcuin, De virtutibus, c. 11 (cit. n. 13) 621: Anima hominis quae in oratione compungitur, valde illi proficit ad salutem. Cum per orationem compunctio effunditur, Spiritus sancti praesentiam adesse cordibus nostris non dubium est. Some, but not all, of this was from Defensor of Ligugé, Liber Scintillarum, c. 6 (cit. n. 51) 120, there attributed to Gregory the Great. 64   Alcuin, De virtutibus, c. 18 (cit. n. 13) 626. In the same chapter, however, Alcuin quotes Eccli 18:30, which associates concupiscentia with the anima. 65  Alcuin, De virtutibus, c. 28 (cit. n. 13) 633: Primum est corporale peccatum gula. But ibid., c. 27, 632–3, Alcuin had stated Octo sum vitia principalia vel originalia omnium vitiorum, ex quibus quasi radicibus omnia corruptae mentis vel incasti corporis diversarum vitia pullulant iniquitatum („There are eight principle or originals of all vices, from which roots, as it were, every aspect of the corrupt mind or the unchaste body spawn the vices of diverse iniquities“).



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Table 1: Alcuin’s Emotion Words acedia affectio amaritudo avaritia cenodoxia/vana gloria charitas compunctio concupiscentia consolatio desiderium desperatio desperare dilectio diligere fides

fornicatio fortitudo furor gaudium gravitas gula humilitas humiliare ignoscere invidia ira/iracundia irascor jucunditas justitia laetitia

malitia misericordia patientia pusillanimitas (animi) rancor spes superbia taedium temperantia tristitia contristari tumor mentis emotion markers: flere lacrymae

Expanding the list However, it is possible to expand this list by looking at how each word was deployed by Alcuin to evoke its kinds or its contraries66. Thus, for example, amaritudo is already on Table 1. But Alcuin also spoke of a bitterness of fear (timoris amaritudine) that was the opposite of fear of God born of the sweetness of charity67. This authorizes us to call timor an emotion as well. In turn, timor/timere was for Alcuin the equivalent of metus/metuere68 and paralleled amor, cupiditas, and odium in perverting justice69. Charitas destroyed discordia, which was a branch of cenodoxia/vana gloria. And so on70. The result of this inquiry is the expanded list of emotions in Table 2.

66  Here using the „associative method“ that I first proposed in Rosenwein, Emotional Communities (cit. n. 5) 43–5, and discussed further in eadem, Thinking Historically about Medieval Emotions. History Compass 8/8 (2010) 833. 67   Alcuin, De virtutibus, c. 15 (cit. n. 13) 624: timeamus eum ex charitatis dulcedine, non de timoris a­ma­ ritudine. 68  Ibid.: Qui timore sancto Deum metuunt („He who fears God with a holy fear“). 69  Ibid., c. 21, 629. 70  Further citations for Table 2: arrogantia in ibid., c. 34, 635, is a branch of cenodoxia/vana gloria; blasphemia in ibid., c. 24, 631 is associated with amaritudo and ira in Eph. 4:31, quoted by Alcuin; clamor in ibid., c. 24, 631 is associated with amaritudo and ira in Eph. 4:31, quoted by Alcuin; cupido (inanis gloriae) is associated with cenodoxia/vana gloria in ibid., c. 34, 635; eleemosynis in pauperes is the opposite of avaritia in ibid., c. 3, 634; erubescere in ibid., c. 10, 620 is associated with lack of humility; hypocrisis is a branch of cenodoxia/vana gloria in ibid., c. 34, 635; indignatio in ibid., c. 24, 631 is associated with amaritudo and ira in Eph. 4:31, quoted by Alcuin; jactantia in ibid., c. 34, 635, is a branch of cenodoxia/vana gloria; pietas in miseros is the opposite of avaritia in ibid., c. 30, 634; risus in ibid., c. 27, 633 is in laetitia; vindicta in ibid., c. 9, 619 is the opposite of ex corde ignoscere.

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Table 2: Enhanced List of Alcuin’s Emotion Words acedia fides misericordia affectio fornicatio odium amaritudo fortitudo patientia amor furor pietas arrogantia gaudium pusillanimtas (animi) avaritia gravitas rancor blasphemia gula sinceritas cenodoxia/vana gloria humilitas spes charitas humiliare superbia clamor hypocrisis taedium compunctio ignoscere temperantia concupiscentia indignatio timor consolatio invidia timere cupiditas/cupido ira/iracundia tristitia desiderium irascor contristari desperatio jactantia tumor mentis desperare jucunditas vindicta dilectio justitia emotion markers: diligere laetitia erubescere discordia malitia flere eleemosyna metus lacrymae metuere risus In ancient philosophy, the heart was the physical apparatus that recorded the emotions via its palpitations, expansions and contractions. Sometimes these movements made themselves known externally, as in blushing (with shame) or going pale (from fear)71. Even the Stoic could not escape these bodily manifestations, though they were considered pre-emotions, not emotions per se. The pre-emotion told the wise person that an emotion threatened. It was to be staved off by not assenting to it. As we have seen, the ascetic tradition tended to substitute for lack of assent the more bellicose enlistment of an opposing thought. This was Alcuin’s view, and thus his treatise has been described as depicting life as „the theater of a conflict between the virtues and the eight vices“72. But Alcuin’s emphasis on the emotional possibilities of the heart also led him to speak of something rather different than a psychomachia. Penance, he said (as quoted above), „if done in the intimate bitterness of the heart (intima cordis amaritudine), is not despised by the just judge God, who looks into the heart’s secrets (cordis secreta). For God does not so much require length of time as he weighs the feeling of sincerity (affectum sinceritatis) of the penitent“73.

71  See Knuuttila, Emotions (cit. n. 8) 34 who, on p. 48, notes that the Stoic Chrysippus located „the center of the soul and its cognitive activities in the heart“. 72  Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 271. 73   Alcuin, De virtutibus, c. 13 (cit. n. 13) 622. See above, n. 58.



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This is not the place to trace the history of the idea of sincerity, which has yet to find its historian. Suffice to say that the „feeling of sincerity“ was not a common phrase in Latin literature before Alcuin’s day74. To be sure, the word sinceritas per se had long been in circulation, with its basic meaning connected to the notion of purity – of a bell’s tone or of the clarity of a liquid. A sincerus writer was straightforward. When Saint Ambrose wrote on the psalms, he grouped together simplex mens with pura sinceritas75. Augustine did the same in his treatise De quantitate animae, when he spoke of tanta puritas, tanta sinceritas76. When he used it alongside the word heart, however, sincerity began, perhaps, to take on the affective hue that it had in Alcuin’s manual for Wido77. What are the uses of lists of Alcuinian emotions? First, they bear out – and make concrete – Edward Peters’ suggestion that psychological thought did not end with the Fathers and begin again only in the twelfth century. We have in Alcuin an important psychological theorist. Second, they tell us about the emotions that were of major concern to Alcuin as an advisor to Wido. Many of Alcuin’s emotions clustered around notions of sorrow and anger, feelings pertinent to the salvation of a man who acted as a judge and military authority78. At the same time, Alcuin had three words for love (amor, charitas and dilectio), and he called charitas God’s principal precept79. Third, Alcuin’s emotions were, by contrast with an eternal goal like sapientia, changeable and perfectible. That may help explain why he began with the chapter on sapientia, followed it with three on the theological virtues of faith, hope, and charity, and then added a chapter on reading (de lectionis studio)80. His organization implies the hope that Wido might attain through assiduous reading (lectio assidua) – no doubt (at least in part) of Alcuin’s very treatise – the unchangeable state of the vita beata.

74  As revealed by a search of the databases of the PL, Library of Latin Texts A, and the e-MGH. A Confessio fidei concerned with simulated piety was once thought to be by Alcuin but is almost certainly by John of Fécamp; see pseudo-Alcuin, Confessio fidei, pars IV, c. 14, PL 101 1096: Fac me Deus meus … sine simulatione sanctum, et sine manifestis vitiis, simulatisque virtutibus suo semper servitio deditum („Keep me, my God, … holy without feigning, without evident vices and feigned virtues, dedicated always to His service“). On the attribution, see Clavis scriptorum latinorum medii aevi. Auctores Galliae 735–987, vol. 2: Alcuinus (Turnhout 1999) 514. 75  Ambrose, Expositio psalmi cxviii, c. 21, ed. Michael Petschenig (CSEL 62, Wien 1913) 163. 76  Augustine, De quantitate animae, c. 33, 76, ed. Wolfgang Hörmann (CSEL 89, Wien 1986) 225. 77  E.g. Augustine, Epistula 149, ed. Alois Goldbacher (CSEL 44, Vienna 1904) 348: sinceritati cordis tui. 78  See Dubreucq, Autour (cit. n. 13) 276, for a discussion of the contents of Alcuin’s chapter on ira. 79   See above, n. 45. 80  The first four chapters follow the organization of Isidore’s Sententiae, lib. 2, c. 1–4 (cit. n. 45) 91–9. But Isidore’s fifth chapter is de gratia rather than on reading.





Emotionale Repertoires in religiösen Gemeinschaften des 13. Jahrhunderts Eine Re-Lektüre von „Askese und Laster“ Christina Lutter

Unter welchen Umständen darf der Historiker „Linien durch die Jahrhunderte“ ziehen, im Sinn von Großen oder Meta-Erzählungen, wie wir heute sagen würden, fragt Heinrich Fichtenau in der Vorbemerkung zu seinem programmatischen kleinen Buch mit dem Titel „Askese und Laster“, das 1948 erschienen ist. Sofern die Auswertung der Quellen nicht einseitig entlang vorgegebener Kategorien erfolgt, lautet seine Antwort, dem Diktum Reinhard Kosellecks vom „Vetorecht“ der Quellen vergleichbar. In beiden dem Text zugrunde liegenden Vorträgen zu den „historischen Wirkungen der christlichen Individualethik“, die der damals 34-jährige Fichtenau im März 1946 an der Wiener Katholischen Akademie gehalten hat, unternimmt er gleich mehrere Gänge durch die Jahrhunderte von der römischen Spätantike bis zur Reformation mit gelegentlich expliziten Ausblicken bis ins 19. Jahrhundert und in seine Gegenwart1. Sein ausdrückliches Interesse gilt dabei Fragen der menschlichen Psyche, denn auch wenn er mit Max Weber die grundsätzliche Vorsicht vor vereinfachender Anwendung psychologischer Begriffe auf die Geschichte teilt, dürfe, so Fichtenau, die „Sicht auf den Menschen als Ganzes“ nicht verloren gehen. Im konkreten Fall geht es ihm zugleich um einen Ausgleich zwischen den wissenschaftstheoretischen Extremen des Rationalismus des 19. Jahrhundert und des „Vitalismus“ eines Friedrich Nietzsche. Und hier sind wir schon mitten im Thema, bei den lebensweltlichen Bezügen zwischen Askese und Laster in mittelalterlichen Gemeinschaften: Askese versteht Fichtenau als „die historische Form der christlichen Ordnung und Steuerung der Affekte“, die mittelalterliche Lehre von den Lastern als grundlegende 1  Fichtenau, Askese und Laster 7 [das Vorwort der Originalausgabe ist in der aktuelleren Druckfassung des Textes in Fichtenau, Beiträge 1 24–107, die auch einige inhaltliche Änderungen aufweist, nicht abgedruckt. Im Folgenden wird jeweils die Originalausgabe sowie, soweit möglich, die jeweilige Entsprechung in der aktuelleren Druckfassung in eckigen Klammern angegeben]; Reinhard Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt [1977], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt am Main 1989) 176–207, hier 206. Die Arbeiten zu diesem Text entstanden im Zusammenhang mit dem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten SFB 42 Visions of Community (VISCOM, Details vgl. http://www.univie.ac.at/viscom/index_viscom. php?seite=home, Zugriff am 29. 3. 2013), dessen Mitgliedern mein Dank für zahlreiche Anregungen und Kommentare zu diesem Text gilt, ebenso wie Karl Brunner, Philippe Buc, Stefan Erdei, Barbara Rosenwein und Horst Wenzel. – Abkürzungen: RB = Regula Benedicti; DM = Dialogus miraculorum.

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Richtschnur im Umgang mit ihnen – womit einige der für seine weiteren Ausführungen zentralen Begriffe benannt sind2. Ich werde im ersten Teil meines Beitrags zunächst versuchen, in Form einer zusammenfassenden Re-Lektüre des Textes zentrale Thesen und Schlussfolgerungen von Fichtenaus Überlegungen herauszuarbeiten und dabei besonders auf die Rolle der Affekte bzw. Leidenschaften (passiones) in Fichtenaus theoretischen Konzeptionen Bezug nehmen. Im zweiten Teil möchte ich zeigen, warum die Konzepte der „emotional communities“ und der emotionalen Repertoires („emotional repertoires“) geeignet sind, jene Thesen Fichtenaus zum historischen Wandel weiter zu denken, in denen er explizit Ambivalenzen und Widersprüche in den historischen Abläufen benennt. Sie liegen quer zu einer kausalen – und auch psychologisierenden – Entwicklungsgeschichte, die sein Text durchaus ebenso erzählt3. Dazu möchte ich mit dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach, der im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, ein Beispiel praktisch orientierter pastoraler Theologie diskutieren, das im Schnittfeld einiger Aspekte einer der wichtigsten von Fichtenau identifizierten Übergangsphasen im Umgang mit kollektiven und individuellen religiösen Vorstellungen von Tugenden und Lastern und den entsprechenden asketischen Praktiken in monastischen Gemeinschaften steht4. Die für Fichtenau so zentrale „Sicht auf den Menschen als Ganzes“ wird gestützt von seinem Verständnis, dass das (früh-)mittelalterliche Christentum keine Trennung von „Religion und Sittlichkeit, religiösem ‚Gefühlsleben‘ und ethisch-sozialer ‚Werktätigkeit‘“ kenne. Diese Vorstellung einer Integration von Innen und Außen, von Mensch und Gesellschaft sowie des Aufeinander-Verwiesen-Seins spiritueller und sozialer Faktoren äußert sich grundlegend in der Konzeption der Gemeinschaft der Christen. Im Rahmen der ihr verpflichteten sozialen und moralischen Ständeordnung des europäischen Mittelalters wird der spirituelle Weg gemeinsam beschritten – die Stärkeren helfen den Schwächeren, Heilige den Sündern durch Gebet und durch ihre Verdienste5. Der Askese als Arbeit, als 2  Die beiden Zitate in Fichtenau, Askese und Laster 9f. [24] und 13 [27]. Fichtenau zitiert Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1 (Tübingen 1934) 133 Anm. 1, sowie, bei aller weltanschaulichen Distanz, Friedrich Nietzsche, Wille zur Macht, in: ders., Gesammelte Werke (Musarionausgabe 19, München 1926) 291, zu dessen Denken er hier eine explizite Verbindung herstellt, die in dem gemeinsamen Interesse für die Steuerung der Affekte durch „systematisches seelisches Training“ bzw. „Gymnastik des Willens“ besteht. 3   Vgl. Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages (Ithaca 2006), sowie dies., Theories of Change in the History of Emotions, in: A History of Emotions 1200–1800, hg. von Jonas Liliequist (London 2012) 7–20. Zum Konzept der „emotional repertoires“ vgl. Christina Lutter, Preachers, Saints and Sinners. Emotional Repertoires in High Medieval Religious Role Models, in: ebd. 49–63. Zu Begriffen und Konzepten im Detail mit weiterführender Literatur unten S. 98f. 4   Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum/Dialog über die Wunder, übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges–Horst Schneider (Fontes Christiani 86/1–5, Turnhout 2009). Der lateinische Text folgt der Ausgabe Caesarii Heisterbacensis monachi ordinis Cisterciensis Dialogus miraculorum, ed. Joseph Strange (Köln 1851). 5   Das Zitat bei Fichtenau, Askese und Laster 14 [28]; ähnlich 34 [42]; eine Diskussion ebd., v. a. 18–20 [30–32], vgl. auch 29–31 [39f.]. Zur Konzeption des Verhältnisses von „innen“ und „außen“ im Dialogus miraculorum, vgl. z. B. DM lib. 2, c. 1 (wie Anm. 4) 342–349, hier 348, zur Erläuterung der Arten der Reue: Interior est in amaritudine cordis; exterior in afflictione corporis. Zur Reziprozität spirituellen und sozialen Ordnungsdenkens hier nur einige Grundlagenwerke: Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter (Darmstadt 42009); Fichtenau, Lebensordnungen; Otto Gerhard Oexle, Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im Mittelalter, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, hg. von František Graus (VuF 35, Sigmaringen 1987) 65–117; Klaus Schreiner, Mönchsein in der Adelsgesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Klösterliche Gemeinschaftsformen zwischen spiritueller Selbstbehauptung



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Methode und als Technik für diesen Weg nähert sich Fichtenau zunächst semantisch: ἀσκεῖν heißt üben, ausüben, etwas mit Sorgfalt bearbeiten. Askese bezeichnet also neben sportlichen oder militärischen Übungen (exercitia) ein spirituelles Handwerk, dessen Objekte Körper und Seele sind6. Körperliches und seelisch-geistiges Training sind aufeinander verwiesen. Bei Aristoteles und in der Stoa ist die Tugend als Folge freier Willensentscheidung im Handeln begründet7. Auch in den frühchristlichen Jahrhunderten wird die aktive asketische Betätigung als Willenstechnik und damit eine dauerhafte Haltung, einen Habitus, begründend gesehen. Askese, so Fichtenau, ist also eine Technik zur Kontrolle der Affekte durch den Willen, die im Dienst unterschiedlicher Weltanschauungen zur Anwendung kommen kann8. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist aber jeweils das Bewusstsein einer inneren Unordnung, Störung oder Krankheit, die „außen“ sichtbar wird. Davon zeugen die zahlreichen Körper-Geist-Bezüge sowie die omnipräsente Körpermetaphorik in den Quellen9. An der Schnittstelle zwischen Körper und Geist kommen die Leidenschaften ins Spiel. Dabei sind die Haltungen zu den passiones ambivalent: Leidenschaften/ Affekte bringen zwar die Seele in Unordnung. Gelten die passiones aber stoischen Konzeptionen ebenso wie der Körper selbst überwiegend als grundsätzlich negativ, finden sich in christlichen Stellungnahmen ebenso Vorstellungen von den Tugenden als „geordneten“ Leidenschaften10. Warum aber, fragt Fichtenau, ist in mittelalterlichen Quellen so wenig von „der Läuterung und Entwicklung der Leidenschaften“ die Rede, sondern vor allem vom Kampf gegen sie? Seine Antwort besteht zunächst in einem den Geschichtstheorien von Johan Huizinga, Norbert Elias und anderen vergleichbaren Narrativ, wonach das „im Gegensatz zu unserer heutigen Situation ... vitale Element im Menschen so stark [war], daß seine Bändigung zur Hauptaufgabe wurde, seine Pflege unnötig schien“ 11. Beherrscht werden und sozialer Anpassung. HZ 248 (1989) 557–620, sowie die Beiträge in: Ordnungskonfigurationen im Hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller–Stefan Weinfurter (VuF 64, Sigmaringen 2006). 6  Fichtenau, Askese und Laster 19 [32] . Grundlegend ist Jean Leclercq, L’amour des lettres et le désir de Dieu. Initiation aux auteurs monastiques du moyen âge (Paris 1957). Vgl. zusammenfassend ders., Art. Askese, christliche. LMA 1 (1977) 1112–1115. 7   Richard Sorabji, Emotion and Peace of Mind: From Stoic Agitation to Christian Temptation (Oxford 2000); Simo Knuuttila, Emotions in Ancient and Medieval Philosophy (Oxford 2004); vgl. auch den Beitrag von Barbara H. Rosenwein in diesem Band, S. 77f. 8   Fichtenau, Askese und Laster 22f. [34]. Eine aktuelle Diskussion bietet Otto Gerhard Oexle, Koinos bios: Die Entstehung des Mönchtums, in: ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hg. von Andrea von Hülsen-Esch et al. (Göttingen 2011) 470–495; vgl. auch Albrecht Diem, Das monastische Experiment. Die Rolle der Keuschheit bei der Entstehung des westlichen Kosterwesens (Vita regularis 36, Münster 2000). 9   Fichtenau, Askese und Laster 25 [37], nennt z. B. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte/Magistri Adam Bremensis gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum lib. III c. 63, ed. Bernhard Schmeidler (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [2], Hannover u. a. 31917) 209, als prominentes Beispiel für diese Wechselbezüge. Grundlegend sind die Arbeiten von Caroline W. Bynum, z. B: Art. Soul and Body. Dictionary of the Middle Ages, Supplement (2004) 588–594, und aktuell dies., Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe (New York 2011). Vgl. unten Anm. 16–18. 10   Zur Ambivalenz der passiones vgl. z. B. Sorabji, Emotion (wie Anm. 7); Rosenwein, Emotional Communities (wie Anm. 3); zu ihrer Schnittstellenfunktion im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht vgl. Christina Lutter, Geschlecht, Gefühl, Körper – Kategorien einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik?. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 18/2 (2007) 9–26. 11  Die Zitate: Fichtenau, Askese und Laster 28 [38]. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (Frankfurt am Main 2002), erstmals Basel 1939, hat Fichtenau 1946/48 vermutlich noch nicht rezipiert, jedenfalls zitiert er ihn nie. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen

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können die Leidenschaften mit Augustinus jedenfalls nur mit Hilfe Gottes, der über die Menschen gebietet, wie diese es über ihre Leidenschaften tun sollen. Ziel ist, die Orientierung des menschlichen Willens auf sich selbst durch jene auf Gott zu ersetzen. Askese als reinigende Affektsteuerung führt aus der Krankheit zur Gesundheit, von der Unordnung bzw. Perversion im Sinn der Abwendung von Gott und Hinwendung zur Welt zu einer Wiederherstellung der gottgewollten Ordnung und dementsprechend zur „geordneten und maßvollen Leidenschaft der Seele“, wie es Richard von St. Victor formuliert 12. Für den geistlichen Stand wird mit der Entscheidung für ein der Welt abgewandtes Leben die „innere Schulung“ zur Hauptaufgabe geistlicher Menschen, disciplina konstituiert ordo13. Die abendländische monastische Askese meint einen Lebensstil in seiner Gesamtheit. Askese ist Handeln, innere Haltung und äußere Darstellung. In der Benediktregel werden die zwölf Grade der Demut mit Übungen der praktischen Askese verbunden, die von der Gottesfurcht zur Gottesliebe führen sollen (c. 7). Bis ins 11. Jahrhundert strukturiert das ständische Modell der göttlichen Weltordnung Ordnungsvorstellungen und -konfigurationen14. Je höher Rang und Stand, umso mehr wird verlangt: vom Christen mehr als von Nicht-Christen, von geistlichen Menschen und Amtsträgern mehr als von Weltlichen. Es gilt, „die Aufgaben dieses Daseins in der Gemeinschaft des Standes zu lösen, auch die der Askese“15. Diese integrative Weltsicht, so lautet Fichtenaus These, beginnt mit dem 11. Jahrhundert zu schwinden, „unter der Hülle von Tradition und Konvention beginnt ein Rückzug des Menschen auf sich selbst“. Fichtenaus Kronzeuge für den Beginn dieses Phänomens ist der Libellus de suis tentationibus des Otloh von St. Emmeram, der das Auseinanderklaffen von innerer Haltung und äußerer Darstellung problematisiert16. Neu sei die nahezu wissenschaftlich krides 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (Stuttgart 122006), zitiert er öfters, z. B. 60 Anm. 145 [61 Anm. 143] oder 121 Anm. 188 [105 Anm. 185], jeweils in der 5. Auflage von 1939 [7. Aufl. 1953]. 12  Fichtenau, Askese und Laster 29–33 [38–41], das Zitat 33 [41]. Bei Richard von St. Victor, Benia­ min minor, c. 7, heißt es wörtlich: Siquidem, nichil aliud est virtus quam animi affectus ordinatus et moderatus. (Richard de Saint-Victor, Les Douze Patriarches ou Beniamin minor, ed. et trad. Jean Châtillon–M. Duchet-Suchaux [SC 419, Paris 1997] 108–111, hier 108). Ähnlich auch Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, Sermo 34, 3: De humilitate voluntaria, wo es in diesem Sinn um die Übereinstimmung des menschlichen Willens mit jenem Gottes geht (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/ deutsch, Bd. 5 [Innsbruck 1994] 538–544). Zu Bernhards grundsätzlicher Auseinandersetzung mit c. 7 De humilitate der Benediktregel, ed. Rudolf Hanslik (CSEL 75, Wien 1960) zitiert nach der online-Version: http:// www.thelatinlibrary.com/benedict.html (letzter Zugriff am 25. 3. 2013) in seinem Liber de gradibus humilitatis et superbiae siehe unten Anm. 62 (vgl. auch Anm. 60). Zu Begriff und Prinzip der Reinigung in der mittelalterlichen Lasterlehre aus differenzierter anthropologischer Perspektive: Richard Newhauser, The Capital Vices as Medieval Anthropology, in: Laster im Mittelalter/Vices in the Middle Ages, hg. von Christoph Flüeler–Martin Rohde (Scrinium Friburgense 23, Berlin u. a. 2009) 105–123, besonders 108f. und 117. 13   Vgl. die Zusammenfassung und Diskussion bei Hans-Jürgen Derda, Vita communis. Studien zur Geschichte einer Lebensform in Mittelalter und Neuzeit (Köln u. a. 1992), sowie Oexle, Koinos bios (wie Anm. 8). 14  Wie Anm. 5. Vgl. außerdem die Beiträge in Schneidmüller–Weinfurter, Ordnungskonfigurationen (wie Anm. 5), und in: Religiöse Ordnungsvorstellungen und Frömmigkeitspraxis im Hoch- und Spätmittelalter, hg. von Jörg Rogge (Korb 2008). 15   Fichtenau, Askese und Laster 43 [49]. 16  Das Zitat ebd. 47; Otloh von St. Emmeram, Libellus de suis tentationibus, varia fortuna et scriptis, PL 146 28–58, hier 32. Zu Otloh vgl. auch Hedwig Röckelein, Otloh, Gottschalk, Tnugdal: Individuelle und kollektive Visionsmuster des Hochmittelalters (Frankfurt am Main 1987). Zur grundsätzlichen Problematik vgl. Thomas Lentes, Andacht und Gebärde. Das religiöseAusdrucksverhalten, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch (1400–1600), hg. von Bernhard Jussen–Craig Koslofsky (Veröffentlichungen



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tische Haltung Otlohs gegenüber dem Beispiel von Autoritäten, das man früher selbstverständlich nicht in Frage gestellt habe. Neu seien zudem die Thematisierung des eigenen Selbst und die inneren Auseinandersetzungen, die „minutiöse Seelenschilderung“, welche die „geistige Gemeinsamkeit des Konvents“ durchbricht17. Mit diesem neuen „subjektiven Frömmigkeitsstil“ weiche die einfache Klarheit des Weltbildes, „die naive Einheit von Gott, Welt und Psyche“ einem komplizierten „Zusammenspiel von Verstand, Wille und Gefühl“. Allerdings – und hier werden wieder Ambivalenz und Gleichzeitigkeit betont – wechselt die „Gesamtheit der psychischen Entwicklung“ zwischen „Zeiten der kindlichen Weltoffenheit“ und „solchen anscheinender Zerrüttung des Gefüges“18. Auch die Beziehung von Mensch zu Gott werde nun individueller konzipiert, als eine zwischen Ich und Du, Braut und Bräutigam: Der Schlüssel-Affekt ist die Liebe zu Gott und dem Nächsten19. Sie sei zwar sehr wohl in den „alten sozialen Gemeinschaftsformen“ verankert. Dennoch: Trotz Berufung auf die Benediktregel gelte die Unbedingtheit der inneren und äußeren Gemeinsamkeit nicht mehr. Gemeinsame asketische Übung wird durch individuelle mystische imitatio Christi ersetzt, und darin auch Körper und Leiblichkeit aufgewertet20. Die Wende vom Gemeinschaftserlebnis des Göttlichen zu einer des Max-Planck-Institutes für Geschichte 145, Göttingen 1998) 29–67, und Rüdiger Schnell, Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischen und laikalen Erziehungsschriften, in: „anima“ und „sêle“. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Katharina Philipowski– Anne Prior (Philologische Studien und Quellen 197, Berlin 2006) 83–112, sowie demnächst Mirko Breitenstein, Das „Haus des Gewissens“. Zur Konstruktion und Bedeutung innerer Räume im Religiosentum des Hohen Mittelalters, in: Geist und Gestalt. Monastische Raumkonzepte als Ausdrucksformen religiöser Leitideen, hg. von Gert Melville–Jörg Sonntag (Vita regularis. Abhandlungen, Berlin 2014) [in Druckvorbereitung]. 17  Fichtenau, Askese und Laster 45 [50]. 18   Die Zitate ebd. 46–48 [51f.; einige der wörtlichen Zitate finden sich nur in der Originalausgabe]. Diese These wurde v. a. seit den 1980er Jahren mit der Frage nach der „Entdeckung des Individuums“ kritisch diskutiert, exemplarisch Caroline W. Bynum, Did the Twelfth Century Discover the Individual?, in: dies., Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages (Berkeley 1982) 82–109; und dies.–Susan R. Kramer, Revisiting the Twelfth-Century Individual. The Inner Self and the Christian Community, in: Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville–Markus Schürer (Vita regularis 16, Münster 2002), sowie die Beiträge in: Individuum und Individualität im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen–Andreas Speer (Miscellanea mediaevalia 24, Berlin–New York 1996); Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hg. von Peter von Moos (Norm und Struktur 23, Köln u. a. 2004); Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. von Klaus Schreiner (München 2002). Einen integrativen Ansatz vertritt Fichtenau am Ende seines Buches (Askese und Laster 119) auch selbst: „So wie der Mensch Christus nachahmen muß, um zur individuellen Erlösung zu gelangen, muß er auch die demütige Einordnung am angewiesenen Platz in der großen Ordnung selbst vollziehen.“ [103, allerdings ebenfalls mit leicht verändertem Wortlaut]. 19   Eine Auswahl aus der aktuellen Literatur zu diesem Thema: Damien Boquet, L’ordre de l’affect au Moyen Âge. Autour de l’anthropologie affective d’Aelred de Rievaulx (Caen 2005); Brian P. McGuire, Friendship and Community. The Monastic Experience, 350–1250 (Ithaca 22010); Rosenwein, Theories of Change (wie Anm. 3), bes. 15–18. 20  Fichtenau, Askese und Laster 47–50 [51–54]. Dazu sehr differenziert etwa Caroline W. Bynum, The Cistercian Conception of Community, in: dies., Jesus as Mother (wie Anm. 18) 59–81; vgl. außerdem Schreiner, Frömmigkeit (wie Anm. 18); spezifischer Urban Küsters, Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert (Düsseldorf 1985), und den Kommentar von Friedrich Ohly zu Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, ed. und übersetzt von Friedrich Ohly unter Mitarbeit von Nicola Kleine (Frankfurt am Main 1998); Zur Mystik exemplarisch: Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters (Berlin 2012); Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts (München 22001).

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Ich-Du-Beziehung zu Christus hatte mit Fichtenau maßgebliche Auswirkungen auf das Ständemodell: Waren die Stände früher klar entlang ihrer geistlichen und weltlichen Aufgabenbereiche getrennt, so konnten durch religiöse Reform- und Laienbewegungen auch Weltliche den unmittelbaren Weg zu Gott suchen, konnte das mystische Erlebnis den „mühevollen und schwierigen Weg der Reinigung durch die Askese ersetzen“. In diesen neuen Formen subjektiven religiösen Erlebens sieht Fichtenau gleichzeitig die Infragestellung alter Ordnungsvorstellungen begründet21. Diese Überlappung geistlicher und weltlicher Standesideale, der Wandel monastischer Lebensformen in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Veränderungen, lässt sich aber bereits viel früher ausmachen, wie Fichtenau selbst in seinen Ausführungen zur christlichen Lasterlehre im zweiten Teil seines Buchs deutlich macht. Seit der Spätantike wurde militärische Disziplin sowohl terminologisch wie praktisch ein wesentlicher Teil monastischer Organisationskultur22. Die Idee der Unterordnung als Glied in der Gemeinschaft, als Teil des Ganzen sei zentral für das feudale europäische Mittelalter ebenso wie die Figur des miles Christi und die Aufgabe der militia Christi23. Damit korrespondierend ent­ wickelt sich sowohl die Vorstellung der Weltgeschichte als Kampf – zwischen Christus und Satan, Engeln und Heiligen gegen Teufel und Dämonen, Tugenden gegen Laster im Inneren der Seele – als auch jene einer Wechselwirkung geistlicher und weltlicher Standesideale. Personalisierte Kampfmetaphorik verweist auf die gesellschaftlichen Prinzipien von Gefolgschaft und Treue – wieder sehen wir eine Verknüpfung sozialer und spiritueller Prinzipien24. Im Kampf zwischen Christus und dem Satan spielt dementsprechend das Bild der Heerführer eine besondere Rolle, wie auch der Kriegsdienst mit den Waffen des Gehorsams in der Benediktregel. Dabei hängt es von den zeitbedingten Vorstellungen ab, ob man sich diesen Kampf eher als einen mit personalisierten Dämonen oder mit Lastern innerhalb des Menschen vorstelle. Jedenfalls müssen göttliche Gnade und eigene Leistung zusammenwirken, die Seele wird „zum Schnittpunkt des göttlichen Bereichs mit dem teuflischen“25. 21   Fichtenau, Askese und Laster 51 [55]. Später ausführlich in ders., Lebensordnungen, und ders., Ketzer und Professoren. Zu den religiösen Reformbewegungen des 11.–13. Jahrhunderts grundlegend Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century (Cambridge 1996), und ders., Religious Communities, 1024–1215, in: The New Cambridge Medieval History, hg. von David Luscombe–Jonathan Riley-Smith (Cambridge 2004) 335–367; Stefan Weinfurter, Die Macht der Reformidee. Ihre Wirkkraft in Ritualen, Politik und Moral der spätsalischen Zeit, in: Religiöse Ordnungsvorstellungen (wie Anm. 14) 13–39; Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hg. von Mirko Breitenstein et al. (Vita regularis 48, Münster 2013). 22  Fichtenau, Askese und Laster 67–75 [65–71] mit dem wichtigen Zusatz, kriegerische Bilder würden durch die Zunahme militärischer Elemente allerdings nur gefördert, nicht begründet; vgl. dazu Derda, Vita communis (wie Anm. 13), und Oexle, Koinos bios (wie Anm. 8). 23   Grundlegend ist Thomas Zotz, Milites Christi: Ministerialität als Träger der Kanonikerreform, in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich, hg. von Stefan Weinfurter–Hubertus Seibert (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 68, Mainz 1992) 301–328. Vgl. Katherine Allen Smith, War and the Making of Medieval Monastic Culture (Woodbridge, UK–Rochester, NY, 2011). 24   Fichtenau, Askese und Laster 78f. [73f.], mit zahlreichen Beispielen. Zur standes- und geschlechterübergreifenden Metaphorik von hochmittelalterlichen Darstellungen der militia Christi vgl. etwa Horst Wenzel, Bilder für den Hof. Zeitlichkeit und Visualisierung in den illustrierten Handschriften des Welschen Gastes von Thomasin von Zerclaere, in: Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, hg. von Vittoria Borsò–Christoph Kann (Köln u. a. 2004) 193–213, bes. 206; Christina Lutter, Zwischen Hof und Kloster. Kulturelle Gemeinschaften im mittelalterlichen Österreich (Wien 2010) 11–48. 25   Fichtenau, Askese und Laster 79 [74]; bei Gregor dem Großen heißt es: Temperantia quippe uitia,



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So treten in der enorm einflussreichen Psychomachia des spätantiken Dichters Prudentius die innerseelischen, aber personifizierten Tugenden gegen die Laster zum allegorischen Kampf an. Auch wenn Fichtenaus Sympathien für dieses populäre „Handbuch der Moralpsychologie fürs Volk“ begrenzt sind, gesteht er ihm als dem „erste[n] und bedeutendste[n] allegorischen Gedicht des christlichen Altertums“ zu, abstrakte Begriffe durch greifbare lebendige Gestalten und dramatische Szenen zu ersetzen und so auch die einfachen Menschen zu erreichen, was seine außerordentliche Rezeption begründet habe26. Gleichzeitig äußert sich Fichtenau an dieser Stelle explizit kritisch zu einer fachdisziplinär trennenden Wissenschaftstradition, die sich auf die Untersuchung gelehrter Tradition beschränke und der Frage nach der lebensweltlichen Relevanz theologischer Inhalte für die Menschen ausweiche. Pointiert: Prudentius’ „Gedicht ... half mehr zur inneren Formung als die theologische Summa eines Thomas von Aquin“. Der Kampf aller Menschen, Geistlicher und Weltlicher, gegen die Laster sei eine geistesgeschichtliche Fragestellung, die sich nicht „auf Systeme und Theoreme beschränkt, sondern tief hinabführt in das konkrete seelische Sein des Menschen der Vergangenheit“27. Die bekannte Idee der militia Christi jedenfalls wurde zum zentralen Bestandteil der neuen Frömmigkeit in Nachfolge Christi, sowohl der hochmittelalterlichen Laienbewegung wie auch der geistlichen Ritterschaft der Kreuzzugsbewegung. Es kommt zu einer „Spiritualisierung des weltlichen Kriegertums“ ebenso wie der Standesideale28. Diese erneute Integration geistlicher und weltlicher Bereiche erzeugte gleichzeitig eine Reihe von Widersprüchen und wurde daher bereits von Zeitgenossen als Verkehrung der gottgewollten Ordnung kritisiert, denn die „Erfordernisse [des monastischen] Standes“ benötigen den „fein durchgebildete[n] Apparat der ständigen Leistungskontrolle, ohne den Asketik nicht möglich war“. Doch auch in diesem Punkt stellt Fichtenau umgehend eine vergleichbare Entwicklung im ritterlichen bzw. höfischen Habitus fest: Auch die Ideale der mâze und staete bedeuten eine Bändigung der Gefühle und Akzeptanz der ständischen Ordnung29. Fichtenau sieht den Grund für diese Parallelität geistlicher und weltquae inuisibili contra nos proelio regnanti super se superbiae militant, alia more ducum praeeunt, alia more exercitus subsequuntur. (Moralia in Iob lib. 31, c. 45, 87, ed. Markus Adriaen [CCSL 143, 143A, 143B, Turnhout 1979–1985] 1610). Dazu Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12) 113f.; in der RB (wie Anm. 12) c. 58: Ecce lex sub qua militare vis; si potes observare, ingredere; si vero non potes, liber discede. 26  Clemens Aurelius Prudentius, Psychomachia, Die Psychomachie des Prudentius, lat.-dt. von Ursmar Engelmann (Basel–Wien 1959) nach der Edition von Johannes Bergman (CSEL 61, Wien­–Leipzig 1926); dazu S. Georgia Nugent, Allegory and Poetics. The Structure and Imagery of Prudentius’ „Psychomachia“ (Studien zur klassischen Philologie 14, Frankfurt am Main–Bern 1985); Joanne S. Norman, Metamorphoses of an Allegory. The Iconography of the Psychomachia in Medieval Art (New York u. a.1988); mit einem Überblick über die rezente Forschungsliteratur: Sabine Grebe, The End Justifies the Means. The Role of Deceit in Prudentius’ „Psychomachia“, in: Laster im Mittelalter (wie Anm. 12) 11–43. 27   Fichtenau, Askese und Laster 87 [80] und 93 [dieses Zitat findet sich ausschließlich in der Originalausgabe von 1948]. Diese Problematik ist immer noch aktuell, und sie war es bereits im 12./13. Jahrhundert, als es in den scholastischen Schulen zu einer zunehmend theoretischen und der spirituellen Praxis fernen Beschäftigung mit den Fragen von Tugenden und Lastern kam, vgl. etwa Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12) 109f. Die Wechselwirkung dieser Diskurse betont z. B. Bynum, Christian Materiality (wie Anm. 9) 129. 28   Fichtenau, Askese und Laster 70 und 72 [68f.]; dazu Weinfurter, Reformidee (wie Anm. 21); Zotz, Milites Christi (wie Anm. 23); vgl. auch unten Anm. 61. 29   Fichtenau, Askese und Laster 71 [70]. Grundlegend sind Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter (München 112005); C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals, 939–1210 (Philadelphia 1985); Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter (München 1995). Vgl. Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters (München 2012).

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licher Phänomene – trotz der angesprochenen Ungleichzeitigkeiten – abermals in einem „Verlust der alten Selbstverständlichkeiten und Unmittelbarkeit, dem der Gewinn rationaler Schärfe und Klarheit und eine fein ausgewogene Ästhetik auch im Gefühlhaften gegenübersteht“30. Das Prinzip des Maßhaltens ist aber bereits eine in der Benediktregel paradigmatisch festgeschriebene Grundtugend. Warnungen vor geistlichem Extremismus, etwa bei Thomas von Aquin, seien daher nicht neu, sondern ein Grundproblem der „Balance“ der asketischen Praxis und der gelehrten wie der praktisch pastoralen Theologie31. Genau diese Frage des richtigen Maßes bzw. der emotionalen Balance bietet Anknüpfungspunkte für eine Geschichte der Emotionen ebenso wie für eine Kulturgeschichte von Gemeinschaftsvorstellungen: Denn Fichtenau interpretiert Askese als historische, also zeitgebundene Form christlichen Ordnungsdenkens und Technik der Affektkontrolle, als Arbeit an Körper und Geist in geistlichen Gemeinschaften; und er liest die mittelalterliche Lehre von den Lastern als innere Richtschnur besonders für Angehörige des geistlichen Standes, aber darüber hinaus als praktisch-didaktisches Instrument auch gegenüber einem weltlichen Publikum im Rahmen eines christlichen Motivationshorizonts32. Ein „Übersetzungsproblem“, das sich aus der von Fichtenau selbst zu Beginn angesprochenen Kontextgebundenheit jeder Beschäftigung mit Geschichte ergibt, besteht allerdings darin, dass sein Werk zwei unterschiedliche Narrative zugleich anbietet: Einerseits ist es – und das ist zeittypisch – trotz des Weber’schen caveat zu Beginn einem stark psychologisierenden Ansatz verpflichtet. Historischer Wandel wird im Sinn des klassischen zivilisationstheoretischen Narrativs als grundsätzlich kollektiv gedachte Veränderung des Menschen an sich im Sinn der Abfolge der Lebensalter interpretiert. Dieses Modell des Zivilisationsprozesses, welches das menschliche Gefühlsleben in Form einer Entwicklung von kindlicher Einfachheit, Unmittelbarkeit und Impulsivität zu sukzessive verfeinerten, differenzierten und vielfältigen Formen des emotionalen Ausdrucks auffasste, wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielfach kritisiert, zuletzt aus emotionsgeschichtlicher Perspektive von Barbara Rosenwein33. Andererseits unterstreicht Fichtenau selbst mit seiner quellennahen Interpretation der von ihm vorgestellten Phänomene immer wieder deren Gleichzeitigkeit und Ambivalenz, ja sogar Widersprüchlichkeit, die sich nicht leicht in das Narrativ einer eindeutigen Entwicklungsgeschichte historischen Wandels einpassen lassen. Hier scheint mir ein Ansatz hilfreich, der statt einer großen Erzählung kollektiver psychischer Entwicklungen Emotionen historisiert und als kulturelle Repräsentationen auffasst34. Heute wissen wir, dass wir historisch ebenso wenig wie gegenwärtig direkt 30  Fichtenau, Askese und Laster 72 [69]. Disziplinenübergreifend verweist er auch auf die Vergleichbarkeit hochmittelalterlicher höfischer Dichtung und geistlicher mystischer Einfühlung. Aktuell z. B. die Beiträge in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann (Berlin u. a. 2009). 31   Fichtenau, Askese und Laster 73 [70]. Vgl. Robert Miner, Thomas Aquinas on the Passions. A Study of Summa Theologiae 1a2ae 22–48 (Cambridge 2009). 32   Vgl. Fichtenaus Zusammenfassung seiner Ergebnisse: Askese und Laster 124 [106: Der Schluss des Textes ist in der überarbeiteten Version deutlich verändert]. Eine vergleichbare Interpretation bietet einer der profundesten Kenner der mittelalterlichen Überlieferung zu Tugenden und Lastern, Richard Newhauser in einem seiner aktuellen Beiträge: Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12), v. a. 123. 33  Elias, Zivilisationsprozess (wie Anm. 11); die schärfste Kritik stammt von Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozess, 5 Bde. (Frankfurt am Main 1988–2002); vgl. besonders Rosenwein, Theories of Change (wie Anm. 3), mit umfassender weiterführender Literatur. 34   Für einen Überblick grundlegend dies., Worrying about Emotions in History. American Historical



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in die Psyche bzw. die Gefühlswelt der Menschen blicken, geschweige denn kollektive psychische Befindlichkeiten ausmachen können. Sehr wohl aber können wir Repräsentationen von Emotionen – Begriffe, Rhetorik, die Inszenierung von Gefühlen – analysieren, die uns in unterschiedlichen Formen der Überlieferung im Rahmen von kulturellen Modellen und Mustern begegnen, aus denen Menschen im Sinn von Repertoires schöpfen35. Sehr wohl können wir außerdem danach fragen, inwieweit sie gemeinschaftlich ausgeübt wurden, innerhalb von „emotional communities“, wie es Barbara Rosenwein vorschlägt. Beide Konzepte ermöglichen es, die gerade von Fichtenau immer wieder angesprochenen Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Vorstellungen zu analysieren und sich so Schritt für Schritt einem komplexeren Bild der Vergangenheit anzunähern. Mein Interesse gilt den Fragen, welche Rolle Emotionen für die Entstehung und den Bestand von Gemeinschaften hatten sowie welche Rolle dabei der Askese als zeit- und milieuspezifische Ordnungstechnik der Affektkontrolle zukam. Zu den Begriffen: „Emotion“ ist eine moderne Kategorie, die keine direkte begriff­ liche Entsprechung in den Quellen hat, sondern der abstrahierenden „Übersetzung“ in der wissenschaftlichen Kommunikation dient. Affekte (affectus) bzw. Leidenschaften (passiones) sind hingegen Quellenbegriffe, die bestimmte Aspekte emotionalen Verhaltens bezeichnen. Als Kategorien des zeitgenössischen Sprechens über Gefühle haben sie den Vorteil, dass sie uns helfen, uns der Vergangenheit in den ihr eigenen Termini anzunähern, und den Nachteil, dass sie Aspekte ausgeblendet lassen, die für die Zeitgenossen weniger maßgeblich waren36. Modelle bzw. exemplarische Vorbilder wiederum sind ebenso wie Gemeinschaften den mittelalterlichen Zeitgenossen geläufige und in ihrer täglichen Praxis verankerte Vorstellungen. Dass es sich bei exemplarischen Modellen und emotionalen Repertoires um kulturelle Konstruktionen handelt, ebenso wie „emotional communities“ immer auch „imagined communities“ sind, tut ihren Effekten auf die und in der gelebten Praxis der Menschen keinen Abbruch. Das macht die reiche Überlieferung praktisch pastoraler Theologie gerade des Spätmittelalters mehr als deutlich. Dies möchte ich an ausgewählten Beispielen der vierten Distinktion „Über die Versuchung“ (de tentatione) des Dialogus miraculorum (DM) zu zeigen versuchen, deren Aufbau dem seit Gregor dem Großen klassischen Lasterkatalog folgt. Mit seiner um 1220 verfassten Sammlung von insgesamt 746 kurzen, exemplarischen Wundergeschichten in 12 Büchern (distinctiones), die in Form eines Dialogs zwischen einem erfahrenen Mönch und einem Novizen präsentiert werden, hat Caesarius von Heisterbach eine pastorale Anleitung für das „richtige“ geistliche Leben verfasst, die primär im monastischen Raum verortet ist: Die meisten Geschichten betreffen Menschen, die sich in der einen oder anderen Weise für ein Leben im Kloster v. a. des Zisterzienserordens entschieden haben37. Review 6 (2002) 821–845; Rüdiger Schnell, Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. FMSt 38 (2004) 173–276, und ders., Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität. ZfdPh 127 (2008) 79–102; Le sujet des émotions au Moyen Âge, hg. von Piroska Nagy–Damien Boquet (Paris 2009); sowie die Beiträge in: History of Emotions (wie Anm. 3). 35   Zu Begriff und Konzept vgl. Lutter, Emotional Repertoires (wie Anm. 3) mit Bezug auf Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 11/1 (2000) 105–119. 36  Um möglichst quellennah ein breites Spektrum an Bedeutungen von Emotionen fassen zu können, empfiehlt sich daher ein jeweils genau ausgewiesener paralleler Gebrauch von Quellentermini und Forschungskategorien. Zur Problematik der Terminologie sehr ausführlich Schnell, Emotionsforschung, und ders., Emotionsdarstellungen; sowie Nagy–Boquet, Le sujet (alle wie Anm. 34). 37   Eine gute Forschungsübersicht bietet die Einleitung zur 2009 erschienenen zweisprachigen Ausgabe

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Gleichzeitig reflektieren die Wundergeschichten des Caesarius ein breites soziales Spektrum mittelalterlicher Gesellschaftsstrukturen zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt waren geistliche und weltliche Ordnungs- und Organisationsstrukturen grundlegenden Veränderungen unterworfen. Der einstige Reformorden der Zisterzienser hatte sich etabliert und Konkurrenz durch die neuen Predigerorden erhalten 38. Diese richteten sich nicht nur an ein Publikum in den Klöstern, sondern predigten auch den Laien „in der Welt“39. Dementsprechend hatten die neuen Orden ihre Standorte besonders in den Städten und fanden dort große Resonanz. In dieser Konkurrenzsituation ebenso wie in der zunehmend besseren schriftlichen Organisation und Überlieferung sind Texte wie der Dialogus miraculorum verortet. Die sehr umfangreiche Verbreitung der Wundergeschichten in über hundert noch heute erhaltenen Handschriften legt ihre Relevanz und Attraktivität nahe40. Das Reizvolle an Caesarius’ Darstellung als Untersuchungsgegenstand für die hier aufgeworfenen Fragen ist nicht zuletzt, dass er einerseits didaktisch systematisierend vorgeht und dementsprechend das zeitgenössische moraltheologische Verständnis sozusagen „für Anfänger“ zusammenfasst, dass sein Text aber selbst im Sinn einer affektiven Didaxe funktioniert, weil seine exempla durch Lebensnähe, Nachvollziehbarkeit, Drastik wirken sollen – also verwundern und erschrecken, unterhalten und erbauen, und dadurch auch im Gedächtnis bleiben. Dabei ist nicht zuletzt die Popularität des Genres „Dialog“ seit der Antike als didaktisches Instrument zur Vermittlung exemplarischer Inhalte an ein Publikum beiderlei Geschlechts sowohl im geistlichen wie auch im weltlichen Bereich mit zu bedenken41. Caesarius redet also über Laster als Emotionen (und auch über Tugenden), (lat./dt.) des DM sowie die Bibliographie in Bd. 5 der Ausgabe (wie Anm. 4). Grundlegend zum Genus exemplum ist Claude Bremond et al., L’„Exemplum“ (Typologie des sources du moyen âge occidental 40, Turnhout 21996); Übersichten zu mittelalterlichen miracula bieten: Miracle et Karāma. Hagiographies médiévales comparées, hg. von Denise Aigle (Turnhout 2000); Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen – Erscheinungsformen – Deutungen, hg. von Martin Heinzelmann et al. (Beiträge zur Hagiographie 3, Stuttgart 2002); Mirakelberichte des frühen und hohen Mittelalters, hg. von Klaus Herbers (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 43, Darmstadt 2005). Zum hier relevanten Kontext: Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (Stuttgart 2007). Grundsätzlich Bynum, Christian Materiality (wie Anm. 9) Kap. IV. 38  Eine sehr gute Übersicht über den Stand der Forschung zur Entwicklung des Zisterzienserordens bieten die Beiträge in Franz Felten–Werner Rösener, Norm und Realität. Kontinuität und Wandel der Zisterzienser im Mittelalter (Berlin u. a. 2009); vgl. auch die umfangreiche Bibliographie zur Neuedition des Dialogus miraculorum. Für eine profunde vergleichende Diskussion vgl. Franz J. Felten, Wozu treiben wir vergleichende Ordensgeschichte?, in: Mittelalterliche Orden und Klöster im Vergleich. Methodische Ansätze und Perspektiven, hg. von Gert Melville–Anne Müller (Vita regularis 34, Münster 2007) 1–51. Zur sozialen Kontextualisierung vgl. besonders die Arbeiten von Klaus Schreiner, Mönchsein (wie Anm. 5); ders., Frömmigkeit (wie Anm. 18), sowie ders., Zisterziensisches Mönchtum und soziale Umwelt. Wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel in hoch- und spätmittelalterlichen Zisterzienserkonventen, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, hg. von Kaspar Elm (Köln 1982) 79–135. 39  Aus der umfangreichen Literatur zum Anstieg pastoraler Literatur in Hoch- und Spätmittelalter vgl. hier nur spezifisch zum Gegenstand der Tugenden und Laster: Morton W. Bloomfield et al., Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100–1500 A.D. (Cambridge, Mass. 1979), und Richard Newhauser–István Bejczy, A Supplement to Morton W. Bloomfield et al., Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100–1500 A.D. (Turnhout 2008). 40  Vgl. die Einleitung zur Ausgabe von 2009 mit einem sehr ausführlichen wissenschaftlichen Apparat. Zu Quellen, Publikum und Rezeption des Dialogus miraculorum und verwandter Überlieferung besonders die Arbeiten von Brian P. McGuire, Friendship and Faith: Cistercian Men, Women, and their Stories, 1100–1250 (Aldershot 2002); ders., Friendship and Community. The Monastic Experience, 350–1250 (2Ithaca 2010). 41   Vgl. Mirko Breitenstein, „Ins Gespräch gebracht“: Der Dialog als Prinzip monastischer Unterwei-



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er erläutert Begriffe und bewertet Affekte, er erzählt und inszeniert emotional und spricht die Gefühlsebene seines Publikums an. Zudem ist Affekt ein konstitutives Element von Gemeinschaft. Das wird besonders seit den monastischen Reformbewegungen und v. a. bei den Zisterziensern betont und in den an der pastoralen Praxis orientierten Geschichten des Dialogus miraculorum deutlich42. Konkret möchte ich nun anhand von Beispielen aus dem Dialogus miraculorum die oben akzentuierten Aspekte der Lektüre von „Askese und Laster“ vertiefen. Der Schwerpunkt wird dabei auf einer Diskussion von superbia (vs. humilitas) und accidia/acedia (vs. spiritalis iocunditas) liegen. In beiden Fällen geht es um Laster bzw. Tugenden, die einerseits einen spezifischen Sitz im monastischen Gemeinschaftsleben haben, anhand derer Caesarius aber andererseits auch die Abgrenzung zwischen geistlichem und weltlichem Stand sowie viele Fragen des richtigen Lebens in der Welt erörtert. Gleichzeitig lassen sich beide in Hinblick auf die oft ambivalente Bewertung von Freude und Fröhlichkeit, moderater Trauer und Verzweiflung und die ebenfalls je nach Zusammenhang unterschiedlich eingeschätzten Artikulationen des Lachens und Weinens diskutieren43. Die Frage nach dem Wandel der Hierarchie der Laster, der Einschätzung, was als Hauptübel bzw. -gefahr anzusehen ist, eröffnet – so eine der Grundthesen Fichtenaus – Einsichten in äußeren Lebensstil und innere Haltungen einer Epoche 44: Die Lehre von den acht, seit Gregor dem Großen sieben Hauptlastern lässt sich in seinem Sinn als generelle Richtschnur identifizieren, auch wenn sie seit dem Früh- und Hochmittelalter zunächst im Zusammenhang mit der asketischen Arbeit geistlicher Menschen an Körper und Geist auf dem Weg zur Wiederherstellung der göttlichen Ordnung und Vollkommenheit diskutiert wurde45. Dieses Verständnis finden wir auch im Dialogus miraculorum sung, in: Understanding Monastic Practices of Oral Communication (Western Europe, Tenth–Thirteenth Centuries), hg. von Steven Vanderputten (Turnhout 2011) 205–229. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive Sabina Flanagan, The Speculum virginum and Traditions of Medieval Dialogue, in: Listen, Daughter. The Speculum Virginum and the Formation of Religious Women in the Middle Ages, hg. von Constant J. Mews (New York 2001) 159–179, sowie die Beiträge von Karl Brunner, Eva Cescutti und Christina Lutter, in: Funktionsräume, Wahrnehmungsräume, Gefühlsräume. Mittelalterliche Lebensformen zwischen Kloster und Hof, hg. von ders. (VIÖG 59, Wien 2011). 42  Bereits Jean Leclercq, L’amitié dans les lettres au moyen âge. Revue du moyen âge latin 1 (1945) 391–410; grundlegend Bynum, Cistercian Conception of Community (wie Anm. 20), zu Gemeinschaftsvorstellungen bei den Zisterziensern; exemplarisch Boquet, L’ordre de l’affect (wie Anm. 19). 43   Zum zuletzt genannten Aspekt vgl. jetzt Winfried Wilhelmy, Das leise Lachen des Mittelalters – Lächeln, Lachen und Gelächter in den Schriften christlicher Gelehrter (300–1500), in: Seliges Lächeln, höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters. Katalog zur Ausstellung im Bischöflichen Domund Diözesanmuseum, 27. 4.–16. 9. 2012, hg. von dems. (Regensburg 2012) 38–55; Bibliographie 241–251. 44   Fichtenau, Askese und Laster 94f. [85], mit Beispielen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Diese Ambivalenz hinsichtlich der Rangfolge wird auch im 4. Buch des DM deutlich. 45   Fichtenau, Askese und Laster 89 [82f.]. Vgl. Cassian, Conlationes patrum, lib. 5, c. 10, ed. Michael Petschenig (CSEL 13, Wien 1886), bes. 129f. zur Verknüpfung (concatenatio) der Laster; sowie Gregor d. Große, Moralia in Iob (wie Anm. 25), lib. 31, c. 45, 88f., 1610f. Zur Entwicklung grundlegend Siegfried Wenzel, The Seven Deadly Sins: Some Problems of Research. Speculum 43/1 (1968) 1–22; Richard Newhauser, The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular (Typologie des sources du moyen âge occidental 68, Turnhout 1993), und Carla Casagrande–Silvana Vecchio, I sette vizi capitali. Storia dei peccati nel Medioevo (Torino 3 2006), sowie die Beiträge in: In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages, hg. von Richard Newhauser (Toronto 2005), und in: Laster im Mittelalter (wie Anm. 12). Zusammenfassend Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12), bes. 112f. zur Vorstellung der concatenatio sowie 116f. explizit mit Bezug auf die Askese in geistlichen Gemeinschaften: „ …we can consider concatenation a way of endorsing the ideology of asceticism and also as a symbol of monastic culture itself.“ Einführung in die antiken Laster-Konzeptionen in Hinblick auf eine Geschichte der Emotionen vgl. Sorabji, Emotion (wie Anm. 7); Knuuttila, Emotions (wie Anm. 7).

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wieder, wenn Caesarius in den einführenden Erläuterungen zu seinem Buch über die Versuchung diese als grundsätzlich menschliche, aber spezifisch monastische Angelegenheit definiert. Ausgehend von Iob 7, 1 schreibt er über das Leben des Menschen, et militia est et tentatio; militia propter exercitium, tentatio propter laborem et periculum. Und weiter, anthropologisch: „… eine Versuchung sei das Leben des Menschen und nicht der Tiere, weil er humane und rationabiliter lebe, wie das Leben der Ordensleute beschaffen sei, die nach dem Geist lebten und nicht die Begierden des Fleisches erfüllten (Gal 5, 16). Die weltlich und fleischlich Gesinnten (saeculares vero et carnales), die gemäß dem Fleisch leben, werden nur uneigentlich Versuchte genannt, weil sie, sooft sie die Versuchungen spüren, entweder einwilligen oder zögerlich Widerstand leisten, ähnlich wie Pferd und Maultier, die keinen Verstand haben46. Wenn also das Leben der Ordensleute (religiosorum vita), die durch Wachen, Fasten, Beten, Gehorsam in guten und in schlechten Zeiten und durch Verzicht auf irdischen Besitz um Christi willen immer den Lastern und Begierden (vitiis et concupiscentiis) widerstehen, eine Versuchung ist, dann mußt Du einräumen, daß die Versuchung eine Wiedergutmachung für ihre Sünden ist“47. Dieser Definition der Versuchung entspricht die Positionierung des vierten Buchs im DM nach jenen über die Bekehrung, die Reue und das Bekenntnis, sowie seine Binnengliederung entlang des gregorianischen Lasterkatalogs: In insgesamt 103 Kapiteln werden die sieben Laster Stolz (superbia), Zorn (ira), Neid (invidia), die nur schwer in einen einzelnen Begriff zu fassende acedia, Geiz (avaritia), Völlerei (gula) und Unkeuschheit/Geilheit (luxuria) jeweils definiert und in ihren Zusammenhängen sowie mit ihren „Töchtern“, d. h. aus ihnen abgeleiteten Sünden, anhand unterschiedlich zahlreicher Beispiele vorgestellt48. Dabei erläutert Caesarius immer wieder Aspekte zeitgenössischer ­Affekttheorie, die parallel mit dem Anwachsen theoretischer und praktischer Schriften zur Laster- und später auch Tugendlehre gerade zu seiner Zeit im Grunde zum ersten Mal seit der Patristik wieder einer grundlegenden Systematisierung unterzogen wurden49. Seit Gregor dem Großen galt Hochmut als Wurzel aller Laster. Superbia ist die Sünde Satans und damit die erste und grundlegendste Sünde überhaupt; sein Laster besteht im Nicht-Dienen-Wollen, in der Nicht-Unterwerfung unter Gott. Konsequenz ist die Orientierung auf das Selbst und der „Wunsch nach einzigartigem Herausgehobensein über andere“50. Das ist ein Laster, das sich nicht nur bei Weltlichen, sondern auch bei Geistlichen findet, so Caesarius51. Die ersten Kapitel machen die Parallelität geistlicher und weltlicher Persönlich46   DM lib. 4, c. 1 (wie Anm. 4) 668–669. Vgl. Iob 7, 1: militia est vita hominis super terram et sicut dies mercennarii dies eius. 47  Ebd. 670/671. 48  DM lib. 4, c. 2, ebd. 626/627; vgl. oben Anm. 45. 49   Besonders in der Summa theologiae des Thomas von Aquin; vgl. Miner, Thomas Aquinas (wie Anm. 31); für eine vergleichende Einschätzung Rosenwein, Theories of Change (wie Anm. 3). Zum Anstieg der Überlieferung zu Lastern und Tugenden vgl. Bloomfield, Incipits, und Newhauser–Bejczy, Supplement (wie Anm. 39). 50  Fichtenau, Askese und Laster 97 [87]. Gregor der Große, Moralia in Iob, lib. 31, c.1, 1 (wie Anm. 25) 1549 und lib. 31, c. 45, 87, ebd. 1610. Johannes Cassian, De institutis coenobiorum et de octo principalium uitiorum remediis libri XII, ed. Micheal Petschinig, editio altera supplementis aucta cur. Gottfried Kreuz (CCSL 17, Wien 2004) lib. 12, c. 6, 205 sowie 209f.: Quod superbiae uitium, cum sit in ordine conluctationis extremum, tempore tamen et origine primum sit, und Augustinus, De civitate Dei, lib. 14, c. 13, ed. Bernard Dombart–­ Alfons Kalb (CCSL 47 und 48, Turnhout 1955) 436, setzen superbia zeitlich, aber nicht kausal an die Spitze. 51  DM lib. 4, c. 3 (wie Anm. 4) 676/677: De superbia et filiabus eius: ... Superbia, quae primum locum tenet inter vitia, est singularis excellentiae super alios quidam appetitus. ... Quantum per vitium superbiae caro, mundus et diabolus non solum saeculares, sed et personas claustrales tentent, sequentia declarabunt.



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keits- und Standesideale, die Abgrenzungsversuche und damit gleichzeitig die Schnittstellen zwischen Kloster und Welt deutlich. Wie sehr das Christentum bestehende weltliche Standesideale integrierte, wenn auch modifizierte, betont auch Fichtenau am Beispiel der bereits knapp 200 Jahre vor dem Dialogus verfassten Lebensbeschreibung Erzbischof Adalberts († 1072) durch Adam von Bremen52: Die Konvergenz von geistlichen und weltlichen Persönlichkeitsidealen, letztere repräsentiert durch Herkunft, Größe, Schönheit, Glück und Reichtum, führt ungeachtet aller Tugenden Adalberts zu einem vom Geist des Stolzes regierten Verhalten. Die grundsätzliche Frage nach dem richtigen Verhältnis von Adel der Herkunft und Adel der Tugend und nach dem Umgang mit den sie begleitenden äußeren Formen von nobilitas ist ein zentrales Thema zahlreicher hoch- und spätmittelalterlicher spiritueller und didaktischer Traktate, so etwa des breit rezipierten Speculum virginum, eines an geistliche Frauen gerichteten pastoralen Dialogs aus der Mitte des 12. Jahrhunderts53. Quanto estis ceteris nobilior, tanto esse debetis humilior, muss sich ganz ähnlich in einem von Caesarius gegebenen Exempel ein Mönch hoher Herkunft wegen seines allzu selbstbewussten standesgemäßen Auftretens in modischen Schuhen vom französischen König – also einem Weltlichen, wenn auch höchsten Ranges – tadeln lassen, zu dem er von seiner Gemeinschaft mit der Bitte um Hilfe gegen die Übergriffe eines Adeligen auf das Kloster geschickt worden war. Diese Geschichte bringt Caesarius in gleich zwei auf einander folgenden Versionen, einmal mit einem Benediktiner, einmal mit einem Zisterzienser in der Rolle des durch den König des Hochmuts Überführten und Beschämten54. Noch häufiger äußert sich im monastischen Raum und in der asketischen Praxis superbia allerdings als Stolz auf die eigene Leistung, eine Versuchung, der gerade besonders tugendhafte geistliche Menschen ausgesetzt sind. Denn mit dem Voranschreiten auf dem spirituellen Weg wächst auch die Gefährdung. Gerade die täglichen monastischen Übungen und besonders die opera sacra et honesta – Beten, Singen, das Beweinen der Sünden – können Gegenstand der hochmütigen Haltung und eines eitlen Handelns werden. Eigene Fähigkeiten, etwa „die Süßigkeit und der Wohlklang“ der Stimme beim Psalmodieren, das Wissen und die Beredsamkeit der Prediger werden zur Versuchung für geistliche Menschen. Caesarius zitiert Augustinus, der bekennt, schwer gesündigt zu haben, wenn ihn der Gesang mehr als sein Inhalt erfreut habe55. Ja selbst die Gnade der Tränen ist ein potentieller Angriffspunkt für Prüfungen durch Gott, um Überheblichkeit aufgrund der Regelmäßigkeit dieses göttlichen Geschenks zu vermeiden, ebenso wie für Versuchungen durch Dämonen und den Teufel, dem geistliche Übungen ein Gräuel sind56. 52   Fichtenau, Askese und Laster 111–115 [97–100], mit einer Reihe von einschlägigen Zitaten: Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, lib. III (wie Anm. 9) 143f., 145f., 150, 170, 180; sowie 115: zur Trias inanis gloria als Tochter der superbia und invidia mit Hinweis auf Augustinus, De civitate Dei (wie Anm. 50), und Gregor den Großen, Moralia in Iob (wie Anm. 25). 53  Speculum virginum/Jungfrauenspiegel (lat./dt.), übers. und eingel. von Jutta Seyfarth, 4 Bde. (Fontes Christiani 30/1–4, Freiburg im Breisgau u. a. 2001), besonders das vierte Buch, in dem die Tugenden und Laster anhand der Baum-Metaphorik gegenübergestellt werden, und das neunte Buch zum Fortschritt auf der Tugendleiter, wo die Idee der „wahren Nobilität“ mit Bezug auf Kor 1, 26–29 diskutiert wird: lib. 9, ebd. 764–767; ausführlich die Beiträge in Mews, Listen Daughter (wie Anm. 41). Ähnlich auch das St. Trudperter Hohelied, besonders lib. 12, c. 21 (wie Anm. 20) 42f., mit ausführlichem Kommentar von Friedrich Ohly und weiteren Belegen in zeitgenössischen geistlichen und weltlichen Texten, 574–578. 54  DM lib. 4, c. 12 und 13 (wie Anm. 4) 702–705, das Zitat auf 702/703. 55  DM lib. 4, c. 8, ebd. 692/693, nach Augustinus, Confessiones, lib. 10, c. 33, ed. Luc Verheijen (CCSL 27, Turnhout 1981) 182; die übrigen Zitate aus DM lib. 4, c. 7 (wie Anm. 4) 690f. 56   Zur Gnade der Tränen siehe z. B. DM lib. 2, c. 22 (wie Anm. 4) 444f.; dazu Piroska Nagy, Le don des

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Stolz und Hochmut treten also in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen auf, und gerade auch dort, wo man es nicht erwarten würde. Diesem Befund entspricht auch die Verteilung der Geschichten des vierten Buchs: Auf den ersten Blick ist der Anteil der exempla im Abschnitt über den Hochmut im Unterschied zu anderen Lastern vergleichsweise kurz (13 Kapitel; 12 exempla), vor allem im Vergleich mit jenen zur acedia, die in 30 Kapiteln, d. h. in knapp einem Drittel des gesamten Buchs behandelt wird. Bei genauerer Untersuchung wird deutlich, dass die Diskussion der superbia als Wurzel allen Übels immer wieder integraler Bestandteil der Diskussion der übrigen Laster ist. Das gilt gerade auch für die körperlich konnotierten Laster wie luxuria vs. Keuschheit, wenn etwa aus der asketischen Leistung der Enthaltsamkeit Hochmut erwächst und sich die Tugend auf diese Weise in ein Laster verkehrt. Solche Leute, erklärt Caesarius, fürchtet der Teufel nicht, und Gott findet an ihrer Leistung keinen Gefallen57. Wenn die asketische Leistung zur Selbstverständlichkeit oder zum Selbstzweck wird oder aber der Selbsterhebung dient, münden übertriebene asketische Leistungen entweder in die Sünde der superbia oder in jene der acedia58. Bereits bei Johannes Cassian (360–435), dessen Adaption des von Evagrius Ponticus (345–399) entwickelten Achtlasterschemas im lateinischen Westen gemeinsam mit der Lehre Gregors des Großen am einflussreichsten wurde, sind Grund und äußeres Zeichen für hochmütiges Verhalten in der Absonderung des Einzelnen von der monastischen Gemeinschaft zu sehen59. Dementsprechend ist Demut (humilitas) die zentrale monastische Tugend. Devotionsformeln und Bescheidenheitstopik finden sich bei Geistlichen aller Stände im Sinn der geforderten Unterwerfung des Selbst unter Gott bzw. unter die göttliche Weltordnung, und darüber hinaus auch bei Weltlichen – gerade auch jenen hohen Ranges. Doch selbst sie kann sich ins Gegenteil verkehren: Gregor der Große wendet sich gegen konventionelles Demutsverhalten nach außen, dem die innere Haltung nicht entspricht. Caesarius kritisiert in diesem Sinn jene, die mit ihren geistlichen Leistungen nur das Lob und den Lohn der Menschen erlangen wollen, als besonders dumm, denn mit Mt 6, 5 erhalten sie dann auch nur diese60. Stolz und Demut sind zwei Seiten einer Medaille. In diesem Punkt kann man wohl von langfristig stabilen und standesübergreifenden diskursiven und emotionalen Repertoires im christlichen Weltbild sprechen, die für Menschen unterschiedlichen Standes und vielfältiger Zugehörigkeiten vorbildlich und wirkmächtig waren61. larmes au Moyen Âge (Paris 2000); zum Verlust dieser Gnade als Prüfung vgl. DM lib. 4, c. 30 (wie Anm. 4) 746/747; zur Missgunst des Teufels in diesem Zusammenhang DM lib. 4, c. 35, ebd. 760/761. Zur Bedeutung des Beweinens der eigenen Sünden im Kloster vgl. die Ermahnung eines zu sehr um das wirtschaftliche Wohlergehen seines Klosters bekümmerten Konversen: Mane ergo in claustro tuo, frequenta oratorium tuum, ut die noctuque possis peccata tua deplangere: DM lib. 4, c. 62, ebd. 828/829. 57   DM lib. 4, c. 5 (wie Anm. 4) 682/683: Nec Deo placet, nec diabolus timet sine humilitate virginitatem, cum tamen Deo placeat, et diabolus timeat sine virginitate humilitatem. Zur Verkehrung von Tugenden in Laster bzw. zur „Verkleidung“ von Lastern als Tugenden vgl. Richard Newhauser, On Ambiguity in Moral Theology. When the Vices Masquerade as Virtues, in: ders., Essays on the Moral Tradition in the Western Middle Ages (Aldershot 2007). 58   Dazu ausführlich unten S. 106–108. 59   Cassian, De institutis coenobiorum, lib. 12, c. 30 (wie Anm. 50) 228f. Vgl. Conrad Leyser, Authority and Asceticism from Augustine to Gregory the Great (Oxford 2000). 60   Sancti Gregorii Magni Vita, a Johanne diacono scripta libris quatuor, lib. 3, c. 51, PL 75 161; DM lib. 4, c. 7 (wie Anm. 4) 690/691; zur Unterwerfung des menschlichen Willens unter jenen Gottes vgl. etwa Bernhard, Sermones de diversis 26 (Quomodo voluntas nostra divinae tripliciter subici debeat voluntati) n. 2 (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 9 [Innsbruck 1998] 408–415, hier 408/411): … Porro totius humilitatis summa in eo videtur consistere, si voluntas nostra divinae, ut dignum est, subiecta sit voluntati,… . 61   Fichtenau, Askese und Laster 113f. [99], bringt mehrere Beispiele aus der höfischen Literatur zu



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In diesem Verständnis einer Entsprechung von „innerer Haltung“ und „äußerem Verhalten“ wird auch die ambivalente Haltung mittelalterlicher Theoretiker und pastoraler Praktiker den Emotionen der Freude und Trauer und ihren Artikulationen, dem Lachen und Weinen, gegenüber deutlich. Superbia bringt die Dinge aus dem Lot und erzeugt Maßlosigkeit. Konsequenzen sind übergroße Fröhlichkeit oder Traurigkeit, d. h. als maßlos bewertete Emotionen: Der Mensch befindet sich eben erst auf dem Weg zur inneren Ordnung und himmlischen Freude und ist noch nicht dort. Törichte Fröhlichkeit gilt Bernhard von Clairvaux als Eigenschaft der Hochmütigen, die sich dem Schlechten und Traurigen in ihrer Seele nicht stellen wollen62. Caesarius von Heisterbach nennt in seinen einführenden Erläuterungen zur Völlerei als deren „Töchter“ unter anderem Narretei, unpassende Fröhlichkeit und Geschwätzigkeit. Ausgelassenheit und lautes Lachen sind Eigenschaften der Dämonen, und so werden auch im Dialogus miraculorum zahlreiche Mönche nach geglückter Versuchung durch Teufel und Dämonen von diesen verhöhnt und vor der Gemeinschaft zum Gespött gemacht63. Petrus Venerabilis geht noch weiter, wenn er die Wahl der Farbe Weiß für den zisterziensischen Habit gegenüber dem benediktinischen Schwarz als dem Tal der Tränen und der Aufgabe der Buße nicht angemessen kritisiert. Angebracht ist maßvolle Trauer, die Gabe der Tränen ist ein Geschenk, während übermäßige Trauer bis zu völliger Mutlosigkeit und Verzweiflung führen kann64. Dieser Versuchung sind viri religiosi in besonderer Weise ausgesetzt, was sich im DM in der erwähnten hohen Zahl an einschlägigen exempla äußert. Der Integration von tristitia und acedia durch Gregor den Großen entspricht die thematische Gliederung dieses Abschnitts bei Caesarius. Er erklärt die Zusammenhänge seinem fiktiven Schüler so: Accidia est ex confusione mentis nata tristitia, sive taedium, et amaritudo animi immoderata, qua iocunditas spiritalis extinguitur, et quodam desperationis praecipitio mens in semetipsa subvertitur65. dieser Parallelität von weltlicher Ehre und Seelenheil, u. a. aus dem Kreuzlied Hartmanns von Aue: Wan swem daz ist beschert, daz er dâ wol gevert, daz giltet beidiu teil, der welte lop, der sêle heil: Des Minnesangs Frühling, bearb. von Hugo Moser–Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte (Stuttgart 1988) XXII. Hartmann von Aue, V Dem kriuze zimet wol reiner muot 2, Z. 9–12, 412–414. 62   Fichtenau, Askese und Laster 37–41 [44–47]; 38 [45] mit dem Zitat von Bernhard von Clairvaux, Liber de gradibus humilitatis et superbiae, c. XII (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 2 [Innsbruck 1992] 29–135, hier 104–107): Tertius gradus [superbiae]: De inepta laetitia: Proprium est superborum, laeta semper appetere et tristitia devitare, iuxta illud: Cor stultorum, ubi laetitia (Eccle 7, 5). 63   Explizit etwa in DM lib. 4, c. 33: quantum daemones illic dormitantes irrideant; oder DM lib. 4, c. 34: Vide quanta subsannatio …, beide (wie Anm. 4) 758/759. Die 56 Kapitel der fünften Distinktion des DM sind zur Gänze den Dämonen gewidmet (Distinctio Quinta: De daemonibus, DM [wie Anm. 4] 948–1133). Eindrucksvolle Beispiele lachender Dämonen bringt auch Otloh von St. Emmeram, Liber visionum, ed. von Paul Gerhard Schmidt (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 13, Weimar 1989), Visio 4, 54–60, hier 57: „Numquid tu nobiscum gaudere et ioculari non vis? Quia ergo elegisti tristiciam, satis profecto experieris illam“. Vgl. Thierry Lesieur, Othlon de Saint-Emmeran. La vie comme épreuve de la négativité, in: Moines et démons. Autobiographie et individualité au Moyen Âge (VIIe–XIIIe siècle), hg. von Dominique Barthélemy– Rolf Grosse (Hautes Études Médievales et Modernes 106, Genève 2014) 101–118. 64   The Letters of Peter the Venerable, edited, with an introduction and notes, by Giles Constable, 2 Bde. (Cambridge, MA 1967) 1 Nr. 28 an Bernhard von Clairvaux, 52–101, hier 57f.: Cumque in ualle lacrymarum positos (Psal 83, 7) quibus praecipitur ut semper luctui nunquam laetitiae intendant deceant uestimenta luctum et paenitentiam designantia, uos econtra in miseriis felicitatem, in merore gaudium, in luctu laetitiam, uestium candore monstratis. Vgl. Fichtenau, Askese und Laster 40f. [46f.]. 65  DM lib. 4, c. 27 (wie Anm. 4) 738/739, dazu im Apparat, Anm. 522, eine ausführliche Erläuterung zum Bedeutungsspektrum des Begriffs. Unterscheidung von acedia und tristitia bei Cassian, Conlationes patrum (wie Anm. 45) lib. 5, c. 2, 121; vgl. auch ders., De institutis coenobiorum, lib. 10, c. 1 (wie Anm. 50) 173f.

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Zunächst geht es um scheinbar harmlose Formen von Unlust im Alltag, um die Betäubung der Seele, wie es bereits Cassian ausführt, die zur Trägheit, Abneigung, ja Ekel gegenüber den geistlichen Übungen führt, dort etwa konkret um die Trägheit der Mönche zur heißen Mittagszeit66. Sehr ähnlich sind auch die ersten Geschichten des Caesarius in diesem Abschnitt am monastischen Tagesablauf orientiert. Immer wieder geht es darum, dass die Mönche beim Gebet einschlafen oder gar nicht erst zum gemeinsamen Beten aufstehen. Häufig wird diese Versuchung durch Teufel oder Dämonen in Form von deren aktiven physischen Eingreifen geschildert. Der Teufel hindert einen Kölner Scholasticus in dessen Probejahr bei den Zisterziensern daran, seinen Mantel anzuziehen, um zum Chorgebet zu gehen. Einem Novizen drückt er jeweils vor dem Stundengebet so heftig auf die Schultern, dass er sich hinsetzen und ausruhen muss. Ein Mönch wird durch eingebildete Krankheiten daran gehindert, zur Matutin aufzustehen. Andere werden während des Chorgebets durch Schläfrigkeit versucht und, sobald sie eingeschlafen sind, auf verschiedene Weise verspottet67. Die Ambivalenz menschlicher Schwäche wird in einer der längsten Geschichten des gesamten Buchs über den Mönch Christian aus dem St. Peterstal deutlich68. Christian war ein noch junger Mönch, der sich durch ein den Heiligen gleiches Leben auszeichnete. Dabei war er körperlich so schwach (corpore tam debilis), dass er des Lebens überdrüssig wurde (ut eum vivere taederet). Eines Nachts schlief auch er – ausgestreckt liegend, weil er seinen Kopf schonen wollte – während des Gebets vor dem Altar ein. Im Unterschied aber zu anderen Mönchen, die für ein solches Vergehen deutlich empfindlicher bestraft werden, wird Christian sanft von der Jungfrau Maria geweckt und freundlich ermahnt. Hier, so bemerkt der Novize im Dialog, ist tatsächlich körperliche Schwäche der Grund für das Fehlverhalten des herausragenden Asketen, aber – so antwortet der Lehrer – „wegen der Sünde des ersten Menschen ist jede Versuchung auch eine Schwäche“. In der christlichen Lehre von der Erbsünde kommt das Erlebnis der Gemeinsamkeit diesem Zustand der Unordnung und Gefahr gegenüber zum Ausdruck. „Wir wollen uns also davor hüten“, so Caesarius weiter, „daß nicht das, was der Natur entspricht, zum Laster wird. Denn nicht nur aus dem Natürlichen entstehen durch Mißbrauch Laster, sondern auch aus Tugenden können Laster entstehen. Zum Beispiel: Wenn die Gerechtigkeit das rechte Maß überschreitet, wird sie zur Grausamkeit; allzu große Frömmigkeit führt zur Auflösung; übertriebener Eifer erweist sich als Wut; allzu große Milde nennt man Trägheit und Verdrossenheit“69. Daher lässt sich, so auch Fichtenau explizit, die Gegenüberstellung von Fleisch (caro) und Geist (spiritus) im mittelalterlichen Verständnis nicht vereinfachend als LeibfeindIntegration bei Gregor dem Großen, Moralia in Iob, lib. 31, c. 45 (wie Anm. 25); dazu Siegfried Wenzel, The Sin of Sloth: Acedia in Medieval Thought and Literature (Chapel Hill 1967); Christoph Joest, Die Bedeutung von Akedia und Apatheia bei Evagrios Pontikos. Studia Monastica 35 (1993) 7–53; Christoph Flüeler, Melancholie und Acedia im Spätmittelalter. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 34 (1987) 379–398. Vgl. Fichtenau, Askese und Laster 92 [84]. 66   Cassian, De institutis coenobiorum, lib. 10, c. 1 (wie Anm. 50) 174. 67   DM lib. 4, c. 49 (wie Anm. 4) 790–795: Scholasticus, hier 790/791; DM lib. 4, c. 52, ebd. 788–801, hier 800/801: Novize; DM lib. 4, c. 32–36, ebd. 756–763: schlafende Mönche. 68   DM lib. 4, c. 30 (wie Anm. 4) 742–753. 69   Ebd. 744/745: Caveamus ergo, ne hoc quod est naturae, vertatur in vitium; quia non solum ex naturalibus per usum malum gignuntur vitia, sed etiam ex virtutibus. Verbi gratia: Justitia dum modum excedit, vertitur in crudelitatem; nimia pietas in dissolutionem; indiscretum zeli studium iudicatur iracundia; nimia mansuetudo segnitia dicitur et accidia.



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lichkeit interpretieren: caro ist nicht im Sinn von Körperlichkeit, spiritus nicht als Geist [an sich] zu verstehen, sondern jeweils als Haltung: caro als Hinwendung zur Welt, spiritus als spirituelle Haltung; sinnliche Bedürfnisse und Leidenschaften sollen durch die geistliche Haltung und ihre Übung kontrolliert werden70. Dass sich die Umsetzung solcher Vorgaben in der täglichen Praxis weniger leicht darstellt als in der Theorie, kündigt Caesarius bereits im einführenden Kapitel zum vierten Buch mit den Worten an, er wolle mit den folgenden Beispielen darlegen, „wieviel Mühe die Versuchung enthält, wieviel Furcht, wieviel Aufwand und Lohn“71. Prüfung und Versuchung, Qualen, Angst und Schrecken dominieren dementsprechend die Themen und Motive, das Vokabular und die Inszenierung seiner Beispiele. Denn es ist auch nicht jeder bereits so weit auf dem geistlichen Weg fortgeschritten wie der erwähnte Christian. In einem anderen „ganz schrecklichen“ (rem valde terribilem) Beispiel wird etwa ein beim Psalmodieren häufig schlafender Mönch vom Gekreuzigten selbst geweckt und mit einem Kinnhaken von solcher Gewalt niedergestreckt, dass er innerhalb von drei Tagen stirbt72! Die Begründung, die Caesarius für diese drastische Strafe gibt, unterstreicht explizit die Bedeutung eines gerade auch emotionalen Einsatzes, der von den geistlichen Menschen verlangt wird: „Ein gleichgültiger Mönch verursacht Gott und den heiligen Engeln Übelkeit. Daher lässt Johannes einen Gleichgültigen stellvertretend für alle durch Christus sagen ,Wenn Du doch warm oder kalt wärest! Aber weil Du lau bist, werde ich Dich aus meinem Mund ausspeien‘ (Offb 3, 15f.).“ Am anderen Ende der emotionalen Skala stehen jene Formen von maßloser und daher sündhafter Traurigkeit, die zur völligen Verzweiflung bis hin zum Selbstmord führen können. Caesarius gibt insgesamt sechs solcher exempla, vier davon betreffen geistliche Menschen, von denen einer gerettet wird, zwei weltliche Personen73. Im Fall eines jungen Mannes, der seine Kleider verspielt und sich erhängt, findet Caesarius vergleichsweise leicht eine Erklärung in der Bergpredigt, wo jene selig gepriesen werden, die über ihre Sünden trauern und Buße tun (Mt 5, 4): Des Jünglings Kummer hingegen sei nicht Gott gemäß gewesen und deshalb eine Sünde74. Keinen Kommentar gibt es zum Tod einer Nonne, die von einem schlechten Konversen (maligno converso) verführt in einen Brunnen springt, und zum freiwilligen Tod eines Mädchens, das von einem nicht näher genannten Mann (quodam viro) geschwängert und verlassen wurde75. Weitere Fälle betreffen besonders tugendhafte geistliche Menschen beiderlei Geschlechts, die trotz vorgerückten 70   Fichtenau, Askese und Laster 29 [39]; ähnlich 90 [82], anhand der Diskussion der „körperlichen“ Laster (vitia carnalia) Völlerei und Unzucht, die in der Lasterhierarchie zunächst an erster Stelle standen, z. B. bei Cassian, Conlationes patrum, lib. 5, c. 3 (wie Anm. 45) 121f., mit Bezug auf Evagrius Ponticus; dazu Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12) 115, während sie bei Gregor, Moralia in Iob, lib. 31, c. 45, 88–90 (wie Anm. 25) 1611–1613, den fünf vitia spiritalia nachgereiht sind. Nicht die sinnlichen Bedürfnisse an sich sind die Sünde, sondern ihnen nachzugeben (d. h. von ihnen „beherrscht“ zu werden anstatt sie zu beherrschen). Vgl. auch hier die Parallelen zu höfischen Tugend- und Lastervorstellungen, z. B. Horst Wenzel, Se regere. Affekt und Repräsentation in der höfischen Literatur, in: Emotions and Material Culture, hg. von Gerhard Jaritz (Wien 2003) 101–122. Grundlegend Bynum, Soul and Body (wie Anm. 9). 71   DM lib. 4, c. 1 (wie Anm. 4) 672/673: Quantus sit in tentatione labor, quantus timor, quantum dispendium, quantumve meritum, sequentia declarabunt exempla. 72   DM lib. 4, c. 38, ebd. 764/765: De monacho in choro frequenter dormitante, quem crucifixus in maxilla percussit et extinxit. 73   DM lib. 4, c. 40–45, ebd. 772–785. 74   DM lib. 4, c. 44, ebd. 780/781: Vides nunc, quam periculosa sit tristitia, quae non est secundum Deum? 75   DM lib. 4, c. 42, ebd. 778/789; DM lib. 4, c. 43, ebd. 778–781.

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Alters und vorbildlicher Lebensführung plötzlich so sehr von Zweifeln gequält werden, dass sie sich schließlich für verdammt halten und den Kampf aufgeben, wie es über einen verzweifelten Konversen heißt, der seine Gebete nicht mehr sprechen konnte und deshalb Angst vor der Hölle bekam. Er sprang nach den Worten: „Ich vermag nicht länger gegen Gott zu kämpfen“ in den Fischteich des Klosters76. Erklärungen, warum Gott so etwas zulässt (Deus talia permittit), fallen hier offensichtlich auch dem geistlichen Lehrer schwer. Im Gespräch über eine Nonne, die sich in die Mosel stürzte, legt Caesarius dem Novizen die Vermutung in den Mund, „damit keiner, wie vollkommen er auch ist, sich auf seine Tugenden und Werke etwas einbildet, sondern sie ganz Gott zuschreibt, von dem das Gute zu wollen, zu können, zu tun und zu vollenden kommt“77, was der Lehrer bestätigt. Im letzten Fall des Konversen, den Caesarius gut kannte, folgt sie erst einige Kapitel später mit der Vermutung eines ungenannten gemeinsamen Bekannten, der Tote hätte niemals eine vollkommene Beichte abgelegt78. Leichter verständlich dürften auch den Zeitgenossen jene Beispiele gewesen sein, in denen geistliche Menschen aufgrund von übertriebener Askese dem Laster der acedia verfielen79: So erzählt Caesarius von einem Mönch namens Baldwin, dem die gemeinsamen asketischen Übungen nicht genügten, sodass er sie durch viele weitere „private“ (privata) ergänzte, die ihm wichtiger waren. „Schließlich trocknete von allzu viel Wachen und Beten sein Gehirn aus und er wurde so schwachsinnig, dass er eines Nachts, noch bevor sich der Konvent zur Matutin erhob, die Kirche betrat, die forma der Novizen bestieg und mit dem Glockenseil um den Hals hinabsprang.“ Da die Glocke dabei zu läuten begann, liefen alle herbei, und er wurde gerettet, gewann aber seine geistigen Fähigkeiten nie wieder. Die Absonderung von der Gemeinschaft, wie sie bereits bei Cassian problematisiert wird, hat hier also dramatische Konsequenzen. Für das unmittelbare Erleben ist Gemeinschaft aber nicht nur der notwendige disziplinierende Rahmen gegen superbia und acedia, sondern ebenso Ort der Tröstung angesichts des Ausmaßes an Schrecken, Qualen und Gefahren, wie Caesarius explizit unterstreicht80. Die affektiven Aspekte der Gemeinschaft werden in der Terminologie in differenzierter Weise deutlich. Die Klosterfamilie ist gleichzeitig familia im ökonomischen Sinn, wie sie emotional definierte Bindungen herstellt und aufrecht erhält: Nicht nur wird der Abt als Vater, sondern auch der Prior als Mutter imaginiert, die dafür verantwortlich sind, den Konvent, der den Leib Christi darstellt, „zu tragen, zusammenzuhalten und zu stützen: Zu tragen durch das Gebet, zusammenzuhalten durch die Disziplin und zu stützen durch das tröstende Wort“. Zum Wohl der Gemeinschaft müssen beide ihre Aufgaben erfüllen, um den Leib Christi im Gleichgewicht zu halten81. 76   Besonders DM lib. 4, c. 40 und 41, ebd. 772–778, hier 776/777: Non possum diutius contra Deum pugnare. 77  DM lib. 4, c. 40, ebd. 772–775, hier 774/775: ... forte ideo Deus talia permittit, ne aliquis, quantumlibet sit perfectus, de suis virtutibus vel virtutum operibus praesumat, sed Deo totum, a quo est bonum velle, posse, facere et perficere, attribuat. 78   DM lib. 4, c. 44, ebd. 780/781: De supradicto converso quidam vir sapiens, qui illum bene novit, me audiente sic ait: „Non credo quod unquam perfecte fecerit confessionem suam.“ 79   Die folgenden Zitate aus DM lib. 4, c. 45, ebd. 782/783, mit dem Fazit: Sic quandoque de indiscreto fervore nascitur vitium accidiae. 80  Z. B. DM lib. 4, c. 47, ebd. 786/787. 81  DM lib. 4, c. 18, ebd. 718–721: Ad Abbatem enim et Priorem specialiter spectat conventum, qui Christi corpus est, portare, tenere et sustentare. Portare per orationem, tenere per disciplinam, sustentare per consolationem. Abbas loco patris, Prior vice matris. Cum Prior cum Abbate suo minus bene concordat, non aequa lance cum illo



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Selbst oder gerade ein bereits als „heilig“ bezeichneter Mönch wie der oben erwähnte Christian leidet unter seinem durch physische Schwäche begründeten und damit legitimen Ausschluss vom gemeinschaftlichen Gebet. „Wenn ich nämlich außerhalb des Chores stehe und die anderen psallieren höre, tut es mir im Herzen weh, dass ich nicht hinzutreten darf, weil ich an die Tröstungen denke, mit denen Gott unter den anderen meine Seele erfreut.“82 Die Trennung von der Gemeinschaft verunmöglicht ihm diese Tröstungen, und auf Nachfrage des Abtes erläutert er, dass diese in der Schau der Engel und Jesus Christus selbst bestünden83. Selbst in diesem Fall weiten Fortschritts auf dem geistlichen Weg werden die individuellen spirituell-emotionalen Bestrebungen – Christian wird als Braut Christi der Hoheliedmetaphorik dargestellt – nicht losgelöst von der Gemeinschaft, sondern in sie integriert gedacht84. Und schließlich ist es das gemeinsame Gebet der Gemeinschaft, das individuelle Rettungschancen erhöht, wie in der dramatischen Geschichte einer Rekluse, die ihren Glauben zu verlieren droht und schließlich durch die besonderen und intensiven Gebete der Mitglieder jenes Zisterzienserklosters, dessen Abt die Aufsicht über sie anvertraut war, von ihren Zweifeln erlöst wird85. Verbindungen zwischen den Tröstungen der Gemeinschaft und den sozialen Aspekten des Zusammenlebens stellen auch jene exempla der vierten Distinktion her, deren erbaulicher, immer wieder auch als unterhaltsam angekündigter Inhalt der Motivation des Publikums dienen soll. Ist allzu große Fröhlichkeit zwar ein Zeichen für emotionale Unordnung und damit Ausdruck von Laster, so kann Heiterkeit in Maßen durchaus legitim sein – mehr noch, ist spiritalis iocunditas das „Gegenmittel“ gegen acedia86. Ein wohl dosierter Scherz des Abtes – mal freundlicher, mal derber, je nach Konstitution des zu Belehrenden – führt zaudernde Novizen rasch wieder zurück auf den richtigen Weg (DM 4, 50f.). Lächelnd befragt ein konvertierter Ritter seinen einst aus Angst vor dem Ungeziefer im wollenen Klostergewand zaudernden Kollegen nach seinem Fortschritt auf dem letztlich doch gewählten spirituellen Weg (DM 4, 48). Ein Laienbruder erzählt auf einer Reise mit dem Kardinal von Albano eine erbauliche Parabel über die Konkurrenz eines Zisterziensers und eines Kardinals an den Pforten des Himmels, die nach dem Inhalt ihres Magens – Klosterkost oder opulente Speisen – entschieden wird; der Kardinal behält den Scherz lächelnd in Erinnerung, obwohl er auf seine Kosten ging (DM 4, 79). Ganz deutlich wird in allen Fällen, dass im Unterschied zu den dramatisch geschilderten „negativen“ Leidenschaften, den Versuchungen, die zur Sünde führen, und der ebenso leidenschaftlichen Angst vor deren Konsequenzen, der Großteil der referierten positiven Emotionen ebenso wie das entsprechende Vokabular – hilaris, iocundus, serenus – keinesChristi corpus portat. Vgl. dazu Klaus Schreiner, Consanguinitas – Verwandtschaft als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters, in: Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra, hg. von Irene Crusius (Göttingen 1989) 176–305. 82  DM lib. 4, c. 30, ebd. 742–753, hier 746/747: Stans enim extra chorum, et alios psallere audiens, quia intrare non licet, corde crucior, eo quod recorder consolationum, quibus Deus inter illos laetificat animam meam. 83   Ebd.: Confessus est ei, quia saepius in choro tempore psalmodiae beatos angelos videret circuire, et quod multo fuit excellentius, ipsum Regem angelorum hominem Christum Jesum. 84   Vgl. oben Anm. 18. und 20. 85  DM lib. 4, c. 39, ebd. 766–771. 86  Zu den Tugenden als „Gegenmittel“ bzw. Waffen gegen die Laster vgl. DM lib. 4, c. 103, ebd. 944–947, hier 946/947. Zu dem auf der antiken Medizin (Hippokrates) beruhenden Prinzip des Gegenmittels vgl. z. B. Hieronymus, Epistolae, ep. 121, praef. 4, ed. Isidor Hilberg (CSEL 54–56, Wien 21996) Bd. 3, 4: … et iuxta hippocraten contraria contrariorum remedia.

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wegs überschwänglich, sondern gemäßigt, eben geordnet ist. Das rechte Maß zu halten, ohne aber gleichgültig – lau – zu werden, heißt eben, die innere und äußere Ordnung der Affekte zu bewahren bzw. (wieder) herzustellen, und das gilt sowohl für das Verhältnis von „innen“ und „außen“ beim jeweils einzelnen Menschen als auch für seinen Platz in der Gemeinschaft und in der ständischen Ordnung. Einfach, im Sinn von unmittelbar oder unreflektiert, ist dieses Emotionsmanagement allerdings weder in den frühmittelalterlichen monastischen Regeln noch in deren Anwendung auf die Praxis, sondern hoch differenziert und komplex – und eben zeitgebunden87. Die von Caesarius in seinem Dialogus miraculorum angesprochenen Gemeinschaften sind sowohl seine reale unmittelbare Umgebung, die Klosterfamilie, als auch die Gemeinschaft seines Ordens, darüber hinaus geistlich, genauer monastisch lebender Menschen, und schließlich die Gemeinschaft aller Christen und Heiligen mit Gott. Diese Gemeinschaften sind in unterschiedlicher Intensität „emotional communities“ im Sinn von Barbara Rosenwein, indem sie sich durch vergleichbare Formen von Bindung und Zugehörigkeit, durch gemeinsame Werte und Vorstellungen, ähnliche Formen von sozialer und spiritueller Praxis sowie durch gemeinsame Vorstellungen von Leidenschaften und emotionale Ausdrucksformen charakterisieren lassen88. Die emotionalen Repertoires, aus denen sich Caesarius’ Geschichten bedienen, wurden offensichtlich zumindest teilweise auch gemeinschaftsübergreifend verwendet, und zwar nicht nur zwischen den bereits angesprochenen Gemeinschaften, sondern auch darüber hinaus, die „Welt“ betreffend. Diese teilweise explizit angesprochene Nähe, die auch Fichtenau als Eigenschaft der Übergangsphase zum Spätmittelalter besonders betont, wird anhand der zahlreichen Bezüge zwischen Kloster und Welt mit ihren ebenfalls zahlreichen ambivalenten Wertungen und Übergangsformen, etwa der Stellung von Weltpriestern zwischen Ordensleuten und nicht enthaltsam lebenden Weltlichen deutlich. Besonders sichtbar werden sie anhand der wechselwirkenden Aspekte von geistlicher und weltlicher nobilitas, die zu superbia führen können, am Beispiel von Neid, Habsucht und Zorn, anhand derer Caesarius die Grenze zwischen Weltlichen und Geistlichen expliziert, und anhand der „körperlichen“ Sünden der Völlerei und der Unkeuschheit. Aber selbst zum typisch monastischen Sündenfeld der acedia bringt Caesarius Geschichten von weltlichen Personen, die sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Letztlich sind die Leidenschaften, die zu Lastern führen können, alle grundsätzlich sowohl für weltliche wie auch für geistliche Menschen gefährlich, wenn auch eben in unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichem Ausmaß: spezifische Gemeinschaften schöpfen aus gemeinsamen emotionalen „Repertoires“. Gerade praktisch didaktisch motivierte und nicht zuletzt deshalb „populär“ schreibende Seelsorger wie Caesarius waren offenbar eher geneigt, Ordnungsideale und asketische Disziplin der Affektkontrolle durch Gottesfurcht, Angst und Schrecken sowie durch das Prinzip des trauernden Buße-Tuns aufrechtzuerhalten und zu bekräftigen. Dies legt die verwendete Terminologie ebenso nahe wie die dramatischen Ausdrucksformen – eben wunderbare und erschreckende Inhalte und Inszenierungen vieler exempla. Dies dürfte 87   Dazu die Arbeiten von Albrecht Diem, zuletzt etwa Disimpassioned Monks and Flying Nuns. Emotion Management in Early Medieval Rules, in: Lutter, Funktionsräume (wie Anm. 41) 17–39; zur Historizität von Emotionen in diesem Zusammenhang pointiert Rosenwein, Theories of Change (wie Anm. 3). 88  Ebd. 12 sowie 19 zu gleichzeitig existierenden „multiple emotional communities“ sowie bereits dies., Worrying (wie Anm. 34) 842 und 845. Vgl. auch Christina Lutter, Social Groups, Personal Relations, and the Making of Communities in Medieval vita monastica, in: Making Sense as Cultural Practice. Historical Perspectives, hg. von Jörg Rogge (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 17, Bielefeld 2013) 45–61.



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gegenüber dem Publikum innerhalb der monastischen Gemeinschaften ebenso gelten wie für die zunehmende pastorale Praxis besonders der Mendikanten außerhalb. Das narrative Repertoire der exemplarischen Geschichten weist jedenfalls große Ähnlichkeiten auf, und wurde auch im Laufe des 13. Jahrhunderts verstärkt standardisiert89. Das emotionale Repertoire, das auf der zentralen Figur der Liebe beruht, ist selbstverständlich auch Caesarius von Heisterbach bekannt, doch die bräutliche Beziehung zwischen Gott und dem individuellen Menschen ebenso wie die mystische Gabe des Schauens von Engeln und Christus selbst spielt nur in wenigen Geschichten eine Rolle und wird jeweils mit großer Vorsicht vor einem falschen „Gebrauch“ durch weniger Geübte vorgetragen90. Bereits die Benediktregel sieht nur jene, die den zwölften Grad der Demut erreicht haben, dazu befähigt, die vorher ausgeführten Regeln der monastischen Disziplin, also mit Fichtenau die asketische Technik, gleichsam selbstverständlich und habituell in ihrem Herzen und mit ihrem Körper aus Liebe zu Gott und nicht aus Furcht vor der Hölle zu befolgen91. Zwar spielt die „neue Frömmigkeit“ mit einer privilegierten „Liebesbeziehung“ zwischen Gott und der menschlichen Seele in den einschlägigen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts klar eine zunehmend bedeutende Rolle. Dennoch stellt sich angesichts der insgesamt dramatisch anwachsenden pastoralen Überlieferung vor allem seit dem 13. Jahrhundert die Frage nach dem Publikum, das diese Vorstellungen und die mit ihnen verbundene spirituelle Praxis jeweils rezipierte und diskutierte. Einerseits suggeriert eine Gegenüberstellung mit einem populären Werk der pastoralen Praxis wie dem Dialogus miraculorum eine eher zurückhaltende Rezeption. Andererseits waren viele der herausragenden monastischen Theoretiker dieser neuen Frömmigkeitsformen gleichzeitig auch pastorale Praktiker in unterschiedlichen Orden, wie etwa die Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und Aelred von Rievaux, die Benediktiner Gottfried und Irimbert von Admont, der Dominikaner Thomas von Aquin und später Meister Eckhart, und nicht zuletzt Franziskus von Assisi. Aber auch bei ihnen wird das Individuum nicht gegen, sondern in konstanter Wechselwirkung mit der Gemeinschaft gedacht und angesprochen92. Auch die Zunahme des „neuen Frömmigkeitsstils“ in der an nicht gelehrte Menschen gerichteten pastoralen Didaxe ist offensichtlich. Die Grenzen zwischen theologisch gelehrten und praktisch pastoralen Diskursen und den jeweils ange89  Zur Entwicklung zisterziensischer exempla als Genus vgl. die gesammelten Aufsätze von Brian P. McGuire, Friendship and Faith (wie Anm. 40). Zu Gründen und Zielen einer „popular pedagogy“ am Beginn des 13. Jahrhunderts am Beispiel des Dominikaners William Peraldus vgl. Newhauser, Vices as Anthropology (wie Anm. 12) 119–121. 90  DM lib. 4, c. 30 (wie Anm. 4) 742–753: Christian vom St. Peterstal als Braut Christi; DM lib. 4, c. 39, ebd. 766–771: Visionen der verzweifelnden Rekluse; DM lib. 4, c. 80, ebd. 876/877: Süßigkeit der Seitenwunde Christi. 91   Vgl. RB c. 7 (wie Anm. 12) hier 41 sowie 50–52: … Primus itaque humilitatis gradus est, si timorem Dei sibi ante oculos semper ponens, oblivionem omnino fugiat et semper sit memor omnia quae praecepit Deus, ut qualiter et contemnentes Deum gehenna de peccatis incendat et vita aeterna quae timentibus Deum praeparata est, animo suo semper revolvat. […] Duodecimus humilitatis gradus est, si non solum corde monachus, sed etiam ipso corpore humilitatem videntibus se semper indicet, […] Ergo, his omnibus humilitatis gradibus ascensis, monachus mox ad caritatem Dei perveniet illam quae perfecta foris mittit timorem, per quam universa quae prius non sine formidine observabat absque ullo labore velut naturaliter ex consuetudine incipiet custodire, non iam timore gehennae, sed amore Christi et consuetudine ipsa bona et dilectatione virtutum. Quae Dominus iam in operarium suum mundum a vitiis et peccatis Spiritu Sancto dignabitur demonstrare. Vgl. dazu v. a. Bernhard von Clairvaux, Liber de gradibus humilitatis et superbiae (wie Anm. 62). 92  Dazu Boquet, L’ordre de l’affect (wie Anm. 19); aktuelle Übersicht der einschlägigen Literatur bei Rosenwein, Theories of Change (wie Anm. 3), bes. 17f.

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sprochenen Publikumsgruppen sind meist fließend und verlaufen nicht entlang eindeutig zu identifizierender Achsen93. Ein Charakteristikum dieser Zeit dürfte nicht zuletzt das Vorhandensein unterschiedlicher emotionaler Repertoires neben einander gewesen zu sein, die sowohl für die affektiven Bindungen in geistlichen Gemeinschaften eine Rolle gespielt haben wie auch in den als individuell beschriebenen Beziehungen der Menschen zu Gott. Inwieweit diese Modelle in Konkurrenz zu einander standen und in welchem Maß sie integriert wurden, ob diese Gemeinschaften in und zunehmend auch außerhalb des monastischen Raums als distinkte emotionale Gemeinschaften beschrieben werden können, darüber wissen wir noch vergleichsweise wenig. Das im Spätmittelalter reichlich vorhandene Quellenmaterial und das methodische Handwerkszeug einer an Gefühlen und ihren Representationen interessierten Kulturgeschichte, die sich mit Fichtenau dem Menschen als Ganzes annähern will und dabei gleichzeitig die Vielfalt, Gleichzeitigkeit und Ambivalenz historischer Phänomene ernst nimmt, versprechen neue Antworten auf diese Frage.

93  Vgl. z. B. Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hg. von Klaus Schreiner (München 1992); Ruh, Mystik (wie Anm. 20). Zum letzten Punkt v. a. Bynum, Christian Materiality (wie Anm. 9) 129f.



Why „Das karolingische Imperium“ still needs to be read Janet Nelson

I am always happy to be in Vienna, especially now, for this celebratory occasion; and yet I feel I am taking some risks in coming here and even appearing to suggest there could be any doubt whatsoever about whether Heinrich Fichtenau’s „Das karolingische Imperium“ still needs to be read*. Patrick Geary has cited this book as exemplifying the adage, habent sua fata libelli. True, it bears the marks of the post-war moment when it was written, true, too, that not all students of the Carolingian Empire outside German-speaking lands are told to read it nowadays, even in the readable and oft reprinted (though sometimes quite free) English translation1. German-speakers do still cite it, but perhaps do so by way of routinized respect, not after re-reading it cover-to-cover, and without having thought hard about what they’re finding. Here are my own findings: this is a book that after sixty-odd years is still fresh, a book that’s proved consistently interesting, exciting even, to read and re-read – in my case over five decades: a book that has pushed me in the direction of places that other books on the Carolingian Empire simply haven’t reached. I must confess to a tactical change of mind as I wrote this paper. In my abstract, I promised to deal in turn with Fichtenau’s interest in psychology, with his comparative treatment of Charlemagne and Louis the Pious, and with the way the book throws light on the problems of imperial government. I will stick to those topics but tackle them in a different order, reflecting a different order of priorities. First, though, I want to preface them with some brief reflections on Fichtenau’s sub-title: „Soziale und geistige Proble­ matik eines Großreiches“. That sub-title disappeared from the English translation of 1957, evidently with the author’s approval, but perhaps at the suggestion of the translator, who in an illuminating introduction of his own identified Fichtenau’s „religious sensibility“ as the hallmark of his book and key to his account of the „inner weaknesses“ of Charlemagne’s state2. Like the sub-title, much of chapter VI, „Die geistliche Reform“, * I owe thanks to Andreas Schwarcz for his editorial help, and to Walter Pohl, Helmut Reimitz, Toni Scharer and other friends and colleagues in Vienna for making the Fichtenau Conference such a comprehensively illuminating, apt, and moving occasion. 1   Fichtenau, Das karolingische Imperium; translation by Peter Munz: Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968). Munz observes (Translator’s Introduction xxiv): „Translation can, of course, never be perfect; that is especially the case in a translation from the German, for German is a language which permits certain equivocations and imprecisions that are not permissible in English.“ As for „Rezeption“: contrast the appreciative references in Walter Ullmann, The Growth of Papal Government in the Middle Ages (London 1955) with the lack of any reference in any contributor to Charlemagne. Empire and Society, ed. Joanna Story (Manchester 2005) or in Marios Costambeys et al., The Carolingian World (Cambridge 2012). 2   Peter Munz, Translator’s Introduction, in: Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) ix–xxiv,

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disappeared (pp. 194–210), while the truncated part that remained (pp. 185–94) was renamed „The last years of Charles the Great“ (translation pp. 177–87). Though „last years“ was Munz’s phrase, not Fichtenau’s, it captured the apocalyptic „end-times“ tone of the pages in which Fichtenau enumerated the symptoms „ein[es] Stocken[s], … de[s] beginnenden Rückgang[s]“, when „das Glück“ deserted Charlemagne. Though Einhard reported that evil omens were ignored by Charlemagne, Fichtenau voiced his own suspicion: „Im Traume mochte sich wohl anmelden, was man in den Gesprächen des Tages nicht gerne berührte.“3 To the rump of „Die geistliche Reform“ were added three paragraphs supplied by Fichtenau, the last two reworked from the final two paragraphs of 1948, the remaining one newly-written in 1957: here Fichtenau echoed Geoffrey Barraclough’s note of optimism about the bequest of Charlemagne to Europe: „a common historical and cultural heritage“4. I’ll return later in this paper to Fichtenau’s religion, and his view of Charlemagne’s religion. I now turn, briefly, to the least important of my three topics: the comparison between Charlemagne and Louis the Pious, „Charlemagne’s heir“. To the extent that Fichtenau did compare, I think he was actually offering an explanation of the empire’s decline and fall, in terms partly of historical inevitabilities, but, more, of contrasting personalities and religious attitudes. At intervals through the chapters on Charlemagne, Fichtenau sounds a note of warning which, like the death-motif in „The Ring“, keeps you aware, as the historical actors in this story were not aware, of something bad coming round the corner. For example: „wie sich die Geschichte niemals wiederholt, so war auch der fränkische Großstaat … etwas anderes als das römische Imperium: … ein schwerfälliges Gebilde, das nur wenige Generationen dauern sollte…“; or: „Der Aufstieg zu Macht und Glanz verwischte noch die Bruchlinien, die so bald zutage treten sollten“; or, in Chapter VI, „Die geistliche Reform“, after an extraordinary outburst on what could have been the impact, in a single generation, of Benedict of Aniane’s „geläuterte[r] Persönlichkeit“: „Das ganze fränkische Imperium ist ja die erste große Konzeption des jungen Europäertums, ein Ent­ wurf für die Zukunft, der an der Eilfertigkeit und Äußerlichkeit seiner Durchführung, mehr aber noch an der Unfertigkeit seiner Menschen scheitern mußte, denen es nicht gegeben war, Bindung mit Freiheit zu vereinen.“5 at xvi–xvii: „[Professor Fichtenau] recognizes two diametrically opposed forms of the religious life … the life of inwardness, of the conscience, [and]… the life of belief in the magical power of external works, in the healing power of relics …“. 3  Fichtenau, Das karolingische Imperium 186, Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 178. 4  Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 187: „The very diversity of the provinces and of the men who governed them, and the incompatibility of earlier Germanic notions with Christian universalism, had been a constant source of weakness to the empire as a whole. But these same factors also had their positive aspects. Thrown back upon their own resources, the local nobility, in each province, responded to the challenge. They resisted the new invasions and, their strength once aroused, gave birth to new political societies in place of the old empire. Europe has never since formed a political unit, and all later attempts to bring about political unity have ended in failure. But, because of the common historical and cultural inheritance from the Carolingian age, the resulting disunity has never dissolved into complete anarchy“, with a footnote reference to Geoffrey Barraclough, The Origins of Modern Germany (Oxford 1946) 5–8. Barraclough, general editor of the series, Studies in Medieval History, in which The Carolingian Empire appeared as vol. IX, received Fichtenau’s „heartfelt thanks“ in his own preface to Munz’s translation (viii). On Barraclough and the series, see Janet Nelson, European History, in: A Century of British Medieval Studies, ed. Alan Deyermond (Oxford 2007) 71–129, at 77–8, 82. 5  The first two citations are from Fichtenau, Das karolingische Imperium 32, 33; the third, Das karo­ lingische Imperium 203, seems to come out of the blue after an excursus on „Spaniertum“ and monasticism, but for an explanation see below, 120.



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Metaphors – „a clumsy shape“, „break-lines“ – are one thing; but „the unreadiness of human beings“ is quite another, and it provides the ultimate answer to the question of failure, and there Fichtenau leaves a clue to the explanatory importance of religion in Carolingian decline. I’ll pick up that clue near the end of this paper, while noting premonitory rumblings, when Louis is labeled „unkriegerisch“, and later when he is depicted as at the mercy of a wife who „aus blinder Mutterliebe eine Lawine auslöste, die schon lange drohend über dem Schicksal des Reiches stand“6. Fichtenau’s own sense of priorities is clear: roughly two-thirds of the book are devoted to the 46-year reign of Charlemagne and a strikingly original thematic analysis, one-third to Louis’s 26-year one – 59-year if you include the time spent as king of Aquitaine – and a basically conventional narrative treatment. Fichtenau’s end-notes show that while the chapters on Charlemagne are abuzz with quotations from contemporary poets, those on Louis are not: the contrast is not merely symptomatic of the sources available, or even the difference in styles of these successive Carolingian courts7. I do not think Fichtenau found Louis psychologically interesting, whereas Charlemagne’s personality struck him as very interesting indeed, and not only because the normally sharp text-critic was curiously trustful of Notker the Stammerer’s Deeds of Charlemagne as somehow conveying the „actualité“ of the man8. I will return in a moment to personality and psychology. But, as an interim judgement, after reading a lot, over the years, about these two reigns, to both of which a goodly number of books have been devoted in the last decade or so, I think that while Fichtenau’s account of Louis has dated, and even been largely superseded, the same is emphatically not true of his account of Charlemagne. There is little or no reference to Fichtenau’s book in new work on Louis; but none of the authors of recent works on Charlemagne ignores Fichte­ nau – though it might be said that none of them fully engage with him because none seriously attempts biography9. My title today would never work for the whole of „Das karolingische Imperium“; but I intend to show why I think „still needs to be read“ applies to the 160 or so pages that cover Charlemagne’s life and reign. My second topic is imperial government and its problems. Remember that Fich­tenau’s subtitle is „Soziale und geistige Problematik eines Großreiches“. How does Fichtenau connect social and intellectual difficulties with the problems of empire10? In chapter IV, „Adel und Beamtentum“, Fichtenau showed how nobility and office rooted power in social relations and localities. Power’s tendency was to be hereditary. A count who served out a lifetime in post would, other things being equal, have a son as his successor. Counts possessed no arbitrary power to punish: rather they had to exercise justice in accordance with what had been determined by divine and also royal laws, just as the king was bound 6   Fichtenau, Das karolingische Imperium 187, and 252. Of the very few women mentioned in this book, two of them, Judith, p. 268, and Brunhild, p. 19, are credited with „Willenskraft“. 7  See Matthew Innes, „He never even allowed his white teeth to be bared in laughter“: the politics of humour in the Carolingian Renaissance, in: Humour, History and Politics, ed. Guy Halsall (Cambridge 2002) 131–56. 8   Cf. the comments of Munz, Translator’s Introduction (cit. n. 2) x, xiii. 9   The forthcoming 700-page book of Johannes Fried may well belie that assertion: a happy prospect. Meanwhile, charters, it turns out, can offer entrées to a ruler’s personality: see Anton Scharer, Herrscher­ urkunden als Selbstzeugnisse? MIÖG 119 (2011) 1–13, esp. 5–6, and with further references at n. 29 to the work of Fichtenau in this area. 10  The meaning of „geistig“ is hard to capture in English: „spiritual“, „intellectual“, „mental“ are possible translations given in my Cassell’s German-English Dictionary (London 1909, reprint London 1933) and in the 2013 Langenscheidt German English Dictionary online.

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by norms embedded in those same laws. „Eingriffe, die nicht sachlich notwendig waren, galten ja als Willkürakte und unwürdig eines christlichen, auf die Ungestörtheit der Rechtsordnung bedachten Regenten“ but they were also discouraged, even blocked, by „Volksrecht“ embedded in local communities11. „Auch der allgewaltige König Karl hatte oft arge Schwierigkeiten, Männer seines Vertrauens als Grafen in diese oder jene Provinz zu versetzen, in der sie fremd waren …“, is a statement hard to prove, even if „often“ is discounted. Fichtenau contrasted Charlemagne with the Merovingian king Clothar II. who undertook only to appoint locals12. Fichtenau’s reconstruction in general terms of what can be known of local realities stands up well today in the company of more recent accounts13. Charlemagne aimed to provide mutual benefits to himself and those who served him, or, in more abstract terms, advantages both to royal authority and aristocratic interests. Missi dominici may have begun with the defects of „a system of temporary assistance“ („Aushilfen“ – Munz translates „a makeshift device“); but once their role became routine („ordentlich“ rather than „ausserordentlich“) counts had to play by new rules14. As important, at local level, vassi dominici provided a counterweight to comital power not least because they functioned as quasi-professional military forces at the king’s command, and, „In Zeiten einer starken Zentralgewalt konnte diese aus einer solchen Einrichtung [vassi] nur Vorteile ziehen“. Fichtenau understood what was at stake for both parties15. Political relationships at and between all levels, from great aristocrats with interests straddling several provinces, to vassi dominici, operated through analogous bonds: gifts of women in marriage, chances of social rise and spatial mobility. „So wirkte das junge Großreich mit seinen ungeahnten Aufstiegsmöglichkeiten als Schmelztiegel der stammesmäßigen und sozialen Gruppen“16. Donald Bullough, a generation younger than Fichtenau, in „The Age of Charlemagne“ (1965), cited Fichtenau’s book as „an ,interpretation‘ of the reign“17. This was a compliment, if a slightly back-handed one, from a historian whose own work was an interpretation. Not for either of them a blow-by-blow narrative! Brilliant evocations, sharp, inspired vignettes, were more their line. The questions on Bullough’s agenda had certainly been on Fichtenau’s: what was Charlemagne’s short-term impact? what were the longterm effects? whom did Charlemagne motivate to serve, and how did he do it18? Fichtenau called this the problem of „die Gewinnung einer breiten Schicht von ,Getreuen‘, die nicht abseits standen oder nur um des Gewinnes willen Ämter annahmen“. Munz’s translation of those last seven words, „who would seek office for reasons other than the desire for profit“, slightly misleads. Fichtenau’s point is that these trusty men would neither stand aside nor seek office only for personal gain, but – by implication – were motivated by loyalty to Charlemagne and self-interest at the same time. What Charlemagne needed   Fichtenau, Das karolingische Imperium 114.   Ibid. 115. 13  For the most recent, and much fuller, excellent account whose conclusions generally bear out Fich­ tenau’s, see Jennifer R. Davis, Charlemagne’s Practice of Empire (Cambridge 2014) forthcoming. See also contributions to Théorie et pratiques des élites au haut moyen âge, ed. François Bougard et al. (Collection Haut Moyen Âge 13, Turnhout 2011). 14   Fichtenau, Das karolingische Imperium 116. 15  Ibid. 118–9; Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 110: „When the monarchy was strong, the institution of vassi dominici was an effective instrument“, takes account only of the ruler’s benefit. 16  Fichtenau, Das karolingische Imperium 118–21, quotation at 121. 17  Donald Bullough, The Age of Charlemagne (London 1965) 208. 18   Ibid. 18. 11 12



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were men with „jene[r] ,Staatsgesinnung‘ …, die im technischen Begriff der Treue an den König enthalten war. Und hier ist Karl der Große, wir dürfen es nicht leugnen, geschei­ tert“19. Fichtenau thought that Charlemagne grasped the problem but could not solve it, though there were extenuating circumstances. To my mind, Fichtenau underestimated Charlemagne’s success in motivating loyal service. The importance for the „Mittel­ schichten“, as well the great and good, of oaths of fidelity was something Fichtenau acknowledged20. In the remainder of Chapter IV, Fichtenau cited a good deal of evidence that contradicted his own verdict of failure. Alcuin’s letters and writings suggest, if they don’t exactly prove, the impact of his teaching on those at court. The efforts of the regime and its ecclesiastical cadres to reach the „Mittelschichten“ may not have extended to expounding St Augustine on motivations in the two cities, but arrangements for oaths to be taken, on relics, to Charlemagne’s missi by all fideles in a regular, public and collective way did demand a directing of wills. In a recent account of empires as „a problem of comparative history“, Susan Reynolds pointed out that imperial rulers „relied on a good deal of voluntary submission“ not least because „separate names and collective identities could still be preserved in … quasi-imperial situations“. She argued that empires as such „need to delegate authority … especially when lines of communication are long and travel slow“, and that this entailed „co-opting existing local elites and leaving local government to them … . Ideas of solidarity and community which served to support and validate existing states could also console the elites of former states that preserved some of their traditional institutions within empires … .“21 These observations apply well to the empire of Charlemagne. They indicate that that particular ruler grasped the problems and found, if not exactly solutions, then ways of coping with them more or less effectively. „Geistige Problematik“ is something else, and it is a leitmotif of the whole book. You would expect the chapter on „Die ‚Armen Leute‘“ to be about the economically poor and oppressed, and indeed the first twelve pages turn out to be a rich digest of information on those „little people“ with items from capitularies and councils prominently represented in the notes (some 25 %)22. With a remark about sources that disproportionately present „Mißstände“, Fichtenau shifts deftly to the lower clergy whose lives were very much part of the lives of the „little people“23. On „Eigenkirchen“ and „,Eigenpriester‘ (wenn wir so sagen wollen)“ he casts a quizzical but often sympathetic eye24. In the rest of this chapter, 40 % of the references are to capitulary and conciliar texts. Yet the breaking open of ecclesiastical and secular separate boxes and the combining of the „sozial“ and the „geistig“ provides a synoptic overview of clergy who didn’t keep their distance from „der breiten Masse der mittleren und unteren Schichten“, whose lives were „nicht nur eine Parallele, sondern Teil dessen, was für die Weltlichen unter den ,kleinen Leuten‘ bestimmend   Fichtenau, Das karolingische Imperium 123; Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 115.   Ibid. Cf. Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchung zum Herrscherethos Karls des Großen (Sigmaringen 1993) 114–94; and, very briefly, Janet Nelson, How Carolingians created consensus, in: Le monde carolingien. Bilan, perspectives, champs de recherches, ed. Wojciech Fałkowski–Yves Sassier (Turnhout 2009) 67–82, at 78–82. 21   Susan Reynolds, Empires: a Problem of Comparative History. Historical Research 79 (2006) 151–65. 22   Fichtenau, Das karolingische Imperium 153–64, with end-notes 320–24, 23   Ibid. 163–4. 24   Ibid. 165, 166. 19

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war“25. A little further on, Fichtenau comments: „Gerade auf dem Wege über Gelage und Volksgesang konnte die christliche Lehre in Bereiche eindringen, die dem Heidentum nahestanden“26. This is just one of Fichtenau’s settings of the Germanic against the Christian – two views of law, two views of justice, two forms of religion – only to observe them reconciled in practice27. „Man taufte Glocken, um sie so wie menschliche Wesen zur Abwehr dämonischer Einflüsse fähig zu machen. Aber all dies war doch schon längst im Abklingen.“ That last sentence evokes echoes that took a long time to die away 28. Actually they never did die away: bells were and still are baptized. Here Fichtenau ponders with great sensitivity questions about early medieval religion that are still debated today: I think of recent friendly but determined exchanges between Arnold Angenendt and Henry Mayr-Harting, and of Julia Smith’s ongoing work on relics, a Charlemagne-related theme if ever there was one, and a subject pioneered by Fichtenau29. „Geistige Problematik“ includes more than the spiritual and intellectual. Fichtenau turned to psychology because he believed it held the key to understanding Charlemagne’s personal mentality, but also because he believed that the man mirrored the epoch: „Ein Mensch wird nicht größer, wenn man ihn mit einem Mythos umgibt, und wahre histo­ rische Größe wird nicht geringer, wenn man für ihre menschliche Seiten die Augen geöffnet hält. Die Analyse einer Epoche setzt die Analyse des Mannes voraus, der ihre Mitte bildete und ihr Gesicht bestimmte, zugleich selbst in seinem Wesen von ihr gebildet und bestimmt.“30 It’s possible to assent to those propositions, but then cast about for evidence. In Chapter I, „Karl der Große“, Fichtenau used two types of written source particularly often: poetry and letters, especially Alcuin’s. These can be regarded as typical court genres. Both are stylized; yet both convey a lively sense of actuality. Alongside these, Fichtenau set Einhard’s literary description of the corporeal man – cervix obesa et brevior, venterque proiectior, his short neck, and his protruding stomach; also his round head, his cheerful face, and his eyes – oculi praegrandes ac vegeti – „very large and lively“. There was the evidence of Charlemagne’s bodily remains as estimated by the medical men who opened his tomb in 1861: these seemed to confirm Einhard’s information on his height: 192 cm31. The fact that the biographer’s pen-portrait showed the man’s warts and all (a rather high voice, a tendency to talkativeness) only strengthened its credibility. On his very next page, Fichtenau put alongside the portrait’s physiological traits – a thickset body, a short massive neck, a paunch, a barrel-chest – a set of psychological ones: cheerfulness, optimism,   Ibid. 165.   Ibid. 172. 27  Ibid. 167, 180, 181. 28  Ibid. 181. Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 174: „… such practices were waning“. 29   See Anrold Angenendt, Libelli bene correcti. Der richtige Kult als ein Motiv der karolingischen Reform, in: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt, ed. Peter Ganz (Wiesbaden 1992) 117–35; Henry Mayr-Harting, Charlemagne’s Religion, in: Am Vorabend der Kaiserkrönung, ed. Peter Godman et al. (Berlin 2002) 113–24; Janet Nelson, The voice of Charlemagne, in: Belief and Culture in the Middle Ages. Studies presented to Henry Mayr-Harting, ed. Richard Gameson–Henrietta Leyser (Oxford 2001) 76–88. On relics, see Fichtenau, Reliquienwesen; Julia M. H. Smith, Portable Christianity: Relics in the Medieval West (c.700–1200). Proceedings of the British Academy 181 (2012) 143–67; Janet Nelson, Religion in the age of Charlemagne, in: The Oxford History of the Middle Ages, ed. John Arnold (Oxford 2014) 490–514. 30  Fichtenau, Das karolingische Imperium 35. 31  Einhard, Vita Karoli Magni, c. 32, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover–Leipzig 1911) 36–7. It is hard to draw conclusions from the equestrian statuette (now in the Louvre) which may or may not represent Charlemagne: See Danielle Gaborit-Chopin, La statuette équestre de Charlemagne (Paris 1999). 25 26



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quickness in assessing a situation and getting a grip on it, a practical bent, a capacity to make friends easily, an enjoyment of food and drink, and women; but also, a dislike of being alone, a need to be surrounded by others’ company, and such darker traits as a tendency to mood-swings and violent reactions32. At this point Fichtenau twice mentioned in the text, and referenced in the notes, two works by the psychologist Ernst Kretschmer, „Körperbau und Charakter“ (1940), and „Geniale Menschen“ (1942), in which that author developed further ideas originally put forward in 1925 in a theory correlating bodytype with personality and, in extreme form, with psychopathology: the pyknic type (from the Greek word for „stocky“) with a predisposition to manic depression. In the English translation much of this, and a subsequent reference, were quietly omitted. Munz says in his translator’s Introduction that „the book was revised by the author before the translation was made“ and that „the present edition therefore represents an improved version of the original German text“33. Does any of this matter? Not in the sense that it reflects Nazi ideology: amongst the most distinguished Viennese psychologists of the earlier twentieth century was Alfred Adler (1870–1937), who, years before Kretschmer, had developed a theory of types which became widely influential in the United States before and after the Second World War, and is still cited. Fichtenau’s „improvement“ did not entail removing all trace of the pyknic type. 1949’s mention of hostilities against the Saxons being intensified „bis zu wilder Grausamkeit“ became in the 1957 translation/revision, „… into fantastic excesses of atrocity“34. The 1949 diagnosis of a duality of traits in Charlemagne’s psychological make-up was retained too: „Hier schon kündet sich doch jene Doppelsichtigkeit der ­Epoche an, die uns durch den ganzen Verlauf der Darstellung begleiten wird“. The translation/revision identified „side by side with his charming manner … his hardness, even his cruelty“, and added: „There was nothing of that well-beloved harmony of character which can only be the fruit of gradual education, spread over many generations.“35 Reread chapter I, and you see how the psychological template reinforces the interpretation. Both Charlemagne’s ruling style and his sexuality are vividly evoked by Fichtenau in psychological terms. „Jedem Menschen wird er rasch zum Freund, am Materiellen freut er sich genießend, er braucht in gleicher Art Frauen, wie Essen und Trinken.“ His constant need of company was part of his self-construction as a patriarchal ruler over his own extended family „deren Mitglieder selbst keine politischen Ambitionen zeigten oder zeigen durften“36. Fichtenau, still, points our interdisciplinary generation in the right direction. But, at this distance, psychological reconstruction can only get us medieval historians so far37. A king’s sociability, sex-life, fatherhood and kin-ties were not just „private“ matters but belonged in a „public“ political and social space38. Ruling a kingdom, building an   Fichtenau, Das karolingische Imperium 35–6.   Munz, Translator’s Introduction (cit. n. 2) xxiii. 34  Fichtenau, Das karolingische Imperium 30; Compare Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 21. 35   Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 27. I am presuming that the additional sentence on the fruit of gradual education was Fichtenau’s work. 36   Fichtenau, Das karolingische Imperium 36, 50–1. 37  Lynn Hunt, Psychology, Psychoanalysis and Historical Thought – the Misfortunes of Psychohistory, in: A Companion to Western Historical Thought, ed. Lloyd S. Kramer–Sara C. Maza (Oxford 2002) 337–56. See also Daniel Woolf, Early Modern European Intellectual History, 1945–1995, in: Companion to Historiography, ed. Michael Bentley (London 1997) 307–335, at 328–9. 38   Cf. Janet Nelson, Kingship and royal government, in The New Cambridge Medieval History 2, ed. 32 33

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empire, entailed familial strategies, but families themselves engendered tensions as well as bonds, exclusions as well as inclusions. These were social-structural givens: they made the context, and the constraints, within which personal traits or choices were operative in a „family-state“39. Fichtenau might have been expected to turn to sociologists rather than psychologists. Curiously, Fichtenau did turn to sociologists, not in „Das karolingische Imperium“ , but in two lectures given at the Catholic Academy in Vienna in March 1946, and which he published as „Askese und Laster“ in 194840. It began with Weber on Religion and the Rise of Capitalism, and ended with Nietzsche, and in between referenced scholars in many fields, including psychology, as well as theology and patristics. It was „eine Geschichte des Menschen in seinem inneren Wollen und Sollen“41. Unfortunately for my purposes in the present paper, Fichtenau’s focus in „Askese und Laster“ was, to begin with, on early Christian monasticism, and thereafter on the central and later Middle Ages. He did, however, offer a very brief comment on Benedict of Aniane’s monastic reform 42. Here is a clue to the meaning of what I referred to earlier as the „extraordinary outburst“ in the second part of „Das karolingische Imperium“’s chapter VI, „Geistliche Reform“, and specifically the passage highlighting the role of „the Spaniards“43. Fichtenau regarded Benedict of Aniane, Theodulf, Agobard and Claudius, all of Spanish origin, as forming a distinct group, committed to „gläubignüchterne[m] Rigorismus, „kämpferische[m] Fanatismus“, „Radikalität“ and inner conversio, and already displaying something akin to the „düster-gewaltsam[en]“ religiosity visible in Spanish art from Beatus of Liebana to Goya44. These pages breathe a passion to be found nowhere else in „Das karolingische Imperium“; and, though you might think they belonged as much to Charlemagne’s reign as to that of Louis, they have disappeared altogether from the translation/revision of 1957. In „Das karolingische Imperium“, Fichtenau made just one reference to the short book he had published in 194845. It is as if his new project belonged in another field of vision. Duality was embedded in the account of Charlemagne’s last years with which Fich­ tenau closed his Chapter V, „Die ,armen Leute‘“, and began Chapter VI. In his will, drawn up in 811, Charlemagne contemplated the possibility of withdrawing from the Rosamond McKitterick (Cambridge 1995) 383–430, esp. 398–406; Janet Nelson, Charlemagne: pater optimus?, in: Am Vorabend der Kaiserkrönung (cit. n. 29) 269–82. 39   Michel Foucault, Security, Territory, Population: Lectures at the Collège de France, 1977–1978, translated by Graham Burchell (Basingstoke 2007). My thanks go to Margot Finn for allowing me to see work in advance of publication, and for drawing my attention to Foucault’s lectures on „biopower“ and „governmentality“. 40  Fichtenau, Askese und Laster. I am very grateful to Barbara Rosenwein for directing my attention to this work, and sending me an electronic copy of it. For a revised reprint see Beiträge 1 24–107. 41   Fichtenau, Askese und Laster 7. 42  Ibid. 69: „Der hervorragende Anteil, den die karolingische Reichsgewalt an dieser [i.e. Benedict of Aniane’s] Reform hatte, läßt erkennen, wie sehr zu den fränkischen Siegen mit irdischen Waffen die im geistlichen Bereich mit den Mitteln der Askese gehörten. Zum erstenmal gab es auch einen Herrscher, der sein Amt völlig in geistlichem Sinne auffaßte: Ludwig der Fromme bemühte sich an seinem Hof und in seinem eigenen persönlichen Leben das asketische Ideal zu erfüllen, bis herab zu den detaillierten Vorschriften über den Ernst der Haltung und das Verbot des Lachens; ein Beginnen, das in späteren Jahren seltsam von dem Treiben seiner Gattin Judith und ihren ,Hexenkünsten‘ abstach.“ 43  Fichtenau, Das karolingische Imperium 203, in the context of 194–210. 44  Cf. also ibid. 43, 198. 45  Fichtenau, Das karolingische Imperium 194, n. 42 at 326; cf. 208, n. 77 at 328, citing his own Mensch und Schrift 121–2.



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world: a Lebensplan which, Fichtenau pointed out, was typical of lay aristocrats in this period46. Already in Chapter II, „Die ,Akademiker‘ des Hofes“, Fichtenau had inferred a „Hinwendung zur Innerlichkeit“ from what he read as Alcuin’s dark hint about his own sexuality and the secret sin he shared with Angilbert of St Riquier: … nos ambos, ut ­recognosco, quaedam necessitates catena constringit … – something not previously expressed in Alcuin’s self-revelatory letters47. Yet, just as a court-scholar and an emperor occupied different stations in the same social world, so the private man, the family-man, was at one and the same time the state’s-man, the emperor. Charlemagne in 811 was pressing ahead with an urgent campaign for rigorous „outward“ observance of the Old Law, which would improve the conduct of lay as well as clerical elites, and, through them, „all“. At the same time, he was calling for „inward“ self-monitoring following the New Law of the New Testament48. Why do we still need to read „Das karolingische Imperium“, and in the original German? Different historians will have different answers; but perhaps they can agree that Fichtenau’s abilities as a writer make the effort rewarding, and that the book, again and again, springs surprises in ways that other books on the subject do not. My own first answer is that early medievalists who heed Fichtenau’s insistence on social contexts and structures leads us outwards from this particular empire to consider new global and comparative histories. A second answer is that Fichtenau was seriously interested in social relations between elites and „little people“, and in the relevance of scholars to what Foucault called governmentality, hence in communications, norms, the moulding of consensus, the connecting of the court with the regions, and also the uses of violence in the service of power. A third answer is that Fichtenau encourages an attention to psychology and indeed to social sciences more generally as humane disciplines cognate with our own. This means widening the range of relevant sources: poems and letters, dreams and jokes, recorded memories of religious experiences, the ringing of bells, childhood and family, skeletons in cupboards – in short, a „geistige Problematik“ that required a close focus on individuals. Fichtenau believed that the personality of an early medieval person might be, up to a point, intelligible. „[Karl der Große] verkörperte in sich die Tendenzen seiner Epoche, wurde von ihnen getragen und trieb sie zugleich selbst voran“. He succeeded, „weil seine Persönlichkeit in völliger Harmonie mit den voranstrebenden Kräften seines Volksstammes angelegt war, und diese wie in einem Brennspiegel zusammenfasste“49. We might not put it in those terms today, but it is easy to see why Fichtenau thought it necessary to try to understand connections between this man and his contemporaries, his world, and furthermore to find some „wissenschaftlichen“ way of doing so – a method testable against evidence. In this city of all cities, the city of Freud and Adler, Fichtenau reached for psychology as a new science that had already received academic respectability. Within a decade or so of the appearance of „Das karolingische Imperium“, Erik Erikson had published „The Young Luther“, and Norman Cohn „The Pursuit of the Millennium“. By the 1970s, Lloyd deMause was announcing the arrival of the sub-discipline of Psy46   Fichtenau, Das karolingische Imperium 193: the phase of „Rüstigkeit mit dem Schwerte“ was followed by one of „Buße für die Sünden, die sie dabei nicht vermieden hatten“. Cf. Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 186. 47  Fichtenau, Das karolingische Imperium 106, n. 81, at 314. 48  Nelson, The voice of Charlemagne (cit. n. 29); Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich (Ostfildern 2008) 72–80. 49   Fichtenau, Das karolingische Imperium 45, 53.

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chohistory. It would be nice to say: and the rest is history … . But of course, it isn’t. I see Fichtenau at the beginning of variegated and unpredicted interdisciplinary enquiry, a pioneer, taking risks ahead of his time. Many of the best social historians of recent decades have picked up the baton. I will name just one good example (though I’m sure you can all think of others), an early medievalist who has graced our conference, Barbara Rosenwein. A hundred psychohistorical flowers have bloomed in the herbaceous borders between humanities and social sciences. „Illusionen sind doppelt gefährlich in einer Zeit, die das Wissen um Maß und Ordnung des Menschlichen so sehr verloren hat, wie die unsere“: so wrote Fichtenau in his very short „Vorbemerkung“. So many myths had clustered around Charlemagne because people had allowed the perceptions and agendas of their own world to stand in the way of confronting and looking squarely at Charlemagne in his world. Fichtenau may not have seen everything – which historian can? – but his gaze was direct, intent and focused. Even if we can’t learn lessons from history, we can learn that lesson from the elegiac words with which Fichtenau closed „Das karolingische Imperium“: „Ist es doch die Art des Menschen, von dem wegzusehen, was sie am Menschlichen nicht wahr haben möchten.“ I will venture my own rather free translation: „It is all too human to avert your eyes from what you don’t want to recognize as all too human.“50

50  Ibid. 297; compare Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire (1968) 188: „It is human to overlook what is all too human.“



Viri inlustres und omnes Franci: Zur Gestaltung der feinen Unterschiede in historiographischen und diplomatischen Quellen der frühen Karolingerzeit Helmut Reimitz

Einleitung: die sogenannten Fortsetzungen der sogenannten Fredegar-Chronik „Bis hierher ließ der vir inluster Graf Childebert, der Onkel des genannten Königs Pippin, diese Geschichte oder die Taten der Franken sorgfältig aufzeichnen. Von hier an stand die Aufzeichnung unter der Aufsicht des vir inluster Nibelung, des Sohnes Childebrands, der ebenfalls ein Graf war.“1 Mit diesem Satz verewigten sich zwei nahe Verwandte des ersten karolingischen Königs Pippin in den Fortsetzungen der sogenannten Fredegar-Chronik – „sogenannt“, weil uns eigentlich nicht bekannt ist, wer sie verfasst hatte. Der Name für den Autor der Kompilation einiger spätantiker Chroniken und ihrer Fortsetzung bis in das siebente Jahrhundert etablierte sich in der frühen Neuzeit, vermutlich auf Grund einer fehlerhaften Lesung. An die Arbeit dieses anonymen Kompilators schlossen im achten Jahrhundert die karolingischen Verwandten an und setzten diese merowingische Chronik, die ihre Geschichtserzählung im Jahr 642 beendete, fort, um die Usurpation des fränkischen Königtums durch ihre karolingischen Verwandten um die Mitte des achten Jahrhunderts zu legitimieren2. Die merowingische Weltchronik scheint den karolingischen Historikern dafür in mehrfacher Hinsicht eine gute Grundlage geboten zu haben. Schon ihre Struktur als „chain of chronicles“ lud dazu ein, die Geschichte fortzusetzen3. Nach dem Beginn der 1  Continuationes Fredegarii, c. 34, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, Nachdr. Hannover 1984) 168–193, hier 182. Usque nunc inluster vir Childebrandus comes, avunculus predicto rege Pippino, hanc historiam vel gesta Francorum diligentissime scribere procuravit. Abhinc ab inlustre viro Nibelungo, filium ipsius Childebrando, itemque comite, succedat auctoritas. 2   Roger Collins, Die Fredegar-Chroniken (MGH Studien und Texte 44, Hannover 2007) 82–89. 3  Zum Kontext der ältesten erhaltenen Redaktion der merowingischen Fredegar-Chronik: Ian Wood, Fredegar’s fables, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von Anton Scharer–Georg Scheibelreiter (VIÖG 32, Wien–München 1994), und Collins, Die Fredegar-Chroniken (wie Anm. 2) 16–25; siehe dazu demnächst auch die Arbeit von Andreas Fischer, Die Fredegar-Chronik. Komposition und Kontextualisierung (in Vorbereitung). Zur Bezeichnung „chain of chronicles“ Ian Wood, The „chain of chronicles“

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Chroniksammlung mit der als Liber generationis überlieferten lateinischen Übersetzung der griechischen Weltchronik des Hippolyt von Rom folgten eine Überarbeitung der lateinischen Weltchronik des Hieronymus und ihre Fortsetzung durch Hydatius bis in die Zeit der Auflösung der römischen Herrschaft in den westlichen Provinzen des römischen Imperiums. Daraufhin wurde die Chronik in einem weiteren Buch mit Exzerpten aus den ersten sechs Büchern der Geschichten Gregors von Tours fortgesetzt, die von den Kompilatoren recht eigenwillig zu einer Geschichte der Franken umgearbeitet wurden4. Nach dem Ende dieses Teils, der die Geschichtserzählung bis zum Tod König Chilperichs I. im Jahr 584 beinhaltet, beginnt das sogenannte „vierte Buch“ der Chronik (sogenannt, weil aus der handschriftlichen Überlieferung nicht klar wird, ob es ursprünglich tatsächlich als viertes Buch gezählt wurde)5. Darin setzten die merowingischen Kompilatoren der Chronik die Geschichtserzählung bis in das Jahr 642 fort, wo sie dann allerdings recht abrupt abbricht. Der Autor der ältesten erhaltenen Version des vierten Buchs der Chronik hatte seine Geschichte jedenfalls über das abrupte Ende des uns erhaltenen Textes hinausgedacht. So verspricht er etwa, einen Bericht zu den Erfolgen des byzantinischen Kaisers Constans II. gegen die Araber an passender Stelle fortzusetzen, was nahelegt, dass er an die Fortsetzung der Erzählung bis in die späten 50er Jahre des siebenten Jahrhunderts dachte 6. Es war aber nicht nur das abrupte Ende des „vierten Buchs“, das die karolingischen Historiographen dazu einlud, an dieser „chain of chronicles“ weiterzuarbeiten. Ebenso wurde in dem Text, dessen älteste Redaktion wohl im Umfeld der karolingischen Vorfahren in den 60iger Jahren des siebenten Jahrhunderts entstand, auch die bedeutende Rolle der karolingischen Vorfahren Pippin I. und Arnulf in der Geschichte des merowingischen Königreichs seit Chlothar II. hervorgestrichen7. Die Fortsetzung der Erzählung durch die karolingischen Historiographen nach 642 verfolgte mit besonderer Aufmerksamkeit den politischen und sozialen Aufstieg der Nachkommen Pippins und Arnulfs8. Dazu griffen die karolingischen Kompilatoren zunächst auf die letzten zehn Kapitel des Liber historiae Francorum zurück, der seine Erzählung im Jahr 726/27 beendete9. Mit einer leicht überarbeiteten Version dieser zehn Kapitel wird der Aufstieg des Enkels Pippins I., Pippins II., erzählt ist, der sich schließlich in London BL 16974, in: Zwischen Niederschrift und Wiederschrift. Historiographie und Hagiographie im Spannungsfeld von Edition und Kompendienüberlieferung, hg. von Richard Corradini–Maximilian Diesenberger (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 405 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 15, Wien 2010) 67–78. 4  Zur Bearbeitung der Hieronymus Chronik und der Geschichten Gregors von Tours in der FredegarChronik: Helmut Reimitz, Cultural brokers of a common past. History, identity and ethnicity in the Merovingian kingdoms, in: Strategies of Identification. Early Medieval Perspectives, hg. von Walter Pohl– Gerda Heydemann (Turnhout 2013) 257–301; ders., History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity (Cambridge 2015, im Druck), mit weiterer Literatur. 5  Collins, Die Fredegar-Chroniken (wie Anm. 2) 38–46. 6  Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici libri IV, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, Nachdr. Hannover 1984) 18–167, hier 81; siehe auch die Einleitung zur deutschen Übersetzung von Andreas Kusterning, Die Vier Bücher der Chronik des sogenannten Fredegar. Ausgewählte Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, hg. von Herbert Haupt (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 4a, Darmstadt 1982) 9f. 7  Wood, Fredegar’s Fables (wie Anm. 3); allgemein zum Kontext Andreas Fischer, Karl Martell. Der Beginn karolingischer Herrschaft (Stuttgart 2012) 25–42; Ian Wood, The Merovingian kingdoms 450–751 (London 1994) 221–238; Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich (Stuttgart 62012) 142–149. 8  Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 7) 246–249. 9   Bruno Krusch, Die Chronicae des sogenannten Fredegar. NA 7 (1882) 257–351; 421–516.



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in der Schlacht von Tertry im Jahr 687 gegen seine politischen Konkurrenten durchsetzen konnte. Ausführlich wird dann die Geschichte der Etablierung seines Sohnes Karl Martell als princeps der Merowingerreiche dargelegt, der nach dem Tod des Merowingerkönigs Theuderich IV. im Jahr 737 bis zu seinem Tod im Jahr 741 ohne merowingischen König weiterregierte10. Nach der Aufteilung des regnum durch Karl unter seinen beiden Söhnen Pippin und Karlmann läuft nach dem Rückzug Karlmanns ins süditalienische Kloster Montecassino die Erzählung der karolingischen Fortsetzungen der Fredegar-Chronik auf ihren vorläufigen Höhepunkt zu: die Übernahme der Königsherrschaft durch die Karolinger mit der Erhebung Pippins zum König im Jahr 75111. Unmittelbar nach ihrem Bericht über die „folgenschwerste Tat des Mittelalters“ (Erich Caspar) verewigten sich die Verwandten des eben erhobenen Königs, Childebrand und Nibelung, in der eingangs zitierten Stelle als Autoren des Textes. Trotz dieser, für frühmittelalterliche Chroniken außerordentlich seltenen, expliziten Nennung von Childebrand und Nibelung als Autoren, war es gerade diese Frage nach der Autorenschaft, die zahlreiche Debatten auslöste. Wie schon bei der älteren FredegarChronik identifizierte man Brüche und Neuansätze im Text und verband sie mit verschiedenen Autoren, die den Text in Etappen fortgesetzt hatten. Die säuberlich voneinander getrennten Abschnitte wurden dabei verschiedenen Autoren und ihren jeweiligen Zeithorizonten und Intentionen zugeordnet12. Eine Zäsur machte man im Jahr 726/27 aus (c. 10). Bis dahin folgten die Chronisten der Erzählung des Liber historiae Francorum, der mit der Datierung in das sechste Jahr König Theuderichs IV., also 726/27 endete13. Dabei entschieden sich die karolingischen Historiographen für eine Version, in der die ursprünglich klar neustrische Perspektive des Liber historiae Francorum in eine Geschichte der Franken umgearbeitet wurde, die auch Raum für eine gemeinsame Geschichte mit den austrasischen Franken bot14. Mit der „Wiederschrift“ der letzten zehn Kapitel dieser Fassung des Liber historiae Francorum führten die Fortsetzer der Fredegar-Chronik nun diesen Text der Chronik fort, der, wie schon kurz erwähnt, seinen historischen Bericht 10   Paul Fouracre, The Age of Charles Martel (London 2000) 155–174; Fischer, Karl Martell (wie Anm. 7) 167–187. 11  Dazu siehe die Beiträge in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, hg. von Matthias Becher–Jörg Jarnut (Münster 2004); zur Bezeichnung als „folgenschwerste Tat des ganzen Mittelalters“ vgl. den Beitrag von Rudolf Schieffer, Die folgenschwerste Tat des ganzen Mittelalters. Aspekte des wissenschaftlichen Urteils über den Dynastiewechsel von 751, ebd. 1–13; siehe auch Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung (Düsseldorf 2003); Rosamond McKitterick, Die Anfänge des karolingischen Königtums und die Annales regni Francorum, in: Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter, hg. von Walter Pohl–Max Diesenberger (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 301 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 3, Wien 2002) 151–168; Rosamond McKitterick, History and Memory in the Carolingian world (Cambridge 2004) 133–155. 12  Zu einem Überblick über die Diskussion: Collins, Fredegar-Chroniken (wie Anm. 2) 82–89, mit weiterer Literatur und Wilhelm Wattenbach–Wilhelm Levison–Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, H. 2 (Weimar 1953) 161–163. 13  Liber historiae Francorum, c. 53, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, Nachdr. Hannover 1984) 328. 14  Zum Liber historiae Francorum: Richard Gerberding, The Liber historiae Francorum and the Rise of the Carolingians (Oxford Historical Monographs, Oxford 1987); zum Problem der Versionen siehe Martina Hartmann, Die Darstellung der Frauen im Liber Historiae Francorum und die Verfasserfrage. Concilium Medii Aevi 7 (2004) 209–237, hier 210f.; zu einem Vergleich der älteren Fassung mit der „austrasischen“ Überarbeitung, Reimitz, History, Frankish Identity (wie Anm. 4).

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im Jahr 642, bald nach dem Tod Dagoberts I. (638/39), beendete. Neben einigen kleinen, aber recht interessanten Änderungen wurde auch die Datierung in das sechste Jahr Theuderichs IV. am Ende des Liber weggelassen und durch die Bemerkung ersetzt, dass Theuderich noch viele Jahre seiner Herrschaft vor sich habe15. Das ist allerdings auch die letzte Erwähnung des merowingischen Königs. Wie viele Jahre er noch regierte, erfahren wir nicht, da die Chronik nicht einmal seinen Tod im Jahr 737 erwähnt. Auffälligerweise findet sich aber genau an dem Punkt, an dem er berichtet hätte werden können, eine ausführliche Komputation der Jahre der Welt bis zum Jahr 736/37, in der verschiedene chronologische Berechnungsmöglichkeiten nebeneinandergesellt wurden16. Mit dieser Komputation verband die ältere Forschung einen weiteren Einschnitt in der Erzählung und sah diesen Abschnitt als das Werk eines Fortsetzers der Chronik. Erst den nächsten Abschnitt, der die Erzählung bis zur Königserhebung Pippins führt, ordnete man dem Verwandten des neuen Königs, Childebrand, zu, dessen Erzählung danach von seinem Sohn Nibelung bis zum Ende des Textes im Jahr 768 fortgeführt wurde. Hinter den Bemühungen, verschiedene Abschnitte und Autoren voneinander zu unterscheiden, stand in der älteren Forschung häufig das Interesse, die Berichte als so zeitnah und authentisch wie möglich interpretieren zu können17. Das baute allerdings wieder auf einer Sicht der frühmittelalterlichen Autoren als naive und weitgehend überforderte Kompilatoren auf, die kaum in der Lage gewesen seien, die noch vorhandenen kulturellen und politischen Ressourcen aus der Zeit des römischen Imperiums sinnvoll zu nutzen und zu gestalten. Die erhaltenen Texte wurden dabei nicht nur als Produkte einer Zeit des kulturellen Niedergangs gesehen, sondern sogar als Beweise dafür angeführt. Die sogenannte Fredegar-Chronik mit ihrem „verwilderten“ merowingischen Latein und manch anderen Ungereimtheiten in der Erzählung und Überlieferung der Chronik war dafür sogar einer der Hauptzeugen18. Und auch ihre karolingischen Fortsetzungen kamen kaum besser weg. Tatsächlich wirkt auf den ersten Blick das Latein, der Stil und der Aufbau der Erzählung recht einfach. So werden in manchmal „bestürzender Monotonie“ die Kriege beschrieben, in denen die karolingischen principes und später Könige gemeinsam mit den Franken auszogen, um das Reich gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen19. Mit der martialischen und affirmativen Rhetorik des Textes verband man daher oft den Bildungshorizont und das Selbstverständnis einer germanisch-barbarischen Militäraristokratie, die seit dem Ende des römischen Imperiums zunehmend die kulturelle und politische Gestaltung der ehemaligen römischen Provinzen bestimmte20. Das   Continuationes Fredegarii, c. 10 (wie Anm. 1) 174.   Ebd., c. 16, 176. 17   Vgl. dazu die Diskussion in McKitterick, Die Anfänge (wie Anm. 11) 155f. 18  Zum Latein der Chronik siehe die Einleitung der deutschen Übersetzung von Kusternig, Die Vier Bücher (wie Anm. 6) 18–33; zu einer umfassenden Untersuchung der narrativen Strukturen der Chronik siehe demnächst Fischer, Die Fredegar-Chronik (wie Anm 3). 19   „Bestürzend monoton“ bezeichnete den Stil der Fortsetzungen Walter Pohl, Zur Bedeutung ethnischer Unterscheidungen in der frühen Karolingerzeit, in: Franken und Sachsen vor 800, hg. von Jörg Jarnut–Matthias Wemhoff (Studien zur Sachsenforschung 12, Oldenburg 1999) 193–208, der das allerdings schon als bewusste Strategie verstand. Darauf aufbauend siehe auch Helmut Reimitz, Grenzen und Grenzüberschreitungen im karolingischen Mitteleuropa, in: Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, hg. von dems.–Walter Pohl (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 287 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 1, Wien 2000) 105–166. 20  Wattenbach–Levison–Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen (wie Anm. 12) 162; für eine ähnliche Charakterisierung des Autors des Liber historiae Francorum siehe Gerberding, Rise (wie Anm. 14) 159–172. 15 16



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schien auch gut zu den Nachrichten zu passen, die über Childebrand bis zum Jahr 751 überliefert sind21. Als dux in den südlichen Regionen des Frankenreichs errang er nach dem Bericht der Continuationes für und auch mit seinem Bruder Karl Martell die heroischen Siege gegen die Sarazenen22. In denselben Regionen war er wohl auch an weniger heroischen Aktionen zur Ausschaltung der anti-karolingischen Opposition, besonders in Burgund und der Provence, beteiligt23. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten die Einschätzung der kulturellen Kompetenzen frühmittelalterlicher Autoren und Leser sehr verändert, und man traut ihnen heute doch deutlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu24. Gerade für die Continuationes der Fredegar-Chronik hat erst unlängst Roger Collins gezeigt, dass man bei der Arbeit der karolingischen Kompilatoren und Fortsetzer keineswegs von einer einfachen Aneinanderreihung von in dürftigem Latein verfassten Abschnitten ausgehen kann. Die Continuationes sind uns nicht einfach als Fortsetzung der älteren Chronik erhalten, sondern stehen am Ende einer umfassenden Überarbeitung und Neugestaltung. An den Anfang dieser umfassenden Umarbeitung der „chain of chronicles“ wurde statt des Liber generationis mit Quintus Julius Hilarians De cursu temporum ein kurzer Text gestellt, in dem die Jahre der Welt bis zum Ende des sechsten Jahrtausends berechnet werden25. Der kurze und klar strukturierte Traktat ersetzte damit nicht nur die recht unübersichtlich aneinandergereihten Listen von Propheten, Priestern, und Päpsten, von Völkern und Reichen, Königen, Kaisern und anderen Herrschern, sondern auch die an das Ende des Liber generationis gestellten komputistischen Berechnungen, die mit einer Datierung nach den Herrscherjahren der merowingischen Könige schließen26. Nach Hilarians Traktat folgten, wie in der älteren Fassung, auch in der Bearbeitung der Chronik die Exzerpte aus der lateinischen Weltchronik des Hieronymus. In diese hatten schon die merowingischen Kompilatoren eine fränkische Herkunftssage eingearbeitet, in der die Abstammung der Franken aus Troja behauptet wird. Jedoch fügten die karolingischen Bearbeiter unmittelbar nach dem Einschub der fränkischen Trojasage in die Exzerpte des Hieronymus auch noch einen weiteren Text zur Geschichte des Untergangs Trojas hinzu. Mit der Historia de excidio Troiae des Dares Phrygius nahm man einen kurzen Text auf, dessen Autor Isidor von Sevilla in seinen Etymologien als den ersten Geschichtsschreiber der Heiden erwähnt hatte27. Jedoch wurde die sich als Augenzeugenbericht ausgebende Historia erst in der Spätantike, vermutlich im fünften Jahrhundert nach Christus ver  Collins, Fredegar-Chroniken (wie Anm. 2) 5f., 91f.   Continuationes Fredegarii, c. 20 (wie Anm. 1) 177f. 23  Patrick Geary, Aristocracy in Provence. The Rhone Basin at the Dawn of the Carolingian Age (Stuttgart 1985); ders., Die Provence zur Zeit Karl Martells, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von Jörg Jarnut et al. (Beihefte der Francia 37, Sigmaringen 1994) 381–392; Fischer, Karl Martell (wie Anm. 7) 122–136. 24  Siehe dazu Walter Pohl, Die Anfänge des Mittelalters. Alte Probleme, neue Perspektiven, in: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, hg. von Hans-Werner Goetz–Jörg Jarnut (München 2003) 361–378, mit weiterer Literatur. 25   Hilarianus, De cursu temporum, ed. Carl Frick (Chronica minora 1, Leipzig 1892) 153–174. 26   Fredegar, Chronicarum Fredegarii libri IV, lib I, c. 24 (wie Anm. 6) 34: Itaque fiunt simul ab Adam usque ad annum primum regni Sygiberthy regis anni 5815; zum Liber generationis siehe Erich Caspar, Die älteste römische Bischofsliste. Kritische Studien zum Formproblem des Eusebianischen Kanons sowie zur Geschichte der ältesten Bischofslisten und ihrer Entstehung aus apostolischen Sukzessionenreihen (Berlin 1926) 92–101 und 206–208; zur Edition der lateinischen Übersetzung siehe auch Chronica Minora 1, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 9, Hannover 1892, Nachdr. 1981) 89–138. 27   Isidor von Sevilla, Etymologiae sive origines, I, 42, 1, ed. W. M. Lindsay (Oxford 1911). 21 22

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fasst. In der Chronik wurde der kurze Text als Historia Daretis Frigii de origine Francorum überliefert und am Ende durch einige kurze Berichte zur weiteren Geschichte der „trojanischen Franken“ ergänzt28. Die gesamte Chronik wurde nun durch die karolingischen Editoren in drei Bücher eingeteilt, wobei sie das „vierte Buch“ der merowingischen Chronik mit seinen jeweiligen Fortsetzungen als drittes Buch neu organisierten29. Es waren vor allem die Arbeiten von Roger Collins, die darauf aufmerksam gemacht haben, wie irreführend das Bild ist, das die nach wie vor gültige Edition von Bruno Krusch vermittelt. Krusch ließ in seiner Edition die karolingische Fortsetzung auf den von ihm rekonstruierten Text der FredegarChronik folgen, obwohl sie eigentlich das Ende einer umfassenden Umarbeitung und Neugestaltung der merowingischen „chain of chronicles“ bildet. Solange keine Neuedition des Textes durch Roger Collins vorliegt, wird man wohl von „den sogenannten Fortsetzungen der sogenannten Fredegar-Chronik“ sprechen müssen. Um das zu vermeiden, hat Collins im Vorgriff auf seine geplante Neuedition der karolingischen Fassung vorgeschlagen, sie mit dem Namen zu bezeichnen, den auch Childebrand und Nibelung verwendeten: historia vel gesta Francorum. Gleichzeitig meinte Collins, dass man auch für die Gestaltung dieser historia vel gesta Francorum den Angaben Childebrands und Nibelungs mehr Vertrauen schenken sollte. Die erhaltene historia wäre zunächst von Childebrand oder unter seiner Leitung bis 751 gestaltet worden, und wäre danach von seinem Sohn Nibelung bis 768 fortgesetzt worden30.

Historia vel gesta Francorum: eine gemeinsame merowingische Geschichte für eine neue karolingische Zukunft Mit den Arbeiten von Roger Collins zu einer umfassenden Überarbeitung der Fredegar-Chronik durch Childebrand und Nibelung ergibt sich aber auch ein deutlich verändertes Bild der literarischen und kulturellen Kompetenzen ihrer Gestalter. Wie schon allein der Neubeginn mit Hilarians De cursu temporum oder die Interpolation der Historia de excidio Troiae des Dares Phrygius in die Hieronymus-Epitome zeigen, konnten die Redakteure bei ihrer Neugestaltung auf eine durchaus fundierte Ausbildung in klassischer Historiographie und christlicher Chronologie zurückgreifen. Daneben gibt es auch einige andere Stellen, die zeigen, wie aufmerksam die karolingischen Historiographen die Texte ihrer merowingischen Vorgänger rezipiert hatten. Es wird noch auf einige Beispiele zurückzukommen sein, die zeigen, mit welch großer Sorgfalt sie aus den verschiedenen und teilweise konkurrierenden Erzählungen aus der Merowingerzeit bestimmte 28  Zu einem Vergleich der Geschichte des Dares mit der Version in der Fredegar-Chronik siehe Louis Faivre d’Arcier, Histoire et geographie d’un mythe. La circulation des manuscrits du De excidio Troiae de Darès le Phrygien (Paris 2006) 226 und 275f.; Magali Coumert, Origines des peuples. Les récits d’origine des peuples dans le Haut Moyen Âge occidental (550–850) (Collection des Études Augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps Modernes 42, Paris 2007) 343–345; zu Dares und seiner Überlieferung siehe auch Andreas Beschoner, Untersuchungen zu Dares Phrygius (Tübingen 1992); Frederic N. Clark, Reading the „first pagan historiographer“: Dares Phrygius and medieval genealogy. Viator 71 (2010) 203–226; Camilla Renna, Dares Phrygius, in: La trasmissione dei testi latini del medioevo. Medieval texts and their transmission, hg. von Paolo Chiesa–Lucia Castaldi (La trasmissione dei testi latini del Medioevo 3, Firenze 2008) 143–166. 29  Collins, Die Fredegar-Chroniken (wie Anm. 2) 82–89. 30  Ebd. 5–7, 90–92.



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Abschnitte auswählten, um aus ihnen eine neue gemeinsame Geschichte zu entwickeln. Betrachtet man die sogenannten Fortsetzungen als Teil einer umfassenden Überarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit in den Frankenreichen, so wird deutlich, dass sie den Prozess, in dem es den Karolingern gelang, die Herrschaft in den Frankenreichen zu übernehmen, nicht nur aus karolingischer Perspektive abbildeten. Die Abfassung des Textes selbst war Teil der Bemühungen, ein neues politisches Programm zu entwickeln und zu propagieren, mit dem die Karolinger die Übernahme des Königtums legitimierten. Dabei gingen die Karolinger gemeinsam mit ihren politischen Verbündeten und Beratern weit vorsichtiger und umsichtiger vor, als es die martialische Darstellung der militärischen Restitution des Frankenreichs und die hochtrabende Rhetorik der Reform und Neuerung in den Continuationes auf den ersten Blick vermuten lassen. Auch wenn die karolingischen Historiographen die karolingische Übernahme der Königsherrschaft als eine Ablöse darstellen, in der die Karolinger die notorisch untätigen und machtlosen Merowinger ersetzten, so konnten die neuen Könige doch nicht einfach den Platz ihrer Vorgänger einnehmen. Die Übernahme des Königtums durch die Karolinger war ein längerer Prozess, in dem auch die Legitimation der fränkischen Herrschaft selbst auf neue Grundlagen gestellt wurde31. Das betraf vor allem das Verhältnis der Könige zu ihren Eliten. Gerade die historiographischen Texte aus der Merowingerzeit, auf die Childebrand und Nibelung für ihre historia vel gesta Francorum zurückgriffen – die Fredegar-Chronik und der Liber historiae Francorum – zeigen, welch wichtige Rolle die Frage der Beteiligung der merowingischen Eliten an den politischen Entscheidungen der Könige in der merowingischen Politik spielte. Dabei spiegeln die beiden Texte recht unterschiedliche Auffassungen wider, welche Gruppen eine tragende politische Rolle neben den Königen spielen sollten, und entwickeln auch recht unterschiedliche Strategien, um diese jeweiligen Gruppen und Rollen zu legitimieren32. Bei all ihren Unterschieden ist den Texten aber die Vorstellung eines Equilibriums der verschiedenen politischen Gruppierungen und Netzwerke gemeinsam, das die merowingischen Könige durch ihre zentrale und äquidistante Position zu den verschiedenen Eliten im Reich garantierten. Diese „politics of consensus“ setzte allerdings auch einen politischen Konsens voraus, der die merowingische Königsfamilie deutlich von den anderen aristokratischen Gruppen im Merowingerreich absetzte 33. Die Abgrenzung der Merowinger von ihren nobiles war die Voraussetzung für die Äquidistanz der Könige zu ihren Eliten, die wiederum die Grundlage einer Machtbalance war, die man sich ohne merowingische Könige lange nicht vorstellen konnte. Wie sehr auch verschiedene Familien und politische Netzwerke um bessere und einflussreichere Positionen konkurrierten, der grundsätzliche Erhalt dieses Equilibriums war eine geteilte Sorge. Das zeigte sich etwa deutlich, als einer der Vorfahren des ersten karolingischen Königs Pippin, der Hausmeier Grimoald, versuchte, seine Stellung und   Siehe oben Anm. 11.   Siehe dazu Helmut Reimitz, Die Konkurrenz der Ursprünge in der fränkischen Historiographie, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hg. von Walter Pohl (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 322 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8, Wien 2004) 191–210; ders., History, Frankish Identity (wie Anm. 4). 33  Ian N. Wood, Usurpers and Merovingian kingship, in: Der Dynastiewechsel von 751 (wie Anm. 11) 15–31; ders., Deconstructing the Merovingian family, in: The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources, Artefacts, hg. von Richard Corradini et al. (The Transformation of the Roman World 12, Leiden–New York 2003) 149–171. 31 32

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die seiner Familie durch die Konstruktion einer verwandtschaftlichen Verbindung mit der Familie der austrasischen Königsfamilie zu erhöhen. Nachdem Sigibert III. im Jahr 656 oder 657 gestorben war, folgte ihm mit Childebert ein König, der möglicherweise der Sohn Grimoalds war und von Sigibert adoptiert worden war oder aber der Sohn Sigiberts war, der von Grimoald adoptiert worden war34. In jedem Fall scheint Grimoalds Familienpolitik als eine grobe Verletzung der merowingischen „politics of consensus“ aufgefasst worden zu sein. Noch während Childebert in Austrasien regierte, wurde Grimoald gefangen genommen, ins westfränkische Reichszentrum Paris gebracht und vermutlich dort hingerichtet. Doch auch im austrasischen Königreich scheint die Familie an Rückhalt verloren zu haben. Um 660 waren die Pippiniden politisch weitgehend ausgeschaltet und alle männlichen Mitglieder der Familie ermordet worden 35. Es waren aber nicht nur die ehrgeizigen Pippiniden, die eine solche Reaktion provozierten. Einige Jahre später wurde auch der mächtige maior domus des westlichen Königreichs, Ebroin, abgesetzt und ins Kloster Luxeuil verbannt, nachdem man ihm vorgeworfen hatte, den Zugang zum König zu monopolisieren36. Die karolingischen Historiographen des achten Jahrhunderts scheinen ihre fränkische Geschichte gut gekannt zu haben. Die Autoren der historia vel gesta Francorum nahmen die in den letzten zehn Kapiteln des Liber historiae Francorum erwähnte Absetzung des westfränkischen maior domus Ebroin in ihre „Wiederschrift“ des Textes auf. Sie verzichteten aber auf die Geschichte um den coup d’état und die Hinrichtung ihres Vorfahren, des austrasischen Hausmeiers Grimoald, die ebenfalls in den letzten zehn Kapiteln des Liber historiae Francorum überliefert ist37. Gleichzeitig propagierten sie in ihrer Erzählung aber auch die Etablierung eines neuen Konsenses, in dem die karolingischen principes und Könige nicht eine äquidistante Position im Zentrum konkurrierender Eliten einzunehmen versuchten, sondern sich als die treibende Kraft ihrer Integration in eine neue politische Gemeinschaft präsentierten. Im Rahmen dieser Politik wurden die neuen Herrscher und ihre Familie nicht von ihren Eliten abgegrenzt, sondern ihre gemeinsame fränkische Geschichte und Zukunft mit den Karolingern betont 38. Als Garanten dieser neuen Konzeption der Gemeinschaft der fränkischen Könige mit ihren fränkischen Eliten 34  Matthias Becher, Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung, in: Karl Martell in seiner Zeit (wie Anm. 23) 119–147; Wood, Fredegar’s fables (wie Anm. 3) 364f. mit Anm. 77; siehe auch die Bemerkungen von Ulrich Nonn in seinen Literaturnachträgen zu Ewig, Die Merowinger (wie Anm. 7) 237f., mit Verweis auf Margarete Weidemann, Zur Chronologie der Merowinger im 7. und 8. Jahrhundert. Francia 25/1 (1998) 177–230; siehe auch Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (MGH Schriften 44, Hannover 1997) 28f.; Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (MGH Schriften 50, Hannover 2001) 253–257. 35   Rudolf Schieffer, Die Karolinger (Stuttgart 42006) 26–33; Wood, Fredegar’s fables (wie Anm. 3) 364f.; Ewig, Die Merowinger (wie Anm. 7) 142–146 und 162–166 mit den Literaturnachträgen von Ulrich Nonn; zu den Jahrzehnten nach der Hinrichtung Grimoald siehe nun auch Yitzhak Hen, Changing places. Chrodobert, Bobo and the wife of Grimoald. Revue Belge de Philologie et d’Histoire 89 (2012) 225–244. 36   Wood, Merovingian kingdoms (wie Anm. 7) 100 und 227; Fouracre, Age of Charles Martel (wie Anm. 10) 31. 37   Continuationes Fredegarii, c. 2 (wie Anm. 1) 168f.; zum Verzicht auf die Geschichte von Grimoalds coup vgl. ebd., c. 1, 168, mit Liber historiae Francorum, c. 43, 315–317; siehe Wood, Merovingian kingdoms (wie Anm. 7) 223f.; Fischer, Karl Martell (wie Anm. 7) 30–32. 38  McKitterick, History and memory (wie Anm. 11) 84–119; Helmut Reimitz, Omnes Franci. Identifications and Identities of the Early Medieval Franks, in: Franks, Northmen and Slavs: Identities and State Formation in Early Medieval Europe, hg. von Ildar Garipzanov et al. (Turnhout 2008) 51–70.



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legitimierten die Karolinger in der historia vel gesta Francorum auch ihre führende Stellung in dieser Zukunft. Mit den Worten Herwig Wolframs könnte man diese Strategie als Konstruktion einer doppelten Kontinuität bezeichnen, mit der die Karolinger durch „bewußte Neubildungen aus merowingischer und karolingischer Tradition“ ihre Legitimation als reges Francorum entwickelten39. Solche Doppelstrategien zeichnen sich in der historia vel gesta Francorum auch in der kurzen eingangs zitierten Stelle ab, in der sich Nibelung und Childebrand als Autoren der neu gestalteten Chronik und als Verwandte der neuen Könige vorstellen. Eine dieser Strategien könnte auch die Übernahme der Rolle des Geschichtsschreibers selbst gewesen sein. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargestellt habe, überliefern die verschiedenen historiographischen Texte der Merowingerzeit sehr unterschiedliche Erzählungen, in denen die Perspektiven verschiedener Gruppierungen und Eliten vertreten und propagiert werden40. Dabei reagieren diese Erzählungen vor allem aufeinander und scheinen auch in Konkurrenz zueinander gelesen, überliefert, überarbeitet und fortgesetzt worden zu sein. Jedoch gibt es keine Hinweise darauf, dass sie auf eine Erzählung reagierten, in der eine zentrale „königliche“ Perspektive vermittelt wurde 41. Erst die karolingischen Geschichtsschreiber überliefern uns die ältesten bekannten Beispiele dafür, dass die Mitglieder der königlichen Familie und des königlichen Hofes selbst ihre Geschichte schrieben. Jedoch bauten sie dafür auf Geschichten wie etwa der Fredegar-Chronik oder dem Liber historiae Francorum auf, die in der Merowingerzeit von verschiedenen und oft miteinander konkurrierenden Eliten verfasst, abgeschrieben, überarbeitet und fortgeführt worden waren. In ihrer Zusammenführung und Integration zu einer gemeinsamen Geschichte wurde nun der karolingische Aufstieg zum Königtum beschrieben, aber gleichzeitig auf eine kulturelle Tradition zurückgegriffen, die man auch noch um die Mitte des achten Jahrhunderts weniger mit dem merowingischen Königtum als mit den merowingischen Eliten verband. Diese Entwicklung bewusster Neubildungen aus merowingischer und karolingischer Tradition lässt sich aber nicht nur in dem im achten Jahrhundert ungewöhnlichen outing von Mitgliedern der königlichen Familie als Geschichtsschreiber finden. Ähnlich neu war es, dass sich Mitglieder der Königsfamilie durch die Verwendung von Titeln wie dux und comes auswiesen. Obwohl man davon ausgehen kann, dass es zahlreiche verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den merowingischen Königen und ihren Eliten gab, sind sie in den erhaltenen Quellen nur ausnahmsweise erwähnt42. Childebrand präsentiert sich in 39   Herwig Wolfram, Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (MIÖG Ergbd. 21, Graz–Wien–Köln 1967) 123 mit Anm. 62 und 209–213. 40   Reimitz, History, Frankish identity (wie Anm. 4). 41   Siehe dazu Max Diesenberger–Helmut Reimitz, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Momente des Königtums in der merowingischen Historiographie, in: Das frühmittelalterliche Königtum, hg. von FranzReiner Erkens (RGA Suppl. 49, Berlin–New York 2005) 214–269, bes. 264f. 42   Eines der wenigen Beispiele ist uns in einer Geschichte von Gregor von Tours überliefert, in der Guntram dem Bischof Bertram von Le Mans vorwirft, ihn hintergangen zu haben, obwohl er mit ihm verwandt sei (Gregor von Tours, Historiae, lib. VIII, c. 2, ed. Wilhelm Levison–Bruno Krusch [MGH SS rer. Merov. 1,1, Hannover 1951, Nachdr. Hannover 1992] 372). Die Stelle zeigt, dass man offenbar sehr wohl um die verwandtschaftlichen Beziehungen der merowingischen Eliten mit ihren Königen Bescheid wusste. Ein anderes Beispiel sind die Bemerkungen in der Fredegar-Chronik zu Erchinoald in Fredegar, Chronicarum Fredegarii libri IV, lib. IV, c. 84 (wie Anm. 6) 163 (qui consanguineus fuerat de genetrici Dagoberto); vgl. dazu den Überblick und die Diskussion in Gerhard Lubich, Verwandtsein. Lesarten einer politsch-sozialen Beziehung im Frühund Hochmittelalter (6.–11. Jh.) (Köln–Weimar–Wien 2008) 149–164.

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der Chronik dagegen nicht nur als der avunculus des neuen Königs, sondern auch als dux Childebrandus, der tapfer an der Seite seines Bruders, des dux Karl Martell cum reliquis ducibus et comitibus kämpfte43. Und auch in ihrem Kolophon stellen sich Childebrand und sein Sohn Nibelung nicht nur als Autoren und nahe Verwandte des karolingischen Königs vor, sondern auch als comites und viri inlustres. Es ist auffällig, dass die beiden Verwandten des Königs neben ihren Funktionstiteln als comites sich auch als viri inlustres präsentierten. Gerade in den Jahrzehnten bevor Nibelung nach 768 den Text der Chronik fertigstellte, war der vir inluster-Titel zu einem festen Bestandteil der königlichen Intitulatio geworden. Schon bald nach seiner Königserhebung hatte Pippin seine Urkunden als Pippinus rex Francorum vir inluster ausgestellt, und für einige Zeit folgten ihm seine Söhne Karl und Karlmann darin44. Es mag zwar sein, dass die karolingischen Verwandten mit dem Einsatz des Titels in der Chronik ihre Nähe zu den Königen unterstreichen wollten. Allerdings war die nahe Verwandtschaft zu den karolingischen Königen keineswegs die einzige Grundlage, die die Verwendung des ehrwürdigen Titels rechtfertigte, der einst der höchste Rangtitel der römischen Senatoren gewesen war. Schon zur Merowingerzeit wurde dieser Titel von einer Reihe hoher Amtsträger der merowingischen Könige getragen. Dazu gehörten auch die Vorfahren der karolingischen Königsfamilie, die ihre Urkunden als Hausmeier als vir inluster, N maior domus ausgestellt hatten45. Die Selbstbezeichnung Childbrands und Nibelungs als viri inlustres baute daher ebenso wie seine Aneignung durch den neuen König auf einer langen Tradition einer Verwendung des Titels für Mitglieder der merowingischen Eliten auf. Seine Ambiguität dürfte mit dem bayrischen Herzog Tassilo auch ein anderer Verwandter der Karolinger genutzt haben, der nach und nach zu einem immer unangenehmeren politischen Konkurrenten seines Cousins Karl des Großen wurde46. Die Aneignung des Titels durch Tassilo könnte auch einer der Gründe gewesen sein, warum man in der Kanzlei Karls des Großen seine Verwendung schließlich aufgab47. In diesem Beitrag möchte ich mich aber nicht auf die Geschichte des vir inluster-Titels nach der Aufnahme in die königliche Intitulatio durch die Karolinger konzentrieren, sondern auf die Aneignung und Instrumentalisierung des Titels durch die Karolinger vor und während der Usurpation des merowingischen Königtums. Diese Untersuchung soll dabei helfen aufzuzeigen, wie die karolingischen Experimente mit politischer Tradition und Terminologie mit der Vision einer neuen politischen Gemeinschaft verbunden waren, in der statt des unüberbrückbaren Unterschieds zwischen den Königen und den Großen nun ihre gemeinsame Geschichte, Verantwortung und Zukunft betont wurde.   Continuationes Fredegarii, c. 20 (wie Anm. 1) 177.   Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 208–213; für Karlmann und Karl den Großen 208 Anm. 11; zu Pippin, siehe auch Brigitte Merta, Politische Theorie in den Königsurkunden Pippins I. MIÖG 100 (1992) 117–131. 45   Wolfram, Initulatio I (wie Anm. 39) 141–147; und nun die Einleitung zur Neuedition der ArnulfingerUrkunden von Ingrid Heidrich, Die Urkunden der Arnulfinger, ed. Ingrid Heidrich (MGH DD maiorum domus regiae e stirpe Arnulfingorum, Hannover 2011) XXXI–XXXIX. 46  Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Ergbd. 31, Wien–München 1995) 337–344; ders., Intitulatio I (wie Anm. 39) 173–184; Stuart Airlie, Narratives of triumph and rituals of submission. Charlemagne’s mastering of Bavaria. Transactions of the Royal Historical Society 6th series 9 (1999) 93–120. 47  Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 213–244. 43 44



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Von den merowingischen zu den karolingischen viri inlustres Die Übernahme des vir inluster-Titels in die Intitulatio des ersten karolingischen Königs führte in der modernen Geschichtsforschung zu einer heftig geführten Kontroverse um den Gebrauch des Titels in der merowingischen Kanzlei48. So schloss man aus der Verwendung des Titels in der Intitulatio Pippins, dass er auch schon von den merowingischen Königen in dieser Weise verwendet worden war. Der Grund für diese Unsicherheit war, dass er in den erhaltenen originalen Urkunden nicht ausgeschrieben wurde, sondern als Kürzel, etwa als v inl, überliefert ist49. In der ältesten Edition der Merowingerurkunden, die am Beginn des 21. Jahrhunderts glücklicherweise durch die Neuedition von Theo Kölzer ersetzt wurde, hatte sich Karl Pertz entschieden, den Titel als Bestandteil der königlichen Intitulatio als N rex Francorum vir inluster wiederzugeben50. Die Rekonstruktion des Titels wurde (wie viele andere von Pertz’ Entscheidungen) scharf kritisiert, nicht zuletzt vom damals wohl besten Kenner der merowingischen Quellen und ihrer Überlieferung, Bruno Krusch51. In einer seiner berühmt-berüchtigten Polemiken machte sich Krusch über Pertz mit einem Verweis auf eine Urkunde Chilperichs II. lustig. Darin hatte der König dem Kloster St. Denis eine Schenkung Dagoberts über eine Rente von 100 solidi aus den Steuereinkünften der Stadt Marseille bestätigt und den telonarii der Stadt aufgetragen, für den Vollzug derselben zu sorgen. Die im Original erhaltene Urkunde ist eine der wenigen, die den Titel nicht abkürzt, sondern als Adresse überliefert, die auch die telonarii einschließt: viris inlustrebus omnis tilenariis Masiliens(is)52. Hämisch bemerkte Krusch, dass vor dieser Urkunde selbst die Editionskunst von Karl Pertz verstummt sei. Dieser hatte ausnahmsweise nicht wie bei anderen Stücken den vir inluster-Titel in der Intitulatio ergänzt und sich für Chilperichus rex Francorum entschieden, „da sonst der königliche ‚vir inluster‘ neben den ‚viris inlustribus‘ in Gestalt der Zöllner von Marseille (omnibus tilenariis Massilensis) zu stehen gekommen wäre und eine solche Nachbarschaft der Hoheit von Chlodwigs Erben unmöglich zur Zierde gereichen konnte“53. Auch wenn Krusch, wie so oft für einen polemischen Gag, den Quellenbefund etwas verzerrt darstellte (die telonarii waren immerhin königliche Amtsträger), so hatte er (wie ebenfalls recht oft) in der Sache recht. Wie Herwig Wolfram schon vor einiger Zeit in seiner umfassenden Studie zu den Intitulationes der spät- und nachrömischen Königreiche im lateinischen Westen vorgeschlagen hat, ist die Abkürzung in den merowingischen Königsurkunden – wie in der Urkunde Chilperichs II. – als Adresse aufzulösen. Auf den Ergebnissen Wolframs bauten auch die Forschungen von Carlrichard Brühl und Theo Kölzer zu der Neuedition der Merowingerurkunden auf54. 48   Zu einem Überblick über die Forschungsgeschichte siehe Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 116–121; und Carlrichard Brühl, Studien zu den merowingischen Königsurkunden (Köln–Weimar–Wien 1998) 265–267. 49  Vgl. die paläographische Diskussion in Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 121–123. 50  Brühl, Studien (wie Anm. 48) 12–19. 51  Bruno Krusch, Studien zur fränkischen Diplomatik. Der Titel der fränkischen Könige (Abh. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 1937, Berlin 1938) 1–56, hier 8–30. Die Polemik richtete sich aber weniger gegen Pertz als gegen Harry Bresslaus Argument, dass der vir inluster-Titel Bestandteil der merowingischen Intitulatio war, siehe dazu die Bemerkungen von Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 117. 52   D Merov 170: Die Urkunden der Merowinger, ed. Theo Kölzer (MGH DD Merov. 1, Hannover 2001) 422f. 53  Krusch, Studien (wie Anm. 51) 12. 54  Brühl, Studien (wie Anm. 48) 265–277, siehe auch die Einleitung in der Neuedition der Merowingerurkunden von Theo Kölzer (wie Anm. 52) 423.

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Aber auch wenn Wolfram, Brühl und Kölzer hier mit Krusch übereinstimmten, so konnten sie dennoch zeigen, dass Krusch bei seinen Vorschlägen zum Gebrauch und zur Entwicklung des Titels in der merowingischen und karolingischen Kanzlei von vollkommen falschen Voraussetzungen ausging. So erklärte Krusch etwa die Übernahme des vir inluster-Titels in die karolingische Intitulatio damit, dass das Kanzleipersonal der pippinidischen und karolingischen Hausmeier und Könige nicht die notwendige Kenntnis und Bildung besaß, um die Tradition der merowingischen Referendare sinnvoll fortzusetzen55. Mit dieser Einschätzung stand Krusch keineswegs allein. Sowohl vor als auch nach ihm wurden die „Fehler“ der jeweiligen Notare korrigiert und damit Widersprüche geglättet, die sich im Rahmen der jeweiligen Argumentation ergaben56. Hingegen konnte Wolfram zeigen, dass die Verfasser karolingischer Dokumente sehr wohl um die Formen der Merowingerurkunden und deren Titel Bescheid wuss­ ten. Anstatt von überforderten Notaren, politischen Beratern und Herrschern auszugehen, sah Wolfram den neuen karolingischen Königstitel als eine der bewussten Neubildungen „aus merowingischer und karolingischer Tradition, die der Herstellung einer politischen Kontinuität im doppelten Sinn diente“57. Wolframs Studien haben die diplomatische Diskussion wesentlich beeinflusst und sind in diesem Zusammenhang auch durch die Neuedition der Merowingerurkunden bestätigt und weiter entwickelt worden58. Der Zusammenhang mit der sozialen und politischen Neugestaltung der merowingischen Königreiche durch die Karolinger, den er dabei aufzeigte, ist aber bisher kaum aufgegriffen worden. Dabei kann gerade die Geschichte des vir inluster-Titels darauf aufmerksam machen, mit welcher Vorsicht und Umsicht die frühen Karolinger ihre Legitimationsstrategien entwickelten und dabei ein völlig neues Programm der politischen und ethnischen Integration entwarfen, auf das man noch lange auch nach dem Ende der Karolingerzeit aufbaute. Das Fortleben des senatorischen Titels in Gallien zur Merowinger- und Karolingerzeit lässt sich aus zwei verschiedenen, wenn auch eng miteinander verbundenen Traditionen erklären. Das war einerseits die Aneignung und Anpassung der Formen der Kaiserund Beamtenurkunde des spätantiken römischen Imperiums an die merowingischen Königsurkunden. Wie Peter Classen gezeigt hat, sind ihre Formen aus denen der spätantiken Kaiserreskripte entwickelt worden, wobei man sich im Merowingerreich an den grundsätzlich ähnlich aufgebauten Erlässen der den Kaiser vertretenden Beamten orientierte59. So wie auch andere Herrscher, die in den ehemaligen Provinzen des weströmischen Imperiums regierten, übten auch die Merowingerkönige ihre Herrschaft zunächst als Beamte des römischen Kaisers aus und erließen ihre Gesetze und Verordnungen   Krusch, Studien (wie Anm. 51) 33–38.   Selbst Peter Classen erklärte den Gebrauch des Titels in merowingischen Placita damit, dass die merowingischen Referendare die Abkürzung nicht mehr richtig verstanden. (Peter Classen, Kaiserreskript und Königsurkunde. Diplomatische Studien zum Problem der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter [Byzantina Keimana kai meletai 15, Thessaloniki, 1977] 41.) Classen ging dabei von der Annahme aus, dass eine Adresse in einem Placitum keinen Sinn machen würde. Schon Wolfram meinte jedoch, dass eine solche Annahme unberechtigt sei: Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 122f., und auch die Diskussion von Brühl, Studien (wie Anm. 48) 244–277. 57   Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 123 mit Anm. 62 und 209–213. 58   Vgl. oben Anm. 54. 59   Siehe dazu Classen, Kaiserreskript (wie Anm. 56); ders., Fortleben und Wandel des spätrömischen Urkundenwesen im frühen Mittelalter, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von Peter Classen (VuF 23, Sigmaringen 1977) 13–54. 55 56



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entsprechend der damaligen formalen Voraussetzungen. Sie waren grundsätzlich nach dem Modell der Reskripte in Briefform gehalten und richteten sich an Beamte, denen die Prüfung und der Vollzug der Herrscherbefehle aufgetragen wurde60. Jedem Reskript wurde auch eine Kopie einer Bittschrift beigefügt, und das Reskript verlangte außerdem von den zuständigen Beamten, den Sachverhalt zu prüfen und erst nach positivem Ergebnis die kaiserliche Entscheidung auszuführen. Dort wo „antike Tradition noch lebte, hat man also eine Adresse gebraucht und erwartet“61. Wie das oben erwähnte Beispiel der Urkunde Chilperichs II. zeigt, konnte auch noch im Jahre 716 sich die Adresse an bestimmte Beamte richten, denen die Durchführung der herrscherlichen Anordnung aufgetragen wurde62. Allerdings war zur Zeit Chilperichs II. die Prüfung und der Vollzug durch Beamte schon lange keine Voraussetzung für die Rechtsgültigkeit der Bestimmung. Zwar sind die erhaltenen Merowingerurkunden nach wie vor an die viri inlustres, Hofbeamte, duces und comites adressiert, doch gibt es keinen Auftrag zur Prüfung des Sachverhaltes mehr. Die Urkunde selbst setzte das Recht, die königliche Anordnung beginnt absolut zu wirken63. Bald nachdem uns aus der Zeit Chlothars II. (584–628/9) die ersten originalen Merowingerurkunden erhalten sind, ist uns auch durch die Lex Ribuaria überliefert, dass das Schelten einer echten Königsurkunde mit der Todesstrafe bedroht wurde64. Aus dieser Entwicklung hatte die ältere Forschung geschlossen, dass die ursprüngliche Adresse in den Herrschererlässen, die sich etwa an viri inlustres richten konnten, im Laufe der Merowingerzeit nicht mehr verstanden wurde und daher irrtümlich neben den Herrschertitel gestellt wurde. Doch die Adresse verkam zur Merowingerzeit keineswegs zu einem leeren Formalismus, dessen Sinn die königlichen Referendare nicht mehr verstanden. Sie korrespondierte mit einer äußerst lebendigen sozialen Gruppe von merowingischen Großen, die sich als die neuen viri inlustres des Merowingerreichs verstanden. Viele von ihnen hatten ihre Karrieren am merowingischen Hof gemacht, und es kann gut sein, dass ihr Weg zu den höchsten Ämtern des Merowingerreichs sogar über eine Funktion in der königlichen Kanzlei führte65. Natürlich hatte sich die Bedeutung des Titels im Prozess der Umgestaltung der römischen Welt in den Provinzen des ehemaligen weströmischen Imperiums stark verändert. Doch lag diese Veränderung nicht daran, dass die neuen barbarischen Herrscher der Nachfolgereiche sich das Prestige römischer Ehrentitel aneignen wollten, über ihre Geschichte, Bedeutung aber kaum Bescheid wussten. Auch nach dem Ende des weströmischen Imperiums wussten „barbarische“ Könige wie Odoaker, Theoderich, Gundobad,   Classen, Fortleben und Wandel (wie Anm. 59) 47–49.   Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 119. 62   Vgl. oben Anm. 52. 63  Classen, Kaiserreskript (wie Anm. 56) 171–184, vgl. aber seine doch veränderte Ansicht zu den Gründen für den Prozess in ders., Fortleben (wie Anm. 59) 47–54. 64   Lex Ribuaria, Tit. 59, 3, ed. Franz Beyerle–Rudolf Buchner (MGH LL nat. Germ. 3, 2, Hannover 1954) 107. 65   Der Titel könnte zumindest für einen merowingischen Referendar belegt sein, falls der Referendar Chlothars II. Ursinus dieselbe Person wie der vir inluster Ursinus ist, der in einer Urkunde Dagoberts I. (D Merov 32, ed. Kölzer [wie Anm. 52] 88) erwähnt ist; der vir inluster Chadoindus des Prologs der Lex Baiuvariorum könnte auch mit dem einen Referendar Dagoberts I. in Verbindung gebracht werden; vgl. dazu auch Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (Berlin 31958) 360–368, zu Ursinus 366; vgl. auch die Bemerkungen Kölzers in der Einleitung zu D Merov 50, ed. Kölzer (wie Anm. 52) 130, and D Merov 32, ed. Kölzer (wie Anm. 52) 88. 60 61

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oder Chlodwig genau, welche Titel sie in einer spät- oder post-imperialen Hierarchie beanspruchen konnten. Der burgundische König Gundobad erließ sein Gesetz als gloriosissimus rex, und so wurde auch Chlodwig nach der Etablierung seiner Herrschaft über ganz Gallien und der darauffolgenden Anerkennung durch Byzanz von den am ersten Reichskonzil in Orléans (511) versammelten Bischöfen als gloriosissimus angesprochen66. Als gloriosissimi und praecellentissimi wurden auch seine Nachfolger von den byzantinischen Kaisern adressiert. Aus byzantinischer Sicht setzte man hier eine Adresse fort, die schon am Ende des fünften Jahrhunderts für magistri militum und patricii bezeugt ist67. Im lateinischen Westen blieb der Titel jedoch den neuen Herrschern vorbehalten. Zwar zeichnet sich aus den erhaltenen Quellen des sechsten Jahrhunderts keine feste Titulatur der merowingischen Könige ab, doch wird die Anrede gloriosus ausschließlich für die Herrscher verwendet. Aber es waren nicht nur die neuen Könige in den Nachfolgereichen, die sich Titel aneigneten, die mit der Ausübung hoher Ämter und Würden im römischen Imperium verbunden waren. Sie wurden auch von den sich neu formierenden Eliten in diesen Nachfolgereichen beansprucht. Einige Mitglieder dieser Eliten stammten sicherlich aus senatorischen Familien, die ihre hervorragende Stellung in einer Zeit erworben hatten, in der durch die umfassenden Reformen des römischen Imperiums im vierten Jahrhundert einer immer größeren Gruppe in Rom, aber auch aus den Provinzen den politischen und sozialen Aufstieg zu Mitgliedern der römischen Reichselite ermöglichte68. Aber viele Mitglieder der Eliten in den Nachfolgereichen stammten aus Familien, die nicht zu den senatorischen Reichseliten gehört hatten69. Sie stammten aus den lokalen und regionalen Eliten, die in der Zusammenarbeit mit den neuen Herrschern einen wesentlichen Anteil an der Gestaltung ihrer eigenen kleinen römischen Reiche hatten. Diese „little Romes“, wie Peter Brown unlängst bemerkte „were largely in the hands of local nobilities, of energetic little men who had replaced and even helped to despoil the grandees of the imperial ancien régime“70. So unterschiedlich ihre Herkunft und Geschichte auch war, sowohl die Mitglieder der alten senatorischen Familien als auch die novi homines der post-römischen Königreiche brauchten in ihrem neuen sozialen und politischen Umfeld gleichermaßen erkennbare Abzeichen ihrer entweder ererbten oder neu erworbenen hervorragenden Stellung. Dafür ließ sich durchaus an Traditionen des spätrömischen Imperiums anschließen, in denen die Regelungen für den Erwerb senatorischer Würden durchaus auch soziale

66  Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 87–89; Concilium Aurelianense a. 511, ed. Friedrich Maassen (MGH Conc. 1, Hannover 1893) 2. 67   Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 63 mit Anm. 46. 68   Siehe dazu jetzt Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD (Princeton–Oxford 2012) 8–30 und 186–199 mit weiterer Literatur. 69  Beat Näf, Senatorisches Standesbewußtsein in spätrömischer Zeit (Beiträge zur Geschichte der altchristlichen Literatur und Theologie 40, Freiburg 1995) 68–76. 70   Peter Brown, The Rise of Western Christendom. Triumph and Diversity, AD 200–1000 (London 3 2013) xxvii; ders., Through the Eye of a Needle (wie Anm. 68) 385–407, mit weiterer Literatur; ders., The Study of Elites in Late Antiquity. Arethusa 33 (2000) 321–346; siehe nun auch: Steffen Diefenbach, „Bischofsherrschaft“. Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien, in: Gallien in Spätantike und frühem Mittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. von Steffen Diefenbach– Gernot Michael Müller (Millennium Studien 43, Berlin–Boston 2013) 91–149; und im selben Band die Beiträge von John F. Drinkwater, Un-becoming Roman. The End of Provincial Civilization in Gaul 59–77; Michael Kulikowski, Sundering Aristocracies, New Kingdoms and the End of the Western Empire 79–90.



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Mobilität ermöglichten71. So war etwa der Senatorenstand nur sehr begrenzt vererbbar. Kinder konnten den Titel nur erben, wenn der Vater schon Senator war, und wurden auch nur in der niedersten Rangstufe als clarissimi geführt. Die Zugehörigkeit zu dem Stand eines stimmberechtigten Mitglieds im Senat, das den illustris-Titel trug, konnte nicht vererbt werden72. Sie musste durch Leistungen und den Erwerb von Ämtern erlangt werden. Damit wurde ein System geschaffen, in dem die Akkumulation von sozialem, ökonomischem und politischem Kapital eine wichtige Rolle spielte, um senatorischen Rang zu erhalten und in der Familie zu bewahren. In den Zeiten, in denen seit dem vierten Jahrhundert der Senat immer wieder erneuert und erweitert worden war, kam diese Regelung sicherlich den etablierten Familien entgegen. Sie verhinderten, dass senatorischer Rang und vor allem Sitz im Senat und die damit verbundenen Vorrechte an die Familien von neu ernannten Senatoren gingen73. Aber sie ermöglichten gleichzeitig auch eine gewisse soziale Mobilität, die durch kaiserliche Politik durchaus gefördert werden konnte. Sie sorgte dafür, dass die Mitglieder der vornehmen Schichten den Zugang zu den Ämtern suchten, und schuf gleichzeitig Anreize, Aufstiegs- und Integrationsmöglichkeiten für Angehörige nichtsenatorischer regionaler Eliten74. Die soziale Dynamik, die durch Bemühungen um den Erwerb oder Erhalt senatorischer Würden ausgelöst wurde, ist noch im fünften Jahrhundert in Gallien gut dokumentiert. So berichtet etwa Sidonius Apollinaris anschaulich, wie bei einem Gastmahl des Kaisers Majorian in Arles im Jahre 461 die vornehmen Gäste den Kaiser umschwärmten, um von ihm hohe Ämter zu erhalten75. Etwa zur gleichen Zeit bemühten sich am westgotischen Königshof im nur etwas mehr als dreihundert Kilometer entfernten Toulouse die nobiles ebenso um die Gunst des Königs Theoderich II., den Sidonius in einem seiner Briefe auch mit den Attributen eines römischen Herrscher darstellte76. Und auch die Mitglieder der Eliten am westgotischen Königshof erhielten Titel und Würden, die im römischen Imperium der Kaiser verliehen hatte. Am Hof Eurichs, der seinem Bruder Theoderich 466 als König nachfolgte, galt der einflussreiche consiliarius Leo als vir spectabilis. Denselben Titel trug auch sein Nachfolger Anianus unter Alarich II. (gestorben 507). Ob sie beide auch die höchste Rangklasse der illustres erreichten, ist ungewiss, aber durchaus möglich, da auch dieser Titel am westgotischen Königshof bezeugt ist77. Auffällig betont erscheint der Titel auch in den Unterschriften in den Akten des Konzils von Orange von 529, das damals unter ostgotischer Herrschaft stand. Nach   Siehe Näf, Senatorisches Standesbewußtsein (wie Anm. 69) 12–27.   John Weisweiler, The price of integration. State and elite in Symmachus’ correspondance, in: Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und früher Neuzeit, hg. von Peter Eich et al. (Heidelberg 2011) 343–373; einen guten Überblick über die Geschichte der illustres in spät- und nachrömischer Zeit gibt Samuel J. B. Barnish, Transformation and survival in the Western senatorial aristocracy, c. AD 400–700. Papers of the British School at Rome 56 (1988) 120–155; siehe auch Ralph Mathisen, Roman Aristocrats in barbarian Gaul. Strategies for survival in an age of transition (Austin 1993). 73  Von einer recht hohen „dropout rate“ geht Barnish, Transformation (wie Anm. 72) 128f., aus. 74   Näf, Senatorisches Standesbewußtsein (wie Anm. 69) 26. 75   Sidonius Apollinaris, Ep. I, 11, ed. W. B. Anderson (Loeb Classical Library 2, Cambridge, MA, 1936) 1 404–413; siehe Ralph Mathisen, Resistance and reconciliation. Majorian and the Gallic aristocracy after the fall of Avitus. Francia 7 (1979) 597–627; zu einer Diskussion der Stelle vgl. Näf, Senatorisches Standesbewußtsein (wie Anm. 69) 149. 76  Sidonius Apollinaris, Ep. I, 1, ed. Anderson (wie Anm. 75) 1 334–345; Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts (München 52009) 208–211. 77   Ebd. 224. 71 72

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dem praefectus praetorio Galliarum Liberius unterschreiben sechs weitere viri illus­ tres78. Darunter ist auch der vir illustris Namatius, der, auch nachdem die Merowinger die Herrschaft der Provinz übernommen hatten, noch eine wichtige Rolle spielte79. Als er nach mehr als zwei Jahrzehnten der merowingischen Herrschaft im Jahr 559 starb, sollte sich die Nachwelt an ihn als patricius, praesul patriae praetorque, ... stemmate nobilis alto erinnern80. Einer seiner Nachfolger als patricius der Provence könnte der etwa eine Generation jüngere Parthenius gewesen sein, der seine Karriere schon am merowingischen Hof begonnen haben dürfte. Er stammte aus einem der vornehmsten Geschlechter im Süden Galliens, den Rurici, und väterlicherseits vermutlich von den „kaiserlichen“ Aviti ab. Er nahm am Hof Theudeberts I. eine einflussreiche Position ein und wird in einigen zeitgenössischen Quellen mit seinem senatorischen Titel erwähnt81. Einer seiner italischen Freunde interpretierte seine Stellung am Hof Theudeberts sogar als die eines magister officiorum82. Parthenius wird auch in den Geschichten Gregors von Tours erwähnt, die der Bischof von Tours wenige Jahrzehnte nach dessen Tod im Jahr 548 verfasste. Ihm wurde sogar ein ganzes Kapitel gewidmet83. Darin erweist sich Parthenius als würdiger Nachfolger seines kaiserlichen Vorfahren Avitus, der nach Gregor vor allem als Kaiser ein ausschweifendes Leben führte84. Auch Parthenius wird wenig schmeichelhaft beschrieben. Er war habsüchtig, unmäßig und fettleibig und „ließ öffentlich ohne alle Scheu vor den Anwesenden Winde fahren“85. Aus Eifersucht hatte er seine Frau und seinen Freund umgebracht. Doch ereilte ihn seine Strafe bald nach dem Tod Theudeberts. Seine Steuerpolitik hatte die Franken so gegen ihn aufgebracht, dass sie ihn im Jahr nach dem Tod des Königs in Trier erschlugen. Es ist offensichtlich, dass Gregor dem Mitglied der senatorischen Familie, die wie er selbst auch in Clermont beheimatet war, keine besonderen Sympathien entgegenbrachte. Doch haben wir in diesem Fall glücklicherweise neben Gregor auch weitere Quellen, die uns ein vollständigeres Bild geben. Sie zeigen Parthenius als ein Mitglied der römischen Oberschicht, dem es gelang, die hohe soziale Stellung, die frühere Familienmitglieder

  Concilium Arausicanum a. 529, ed. Friedrich Maassen (MGH Conc. 1, Hannover 1893) 53f.   Rudolf Buchner, Die Provence in merowingischer Zeit (Stuttgart 1933) 93, vermutet, dass er der erste merowingische patricius war, vgl. auch Martin Heinzelmann, Gallische Prosopographie (260–527). Francia 10 (1982) 531–718, hier 655. 80  Françoise Descombes, Recueil des inscriptions chrétiennes de la Gaul antérieures à la Renaissance carolingienne XV: Viennoise du Nord (Paris 1985) 69; Epitaphium Namatii, ed. Rudolf Peiper (MGH AA 6, 2, Berlin 1883) 188f.; vgl. Mark Handley, Death, society and culture (Oxford 2003) 159. 81   Zur Karriere des Parthenius: Ian N. Wood, The governing class of the Gibichung and early Merovingian kingdoms, in: Der frühmittelalterliche Staat: Europäische Perspektiven, hg. von Walter Pohl–Veronika Wieser (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16, Wien 2009) 11–22, hier 19; eine Zusammenstellung der Quellen bietet: Karin Selle-Hosbach, Prosopographie der merowingischen Amtsträger in der Zeit von 511 bis 613 (Bonn 1974) 143–155 Nr. 166. 82   Aratoris subdiaconi Historia apostolica, Epistola ad Parthenium, ed. Árpád Orbán (CCSL 130, Turnhout 2006) 403–407, hier 403; siehe dazu Tino Licht, Aratoris fortuna. Aufgang und Überlieferung der Historia apostololica, in: Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum als Dankesgabe für Albrecht Dihle aus dem Heidelberger „Kirchenväterkolloqium“, hg. von Andrea Jördens et al. (Hamburg 2008) 163–179. 83   Gregor von Tours, Historiae, lib. III, c. 36 (wie Anm. 42) 131f. 84  Ebd., lib. II, c. 11, 60f. 85  Ebd., lib. III, c. 36, 132. 78 79



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hatten, in die neuen Verhältnisse zu übertragen und zu übersetzen86. Dabei zeichnet sich auch der große Einfluss dieser Gruppe auf die Gestaltung der neuen sozialen und politischen Strukturen ab. Zwar haben sich die Vorschläge des Parthenius zur merowingischen Steuerpolitik offenbar nicht durchgesetzt, doch ist Parthenius auch als der Erzieher Gogos bezeugt, dessen hervorragende Bildung sein Zeitgenosse, der Dichter Venantius Fortunatus, hervorhob87. Gogo gehörte später nicht nur zu den einflussreichsten Beratern am austrasischen Königshof, sondern wurde auch der nutritor des Sohnes Sigiberts I. und Brunhilds, Childeberts II. Es scheint also kein Zufall zu sein, dass sich beide, Childebert und Gogo, in ihrer Korrespondenz, die uns durch die Epistulae Austrasicae erhalten ist, als feine Kenner der römischen Rhetorik, Etikette und Titulatur zeigen88. Es ist aber auch kein Zufall, dass in unserer wichtigsten Quelle für das sechste Jahrhundert, den erwähnten Geschichten des nicht weniger gebildeten Gregor von Tours, den senatorischen Würden und Titeln wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das lag unter anderem daran, dass Gregor mit seinen Geschichten versuchte, eine neue christliche Vision für die Gesellschaft der merowingischen Königreiche zu entwerfen. Die Stabilisierung sozialer und politischer Identitäten auf der Grundlage römischimperialer Traditionen verfolgte er mit Unbehagen. Die von ihm immer wieder erwähnte Herkunft aus senatorischem Geschlecht mochte zwar gute Voraussetzungen bieten, um an der von Gregor propagierten christlichen Neugestaltung der Gesellschaft an prominenter Stelle mitzuwirken. Sie war aber keineswegs eine Garantie dafür. Die sozialen Differenzierungen der Gesellschaft sollten aus dem ständigen Bemühen um eine gemeinsame christliche Zukunft entwickelt werden89. Der Hinweis auf die senatorische Herkunft wie etwa bei Kaiser Avitus, dessen Herkunft aus dem senatorischen Geschlecht ebenfalls ausdrücklich erwähnt wurde, war ein Blick zurück in eine „verlorene Zeit“. Senatorische Würden wie der vir inluster-Titel hatten in Gregors sozialer Vision keine Zukunft90. Aber hier schrieb Gregor gegen eine Entwicklung an, die selbst der große Erfolg seiner Geschichten nicht aufhalten konnte91. Die Kontinuität des Titels, seine Aneignung und Adaptierung durch die merowingischen Großen und ihre Könige ist schon zu seiner Zeit gut dokumentiert92. Während Gregor die senatorischen Titel unterschlägt, wird auf ihre Erwähnung in anderen Quellen durchaus Wert gelegt. So begegnen uns in den erhaltenen Quellen wie Parthenius eine Reihe von anderen Personen mit senatorischen Titeln, während sich in Gregors Texten kein Hinweis darauf findet93. Ab dem siebenten Jahrhundert 86   Zu einer Zusammenstellung und kurzen Diskussion der Quellen über Parthenius siehe Selle-Hosbach, Prosopographie (wie Anm. 81) 143–145 Nr. 166. 87  Bruno Dumézil, Gogo et ses amis; écriture, échanges et ambitions dans un réseau aristocratique de la fin du VIe siècle. RH 643 (2007) 553–593; Selle-Hosbach, Prosopographie (wie Anm. 81) 161–163 Nr. 112. 88   Vgl. Gogo’s Bemerkungen zur rhetorica dictio des Parthenius in Epistolae Austrasicae 16, ed. Wilhelm Gundlach (MGH Epistolae 3, Berlin 1882) 130. 89   Brown, Elites in Late Antiquity (wie Anm. 70) 321–346; zur ambivalenten Haltung Gregors gegenüber Personen aus senatorischen Familien siehe Näf, Senatorisches Standesbewußtsein (wie Anm. 69) 178–187. 90  In Gregors Geschichten kommt der Titel nur einmal für den Berater Gundobads vor, bevor dieser in den Dienst Chlodwigs übertrat: Gregor von Tours, Historiae, lib. II, c. 32 (wie Anm. 42) 79. 91   Martin Heinzelmann, Gregor von Tours. Zehn Bücher Geschichte. Historiographie und Gesellschaftskonzept im sechsten Jahrhundert (Darmstadt 1994) 167–175. 92  Vgl. Regine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe–Xe siècle). Essai d’anthropologie sociale (Publications de la Sorbonne. Histoire ancienne et médiévale 33, Paris 1995) 122–126. 93  Z. B. Chedinus (Gregor von Tours, Historiae, lib. X, c. 3 [wie Anm. 42] 485), der als vir magnificus in den Epistolae Austrasicae 40 (wie Anm. 88) 145–147 erwähnt ist; Gripo (Gregor von Tours, Historiae, lib. X, c. 2, 482f., erwähnt ihn als genere Francus; als vir inluster erscheint er in den Epistolae Austrasicae 43 [wie Anm.

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ist uns der Titel auch in den erhaltenen Urkunden überliefert – und zwar nicht nur in der Adresse der merowingischen Könige, sondern auch in Zeugenunterschriften und selbst ausgestellten Dokumenten, in denen sich die merowingischen Großen stolz mit dem Titel vir inluster schmückten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Urkunde Chlodwigs II., mit der er der Basilika von St. Denis das Privileg des Bischofs Landeric bestätigte94. Sie entstand im Zusammenhang mit einer Synode und Reichsversammlung und ist das älteste fränkische Originaldokument, dessen Inhalt eine gemeinsame Versammlung weltlicher und geistlicher Großer beschloss95. Dieser Kontext kann auch erklären, warum diese merowingische Königsurkunde die einzige ist, in der uns Zeugenunterschriften überliefert sind96. In diesen Unterschriften unterzeichneten immerhin neun der anwesenden Großen als vir inluster97. Daneben sind uns auch einige Privaturkunden erhalten, die von Mitgliedern der merowingischen Eliten als viri inlustres ausgestellt wurden98. Die Zunahme des Gebrauchs des Titels in den uns erhaltenen Dokumenten hängt sicherlich auch mit der Überlieferungslage der diplomatischen Quellen zusammen. Es ist aber wahrscheinlich, dass, nachdem Chlothar II. im Jahr 613 die Herrschaft im Gesamtreich übernommen hatte, der Titel auch intensiver verwendet wurde99. Sicherlich konnte der Titel nach der Absetzung und Ermordung der austrasisch-burgundischen Königsfamilie die Nähe seines Trägers zum neuen Herrscher unterstreichen100. Gleichzeitig stellte seine Verleihung auch für Chlothar und seine Nachfolger ein Instrument dar, um aristokratische Netzwerke an ihr neues Machtzentrum, den Hof in Paris zu binden101. 88] 149f.; vgl. Selle-Hosbach, Prosopographie [wie Anm. 81] 103–106); Waddo (Gregor von Tours, Historiae, s.v. 566; Selle-Hosbach, Prosopographie 164f.); Bobo (Gregor von Tours, Historiae, lib. V, c. 39, 246. Bobo ist allerdings als vir magnificus in lib. VI, c. 45, 318 erwähnt; vgl. Selle-Hosbach, Prosopographie 60f.); der Titel eines vir magnificus kommt noch dreimal vor, seine Neudeutung durch Gregor wird aber deutlich in lib. IV, c. 16, 147, wo Gregor einen gewissen Ascovindus als cives aus Clermont als vir magnificus et in omni bonitate perspicuus beschreibt und den Titel im Zusammenhang mit einem biblischen Zitat (Ephes. 5, 9) erwähnt. 94  D Merov. 85 (wie Anm. 52) 216–220. 95   Herwig Wolfram, Die neue Faksimile-Ausgabe der originalen Merowingerurkunden. MIÖG 93 (1985) 107–113, mit einem Nachtrag 451–453, hier 110f. 96  Vgl. die einleitenden Bemerkungen zu D Merov 85 (wie Anm. 52) 85f. mit weiterer Literatur. 97  Vgl. Werner Bergmann, Personennamen und Gruppenzugehörigkeit nach dem Zeugnis der merowingischen Königsurkunden, in: Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg. von Dieter Geuenich et al. (RGA Ergbd. 16, Berlin–New York 1997) 94–105. 98  Ein berühmtes Beispiel ist das Testament Abbos von der Provence, in dem sich alle Zeugen als clarissimi bezeichnen, vgl. Geary, Aristocracy in Provence (wie Anm. 23), zur Zeugenliste 79; weitere Beispiele für den vir inluster-Titel in Privaturkunden: Traditiones Wizenburgenses. Die Urkunden des Klosters Weissenburg, ed. Anton Doll–Karl Glöckner (Darmstadt 1979) 235 Nr. 243 (700, Dez. 18, Adalchardus, comes im Saargau); vgl. Hans Hummer, Politics and power in early Medieval Europe. Alsace and the Frankish Realm 600–900 (Cambridge 2005) 71–75; oder Adrowald in seiner Schenkung an Sithiu, dem späteren St. Omer vom 13. Sept. 648 (Diplomata, chartae, epistulae, leges aliaque instrumenta ad res Gallo-Francicas spectantia 2, ed. Jean Marie Pardessus [Paris 1843] 87 Nr. 312). 99   Le Jan, Famille (wie Anm. 92) 124f. 100  Wood, Merovingian kingdoms (wie Anm. 7) 140–158; Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134, Göttingen 1997) 240–258. 101   Karl Ferdinand Werner, Naissance de la noblesse. L’essor des élites politiques en Europe (Paris 1998) 283–295; Regine Le Jan, Timor, amicitia, odium. Les liens politiques à l’epoque Merovingienne, in: Der frühmittelalterliche Staat (wie Anm. 81) 217–226, und Regine Le Jan, La société au haut Moyen Âge (Paris 2003), mit weiterer Literatur und Verweisen zu den Bänden des mehrjährigen Projekts zu frühmittelalterlichen



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Die erhaltenen Quellen lassen vermuten, dass man auch in den vollkommen veränderten Voraussetzungen des siebenten Jahrhunderts grundsätzlich an die soziale Mobilität und Dynamik des „römischen“ Systems anschloss. Wie Werner Bergmann zeigte, war auch im Merowingerreich der Titel keineswegs erblich, sondern an bestimmte Hofämter gebunden, auch wenn er nach dem Ende der Ausübung des Amtes weiter getragen werden konnte102. Doch dürfte die Verleihung an Nachkommen auch wieder die Erlangung eines Hofamtes vorausgesetzt haben. Es würde gut zu anderen Strategien passen, mit denen Chlothar und seine Nachfolger den merowingischen Hof im Nordwesten des Reichs als politisches und soziales Zentrum etablierten, dass sie auch dieses Instrument aufgriffen und weiter entwickelten103. Wie die stolzen Unterzeichner und Aussteller merowingischer Urkunden nahelegen, begann sich jedenfalls im Laufe des siebenten Jahrhunderts der Titel mit neuer Bedeutung und neuem Prestige zu verbinden. Das hohe Prestige des Titels zeigt sich auch darin, dass er im Laufe des siebenten Jahrhunderts zum festen Bestandteil der Intitulatio der merowingischen Hausmeier wurde. Die erhaltenen Urkunden der Arnulfinger zeigen, dass er seit Pippin II. von den frühen Karolingern konsequent verwendet wurde104. Sie mussten ihn allerdings mit einer Reihe von anderen Großen teilen, woran sich gut die Bedeutung des Titels und sein bewusster Einsatz für die Gestaltung von „feinen Unterschieden“ im Merowingerreich ablesen lassen105. Er wurde allerdings nicht nur zur Abgrenzung gegenüber weniger einflussreichen Schichten verwendet. Ebenso drückte sich in dem Titel das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein einer sich formierenden merowingischen Reichsaristokratie aus, die ihre Stellung und Rolle auch in Abgrenzung zu den merowingischen Königen entwickeln konnte. Gerade in der Fredegar-Chronik wurde dieses Selbstverständnis von Mitgliedern dieser Gruppe recht selbstbewusst und mit hohem politischen Anspruch artikuliert. Schon die merowingischen Kompilatoren der Chronik verbanden die hervorragende Stellung der Träger des Titels mit der Wahrnehmung der Verantwortung für die soziale und politische Balance im regnum, die diese manchmal auch gegen die unverantwortliche Politik merowingischer Könige durchsetzen mussten106. Die Artikulation dieser politischen Balance und der damit verbundenen feinen Unterschiede zwischen den fränkischen Eliten und ihren Königen findet sich allerdings nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in der Kultivierung und Adaptierung der Titel in der urkundlichen Überlieferung. So scheint die gemeinsame Verantwortung für die politische Stabilität und den sozialen Konsens in einigen merowingischen Dokumenten ebenfalls mit dem vir inluster-Titel vermittelt worden zu sein. Eliten. Siehe auch Paul Fouracre, The origins of the Carolingian attempt to regulate the cult of saints, in: The Cult of Saints in Late Antiquity and the Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown, hg. von James Howard-Johnston–Paul A. Hayward (Oxford 1999); Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400–800 (Oxford 2007) 187–203; und die Bemerkungen von Rachel Stone, Morality and Masculinity in the Carolingian Empire (Cambridge 2012) 21–23. 102  Bergmann, Personennamen (wie Anm. 97) 101. 103   Esders, Römische Rechtstradition (wie Anm. 100) 268–357. 104   Siehe Einleitung zur Edition der Urkunden der Arnulfinger von Ingrid Heidrich (wie Anm. 45) XXXIf. und XXXVII; zu den Argumenten gegen die Annahme, dass die pippinidischen/karolingischen Hausmeier den vir inluster-Titel in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts monopolisierten, siehe Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 126 mit Anm. 80. 105   Zu „feinen Unterschieden“ siehe Pierre Bourdieu, La distinction Critique sociale du jugement (Paris 1979); dt. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt am Main 1982). 106   Reimitz, History, Frankish Identity (wie Anm. 4).

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Gerade in Dokumenten, in denen Streitpunkte zwischen konkurrierenden Netzwerken behandelt werden, findet sich oft eine auffällige Betonung des gemeinsamen vir inlusterTitels der Mitglieder von verschiedenen Familien oder politischen Netzwerken107. Und auch in den Urkunden konnte man sich damit von den Königen unterscheiden. Im Jahr 723 verfügte der vir inluster und maior domus Karl Martell aus seinem eigenen Besitz und dem fiscus eine Schenkung an das Kloster in Utrecht, dem der Bischof Willibrord vorstand. Sein cancellarius Chaldo datierte die Urkunde in das zweite Jahr der Regierung des gloriosus rex Theuderichs (IV.)108. Ebenso erwähnt eine weitere Urkunde für Willibrord, die vom selben Schreiber drei Jahre später ausgestellt wurde, eine Schenkung aus dem Besitz der karolingischen Familie, den einst Pippin II. von dem gloriosus rex Childebert (III.) erhalten hatte109. Die beiden Beispiele können zeigen, dass man auch noch zur Zeit Karl Martells die feinen Unterschiede der spätrömischen Titulatur und ihrer poströmischen Weiterentwicklung kannte. Trotzdem oder genau darum entschied sich sein Sohn Pippin, der erste karolingische Nachfolger der merowingischen reges gloriosi, mit dem vir inlus­ ter-Titel jenen Titel in seiner königlichen Intitulatio weiterzuführen, den die merowingischen Könige mit den anderen potentes geteilt hatten. Die Kontinuität der damit verbundenen politischen Solidarität und sozialen Verantwortung sollte die Diskontinuität mit der merowingischen Vergangenheit unterstreichen. Es ist bemerkenswert, wie subtil und vorsichtig diese Doppelstrategie entwickelt und in den ersten Jahren nach der Übernahme des Königtums getestet wurde. Die frühen Urkunden Pippins verwendeten nach wie vor eine Abkürzung für den Titel, die der ihrer merowingischen Vorfahren sehr ähnlich sah110. Allerdings scheinen aufmerksame Zeitgenossen durchaus gewusst zu haben, wie man diese Abkürzung aufzulösen hatte. Schon im Frühling des Jahres nach der Königserhebung Pippins datierte der Schreiber Marcus in einer St. Galler Urkunde nach den Jahren der Regierung des vir inluster Pippins: anno primo domno nostro Pippino regnante vir inlusdro (!)111.

Viri inlustres und omnes Franci: Politische Kontinuitäten im doppelten Sinn und die Neudeutung des Frankennamens Es waren aber nicht nur die karolingischen Experimente mit dem vir inluster-Titel, die von den Zeitgenossen registriert wurden112. Ebenso aufmerksam verfolgte man die 107  Vgl. zum Beispiel: D Merov 108 (wie Anm. 52) 279, eine Urkunde, die eine Schenkung Grimoalds für Stablo Malmedy bestätigt, oder D Merov 131 (wie Anm. 52) 333, in der offenbar ein Kompromiss für die konkurrierenden Ansprüche der Familie der früheren westlichen Hausmeier und der Pippiniden nach dem Sieg Pippins bei Tertry gefunden wurde, vgl. dazu die Diskussion in Barbara Rosenwein, Negotiating space. Power, restraint and privileges of immunity in early medieval Europe (Ithaca 1999) 81–89 mit allerdings überholter Datierung der Urkunde. 108   D Arnulf 12 (wie Anm. 45) 30. 109  D Arnulf 13 (wie Anm. 45) 31. 110  Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 212. 111  Urkundenbuch der Abtei Sankt Gallen 1, ed. Hermann Wartmann (St. Gallen 1863–1882) 19 Nr. 16. 112  Siehe dazu auch die hervorragende Diskussion von Ulrich Nonn, Beobachtungen zur Herrschaft der karolingischen Hausmeier, in: Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag, hg. von Franz-Reiner Erkens–Hartmut Wolff (Köln 2002) 27–46.



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Verwendung des Frankennamens, dessen Neudeutung ebenfalls eine wichtige Rolle für die Herstellung einer politischen Kontinuität im doppelten Sinne spielte. Etwa ein Jahrzehnt vor der Königserhebung Pippins regierte der zukünftige König gemeinsam mit seinem Bruder Karlmann ohne einen merowingischen König113. Damals schenkte eine gewisse Grimhild dem Kloster Weissenburg Land, wofür ein Schreiber namens Theutgar eine Urkunde verfasste, die er in anno secundo principatu Carlomanno et Pippino ducibus Francorum datierte114. Der Schreiber Theutgar hatte den Titel dux Francorum für die neuen Herrscher schon davor verwendet. Im Jahr nach dem Tod Karl Martells, dessen letzte Urkunde noch eine Datierung nach den Herrscherjahren des 737 verstorbenen Theuderich IV. verwendete (anno quinto post defunctum Theodericum regem115), hatte Theutgar eine andere Schenkung an Weissenburg in anno prino (!) post obitum Carlo maioro regnante domno Carlomanno duce Francorum datiert116. Theutgar scheint sich zunächst vor allem an den Experimenten des Bruders des späteren Königs Pippin, Karlmann, orientiert zu haben, der schon die Akten seines Reformkonzils, das er im Jahr 742 abhielt, als dux et princeps Francorum promulgierte117. Karlmann und seine Berater hatten das Konzil selbst als eine neue Form der Etablierung eines politischen Konsenses, als eine Versammlung aller religiösen und weltlichen Größen inszeniert. Gleichzeitig nutzte Karlmann die Versammlung als Forum für seine Darstellung als princeps, der sein regnum auch ohne einen merowingischen König regieren konnte. Herwig Wolfram machte schon vor einiger Zeit darauf aufmerksam, wie Karlmann und seine Berater die Rhetorik der Reform auf dem Konzil nutzten, um neue Spielräume der Herrschaftsrepräsentation und -legitimation zu entwickeln118. Dabei zeigte Wolfram auch, welch wichtige Rolle die Titel princeps und dux und ihre Kombination mit dem Frankennamen bei ihrer karolingischen Aneignung spielten. Während princeps als Titel von Königen eine lange und nicht zuletzt auch biblische Tradition hatte119, war der dux-Titel bis dahin niemals zur Bezeichnung eines königlichen Status verwendet worden. Zwar konnte man in der Fredegar-Chronik nachlesen, dass die Franken nach ihrer Wanderung an den Rhein auch schon von duces regiert wurden – mit großem Erfolg, nur von dem römischen Cäsar Pompeius wären sie einmal besiegt worden, doch konnten sie sich bald wieder von der römischen Herrschaft befreien und seien unter der Regierung der duces auch danach niemals wieder anderen gentes unterworfen wor113   Fouracre, The Age of Charles Martell (wie Anm. 10); Fischer, Karl Martell (wie Anm. 7); Wood, Merovingian kingdoms (wie Anm. 7) 270–275. 114  Traditiones Wizenburgenses (wie Anm. 98) 176 Nr. 24 (743, Jän. 18); siehe dazu auch Nonn, Beobachtungen (wie Anm. 111) 37–40. 115   D Arnulf 14 (wie Anm. 45) 33. 116   Traditiones Wizenburgenses (wie Anm. 98) 466 Nr. 235 (741, Dez. 1). 117   Concilium in Austrasia habitum q. d. Germanicum a. 742, ed. Albert Werminghoff (MGH Conc. 2, 1, Hannover–Leipzig 1906) 2, zur Datierung siehe Michael Glatthaar, Bonifatius und das Sakrileg. Zur politischen Dimension eines Rechtsbegriffs (Freiburger Beiträge zur Mittelalterlichen Geschichte 17, Frankfurt 2004), und die Bemerkungen dazu von Rudolf Schieffer‚ Neue Bonifatius-Literatur. DA 63 (2007) 111–123.  118   Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 146: nach Wolfram boten die Akten des Konzils größere Spielräume für die Gestaltung der Formeln, da man dabei nicht im selben Maße wie bei Urkunden „auf die Kanzleitradition Rücksicht nehmen mußte und daher leichter eine gezielte Manifestation des karolingischen Herrschaftsanspruchs vermitteln konnte“. 119  Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 148–151; siehe nun Philippe Depreux, Auf der Suche nach dem princeps in Aquitanien (7.–8. Jahrhundert), in: Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hg. von Hubert Fehr–Irmtraut Heitmeier (St. Ottilien 2012) 551–566.

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den120. Nach längerer Zeit hätten sich die Franken entschieden, erneut von Königen aus dem Geschlecht der Merowinger regiert zu werden, die nach den duces nicht immer ganz so erfolgreich die Geschicke des regnum Francorum lenkten. Es sind im weiteren Verlauf der Erzählung vor allem duces, die in den Berichten der Chronik immer wieder die Fehler der merowingischen Könige bis in die Gegenwart der Chronisten korrigierten. Allerdings werden sie in der Chronik niemals als duces Francorum bezeichnet. Auch die Chronisten des siebenten Jahrhunderts verstanden den dux nach wie vor als das Amt eines königlichen Amtsträgers, der für eine bestimmte Provinz oder Region zuständig war121. Wenn damit eine ethnische Bereichsbezeichnung verbunden wurde – wie etwa für den dux Baiuvariorum, oder Alemannorum – bedeutete das nicht, dass er ein bayrischer oder alemannischer Herzog war, sondern man verband mit dem Titel das Kommando über eine Region des regnum Francorum. In ihrer Aneignung und Neudeutung dieses Titels stellten die Karolinger nun einen dux Francorum neben einen rex Francorum122. Damit wurde nicht nur der Frankenname neu gedeutet, sondern auch die Gemeinschaft der Franci zu einer der wichtigsten Grundlagen der Legitimation karolingischer Herrschaft. Diese Neudeutung des Frankennamens war aber nicht nur ein wichtiges Element der politischen Rhetorik, mit der das neue politische Programm der Karolinger propagiert werden sollte. Sie spielte auch eine wichtige Rolle für die Aneignung der merowingischen Herrschaftsansprüche, die auf der Vereidigung der gesamten Reichsbevölkerung beruhten. Für die Zeit Karls des Großen hat schon vor einiger Zeit die bahnbrechende Studie von Matthias Becher zu Eid und Herrschaft auf die große Bedeutung der Eide hingewiesen, die die gesamte freie Bevölkerung den karolingischen Herrschern leisten musste123. Doch hat Stefan Esders in seinen Arbeiten zum sacramentum fidelitatis gezeigt, dass diese Eide keine Erfindung der Karolinger waren, sondern in den post-römischen Königreichen bereits lange Tradition hatten124. Die Vereidigung der gesamten freien Bevölkerung spielte schon bei der Etablierung der regna im fünften und sechsten Jahrhundert eine wichtige Rolle, um die neuen Könige als Nachfolger der römischen Kaiser zu legitimieren. Auch den merowingischen Königen war diese Vereidigung der Bevölkerung ein wichtiges Anliegen. In den Geschichten Gregors von Tours etwa ist die Verhandlung von Herrschaftsansprüchen sowie von Ansprüchen und Privilegien, die von den Gruppen ausgehandelt wurden, die die Eide zu leisten hatten, ausführlich beschrieben125. In der um 700 zusammengestellten Formelsammlung des Marculf ist uns ein Formular überliefert, in dem der König seinen comes auffordert, sicherzustellen, dass „dem 120  Chronicarum Fredegarii libri IV, lib. II, c. 6 (wie Anm. 6) 46, Post haec (die kurze Zeit, in der die Franken dem Caesar Pompeius unterworfen waren) nulla gens usque in presentem diem Francos potuit superare. Für die Verwechslung von Pompeius mit Cäsar vgl. die Diskussion in Krusch, Die Chronicae (wie Anm. 9) 474f. 121  Wolfram, Intitulatio I (wie Anm. 39) 141–147. 122  Ebd. 154f. 123  Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Stuttgart 1993). 124   Stefan Esders, Sacramentum fidelitatis. Treueidleistung, Militärorganisation und Formierung mittelalterlicher Staatlichkeit (ungedr. Habilitationsschrift, Bochum 2005); ders., Rechtliche Grundlagen frühmittelalterlicher Staatlichkeit. Der allgemeine Treueid, in: Der frühmittelalterliche Staat (wie Anm. 81) 423–432. Für die Möglichkeit, das überarbeitete Manuskript seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift zu lesen, und für viele Hinweise und Gespräche möchte ich mich bei Stefan Esders herzlich bedanken. 125  Gregor von Tours, Historiae, lib. IX, c. 30 (wie Anm. 42) 448f., vgl. dazu Esders, Sacramentum fidelitatis (wie Anm. 124) 228–241; ders., Rechtliche Grundlagen (wie Anm. 124) 429f.



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König die Treue nach der Art der Leudes versprochen werde“. Alle pagenses – „Franken, Römer und die nach sonstigem Geburtsrecht Lebenden“ – sollten geladen werden und in Gegenwart des königlichen missus, der auch als vir inluster bezeichnet wurde, dem König und seinem Sohn „bei den Orten der Heiligen oder den Reliquien Treue nach Leudesart versprechen und schwören“126. Esders konnte auch zeigen, dass die Annahme, dass die rois fainéants, die merowingischen Schattenkönige, nicht mehr in der Lage gewesen seien, die Eide einzufordern, eher auf einem Vorurteil über die Könige der späten Merowingerzeit als auf den erhaltenen Quellen beruht. Gerade die vom karolingischen Verwandten Childebrand verfassten Berichte über den Aufstieg der Karolinger zu fränkischen Königen widmen den Eiden, die man den karolingischen principes vor 751 geleistet hatte, große Aufmerksamkeit127. Dabei wird aber auch angedeutet, dass diese Eide nicht nur den karolingischen principes geschuldet waren, sondern auch der Gemeinschaft der Franken, die die karolingischen Herrscher repräsentierten. So berichtet Childebrand zum Jahr 748, nachdem Pippins Bruder Karlmann sich bereits ins Kloster Montecassino zurückgezogen hatte, von einem Aufstand der Sachsen. Die Sachsen hätten more consueto die Treue gebrochen, die sie Pippins Bruder Karlmann einst versprochen hatten. „Aus diesem Grunde musste er ein Heer sammeln und gegen sie ausschicken; sogar die Könige der Wenden und Friesen kamen ihm einmütig zu Hilfe. Als die Sachsen das sahen, [...] baten sie um Frieden, unterwarfen sich der fränkischen Herrschaft, so wie es von alters her Brauch gewesen war, und versprachen, dass sie jene Abgaben, die sie einst Chlothar gezahlt hatten, von nun an vollständig und ganz genau leisten würden.“128 Die Sachsen unterwarfen sich also dem ius Francorum durch Eide, die sie den principes oder duces Francorum leisteten. Dass ihre Einhaltung ein Anliegen der neuen Gemeinschaft der Karolinger mit ihren Franken war, wird auch nach der Königserhebung Pippins deutlich. Als die Sachsen wiederum ihr Treueversprechen gebrochen hatten, zieht der neue König mit dem gesamten Heer der Franken – omnis exercitus Francorum – über den Rhein, um sie zu unterwerfen129. Die Vorstellung, dass man die Treue über die Gemeinschaft der Franken ihren jeweiligen Herrschern schuldete, ist noch deutlicher in der Redaktion der Annales regni Francorum artikuliert, die um 788/89 verfasst wurde. Darin wurde dem bayrischen Herzog Tassilo vorgeworfen, unter der Herrschaft Pippins einst durch das Verlassen des fränkischen Heeres dem neuen König und den Franken 126   Marculf, Formulae I, 40, ed. Karl Zeumer (MGH Formulae, Hannover 1886, Nachdr. 2001) 68: Ut leudesamio promittantur rege. Ille rex ille comis. Dum et nos una cum consensu procerum nostrorum in regno nostro illo glorioso filio nostro illo regnare precipemus, adeo iubemus, ut omnes pagensis vestros, tam Francos, Romanos vel reliqua natione degentibus, bannire et locis congruis per civitates, vicos et castella congregare faciatis, quatenus presente misso nostro, inlustris vero illo, quem ex nostro latere illuc pro hoc direximus, fidelitatem precelso filio nostro vel nobis et leudesamio per loca sanctorum vel pignora, quas illuc per eodem direximus, dibeant promittere et coniurare. Vgl. dazu die Übersetzung und ausführliche Diskussion in Esders, Sacramentum fidelitatis (wie Anm. 124) 252–287. 127   Ebd. 287–300. 128   Eodem anno Saxones more consueto fidem, quam germano suo promiserant, mentire conati sunt. Qua de causa adento exercito, eos praevenire conpulsus est; cui etiam reges Winidorum seu Frigionum ad auxiliandum uno animo convenerunt. Quod videntes Saxones ... pacem petentes, iure Francorum sese, ut antiquitus mos fuerat, subdiderunt et ea tributa, quae Chlothario quondam prestiterant plenissima solutione ab eo tempore deinceps esse reddituros promiserunt (Continuationes Fredegarii, c. 31 [wie Anm. 1] 181; übers. Kusternig, Die vier Bücher [wie Anm. 6] 299). 129   Continuationes Fredegarii, c. 35 (wie Anm. 1) 182.

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die Treue gebrochen zu haben. Dieser Vorwurf wurde Tassilo aber erst von Pippins Sohn Karl dem Großen gemacht, der Tassilo 787 auch aufforderte, ihm einen Eid zu leisten, in dem der bayrische Herzog versprach, dem karolingischen König, seinen Söhnen und den Franken in allem gehorsam zu sein: ut in omnibus oboediens et fidelis fuisset domno rege Carolo et filiis eius vel Francis130. Wie wichtig der Frankenname als Medium für die neue Ausrichtung politischer und militärischer Loyalitäten auf die karolingischen principes, duces und später reges wurde, zeigt sich auch in Pippins Experimenten mit politischer Terminologie, nachdem im Jahr 743 mit Childerich III. wieder ein merowingischer König eingesetzt worden war. In den Akten „seiner“ Reformsynode von Soissons im Jahre 744 ließ sich Pippin ebenfalls als dux et princeps Francorum titulieren, wobei er seinen Titel ego Pippinus dux et princeps Francorum unmittelbar an den des Königs anschloss, in dem er die Synode in anno secundo Childerici regis Francorum, datieren ließ131. Gleichzeitig betonte man, dass die Beschlüsse dieser Synode auf einem umfassenden Konsens beruhten und sie von Pippin una cum consensu et consilio der Bischöfe und Priester, der comites und optimates Francorum beschlossen wurden132. Dieser Konsens mit den fränkischen Großen wird dabei noch einmal am Ende des Dokuments beschworen, allerdings dieses Mal nur vom princeps Pippin mit den Bischöfen und den optimates Francorum133. Gemeinsam drohen sie, gnadenlos gegen Verstöße ihrer gemeinsam gefassten Beschlüsse vorzugehen. Nach der Strafandrohung unterzeichnet Pippin das Dokument als vir inluster maior domus134. Aber es war nicht mehr der Konsens der merowingischen viri inlustres, mit dem Pippin diese Maßnahmen legitimierte. Der alte senatorische Titel verwies zwar noch auf die gemeinsame Rolle von Mitgliedern der karolingischen Familie und anderen merowingischen optimates. Doch diese geteilte Vergangenheit projizierte man nun in eine neue gemeinsame Zukunft der karolingischen Herrscher mit allen Franken. Das spiegelt sich auch in der etwas kruden Formulierung una cum consilio et consensu wider, die sowohl am Beginn wie auch am Ende der Akten verwendet wurde135. Sie spielt auf eine Formel aus den merowingischen Königsurkunden an, die darin häufig vorkommt, um den Konsens des Königs und der Großen zu unterstreichen. Allerdings wurde sie in den merowingischen Urkunden niemals gemeinsam mit dem Frankennamen verwendet, sondern in Formulierungen wie una cum nostris proceribus, una cum consilio suprascriptorum pontefecum vel procerum nostrorum oder una cum nostris fidelibus136. Es ist auffällig, dass es sich bei fast allen dieser Dokumente um placita handelt, also um 130  Annales regni Francorum a. 787, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [6], Hannover 1895) 78. 131   ... in anno secundo Childerici regis Francorum ego Pippinus, dux et princeps Francorum: Concilium Suessionense, ed. Albert Werminghoff (MGH Conc. 2, 1, Hannover–Leipzig 1906) 33. 132  Dum plures non habetur incognitum, qualiter nos in Dei nomine una cum consensu episcoporum sive sacerdotum vel servorum Dei consilio seu comitibus et obtimatibus Francorum conloqui apud Suessionis civitas synodum vel concilio facere decrevimus; ... (Concilium Suessionense [wie Anm. 131] 33). 133   Si quis contra hanc decretam, quam XXIII episcopi cum aliis sacerdotibus vel servis Dei una cum consenso principem Pippino vel obtimatibus Francorum consilio constituerunt, transgredire vel legem inrumpere voluerint vel dispexerint, iudicatus sit ab ipso principe vel episcopis seu comitibus, conponat secundum quod in lege scriptum est unusquisque iuxta ordine suo (Concilium Suessionense 36). 134  Ebd. 135  Siehe oben Anm. 132 und 133. 136  DD Merov 93, 94, 122, 136, 137, 141, 143, 149, 153, 155, 157, 158, 167 (wie Anm. 52) S. 241, 242, 312, 345, 248, 356, 361 und 362, 375, 383, 387, 393, 394, 416.



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Urkunden, in denen die in Versammlungen gefassten Beschlüsse oder Urteile bekannt gemacht wurden137. Man kann daher annehmen, dass die Konsensformel den merowingischen Großen gut bekannt war und es ihnen daher wohl kaum entgangen sein kann, dass sie nun in den Beschlüssen des Konzils von Soissons mit dem Frankennamen verbunden wurde. Zwar wagten die Karolinger es nicht, die Neuschöpfung in ihre Urkunden zu übernehmen (mit denen sie häufig die Privilegien ihrer merowingischen Vorgänger bestätigten). Doch wurde die neue Formel euphorisch von der karolingischen Historiographie aufgenommen – nicht zuletzt in Childebrands und Nibelungs historia vel gesta Francorum, und zwar genau bei ihrer Darstellung der „folgenschwersten Tat des ganzen Mittelalters“ – der Übernahme des Königtums durch Pippin. Nach dem Konsens und Rat aller Franken una cum consilio et consensu omnium Francorum sandte Pippin, der schon mit dem königlichen Rangtitel praecelsus bezeichnet wurde, eine Gesandtschaft zum Papst. Nach ihrer Rückkehr wird Pippin durch die Wahl aller Franken und die Weihe der Bischöfe zum König erhoben: Quo tempore una cum consilio et consensu omnium Francorum missa relatione ad sede apostolica, auctoritate praecepta, praecelsus Pippinus electione totius Francorum in sedem regni cum consecratione episcoporum et subiectione principum una cum regina Bertradane, ut antiquitus ordo deposcit, sublimatur in regno138. Aber das Versprechen einer neuen Zukunft für alle Franken richtete sich nicht nur an die ehemaligen viri inlustres. Auch regionale oder lokale Eliten, wie etwa diejenigen, die in den Urkunden aus Weissenburg oder St. Gallen ihren Besitz den Klöstern schenkten139, konnten die königliche Aneignung des vir inluster-Titels als Beginn einer neuen Zeit verstehen – einer neuen Zeit, in der ältere soziale Schranken und Unterschiede innerhalb einer fränkischen Aristokratie durchlässiger wurden oder sogar ganz aufgehoben wurden. Wie schon erwähnt, wurde mit der Übernahme des Königtums durch Pippin ja dessen Rolle neu definiert, wobei Pippin auf die Neustrukturierung der Machtbalance zwischen den Großen und ihren Herrschern unter seinem Vater Karl Martell aufbaute. In seiner Studie zu Karl Martell hat Paul Fouracre diesen Prozess prägnant zusammengefasst: „Unlike the Merovingians the Carolingians did not hold the ring between different factions of magnates. Consequently they did not have to deal with the leading factions through power broking figures such as the mayors of the palace.“140 Diesen Anspruch auf die Rolle als „broking figures“ hatten die konkurrierenden Großen des Merowingerreichs mehr und mehr auch mit ihren Titeln und nicht zuletzt mit dem des vir inluster unterstrichen. Zumindest in der politischen Theorie wurden diese Hierarchien nun verflacht. Die karolingischen Könige luden omnes Franci ein, an einer neuen Zukunft für alle teilzunehmen, die bereit waren, die Karolinger im Zentrum dieses Projekts zu unterstützen. Um die Vision einer gemeinsamen fränkischen Zukunft zu entwickeln, brauchte man aber auch eine gemeinsame fränkische Vergangenheit. Ein ein137  Eine Ausnahme ist D Merov 131 (wie Anm. 52); vgl dazu oben Anm. 107; eine weitere ist mit D Merov 122 (wie Anm. 52) 310–312 die Absetzung eines Bischofs; zu den placita siehe Werner Bergmann, Untersuchungen zu den Gerichtsurkunden der Merowingerzeit. AfD 22 (1976) 1–186; Osamu Kano, Procès fictif, droit romain et valeur de l’acte royal à l’époque Mérovingienne. BEC 165 (2007) 329–353; und die kritische Diskussion der Klassifizierung der placita als Scheinprozesse von Alexander Murray, So-called Fictitious Trial in the Merovingian Placita, in: Gallien in Spätantike und frühem Mittelalter (wie Anm. 70) 297–327. 138  Continuationes Fredegarii, c. 33 (wie Anm. 1) 182. 139  Siehe oben S. 140 Anm. 98. 140   Fouracre, Age of Charles Martel (wie Anm. 10) 173f.

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flussreicher Vorschlag dazu wurde in der historia vel gesta Francorum entwickelt. Sie war nicht einfach eine Fortsetzung der Fredegar-Chronik, sondern ebenso wie der vir inlusterTitel oder die Reform des Frankennamens eine bewusste Neuschöpfung einer gemeinsamen Geschichte aus einer Verflechtung von merowingischer und karolingischer Tradition, die der „Herstellung einer politischen Kontinuität im doppelten Sinn“ diente. Auf die Fredegar-Chronik konnte man dafür vor allem mit ihren Berichten zur bedeutenden Rolle der karolingischen Vorfahren, besonders der Franken Arnulf und Pippin, für die politische Stabilität und soziale Balance des Frankenreichs aufbauen141: Allerdings artikulierte die Fredegar-Chronik diese Rolle auch deutlich in Opposition zu den Eliten in den westlichen Reichszentren142. Daher wurde in der Überarbeitung der Chronik auf die Erzählung des Liber historiae Francorum zurückgegriffen, in denen die große Bedeutung und die Verantwortung der westlichen Eliten im Vordergrund standen. Gleichzeitig wurde die Vision der fränkischen Gemeinschaft, wie sie im Liber historiae Francorum formuliert wurde, auch die Grundlage für eine umfassende Neuinterpretation der Fredegar-Chronik. Wie Philip Buc und vor ihm schon Eugen Ewig bemerkten, ist gerade der Teil der Erzählung, in dem Childebrand die Geschichte nach dem Ende der Fredegar-Chronik fortsetzte, stark von einer biblischen Sprache geprägt, die sich in der ursprünglichen Fredegar-Chronik überhaupt nicht findet143. Sie ist dafür besonders augenfällig in der Erzählung des Liber historiae Francorum, dessen Autor in einer Synthese aus biblischer und fränkischer Geschichte eine providentielle Vision für die Gemeinschaft der Franken formulierte144. Allerdings wurde diese Perspektive nicht nur in der Fortsetzung der fränkischen Geschichte entwickelt – in den sogenannten Fortsetzungen – sondern über die gesamte Chronik gespannt. Das zeigt sich auch an der bisher wenig beachteten Neugestaltung des Beginns der „chain of chronicles“, in der Hilarians De cursu temporum den ursprünglichen Liber generationis ersetzte. Der in dem relativ kurzen Text resolut vertretene Chiliasmus wurde ganz explizit mit der Aufforderung verbunden, die Geschichte Israels mit der Gegenwart zu verbinden: Populus enim Judaicus in omnibus figuram nostram portat145. Bei Hilarian war das vor allem mit seiner Vision der Erfüllung der Zeit durch die Etablierung des Christentums verbunden. Karolingische Leser nach der Mitte des achten Jahrhunderts konnten den Text aber auch gut mit ihrer Geschichte und Gegenwart verbinden, vor allem durch die besondere Aufmerksamkeit, die der Text der Salbung Sauls durch den Propheten Samuel widmet. Viermal wird der Prophet in dem kurzen Text erwähnt, wobei dreimal ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass er es war, der Saul zum König gesalbt hatte146.   Siehe oben, S. 124 mit Anm. 7.   Reimitz, History and Frankish identity (wie Anm. 4). 143  Philippe Buc, Nach 754. Warum weniger die Handelnden selbst als eher die Chronisten das politische Ritual erzeugten – und warum es niemand auf die wahre Geschichte ankam, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. von Bernhard Jussen (München 2005) 27–37, hier 33f.; Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Spätantikes und fränkisches Gallien 1, hg. von dems. (München 1976) 3–71, hier 40. 144   Reimitz, History, Frankish identity (wie Anm. 4). 145  Hilarian, De cursu temporum (wie Anm. 25) 171; ob Frick Handschriften der Fredegar-Chronik für seine Rekonstruktion des Textes verwendete, ist nicht klar. Ich zitiere daher auch die Stelle aus der wichtigsten Handschrift der Historia vel gesta Francorum, in der sich auch das Kolophon mit dem Namen Childebrand und Nibelung findet: BAV, Reg. lat. 213, fol. 11v. 146   Hilarian, De cursu temporum (wie Anm. 25) 162, BAV, Reg. lat. 213, fol. 6r: A Jesu Nave usque ad 141 142



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Mit diesem Text am Beginn wurde der Geschichtserzählung der historia vel gesta Francorum von Anfang an eine neue Perspektive gegeben. Ersetzt wurde damit die offenbar zunehmend auswuchernde Auffächerung der Welt durch den Liber generationis mit seinen verschiedenen Genealogien und Katalogen am Ende, nicht zuletzt der der merowingischen und byzantinischen Herrscher. Stattdessen blickte man in der neuen historia vel gesta Francorum gleich zu Beginn in eine karolingische Zukunft, die in Childebrands Fassung mit der Wahl und Salbung Pippins zum König abgeschlossen wird. Vielleicht noch wichtiger war, dass man damit auch die Erzählungen der Fredegar-Chronik und des Liber historiae Francorum in einen neuen Rahmen stellte, der es erlaubte, die verschiedenen Konzeptionen fränkischer Identität und Geschichte zu integrieren. In engem Zusammenhang mit den Experimenten, die ich anhand der karolingischen Aneignung und Neudeutung des vir inluster-Titels und des Frankennamens zu illustrieren versuchte, wurde in der historia vel gesta Francorum damit die Fähigkeit der neuen Könige unterstrichen, omnes Franci – alle Franken und ihre verschiedenen Geschichten und Identitäten – in einer gemeinsamen Zukunft zu integrieren.

Samuelem prophetam, qui unxit Saul, regem, per annos DLXI.; Hilarian (wie oben) 164, 10f., BAV, Reg. lat. 213, fol. 7v: Huic successit Samuhel etiam ipse Dei sacerdos et iudicavit annis XL usque quo unxit Saul regem; Hilarian (wie oben) 164, 18f., BAV, Reg. lat. 213, fol. 7v: Sunt ergo anni omnes a fabrica mundi usque ad Samuhelem quo unxit Saul regem IIIICCC. (zu den Zitaten aus der Handschrift vgl. Anm. 145).





Das Testament Karls des Großen Anton Scharer

Ubi enim thesaurus vester est, ibi et cor vestrum erit (Lk 12, 34) In der Besinnung auf den, dessen hier erinnert wird, möchte ich im Folgenden auf das sogenannte Testament Karls des Großen zu sprechen kommen1. Nicht dass Fichtenau sich damit im Rahmen eines Aufsatzes oder Beitrags auseinandergesetzt hätte, aber gerade auch in diesem Fall birgt, wie so oft, eine von ihm gleichsam flüchtig hingeworfene Bemerkung eine wichtige Einsicht und eine nicht minder wichtige Frage, die meines Wissens von Karls Biographen kaum beachtet wurde. Fichtenaus Interesse wurde von der angedeuteten Möglichkeit eines Rückzugs von den weltlichen Geschäften geweckt wie von dem Ausmaß der Verfügungen zugunsten der Kirche („ein ,Seelgerät‘ von so enormer Höhe, das allüberall zum Gebet für seinen Stifter anregte“)2; beide Phänomene verdienen größere Beachtung, denn sie vermitteln einen Eindruck von Karls Anliegen, mehr noch, geben wahrscheinlich einen unmittelbaren Einblick in Karls Vorstellungswelt, lassen also etwas von seiner Mentalität erahnen. Das Wissen von Karls Verteilung des Schatzes verdanken wir Einhard und zu einem nicht unerheblichen Teil Sueton3. Denn dieser berichtet in den Biographien des Augustus und des Tiberius als letztes jeweils von deren Testament4, gegen Ende des Caesar-Lebens 1   Es geht im Weiteren also nicht um die Regelung der Nachfolge Karls, um die Divisio regnorum, die eingehend in dem wichtigen Sammelband Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29, Köln u. a. 2008) behandelt wurde, sondern um die Verfügungen Karls betreffend seinen Schatz und beweglichen Nachlass; dazu kurz und anregend, aber in anderer Perspektive als die folgenden Ausführungen Matthias Hart, Vererbte Königsschätze in Völkerwanderungszeit und frühem Mittelalter, in: Herrscher- und Fürstentestamente (wie oben) 125–143, hier 137–140; vgl. auch mein 2007 in London gehaltenes Referat: Anton Scharer, Objects of Royal Representation in England and on the Continent, in: Anglo-Saxon Traces, hg. von Jane Roberts–Leslie Webster (Tempe 2011) 31–45, bes. 37–40. – Die folgenden Ausführungen entsprechen weitgehend dem am 14. Dezember 2012 gehaltenen Vortrag bis auf die einem Hinweis von David Ganz zu verdankende Berücksichtigung von Smaragds Via regia (siehe unten Anm. 53–56). 2   Fichtenau, Das karolingische Imperium 192. 3   Vgl. für unsere Fragestellung etwa die Nachweise in der Edition von Halphen: Éginhard, Vie de Charle­ magne, ed. Louis Halphen (Paris 41967) 92f., in Bezug auf Karls Aussehen (c. 22) siehe Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter III. Karolingische Biographie 750–920 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart 1991) 212–215. 4  Sueton, Kaiserbiographien. Lateinisch und deutsch, von Otto Wittstock (Schriften und Quellen der Alten Welt 19, Berlin 1993) II c. 101 im Falle des Augustus (176–179), III c. 76 in der Tiberius-Vita (236f.).

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(c. 83 von 89) von der Testamentseröffnung und den letztwilligen Verfügungen des Ermordeten5; in der Claudius-Vita wiederum wird gegen Schluss (c. 44 von 46) das von Agrippina durchkreuzte Bemühen dieses Kaisers um ein Testament erwähnt6. Am stärksten geprägt bzw. inspiriert war aber Einhard zweifellos durch das Augustus-Leben. Ohne die bekannten Details erneut aufzuwärmen und ohne auf die Themen Tod und Prodigien (so bei Karl und Tiberius, Prodigien und Tod bei Augustus) einzugehen, sei für unsere Fragestellung nur festgehalten, dass sich für das „Testament“ zum Teil wörtliche Entlehnungen Einhards ergeben. Nach Sueton habe Augustus sein Testament (testamentum) ein Jahr und vier Monate vor seinem Tod abgefasst und es in zwei Ausfertigungen bei den Vestalinnen hinterlegt; Karl hat nach Einhard die Aufteilung seines Schatzes drei Jahre vor seinem Tod vorgenommen. Diese Parallele, besonders hinsichtlich der Entlehnung antequam decederet, wurde entsprechend beachtet7, nicht so anscheinend ein anderes von Sueton erwähntes Faktum, das Einhard zumindest einen Anstoß für Gestaltung und Textierung (des letzten Kapitels) gegeben haben dürfte. Es heißt, die Vestalinnen hätten neben dem Testament drei weitere, auf gleiche Weise versiegelte Schriftrollen (cum tribus signatis aeque voluminibus) vorgelegt, die, so steht zu vermuten, ihnen also ebenfalls von Augustus anvertraut worden waren und die dann mit dem Testament im Senat eröffnet und verlesen wurden. Worum ging es in den drei Rollen? „Die eine [enthielt] seine Wünsche hinsichtlich der Bestattung, die zweite eine Darstellung seiner Tätigkeit, die er in Bronzetafeln eingraviert und vor dem Mausoleum aufgestellt wissen wollte [also die Res gestae divi Augusti], die dritte schließlich einen Überblick über das ganze Reich, Angaben darüber, wie viele Soldaten wo im Feld standen, wie viel Geld im Staatsschatz und in den kaiserlichen Privatkassen vorhanden war und wie hoch die Außenstände waren.“ (tertio breviarium totius imperii, quantum militum sub signis ubique esset, quantum pecuniae in aerario et fiscis et vectigaliorum residuis. Adiecit et libertorum servorumque nomina, a quibus ratio exigi posset) 8. Bei der inhaltlichen Charakterisierung der dritten Rolle fällt das Wort breviarium, hier mit „Überblick“ bzw. „statistische Übersicht“ übersetzt. Einhard berichtet von der Absicht Karls, letztwillige Verfügungen zu treffen, in denen er den Töchtern und den mit Konkubinen gezeugten Kindern ein Erbteil zukommen lassen wollte, aber spät begonnen, konnten sie nicht mehr zustande gebracht bzw. vollendet werden9. Im gleichen Atemzug erwähnt er aber die Aufteilung des Schatzes und der beweglichen Habe, die Karl drei Jahre vor seinem Tod vor Zeugen durchgeführt und worüber er eine Aufzeichnung, breviarium genannt, d. h. ein Inventar in Urkundenform, habe anlegen lassen. Aus der angedeuteten Gegenüberstellung der Texte ergibt sich meiner Ansicht nach fast schlüssig, dass die Aufnahme des allgemein Testament genannten Dokuments durch Einhard von dessen Kenntnis der Augustus-Vita bestimmt war. Verzeihen Sie den anachronistischen Vorschlag, aber versuchen wir uns in Einhards Situation zu versetzen. Sein biographisches Modell endete mit dem Testament und den zugehörigen Schriftstücken des Augustus. Bei einem der letzteren, dem breviarium, wurde noch zusätzlich erwähnt: „Hinzugesetzt hat er (sc. Augustus) auch noch die Namen der Freigelassenen und Skla  Sueton, ed. u. übers. Wittstock (wie Anm. 4) 90f.   Ebd. 324f. 7  Éginhard, ed. Halphen (wie Anm. 3) 93 Anm. 4. 8   Deutsche Übersetzung nach Sueton, ed. Wittstock 179. 9  Auch hätten die legitimen, damals lebenden Söhne, Karl der Jüngere und Ludwig der Fromme, eingebunden werden müssen und kaum zugestimmt. Siehe unten Anm. 11. 5 6



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ven, von denen Rechenschaft gefordert werden könnte.“10 Damit waren die Koordinaten bestimmt, in die Karls Maßnahmen einzuzeichnen waren, und die Orientierungspunkte festgelegt, nach denen Einhard sein Material ausgewählt und gestaltet haben dürfte. Karl hatte kein Testament gemacht, sich aber offensichtlich mit dem Gedanken getragen, seine Töchter (über die Divisio regnorum hinaus) und die unehelichen Kinder materiell abzusichern, was aber, aus welchen Gründen immer, nicht mehr geschah11. Zudem hatte er etwas getan, was aus der Sueton’schen Perspektive von den letzten Verfügungen des Augustus durchaus als vergleichbar gelten konnte, solange man den Gesamtkomplex Testament und begleitende Dokumente, besonders das breviarium im Blick hat. Karl hatte auch ein breviarium anlegen lassen, allerdings ein enger gefasstes: ein Inventar seines Schatzes und Hausrats, zudem hatte er Verfügungen darüber getroffen und diese von seinen Getreuen und Mitarbeitern bezeugen lassen. Man vergleiche dazu die Freigelassenen und Sklaven, d. h. die Verwaltungsbeamten, die Augustus pauschal im Zusammenhang mit dem breviarium als Rechenschaft Gebende nennt. Zudem mochte die Erbeinsetzung im Testament des Augustus mit Tiberius zu zwei Dritteln und Livia einem Drittel Assoziationen zu der von Karl vorgenommenen Drittelung wecken: zwei Drittel an die 21 Metropolitankirchen bereits mit Erstellung des breviarium Anfang 811 vollzogen und bis zu Karls Rückzug oder Tod unter Verwahrung, Aufteilung des restlichen Drittels samt des dazukommenden beweglichen Nachlasses bei seinem Rückzug oder Tod. Zweifellos war die Vertrautheit Einhards mit der AugustusBiographie des Sueton aus den dargelegten Gründen entscheidend dafür, dass das allgemein als Testament angesprochene Dokument in die Vita Karoli magni aufgenommen wurde. Woher bezog Einhard seine Vorlage? Rosamond McKitterick meint, vermutlich aus dem (Pfalz-)Archiv12. Tangl dagegen sah die Situation etwas anders. Er betrachtete Einhard als den Verfasser des „Testaments“ und legte das folgendermaßen, eigentlich ohne nähere Begründung, dar: „Denn außer den Urkunden, die durch die Beamten der königlichen Kanzlei hergestellt wurden, galt es der Ausfertigung politisch wichtiger oder vertraulicher Schriftstücke, deren Abfassung kundigen Männern des besonderen königlichen Vertrauens vorbehalten war. Beide Vorbedingungen trafen bei Einhard zu, und aus dieser Tätigkeit ist die wörtliche Aufnahme des Testaments Karls des Großen … und die Überlieferung eines streng vertraulichen und politisch wichtigen Schreibens Ludwigs des Frommen mitten unter den Einhard-Briefen … zu erklären. In beiden Fällen befand sich Einhard im Besitze des Konzepts, das er als Mann des kaiserlichen Vertrauens verfaßt hatte.“13 Die Annahme der Autorschaft Einhards teilte auch Alfred Schultze in seinem einflussreichen Artikel „Das Testament Karls des Großen“; er berief sich dabei auf die   Sueton, ed. u. übers. Wittstock (wie Anm. 6) 179.   Möglicherweise fehlende Zustimmung der „ehelichen Kinder“ bzw. ab Ende 811 des verbliebenen Sohnes, Ludwigs des Frommen. Vgl. Alfred Schultze, Das Testament Karls des Großen, in: Aus Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gedächtnisschrift für Georg von Below (Stuttgart 1928) 46–81, hier 56. 12   Rosamond McKitterick, Charlemagne: The Formation of a European Identity (Cambridge 2008) 99: „… Einhard reproduces the text, presumably obtained from the palace archive … “. 13   Kaiser Karls Leben von Einhard, übersetzt von Otto Abel. Dritte Aufl. bearb. u. erweitert von Michael Tangl (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Zweite Gesamtausgabe Band 16, Leipzig 1920) XII, wo er noch hinzufügt: „Dabei sind die Verluste gerade der vertraulichen und politischen Korrespondenz riesig und wir daher gar nicht in der Lage abzuschätzen, in welchem Ausmaß solche Tätigkeit von Einhard etwa geübt wurde. Aber es müssen, ob nun im Hofbauwesen oder in der Kabinettskanzlei, gute Dienste gewesen sein, denn sie wurden gut gelohnt.“ 10 11

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Schallanalyse durch Eduard Sievers14, einem Nachweis, der sich freilich unserer Überprüfung entzieht. Zuletzt äußerte Hägermann die Vermutung, das Testament sei von Einhard „stilisiert worden“15. Vor Tangl hatte Sickel bei der Diskussion von Veränderungen, die im Überlieferungsprozess vor allem von Briefen und Kapitularien zu Tage traten und sich beispielsweise in der „Unterdrückung des Protokolls“ äußerten, in Bezug auf das Testament gemeint: „So hat uns wahrscheinlich Einhard das breviarium divisionis K. 234 [recte 232] nur in einer Ueberarbeitung mitgetheilt.“16 Der Meinung des Lehrers ihre Reverenz erwiesen auch Mühlbacher und Lechner in den Regesta Imperii: „Überarbeitet, wenn sich der wortlaut auch genau dem originaldokument anschliesst.“17 – Was auch immer das heißen mag! Nähere Erläuterungen blieben die größten Kenner der Materie zu ihrer Zeit aber schuldig. Gehen wir einmal davon aus, dass das in der Vita Karoli überlieferte Schriftstück den ursprünglichen Wortlaut bewahrt hat. Über Sueton und Einhard sind wir nun bei dem Dokument selbst angelangt. Worum handelt es sich bei dem breviarium? Noch weiter als bei Überlieferung – nach Vorlage aus dem Archiv oder Konzept Einhards –, Verfasserschaft und möglicher Überarbeitung gehen die Meinungen hier auseinander, was Zeichen einer gewissen Ratlosigkeit sein dürfte. Schramm meinte, „es wäre … korrekter, nicht von Karls „Testament“, sondern von einem „Protokoll“ oder auch von einer „Notitia“ [sc. wegen der objektiven Fassung] über die von ihm gewünschte Vererbung und Verteilung seiner Fahrhabe zu sprechen“18. Die protokollarische Form spiegelt sich zum Teil im Inhalt wie auch in der Bezeichnung als breviarium, d. h. „Inventar“, wie Bischoff in einem anderen, aber doch einschlägigen Zusammenhang übersetzt19, oder Verzeichnis; das im Text selbst gebrauchte Wort descriptio hat die gleiche Bedeutung. Aber wie sieht es mit der urkundlichen Prägung, die Schramm ebenfalls angesprochen hat, aus? Rosamond McKitterick äußerte sich unter Berufung auf Matthew Innes dahingehend, dass das fragliche Dokument „has a claim to be the first post-Roman will to have survived and to resemble Anglo-Saxon and Merovingian Episcopal wills from the 7th century“20. Doch dürften bei dieser Einschätzung eher inhaltliche Komponenten, wie Vielzahl der protokollierten Gegenstände, Verteilungsschlüssel, und weniger eine formale Bestimmung maßgebend gewesen sein. Was letztere betrifft, hatte schon Schultze festgehalten, dass es sich um zwei Verfügungen handle, „eine a die praesente ins Leben tretende Donatio inter vivos“ und „ein negotium mortis causa, eine Verfügung von Todes wegen“21; diese Unterscheidung machte sich auch Hägermann, im14  Schultze, Testament (wie Anm. 11) 46 Anm. 2: „Eduard Sievers teilt mir freundlichst mit, daß dies (sc. Abfassung des Testaments durch Einhard) schallanalytisch stimmen würde.“ 15   Dieter Hägermann, Karl der Große: Herrscher des Abendlandes (München ³2001) 565. 16   Theodor Sickel, Acta regum Karolinorum digesta et enarrata I: Lehre von den Urkunden der ersten Karolinger (751–840) (Wien 1867) 415f., Zitat 416 Anm. 19. 17  Reg. Imp. I², bearb. von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner (Innsbruck 1908) 205 Nr. 458. 18   Percy Ernst Schramm–Florentine Mütherich, Denkmale der deutschen Kaiser und Könige I. Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis Friedrich II. 768–1250 (München ²1981) 22f. und 90 (Zitat). 19  Mittelalterliche Schatzverzeichnisse. Erster Teil: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Zusammenarbeit mit Bernhard Bischoff (München 1967) 164 unter breviarium bzw. breviarius. 20  McKitterick, Charlemagne (wie Anm. 12) 99 mit Anm. 161. 21  Schultze, Testament (wie Anm. 11) 51 und 53.



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merhin der Ko-Editor der Diplome Wilhelms von Holland, zu eigen und betont zu Recht das Wirksamwerden des Rechtsgeschäfts erst mit dem Tod des Herrschers22. Zudem sind die beiden Schenkungen miteinander verschränkt. Die gewählte Form – statt eines römi­ schen Testaments ein Breve, womit, wenn er nicht Breviarium meint, Hägermann eine weitere Unbekannte ins Spiel bringt – hängt vermutlich eng mit dem Inhalt und mit den Begünstigten der Verfügungen zusammen. Doch bevor hier weitere Mutmaßungen angestellt werden, sei der Blick auf das Dokument selbst gelenkt23. Den Anfang macht die Invocatio (Anrufung Gottes) in der für Karls Kaiserzeit typischen Art, wie sie Diplome und verwandte Texte, wie etwa die divisio regnorum, auszeichnet. Danach geht es weiter in objektiver Fassung, also in dritter Person und nicht wie für Herrscher-Diplome üblich in erster Person plural oder wie bei Testamenten, beispielsweise dem Berthramns von Le Mans (616) oder jenem Fulrads von St. Denis (777), in erster Person Singular24. An der Spitze wird die Maßnahme Karls und das Dokument selbst genannt, nämlich descriptio atque divisio, verbunden mit einer (Eingangs-) Datierung, die in der Abfolge Inkarnationsjahre, Königsjahre im Frankenreich, in Italien, Kaiserjahre und Indiktion eine für Diplome ungewöhnliche Zusammenstellung und Abfolge aufweist25 und am ehesten Parallelen zu den gleichfalls objektiv gefassten Synodal- und Konzilsprotokollen erkennen lässt26. Eine Tagesdatierung fehlt, wird jedoch, wie die Querverweise nahelegen27, einst vorhanden gewesen, aber vielleicht nicht in Einhards Konzept gestanden sein, sondern in dem verlorenen Original, das nach der Handlung ausgefertigt wurde. Die Aufteilung des Schatzes wird begründet mit dem allgemeinen christlichen Motiv des Almosenspendens und der Erwartung, dass die Erben im Wissen um das ihnen Zukommende leichter ohne Streit teilen könnten. Ferner wird ausgeführt, dass am genannten Tag Karl den gesamten in der Schatzkammer (camera) vorhandenen Schatz (Gold, Silber, Edelsteine) gedrittelt habe, wobei er ein Drittel bei Seite gelassen und die zwei Drittel weiter in 21 Teile (entsprechend der Zahl der Metropolitankirchen des Frankenreichs) unterteilt habe. Jeder davon (also jeweils ein 2/63 des Schatzes) sollte durch Karls Erben und „Freunde“ (amici) als Almosen (eleimosinae nomine) an die Metropolitansitze gelangen, und den Metropoliten oblag eine weitere Drittelung mit ihren Suffraganen. Die 21 Schatzanteile wurden getrennt liegend mit Aufschrift des jeweiligen Metropolitansitzes versehen und versiegelt (sub sigillo reconditis 22   Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 15) 566. Die Fahrhabe wurde aufgeteilt; von ihr „ist ein Teil als Schenkung ,a die presente‘, vom selben Tag an gültig, unter Lebenden zu betrachten …, die gleichwohl aber erst nach dem Tod des Erblassers den Begünstigten ohne materielle Änderung ausgehändigt werden sollte. Ein weiterer Teil sollte in einer Vergabung ,post mortem‘ erfolgen und der ersten Schenkung hinzugefügt werden. Damit konnte das Rechtsgeschäft erst nach dem Ableben des Kaisers wirksam werden.“ 23   Éginhard, ed. Halphen (wie Anm. 3) 94–102, bzw. Einhard, Vita Karoli magni, c. 33, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover–Leipzig 61911) 37–41. 24   Margarete Weidemann, Das Testament des Bischofs Berthramn von Le Mans vom 27. März 616. Untersuchungen zu Besitz und Geschichte einer fränkischen Familie im 6. und 7. Jahrhundert (RömischGermanisches Zentralmuseum Monographien 9, Mainz 1986), und Michael Tangl, Das Testament Fulrads von Saint-Denis, in: ders., Das Mittelalter in Quellenkunde und Diplomatik (Graz 1966) 540–581. 25   In Diplomen der Kaiserzeit hat die Datumzeile den Aufbau: Kaiserjahre, Königsjahre in Francia und in Italia, Indiktion; Inkarnationsjahre kommen überhaupt erst in den Urkunden Ludwigs des Jüngeren und Karls des Dicken auf. Vgl. Die Urkunden der deutschen Karolinger. 2. Band: Die Urkunden Karls III. ed. Paul Kehr (MGH DD regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2, Berlin 1937) XXXVII. 26  Dieser Überlegung folgend möchte ich eine „Überarbeitung“ der Anfangsdatierung durch Einhard eher ausschließen. 27   quae in illa die in camera eius inventa est. … in illa, ut dictum est, die in camera eius poterat inveniri … .

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[sc. illis duabus partibus]) in repositorio (im Schatzhaus) aufbewahrt. Über das verbliebene Drittel des Schatzes sollte Karl bis an sein Lebensende oder bis zu seinem freiwilligen Verzicht auf die weltlichen Geschäfte für den täglichen Gebrauch frei verfügen; danach war es, vermehrt um die restlichen beweglichen Güter (Hausrat, Waffen, Kleider etc. aus Schatz- und Kleiderkammer) einer Vierteilung zu unterziehen, wobei ein Viertel den 21 für die Metropolitankirchen bestimmten Anteilen zufallen sollte – denen damit insgesamt drei Viertel des Schatzes und beweglichen Nachlasses zukamen! – damit sind die beiden Schenkungen miteinander verzahnt –28, ein Viertel den Söhnen, Töchtern und deren Kindern, ein weiteres den Armen und das letzte zur Unterstützung der Diener und Mägde dienen sollte. Sodann findet sich die Anordnung, dass die (Hof-)Kapelle in ihrem Besitzstand ungeschmälert bewahrt bleibe, die Bücher der Bibliothek an Interessenten ihrem Werte entsprechend verkauft und der Ertrag den Armen zugewandt werden sollte, sowie die Verfügungen Karls über vier kostbare, mit Reliefs versehene Tische, drei silberne und einen goldenen. Den Abschluss bildet der Hinweis, dass Karl hanc constitutionem atque ordinationem, also diese rechtliche Bestimmung und Anordnung, vor den Bischöfen, Äbten und Grafen, die damals anwesend sein konnten und deren Namen im Folgenden aufgeführt werden, vornahm und festlegte. Constitutio und ordinatio, Bezeichnungen, die sich auch in der divisio regnorum finden, dem politischen Testament aus 806, beziehen sich vermutlich auf die Form der Veröffentlichung im Zusammenhang mit „einer Art engerer Reichsversammlung“29. Die Einbeziehung bestimmter Großer zur Absicherung seiner Verfügungen war ein besonderes Anliegen des Schenkers. Schon in der den Wortlaut des „Testaments“ einleitenden Passage werden die amici et ministri sui genannt, in deren Anwesenheit Karl die Aufteilung vornahm und die er beschwor, dass nach seinem Tod die von ihm vorgenommene Verteilung durch ihre Unterstützung wirksam bleibe. Sie werden auch zusammen mit den Erben als die Überbringer der Anteile an die Metropolitankirchen genannt. Deren pauschal erwähnte wie namentlich angeführte Mitwirkung und die 21 Metropoliten als Hauptbegünstigte sollten wohl gleichermaßen gewährleisten, dass das Vermächtnis ausgeführt würde30. Dazu kam die bereits erwähnte inhaltliche Verschränkung der beiden Schenkungen. Insgesamt stellte die Aufteilung des gesamten Hortes und beweglichen Nachlasses zweifellos auch hinsichtlich der schriftlichen Fassung eine besondere Herausforderung dar, die im Sinne des Ausstellers unter Ausschöpfung eines Repertoires verschiedenster Formen überzeugend gelöst wurde und insgesamt de facto zumindest eine letztwillige Verfügung des großen beweglichen Besitzes ausmachte. Eine genauere Untersuchung von Vokabular und Stil könnte vielleicht die mit aller Vorsicht geäußerte Verfasserschaft Einhards erhärten. Das Meisterstück bestand darin, die Autorität des Vaters so zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Söhne mit der weit28  Schultze, Testament (wie Anm. 11) 54: „Insofern spielt die [sc. zweite] Verfügung in die erste Schenkung hinüber; sie hat dieselben Destinatäre, ist bloße Ergänzung, Auffüllung des dort Geschenkten …“. 29   Ebd. 48 mit Anm. 6. Vgl. auch das Register zu den Capitularia regum Francorum, ed. Alfred Boretius–Victor Krause (MGH Capitularia 2, Hannover 1883 und 1897) 604 und 672 s. v. constitutio und ordinatio (Belegstellen für die Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen). 30  Vgl. auch Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 15) 576, Karl Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (VIÖG 25, Wien u. a. 1979) 70 und ebd. 69f. zur Zahlensymbolik besonders im Hinblick auf die Zeugen; was die Teilungszahlen betrifft, siehe Matthew Innes, Charlemagne’s Will: Piety, Politics and the Imperial Succession. EHR 112 (1997) 834–855, hier 851f. Auf diese nicht uninteressanten Spekulationen kann in unserem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden.



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gehenden Preisgabe des Schatzes über den Tod des Vaters hinaus abfinden konnten; das auch deshalb, weil sie selbst – zuletzt blieb allerdings nur mehr Ludwig übrig – über einen Schatz verfügten. Vom römischen Testament wurde gesagt, es spiegle den Charakter des Erblassers31 und sei oftmals der einzige Anlass, wo dieser die Wahrheit sagte. Etwas davon trifft – bei allen Unterschieden – auch auf unseren Fall zu: die Anliegen des Ausstellers kommen zweifellos in den Verfügungen zum Ausdruck. Doch um tiefer zu schürfen und die Einstellung Karls zum Zeitpunkt der Anlage des sogenannten Testaments etwas aufzuhellen, sollen im Folgenden noch zwei Aspekte näher betrachtet werden. Zunächst der als Eventualität genannte Rückzug Karls (post obitum vero suum aut voluntariam saecularium rerum carentiam)32 und zweitens ganz beiläufig die Funktion der Stiftung. Dazu Heinrich Fichtenau: „Ein Satz dieses Testamentes hat seit je die Verwunderung der Historiker erregt: Nicht nur von der Möglichkeit von Karls Hinscheiden war hier die Rede, sondern noch von einer anderen, einem ,freiwilligen Rücktritt aus dem weltlichen Leben‘.“33 Fichtenau fragt, ob Karl das Beispiel seines Onkels Karlmann „vor Augen gehabt habe“, und erwägt dann, wie ein solcher Rückzug aussehen hätte können: die Vorstellung, dass Karl als Privatmann inmitten seiner Untertanen hätte leben können, schließt er aus und meint: „Am ehesten wäre es wohl denkbar gewesen, daß sich Karl als Laienabt in eines seiner Reichsklöster zurückzog, so wie er schon früher in Murbach und Echternach die nominelle Klosterleitung innehatte.“34 Als wäre er in seinen Überlegungen schon zu weit fortgetragen worden, endet Fichtenau: „Aber es ist müßig, solchen Möglichkeiten nachzudenken, die Karl erwogen haben mag, als ihm die letzten Jahre seiner Herrschaft so bitter wurden.“35 Diese Verdüsterung der persönlichen Situation Karls hat allerdings zu lange den Gesamteindruck der letzten Phase von Karls Herrschaft bestimmt, als wären die Verhältnisse der Kaiserzeit insgesamt von Lähmung, Krise, Resignation und unzulänglichen Gegenmaßnahmen geprägt gewesen36, wogegen vor allem Janet Nelson ein „imperial regime certainly newly ambitious and arguably newly effective“ nachweisen konnte37. Das führt uns zurück zur carentia des Testaments, dem möglichen Rückzug Karls. Schultze hatte gemeint: „Daß Kaiser Karl die Möglichkeit seines Eintritts ins Kloster immerhin erwogen hat, findet anderweitig aus seinen letzten Lebensjahren, so viel ich weiß, keine Bestätigung und wirft ein grelles Licht auf die Stimmung, die ihn zu der Zeit beherrschte, 31   Edward Champlin, The Testament of Augustus. Rheinisches Museum für Philologie 132 (1989) 154– 165, hier 154 Anm. 1 mit Verweis auf Plinius, Briefe, lib. 8, ep. 18, 1 (C. Plini Caecili Secundi epistularum libri decem, ed. R.A.B. Mynors [Oxford 1963, Nachdr. 1982] 247). 32  Laut Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters 2: Bedeutungswandel und Wortbildung (München 2000) 285 § 44.2, handelt es sich um eine aus der Spätantike stammende Bildung auf -entia. 33   Fichtenau, Das karolingische Imperium 192f. – In neueren biographischen Werken wird die Möglichkeit des freiwilligen Rückzugs nicht erwähnt (McKitterick) oder kurz abgetan (Hägermann, Karl der Große [wie Anm. 15] 569: „Nach seinem [sc. Karls] Ableben freilich, oder ‚sofern er auf weltliche Güter freiwillig verzichtete‘ – etwa als Mönch? – , …“). Siehe dagegen die alte Spezialuntersuchung von Schultze, Testament (wie Anm. 11) 49, bes. 52. 34   Fichtenau, Das karolingische Imperium 193 mit Anm. 38. 35   Ebd. 193. Vgl. davor schon Schultze, Testament (wie Anm. 11) 52. 36   François Louis Ganshof, La fin du règne de Charlemagne. Une decomposition. Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 28 (1948) 533–552; vgl. Fichtenau, Das karolingische Imperium 186. 37   Janet Nelson, The Voice of Charlemagne, in: Belief and Culture in the Middle Ages. Studies presented to Henry Mayr-Harting, hg. von Richard Gameson–Henrietta Leyser (Oxford 2001) 76–88, hier 79.

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als er die Divisio (sc. Aufteilung des Schatzes) vornahm.“38 Doch dem ist nicht so. Kurz nach der Abfassung des Testaments entstanden zwei als Kapitularien klassifizierte Texte, die ähnlich dem Testament direkt auf Karl zurückführen: hier höre man ganz unmittelbar seine Stimme, wie Janet Nelson überzeugend dargelegt hat 39. Es handelt sich um einen Fragen- und Themenkatalog, den Karl für die Reichsversammlung vom Frühjahr 813 (Ende Mai/Juni 813) ausgesandt hatte (capitula tractanda cum comitibus episcopis et abbatibus)40, und um die damit teilweise übereinstimmenden, unmittelbar für die Besprechung bestimmten Materien 41, die möglicherweise dann als „instruktion für die mit dieser aufgabe betrauten königsboten“ dienen konnten42. Seit Adalbert Hauck hat man diesen „herbsten und spitzigsten Äußerungen Karls, welche überhaupt auf uns gekommen sind“43, Beachtung geschenkt. Worum ging es? Etwa: Wie christlich ist die Gesellschaft, wie verhält es sich mit dem Lebenswandel der Geistlichen, welche Aufgaben kommen Geistlichen, welche Laien zu. Die schlimmen Folgen der Vermischung beider Bereiche und Missstände werden angeprangert, im Sinne Gregors des Großen und Bedas wird die Übereinstimmung von Wort und Werk, Anspruch und Lebensführung postuliert usw. usf. Es ist ein energisches Bemühen um ungeschönte Bestandaufnahme und stete Reform, das die kritischen Fragen auszeichnet; einige davon können durchaus zum tieferen wechselseitigen Verständnis im Zusammenhang mit dem „Testament“ Karls gelesen werden, dem sie zeitlich nahestehen und dessen Vorstellungswelt sie teilen. Anklänge oder Gleichklänge, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit des Rückzugs (carentia), werden also nicht zufallsbedingt, sondern als Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung zu werten sein. Der da fragt, dürfen wir nicht vergessen, stellt die Fragen als einer, der zumindest die Bereitschaft zum vollständigen Verzicht auf die weltlichen Dinge gezeigt hatte. Deshalb auch der ironische Ton. Zuerst eine äußerliche Gemeinsamkeit, das Procedere spiegelnd: in dem ausgesandten Fragenkatalog (Nr. 71,1) heißt es, Karl wolle mit der Gruppe der Bischöfe, Äbte und Grafen einzeln verhandeln44, im Testament werden die Zeugen auch nach episcopi, abbates, comites getrennt angeführt. In der Frage nach der Überschneidung von weltlichen und geistlichen Tätigkeiten und Aufgaben sollen Bedeutung und Anwendbarkeit des Paulus-Zitats (2 Tim. 2,4) Nemo militans Deo implicet [recte implicat] se negotiis saecularibus, „Keiner, der für Gott streitet, möge sich in weltliche Geschäfte verstricken“ tief und durchdringend (acutissime) diskutiert werden45. Der mögliche Rückzug, Verzicht, eben carentia saecularium rerum, den Karl selbst ins Auge gefasst hatte, verdeutlicht   Schultze, Testament (wie Anm. 9) 52.   Nelson, The Voice of Charlemagne (wie Anm. 37) passim; siehe auch Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 15) 577ff. 40   Reg. Imp. I² (wie Anm. 17) 462; MGH Capitularia 1 (wie Anm. 29) 161–162 Nr. 71. Nelson, The Voice of Charlemagne (wie Anm. 37) 81, spricht von einem „briefing paper for participants in an upcoming assembly“. 41  Item brevis [= Exposé] capitulorum quibus fideles nostros episcopos et abbates alloqui volumus et commonere de communi omnium nostrorum utilitate. 42   Reg. Imp. I² (wie Anm. 17) 463; MGH Capitularia 1 (wie Anm. 29) 162–164 Nr. 72. Neuedition durch François-Louis Ganshof, Note sur les „Capitula de causis cum episcopis et abbatibus tractandis“ de 811. Studia Gratiana 13 (= Collectanea Stephan Kuttner 3, 1967) 3–25, auf 20–25. 43  Adalbert Hauck, Kirchengeschichte Dutschlands 2 (Berlin–Leipzig 81954) 220. 44  In primis separare volumus episcopos, abbates et comites nostros et singulariter illos alloqui. 45  Und Paulus fährt fort: „damit er dem gefalle, dem er sich beweisen wollte“. Von der Einheitsübersetzung wird hier aus Gründen der Verständlichkeit bewusst abgegangen. 38 39



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des Herrschers Position. Der Fragenkomplex ließ Karl nicht ruhen: in der zweiten Tagesordnung (Nr. 72) wird er noch drängender und ausführlicher (besonders c. 4, 5, 6 und 8) angesprochen: die Geistlichen mögen wahrhaftig erklären (c. 4), „was es sei, was bei ihnen heißt, die Welt zu verlassen, und worin unterschieden werden können die, die die Welt verlassen, von jenen, die immer noch der Welt folgen, ob ausschließlich darin, dass sie keine Waffen tragen und nicht öffentlich verheiratet sind“46. Es sei daran erinnert, dass bei der Aufteilung des letzten Drittels des beweglichen Nachlasses diesem auch die Waffen (cum armis) zugeschlagen werden sollten, und eine neue Ehe war Karl nach Liutgards Tod (4. Juni 800) nicht mehr eingegangen. Die Radikalität des in Erwägung gezogenen Schritts (carentia saecularium rerum) hebt sich besonders markant vor dem Hintergrund der Fragen ab, die jene verschwommenen Sphären thematisieren, wo die, die der Welt entsagt hatten, auf einmal höchst weltlich agieren, sei es etwa im Erwerb von Eigentum (c. 5 und 6) oder in der Lebensführung (c. 8)47. Die Möglichkeit des Rückzugs mochte durch den Tod der Kinder Hrotrud, älteste Tochter (6. Juni 810), und Pippin von Italien (8. Juli 810) nahegelegt worden sein, spätestens mit dem Hinscheiden Karls des Jüngeren (4. Dezember 811) war es allerdings damit vorbei. Somit bietet das Testament gleichsam eine Momentaufnahme von Karls Gemütszustand. Die konstatierte Grundstimmung schlägt auch gegen Ende (72, c. 11) des umfangreicheren Fragenkatalogs durch: unter Hinweis auf die Christus- und Apostelnachfolge wird gefragt, „ob wir nicht in vielen Dingen anders handeln sollten als wir bisher taten, ob nicht viele unserer Gewohnheiten aufzugeben und Dinge getan werden sollten, die wir bisher nicht getan haben.“ Auch hierin spiegelt sich Karls Religiosität48, und nicht nur hinsichtlich Christus- und Apostelnachfolge tut sich ein möglicher Bezug zum Testament auf. Matthäus (19, 16–22) und Markus (10, 17–22) berichten vom reichen jungen Mann, der Jesus fragt: quid boni faciam ut habeam vitam aeternam? (Matt. 19, 16). Er habe alle Gebote, die Jesus nennt, seit seiner Jugend befolgt: quid adhuc mihi deest? (20) Ait illi Iesus: Si vis perfectus esse, vade, vende quae habes et da pauperibus et habebis thesaurum in caelo, et veni, sequere me. Traurig geht der junge Mann, erat enim habens multas possessiones (21–22). Daran schließt das Gespräch mit den Jüngern, in dem demjenigen, der Haus, Hof, Verwandte, Eltern, Frau und Kinder seinetwegen verlassen hat, versprochen wird, centuplum accipiet et vitam aeternam possidebit (29). Ähnlich heißt es bei Lukas 12, 33f. Vendite quae possidetis et date elemosynam. Facite vobis sacculos qui non veterascunt, thesaurum non deficientem in caelis, quo fur non appropiat, neque tinea corrumpit. Ubi enim thesaurus vester est, ibi et cor vestrum erit. („Verkauft eure Habe, und gebt den Erlös den Armen! Macht euch Geldbeutel, die nicht zerreißen. Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und 46  Wie oben Anm. 42: quid sit quod apud eos dicitur seculum relinquere, vel in quibus internosci possint hi qui seculum relinquunt ab his qui adhuc seculum sectantur; utrum in eo solo, quod arma non portant nec publice coniugati sunt. Siehe auch Nelson, The Voice of Charlemagne (wie Anm. 35) 85–88. 47   Es sei nur am Rande angemerkt, dass auch die Frage nach der rechten „Lebensführung“ conversatio in 71, c. 9, gestellt wird und in diesem Zusammenhang Worte fallen, nämlich vita, mores, conversatio, die gleichfalls in Einhards Biographie von zentraler Bedeutung sind – ein Anliegen/Vermächtnis Karls, das Einhard aufgriff? 48  Grundlegend Henry Mayr-Harting, Charlemagne’s Religion, in: Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos „Karolus Magnus et Leo papa“ und der Papstbesuch in Paderborn 799, hg. von Peter Godman et al. (Berlin 2002) 113–124.

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keine Motte ihn frißt. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“)49 Diese Stelle wird im Opus Caroli zitiert50, war also Karl zweifellos bekannt. Auf diese Gedankenwelt treffen wir u. a. auch in früheren sowie in zeitgenössischen Privaturkunden 51 und bei Einhard52; sie wird im Testament Karls nicht expressis verbis ausgesprochen, aber durch das Schlagwort „Almosen“, den skizzierten Entstehungszusammenhang und den Umfang der Verfügungen zugunsten der Kirche und der Armen nachdrücklich impliziert. Noch näher an das Testament heran führt die Via regia Smaragds von St. Mihiel53. Dieser Fürstenspiegel wurde auf Ludwig den Frommen und Karl den Großen als Empfänger bezogen und auch hinsichtlich der Datierung spannt sich der diskutierte Zeitrahmen von 810 bis 814. Besonders eingehend widmete sich Otto Eberhardt der kritischen Auseinandersetzung mit der Via regia und plädierte dafür, dass der Fürstenspiegel um 810 für Karl den Großen verfasst wurde 54. Mag der Vorschlag zur zeitlichen Einordnung überzeugend wirken, bleibt die Frage nach dem Adressaten eher unentschieden und bedarf neuer Überlegungen55. Wie dem auch sei, in der Via regia des Smaragd treffen wir auf ein Werk, das genau dem Zeithorizont von Karls Testament entspricht und unmittelbar auf den Hof des Kaisers und seiner Söhne weist. Und darin wird der Herrscher nachdrücklich ermahnt, sich einen Schatz im Himmel zu schaffen56. Karl hat sich mit den Verfügungen des Testaments einen Schatz im Himmel erworben57. Und das liefert neben der Sueton-Imitatio einen weiteren Grund für die Aufnahme des Dokuments am Schluss der Vita Karoli: mit diesem mächtigen Akkord sollte im Diskurs um Karl alle davor geäußerte, kleinlich moralisierende Kritik übertönt und zum Verstummen gebracht werden58. 49   Vgl. auch Bergpredigt, Matt. 6, 19ff. („Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde … sondern sammelt euch Schätze im Himmel“), besonders 21 Ubi enim est thesaurus tuus, ibi est cor tuum. 50   Opus Caroli regis contra synodum (Libri Carolini) c. I 24, ed. Ann Freeman (MGH Concilia 2, supplementum I, Hannover 1998) 215. 51  Fichtenau, Arenga 143 mit Anm. 22 und dem Hinweis auf Formulae Marculfi lib. II Nr. 1, ed. Karl Zeumer (MGH Formulae, Hannover 1886) 70. Vgl. dazu The Formularies of Angers and Marculf: Two Merovingian Legal Handbooks, translated with an introduction and notes by Alice Rio (Liverpool 2008) 178–180. Codex Laureshamensis 1, ed. Karl Glöckner (Darmstadt 1929), 20 (Reg. 3151) S. 301f. (Schenkungsurkunde Einhards und Immas für Lorsch aus 819); vgl. davor bereits die Schenkung des Grafen Raffold, ebd. 14 (Reg. 2163) S. 292f., aus 790; desgleichen 12 (Reg. 1952) S. 289f. aus 786, jeweils mit Lk 11, 14 in der Arenga. 52  Siehe Codex Laureshamensis (wie Anm. 49) 301 (Reg. 3151) mit der Arenga: Dominus ac redemptor noster corporaliter in terra conversatus, homines variis peccatorum sordibus inquinatos ammonere dignatus est dicens: Date elemosinam, et ecce omnia munda sunt vobis, et iterum: Facite vobis amicos de mammona iniquitatis, qui vos recipiant in eterna tabernacula sowie die Geschichte des Willibert in Einhard, Translatio et miracula sanctorum Marcellini et Petri III c. 3, ed. Georg Waitz (MGH SS 15/1, Hannover 1887) 249, worauf mich freundlicher Weise David Ganz aufmerksam machte. 53   Den Hinweis darauf verdanke ich David Ganz. Edition des Fürstenspiegels in PL 102 933–970. 54   Otto Eberhardt, Via regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung (Münstersche Mittelalter-Schriften 28, München 1977) 218–263, 657, 675. 55  Die auch Karl den Jüngeren als möglichen Adressaten in die Diskussion einbeziehen sollten. Auffällig ist das Fehlen jeglicher Hinweise auf das Kaisertum in Widmungsbrief (ed. Ernst Dümmler [MGH Epp. 4, Berlin 1895] 533 [Nr. 23]) und Prolog (PL 102 933–936); vgl. auch Eberhardt, Via regia (wie Anm. 54) 104–121 zum Widmungsbrief. 56  Smaragd, Via regia c. 13, PL 102 953f. Siehe weiters die c. 14 und 15, ebd. 954–956. 57  Über Entwicklung und Stellenwert dieser Vorstellung im christlichen Diskurs der Spätantike und des frühen Mittelalters siehe neuerdings Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD (Princeton 2012). 58  Matthias Tischler, Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption (MGH Schriften 48, Hannover 2001) 201ff. – Ich danke David Ganz und Jinty Nelson für Anregungen und Diskussion.



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert Werner Maleczek

Die Unterschrift als persönliches Beglaubigungsmittel ist uns so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir nur bei besonderen Gelegenheiten darüber nachdenken, dass es auch anders sein könnte. Sie ist wohl der beste Beweis für das fast völlige Verschwinden des Analphabetentums in den zivilisierten Ländern, allen Kassandrarufen zum Trotz, die gerne ein neues, funktionales Analphabetentum thematisieren, das in Österreich etwa 3 bis 6 % der inländischen Bevölkerung umfassen soll1. In Österreich ist heute die Unterschrift in § 886 ABGB geregelt, wo über das Gebot der Schriftlichkeit gehandelt wird, das nach herrschender Rechtsmeinung das Gebot der Unterschriftlichkeit bedeutet2. Im Zusammenhang damit erging 1979 sogar ein Erkenntnis unseres Verwaltungsgerichtshofes, das die Unterschrift definiert: „Die Unterschrift ist ein Gebilde aus Buchstaben einer üblichen Schrift, aus der ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, diesen Namen aus dem Schriftbild noch herauslesen kann. Es ist nicht zu verlangen, dass die Unterschrift lesbar ist. Es muss aber ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender, individueller Schriftzug sein, der entsprechende charakteristische Merkmale aufweist und sich als Unterschrift eines Namens darstellt.“3 1   Vgl. Dagmar Gasteiger, Analphabetismus in Österreich. Ursachenforschung und Präventivmaßnahmen (Saarbrücken 2008) 8f. – Schätzungen ergeben etwa 300.000 funktionale Analphabeten. – Abkürzungen: API = Archivio Paleografico Italiano; IP = Italia Pontificia; Zimmermann, PU = Harald Zimmermann, Papst­urkunden 896–1046, 3 Bde. (Bd. 1 und 2 in 2. Aufl.) (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 174, 177, 198, Wien 1988–1989); Zimmermann, Reg. = Harald Zimmermann, Papstregesten 911–1024 (Reg. Imp. II/5, Wien–Köln–Graz 21998). – Die italienische, leicht modifizierte Fassung des Beitrags: Werner Maleczek, Sottoscrizioni autografe come mezzo di convalida (sec. IX–XIII) (Scuola Vaticana di paleografia, diplomatica e archivistica. Prolusioni 8, Città del Vaticano 2014). N. B.: Ohne die sehr gut ausgestattete Bibliothek des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung wäre es nicht möglich gewesen, den hier folgenden Beitrag zu verfassen. Wer thematisch, chronologisch und lokal über enge Grenzen hinaus will, ist auf eine funktionierende Forschungsbibliothek angewiesen. Deshalb sei dem Leiter der Bibliothek, Paul Herold, der aufrichtige Dank für alle Unterstützung ausgesprochen. 2  „Ein Vertrag, für den Gesetz oder Parteiwille Schriftlichkeit bestimmt, kommt durch die Unterschrift der Parteien oder, falls sie des Schreibens unkundig oder wegen Gebrechens unfähig sind, durch Beisetzung ihres gerichtlich oder notariell beglaubigten Handzeichens oder Beisetzung des Handzeichens vor zwei Zeugen, deren einer den Namen der Partei unterfertigt, zustande. Der schriftliche Abschluß des Vertrages wird durch gerichtliche oder notarielle Beurkundung ersetzt. Eine Nachbildung der eigenhändigen Unterschrift auf mechanischem Wege ist nur da genügend, wo sie im Geschäftsverkehr üblich ist“. – Vgl. Michael Schwimann (Hg.), ABGB. Praxiskommentar. 3. Aufl., Bd. 4: § 859–1089 (Wien 2006) 207–212. 3  Erkenntnis Nr. 5423 vom 31. 10. 1979. – Gerhard Drexler (Hg.), Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes, N. F. Jg. 34 (1979). Finanzrechtlicher Teil (Wien 1981) 194–200.

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Mit dieser juristischen Definition ausgestattet, können wir uns nun an unser Thema heranmachen und die eigenhändigen Unterschriften auf mittelalterlichen Urkunden, von denen wir wegen des geringeren Alphabetisierungsgrades der abendländischen Gesellschaft im Mittelalter nicht sehr viele erwarten, untersuchen und diese Form der Beglaubigung in ein System bringen4. Ein zusammenfassendes Werk über die Geschichte der Unterschrift existiert wohl, aber der das Mittelalter betreffende Teil ist knapp ausgefallen5. Die These von den wenigen eigenhändigen Unterschriften steht wohl gleich zu Beginn, aber eines der Ergebnisse der nun vorzubringenden Überlegungen wird sein, dass es gar nicht so wenige waren und dass ihre geographische und zeitliche Verteilung Einsichten über den „Prozeß der Zivilisation“ (nach Norbert Elias) zu geben vermag. Als jemand, der sich Heinrich Fichtenaus Bemühungen, die Historischen Hilfswissenschaften in einen breiteren kulturellen Zusammenhang zu stellen, verpflichtet weiß, versuche ich also, die Neue Kulturgeschichte mit der Geschichte der pragmatischen Schriftlichkeit zusammenzubinden. Die eigenhändige Unterschrift des Ausstellers und die eigenhändigen Unterschriften der Zeugen als Mittel der Beglaubigung sind auch deshalb reizvoll, weil damit über den Bereich der Diplomatik hinaus auch die Paläographie tangiert ist und Beobachtungen über den Grad der Alphabetisierung einer Gesellschaft gemacht werden können. Die eigenhändigen Unterschriften auf Urkunden haben eine lange, bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte. Seit dem 4. Jahrhundert waren die eigenhändigen Namensunterschriften des Ausstellers, der Zeugen und des Schreibers das Beglaubigungsmittel der Privaturkunde schlechthin, und Kaiser Justinian beabsichtigte wohl, diesen Usus zu vereinheitlichen, und forderte ihn konsequenterweise in seiner Rechtskodifikation. Der Zerfall des weströmischen Reiches bewirkte je nach dem Rückgang der Schreibfähigkeit der Bevölkerungsgruppen in dieser Hinsicht Unterschiede im Urkundenbrauch der Nachfolgereiche, aber die eigenhändige Unterschrift blieb im allgemeinen erhalten, freilich nicht mehr bei allen am Rechtsgeschäft beteiligten Personen6. Das graphische Handzeichen mit erläuternder Beischrift trat neben die eigenhändige Unterschrift. Dieser Befund gilt für Privaturkunden des 6. bis 8. Jahrhunderts aus dem Reich der Ostgoten und Langobarden in Italien, dem Wandalenreich in Nordafrika, dem Merowingerreich in Gallien und dem Westgotenreich in Spanien. Die Herrscherurkunden der Nachfolge-Regna knüpften nicht direkt an die römischen Kaiserurkunden und an die Beamtenurkunden der jeweiligen Vorgänger-Provinzen an. Diese hatten nicht die eigenhändige Namens-Unterschrift der höchsten staatlichen Autorität und seiner Beauftragten aufgewiesen, sondern eine eigenhändig ausgeführte Grußformel gezeigt. Die neuartigen Herrscherurkunden verlangten – von wenigen Ausnahmen im langobardischen Bereich 4   Ähnliche Gedanken habe ich in der kombinierten Festschrift zum 80. Geburtstag von Odilo Engels und Gedächtnisschrift für Johannes Laudage geäußert: Werner Maleczek, Die eigenhändigen Unterschriften der Kardinäle – ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit? Mit einem Überblick über eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom Frühmittelalter bis ins 13. Jahrhundert, in: Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen, hg. von Stefan Weinfurter (Ostfildern 2012) 239–299, hier 245–269. 5   Béatrice Fraenkel, La signature. Génèse d’un signe (Paris 1992). Fast ausschließlich französische Literatur und fast keine englischen oder deutschen oder anderssprachigen Titel schränken den Wert ein. Heinz Holzhauer, Die eigenhändige Unterschrift. Geschichte und Dogmatik des Schriftformerfordernisses im Deutschen Recht (Frankfurt 1973), bezieht sich auf den analogen § 126 im deutschen BGB, nicht auf die historische Entwicklung seit dem Mittelalter. 6   Vgl. den Überblick von Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Schu­ len und Studium im sozialen Wandel des Mittelalters, hg. von Johannes Fried (VuF 30, Sigmaringen 1986) 9–34.



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abgesehen – die Unterschrift des Herzogs oder Königs, um Wirksamkeit zu erlangen 7. Der um die Mitte des 6. Jahrhunderts schreibende Anonymus Valesianus mokierte sich über den Ostgotenkönig Theoderich, der so inlitteratus und sic obruto sensu gewesen sei, dass er auch in zehn Jahren seiner Regierung nicht mehr fertig brachte, als mit Hilfe einer in Gold geschnittenen Schablone die vier Buchstaben des Wortes legi auf die Urkunde zu malen8. Auch wenn der Autor hier einen Topos wiedergibt, verdeutlicht er doch die selbstverständliche Forderung nach der Schreibfähigkeit des Königs9. Ein markantes Beispiel der Schreibfähigkeit merowingischer Großer ist die in den Pariser Archives Nationales original erhaltene Urkunde Chlodwigs II. vom 22. Juni 654 für Saint-Denis, die neben der Unterschrift des Königs etwa 50 Unterschriften weltlicher und geistlicher Großer aus Burgund und Neustrien trägt, von denen vier Fünftel eigenhändig sind10. Auch sonst sind autographe Unterschriften auf merowingischen Privaturkunden die Regel. Als ein Beispiel sei jene Schenkungsurkunde von 690/91 angeführt, mit der Uuademir und seine Frau Ercamberta über ihren Grundbesitz verfügten und dabei verschiedene Kirchen im nördlichen Frankreich bedachten11. Wenn auch die Unterschrift des Uuademir nicht unbedingt autograph sein muss, jene seiner Frau Ercamberta, in einer zierlichen Kapitalis gehalten, ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit und wird auch von den Bearbeitern des Bandes der Chartae Latinae Antiquiores, Hartmut Atsma und Jean Vezin, so gelesen (Abb. 1). Mit dem Übergang der Königswürde auf die Karolinger verschwinden die autographen Unterschriften aus den Herrscherurkunden und machen graphischen Handzeichen, Kreuz oder Vollziehungsstrich oder ähnliches, und dem Monogramm Platz12. Unterschiedliche Quel7  Vgl. Lothar Saupe, Die Unterfertigung der lateinischen Urkunden aus den Nachfolgestaaten des Weströmischen Reiches. Vorkommen und Bedeutung, von den Anfängen bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Beiträge zur Geschichte der Unterfertigung im Mittelalter (Münchener historische Studien. Abt. Geschichtl. Hilfswissenschaften 20, Kallmünz Opf. 1983); ders., Unterfertigung mit Handzeichen auf Urkunden der Nachfolgestaaten des Weströmischen Reiches bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts, in: Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden, hg. von Peter Rück (Historische Hilfswissenschaften 3, Sigmaringen 1996) 99–105; Jean Vezin, L’autographie dans les actes du haut Moyen Age, in: Académie des inscriptions et belles-lettres. Comptes-rendus des séances 2004, fasc. 3, 1405–1433. 8  Anonymus Valesianus, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 9, Berlin 1892) 326 Z. 16–20. 9   Vgl. Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter. AfK 40 (1958) 1–65, hier 24–30, wiederabgedr. in: ders., Ausgewählte Aufsätze 3 (MGH Schriften 25/3, Stuttgart 1978) 1–66, hier 25–31. 10   Paris, Archives Nationales, K 2 n. 3. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 6: unter dem Text: CHLODOUIUS (M.) REX SUB. – unter dem Monogramm des Königs: – (C.) Uulfoleudus, pec(cator), sub. (S.R.) – (C.) Amalbercthus consinsi et sub(scripsi), (S.R.) – (C.) Athiliagdus consinsi et sub(scripsi), (S.R.). D Merov 85 = Die Urkunden der Merowinger 1, hg. von Theo Kölzer (MGH Diplomata regum Francorum e stirpe merovingica 1, Hannover 2001) 216–220. – Faksimile in: Chartae latinae antiquiores 13 = France 1, hg. von Hartmut Atsma–Jean Vezin (Zürich–Dietikon 1981) 36–43 Taf. 558. – Vgl. Hartmut Atsma–Jean Vezin, Les autographes dans les documents mérovingiens, in: Gli autografi medievali. Problemi paleografici e filologici. Atti del convegno di studio della Fondazione Ezio Franceschini, Erice, 25 settembre–2 ottobre 1990, hg. von Paolo Chiesa (Quaderni di cultura mediolatina 5, Spoleto 1994) 61–76; Hartmut Atsma–Jean Vezin, Graphische Elemente in den in zeitgenössischer Form überlieferten Dokumenten des Merowingerreiches, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 319–333, hier 322f. – Zu den eigenhändigen Unterschriften der Merowingerzeit vgl. auch Benoît-Michel Tock, Scribes, souscripteurs et témoins dans les actes privés en France (VIIe–début XIIe siècle) (Atelier de recherches sur les textes médiévaux 9, Turnhout 2005) 324–330. 11  Paris, Archives Nationales, K 3 n. 22. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 7: nach den drei letzten Zeilen des Textes: ERCAMBERTA SUB. – darunter: Sign(um), +, Bosittone. – Sign(um), +. Chlodoaldo. Faksimile in: Chartae latinae antiquiores 13 (wie Anm. 10) 94–99 Taf. 571. 12  Vgl. Peter Worm, Karolingische Rekognitionszeichen. Die Kanzlerzeile und ihre graphische Ausgestaltung auf den Herrscherurkunden des achten und neunten Jahrhunderts (elementa diplomatica 10, Marburg 2004).

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Abb. 1: Eigenhändige Unterschrift von Wademir, Ercamberta, 690/91. Paris, Archives Nationales, K 3 n. 2² (s. oben Anm. 11). Photo: Archives Nationales.

len der Karolingerzeit berichten freilich, dass die Herrscher an der Urkundenausstellung persönlich beteiligt waren. Nicht nur die corroborationes der Herrscherurkunden weisen stereotyp darauf hin. Beispielsweise bestätigte nach dem Liber Pontificalis Karl der Große 774 seine Schenkung an die römische Kirche eigenhändig13. Dessen Bestätigung bezüglich der Unterschriften findet sich in der entsprechenden Urkunde Ludwigs des Frommen von 817, deren Text überliefert ist14. Die Annales Bertiniani berichten von der Entstehung des Kapitulars von Meersen 851, dass die zusammengetroffenen karolingischen Brüder dieses propriumque nominum monogrammatibus bestätigt hätten, und am Ende des in die Annalen inserierten Textes heißt es: manibus propriis subterfirmavimus15. Nur ganz vereinzelt setzten Ludwig der Fromme und Ludwig der Deutsche freilich ihren Namen mit eigener Hand auf Urkunden16. Von Karl dem Kahlen sind auf einigen Urkunden +Legimus+ 13  Man verfügt dafür nicht über den Text, sondern nur über die Beschreibung im Papstbuch: Le Liber Pontificalis, hg. von Louis Duchesne, 1 (Paris ²1955) 498 Z. 22f.: Factaque eadem donatione et propria sua manu eam ipse christianissimus Francorum rex eam conroborans, universos episcopos, abbates, duces etiam et grafiones in ea adscribi fecit. 14   … proprie manus signaculo et venerabilium episcoporum atque abbatum vel etiam optimatum nostrorum sub iureiurando promissionibus et subscriptionibus pactum istud nostre confirmationis roboravimus. Vgl. Adelheid Hahn, Das Hludowicianum. Die Urkunde Ludwigs d. Fr. für die römische Kirche von 817. AfD 21 (1975) 15–135, mit Abdruck des Textes 130–135, hier 135; zur Unterfertigung der Großen 117–119. 15   Annales de Saint-Bertin, hg. von Felix Grat et al. (Société de l’Histoire de France, Paris 1964) 60, 63. Weitere Beispiele bei Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation 2 (MGH Schriften 60/2, Hannover 2015) 691ff. 16  Waldemar Schlögl, Die Unterfertigung Deutscher Könige von der Karolingerzeit bis zum Interregnum durch Kreuz und Unterschrift. Beiträge zur Geschichte und zur Technik der Unterfertigung im Mittelalter (Münchener historische Studien, Abt. Geschichtl. Hilfswissenschaften 16, Kallmünz 1978) 61–72.



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-Einträge in roter Farbe erhalten, deren byzantinischer Ursprung nahe liegt17. Hinkmar von Reims formulierte in De divortio Lothari regis et Teutbergae reginae ca. im Jahr 860 an mehreren Stellen die Forderung, der König solle seine Urkunden mit eigener Hand firmieren, aber in Kenntnis der königlichen Kanzleibräuche seiner Zeit zielte er sicherlich auf graphische Zeichen und eine symbolische Handlung18. Danach fehlt bis zur Jahrtausendwende jedes Indiz, dass ein Herrscher im ostfränkisch-deutschen Reich schreibfähig war. Auf eine Ausnahme ist hinzuweisen: Otto III. leistete einmal sicher und einige Male wahrscheinlich autographe Unterschriften19. Die sichere Unterschrift steht auf der Urkunde Papst Gregors V. vom 9. Mai 998, mit der dieser die Entscheidung der römischen Synode über das Schisma in Vic mitteilte. Der Papyrus liegt auch heute noch im Kathedralarchiv von Vic im Norden Spaniens. Neben dem Kaiser unterschrieben eigenhändig noch weitere Personen aus der Umgebung des Papstes und auch Bischof Notker von Lüttich20. Aber Otto III. begründete keinen neuen Kanzleibrauch: Auf deutschen Königs- und Kaiserurkunden ist die eigenhändige Unterschrift des Herrschers bis ins Spätmittelalter die große Ausnahme. Wie Generationen von Teilnehmern am Kurs des Instituts für österreichische Geschichtsforschung intensiv gelernt haben, beschränkte sich die Beteiligung des Herrschers bis Lothar III. (1125–1137) auf den Vollziehungsstrich im Monogramm, wobei auch dies nicht völlig unumstritten ist21. Erst ab Karl IV. tauchen wieder Zeugnisse für die eigenhändige Unterzeichnung be17   Vgl. Werner Ohnsorge, LEGIMUS. Die von Byzanz übernommene Vollzugsform der Metall­ siegeldiplome Karls des Großen, in: ders., Abendland und Byzanz. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums (Weimar 1958) 50–63; Georges Tessier, „Legimus“. BEC 97 (1936) 245f.; Percy Ernst Schramm, LEGIMUS auf karolingischen Urkunden und die Kaiserbullen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in: ders., Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert 1 (MGH Schriften 13,1, Stuttgart 1954) 297–302; Michael D. Metzger, The legimus subscription of Charles the Bald and the question of ­Byzantine influence. Viator 2 (1971) 53–58; Mark Mersiowsky, Graphische Symbole in den Urkunden Ludwigs des Frommen, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 335–383, hier 373–377; ders., Urkunde in der Karolingerzeit (wie Anm. 15) 2 146f. 18   Hinkmar von Reims, De divortio Lotharii regis et Theutbergae reginae, ed. Letha Böhringer (MGH Conc. 4, Suppl. 1, Hannover 1992) 188–192, an mehreren Stellen. Vgl. Laurent Morelle, La main du roi et le nom de Dieu. La validation de l’acte royal selon Hincmar, d’après un passage de son De divortio, in: Foi chrétienne et églises dans la société politique de l’Occident du Haut Moyen Âge (IVe–XIIe siècle), hg. von Jacqueline Hoareau-Dodinau–Pascal Texier (Cahiers de l’Institut d’Anthropologie Juridique 11, Limoges 2004) 287–318. 19  Schlögl, Unterfertigung (wie Anm. 16) 77–89. 20  Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 8: am rechten unteren Rand der Urkunde: (XP) + BENE VALETE – darunter: Ego Otto D(e)i gr(ati)a Roman(orum) imp(erator) aug(ustus) subs(cripsi) – unterhalb der Datumszeile: + Ioh(anne)s prefectus et comes palatii atque dativus iudex; Zimmermann, PU 1 697–700 Nr. 357; Zimmermann, Reg. 334 Nr. 835. – Faksimile: Paul F. Kehr, Die ältesten Papsturkunden Spaniens (Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1926/2, Berlin 1926) Nr. 7; ders., Pontificum Romanorum Diplomata Papyracea, quae supersunt in tabulariis Hispaniae, Italiae, Germaniae (Rom 1929) Nr. 10; Giulio Battelli, Acta pontificum (Exempla scripturarum 3, Città del Vaticano 1965) Nr. 3 (teilweise). 21   Wilhelm Erben, Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters in Deutschland, Frankreich und Italien (Handbuch d. mittelalterlichen u. neueren Geschichte IV/1, München–Berlin 1907, Nachdr. Darmstadt 1967) 149–152. – Für Heinrich IV. zweifelte der ursprüngliche Bearbeiter der Diplome, Dietrich von Gladiss, dies sehr an: Die Urkunden Heinrichs IV. Teil 3: Einleitung, Nachträge, Verzeichnisse, hg. von Alfred Gawlik (MGH DD 6/3, Hannover 1978) S. XCIV. Vgl. Theo Kölzer, Die ottonisch-salische Herrscherurkunde, in: Typologie der Königsurkunden. Kolloquium der Commission Internationale de Diplomatique in Olmütz, 30. 8.–3. 9. 1992, hg. von Jan Bistřický (Olmütz 1998) 127–142, hier 131; Peter Rück, Bildberichte vom König. Kanzlerzeichen, königliche Monogramme und das Signet der salischen Dynastie (elementa diplomatica 4, Mar-

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stimmter Urkundenarten und königlicher/kaiserlicher Briefe auf, wobei gerade bei diesem Herrscher aus dem luxemburgischen Hause das französische Vorbild wahrscheinlich gemacht werden kann22. Autographe Zeugnisse der Könige Wenzel, Ruprecht und Sigmund fehlen überhaupt. Solche sind erst wieder von Albrecht II. überliefert, merkwürdigerweise jedoch nicht aus dessen Königszeit, sondern erhalten blieb eine eigenhändig geschriebene Urkunde desselben als Herzog von Österreich aus dem Jahre 143523. Bedeutung gewann die Eigenhändigkeit für die römisch-deutsche Königs- und Kaiserurkunde jedenfalls erst mit Friedrich III. Der Befund bei den Urkunden deutscher Fürsten ist noch deutlicher. Da das Siegel das allgemein geforderte und akzeptierte Beglaubigungsmittel war und die Schreibfähigkeit des Hochadels lange Zeit zu wünschen übrig ließ, muss man auch bis ins Spätmittelalter auf eigenhändige Unterschriften deutscher Fürsten auf Urkunden warten. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Karl der Gute von Flandern (1119–1127) versah zweimal persönlich Urkunden mit seinem Namen Karolus24. Der Hinweis auf den österreichischen Herzog Rudolf IV. den Stifter (1358–1365) begegnet auf allen Stufen der in Österreich erteilten Urkundenlehre. Der Habsburger setzte auf die meisten seiner Urkunden eine kürzere Form der eigenhändigen Beteiligung (+ Hoc est verum +) oder eine längere, sowohl in deutscher Fassung (+ Wir der vorgenant hercog Ruodolf sterken disen prief mit dirr vnderschrift vnser selbs hant +) als auch in lateinischer Fassung (+ Nos Ruodolfus dux predictus omnia premissa hac subscriptione manus proprie roboramus + ), wobei er die längere häufig etwas variierte25. Er wurde von seinen Nachfolgern nur ganz vereinzelt nachgeahmt26. burg 1996). – Die eingehende Untersuchung der vorhandenen Originale Ludwigs des Frommen durch Mark Mersiowsky, Urkunde in der Karolingerzeit (wie Anm. 15) 2 694–701, ergab, dass der Normalfall bei diesem Kaiser die eigenhändige Ausführung des Vollziehungsstriches war. Eindeutige Befunde gegen die Eigenhändigkeit lassen sich hingegen nur für Karl den Kahlen sichern. 22  Erben, Kaiser- und Königsurkunden (wie Anm. 21) 258f. – Für die späteren Jahrhunderte, jedoch ohne tiefere Durchdringung und wissenschaftliche Aufarbeitung, sind sie zusammengetragen in: Autogramme zur neueren Geschichte der habsburgischen Länder, hg. von der Direktion des k. u. k. Kriegsarchivs (Wien 1906). 23  HHStA, AUR, 1435 IV 26; Eduard M. Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg 5 (Wien 1841) Nr. 3394. Dieser Hinweis stammt aus Christian Lackner, Die Vielgestaltigkeit der spätmittelalterlichen Herrscherurkunde, in: Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt, hg. von Werner Maleczek (VIÖG 62, Wien 2014) 100. 24   Actes des comtes de Flandre (1071–1128), hg. von Fernand Vercauteren (Commission royale d’histoire. Recueil des actes des princes belges, Brüssel 1938) 247, 259 Nr. 107, 112. Vgl. Thérèse de Hemp­ tinne, Les symboles graphiques dans les chartes du comté de Flandre jusqu’au début du XIIIe siècle, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 508–528, hier 511. 25   Z. B. Wien, Stadt- und Landesarchiv, Bürgerspital-Urkunden, Nr. 209, 1361 VII 15 (ungedruckt). Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 9: unter der letzten Zeile: + Wir der vorgenant herzog Ruodolf sterken disen prief mit dirr vnderschrift vnser selbs hant +. – Vgl. Franz Kürschner, Die Urkunden Rudolfs IV. von Österreich (1358–1365). Ein Beitrag zur speciellen Diplomatik. AÖG 49 (1872) 1–88, hier 22–26; Winfried Stelzer, Zur Kanzlei der Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg (1282–1365), in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongreß für Diplomatik, München 1983 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 35, München 1984) 297–313, hier 309f.; Alexander Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation. Die Habsburger im 14. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 12, Ostfildern 2003) 199. – Mehrere Faksimile, die beide Formen und die Varianten zeigen: Franz Huter, Herzog Rudolf der Stifter und die Tiroler Städte (Tiroler Wirtschaftsstudien 25, Innsbruck 1971) 28, Faksimile Taf. I, II, III, V, VI, VII, IX, X, XI, XIII, XIV, XV, XVI, XVIII. 26  Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzöge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien 2002) 229.



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Unter den wittelsbachischen Herzögen des Spätmittelalters findet man bei Heinrich XIV. von Niederbayern den ganz singulären Fall einer im Jahr 1333 aus Gründen der Geheimhaltung zur Gänze eigenhändig geschriebenen Urkunde27, aber sonst muss man bis ins frühe 15. Jahrhundert warten, bis eigenhändige Unterschriften auftauchen. Herzog Ludwig der Bärtige, der Bruder der französischen Königin Isabeau, ahmte nach seiner Rückkehr aus Frankreich im Jahre 1415 den dort geübten Brauch der Urkundenausfertigung nach und verwendete die eigenhändige Unterschrift und ein graphisch gestaltetes Handzeichen, das in abgewandelter Form auch bei späteren bayerischen Herzögen vorkommt28. Auch sonst nimmt im 14. Jahrhundert die autographe Unterfertigung und Abfassung von Schriftstücken zu. Dazu nur drei Beispiele aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen: Im Jahr 1398 ließ der französische König Karl VI. den Entzug der Obödienz der französischen Kirche gegenüber dem avignonesischen Papst Benedikt XIII. durch eine Versammlung des Klerus in Paris vorbereiten, auf der alle Teilnehmer ihre Meinung schriftlich niederlegen und damit abstimmen sollten. Durch einen Glücksfall der Überlieferung sind alle 293 autographen Stimmzettel mit den persönlichen Unterschriften erhalten geblieben29. Im Königreich Aragón nahm die persönliche Beteiligung des Herrschers an der Urkundenausfertigung und der autographe Anteil an administrativen Dokumenten im 14. Jahrhundert ebenfalls signifikant zu. Peter IV. „el Ceremonioso“ (1336–1387) erhielt eine sorgfältige Schreibausbildung, die sich dann in zahlreichen Fällen nachweisen lässt. Er bearbeitete nicht nur persönlich die Ordinancions de la casa i cort von 1344, sondern hinterließ viele eigenhändige Unterschriften auf Urkunden und anderen Dokumenten und schrieb seit 1344 auch wichtige an Päpste sowie hohe geistliche und weltliche Würdenträger des Königreiches mit eigener Hand30. Vergleichbar ist die eigenhändige Unterfertigung auf Briefen des englischen Königs Edward III. an Papst Johannes XXII. Dieser hatte ihn um ein Zeichen gebeten, welcher seiner Wünsche ihm ein besonderes Anliegen sei, und der König wies auf das eigenhändige Pater sancte in seinen Briefen hin31. 27   Vgl. Ludwig Schnurrer, Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem der Herzöge von Nieder­ bayern 1255–1340 (Münchener historische Studien, Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften 8, Kallmünz 1972) 33f.; Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 16, München 1983) 80–85, hier 81 Nr. 83. 28  Beatrix Ettelt-Schönewald, Chirogramm und Devise: Zu den Handzeichen der Herzoge von BayernLandshut im 15. Jahrhundert, in: Graphische Symbole (wie Anm. 25) 559–570; Joachim Wild, Vom Handzeichen zur Unterschrift: Zur Entwicklung der Unterfertigung im Herzogtum Bayern. ZBLG 63 (2000) 1–21; Matthias Bader, Die Urbare Herzog Ludwigs des Gebarteten von Bayern-Ingolstadt. AfD 54 (2008) 147–203, hier 148. – Aus den Dreißigerjahren des 15. Jahrhunderts gibt es eigenhändige Briefe Herzog Albrechts III. von Bayern-München und Herzog Ludwigs VIII. von Bayern-Ingolstadt, vgl. Julian Holzapfl, Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern. Schriftlichkeit, Sprache und politische Rhetorik (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 159, München 2008) 77–79. 29  Paris, Archives Nationales, J 518, fol. 450v: Bischof Iterius von Poitiers verspricht eigenhändig den Entzug der Obödienz gegenüber Papst Benedikt XIII. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 10: ab der dritten Zeile von unten: (sub pro)missionibus per eos factis quod regi assistant (in presenti) negotio, videlicet in via subtractionis et hoc (potissime) ad finem ne in processibus faciendis per papam domini cardinales non assisterent eidem (etc) Iterrius episcopus Pictavensis. – Le vote de la soustraction d’obédience en 1398 1: Introduction. Édition et fac-similés des bulletins de vote, hg. von Hélène Millet–Emmanuel Poulle (Paris 1988) 99 Nr. 56. – Der angekündigte zweite Band ist nie erschienen. 30  Vgl. Francisco M. Gimeno Blay, Escribir, reinar. La experiencia gráfico-textual de Pedro IV el Ceremonioso (1336–1387) (Madrid 2006) (mit Liste der autographen Zeugnisse:195–233). 31  Nach The Liber Epistolaris of Richard of Bury, hg. von Noel Denholm-Young (Oxford 1950) Taf. 1. Vgl. David Ganz, „Mind in Character“: Ancient and Medieval Ideas about the Status of the Autograph as

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Kehren wir ins Frühmittelalter und zu den nicht-königlichen, nicht-fürstlichen Privaturkunden zurück. Auf jenen des ostfränkischen/deutschen Reiches sind autographe Unterschriften vom 8. bis ins 11. Jahrhundert ausgesprochen selten. Auf den zahlreichen alemannischen/rätischen Urkunden des 8. und 9. Jahrhunderts, die ausschließlich aus dem St. Gallener Archiv stammen und breite Schriftkenntnisse im Umkreis der Abtei belegen, erscheinen in der Regel die am Rechtsgeschäft Beteiligten nicht mit ihrer eigenen Schrift, und es gibt keine einzige eigenhändige Zeugenunterschrift, auch nicht in Form eines Zeichens32. Auch aus dem 10. Jahrhundert findet man kaum Eigenhändiges auf ostfränkisch/deutschen Privaturkunden, und auch Unterschriften von geistlichen Würdenträgern sucht man vergeblich33. Erst im 11. Jahrhundert taucht die Eigenhändigkeit, vor allem bei geistlichen Ausstellern und geistlichen Zeugen, sporadisch auf, aber auch im 12. Jahrhundert sind es nur wenige Fälle. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle war die eigenhändige Unterschrift durch Aussteller oder Zeugen gar nicht in Aussicht genommen34. Auf die Unterschriften von Geistlichen werden wir noch zurückkommen. Auf den Urkunden der westfränkischen/französischen Könige fehlen deren eigenhändige Unterschriften bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Die ersten Spuren führen zu Philipp V. (1317–1322), Johann der Gute (1350–1364) unterschrieb vereinzelt seine litterae clausae, Karl V. (1364–1380) folgte ihm darin – auch nicht sehr häufig – und unterschrieb gegen Ende seiner Regierungszeit sogar manchmal auf die in der Kanzlei ausgestellten litterae patentes. Die königlichen Briefe Karls VI. (1380–1422) und Karls VII. (1422–1461) weisen dann regelmäßig die eigenhändige Unterschrift auf 35. Der eran Expression of Personality, in: Of the Making of Books. Festschrift Malcolm B. Parkes, hg. von Pamela R. Robinson–Rivkah Zim (Aldershot 1997) 280–299, hier 290. 32   Chartae latinae antiquiores 2: Switzerland, St. Gall–Zürich, hg. von Albert Bruckner–Robert Marichal (Dietikon–Zürich 1956) XI; Chartae Latinae antiquiores. Facsimile-edition of the Latin charters. Ser. 2, Switzerland 5, 6, 7 = Sankt Gallen 3, 4, 5, hg. von Peter Erhart–Bernhard Zeller–Karl-Josef Heidecker (Dietikon– Zürich 2009, 2010, 2011), und die rezente Edition mit den dazugehörigen Abbildungen Peter Erhart–Julia Kleindienst, Urkundenlandschaft Rätien (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 7 = ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 319, Wien 2004), dabei zur fehlenden Eigenhändigkeit von Zeugen und Auftraggebern, bes. 47, 53. Vgl. Fichtenau, Urkundenwesen 60, 67; Rosamond McKitterick, The Carolingians and the Written Word, (Cambridge 1989) 81–126. Die von dieser postulierte ausgeprägte Schreibfertigkeit von Laien ist umstritten, vgl. Michael Richter, ... quisquis scit scribere, nullum potat abere labore. Zur Laienschriftlichkeit im 8. Jahrhundert, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von Jörg Jarnut (Beih. der Francia 37, Sigmaringen 1994) 393–404. – Ein breites Panorama über das Privaturkundenwesen des 8. bis 10. Jahrhunderts bietet der Sammelband: Die Privaturkunden der Karolingerzeit, hg. von Peter Erhart–Karl-Josef Heidecker–Bernhard Zeller (Dietikon–Zürich 2009), darin zum hier angesprochenen Thema Peter Erhart, Erratische Blöcke am Alpennordrand ? Die rätischen Urkunden und ihre Überlieferung 161–171. Als Begleitband zu einer entsprechenden Ausstellung im St. Galler Stiftsarchiv im Jahre 2006 erschien: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart–Lorenz Hollenstein (St. Gallen 2006), in deren Beiträgen das St. Galler Material im Mittelpunkt steht. 33   Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 2 (Berlin ²1912) 190f., 209f. 34  Bernhard Schmeidler, Subjektiv gefaßte Unterschriften in deutschen Privaturkunden des 11. bis 13. Jahrhunderts. AUF 6 (1918) 194–233, hier 219f. Bei den 100 herangezogenen Beispielen (zwischen 1008 und 1278) waren nur 19 auf Eigenhändigkeit zu überprüfen. Nur bei 8 Urkunden waren die Unterschriften ganz oder zum Teil eigenhändig, die früheste aus dem Jahr 1146 (Salzburg). 35   Claude Jeay, La naissance de la signature dans les cours royale et princières de France (XIVe–XVe siècle), in: Auctor et auctoritas: Invention et conformisme dans l’écriture médiévale. Actes du colloque tenu à l’Université de Versailles–Saint-Quentin-en-Yvelines (14–16 juin 1999), hg. von Michel Zimmermann (Mémoires et documents de l’École des Chartes 59, Paris 2001) 457–475; ders., La signature comme marque d’individuation. La chancellerie royale française (fin XIIIe–XVe siècle), in: L’individu au Moyen Age, hg. von Brigitte Miriam Bedos-Rezak (Paris 2005) 59–77, hier 63.



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 169

ste französische König, von dem vollständig eigenhändige Schriftstücke erhalten sind, ist Karl V. Von dessen markanter Hand rührt ein Schreiben an den trésorier Pierre Scatisse vom 7. Dezember (1367) und ein vermutlich 1376 entstandener Brief an Margarethe, Gräfin von Flandern36. In England schließlich begegnen königliche Autographen seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts. Bekannt ist eine eigenhändige Instruktion König Heinrich V. Dieser griff im Jänner 1416 nachweislich selbst zur Feder, um seinem Gesandten John Tiptoft politisch brisante Anweisungen zu erteilen37. Am königlichen Handzeichen der kapetingischen Diplome des 11. Jahrhunderts – Kreuz oder Monogramm –, war der Herrscher vereinzelt selbst durch Striche beteiligt, aber schon unter Ludwig VI. (1108–1137) wird dies selten, und die signa und Namen der Zeugen, die ebenfalls unter Ludwig VI. mehr und mehr von den Inhabern der Hofämter verdrängt werden, sind nicht eigenhändig, sondern von der Kanzlei geschrieben worden38. Auf den nicht-königlichen Urkunden des westfränkischen/französischen Reiches nehmen die eigenhändigen Unterschriften des Ausstellers und der Zeugen nach der merowingischen Periode stark ab, verschwinden jedoch nicht zur Gänze. Als autographes Element bleibt das Kreuz in der subscriptio, vor allem im Bereich des Loire-Tales, der Normandie und in der klösterlichen Urkundenausfertigung39. Von der Mitte des 8. Jahrhunderts an unterschreiben die weltlichen Urkundenaussteller nur mehr äußerst selten, wobei als Paradebeispiel Wilhelm von Aquitanien auf der Gründungsurkunde von Cluny im Jahre 910 gelten kann (Abb. 2)40. Auf den von Bischöfen ausgestellten Urkunden sinkt der Anteil der eigenhändigen Unterschriften bis zum Ende des 10. Jahrhunderts, übersteigt aber noch die Hälfte der erhaltenen Originale. Selten sind hingegen die eigenhändig gefertigten Urkunden aus dem monastischen Bereich. Im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert finden sich eigenhändige Unterschriften der Aussteller von Urkunden nur mehr in verschwindend geringer Zahl41. Auch eigenhändige Zeugenunterschriften sind im westfränkisch/französischen Bereich von der Mitte des 8. bis zum frühen 12. Jahrhun36   Schreiben an Pierre Scatisse: Musée des Archives nationales. Documents originaux de l’histoire de France exposés dans l’Hôtel Soubise (Paris 1872) 219f. Nr. 386 (mit Facs. 221); der Brief an Margarethe von Flandern (11. November ?): Mandements et actes divers de Charles V (1364–1380) dans les collections de la Bibliothèque Nationale, ed. Léopold Delisle (Paris 1874) 662f. Nr. 1276 A. – Vgl. dazu Jeay, Naissance 461. – Diese Hinweise verdanke ich wieder Lackner, Vielgestaltigkeit (wie Anm. 23) 99f. 37   Instruktion für John Tiptoft: … And for the secretnesse of this matere I have writen this instruccion [wyth myn owne] hand and seled hit with my signet of the [e]gle (British Library London, Cotton Caligula D V fol. 16r– 17r; vgl. Pierre Chaplais, English Medieval Diplomatic Practice 1/1 [London 1982] 98–101 Nr. 65). 38  Georges Tessier, Diplomatique royale française (Paris 1962) 220–222, 249, 302, 307. – Jean Dufour, Recueil des actes de Louis VI roi de France (1108–1137) 3: Introduction (Chartes et diplômes relatifs à l’histoire de France, Paris 1993) 145ff.; ders., Typologie des actes de Philippe Ier (1060–1108) et de Louis VI (1108–1137), rois de France, in: Typologie der Königsurkunden (wie Anm. 21) 65–99, hier 68, 72. 39  Vgl Michel Parisse, Croix autographes de souscription dans l’Ouest de la France au XIe siècle, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 143–155; Tock, Scribes (wie Anm. 10) 351–360; ders., Les actes entre particuliers en Bourgogne méridionale (IXe–XIe siècles), in: Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 32) 121–134. 40   Paris, Bibliothèque Nationale de France, Coll. de Bourgogne 76, n. 5. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 11: nach vier Zeilen Text: …cae ciuitatis publice. (+) UUILELMUS EGO HANC (AUCTORITATEM FIERI ET FIRMARE ROGAUI AC MANU PROPRIA RO)BORAUI – Signum Ingelbergae uxoris eius – darunter: ATTO PECCATOR EP(ISCOPU)S (in Tironischen Noten) subscripsit. Faksimile, Transkription und Kommentar bei Hartmut Atsma–Jean Vezin, Les plus anciens documents originaux de l’abbaye de Cluny 1 (Monumenta palaeographica medii aevi, Ser. Gallica, Turnhout 1997) 33–39 Nr. 4. 41   Einige Beispiele von 1027, 1032, 1109 bei Parisse, Croix autographes (wie Anm. 39) 143f.

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Abb. 2: Gründungsurkunde von Cluny, 910. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Coll. de Bourgogne 76, n. 5 (s. oben Anm. 40). Photo: Bibliothèque Nationale.

dert eine ausgesprochene Rarität, obwohl die langen, nun vom Schreiber der Urkunde selbst angebrachten Zeugenlisten zur Standardausstattung der Urkunden des 10. und 11. Jahrhunderts gehören42. Im weiteren findet man keine eigenhändigen Aussteller- und Zeugenunterschriften mehr auf französischen Urkunden – das Siegel verdrängt sie als Beglaubigungsmittel. Mehr als Kuriosum ist es wohl zu bewerten, dass in der Königskanzlei der Könige von Jerusalem unter Balduin I. (1100–1118) und in den ersten Jahren Balduins II. (1118–1131) wohl nach dem Vorbild der Urkunden der niederlothringischen Herzöge seit Gottfried dem Bärtigen (1065–1069) die eigenhändige Unterschrift des Königs einige Male auf Diplome gesetzt wurde43. Katalonien zeigt vom späten 9. bis etwa zum Ende des 11. Jahrhunderts einen relativ hohen Grad an Eigenhändigkeit bei der Unterfertigung der Urkunden. Diese betrifft sowohl die Aussteller als auch die Zeugen – so wie dies die Lex Wisigothorum vorgeschrieben hatte –, die ihren Namen oft mit graphischen Zeichen und die Unterschriftleistung mit kommentierenden Worten versehen. Sowohl die Namen als auch die Signa sind in hohem Maße eigenhändig. Man hat in den überlieferten Urkunden einen ansehnlichen Anteil 42  Tock, Scribes (wie Anm. 10) 330–339, 346–351; Benoît-Michel Tock, La mise en scène des actes en France au Haut Moyen Âge. FMSt 38 (2004) 287–296, hier 289–292. – Ein weiter ausgeführtes Beispiel: Jan Hendrick Prell, Les souscriptions des chartes des comtes de Poitiers, ducs d’Aquitaine (1030–1137). BEC 155 (1997) 207–219. Ähnliches schon bei Olivier Guillot, Le Comte d’Anjou et son entourage au XIe siècle 2: Catalogue d’actes et index (Paris 1972) 5–20. 43  Hans Eberhard Mayer, Die Kanzlei der Könige von Jerusalem 1 (MGH Schriften 40/1, Stuttgart 1996) 24–29; ders., Die Urkunden der lateinischen Könige von Jerusalem 1 (MGH Diplomata regum latinorum Hierosolymitanorum 1, Hannover 2011) 51f. mit Bezug zu D. 42 (28. 9. 1110), 165–168 (Orig.), D. 52 (20. 6. 1112), 177–179 (Nachzeichnung), und D. 56 (25. 3. od. 6. 4.–31. 8. 1114), 183–185 (Kopie).



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 171

an Stücken festgestellt, bei denen keine kirchlichen Institutionen, sondern nur Laien beteiligt waren. Erst mit der allmählichen Etablierung des katalanischen Notariates im 12. Jahrhundert gehen die autographen Namen und Notizen auf den Urkunden zurück44. Das Urkundenwesen auf den britischen Inseln weist den geringsten Grad an eigenhändiger Unterfertigung auf. Die angelsächsischen Königsurkunden kennen weder Siegel noch Monogramm, keine autographen Unterschriften oder andere graphische Zeichen. Zeugenreihen stammen immer vom Schreiber der Urkunde45. Das Siegel wurde in England seit dem 10. Jahrhundert auch in nicht-königlichen Urkunden das wichtigste Beglaubigungsmittel. Für eigenhändige Unterschriften des Ausstellers oder der Zeugen bestand kein Bedarf. Dies änderte sich nach der normannischen Eroberung von 1066 nur geringfügig. Die Belege bis zum frühen 13. Jahrhundert sind sehr spärlich46. Beispielsweise weist eine in doppelter Ausfertigung vorliegende Aufzeichnung über die Synode von Winchester aus dem Jahr 1072 jeweils autographe signa und eigenhändige Unterschriften von englischen Bischöfen und dem päpstlichen Legaten auf, während sich Wilhelm der Eroberer und seine Frau Mathilda mit dem autographen signum in Form eines Kreuzes, das man auch von zahlreichen anderen Urkunden her kennt, begnügten 47. Aus dem 44   S. z. B. die Verkaufsurkunde des Diakons Hugubertus, 990, Barcelona, Archivo della Corona de Aragón, Cancelleria, Pergamins Ramon Borell, 2. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 12: unter dem Text: (C.) UGUBERTO LEUITA qui ista in indictione sec(unda) et firmare rogavi. Sign (C.) leopardo / Sign (C.) uuadamiro – (C.) PAVLO (C.) – Rafael Conde–Josep Trenchs Odena, Signos personales en las suscripciones altomedievales catalanas, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 443–452; Roger Collins, Literacy and the laity in early medieval Spain, in: The Uses of Literacy in Early Medieval Europe, hg. von Rosamond McKitterick (Cambridge 1990) 109–133, hier 125 (Grafen von Barcelona scheinen schreibgeübt); Michel Zimmermann, Écrire et lire en Catalogne (IXe–XIIe siècle), 2 Bde. (Bibliothèque de la Casa de Velazquez 23, Madrid 2003), hier bes. 1 83–112; ders., L’acte privé en Catalogne aux IXe–Xe siècles: portée sociale, contraintes formelles et liberté d’écriture, in: Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 32) 193–212, bes. 203; Adam J. Kosto, Laymen, Clerics, and Documentary Practices in the Early Middle Ages: The Example of Catalonia. Speculum 80 (2005) 44–74; Mersiowsky, Urkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 15) 2 813f., 823–830 (genaue Unter­ suchung der eigenhändigen Signa). – Lex Visigothorum II. 5. 1, hg. von Karl Zeumer (MGH LL nation. Germ. 1, Hannover–Leipzig 1902)106. 45  Vgl. Peter Chaplais, The Origin and Authenticity of the Royal Anglo-Saxon Diploma. Journal of the Society of Archivists 3/2 (1965) 48–61, hier 52, wiederabgedr. in: Prisca Munimenta. Studies in Archival and Administrative History pres. to A. E. J. Hollaender, hg. von Felicity Ranger (London 1973) 28–42, hier 33; Susan Kelly, Anglo-Saxon Lay Society and the Written Word, in: The Use of Literacy (wie Anm. 44) 36–62, hier 42–45; Anton Scharer, Die angelsächsische Königsurkunde im 7. und 8. Jahrhundert (VIÖG 26, Wien u. a. 1982) 18–20, 50f.; und die Zusammenfassung von dems., Das angelsächsische Urkundenwesen (7. bis 9. Jahrhundert), in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 32) 229–237. Darin (234) wird auf eine Nachricht des Beda Venerabilis in seiner Historia Abbatum, der Klostergeschichte von Wearmouth/Jarrow, verwiesen. Danach habe Abt Ceolfrid von Papst Sergius I. (687–701) ein Schutzprivileg erwirkt, das Brittannias perlatum, et coram synodo patefactum, praesentium episcoporum simul et magnifici regis Aldfridi (686–705) subscriptione confirmatum est (Beda, Historia abbatum c. 15, hg. von Charles Plummer [Oxford 1896] 380). Da das Dokument nicht erhalten ist, weiß man nichts über die Eigenhändigkeit. Vgl. auch Simon Keynes, Angelsächsische Urkunden (7.–9. Jahrhundert), in: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter (wie Anm. 32) 97–108. 46   Vgl. Jane Sayers, The Land of Chirograph, Writ and Seal: the Absence of Graphic Symbols in English Documents, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 533–548, hier 535, die die folgenden Beispiele neben anderen wenigen anführt. 47  Palaeographical Society Facsimiles of Manuscripts and Inscriptions, hg. von Edward Augustus Bond– Edward Maunde Thompson (London 1883) 3 Taf. 170; Councils and Synods with other documents relating to the English Church, hg. von D. Whitelock–M. Brett–C.N.L. Brooke, part II: 1066–1204 (Oxford 1981) 601–603. – Regesta Regum Anglo-Normannorum. The Acta of William I (1066–1087), hg. von David Bates (Oxford 1998) 307–314 Nr. 67, 68. Über die signa des Königs und seiner Frau ebd. 19f.

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12. Jahrhundert kennt man einige autographe Kreuze vor den vom Urkundenschreiber aufs Pergament gesetzten Namen der Zeugen, und im Jahre 1200 findet man auf der Urkunde einiger vom Papst bestellter Schiedsrichter im Streit zwischen dem Erzbischof von Canterbury und seinem Kapitel um den Bau der Kollegiatkirche in Lambeth ein eigenhändiges Kreuz und den Beginn der Unterschrift von Ego H(ubert) und Ego G(ottifredus), die der Schreiber der Urkunde komplettierte48. Im Frühjahr 1206 schrieben der Prior von Bath und vierzig Benediktinermönche, die dort als Domkapitel fungierten, an Papst Innocenz III., er möge den neu gewählten Bischof Jocelin bestätigen, wobei sie alle den Brief mit eigener Hand unterschrieben und ein s(ub)s(cripsi) und ein Kreuz hinter ihren Namen setzten49. Von allen hier überflogenen Urkundenlandschaften weist jene Italiens den höchsten Grad an eigenhändigen Unterschriften auf früh- und hochmittelalterlichen Urkunden auf. Die römischen Traditionen sind auf der Apenninenhalbinsel am nachhaltigsten, die Schreibfertigkeit der Laien ist neben jener der Geistlichen länger als anderswo ausgeprägt. Die justinianeischen Normen für das Tabellionat, die die Unterschrift der Parteien und der Zeugen auf dem vom Berufschreiber ausgestellten Dokument vorsahen, wurden wohl intensiver tradiert und überstanden offensichtlich die Brüche des 6. und 7. Jahrhunderts. Der Zerfall des Imperiums, die Eroberung weiter Teile Italiens durch die Langobarden und dann Karl den Großen, die politische Aufsplitterung und die Beeinflussung durch das transalpine und byzantinische Kaisertum verursachten wohl viele Veränderungen des Urkundenwesens, doch die Tradition des selbständig tätigen Urkundenschreibers, mit dessen Hilfe private und auch öffentliche Rechtsgeschäfte fixiert wurden, lebte ungebrochen weiter. Wie man sich das Fortwirken des antiken Tabellionates in der Langobardenzeit vorzustellen hat, ist nicht klar, und wie die in karolingischen Kapitularien postulierte eidliche Bindung der Notare an die öffentliche Gewalt tatsächlich wirkte, ist auch nicht leicht zu verfolgen. Aber die eigenhändigen Unterschriften auf den von den Notaren ausgestellten Urkunden sind ein durchgängiges Element. Obwohl von den Privaturkunden der Langobardenzeit im Herzogtum Spoleto kein einziges Original überliefert ist, kann man mit gutem Grund die Eigenhändigkeit der Unterschriften des Ausstellers und der Zeugen postulieren50. Beginnen wir diese Rundreise mit dem Blick auf die Privaturkunden im Süden der Apenninen-Halbinsel. In den langobardischen Fürstentümern Unteritaliens, also Salerno, Capua, Benevent, ist die Eigenhändigkeit der Unterschriften der Auftraggeber und der Zeugen vom späten 8. bis ins 12. Jahrhundert auf Privaturkunden in relativ hohem Maße 48   Christopher R. Cheney, English Bishops’ Chanceries 1100–1250 (Publications of the Faculty of Arts of the University of Manchester 3, Manchester 1950) Taf. 3; Jane Sayers, The Influence of Papal Documents on English Documents before 1305, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, hg. von Peter Herde (AfD Beih. 7, Köln–Wien) 161–199, hier 163 und 183 Taf. 5. 49   Wells, Cathedral Archives, Dean & Chapter, CF 3/41. Abb. bei Sayers, Land of Chirograph (wie Anm. 46) 545; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 13: unter dem Text, in der linken Kolumne: Ego Robertus, subprior subscribo – Ego Aluredus – Ego Vincentius – Ego Haino – Ego Ingo – Ego Johannes supprior … . 50  Francesco Magistrale, La documentazione privata nei ducati di Spoleto e di Benevento: Caratteri e scrittori, in: I Longobardi dei ducati di Spoleto e Benevento. Atti del XVI Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo. Spoleto, 20–23 ottobre 2002, Benevento, 24–27 ottobre 2002 (Atti dei Congressi 16/1, Spoleto 2003) 1 507–544, hier 520f., nach Herbert Zielinski, Studien zu den Spoletinischen „Privaturkunden“ des 8. Jahrhunderts und ihre Überlieferung im Regestum Farfense (BDHIR 39, Tübingen 1972) 208–210.



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Abb. 3: Schenkung des Magenandus, La Cava, 874 VI. La Cava, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale, pergamene 874 giugno (s. Anm. 51).

gegeben (Abb. 3)51, nicht jedoch auf den Beneventaner Fürstenurkunden bis zum Ende des 9. Jahrhunderts. Ebenfalls weisen die Urkunden der südlangobardischen Fürsten der 51   S. z. B. die Schenkung des Magenandus, La Cava, 874 VI. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 15: unter dem Text vier Unterschriften: + ego qui supra Maienando me subscripsi – + ego Sichardus me subscripsi – + ego Petrus teste sum – + ego Rodelgrimus me subscripsi … . Vgl. Armando Petrucci–Carlo Romeo, Scrittura e alfabetismo nella Salerno del IX secolo. Scrittura e civiltà 7 (1983) 51–112 (wiederabgedr. in: Armando ­Petrucci–Carlo Romeo, „Scriptores in urbibus“. Alfabetismo e scrittura scritta nell’Italia altomedievale [Bologna 1992] 143–194); Francesco Magistrale, Il documento notarile nell’Italia meridionale longobarda, in: Scrittura e produzione documentaria nel Mezzogiorno longobardo. Atti del Convegno internazionale di studio Badia di Cava, 3–5 ottobre 1990, hg. von Giovanni Vitolo–Francesco Mottola (Badia di Cava 1991) 257–272, hier 263; Magistrale, Documentazione privata (wie Anm. 50) 535f.; Paolo Bertolini, „Actum Beneventi“. Documentazione e notariato nell’Italia meridionale longobarda (secoli VIII–IX) (Fonti e strumenti per la storia del notariato italiano 9, Milano 2002) bes. 22f. – Gut überprüfbar an den beiden ersten, bis 1132 reichenden Bänden des Codice diplomatico verginiano [Montevergine], hg. von Placido Mario Tropeano (Montevergine 1977, 1978), wo dem Text immer das Faksimile gegenübergestellt ist.

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nachkarolingischen Zeit, die bis zur Eroberung durch die Normannen im 11. Jahrhundert reichen und von denen etwa 90 noch im Original erhalten sind, keine autographen Unterschriften auf52. Hingegen sind die Unterschriften geistlicher und weltlicher Zeugen auf den bischöflichen Urkunden von Salerno und dessen Suffraganen überwiegend autograph53. Auch in der Beneventaner Bischofsurkunde ist die markante Unterschrift des Ausstellers seit etwa 1000 erstmals nachweisbar und bleibt ein konstantes Element bis ins 13. Jahrhundert. Bei dieser Urkunde scheint der Einfluss der Papsturkunde – Benevent war seit dem späten 11. Jahrhundert päpstliche Enklave innerhalb des normannischen Königreiches Sizilien – wirksam geworden zu sein54. Ein vergleichbarer Befund zeigt sich bei den Bischofsurkunden von Troia in der Capitanata55. Bei den Urkunden der normannischen Herrscher Unteritaliens vermischen sich einheimische Traditionen, die vom byzantinischen Urkundenbrauch geprägt sind, mit Usancen, die aus der Normandie importiert wurden. In den Urkunden der Herzöge von Apulien dient die Unterschrift – neben anderem – als Mittel der Beglaubigung, wobei sie ungeachtet der subjektiven Form vom Urkundenschreiber ausgeführt wurde. Vereinzelt – so unter Herzog Wilhelm von Apulien – ist sie allerdings auch autograph. Auch auf anderen normannischen Grafenurkunden des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts finden sich autographe Unterschriften56. Die höchste Entwicklungsstufe erreicht die Herrscherunterschrift unter Roger II., die auf einigen lateinischen Urkunden und auf allen griechischen und arabischen Urkunden durchwegs – und seit der Königskrö52  Weniger als die Hälfte faksimiliert in API, Bd. 15, fasc. 62, 63, 67 (Roma 1956, 1961, 1968). Zur Diplomatik vgl. Herbert Zielinski, Die südlangobardische Fürstenurkunde zwischen Kaiserdiplom und Charta, in: Scrittura e produzione (wie Anm. 51) 191–222. 53  Maria Galante, La documentazione vescovile salernitana: aspetti e problemi, in: Scrittura e produzione (wie Anm. 51) 223–255. 54  S. z. B. die Beneventaner Bischofsurkunde von 1124 VI 3, Übereinkommen mit den Leuten von Montesarchio. Benevent, Biblioteca Capitolare, Cartella 43, pergamena nr. 52; Le più antiche carte del capitolo della cattedrale di Benevento (668–1200), ed. Antonio Ciaralli–Vittorio de Donato–Vincenzo Matera (Regesta chartarum 52, Roma 2002) 180–186 Nr. 60; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 17: unter dem Text: + Ego Roffrait Beneuentanus archiep(iscopus) s(ub)s(cripsi) – + ego Bartholomeus sacerdos s(ub)s(cripsi) – + ego Azzo sacerdos t(estis) – + ego Ormannus sacerdos s(ub)s(cripsi) – + ego Adelferius diaconus – + ego Ursus subdiaconus – + ego qui s(upra) Lavrentius iudex s(ub)s(cripsi) – + ego Alferius clericus s(ub)s(cripsi) – + ego qui s(upra) Vitalis iudex. – Vgl. Franco Bartoloni, Note di diplomatica vescovile beneventana. Parte I: Vescovi e arcivescovi di Benevento (secoli VIII–XIII), in: Atti della Accademia nazionale dei Lincei, Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Rendiconti, ser. 8, 5 (Roma 1950) 425–449 (Neudr. in: ders., Scritti, hg. von Vittorio De Donato–Alessandro Pratesi [Collectanea 6, Spoleto 1995] 245–269); Alessandro Pratesi, Note di diplomatica vescovile beneventana. Parte II: Vescovi suffraganei (secoli X–XIII). Bullettino dell’Archivio paleografico italiano, N. S. 1 (1955) 19–91 (Neudr. in: ders., Tra carte e notai. Saggi di diplomatica dal 1951 al 1991 [Miscellanea della Società Romana di Storia Patria 35, Roma 1992] 325–414); Herbert Zielinski, Eine bischöfliche Siegel­ urkunde des 8. Jahrhunderts. Aspekte und Probleme der beneventanischen Bischofsurkunde, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250. La diplomatique épiscopale avant 1250. Referate zum VIII. Internationalen Kongreß für Diplomatik, Innsbruck, 27. September–3. Oktober 1993, hg. von Christoph Haidacher–Werner Köfler (Innsbruck 1995) 365–376, hier 368. Vgl. die Faksimiles im API, Bd. 13, Taf. 1–14. 55   Francesco Magistrale, Fasi e alternanze grafiche nella scrittura documentaria: i casi di Salerno, Troia e Bari, in: Civiltà del Mezzogiorno d’Italia. Libro, scrittura, documento in età normanno-sveva. Atti del Convegno dell’Associazione Italiana dei Paleografi e Diplomatisti, Napoli–Badia di Cava dei Tirreni, 14–18 ottobre 1991, hg. von Filippo D’Oria (Cultura scritta e memoria storica. Studi di paleografia, diplomatica, archivistica 1, Salerno 1994) 169–196, bes. 178–183. Zahlreiche Beispiele in: Les chartes de Troia 1 (1024–1266), hg. von Jean-Marie Martin (Codice diplomatico pugliese 21, Bari 1976). 56  Zum Beispiel die Grafen und Gräfinnen von Montescaglioso und Tricarico, API, Bd. 3, Taf. 47, 49, 51, 84.



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nung nur noch griechisch – eigenhändig erfolgt. Die späteren Könige unterschreiben ihre Urkunden nicht mehr selbst57. Eigenhändige Zeugenunterschriften von geistlichen und weltlichen Großen gibt es auf den sizilischen Urkunden vereinzelt, so auf dem berühmten Stiftungsprivileg der Palermitaner Capella Palatina von 1140 58 und auf einigen herausragenden Urkunden Wilhelms I. und Wilhelms II. Da in Süditalien der Notar nicht die außerordentliche Entwicklung seines Berufs- und Standeskollegen Nord- und Mittelitaliens durchmachte, sondern immer etwas mehr in der Nähe des einfachen Schreibers der frühmittelalterlichen Jahrhunderte blieb, bedurften die Urkunden des Südens auch, je später desto konsequenter, der Unterfertigung des iudex ad contractus, der für die Glaubwürdigkeit der Urkunde viel wichtiger als der Notar selbst war59. Auf den Privaturkunden Apuliens, Kalabriens und der Insel Sizilien erhält sich wohl deshalb der Gebrauch der eigenhändigen Unterschrift – neben der Verwendung autographer signa – während des gesamten 12. und 13. Jahrhunderts60. In Ober- und Mittelitalien zeigt sich ein deutliches Bild: Auf den von einem Notar geschriebenen Privaturkunden sind die Auftraggeber/Aussteller und die Zeugen vom 8. bis ins 11. Jahrhundert in ihren eigenhändigen Unterschriften in regional und zeitlich unterschiedlicher Dichte häufig präsent61. Statt Einzelbelege anzuhäufen, die mit Hilfe der Bände der Chartae Latinae Antiquiores, des Archivio Paleografico Italiano und des 57  Horst Enzensberger, Beiträge zum Kanzlei- und Urkundenwesen der normannischen Herrscher Unteritaliens und Siziliens (Münchener historische Studien, Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften 9, Kallmünz 1971) 86–89; Carlrichard Brühl, Urkunden und Kanzlei König Rogers II. von Sizilien. Mit einem Beitrag: Die arabischen Dokumente Rogers II. von Albrecht Noth (Köln–Wien 1978) 68f., 239. 58  Zeugenunterschriften auf dem Diplom Rogers II. anlässlich der Gründung der Capella Palatina in Palermo 1140 IV 28; Abb. bei Carlrichard Brühl, Urkunden und Kanzlei König Rogers II. von Sizilien (Köln– Wien 1978) Taf. VIII; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 19: Zeugenunterschriften zwischen den beiden Rotae – + Ego W(illelmus) Dei g(ratia) Sal(e)r(ni) archiep(iscopus) s(ub)s(cripsi) – + Sig(num) man(us) a G(ualterio) Agrigentini ep(iscop)i – + Ego Henric(us) Capuan(us) elect(us) s(ub)s(cripsi) – + Ego Stephan(us) Milite(n)sis ep(iscopu)s s(ub)s(cripsi). – Rogerii regis diplomata latina, hg. von Carlrichard Brühl (Codex di­ plomaticus regni Siciliae II/1, Köln–Wien 1987) 133–138 Nr. 48; Guillelmi I. regis diplomata, hg. von Horst Enzensberger (Codex diplomaticus regni Siciliae 3, Köln u. a. 1996) 60–64 Nr. 22; Karl Andreas Kehr, Die Urkunden der normannisch-sicilischen Könige (Innsbruck 1902) 178–180. Vgl. Carlrichard Brühl, Die normannische Königsurkunde, in: Civiltà del Mezzogiorno d’Italia (wie Anm. 55) 370–382, hier 379. 59  Dieser Vertragsrichter wird eigens thematisiert bei Mario Amelotti, Il giudice ai contratti, in: Civiltà del Mezzogiorno (wie Anm. 55) 359–367; vgl. auch Jean-Marie Martin, Le juge et l’acte notarié en Italie méridionale du VIIIe au Xe siècle, in: Scrittura e produzione documentaria nel Mezzogiorno longobardo (wie Anm. 51) 287–301. 60  S. die Zeugenunterschriften auf der Zusage der Morgengabe durch Heliottus miles 1276 I 13. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 20: drei der elf Zeugenunterschriften in einer Kolumne: – + Petrus Apollonius Iaquinti Barensium iudex – + Maio Nicolai Mattiacotte Barensium iudex – + Iudex Guilelmus domini Risonis – Le pergamene del duomo di Bari (1266–1309), ed. Giambattista Nitto de Rossi–Francisco Nitti di Vito (Codice diplomatico Barese 2, Bari 1899) 55 Nr. 25. Für Sizilien als Beispiel: Alessandra Cannizzaro, Signa e subscriptiones del sec. XIII nel Tabulario di S. Maria di Malfinò. Schede medievali  39 (2001) 31–54. – Für Apulien vgl. die zahlreichen Bände des Codice diplomatico barese bzw. Codice diplomatico pugliese. 61  Vgl. die Aufsatzsammlung von Armando Petrucci–Carlo Romeo, „Scriptores in urbibus“. Alfabetismo e cultura scritta nell’Italia altomedievale (Bologna 1992), darin besonders: Alle origini dell’alfabetismo altomedievale, 13–34, hier 22: Auf den 180 im Codice diplomatico longobardo veröffentlichten original überlieferten Urkunden gibt es 988 Unterschriften, davon etwa ein Drittel autographe, von Geistlichen und Laien. – Scritture e scriventi in Padania: Milano e Bergamo, 57–76, hier 60–64, 71–75: in beiden Städten sind bis zum Ende des 10. Jahrhunderts zahlreiche autographe Unterschriften nachzuweisen. – Il testo negato: Scrivere a Roma fra X e XI secolo, 127–142, hier 128: von der Mitte des 10. Jahrhunderts bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts zahlreiche eigenhändige Unterschriften, dann werden sie die Ausnahme. – In anderer Zielrichtung von Alessandro Pratesi, Genesi e forme del documento medievale (Roma 1979, 2. Aufl. 1999) 52–54, 77–79.

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Museo diplomatico des Mailänder Staatsarchivs für Mailand, Asti, Novara, Verona, Ravenna, Piacenza, Modena, Pisa, vor allem aber für die massenhafte Überlieferung von Lucca erbracht werden kann62, will ich mich auf einen einzigen reichen Urkundenfonds beschränken, und zwar jenen von San Salvatore di Montamiata nordöstlich Grosseto in der Toskana, der heute zum Großteil im Staatsarchiv von Siena aufbewahrt wird und dessen Erschließung Wilhelm Kurze zu verdanken ist. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele, eines von 760, das andere von 90863. Gerade an diesem Fonds lässt sich gut zeigen, dass die Zeugenunterschriften an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert fast schlagartig verschwinden. Als Zwischenergebnis lässt sich konstatieren, dass für die meisten Regionen der Apenninen-Halbinsel ein unerwartet hoher Alphabetisierungsgrad auch nicht-geistlicher Bevölkerungsgruppen vorliegt64. Auch in relativ abgelegenen Regionen wie den Abruzzen lässt sich dies belegen65. 62  Chartae latinae antiquiores, 1. Serie: 23, 24 (Siena), 25 (Florenz, Arezzo), 26 (Pisa), 27 (Asti, Cremona, Novara, Piacenza, Turin), 28 (Genua, Mailand, Triest), 29 (Bergamo, Modena, Nonantola, Padua, Rimini, Venedig u . a.), 30–40 (Lucca mit seinem unvergleichlich reichen Urkundenfonds), vgl. dazu Paola Supino Martini, Sottoscrizioni testimoniali al documento italiano del secolo VIII: le carte di Lucca. BISIM 98 (1992) 87– 108, unter einem etwas erweiterten Horizont dies., Alfabetismo e sottoscrizioni testimoniali al documento privato dell’Italia centrale (sec. VIII), in: Escribir y leer en occidente. Seminario internacional de estudios sobre la cultura escrita, Valencia 14–18 junio 1993, hg. von Armando Petrucci–Francisco M. Gimeno Blay (Valencia 1995) 47–61; dies., Cultura grafica della Langobardia maior, in: Visigoti e Longobardi. Atti del Seminario (Roma 28–29 aprile 1997), hg. von Javier Arce–Paolo Delogu (Roma 2001) 371–389, und das in Anm. 73 zitierte Buch von Andreas Meyer. Die Reihe ist zwischen 1982 und 1993 erschienen. – 2. Serie, seit 1997: 54, 55 (Ravenna, Rom, Vatikan), 56, 57 (Piemont), 58 (Volterra, Pisa), 59, 60 (Verona), 61–63 (Siena), 64–71 (Piacenza), 72–76 (Lucca, von dem noch weitere 12 Bände geplant sind), 88 (Modena). – API, Bd. 3, Taf. 5, 6, 7, 8, 9, 10, 15, 16, 17, 18, 19 (zwischen 810 und 1073), 56, 57, 58, 61 (zwischen 983 und 1073); Bd. 7, Taf. 9, 11, 12, 13, 38, 39, 40, 41, 44, 46 (zwischen 909 und 1126). – Il Museo diplomatico dell’Archivio di Stato di Milano, ed. Alfio R. Natale, 2 Bde. (Milano 1970). 63  Zeugenunterschriften und Notarssubskription auf der Verkaufsurkunde des Arnolf zugunsten von Iobiano, 760 II, ed. Wilhelm Kurze, Codex diplomaticus Amiatinus. Urkundenbuch der Abtei S. Salvatore am Montamiata, 4 Bde., davon der abschließende vierte eine Sammlung von Faksimiles (Tübingen 1978–1982) 1 19f. Nr. 9; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 21: drei Unterschriftenzeilen unter dem Text: – + Ego Appo testis – Signum + manus Guntep(er)to Matjtze scarioni testis – + Ego Zurro testis sup(scri)p(s)i – + Ego q(ui) s(upra) Domnulinus not(arius) post tradita conplivi [et emisi]. – Unterschrift des Abtes von Montamiata und zustimmender Mönche auf dem Libell, mit dem Güter an einen gewissen Petrus übertragen werden, 908 IX 18, ed. Kurze, Codex diplomaticus Amiatinus 1 387–389 Nr. 184; Maleczek, Sottoscrizioni, Abb. 23: vier Unterschriftenzeilen unter dem Text: – + Ego Petrus abb(a)s in unc libelli a me facti manu mea s(ub)s(crip)s(i) – + Ego Petru in unc livelli a me facti manu mea s(ub)s(crip)s(i) – + Ego Moises diac(onus) et monach(us) consensi, manu mea s(ub)s(crip)s(i) – + Ego Eribrandus pr(es)b(iter) et monah(us) consensi et manu mea s(ub)s(crip)s(i). – Die letzten autographen Unterschriften finden sich bei Kurze auf Taf. 112 = Nr. 324 der Edition (2 289–291, Juni 1098). – Zum Autor (1933–2002) und seinen Forschungen in der Toskana und besonders zu Montamiata vgl. Paolo Cammarosano, La lezione di Wilhelm Kurze, in: La Tuscia nell’alto e pieno medioevo. Fonti e temi storiografici „territoriali“ e „generali“. Atti del convegno internazionale di studi di Siena–Abbadia San Salvatore, 6–7 giugno 2003 in memoria di Wilhelm Kurze, hg. von Mario Marrocchi–Carlo Prezzolini (Firenze 2007) 3–14. 64  Vgl. Armando Petrucci, Scrittura, alfabetismo e produzione libraria nell’alto medioevo, in: La cultura in Italia fra tardo antico e alto medioevo. Atti del Convegno, Roma 12–16 novembre 1979, 2 Bde. (Roma 1981) 2 539–551; ders., I documenti privati come fonte per lo studio dell’alfabetismo e della cultura scritta, in: Gli atti privati nel tardo medioevo. Fonti per la storia sociale, hg. von Paolo Brezzi–Egmont Lee (Roma 1984) 251–266; ders., Prospettive di ricerca e problemi di metodo per una storia qualitativa dell’alfabetismo, in: Sulle vie della scrittura. Alfabetizzazione, cultura scritta e istituzioni in età moderna. Atti del convegno di studi (Salerno, 10–12 marzo 1987), hg. von Maria Rosaria Pelizzari (Pubblicazioni dell’Università degli Studi di Salerno. Sezione Atti, Convegni, Miscellanee 24, Napoli 1989) 21–37. 65  Mariano Dell’Omo, Le carte di S. Liberatore alla Maiella conservate nell’archivio di Montecassino 1 (Miscellanea Cassinese 84, Montecasino 2003), bes. CXLI–CLXV mit den Taf. I–XXX, auf denen die Eigen-



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Dieser hohe Alphabetisierungsgrad gilt übrigens auch für Rom. Mit dem Einsetzen der originalen Überlieferung von Privaturkunden in der Stadt seit der Mitte des 10. Jahrhunderts finden sich auf ihnen regelmäßig eigenhändige Unterschriften, wobei der Anteil der Laien sicher mehr als zwei Drittel darstellt66. Seit der Mitte des 11. Jahrhunderts werden die autographen Unterschriften auch dort seltener und bestätigen den Befund, den wir aus anderen Regionen Italiens nun schon kennen. Eine Geschichte der römischen Privaturkunde ist zwar noch zu schreiben, aber mit aller Vorsicht lässt sich sagen, dass der Brauch der eigenhändigen Unterschrift von der römischen Privaturkunde auf die Papsturkunde abgestrahlt haben dürfte67. Ein guter Beleg dafür ist die Urkunde Benedikts VIII. vom 26. April 1017, mit der er ein Kloster bei Tusculum/Frascati an einen Abt Petrus überträgt. Sie ist von dem Scriniar Leo ausgestellt, entspricht aber in Form und Ausstattung einer Privaturkunde, die von mehreren Zeugen autograph unterschrieben ist68. Eine Gruppe von Urkunden soll hier besonders hervorgehoben werden. Es sind die placita, die Gerichtsurkunden, die seit der karolingischen Eroberung die königliche und hochadelige Gerichtsbarkeit dokumentieren, zumeist in der Form einer von einem Notar ausgestellten notitia vorliegen und oft von den Personen unterfertigt sind, die an der Untersuchung oder am Urteil beteiligt waren: der Vorsitzende des Gerichtes, im Idealfall der König oder ein Hochadeliger oder dessen Beauftragter aus der Geistlichkeit oder dem Laienstand, mehrere Richter, Beisitzer, manchmal auch andere Personen. Ein Teil dieser Unterfertigungen ist autograph: Kreuze oder andere graphische Zeichen, ein nicht geringer Teil persönliche Unterschriften69. So ist es zu erklären, dass auch einige der Hochadeligen händigkeit der Unterschriften sehr gut zu sehen ist. Vgl. dasselbe Thema online: Mariano Dell’Omo, Sotto­ scrizioni autografe nelle più antiche carte del monastero di S. Liberatore alla Maiella. Contributo alla storia del rapporto tra scrittura e alfabetismo in Abruzzo nel secolo X. Reti medievali 6 (2005) http://www.rmojs.unina. it/index.php/rm/article/view/178/157 (19. 6. 2013). 66   Carlo Romeo, Il testo negato: scrivere a Roma fra X e XI secolo, in: „Scriptores in urbibus“ (wie Anm. 61) 127–142, beruhend auf seiner ungedruckten Tesi di laurea: Le sottoscrizioni autografe nel documento privato romano (X–XI secolo) (Roma, La Sapienza 1977/78). Mit kleinen Ergänzungen bei Maddalena ­Signorini, Alfabetismo e cultura scritta romana. Un tentativo di percorso diacronico, in: La nobiltà romana nel medioevo, hg. von Sandro Carrocci (Collection de l’École française de Rome 359, Rome 2006) 393–411, hier 402–404. – Schöne Beispiele im API, Bd. 2, Taf. 2, 15, 16, 21 (zwischen 983 und 1076), Bd. 6, Taf. 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 66, 70 (zwischen 982 und 1092). 67  Eine Übersicht über die – relativ bescheidenen – Urkundenfonds stadtrömischer, zumeist kirchlicher Institutionen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts gibt Matthias Thumser, Die Urkunden des Dominikanerinnenkonvents von San Sisto Vecchio in Rom. Überlegungen zur Überlieferungssituation der Stadt Rom im Hochmittelalter. QFIAB 69 (1989) 379–393, mit Ergänzungen bei Ingrid Baumgärtner, Regesten aus dem Kapitelarchiv von S. Maria in Via Lata (1201–1259), Teil I und II. QFIAB 74 (1994) 42–171; 75 (1995) 32– 177. Zur Diplomatik vorläufig Cristina Carbonetti, Tabellioni e scriniarii a Roma tra IX e XI secolo. A ­ SRSP 102 (1979) 77–156, und dies., Gli scriptores chartarum a Roma nell’alto medioevo, in: Notariado público y documento privado de los orígenes al siglo XIV. Acta del VII Congreso Internacional de Diplomática, Valencia 1986 2 (Papers i Documents 7, Valencia 1989) 1109–1137, und Jürgen Petersohn, Kaiserliche Skriniare in Rom bis zum Jahre 1200. QFIAB 75 (1995) 1–31. 68  Zimmermann, PU 2 981 Nr. 516; IP 2 40 Nr. 1; Zimmermann, Reg. 1195. – Sie diente einer ganz ähnlich gestalteten Urkunde Johannes’ XIX. für dasselbe Kloster vom 13. 8. 1027, ebd. 2 1091 Nr. 577; IP 2 40 Nr. 2. 69   I placiti del „Regnum Italiae“, hg. von Cesare Manaresi, 5 Bde. (FSI 92, 96/1, 2, 97/1, 2, Roma 1955– 1960). Sie reichen bis 1100. – Ergänzungen durch Raffaello Volpini, Placiti del „regnum Italiae“ (sec. IX–XI). Primi contributi per un nuovo censimento, in: Contributi dell’Istituto di storia medioevale 3, hg. von Piero Zerbi (Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore. Scienze storiche 12, Milano 1975) 245–520; weiters Placiti mit durchwegs eigenhändigen Unterschriften ab 1100 in: Die Urkunden und Briefe der Markgräfin Mathilde von Tuszien, hg. von Werner Goez–Elke Goez (MGH Laienfürsten- und Dynastenurkunden

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Ober- und Mittelitaliens seit dem zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts mit ihren Unterschriften zu fassen sind, darunter Mitglieder der Dynastie von Canossa und auch die berühmte Markgräfin Mathilde, die ab 1076 auf ihre Urkunden neben das Monogramm Matilda Dei gratia si quid est setzte, aber auch wiederholt mit einer Majuskel-Langzeile unterfertigte (Abb. 4)70. Diese Kombination von Kreuz und Text wurde sogar von ihren Amtsnachfolgern in Tuszien, den Markgrafen Konrad (1124) und Engelbert (1138) und sogar einmal von Kaiser Heinrich V. in entsprechender Adaptation übernommen71. Aber im Laufe des 12. Jahrhunderts kommt diese eigenhändige Unterfertigung aus der Übung72. Das allmähliche Verschwinden der eigenhändigen Unterschriften von den Urkunden während des 12. Jahrhunderts hängt wohl mit der tiefgreifenden Veränderung des Dokumentationssystems zusammen, das seit der Mitte des 11. Jahrhunderts im Laufe von etwa hundert Jahren vor sich ging. Der Notar wurde als Mitglied der maßgeblichen Personengruppe in den werdenden Kommunen, als Rechtskundiger und Gebildeter, gesellschaftlich aufgewertet und durch die höchste kaiserliche oder päpstliche Gewalt legitimiert. Die bisherigen Urkundenformen von carta und notitia wandelten sich nach dem Muster der letzteren zum universell eingesetzten und formal immer genauer reglementierten und mit der publica fides ausgestatteten instrumentum publicum. Die professionelle Herstellung der der Kaiserzeit 2, Hannover 1998) 227 Nr. 77, 249 Nr. 87, 254 Nr. 90, 283 Nr. 104. – Beschreibung der Quelle: François Bougard, La justice dans le royaume d’Italie de la fin du VIIIe au début du XIe siècle (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 291, Rome 1995) 109–113. Das gesamte Buch beruht auf der placitaEdition, die Frage der Eigenhändigkeit der Subskribenten wird angedeutet (124 Anm. 44). Dagegen Armando Petrucci, Scrivere „in iudicio“ nel „Regnum Italiae“, in: „Scriptores in urbibus“ (wie Anm. 61) 195–236. Die Unterschriften mehrerer Grafen des 9. Jahrhunderts in verschiedenen placita bespricht Antonio Ciaralli, Osservazioni paleografiche sulle scritture del conte Leone (801–847) e dei suoi figli Giovanni (844–858) e Sigerato (865–881), in: Scritti per Isa. Raccolta di studi offerti a Isa Lori Sanfilippo, hg. von Antonella Mazzon (Roma 2008) 231–249. – Vgl. auch Hagen Keller–Stefan Ast, Ostensio cartae. Italienische Gerichtsurkunden des 10. Jahrhunderts zwischen Schriftlichkeit und Performanz. AfD 53 (2007) 99–121, mit einer besonderen Besprechung des placitum vom 9. August 964 (104f.) (Manaresi Nr. 152 = DO.I. 269), das von 22 Personen durch eigenhändige Unterschrift und von sieben weiteren durch ihr Zeichen beglaubigt wurde (Petrucci–Romeo, „Scriptores in urbibus“ [wie Anm. 61] Taf. 13); François Bougard, La justice dans le royaume d’Italie aux IXe–Xe siècles, in: La giustizia nell’alto medioevo (secoli IX–XI) (Settimane 44, Spoleto 1997) 133–176; Chris Wickham, Justice in the Kingdom of Italy in the eleventh century, in: ebd. 179–250, und Giovanna Nicolaj, Gli acta giudiziari (secc. XII–XIII): vecchie e nuove tipologie documentarie nello studio della diplomatica, in: La diplomatica dei documenti giudiziari (dai placiti agli acta – secc. XII–XV). Atti del X Congresso internazio­ nale della Commission internationale de diplomatique, Bologna, 12–15 settembre 2001, hg. von Giovanna Nicolaj (Littera antiqua 11 = Pubblicazioni degli Archivi di Stato. Saggi 83, Città del Vaticano 2004) 1–24. 70  Z. B. Eigenhändige Unterfertigung der Mathilde von Tuszien, des Bischofs Bonussenior von Reggio und des Richters Vbaldus, Placitum zugunsten der Leute von Montecchio Emilia, 1114 VI 15; Parma, Archivio diocesano, Archivio vescovile, scaffale Q, nr. 13; DMathild. 132; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 28: unterhalb des Textes: + Matilda Dei gr(ati)a, si quid est, s(ubscrip)s(i) – + Bonussenior s(an)c(t)e Regensis­ ec(c)l(e)sie ep(iscopu)s s(ub)s(cripsi) – Ego Vbaldvs iudex s(ubscrip)s(i). – Caterina Santoro, Le sottoscrizioni dei Signori di Canossa, in: Studi di paleografia, diplomatica, storia e araldica in onore de Cesare Manaresi (Milano 1953) 261–289; Werner Goez, „Mathilda Dei gratia si quid est“: Die Urkunden-Unterfertigung der Burg­ herrin von Canossa. DA 47 (1991) 379–394; Die Urkunden und Briefe der Markgräfin Mathilde von Tuszien, hg. von Goez–Goez (wie Anm. 69) 12f. – Die Urkunden sind nicht selten auch von anderen Personen, zumeist Richtern oder anderen weltlichen oder geistlichen Amtspersonen, eigenhändig unterschrieben, ebd. 158 Nr. 51, 188 Nr. 61, 233 Nr. 80, 235 Nr. 81. 71  Julius von Ficker, Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens 4 (Innsbruck 1874) 143, 150f. Nr. 98, 106. 72   Bresslau, Handbuch (wie Anm. 33) II/1 183.



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 179

Abb. 4: Eigenhändige Unterfertigung der Mathilde von Tuszien, des Bischofs Bonussenior von Reggio und des Richters Vbaldus, Placitum zugunsten der Leute von Montecchio Emilia, 1114 VI 15. Parma, Archivio diocesano, Archivio vescovile, scaffale Q, nr. 13 (s. oben Anm. 70). Photo: Archivio diocesano.

Urkunde und die (beim Notar verbleibende) erstmalige und ebenfalls beweiskräftige Niederschrift im Imbreviaturbuch wurde ausschließlich Aufgabe des Notars, der weder die Unterschriften des Auftraggebers noch jene der Zeugen für die Beglaubigung benötigte73. Auf Ausnahmen ist in diesem italienischen Panorama hinzuweisen. In Venedig blieb viel länger als im benachbarten Oberitalien, das seit dem frühen 12. Jahrhundert fast nur mehr das jüngere Notariatsinstrument kannte, die ältere carta erhalten, die neben der Ausstellerunterfertigung auch Zeugenunterschriften aufwies. Mehrere Tausend Privaturkunden bis etwa 1200 sind überliefert, von denen ein beachtlicher Teil autographe Unterschriften – Dogen, Aristokraten, Geistliche, Kaufleute, Handwerker, keine einzige Frau – aufweisen, insgesamt etwa 4500. Auf dieser breiten Quellenbasis ließ sich eine brillante Kulturgeschichte der Lagunenstadt schreiben74. Bei den seit 1090 im Original überlieferten Urkunden der Dogen finden sich auf den Duccali maggiori dessen eigenhändige Unterschriften, jene der iudices, d. h. seiner engsten Berater, und jene einer unterschiedlich großen Zahl von Unterzeichnern, die bis zu mehreren Hundert reichen kann; auf den Duccali minori, zumeist unter dem Vorsitz des Dogen gefällte Gerichtsurteile oder Verwaltungsmaßnahmen, liest man hingegen nur seine Unterschrift und jene von zweien seiner Ratgeber75. 73  Petra Schulte, Fides publica. Die Dekonstruktion eines Forschungsbegriffes, in: Strategies of Writing. Studies on Text and Trust in the Middle Ages. Papers from „Trust in Writing in the Middle Ages“ (Utrecht, 28–29 November 2002), hg. von Petra Schulte et al. (Utrecht Studies in Medieval Literacy 13, Turnhout 2008) 15–36, weist zu Recht auf den Anachronismus bei der Verwendung der Begriffe hin. Sie sind aber so fest eingewurzelt, dass hier darauf nicht verzichtet wird. Vgl. die auf Reichsitalien bezogene Zusammenfassung durch Andreas Meyer, „Felix et inclitus notarius“. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (BDHIR 92, Tübingen 2000); ders., Art. Notar. Der Neue Pauly 15/1 (2001) 1088–1101. Aus einem anderen Blickwinkel: Petra Schulte, Scripturae publicae creditur. Das Vertrauen in Notariatsurkunden im kommunalen Italien des 12. und 13. Jahrhunderts (BDHIR 101, Tübingen 2003); Attilio Bartoli Langeli, Notai. Scrivere documenti nell’Italia medievale (Roma 2006); Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter (Wien–München 2011) 51–102. 74  Irmgard Fees, Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert (BDHIR 103, Tübingen 2002). 75   Z. B. Eigenhändige Unterschriften des Dogen und fünf seiner Ratgeber, Dogenurkunde von 1189 VI.

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Werner Maleczek Abb. 5: Eigenhändige Unterschriften der consules de placitis auf einem Urteil zugunsten des Klosters S. Stefano in Genua, 1206 XII 8. Genua, Archivio di Stato, Archivio Segreto 1509, nr. 300 (s. oben Anm. 77). Photo: Archivio di Stato

Die nächste Ausnahme betrifft Genua, wo ähnliche wirtschaftliche Bedingungen eine ausgeprägtere Schriftlichkeit breiterer Bevölkerungskreise vorteilhaft erscheinen ließen. Die eigenhändigen Unterschriften – neben dem Notar der Auftraggeber und die Zeugen – beginnen wie anderswo im 10. Jahrhundert, ziehen sich aber dann durch das gesamte 12. und 13. Jahrhundert und stammen sowohl von Geistlichen als auch von Laien. Verstärkt wurde dies durch ein Dekret der Genueser Konsuln von 1144, hinfort alle Notarsakte und besonders jene, in denen die Kommune selbst – etwa bei Gerichtsentscheidungen – involviert war, durch eine gewisse Zahl von periti viri, venustate atque legalitate fungentes eigenhändig unterschreiben zu lassen. Diesen wurde eine Art Amtseid auferlegt76. Tatsächlich finden sich diese Unterschriften nur auf kommunalen Gerichtsurkunden. Dafür lassen sich auf diese Weise Persönlichkeiten mitunter durch Jahrzehnte verfolgen. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts konstatiert man dabei größere Schreibsicherheit, Eleganz und offensichtliches Bemühen um schönere Schriften (Abb. 5)77. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) 24: unterhalb des Textes: – + Ego Aurio Mastro Pet(ro) D(e)i gra(tia) dux m(anu) m(ea) s(ub)s(cripsi) – + Ego Iacob(us) Ciani co(n)siliator m(anu) m(ea) s(ub)s(cripsi) – + Ego Philipp(us) Falet(ro) consiliator m(anu) m(ea) s(ub)s(cripsi) – + Ego D(omi)ni(cus) Sanudo co(n)siliator m(anu) m(ea)­ s(ub)s(cripsi) … . – Ed. Marco Pozza, Gli atti originali della cancelleria veneziana 1 (Venezia 1994) 105f. Nr. 27. Vgl. Irmgard Fees, Das Erscheinungsbild der venezianischen Dogenurkunde im hohen Mittelalter, in: dies., Lebendige Zeichen. Ausgewählte Aufsätze zu Diplomatik, Handel und Schrift im frühen und hohen Mittelalter, hg. von Johannes Bernwieser–Benjamin Schönfeld (Leipzig 2012) 239–252, hier 241. 76   Codice diplomatico della Repubblica di Genova, hg. von Cesare Imperiale di Sant’Angelo, 1: Dal 958 al 1163 (FSI 77, Roma 1936) 171 Nr. 134. – Der Amtseid ebd. 172 Nr. 135: Et subscribam nomen meum in omnibus pactis et contractis scriptis a publicis notariis civitatis Ianue, in quibus ambe partes concorditer me scribere rogaverint, nisi fraudem ibi cognovero. 77   Z. B. Eigenhändige Unterschriften der consules de placitis auf einem Urteil zugunsten des Klosters S. Stefano in Genua, 1206 XII 8. Genua, Archivio di Stato, Archivio Segreto 1509, nr. 300; Maleczek, Sotto­



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 181

Abb. 6: Eigenhändige Unterschrift des Bischofs Tedald von Arezzo auf seinem Privileg zugunsten der Kanoniker, 1028 III 4. Arezzo, Archivio storico della diocesi, Archivio capitolare, canonica, nr. 88 (s. unten Anm. 80). Photo: Archivio storico della diocesi.

Eine weitere Ausnahme betrifft Neapel, sein Hinterland, Amalfi und die zahlreichen Städtchen und winzigen Bistümer an der amalfitanischen Küste. Da sich auch dort die ältere Form der carta sehr lange erhielt und das Kollegium der curiales, der örtlichen Notare, in traditioneller Weise an der urtümlichen Schrift und an den überkommenen Bräuchen festhielt, finden sich autographe Unterschriften seit etwa dem letzten Viertel des 10. Jahrhunderts bis weit in das 13. Jahrhundert78. scrizioni (wie Anm. 1) Abb. 27: unterhalb des Textes: – (S. T.) Ego WLIELMUS Cassinensis notarius iussu predictorum consulum scripsi. – Ego Porconus subscripsi. – Ego Opiço Willelmi Guercii subscripsi. – Codice diplomatico del monastero di Santo Stefano di Genova 2 (1201–1257), ed. Domenico Ciarlo (Fonti per la storia della Liguria 24, Genova 2008) 256 Nr. 300. Vgl. Gabriella Airaldi, Sottoscrizioni autografe e scrittura personale a Genova nei secoli XII e XIII, in: Miscellanea di storia italiana e mediterranea per Nino Lamboglia (Collana storica di fonti e studi 23, Genova 1978) 43–92. Sie stützt sich auf den Bestand der Urkunden von S. Siro und S. Maria delle Vigne im Genueser Staatsarchiv, dazu Le carte del monastero di S. Siro di Genova dal 952 al 1224, hg. von Aurelia Basili–Luciana Pozza (Collana storica di fonti e studi 18, Genova 1974); Gabriella Airaldi, Le carte di Santa Maria delle Vigne di Genova (1103–1392) (Collana storica di fonti e studi 3, Genova 1969). 78   Vgl. Giovanni Cassandro, I curiali napoletani, in: Per una storia del notariato meridionale. Contributi di Mario Amelotti (et al.) (Studi storici sul notariato italiano 6, Roma 1982) 299–374. Beispiele für das Fortwirken ins 14. Jahrhundert: Carla Vetere, Le più antiche pergamene degli ebdomadari conservate nell’Archivio storico diocesano di Napoli. Aevum 74 (2010) 485–517. – Speziell zu Amalfi: Überblick über die stark fragmentierte Überlieferung bis 1100 bei Ulrich Schwarz, Regesta Amalfitana. Die älteren Urkunden Amalfis in ihrer Überlieferung. QFIAB 58 (1978) 1–136 (mit kurzen Bemerkungen zur Diplomatik der Urkunden, 2–10); 59 (1979) 1–157; 60 (1980) 1–156, und die diplomatische Untersuchung durch Riccardo Filangieri, La „charta“

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Auf einen weiteren Strang von autographen Unterschriften auf Urkunden ist hier hinzuweisen. In Oberitalien findet man auf den Urkunden, die vom Bischof veranlasst wurden, in hohem Maße autographe Unterschriften der Bischöfe selbst und des Domklerus, mitunter auch der Nachbarbischöfe79. In der Toskana liefert Arezzo ein besonders schönes Beispiel: Auf den vom Bischof ausgestellten Urkunden sind seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts die eigenhändigen Unterschriften der Bischöfe und der Domkanoniker und anderer Dignitäten die Regel (Abb. 6)80. Für Siena und Bologna lässt sich Ähnliches sagen, mit Beispielen, die ins 12. Jahrhundert reichen81. Auch auf Urkunden, die mit der Kirche von Pisa in Zusammenhang stehen, sind autographe Unterschriften oft und oft bezeugt, wobei neben dem Domklerus auch Richter, rechtskundige Zeugen und andere weltliche Amtsträger zur Feder griffen. Deshalb kennt man etwa die kräftige Hand des berühmten Burgundio von Pisa, des 1193 verstorbenen Richters, Gesandten und Übersetzers von Werken aus dem Griechischen82. Auf den Ravennater Bischofsurkunden des 12. Jahrhunderts findet sich oft eine eigenhändige Notiz legimus, die man als eigenhändigen Vermerk des Erzbischofs deuten kann83. Im Laufe des 12. Jahrhunderts scheint sich in diesem Bereich freilich der Einfluss des päpstlichen Privilegs bemerkbar zu machen, besonders wenn die Unterschriften der Domkleriker in Kolumnen angeordnet sind. Beispiele dafür gibt es aus Ravenna zwischen amalfitana, in: ders., Scritti di paleografia e diplomatica, di archivistica e di erudizione (Pubblicazioni degli Archivi di Stato 69, Roma 1970) 1–48 (erstmalig 1919). 79  Gian Giacomo Fissore, I documenti cancellereschi degli episcopati subalpini: Un’area di autonomia culturale fra la tradizione delle grandi cancellerie e la prassi notarile, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 54) 281–304, hier 283f. 80  Eigenhändige Unterschrift des Bischofs Tedald von Arezzo auf seinem Privileg zugunsten der Kanoniker, 1028 III 4. Arezzo, Archivio storico della diocesi, Archivio capitolare, nr. 88; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 29: unterhalb des Textes hier drei Zeilen mit Unterschriften: – + Teodaldus episcopus huic privilegio a me libentissime f(act)o sub alligatione perpetui anathematis termino correctionis proposito, immo vero secularis penae in me meosque successores compositione siquidem violatores s(ub)s(crips)i – + Ego Petrus p(res)b(ite)r et prepositus consensi et subs(crips)i – Ego Gerardus primicerius interfui et s(ub)s(crips)i – + Ego Bonizo p(res)b(ite)r et canonicus consensi s(ub)s(crips)i – + Venerandus p(res)b(ite)r canonicus s(ub)s(crips)i – Petrus presbiter s(ub)s(crips)i – + Ego Martinus p(res)b(ite)r et canonicus s(ub)s(crips)i. – Ed. Ubaldo Pasqui, Documenti per la storia di Arezzo nel medio evo 1 (Documenti di storia italiana 11, Firenze 1899) 184–187 Nr. 129. Vgl. API, Bd. 13, Taf. 33–47 (zwischen 1009 und 1209). 81  API, Bd. 13, Taf. 17, 18 (1054, 1065). Vgl. Giorgio Cencetti, Note di diplomatica vescovile bolognese, in: Scritti di Paleografia e Diplomatica in onore di Vincenzo Federici, hg. von Raffaello Morghen (Firenze 1944) 157–223 (wieder abgedruckt in: La memoria delle chiese. Cancellerie vescovili e culture notarili nell’Italia centro-settentrionale [secoli X–XIII], hg. von Patrizia Cancian [I florilegi 4, Torino 1995] 131–179); Antonella Ghignoli, Il documento vescovile a Siena nei secoli X–XII. Problemi della tradizione e critica delle fonti, in: Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 54) 347–363. 82   Vgl. Regesto della Chiesa di Pisa, hg. von Natale Caturegli, 1 (bis 1200) (Regesta Chartarum Italiae 24, Roma 1938), mit vielen Hinweisen zu autographen Unterschriften. – Peter Classen, Burgundio von Pisa. Richter – Gesandter – Übersetzer (SB Heidelberg, phil.-hist. Kl. 1974/4, Heidelberg 1974), bes. die Regesten 69–78 und Taf. II–IV. 83   API, Bd. 7, Taf. 67, 68, 70, 85, 86 (zwischen 1163 und 1204). – Nicht ganz sicher ist es bei einzelnen Urkunden des Patriarchen von Aquileja, z. B. jener von 1152, hg. von Josef v. Zahn, Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark 1 (Graz 1875) 336–338 = Documenta patriarchalia res gestas Slovenicas illustrantia. Patriarchenurkunden von Aquileia für Slowenien und die Urkunden der Klöster Sittich und Oberburg (1120 –1251), hg. von Günther Bernhard (Wien 2006) 261. Eine Abb. bei dems., Zur diplomatischen und paläographischen Kritik von Zisterzienserurkunden aus Stična / Sittich und Rein, in: Zisterziensisches Schreiben im Mittelalter – Das Skriptorium der Reiner Mönche, hg. von Anton Schwob–Karin Kranich-Hofbauer (Jahrbuch für Internationale Germanistik A/71, Bern u. a. 2005) 33–51, hier 34f. und 374, lässt Eigenhändigkeit vermuten.



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 183

1133 und 1147, aus Bologna seit 1133, aus dem schon zitierten Benvent von 1124 bis 1276, aus Genua 1178 und 1204, aus Aquileia 1152, aus Mailand seit 1148 und aus anderen italienischen Diözesen, aus dem kastilischen Toledo, aus dem nördlichen Portugal, aber manchmal und vereinzelt auch aus süddeutschen Diözesen, so etwa Salzburg zwischen 1144 und 1204, Passau von 1156 bis 1244. Wie Othmar Hageneder überzeugend nachgewiesen hat, wirkte in diesen Fällen das päpstliche Privileg mit den Kardinalsunterschriften auf die Urkunden der Bischöfe in partibus zurück und kann als Ausdruck einer besonders engen Verbindung zwischen diesen und dem Inhaber der petrinischen Gewalt gedeutet werden84. Auf dieser Linie liegt es, wenn manchmal auch Urkunden von Kardinälen85 und von 84  Z. B. eigenhändige Unterschriften des Salzburger Erzbischofs Eberhard und hoher Dignitäre seiner Diö­zese auf seinem Privileg für Ranshofen, 1162 X 30. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Ranshofen Urk. Nr. 6. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 31: unterhalb des Textes in drei Kolumnen: – + Ego Hugo Salzb(ur)g(ensis) prepositus et archidiaconus s(ub)s(cripsi) – Ego Eberhardus Salzb(ur)g(ensis) archie(pis)c(opus) s(ub)s(cripsi) – Ego Heinricus Garzensis prepositus s(ub)s(cripsi) – + Ego Wernherus abbas de Elhsenbach s(ub)s(cripsi) – + Ego Enzimannus prior s(an)c(t)i Petris s(ub)s(cripsi) – Ego Fridericus decanus et Ostermuntensis pleban(us) s(ub)s(cripsi) … . – Ed. Willibald Hauthaler–Franz Martin, Salzburger Urkundenbuch 2 (790–1199) (Salzburg 1916) 511f. Nr. 364. – Othmar Hageneder, Papsturkunde und Bischofsurkunde (11.–13. Jahrhundert), in: Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 54) 39–63, hier 45f.; Lothar Gross, Über das Urkundenwesen der Bischöfe von Passau im 12. und 13. Jahrhundert, in: MIÖG Ergbd. 8 (1911) 505–673, hier 590–594; Maria Franca Baroni, La documentazione arcivescovile milanese in forma cancelleresca (secc. XI–metà XIII), in: Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 54) 305–317; Olivier Guyotjeannin, L’influence pontificale sur les actes épiscopaux français (Provinces ecclésiastiques de Reims, Sens et Rouen, XIe–XIIe siècles), in: L’Église de France et la papauté (Xe–XIIIe siècle). Die französische Kirche und das Papsttum (10.–13. Jahrhundert). Actes du XXVIe colloque historique franco-allemand (Paris, 17–19 octobre 1990). Publ. par Rolf Grosse (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia 1, Bonn 1993) 83–102, hier 95f.; Dino Puncuh, Influsso della cancelleria papale sulla cancelleria arcivescovile genovese: prime indagini, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen (wie Anm. 48) 39–61, hier 52, 56; Reinhard Härtel, Einflüsse der Papst­ urkunde im Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia, in: ebd. 61–76, hier 65; Wild, Handzeichen (wie Anm. 28) 7f., der sich auf Johann Dorner, Subjektive Zeugenunterschriften auf Privaturkunden des 12. u. 13. Jahrhunderts im Bereich der Kirchenprovinz Salzburg (Diss. München 1973), stützt. Diese Diss. war nicht greifbar. – Das Beispiel aus Toledo: Erzbischof Cerebrun von Toledo teilt Bischof Martin von Albarracín am 1. 3. 1176 das Faktum und seine Weihe zum Bischof der neuen Diözese Albarracín mit. Die im Original erhaltene Urkunde (Toledo, Archivo catedral, X.1.G.2.1) hat vier Kolumnen mit 29 autographen Unterschriften, nahezu allesamt Kleriker aus Toledo. Die Datierungszeile erinnert stark an die große Datierung des päpstlichen Privilegs. Ed.: Juan Francisco Rivera Recio, La erección del obispado de Albarracín. Hispania 14 (1954) 27–52, hier 42f.; vgl. Andreas Holndonner, Kommunikation – Jurisdiktion – Integration. Das Papsttum und das Erzbistum Toledo im 12. Jahrhundert (ca. 1085–ca. 1185) (Diss. masch. Erlangen 2012) 410f. Ich danke dem Autor für den Hinweis und die Einsichtnahme. – Zwei Beispiele aus dem nördlichen Portugal: eine Urkunde aus dem Jahre 1206 für S. Cruz de Coimbra, António Gomes, In Limine conscriptionis. Documentos, chancelaria e cultura no mosteiro de Santa Cruz de Coimbra (seculos XII a XIV) (Coimbra 2000) 1 1161–1163; eine Tauschurkunde von 1225 zwischen dem Kloster S. Paulo de Almaziva (bei Coimbra) und der Kollegiatkirche S. João in Coimbra, Maria José Azevedo Santos, Formas de escrever: subscrições autógrafas num documento do século XIII, in: Sub luce florentis calami. Homenaje a Manuel C. Diaz y Diaz, hg. von Manuela Domínguez Garci (Santiago de Compostela 2002) 278–288, jeweils mit Unterschriften in Kolumne(n). 85  Beispiel: Am 8. August 1159 fällte Heinrich, Kardinalpresbyter von SS. Nereo ed Achilleo, in Pisa ein Urteil im Streit zwischen den Bischöfen von Florenz und Pistoia um das Kloster S. Martino di Coiano. Er führte nicht den Titel eines legatus, wohl aber eines delegatus des Papstes Hadrian IV. und war offensichtlich aus diesem Grund in seine Heimatstadt gereist. Die Sentenz unterschrieben außer ihm selbst eine Reihe von Pisaner Kanonikern und Klerikern, sein Kaplan Amatus und zwei Richter, darunter der berühmte Burgundio von Pisa. Paul Fridolin Kehr, Papsturkunden im östlichen Toskana (Göttinger Nachrichten 1904, Göttingen 1904) 164–166 Nr. 13 (wiederabgedr. in: ders., Papsturkunden in Italien 4 [1903–1911] [Acta Romanorum Pontificum 4, Città del Vaticano 1977] 344–346 Nr. 13); IP 3 122 Nr. 21, teilw. Abb. bei Classen, Burgundio (wie Anm. 82), Taf. IIIb., ganz im Internet http://www.archiviodistato.firenze.it/diplomatico/index. php?opadmin=0&op=fetch&type =pergamena&id=460256 (18. 6. 2013).

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päpstlichen Legaten autographe Unterschriften aufweisen86. Und es ist nicht zu verwundern, wenn in der Nähe von Rom auf Urkunden von (Kardinal-)Bischöfen die Kleriker des Kapitels ihren Namen eigenhändig aufs Pergament setzten. In einer Schenkungsurkunde, mit der Hugolin, Kardinalbischof von Ostia und Velletri, im Oktober 1216 dem Florenserkloster auf dem Monte Mirteto bei Ninfa Güter überließ, die seinem Bistum Velletri gehörten, unterschrieben die Kanoniker und andere Kleriker von Velletri mit mehr oder weniger geübter Hand87. 86  Zwei Beispiele: 1.: Petrus, Kardinalpresbyter von S. Maria in Trastevere, und Gregor, Kardinaldiakon von S. Angelo, die beiden späteren konkurrierenden Päpste Anaklet II. und Innocenz II., unterschreiben die beiden Urkunden für Abt Petrus Venerabilis von Cluny (1123–24) und für Abt Radulf von St-Pierre-aux-Monts (1124 nach März 12) eigenhändig, vgl. Stefan Weiss, Die Urkunden der päpstlichen Legaten von Leo IX. bis Coelestin III. (1049–1198) (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beih. zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 13, Köln u. a. 1995) 85f. Nr. 7, 10, 88. – 2: Beglaubigte Abschrift von DF.II. 80 für S. Maria della Sambucina durch den päpstlichen Legaten, Gregor, Kardinaldiakon von S. Teodoro, von 1208/13, die neben der eigenhändigen Unterschrift des Kardinals auch jene des Erzbischofs Lukas von Cosenza, des Bischofs Bernhard von Belcastro und des Abtes Alexander von S. Spirito in Palermo aufweist, Alessandro Pratesi, Carte latine di abbazie calabresi provenienti dell’Archvio Aldobrandini (StT 197, Città del Vaticano 1958) 195–198 Nr. 79. – Beachtung verdienen die Unterschriften von zwei Legaten Papst Alexanders II./Gregors VII., die auf ihrer Reise durch Frankreich 1072/73 Urkunden vorgelegt bekamen, die sie mit ihrer Unterschrift versahen und damit quasi bestätigten. Nur kopial überliefert ist die Urkunde Alexanders II. für die Bischofskirche Saint-Vincent von Chalon-sur-Saône, wohl von 1072/1073, die offensichtlich auf der Synode von Chalon-sur-Saône am 2. März 1072/1073 vorgelegt und von einigen anwesenden Bischöfen und den Legaten unterschrieben wurde: Ego G. Dei gratia episcopus Ostiensis et sancte Romane ecclesie legatus rogatu domni Rocleni Cabilonensis episcopi legi, laudavi et subscripsi und Raimbaldus apostolice sedis legatus m(anu) s(ua) s(ubscripsit), Gallia Christiana IV, Instr. 229–231; PL 146, 1377; JL 4709; Gallia Pontificia III, 1: Diocèse de Vienne, ed. Beate Schilling (Göttingen 2006) 128 Nr. 162. – Auf der im Original (vielleicht einer wenig späteren Nachzeichnung) erhaltenen Urkunde König Roberts des Frommen (undatiert, erschließbar zwischen 996 und 1016) für die Pariser Abtei Saint-Geneviève finden sich in der rechten unteren Ecke die eigenhändigen Vermerke: Ego Giradus Dei gratia Hostiensis episcopus, sancte Romane ecclesie legatus, legi et subscripsi und Ego Rembaldus apostolice sedis legatus manu mea subscripsi. (Paris, Archives Nationales, K 18B. no. 9/1; ed. Jules Tardif, Monuments historiques. Carton des rois [Paris 1866, Nachdr. Nendeln 1977] 159f. Nr. 251; vgl. William Mendel Newman, Catalogue des actes de Robert II roi de France [Paris 1937] 55–57 Nr. 43). – Ähnlich mit fast gleichem Wortlaut eigenhändig auf der Original-Urkunde Heinrichs I. von Frankreich von 1035 für die Pariser Abtei Sainte-Geneviève unterhalb des aufgedrückten Siegels (Paris, Archives Nationales, K 19/1, 2 [Musée AE/II/98], im Internet-Portal ARCHIM [http://www.culture. gouv.fr/public/mistral/caran_fr.], ediert durch Tardif, Monuments 166f. Nr. 264; Regest bei Fréderic Soehnée, Catalogue des actes d’Henri Ier, roi de France [Bibliothèque de l’École des Hautes Études. Sciences historiques et philologiques 161, Paris 1907] 39 Nr. 46). Ich danke ganz herzlich Noémie Escher, die mir aus ihrer Thèse der École des chartes (2009) „Recueil des chartes de l’abbaye Sainte-Geneviève de Paris ([996–1016]–1200)“ die von ihr angefertigten Editionen der Urkunden (53–57 Nr. 1 und 2) zur Verfügung gestellt und exzellente Photographien geschickt hat. – Die beiden Legaten setzten ihre Unterschrift auch auf eine – kopial überlieferte – Urkunde König Philipps I. für Saint-Martin-des-Champs in Paris von 1067, ed. Maurice Prou, Recueil des actes de Philippe Ier, roi de France (1059–1108) (Chartes et diplômes relatifs à l’histoire de France 1, Paris 1908) 91–94 Nr. 30: Giraldus Hostiensis episcopus postsubscripsi und Rainbaldus, apostolice sedis legatus, similiter. – Zugleich mit dem ausstellenden Bischof Bertrand von Fréjus unterschrieb der Legat eine ebenfalls nur kopial überlieferte Urkunde von 1073 für die Abtei Lérins, ed. Henri Moris, Cartulaire de l’abbaye de Lérins 1 (Paris 1883) 5f. Nr. 7: Domnus Giraldus, gratia Dei Hostiensis episcopus atque Romane ecclesie cardinalis, hanc donationem auctoritate sua fieri iubet ac corroborat. – Hinweise auf die beiden zuletzt genannten Urkunden schon in Das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar (MGH Epistolae selectae 2/1.2., Berlin 1920) 1 9 Anm. 5. – Zur Legation vgl. Theodor Schieffer, Die päpstlichen Legaten in Frankreich. Vom Vertrage von Meersen (870) bis zum Schisma von 1130 (Historische Studien 263, Berlin 1935, Nachdr. Vaduz 1965) 80–88, wo alle hier erwähnten Zeugnisse behandelt werden; Weiss, Urkunden 28f. (ohne Hinweis auf die Unterschriften). 87  Vincenzo Federici, I Monasteri di Subiaco 2: La biblioteca e l’archivio (Roma 1904) 52 Nr. CCLXI; La badia ninfana di S. Angelo o del Monte Mirteto nei Volsci, fondata da Gregorio IX, hg. von Mauro Cassoni. Rivista Storica Benedettina 14 (1924) 175f. – Ich danke der Bibliothek des Monumento Nazionale di S.



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Deshalb mögen in diesem abschließenden Abschnitt einige Sätze über den persönlichen Anteil des Papstes an der graphischen Ausgestaltung seiner Urkunden und über seine eigenhändige Unterschrift und über die Unterschriften der Kardinäle auf päpstlichen Privilegien angefügt werden. Vor dem Pontifikat Leos IX. (1049–1054), in welchem eine fundamentale Neuorientierung der Papsturkunde stattfindet, ist der Befund durch die nicht sehr große und zeitlich ungleich verteilte Zahl von 52 erhaltenen Originalen – die erste littera 788, das erste Privileg 819, insgesamt 25 Papyrus-Urkunden, davon 18 vor der Jahrtausendwende, für die Zeit zwischen 1000 und 1048 30 weitere Exemplare, überwiegend auf Pergament88 – nicht mit erwünschter Sicherheit abzustützen. Seit dem späten 10. Jahrhundert ist der Schlussgruß, das in der Tradition der spätantiken römischen Beamtenurkunde stehende Bene Valete, das unter den Text der Urkunde angefügt wird, vom Papst – nicht immer, aber überwiegend – persönlich ausgeführt worden. Es besteht aus Kapitalis-Buchstaben, ist zweizeilig angeordnet und manchmal von zwei Kreuzen umgeben und manchmal von einem gekürzt geschriebenen subscripsi oder von Interpunktionszeichen gefolgt89. Seit Leo IX. nimmt der persönliche Anteil des Papstes an der Unterfertigung seiner Urkunden erheblich zu, wie dies vor allem durch Joachim Dahlhaus eingehend dargelegt worden ist90. Die Rota, ein ringförmiges graphisches Zeichen, das durch zwei Kreuzesbalken geteilt ist und eine Inschrift und Umschrift trägt und unterhalb des Textes meist auf der linken Seite oberhalb der Datierung steht, wurde von Leo IX. ganz oder fast ganz eigenhändig gefertigt und geschrieben. Sie symbolisierte die päpstliche Unterschrift, ja sie stellte mit dem in ihr enthaltenen Namen, dem Titel und der Devise des Papstes dessen Unterfertigung selbst dar. Das Bene Valete in Monogrammform wurde zunächst ebenfalls unter Beteiligung des Papstes ausgeführt, ging aber schon unter den Nachfolgern Leos IX. in die Zuständigkeit der Kanzlei über (Abb. 7)91. Bis zum Scolastica, Subiaco, und besonders Frau Elia Marano, Subiaco, für die Übermittlung eines Photos der Urkunde. 88  Vgl. die Übersicht bei Paulius Rabikauskas, Die römische Kuriale in der päpstlichen Kanzlei (Miscellanea Historiae Pontificiae 20, Roma 1958) 33–39, 225–230. 89   Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 32: wohl eigenhändiges BENE VALETE auf der Urkunde Benedikts VIII. für Kaiser Heinrich II., 1014 II (14), ed. Zimmermann, PU 2 918–920 Nr. 484. – Vgl. Paul F. Kehr, Die ältesten Papsturkunden Spaniens (Abhandl. d. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1926/2, Berlin 1926) (wieder abgedr. bei dems., Ausgewählte Schriften, hg. von Rudolf Hiestand [Abhandl. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, phil.-hist. Kl. III/250, Göttingen 2005] 2 943–1002, hier 962f.); Faksimile bei Pontificum Romanorum diplomata papyracea, quae supersunt in tabulariis Hispaniae, Italiae, Germaniae, phototypice expressa iussu Pii papae XI (Roma 1928) Taf. XI (e), XII (b); Paul Ewald, Zur Diplomatik Silvesters II. NA 9 (1884) 321–357, hier 323–326; Hartmut Hoffmann, Bamberger Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts (MGH Schriften 39, Hannover 1995) 26f.; Otfried Krafft, Bene Valete. Entwicklung und Typologie des Monogramms in Urkunden der Päpste und anderer Aussteller seit 1049 (Leipzig 2010) 16f. mit Anm. 35, 37. 90   Joachim Dahlhaus, Aufkommen und Bedeutung der Rota in den Urkunden des Papstes Leo IX. AHP 27 (1989) 7–84; ders., Aufkommen und Bedeutung der Rota in der Papsturkunde, in: Graphische Symbole (wie Anm. 7) 407–423; ders., Rota oder Unterschrift. Zur Unterfertigung päpstlicher Urkunden durch ihre Aussteller in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, in: Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters: Äußere Merkmale, Konservierung, Restaurierung, hg. von Irmgard Fees–Andreas Hedwig–Francesco Roberg (Leipzig 2011) 249–303. 91   Eigenhändige Rota und BENE VALETE in Monogrammform Leos IX. auf seiner Urkunde für Gorze, 1051 I 15. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Coll. de Lorraine 981, n. 1. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 33: Im Ring der Rota steht: M(isericord)ia d(omi)ni plena est t(er)ra. – Ed. Julius PflugkHarttung, Acta pontificum Romanorum inedita 1 (Tübingen–Stuttgart 1881) 18f. Nr. 23. Vgl. Otfried Krafft, Bene Valete (wie Anm. 89); ders., Der monogrammatische Schlußgruß (Bene Valete). Über methodische Probleme, historisch-diplomatische Erkenntnis zu gewinnen, in: Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters (wie Anm. 90) 209–247.

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Abb. 7: Eigenhändige Rota und BENE VALETE in Monogrammform Leos IX. auf seiner Urkunde für Gorze, 1051 I 15. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Coll. de Lorraine 981 n. 1 (s. oben Anm. 91). Photo: Bibliothèque Nationale.

Ende des Jahrhunderts behielten alle weiteren Päpste – mit Ausnahme des Gegenpapstes Clemens’ (III.) – in abgestufter Intensität, aber sicher in über 80 % der Fälle, den Brauch der eigenhändigen Ausgestaltung der Rota bei, wobei ihre Form leicht modifiziert wurde und ab Paschal II. (1099–1118) die feste Gestalt erhielt, die fortan verpflichtend wurde: um die oberen Kreuzbalken die Namen der Apostelfürsten, um die unteren den Papstnamen angeordnet. Zu Rota und Monogramm trat unter Paschal II. noch eine Unterschrift des Papstes in subjektiver Fassung, die vorher nie vorgekommen war. Sie gewann rasch die in der Folgezeit unveränderte Form Ego (N. N.) catholice ecclesie episcopus subscripsi und ihren festen Platz zwischen Rota und Bene Valete-Monogramm92. In einer fundamentalen Untersuchung stellten Bruno Katterbach und Wilhelm Maria Peitz schon vor 90 Jahren fest, dass Paschal II. und seine Nachfolger bis zu Coelestin II. (1143–1144) eigenhändig sowohl ihre Namen als auch die Rota-Umschrift ausführten und dass die späteren Päpste, der eine mehr, der andere weniger, den autographen Anteil reduzierten, bis dann – quasi als Endergebnis unter Alexander III. – nur mehr das E des Ego von ihrer eigenen Hand herrührte93. – En passant sei hier angefügt, dass schon für das 13. Jahrhundert ein eigenhändiger Brief eines Papstes an einen hochgestellten Empfänger bezeugt ist. Clemens IV. 92   Eigenhändige Unterschrift Papst Paschals II. auf seinem Privileg für Bischof Otto von Bamberg, 1108 III 4. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 34: Im Ring der Rota steht: V(e)rbo d(omi)ni caeli firmati s(unt). – Ed. Pflugk-Harttung, Acta 1 (wie Anm. 91) 97f. Nr. 108. Vgl. Georg May, Ego N. N. Catholicae Ecclesiae Episcopus. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung einer Unterschriftsformel im Hinblick auf den Universalepiskopat des Papstes (Kanonistische Studien und Texte 43, Berlin1995). 93  Bruno Katterbach–Wilhelm Maria Peitz, Die Unterschriften der Päpste und Kardinäle in den Bullae maiores vom 11. bis 14. Jahrhundert, in: Miscellanea Franz Ehrle 4: Scritti di storia e paleografia (StT 40/4, Roma 1924) 177–274.



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(1265–1268) ließ Ludwig IX. im Herbst 1266 wissen, dass er eine epistolam revocatoriam presentibus interclusam manu propria scripseramus, welche er einem von der Kanzlei verfass­ten Schreiben beigefügt habe94. Die Kardinalsunterschriften sind ein Kennzeichen der Urkundenart „feierliches Privileg“, welches von der Mitte des 11. bis zum späten 13. Jahrhundert vor allem für Rechts- und Besitzbestätigungen verwendet wurde95. Beeindruckend fanden die Urkundenempfänger ebenso wie die heutigen Betrachter die Elongata der ersten Zeile mit dem hervorgehobenen in perpetuum und die graphischen Zeichen, besonders im Eschatokoll die Rota, das monogrammatische Bene Valete, die abgesetzte feierliche Datierung am unteren Rand des Pergamentes und die Unterschriften des Papstes und der Kardinäle96. Die Kardinalsunterschriften tauchen unter Alexander II. (1061–1073) auf, sind jedoch vor dem Ende des 12. Jahrhunderts selten. Unter Urban II. (1088–1099) sind es nicht mehr als sechs Urkunden, auf denen neben den Kardinälen freilich auch andere Prälaten unterschreiben97. Unter Paschal II. (1099–1118) nehmen die Kardinalsunterschriften deutlich zu. Sie finden sich auf schon 53 Privilegien98. Unter Calixt II. (1118–1124) werden sie, auf die Jahre verteilt, noch häufiger (33), unter Honorius II. (1124–1130) fallen sie wieder leicht ab (21)99. Erst unter Innocenz II. werden die Kardinalsunterschriften zur Regel. Die jüngste Zusammenstellung zählt 520 Privilegien mit Kardinalsunterschriften100. Seit diesem Pontifikat verschwinden andere Würdenträger völlig aus den Unterschriftenreihen, selbst zu Zeiten der Laterankonzile von 1139, 1179 und 1215, als sich viele hohe Prälaten an der Kurie aufhielten. Ebenfalls unter Innocenz II. wird die Anordnung der Unterschriften streng geregelt, d. h. unter dem Papstnamen stehen die Kardinalbischöfe, links die Kardinalpriester, rechts die 94  1266 X 14, Viterbo. – Druck: Edmond Martène–Ursin Durand, Thesaurus novus anecdotorum 2 (Paris 1717) 415 Nr. 390; in der digitalen Vorabedition der dMGH Nr. 270. – Potthast 19838; Édouard Jordan (Hg.), Les registres de Clément IV (Paris 1893) 394 Nr. 1139. 95   Zu dieser Urkundenart schrieb die ausführlichste Untersuchung Julius v. Pflugk-Harttung, Die Bullen der Päpste bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts (Gotha 1901). Sie wurde von der Fachwelt einhellig abgelehnt. 96   Vgl. Ludwig Schmitz-Kallenberg, Die Lehre von den Papsturkunden, in: Grundriß der Geschichtswissenschaft, hg. von Aloys Meister (Leipzig–Berlin 1906) 205–215; Bresslau, Handbuch (wie Anm. 33) 1 76–81; Matthias Kordes, Der Einfluß der Buchseite auf die Gestaltung der hochmittelalterlichen Papst­ urkunde. Studien zur graphischen Konzeption hoheitlicher Schriftträger im Mittelalter (Hamburg 1993) 200–213; Paulius Rabikauskas, Diplomatica pontificia. Praelectionum lineamenta. Editio quinta emendata et aucta (Roma 1994) 40–45; Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen 2, Stuttgart ²2000) 19–23; Peter Rück, Die hochmittelalterliche Papsturkunde als Medium zeitgenössischer Ästhetik, in: Arbeiten aus dem Marburger hilfswissenschaftlichen Institut, hg. von Erika Eisenlohr–Peter Worm (elementa diplomatica 8, Marburg 2000) 3–29, bes. 9–29; Stefan Hirschmann, Die päpstliche Kanzlei und ihre Urkundenproduktion (1141–1159) (Europ. Hochschulschriften III/913, Frankfurt/M. u. a. 2001) 39–59. – Eine erschöpfende und wohl abschließende Untersuchung bietet Ulrich Schludi, Die Entstehung des Kardinalkollegiums. Funktion, Selbstverständnis, Entwicklungsstufen (Mittelalter-Forschungen 45, Ostfildern 2014). 97  Rudolf Hüls, Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms 1049–1130 (BDHIR 48, Tübingen 1977) 51–54 Nr. 40, 42, 46, 47, 50, 52, 59, 62. – Schludi, Entstehung (wie Anm. 96) 390, zählt um zwei Urkunden weniger. 98   Johannes Laudage, Rom und das Papsttum im frühen 12. Jahrhundert, in: Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, hg. von Klaus Herbers (Stuttgart 2001) 23–53, hier 25f., der 75 Papsturkunden mit Kardinalsunterschriften anführt. Dabei wurde die von Hüls (ebd. 54–63) angegebene Zahl besonders durch die Arbeiten von Rudolf Hiestand und seine angekündigte Studie zu den Kardinalsunterschriften bis 1198 nach oben korrigiert. – Nun aber Schludi, Entstehung (wie Anm. 96) 390–392. 99  Ebd. 395f. 100   Ebd. 396–418. Da der Großteil davon nur kopial tradiert ist, dürfte die Zahl noch höher liegen.

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Kardinaldiakone, und es wird die Anciennität peinlich genau eingehalten, was auch dazu führt, dass in den Unterschriftenkolumnen Lücken entstehen, wenn der Kardinal wohl an der Kurie anwesend, aber aus irgendwelchen Gründen – vielleicht auch finanziellen Gründen – gehindert war, seine Unterschrift zu leisten101. Es ändert sich der Rechtsinhalt der Privilegien: Ganz überwiegend werden mit dieser Urkundenform schon bestehende Rechte und Besitzungen bestätigt, sodass eine Mitbestimmung der Kardinäle, die sich auf diese Weise äußert, fortan auszuschließen ist. Zum Hauptmerkmal werden die ausführlichen Besitzlisten, die selbstverständlich auf päpstlichen Vorurkunden, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreichen können, beruhen oder sich auf andere, bei der Impetrierung vorgelegte Besitztitel gründen102. Ab dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts werden Papsturkunden mit Kardinalsunterschriften, die nicht in diese Kategorie fallen, zur Seltenheit. In der schon zitierten Untersuchung wiesen Bruno Katterbach und Wilhelm Maria Peitz überzeugend nach, dass die Kardinäle ganz überwiegend eigenhändig ihre Unterschriften auf die päpstlichen Privilegien setzten103. Dies stimmt auch mit zumindest einer zeitgenössischen his­ toriographischen Nachricht überein. In der Geschichte der Yorker Kirche berichtet Hugo Cantor als Augenzeuge von der Ausstellung des Privilegs vom 11. März 1120 für Erzbischof Thurstan von York in Gap während der Reise Calixts II. nach Italien. Danach wurde das ausformulierte Privileg dem Papst vorgelegt, der es nach der Lektüre mit eigener Hand unterschrieb. Danach kam der Kardialbischof von Ostia mit seiner Unterschrift an die Reihe, ließ aber unter der Unterschrift des Papstes einen Platz frei, weil der Kardinalbischof von Tusculum dienstälter war. Danach unterschrieben die anwesenden Kardinalpriester und Kardinaldiakone. Dann wurde das Privileg dem Yorker Erzbischof übergeben104. Für die Genese der Kardinalsunterschriften auf päpstlichen Privilegien waren sicher auch die Unterschriften der Teilnehmer an den vom Papst einberufenen und geleiteten 101   Päpstliches Privileg mit Kardinalsunterschriften, z. B. Alexander III. für die Zisterze Eberbach, 1163 II 6. Wiesbaden, Hauptstaatsarchiv, Abt. 22, Kloster Eberbach Nr. U 12; Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 35: beispielsweise die mittlere Kolumne: – Ego Alexander catholice eccl(esi)e ep(iscopu)s s(ub)s(scripsi) – + Ego Hubaldus Hostiensis ep(iscopu)s s(ub)s(scripsi) – + Ego Bernard(us) Portuensis et s(an)cte Rufine ep(iscopu)s s(ub)s(scripsi) – + Ego Gvalterivs Albanensis ep(iscopu)s s(ub)s(scripsi). – Ed. Urkundenbuch der Abtei Eberbach im Rheingau, hg. von Karl Rossel (Wiesbaden 1862) 1 43–46 Nr. 21. – Darauf beruhend die Diskussion eines Detailproblems: Rudolf Hiestand, Feierliche Privilegien mit divergierenden Kardinalslisten? Zur Diplomatik der Papsturkunden des 12. Jahrhunderts. AfD 33 (1987) 238–268. 102   Vgl. die bislang einzige Auswertung durch Dietrich Lohrmann, Kirchengut im nördlichen Frankreich. Besitz, Verfassung und Wirtschaft im Spiegel der Papstprivilegien des 11.–12. Jahrhunderts (Pariser historische Studien 20, Bonn 1983), mit interessanten zusätzlichen Detailbeobachtungen von Reinhard Härtel, Additamenta zur Enumeratio bonorum in päpstlichen Privilegien, in: Päpste, Privilegien, Provinzen: Beiträge zur Kirchen-, Rechts- und Landesgeschichte. Festschrift für Werner Maleczek zum 65. Geburtstag, hg. von Johannes Giessauf–Rainer Murauer–Martin P. Schennach (MIÖG Ergbd. 55, Wien 2010) 103–122. 103   Die Unterschriften (wie Anm. 93). 104  Hugh the Chanter, The History of the Church of York 1066–1127, hg. von Charles Johnson, rev. by Martin Brett et al. (Oxford Medieval Texts, Oxford 1990) 148f.: Scriptum privilegium domino pape allatum est. Quo perlecto, ipse manu sua scripsit. Deinde Ostiensis episcopus subscribens sic ait: „Spacium proxime post dominum papam ad adscribendum domino Prenestino reservo, quoniam prior meus est“. Subscripserunt et alii quotquot aderant presbiteri cardinales et diaconi. Privilegio subscripto cum ceteris litteris accepto, archiepiscopus … . Es handelt sich um JL 6831. Da es abschriftlich überliefert ist (hg. von Ulysse Robert, Bullaire du pape Calixte II, Bd. 1 [Paris 1891] 256 Nr. 172) und die Unterschrift des Kardinalbischofs Cono von Preneste aufweist, muss dieser später unterschrieben haben. Da Erzbischof Thurstan mit Cono, der als Legat in Frankreich weilte, im April 1120 in Soissons zusammentraf, muss er wohl bei dieser Gelegenheit die Unterschrift nachgetragen haben. Vgl. Mary G. Cheney, Some Observations on a Papal Privilege of 1120 for the Archbishops of York. Journal of Ecclesiastical History 31 (1980) 429–440.



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Synoden bestimmend, die in spätantiker Tradition in Rom und an den jeweiligen Aufenthaltsorten des Papstes ab dem 8. Jahrhundert und bis zum Ende der karolingischen Zeit gut überliefert sind105. An Quellen stehen die Synodalprotokolle selbst, Urkunden, die im Umkreis der Synoden entstanden, Briefe und erzählende Quellen zur Verfügung. Aus ihnen lässt sich der teilnehmende Personenkreis ablesen. Dies gilt natürlich auch für alle außerhalb von Rom abgehaltenen Synoden. Ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts liegen aus mehreren Teilen der damaligen Christianitas sogar originale Synodalprotokolle vor, sodass man die Unterschriften der mehrfach teilnehmenden Bischöfe vergleichen kann. Bei den in Rom abgehaltenen Synoden mischen sich seit dem Pontifikat Gregors V. (996–999) unter die subskribierenden Bischöfe in unterschiedlichem Maße auch Kardinalbischöfe und Kardinalpriester106. Die Teilnehmer an den weiteren Synoden Leos IX. – Reims 1049, Mainz 1049, Rom 1050 bis 1054 – kennt man zum Teil aus historiographischen Berichten, zum Teil aus den Unterschriftenlisten107. Es ist nicht nötig, die zahlreichen Synoden der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts unter päpstlichem Vorsitz hier detailliert darzustellen und den Usus der Unterschriften als Vorbilder späterer Kardinalsunterschriften plausibel zu machen. Rudolf Hüls hat alle Papsturkunden ab 1049 zusammengestellt, die die Unterschriften von Kardinälen tragen, und dabei auf die anderen Subskribenten hingewiesen108. Hervorzuheben ist nichtsdestoweniger das – nicht original überlieferte – Papstwahldekret Nikolaus’ II. von 1059 mit einer umfangreichen Unterschriftenliste von 88 Namen, die ebenfalls den Vorrang der Kardinäle unterstreichen. Nach fünf Kardinalbischöfen stehen vier Kardinalpriester und drei Kardinaldiakone, hier nur diaconi genannt, weiters omnes sancte Romane ecclesie, dabei wieder der Archidiakon Hildebrand, und erst anschließend die von außen gekommenen Erzbischöfe und Bischöfe, beginnend mit dem Erzbischof von Mailand und dem Patriarchen von Grado109. Auffallend ist, dass sich die Zurückweisung irgendwelcher Mitbestimmung durch die Bischöfe oder der römischen Kurie durch Gregor VII., die sich in seine Auffassung des von Gott direkt hergeleiteten petrinischen Amtes und der Suprematie über alle anderen Kirchen fügt110, bei seinen zahlreichen Synoden, von denen er die Mehrzahl durch Aufzeichnungen ins eigene Register festhalten ließ111, widerspiegelt. Die Rolle der anwesenden Bischöfe – und jene der Kardinäle – wird offensichtlich bewusst heruntergespielt. Teilnehmerlisten sind nicht erhalten. Gregor VII. erwähnt „eine Menge von Bischöfen und Äbten und Kleriker und Laien“ (Fastensynode 1076), dann wieder beiläufig „ungefähr 100 Erzbischöfe und Bischöfe aus verschiedenen Städten und eine unübersehbare Zahl von Äbten und an105  Mit zahlreichen Details untersucht von Maleczek, Die eigenhändigen Unterschriften (wie Anm. 4) 263–269. 106   Zimmermann, PU 2 642–645 Nr. 329 (Gregor V., 27. 5. 996). 107   Vgl. Martin Boye, Quellenkatalog der Synoden Deutschlands und Reichsitaliens von 922–1059. NA 48 (1930) 84–88; Georg Gresser, Die Synoden und Konzilien in der Zeit des Reformpapsttums in Deutschland und Italien von Leo IX. bis Calixt II. 1049–1123 (Konziliengeschichte A/20, Paderborn 2006) 17–32. 108  Hüls, Kardinäle (wie Anm. 97) 47–77. 109   Detlev Jasper, Das Papstwahldekret von 1059. Überlieferung und Textgestalt (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 12, Sigmaringen 1986) bes. 25–31, 33–36, 109–119. 110   Vgl. Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform (Darmstadt 2001) 220–248 („Gregor und die kirchliche Hierarchie“). 111  Fastensynode 1075: Reg. II 52a, Fastensynode 1076: Reg. III 10a, Fastensynode 1078: Reg. V 14a, Herbstsynode 1078: Reg. VI 5b, Fastensynode 1079: Reg. VI 17a, Fastensynode 1080: Reg. VII 14a – Das Register Gregors VII. (wie Anm. 86) 196, 268, 398, 400, 425, 479. Vgl. Gresser, Synoden (wie Anm. 107) 115–258.

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deren Klerikern und Laien“ (Fastensynode 1078), weiters „benachbarte Erzbischöfe und auch solche aus verschiedenen Provinzen, Bischöfe und Religiosen“ (Fastensynode 1079) und „Erzbischöfe und Bischöfe und Äbte und eine unermessliche Zahl von Klerikern und Laien unterschiedlicher ordines“ (Fastensynode 1080). Es liegt in dieser Logik, dass auch die Brixner Synode von 1080, auf der Heinrich IV. die Absetzung Gregors VII. veranlass­te und die Wahl des Gegenpapstes Wibert/Clemens III. vorbereitete, ein Synodaldekret von den anwesenden Teilnehmern, an erster Stelle von Kardinal Hugo Candidus vice omnium cardinalium Romanorum, dann von Bischöfen aus Deutschland und Italien und zum Schluss vom König selbst unterschreiben ließ112. Wenn auch von den bedeutsamen Synoden Urbans II. – Melfi 1089, Piacenza 1095, Clermont 1095 – keine Unterschriftenlisten der Synodalprotokolle oder der Kanonesabschriften erhalten geblieben sind113, so soll hier abschließend auf die Urkunde des Papstes für die südfranzösische Abtei Saint-Gilles vom 18. Februar 1095 hingewiesen werden. Sie wurde schon in Cremona formuliert und datiert, dann aber auf der Synode, die in den ersten Märztagen stattfand, relecta vero et confirmata, also offensichtlich mit den beipflichtenden Unterschriften und einer Schlussformel versehen. Da sie im Original erhalten ist, lassen sich die dort anwesenden Kardinäle auch von ihrer Schrift her gut von den anderen Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten scheiden. Es unterschrieben eigenhändig zehn Kardinäle, vier Erzbischöfe, sieben Bischöfe und drei Äbte. Weitere Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte interfuerunt bzw. laudaverunt (Abb. 8)114. Es gehört zur Entwicklung des Kardinalskollegiums, dass es unter Urban II. und seinen Nachfolgern allmählich die Funktion eines ständigen Ausschusses der Synoden bekleidete. Langsam übernahmen die Kardinäle alle jene Aufgaben, die früher ein weiterer Kreis von Prälaten in der allgemeinen Beratung und in der Rechtsprechung erfüllt hatte115. Schließlich soll noch darauf hingewiesen werden, dass sich seit der Jahrtausendwende auf Papsturkunden, die auch außerhalb von Synoden ausgestellt wurden, unterhalb der Scriptum-Formel und der Datierung auch Unterschriften von römischen geistlichen Würdenträgern und auch von auswärtigen Prälaten befinden, die sich gerade in Rom aufhielten oder auf Wunsch des Papstes zur Bekräftigung des sie betreffenden Rechtsgeschäftes zum Unterschreiben aufgefordert wurden116. 112  Die Briefe Heinrichs IV., hg. von Carl Erdmann (MGH Deutsches Mittelalter 1, Stuttgart 1937) 69–73 Anh. C. 113   Robert Somerville, The Councils of Urban II 1: Decreta Claromontensia (AHC, Suppl. 1, Amsterdam 1972); ders., Pope Urban II, The Collectio Britannica and the Council of Melfi (1089) (Oxford 1996); ders., The Presentation of the Canons of Piacenza (March 1095). AHC 27/28 (1995/96) 193–207. 114  Paris, Bibliothèque Nationale, Coll. Baluze 380, n. 6. Maleczek, Sottoscrizioni (wie Anm. 1) Abb. 36: unterhalb des Textes: + Ego Joh(ann)es Portuensis ep(is)c(opus) cardinalis subscripsi – + Ego Alb(er)tus cardinal(is) subscripsi – + Ego Ricardus p(re)sbit(er) cardinalis s(an)c(t)e Romane eccle(sie) et Massiliensis abbas subscripsi – Ego Bonus senior presbit(er) cardinalis subcripsi – + EgoTeuzo presbiter cardinal(is) subscripsi – Ego Gregorius diacon(us) cardinalis subscripsi – + Ego Daibertus Pisanus archiep(iscopu)s subscripsi – + Ego Rodulfus Turonensis archiep(is)c(opus) sub(scripsi) – +Hugo cardinalis diaconus s(an)c(t)e Romane eccle(sie) subscripsi – + Herimannus cardinalis – + Ego Philippus Lunensis episcopus sub(scripsi) – + Ego Aurasicensis ep(iscopu)s Gilelmus sub(scripsi) … . – Vgl. Lucien Auvray–René Poupardin, Catalogue des manuscrits de la Collection Baluze (Paris 1921) 426; Mansi 20 807–810 = PL 151 399f.; JL 5540; Faksimile: Urkundentafeln der École des Chartes Nr. 451. Ich danke herzlich Olivier Guyotjeannin, dass er mir eine Kopie zugänglich machte. Vgl. Gresser, Synoden (wie Anm. 107) 294f. 115  Vgl. Jürgen Sydow, Untersuchungen zur kurialen Verwaltungsgeschichte im Zeitalter des Reformpapsttums. DA 11 (1954/55) 18–73, bes. S. 33ff.; Franz-Josef Schmale, Synodus – synodale concilium – concilium. AHC 8 (1976) 80–102, bes. 98ff. 116   Sergius IV., 27. 5. 1001, Zimmermann, PU 2 857 Nr. 451; JL 3971; IP 5 339 Nr. 17; Zimmermann,



Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert 191

Abb. 8: Unterschriften von Kardinälen und anderen Prälaten auf dem Privileg Urbans II. für die Abtei SaintGilles, 1095 II 18. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Coll. Baluze 380, n. 6 (s. oben Anm. 114).

Einige abschließende Überlegungen zu dem gewonnenen Befund mögen als Zusammenfassung und Ausblick dienen. Südlich der Alpen, vor allem in Italien, hielt sich der aus antik-römischer Tradition kommende Brauch der eigenhändigen Unterschriften länger und ging erst zurück, als sich das Instrument des mit öffentlicher Glaubwürdigkeit ausgestatteten Notars für die schriftliche Fixierung der meisten Rechtsgeschäfte durchsetzte. Auf die venezianische und genuesische Ausnahme wurde hingewiesen, zu der man noch eine neapolitanisch-amalfitanische hinzufügen könnte. Ähnliches kann man für die nördliche Pyrenäen-Halbinsel konstatieren, wo das römische Recht ebenfalls länger fortwirkte. Auf den Urkunden der Bischöfe zahlreicher mittel- und norditalienischer Diözesen unterschreiben seit dem 11. Jahrhundert manchmal Domkleriker und andere hohe kirchlichen Würdenträger, wobei dieser Usus im 12. Jahrhundert wohl auch durch das päpstliche feierliche Privileg gefördert wird. Diesem Einfluss mag das vereinzelte Vorkommen von Unterschriften kirchlicher Würdenträger auf süddeutschen Bischofsurkunden im 12. Jahrhundert geschuldet sein. Nördlich der Alpen ist die autographe Unterschrift auf Kaiser- und Königsurkunden, auf Herzogsurkunden, auf Privaturkunden bis ins Spätmittelalter ausgesprochen selten. Soll man es bei der Feststellung, dass der Süden eben schreibfreudiger, kulturell entwickelter, auf schriftliche Fixierung der Rechtsgeschäfte in höherem Maße ausgerichtet war, belassen? Dies vermag angesichts der Tatsache, dass das eigenhändige Unterschreiben von Urkunden ab dem 13. Jahrhundert auch südlich der Alpen nicht allgemein verbreitet war, nicht zu befriedigen. Das Beglaubigen der Urkunden war seit dem 12. Jahrhundert in zwei Richtungen festgeschrieben: mit dem Siegel nördlich der Alpen, mit der subscriptio der Notare südlich der Alpen. Für anderes Reg. 1056. – Johannes XVIII., 2. 12. 1006 und 3. 12. 1006, Zimmermann, PU 2 815, 824f. Nr. 425, 431 jeweils mit Unterschriften des an die Kurie gereisten Bischofs von Paris; dazu vgl. Rolf Grosse, Die beiden ältesten Papsturkunden für das Domkapitel von Paris (JL 3949 und 3951), in: L’acte pontifical et sa critique, hg. von Rolf Grosse (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia 5, Bonn 2007) 15–29. – Benedikt VIII., 2. 6. 1013, 26. 1. 1017, Zimmermann, PU 2 911, 970 Nr. 481, 510; JL 3998, 4016; IP 2 63 Nr. 19; Zimmermann, Reg. 1115, 1186. – Benedikt IX., November 1037, Zimmermann, PU 2 1140 Nr. 608; JL 4110; IP 2 26 Nr. 5 (Da es sich um die Bestätigung der Besitzungen des Bistums Silvacandida handelt, überwiegend römische Kleriker, darunter ein Kardinalpriester).

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blieb kein Platz. Erst im Spätmittelalter sollte sich dies wieder ändern. Wohl unter dem Einfluss des Humanismus unterschrieben Fürsten und Privatleute ihre Dokumente wieder persönlich, und der Charakter der Urkunde – nunmehr ein Mittel der Verwaltung und der bürokratischen Ordnung – änderte sich so sehr, dass sich das rasche und einfache Beglaubigungsmittel der persönlichen Unterschrift durchsetzte, wie dies etwa auf den französischen Königsurkunden seit dem frühen 14. Jahrhundert festzustellen war.



Urkundenlandschaften zwischen Donau, Rhein und Adria Reinhard Härtel

Der Begriff und seine Aufnahme in der Forschung Seit langem schon ist die Forschung auf der Suche nach sogenannten Urkundenlandschaften, also nach Gebieten, in denen die Urkunden wenigstens eine gewisse Zeit hindurch zumindest ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten untereinander aufweisen und die sich daher als Einheiten begreifen lassen, ähnlich wie das die Sprachforschung mit Dialektgebieten tut1. Wo stattdessen von Urkundenterritorien, Urkundengebieten (usw.) die Rede ist, scheint oft genug keine besondere Überlegung hinter der Wortwahl zu stehen. Die Urkundenlandschaften sind hauptsächlich Konstrukte der diplomatischen Forschung. Den mittelalterlichen Zeitgenossen waren sie kaum jemals bewusst. Sie helfen bei der Übersicht über das Kontinuum der Erscheinungen und können bei der Lösung diplomatischer Fragen dienlich sein. Sie können aber auch selbst zum Forschungsziel werden, denn die räumliche Differenzierung der Erscheinungen im Urkundenwesen ist nicht weniger interessant als deren Entwicklung im Laufe der Zeit2. Dennoch scheint es insgesamt, dass die Urkundenlandschaften im Rahmen der Diplomatik kaum mehr darstellen als eine gelegentliche Nebenbeschäftigung3, auch wenn die Thematik allerorten angesprochen wird: Die italienische Literatur kennt „aree diplomatiche“4 bzw. „aree documentarie“5 und „territori documentari“6; in Frankreich 1  Eine kurze Einführung zum Begriff „Urkundenlandschaft“ und zu deren Rolle in der Forschung findet sich neuerdings bei Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter (Historische Hilfswissenschaften [4], Wien–München 2011) 308–310. 2   Richard Heuberger, Allgemeine Urkundenlehre für Deutschland und Italien (Grundriß der Geschichtswissenschaft I/2a, Leipzig–Berlin 1921) 3, verbindet beides, indem er von Gebieten annähernd gleicher Urkundenentwicklung spricht. 3  Dies gilt wohl auch, wenn man jene thematisch einschlägigen Arbeiten mit einbezieht, in denen von „Urkundenlandschaft“ (oder ähnlich) nicht ausdrücklich die Rede ist. 4   Giovanna Nicolaj, Diplomatica e storia sociale. AfD 52 (2006) 313–334, hier 332f. 5   Gian Giacomo Fissore, Notariato alpino. Un’introduzione alla discussione, in: Le Alpi medievali nello sviluppo delle regioni contermini, hg. von Gian Maria Varanini (Europa mediterranea. Quaderni 17, Napoli 2004) 239–247 (mit Bibliographie 296), hier 241. 6  Antonella Ghignoli, Koinè, influenze, importazioni transalpine nella documentazione „privata“ dei secoli VII–VIII: lo stato dell’arte, in: Le Alpi porta d’Europa. Scritture, uomini, idee da Giustiniano al Barbarossa. Atti del Convegno internazionale di studio dell’Associazione italiana dei Paleografi e Diplomatisti, Cividale del Friuli (5–7 ottobre 2006), hg. von Laura Pani–Cesare Scalon (Studi e ricerche 4, Spoleto 2009) 83–110, hier

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spricht man von „provinces diplomatiques“7 oder von „régions diplomatiques“8, der Norden Frankreichs wurde auch schon als „paysage diplomatique“ bezeichnet9. Spanien kennt seine „ámbitos documentales“10. Die auf diesem Feld prägende Rolle der deutschen Mediävistik (oder eigentlich der österreichischen, wie noch zu sehen sein wird) wird bei alledem dadurch deutlich, dass der Terminus „Urkundenlandschaft“ in der italienischen und französischen Literatur gelegentlich auch unübersetzt Verwendung findet11 und dass das Verhältnis niemals umgekehrt ist. Aber in sehr vielen Fällen wird „Urkundenlandschaft“ (in welcher Sprache immer) nicht als Terminus technicus gebraucht, sondern in einem weiteren Sinn, vor allem dass diese oder jene Erscheinung nur in bestimmten Gebieten zu finden ist und in anderen nicht12, und gar nicht so selten auch ganz ohne Zusammenhang mit irgendwelchen für einen bestimmten Raum charakteristischen Zügen des Urkundenwesens13. Bei dieser Art von (meist isoliertem) Gebrauch stehen die Urkundenlandschaften auch außerhalb der eigentlichen Forschungsinteressen. Zu dieser Kategorie gehört 90 und 107; Cristina Mantegna, Il documento privato tra Regnum Italiae e Oltralpe (secoli VIII ex.–X), in: ebd. 111–140, hier 113. 7  Olivier Guyotjeannin, „Penuria scriptorum“: Le mythe de l’anarchie documentaire dans la France du nord (Xe–première moitié du XIe siècle). BEC 155 (1997) 11–44, hier 19; Georges Declercq, Les Formulae salicae Lindenbrogianae et l’acte privé dans le nord-ouest du royaume franc à l’époque carolingienne, in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit, hg. von Peter Erhart et al. (Dietikon–Zürich 2009) 135–144, hier 142. 8   Benoît-Michel Tock, Scribes, souscripteurs et témoins dans les actes privés en France (VIIe–début XIIe siècle) (Atelier de recherches sur les textes médiévaux 9, Turnhout 2005) 421. 9   Olivier Guyotjeannin, Juridiction gracieuse ecclésiastique et naissance de l’officialité à Beauvais (1175– 1220), in: A propos des actes d’évêques. Hommage à Lucie Fossier, hg. von Michel Parisse (Nancy 1991) 295–310, hier 306. 10   María Luisa Pardo, Documentos y cancillerías episcopales de la Andalucía Bética en el siglo XIII. Las sedes de Baeza-Jaén, Córdoba y Sevilla, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250/La diplomatique épiscopale avant 1250. Referate zum VIII. Internationalen Kongreß für Diplomatik, Innsbruck, 27. September–3. Oktober 1993, hg. von Christoph Haidacher–Werner Köfler (Innsbruck 1995) 453–466, hier 456. 11  Mantegna, Oltralpe (wie Anm. 6) 113; Francesca Santoni, Il documento privato di area romanica in età carolingia, in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 7) 73–83, hier 73; Guyotjeannin, Penuria (wie Anm. 7) 19. Zitatweise spricht von „Rechts- und Urkundengebieten“ auch Silio P. P. Scalfati, Alle origini della Privaturkundenlehre, in: Libri e documenti d’Italia: dai Longobardi alla rinascita delle città. Atti del Convegno nazionale dell’Associazione Italiana Paleografi e Diplomatisti, Cividale, 5–7 ottobre 1994, hg. von Cesare Scalon (Libri e Biblioteche 4, Udine 1996) 129–151, hier 142 und 150. 12  So z. B. bei Wilhelm John, Formale Beziehungen der privaten Schenkungsurkunden Italiens und des Frankenreichs und die Wirksamkeit der Formulare. AUF 14 (1936) 1–104, hier 31; Peter Johanek, Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotiz, Traditionsbuch und früher Siegelurkunde, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von Peter Classen (VuF 23, Sigmaringen 1977) 131–162, hier 159; Werner Bergmann, Die Formulae Andecavenses. Eine Formelsammlung auf der Grenze zwischen Antike und Mittelalter. AfD 24 (1978) 1–53, hier 9f.; Erika Eisenlohr, Die Pergamente der St. Galler Urkunden (8.–10. Jahrhundert). Ein praktischer Versuch zur Bestimmung von Tierhäuten, in: Pergament. Geschichte – Struktur – Restaurierung – Herstellung, hg. von Peter Rück (Historische Hilfswissenschaften 2, Sigmaringen 1991) 63–95, hier 93; Pardo, Andalucía Bética (wie Anm. 10) 456; Irmgard Fees, Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert (BDHIR 103, Tübingen 2002) 30 und 40; Franz-Reiner Erkens, Actum in vico fonaluae die consule. Das Rottachgau-Fragment und die romanische Kontinuität am Unterlauf des Inns, in: Nomen et Fraternitas (Reallexikon für Germanische Altertumskunde. Ergbd. 62, Berlin u. a. 2008) 491–509, hier 503. 13  Guyotjeannin, Juridiction (wie Anm. 9) 306; Hans-Henning Kortüm, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896–1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17, Sigmaringen 1995) 11 und 251; Peter Rück, Beiträge zur diplomatischen Semiotik, in: Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik, hg. von dems. (Historische Hilfswissenschaften 3, Sigmaringen 1996) 13–47, hier 30; Nicolaj, Storia sociale (wie Anm. 4) 332f.; Thomas Ludwig, Die Urkunden der Bischöfe von Meißen. Diplomatische Untersuchungen zum 10.–13. Jahrhundert (AfD Beih. 10, Köln–Weimar–Wien 2008) 191 und 205; Ghignoli, Koinè (wie Anm. 6) 90.



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auch der Buchtitel „Die virtuelle Urkundenlandschaft der Diözese Passau“14. Nirgendwo in dem Band geht es um „Urkundenlandschaften“ in dem in der Wissenschaft seit langem eingeführten Sinn, und so kommt – gerade durch einen Buchtitel – Unordnung in die Terminologie15. Die Wortprägung „Urkundenlandschaft“ wird Heinrich Fichtenau zugeschrieben16, und das mit Recht. In seinem magistralen Werk über das Urkundenwesen in Österreich formulierte er den später wiederholt zitierten Satz: „Zu den Aufgaben einer nicht allein auf das Spezielle ausgerichteten Diplomatik gehört es, die innere Einheit größerer ‚Urkundenkreise‘ oder ‚Urkundenlandschaften‘ zu erarbeiten und diese Gebilde miteinander zu konfrontieren.“17 Es sieht so aus, als sei Fichtenaus Konzept der „Urkundenlandschaften“ in den Jahren nach 1961 herangereift18. Mit der von ihm angesprochenen „inneren Einheit“ hat Fichtenau natürlich nicht notwendigerweise an jeweils originäre Entwicklungen im Sinne von eigenen Erfindungen gedacht; es geht vielmehr, wie aus anderen Stellen desselben Buches erschlossen werden kann, um sich entwickelnde und verfestigende hinlänglich charakteristische Mischungen urkundlicher Formen19. Dass Fichtenau die „Urkundenlandschaft“ bevorzugt unter Anführungszeichen setzte, bedeutet keine Distanzierung, sondern entspricht nur der von ihm auch sonst praktizierten begrifflichen Vorsicht. Die hinter der Wortprägung „Urkundenlandschaft“ stehende Idee selbst ist freilich schon älter. Meist präsentiert sie sich mit dem Etikett „Urkundenterritorium“ oder „Urkundengebiet“. Fichtenau selbst hat Heinrich Brunner die Ehre des Pioniers gegeben, der bereits 1880 in seiner „Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde“ die Privaturkunden Italiens, des Frankenreichs und Englands miteinander verglichen hatte und innerhalb Italiens zu einer Scheidung der „neurömischen“ Urkunde in den byzantinisch gebliebenen Gebieten von derjenigen im langobardischen Bereich gekommen war20. 14   Die virtuelle Urkundenlandschaft der Diözese Passau. Vorträge der Tagung vom 16./17. September 2010 in Passau, hg. von Adelheid Krah–Herbert W. Wurster (Veröffentlichungen des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der Universität Passau 62, Passau 2011). 15   Es geht in dem Band um die Onlinezugänglichkeit der kirchlichen Urkunden im Bereich der einstigen Diözese Passau. Der Begriff „Urkundenlandschaft“ wird im Vorwort nur ein einziges Mal erwähnt, und auch das lediglich in der Betitelung der dem Sammelband zugrundeliegenden Tagung. In keinem einzigen der im Band versammelten Beiträge spielen Urkundenlandschaften eine Rolle. 16   Peter Erhart–Julia Kleindinst, Urkundenlandschaft Rätien (ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 319 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 7, Wien 2004) 9. 17   Fichtenau, Urkundenwesen 38. Zitiert in Erhart–Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16) 18; Peter Erhart et al., Einleitung, in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 11) 9–11, hier 9; Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation (MGH Schriften 60, im Druck) 289. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags möchte dem Autor für die bereits vor einiger Zeit zur Benützung überlassene Umbruchkorrektur seines Werks auch an dieser Stelle seinen besten Dank aussprechen. Er muss und darf davon ausgehen, dass die in dem vorliegenden Beitrag angegebenen Seitenzahlen der Umbruchkorrektur auch jene des ausgedruckten Werkes sein werden. 18   1961 ging es ihm „nur“ um „rapprochements de ce genre“ (gemeint ist die Feststellung von Verwandtschaften) nicht nur zwischen den Kanzleien der Päpste, der Ravennater Erzbischöfe und der langobardischen Herzöge, sondern auch anderenorts; auf diese Weise käme man über die schlichte Feststellung von Fakten hinaus: Fichtenau, La situation actuelle 5–20, hier 16. Die 1977 erschienene Version in deutscher Sprache spricht an der betreffenden Stelle ausdrücklich von „Urkundenlandschaften“: ders., Zur Lage der Diplomatik 13. 19   Vgl. Fichtenau, Urkundenwesen 11 und 35. 20   Heinrich Brunner, Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde 1 (Berlin 1880). Würdigung bei Fichtenau, Urkundenwesen 38; vgl. auch Harold Steinacker, „Traditio cartae“ und „traditio per cartam“, ein Kontinuitätsproblem. AfD 5/6 (1959/60) 1–72, hier 60; Erhart et al., Einleitung (wie Anm. 17) 9.

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Bereits 1906 formulierte Harold Steinacker ein förmliches Programm: Die „systematische Bearbeitung der deutschen Privaturkunden nach Kanzleien und Urkundengebieten“ sei „eine der dringendsten Aufgaben der Landesgeschichte“21. Seitdem finden sich die Urkundengebiete, -bereiche oder -territorien in den wesentlichen Synthesen: so außer bei Steinacker selbst22 auch bei Oswald Redlich23, Richard Heuberger24 und Wilhelm John25. Vor Steinacker hatte Milan von Šufflay bereits 1904 von ihnen Gebrauch gemacht26. Natürlich nicht mit derselben Terminologie, aber der Sache nach hat Alain de Boüard Frankreich, in dem zwei unterschiedliche Rechtssysteme jeweils ihr urkundliches Spiegelbild gefunden haben, in diesem Sinne bearbeitet27. Bei Steinacker war die Aufarbeitung der Urkundengebiete noch bloßes Mittel zum ­diplomatischen Zweck28; bei Heuberger und vollends bei Fichtenau wurden sie zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand; hierbei hat Heuberger schon einiges von Fichte­ naus Forschungsinteressen vorweggenommen29. Aber es ist Fichtenau gewesen, der die Problemstellung grundsätzlich auf die regionale Ebene übertragen hat, und vor allem hat er nicht nur Forderungen aufgestellt, sondern mit seinem „Urkundenwesen in Österreich“ selbst einen großen Schritt zur flächendeckenden Aufarbeitung in einer überschaubaren Region getan. Natürlich war auch in diesem Fall Unvollkommenheit die Begleiterscheinung einer Pioniertat30. Aber man wird sagen dürfen, dass die Forschung zu 21  Harold Steinacker, Die Lehre von den nichtköniglichen (Privat-) Urkunden, vornehmlich des deutschen Mittelalters (Grundriß der Geschichtswissenschaft I/2, Leipzig u. a. 1906) 231–266, hier 251. Gewürdigt von Peter Johanek, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 20, Würzburg 1969) 1; Ulrich Nonn, Merowingische Testamente. Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich. AfD 18 (1972) 1–129, hier 3; Kortüm, Urkundensprache (wie Anm. 13) 22; Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 289. 22   Harold Steinacker, Die antiken Grundlagen der frühmittelalterlichen Privaturkunde (Grundriß der Geschichtswissenschaft, Ergbd. 1, Leipzig–Berlin 1927) 12; ders., Traditio cartae (wie Anm. 20) 60 und 71. 23   Oswald Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters (Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte 4, Urkundenlehre 3, München–Berlin 1911), bes. 15 und 18 (Kapitelüberschriften). 24   Heuberger, Urkundenlehre (wie Anm. 2) 17, 39 und 54; Richard Heuberger, Geländegestaltung und Urkundenwesen in den Alpen. MIÖG 39 (1923) 1–57, bes. 35. 25   John, Beziehungen (wie Anm. 12) 31f. 26   Milan von Šufflay, Die dalmatinische Privaturkunde (ÖAW, phil.-hist. Kl., SB 147, Wien 1904) 31 und 142. 27   Alain de Boüard, Manuel de diplomatique française et pontificale 2: L’acte privé (Paris 1948) passim. In diesem Sinne gewürdigt von Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 26 und 60–62; Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 290. 28   So in Fortführung seiner früheren Darlegungen Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 71. 29   Heuberger, Urkundenlehre (wie Anm. 2) 4: „Heute [=1921] stehen nicht nur die Fragen nach der Echtheit [...] und jene nach der Entstehung der Urkunden [...] im Vordergrund, sondern die Forschung gilt der Gesamtentwicklung des Urkundenwesens im Rahmen von Erdräumen und Zeitaltern, dem Verhältnis von Form und Inhalt der Urkunden, und all den reichen Beziehungen derselben zu Recht, Schrifttum, zum geistigen und materiellen Leben ihrer Zeit.“ Erhart et al., Einleitung (wie Anm. 17) 9, sprechen Fichtenau uneingeschränkt das Verdienst zu, die Urkundenlandschaften zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand erklärt zu haben. 30  Aufgrund der Forschungssituation konnte Fichtenaus Werk von vornherein nur ein Teilergebnis zu seinem eigenen Programm darstellen; vgl. Paul Herold, Wege der Forschung: Über den Begriff und das Wesen der mittelalterlichen Privaturkunde unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Forschung, in: Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. von Karel Hruza–Paul Herold (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien u. a. 2005) 225–256, hier 250. Fichtenau hat selbst angemerkt, dass er den Vergleich mit den Nachbarregionen hier nur für die ältere Zeit und eher nebenbei anstellen konnte: Fichtenau, Urkundenwesen 255.



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den Urkundenlandschaften in Österreich auch in den nunmehr schon mehr als 40 Jahren seit dem Erscheinen von Fichtenaus Werk kaum weitergekommen ist. Und es hat neben Österreich auch noch kein anderes Land vergleichbarer Größenordnung eine ähnlich flächendeckende Aufarbeitung erfahren.

Wodurch entstehen Urkundenlandschaften? Noch eine wesentliche Neuerung geht auf Fichtenau zurück: Er hat die bis dahin überwiegend nur implizit erörterte Problemstellung, welche Rahmenbedingungen für die Abgrenzung von Urkundenlandschaften grundlegend seien, als solche formuliert und eine gegenüber allem Bisherigen völlig neue Erklärung vorgelegt. Fichtenau wörtlich: „Wenn es im Hochmittelalter ‚Urkundenterritorien‘ gab, dann folgten sie am ehesten den Grenzen der Diözesen“31. Fichtenau hat auf diese seine Aussage offensichtlich ganz besonderes Gewicht gelegt, denn sie findet sich gewiss nicht zufällig auf der letzten Seite seines Buches über das Urkundenwesen in Österreich, und noch dazu als eigener Absatz. Was hatte es bis dahin gegeben? Am Anfang der Urkundenterritorienforschung stand die Großgliederung des frühmittelalterlichen Europa, und da bildeten die Ethnien bzw. deren jeweilige Kultur, insbesondere das Recht, die in vielen Fällen ganz offensichtliche und daher nicht weiter hinterfragte Grundlage der Urkundengebiete32. Allerdings lässt sich – je früher desto eher – in personal bestimmten Rechtskreisen eine Problematik für diese Sichtweise sehen33. Von den Rechtsgebieten oft nicht klar zu scheiden sind die politischen bzw. die Herrschaftsverhältnisse34. Auch diese Sichtweise lässt sich an vielen Beispielen gut begründen35, jedoch entsprechen bereits die urkundlichen Großlandschaften Italiens nicht überall dem langobardischen und dem byzantinischen Gebiet. Die grundsätzliche Rückführung auf die politischen Verhältnisse wäre jedenfalls ein Irrweg: Vergleichsweise spät hat sich die Forschung den natürlichen Voraussetzungen der Landschaft zugewandt. Wegweisend war Richard Heubergers Studie über „Geländegestaltung und Urkundenwesen in den Alpen“36. Naturgegebene Kanalisierung von Verkehrsströmen und winterliche Unpassierbarkeit von Passwegen wirkten sich eben auch auf das Urkundenwesen aus. In der Abgeschlossenheit einzelner Täler oder auch Talabschnitte konnten früher allgemeine Erscheinungen zu örtlichen Besonderheiten werden37.   Ebd. 256.   So besonders bei Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 60f. Aus dieser Sicht konnte auch wie selbstverständlich von „Rechts- und Urkundengebieten“ die Rede sein; vgl. die Zitate bei Scalfati, Privaturkundenlehre (wie Anm. 11) 142 und 150. 33   Steinacker hat eben deshalb auch einmal von „den Urkundenterritorien bzw. den Personenkreisen“ gesprochen: Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 17 Anm. 43a. 34   Das beginnt mit der zu verschiedenen Zeitpunkten geschehenen Loslösung einzelner Provinzen vom römischen Reich. Vgl. Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 60f.; Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 413. 35   So hat bereits de Boüard gezeigt, dass sich innerhalb Südfrankreichs die römische Urkundenpraxis am besten in Septimanien gehalten hat. Vollends ein Paradebeispiel ist der Dukat Neapel mit seinen KurialenUrkunden. Insbesondere die Gesetzgebung konnte innerhalb von einzelnen Reichen auch formal vereinheitlichend wirken. Auch Churrätien ist ein Paradefall für diese Sichtweise; zu letzterem in jüngster Zeit prägnant Herwig Wolframs Vorwort in Erhart–Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16) 11. 36  Heuberger, Geländegestaltung (wie Anm. 24) 1–57. 37  Umgekehrt konnte die Entwicklung von „Pass-Staaten“ wie Savoyen oder Tirol die Besonderheiten der einzelnen Talschaften dann auch wieder zurückdrängen. 31 32

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In Übereinstimmung auch mit neueren Forschungen zum Notariat38 und zu den Kanzellariaten39 im Gebiet der heutigen Schweiz wird man verallgemeinernd sagen dürfen: Die Alpen sind im Hinblick auf das Privaturkundenwesen der benachbarten Regionen eine beachtliche Barriere40. Die immer wieder bemühten Durchzugsstraßen und „internationalen“ Kulturkontakte bedeuten noch lange nicht, dass auch die beiderseits (bzw. auch innerhalb) der Alpen liegenden (und von diesen Verkehrswegen durchzogenen) Landschaften sich kulturell aneinander angeglichen haben mussten41. Mehrfach ist gezeigt worden, dass das notarielle Urkundenwesen bei seiner Ausbreitung nach Westen und Norden nicht, wie früher vermeint, in erster Linie die Alpenpässe überschritten hat, sondern andere Wege gegangen ist. Das gilt für die Provence42 und für das Römisch-deutsche Reich insgesamt43. Selbstverständlich ist zuzugeben, dass eine Rolle der natürlichen Gegebenhei38  Otto P. Clavadetscher, Zum Notariat im mittelalterlichen Rätien, in: Festschrift Friedrich Hausmann, hg. von Herwig Ebner (Graz 1977) 81–92; Peter Rück, Die Anfänge des öffentlichen Notariats in der Schweiz (12.–14. Jh.), in: Notariado público y documento privado: de los orígenes al siglo XIV. Actas del VII Congreso Internacional de Diplomatica, Valencia, 1986 (Papers i Documents 7, Valencia 1989) 843–877, wieder abgedruckt (mit Berichtigung von zahlreichen Druckfehlern der Erstausgabe) in AfD 36 (1990) 93–123; Otto P. Clavadetscher, Die Notariatsurkunde auf dem Weg vom Süden nach dem Norden, in: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.–14. Jahrhundert), hg. von Siegfried de Rachewiltz–Josef Riedmann (Sigmaringen 1995) 221–229; dazu italienische Fassung: I documenti notarili in cammino da Sud a Nord, in: Comunicazione e mobilità nel Medioevo. Incontri fra il Sud e il Centro dell’Europa (secoli XI–XIV) (Annali dell’Istituto storico italo-germanico. Quaderno 48, Bologna 1997) 381–395. 39   Otto P. Clavadetscher, Das öffentliche Kanzellariat in Rätien, in: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, vorgelegt von Mitgliedern des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, hg. von Jürgen Petersohn (VuF 54, Stuttgart 2001) 29–40; Peter Rück, Das öffentliche Kanzellariat in der Westschweiz (8.–14. Jh.), in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter 1 (München 1984) 203–271, wieder abgedruckt in: Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag von Peter Rück, hg. von Erika Eisenlohr–Peter Worm (Elementa diplomatica 9, Marburg an der Lahn 2000) 65–95. 40   Reinhard Härtel, Diplomatica transalpina in Friuli: un caso particolare?, in: Le Alpi porta d’Europa (wie Anm. 6) 57–81, hier 70–74. Im Westen hat diese Trennfunktion der Alpenhauptkamm inne, im Osten, gegenüber dem Veneto und dem Friaul, tun dies die Dolomiten und die Karnischen Alpen: ebd. 79f. Klar muss freilich sein, dass auch die schroffsten Gebirge Urkundenlandschaften nicht sozusagen erzeugen, sondern lediglich deren Entstehung und Behauptung begünstigen können. 41   Härtel, Diplomatica transalpina (wie Anm. 40) 58; am Beispiel des Friaul ders., Friaul als Brücke zwischen Nord und Süd, in: Kommunikation und Mobilität (wie Anm. 38) 291–304, hier 298 und 303; italienische Fassung 495–518, hier 506f. und 515. Ein markantes Beispiel für ausgeprägtes urkundliches Eigenleben in einer an einer Passverbindung gelegenen Landschaft bietet das Aostatal; dazu zuletzt Gian Giacomo Fissore, Le forme extranotarili di autenticazione: Considerazioni su radici e modelli di un’area periferica della documentazione nell’Italia settentrionale, in: Libri e documenti (wie Anm. 11) 199–230. 42   Die ältere Auffassung, dass das Notariat von Oberitalien über die Westalpenpässe in die Provence vorgedrungen sei, scheint heute nicht einmal zugunsten der Küstenstraße, sondern im Sinne des Seeweges entschieden; vgl. Robert-Henri Bautier, L’authentification des actes privés dans la France médiévale. Notariat public et juridiction gracieuse, in: Notariado público (wie Anm. 38) 701–772, hier 716, wieder abgedruckt in: ders., Chartes, sceaux et chancelleries. Études de diplomatique et de sigillographie médiévales 1 (Mémoires et documents de l’École des chartes 34/I, Paris 1990) 269–340, hier 284. 43   Das Notariat ist, wie man seit geraumer Zeit weiß, nicht über Südtirol oder parallele Wege nach Deutschland gekommen, sondern von Westen her, im Zug des Ausbaus der geistlichen Gerichtsbarkeit. Nicht zufällig finden sich im Römisch-deutschen Reich die frühesten Zeugnisse betreffend hier ansässige öffentliche Notare nicht in Bayern oder Schwaben, sondern am Mittelrhein. Vgl. dazu bereits Ludwig Koechling, Untersuchungen über die Anfänge des öffentlichen Notariats in Deutschland (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte II/1, Marburg 1925) 5–20; Peter-Johannes Schuler, Fortleben des Notariats in Verwaltung und Urkundenwesen im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Notariado público (wie Anm. 38) 1225–1258,



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ten der Landschaft für die räumliche Differenzierung des Urkundenwesens am ehesten in gebirgigen Regionen in Frage kommt. Für Richard Heuberger, der in Innsbruck wirkte, war sie nicht nur naheliegend, sondern sogar augenfällig. In anderen Gegenden wird dieses Erklärungsmodell weniger oder gar nicht greifen. Nur eher fallweise wurde auch an andere Ursachen gedacht, wie etwa an soziale und wirtschaftliche Zustände44. Auch die Entfaltung bestimmter Behörden kommt in Frage, wie die von Offizialatsgerichten oder glaubwürdigen Orten. Besonders erstaunlich ist, dass die Mobilität von „Kulturträgern“ im Zusammenhang mit den Urkundenlandschaften noch nie als solche thematisiert worden ist, obwohl die Thematik Migration seit geraumer Zeit in aller Munde ist. Die Rolle mönchischer „Migranten“ für das Urkundenwesen wurde zwar in Einzelfällen ins Licht gerückt, so im Kloster Mondsee45 und im Friaul46, aber nie grundsätzlich bzw. im Zusammenhang studiert47. Die bunte Palette an möglichen Ursachen für die Entstehung von Urkundenlandschaften hat letztlich wohl auch damit zu tun, dass keine rechte Vorstellung davon besteht, ob man für das „Wie“ des Zustandekommens von Urkundenlandschaften eher an schon bestehende Traditionen, an strahlkräftige Zentren oder an osmoseartigen Kulturkontakt denken soll. Außerdem sind insbesondere bei dünner Überlieferung scharfe Grenzen zwischen den einzelnen Urkundenlandschaften kaum feststellbar48, Überlappungen kommen aber auch sonst häufig vor49. Vor allem steht auch nicht von vornherein fest, dass die Betrachtung der einzelnen äußeren und inneren Merkmale zu einander entsprechenden Ergebnissen führen muss. Zu alledem sind Urkundenlandschaften veränderliche Gebilde50, und natürlich kann auch die Betrachtung verschiedener Urkundenarten bei der Feststellung von Urkundenlandschaften zu verschiedenen Ergebnissen führen51. All dies erzeugt interpretatorische Freiräume bzw. Unsicherheiten.

hier 1227f. Dass die Ausbreitung des Notariats in Südtirol für seine Rezeption nördlich der Alpen unwesentlich war, zeigt seitdem auch Christian Neschwara, Geschichte des österreichischen Notariats 1: Vom Spätmittelalter bis zum Erlaß der Notariatsordnung 1850 (Wien 1996) 30–34. 44  Innerhalb des Regnum Italiae hat Cristina Mantegna zwei Urkundenlandschaften mit jeweils spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Merkmalen unterschieden, was eine entsprechende Rolle eben dieser Besonderheiten nahezulegen schien: Mantegna, Oltralpe (wie Anm. 6) 113f. 45  Fichtenau, Urkundenwesen 20, 23 und 35, hat ein zuerst in Mondsee und dann in Passau auftretendes Formular auf mönchische „Migranten“ und damit letztlich auf alemannische Herkunft zurückgeführt. 46   Siehe unten S. 205f. 47  Die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochterklöstern und ordensspezifische Erscheinungen gehören nicht hierher. In beiden Fällen geht es bestenfalls um Urkundenlandschaften „in der Diaspora“. Die vor allem von Otto Posse vertretene Vorstellung von der Ausbreitung von urkundlichen Gewohnheiten über Tochterklöster hat zudem bereits Steinacker, Privaturkunden (wie Anm. 21) 256, massiv eingeschränkt. 48   So sind genauere Abgrenzungen etwa innerhalb des fränkischen bzw. karolingischen Reichs kaum möglich, jedenfalls nicht anhand der äußeren Merkmale; vgl. Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 290f., 301 und 414. Bei Heranziehung auch der inneren Merkmale ist die Lage besser; vgl. ebd. 417. 49  Zu Überlappungsbereichen von Urkundenlandschaften allgemein Paul Herold, Urkunden als Schnittpunkte von Zeiten und Räumen. Zur Verschriftlichung von Zeitpunkten und Verortung von Ereignissen. Aspekte der Datierung in mittelalterlichen Urkunden, in: Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit, hg. von Wolfgang Hameter et al. (Querschnitte 77, Innsbruck u. a. 2005) 94–115, hier 101. 50  Über diesen Aspekt hat man sich, so scheint es, in systematischer Weise bisher am allerwenigsten Gedanken gemacht. 51  Ein solches Ergebnis bei Werner Bergmann, Untersuchungen zu den Gerichtsurkunden der Merowingerzeit. AfD 22 (1976) 1–186, hier 132f.

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Zu guter Letzt hat nun Heinrich Fichtenau mit seiner oben bereits referierten Aussage, am ehesten wären Diözesen maßgeblich, einen völlig neuen Gesichtspunkt eingeführt. Fichtenau hat sich dabei ausdrücklich auf das Hochmittelalter und implizit auf den Raum etwa des heutigen Österreich bezogen. Das Hochmittelalter ist nun eben jene Phase der Entwicklung, in der das bischöfliche Urkundenwesen in vielem tonangebend war52. Es handelt sich um einen Modellfall dafür, dass Wandlungen in den Trägern der Urkundlichkeit die Urkundenlandschaft verändern bzw. bestimmen können53. So gesehen liegt die Strukturierung nach Diözesen tatsächlich nahe, und sie lässt sich zwischen Bodensee und Salurn auch recht gut nachvollziehen54. Auf die Draugrenze zwischen den Sprengeln von Salzburg und Aquileia, wo man namhafte Unterschiede erwarten dürfte, scheint Fichtenaus Modell aber nicht mehr anwendbar zu sein55. Überhaupt wird das Bild der Urkundenlandschaften immer diffuser, je weiter wir innerhalb Österreichs nach Osten kommen. Es ist das eine Folge der Forschungsgeschichte, deren Erfolge und Lücken natürlich auch Fichtenaus Werk nicht einfach einebnen konnte.

Forschungsprogramme und Realität Denn die Forschung hat ihre programmatischen Forderungen nach systematischer Aufarbeitung der Urkundenlandschaften zwar mehrfach erneuert, aber die Bearbeitung hielt mit der zur Schau getragenen Bedeutung nicht Schritt56. Die Forderung nach Erforschung der Urkundenlandschaften teilt damit das Schicksal von nicht wenigen anderen Forderungen unserer Disziplin57. Manche Gelegenheit zu Fortschritten blieb ungenutzt oder musste ungenutzt bleiben. Benoît-Michel Tock hat sein Buch über die Subskriptionen in den älteren Urkunden Frankreichs anhand einer gewaltigen Urkundendatenbank erarbeitet, welche für die Erarbeitung von Urkundenlandschaften Voraussetzungen geboten hätte, von denen andere Forscher nur träumen können. Er hat die Gelegenheit nicht

  Dies gilt auch und gerade für die aus dem österreichischen Raum erhaltene Überlieferung.   Noch bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts hinein waren die königlichen Diplome die Träger der „Urkundlichkeit“ gewesen; vgl. Fichtenau, Urkundenwesen 134. 54   Was die rätische Urkunde anlangt, so stand am Anfang von deren Entwicklung allerdings die Vereinigung von weltlicher und kirchlicher Macht in ein und derselben Hand, und zur Grenze zwischen rätischem und alemannischem Urkundengebiet lässt sich spekulieren, inwieweit diese Grenze mit der Sprachgrenze zusammenfiel oder auch nicht. Vgl. Erhart–Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16) 13. 55   Dass es hier sogar um eine Grenze zwischen zwei Kirchenprovinzen ging (und nicht nur um zwei Diözesen innerhalb einer solchen), hat freilich nicht viel zu besagen: Wo immer nach einer Musterwirkung erzbischöflichen Urkundenwesens auf jenes der Suffraganbischöfe gefragt wurde, ist die Antwort negativ ausgefallen. Wenn also die Diözesen für die Bildung von Urkundenlandschaften maßgeblich sein können, so sind es die Kirchenprovinzen sicher nicht. Vgl. zu dieser Problematik Reinhard Härtel, Metropolit – Suffraganbischöfe – Kapitel. Die Urkunden im Umfeld der Patriarchen von Aquileia, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 10) 65–83; Patrick Demouy, Chancellerie archiépiscopale et province ecclésiastique: l’exemple de Reims (989–1175), in: ebd. 243–254. So blieb auch der Übergang des Bistums Chur von der Kirchenprovinz Mailand zu jener von Mainz (Mitte 9. Jh.) auf die „Urkundenlandschaft Rätien“ ohne Auswirkungen. 56   So Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 289. Zum mangelnden Fortschritt auf diesem Gebiet in früherer Zeit bereits Johanek, Frühzeit (wie Anm. 21) 1. 57   Diese Erscheinung wird wohl noch dadurch verstärkt, dass die Interessenschwerpunkte der Forschung im Lauf der Zeit Wandlungen erfahren und dass damit einst brennende Forschungsprobleme in den Augen vieler jetzt weniger oder ganz unergiebig scheinen. 52 53



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ergriffen, aber immerhin die Gründe für seine Entscheidung dargelegt58. Die Programmatik der 2006 in St. Gallen abgehaltenen Tagung „Die Privaturkunden der Karolingerzeit“ war in beachtlichem Maß von der Frage nach den Urkundenlandschaften geprägt59, und auch im Tagungsband wird dieses Ziel ausdrücklich ausgesprochen60. Demgegenüber aber spielen die Urkundenlandschaften in eben diesem Band eine im Vergleich zu den Erwartungen eher untergeordnete Rolle, was zum guten Teil daran liegt, dass sich die einzelnen Beiträger, die sich mit bestimmten Regionen befassten, zur Konstatierung von Urkundenlandschaften mehrfach nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage sahen61. Das hat auch Walter Pohl, selbst an Tagung wie Tagungsband beteiligt, so gesehen62. Wer die Publikationen (oder auch nur größere Kapitel innerhalb umfassenderer Darstellungen) abzählen will, in denen die Urkundenlandschaften ausdrücklich thematisiert sind, kommt fast mit den Fingern einer Hand aus63. Man wird auch sagen dürfen, dass einige aktuelle Forschungskonjunkturen dem Studium der Urkundenlandschaften eher ab- als zuträglich sind64. So hat auch noch niemand die Kartierung einer Urkundenlandschaft gewagt, obwohl Olivier Guyotjeannin (für Frankreich) die hochmittelalterlichen „provinces diplomatiques“ als nahezu kartographierbar bezeichnet hat65. Sogar die nötigen grundsätzlichen Vorüberlegungen dazu scheinen bis heute unerörtert geblieben zu sein, so vor allem die, ob eine Kartierung (wie überhaupt die geographische Umschreibung einer Urkundenlandschaft) das Gewicht auf die Ausstellungs- bzw. Handlungsorte legen soll oder ob es mehr auf die Sitze der Aussteller und/oder der Empfänger ankommt66. Aber solche Atlanten, wie sie die Dialektforscher schon längst haben, sollten in der Diplomatik doch 58   Tock, Scribes (wie Anm. 8) 421: Die Erforschung von Urkundenlandschaften war nicht das eigentliche Ziel, und weil nur die Originale in die Untersuchung einbezogen werden konnten, wäre eine genaue Abgrenzung ohnehin nicht möglich gewesen. 59  Das geht nicht nur aus dem gedruckten Programm hervor, sondern auch aus der in diesem Kontext entstandenen (und programmatisch Heinrich Fichtenau verpflichteten) Publikation: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart–Lorenz Hollenstein (St. Gallen 2006) 7. 60  Erhart et al., Einleitung (wie Anm. 17) 10. 61   Die Privaturkunden der Karolingerzeit (wie Anm. 7). Das Gesagte gilt insbesondere für die Beiträge von Cristina Mantegna, Il documento privato di area longobarda in età carolingia (57–71); Santoni, Area romanica (wie Anm. 11); Declercq, Formulae salicae Lindenbrogianae (wie Anm. 7); Gesine Jordan, Kein „Urkundenterritorium“. Zur Diplomatik der bretonischen Privaturkunden im 9. und 10. Jahrhundert (213– 227). Sogar die seit langem als solche „anerkannte“ Urkundenlandschaft Alemannien wurde demontiert: Karl Heidecker, Urkunden schreiben im alemannischen Umfeld des Klosters St. Gallen (183–192). 62  Walter Pohl, Ausblick: Von der Vielfalt der Diplomatik, in: ebd. 243–248, hier 247: „Auch wenn sich in diesem Band regionale Urkundenlandschaften nur undeutlich abzeichnen ...“. 63  Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 57–64, hat den großen Urkundenterritorien des Frühmittelalters wenigstens ein eigenes Kapitel gewidmet. Zuletzt hat sich Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) insbesondere 289 und 413 (Kapitelüberschriften), in eigenen Abschnitten mit dem Problem der Urkundenlandschaften befasst und fand die äußeren Merkmale nicht ausreichend, um auf ihrer Grundlage zu einer zufriedenstellenden Gliederung zu kommen (vgl. dazu die oben in Anm. 48 angegebenen Stellen). 64  Dazu gehört etwa – bei allen anderweitigen Verdiensten – ­ die Hinwendung zu Themen wie Kommunikation und Schriftlichkeit. 65  Guyotjeannin, Penuria (wie Anm. 7) 19. – Die Karte der bloßen Ausstellungsorte rätischer Urkunden bei Erhart–Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16) 272, kann in diesem Zusammenhang wohl nicht gezählt werden. Unter diesen Ausstellungsorten findet sich (selbstverständlich) auch das Kloster St. Gallen. Die schlichte Zurechnung dieses Klosters zur Urkundenlandschaft Rätien wäre aber irreführend. 66   Auch ist offen, wie den untereinander nicht selten widersprechenden Kriterien und obendrein auch noch der Dynamik der Urkundenlandschaften am besten Rechnung getragen werden kann. Mit Flächenfarbe und scharfen Grenzlinien wird man der Problemstellung sicher nicht gerecht.

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auch möglich sein. Ein brauchbares Modell scheint der Atlas zu den französischen Urkunden des 13. Jahrhunderts zu sein, den Anthonij Dees herausgebracht hat67. Die geographische Strukturierung dieses Werks hält sich an die Verwaltungsbezirke von heute (Départements usw.). Den mittelalterlichen Urkundenlandschaften wäre mit einer solchen Vorgangsweise zwar sicher viel Gewalt angetan, aber dafür könnte die Forschung in der Zukunft so viele Volten schlagen wie sie will, ein solcher Atlas bleibt sozusagen „unvoreingenommen“ und wird eben deshalb seinen Wert bewahren. Eine andere Beobachtung zur Forschungslandschaft war schlichtweg frappierend: Wenn sich Forscher mit Urkundenlandschaften eingehend und grundsätzlich befasst haben, insbesondere in programmatischer Weise oder durch entsprechende Betitelung einer Publikation, dann waren das so gut wie immer Österreicher68. Es gibt nur wenige Ausnahmen dieser Regel, und selbst hier fallen Persönlichkeiten auf, deren wissenschaftlicher Werdegang eng mit Österreich verknüpft ist69. Es fällt sehr schwer, an Zufall zu glauben. Eine überzeugende Erklärung für diese Erscheinung steht noch aus. Es darf aber als wahrscheinlich gelten, dass auch der beachtliche Tiroler Anteil am Studium der Urkundenlandschaften kein Zufall ist und eben dieser mit der Abgrenzung von nördlicher Siegelurkunde und südlichem Notariatsinstrument zu tun hat, eine Problematik, die in Tirol auch eine politische Dimension bekam. Auf diese Verhältnisse wird gleich näher einzugehen sein.

Urkundenlandschaften zwischen Donau und Rhein Was Fichtenau in seinem „Urkundenwesen in Österreich“ an ins Einzelne gehenden bzw. an genaueren Ergebnissen vorlegen konnte, betrifft zum einen Vorarlberg und zum anderen Südtirol, und er steht damit in den Spuren einer jahrzehntelangen Tradition 70. Die Ursachen dafür sind leicht zu erkennen: Urkundenlandschaften sind dort am besten sichtbar, wo – abgesehen von einer ausreichenden Materialgrundlage – stark unterschiedliche Systeme aufeinandertreffen. Das gilt zum einen für die rätische Urkunde, die – wenn man das österreichische Territorium betrachtet – in scharf umrissener Weise im Süden des heutigen Vorarlberg ihre bedeutsame Rolle gespielt hat71. Seither ist Rätien auch mono67  Anthonij Dees, Atlas des formes et des constructions des chartes françaises du 13e siècle (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 178, Tübingen 1980). 68   Das gilt in erster Linie – außer für Heinrich Fichtenau – für Harold Steinacker und Oswald Redlich, weiters für Richard Heuberger, Peter Erhart und Paul Herold. Der Verfasser dieses Beitrags wird sich auch dazu zählen dürfen. 69  Mark Mersiowsky ist schon sehr lange vor der Abfassung seiner Urkundenlandschaftskapitel auch in der österreichischen Wissenschaftsszene sozialisiert. Sogar die (virtuelle) „Urkundenlandschaft der Diözese Passau“ geht auf eine Tagung zurück, die vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung mitveranstaltet war und auf welcher knapp zwei Drittel der Referenten aus Österreich gekommen sind. 70  Was das Frühmittelalter angeht, so hat Heinrich Fichtenau das Urkundenwesen auf dem Boden des heutigen Österreich vor allem im Kontext mit der westlichen Nachbarschaft betrachtet, d. h. in seinen Zusammenhängen mit Bayern und dem alemannischen Raum; so als erklärtes Programm Fichtenau, Urkundenwesen 255. Hier aber ging es mehr um Zusammenhänge als um Abgrenzung. 71   Fichtenau, Urkundenwesen 55, hat das Gegenüber von rätischer und alemannischer Urkunde im Vorarlberger Ober- und Unterland wie folgt dargestellt: „Dort eine kleine, fest gefügte Gruppe einheimischer Prägung, hier die Ausläufer des weitaus umfänglicheren, locker und vielfältig organisierten südalemannischen Urkundenwesens“. Ebd. 49 ein eindrucksvolles Beispiel von Abgrenzung auch in „Kleinigkeiten“. Jordan, Bretagne (wie Anm. 61) 213, geht so weit zu sagen, Fichtenau habe die Idee der Urkundenlandschaft am Beispiel der rätischen und alemannischen Urkunde entwickelt.



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graphisch als „Urkundenlandschaft“ aufgearbeitet worden72. Aber trotz aller Deutlichkeit dieser Urkundenlandschaft darf nicht vergessen werden, dass es sich auch hier um ein Konstrukt der Wissenschaft von heute handelt73. Zum anderen gilt das für Südtirol. Hier zeigt sich die Fragestellung nach den Urkundenlandschaften als die regionale Ausprägung des Aufeinandertreffens von Traditionsnotiz und Siegelurkunde einer- und der notariellen Urkunde andererseits. Insbesondere die Abtrennung Südtirols nach dem Ersten Weltkrieg und die Auseinandersetzungen der Folgezeit haben hier die Diskussion um Urkundenlandschaften in politische Spannungsfelder hingezogen. Darüber hat eben jüngst Giuseppe Albertoni in ausgewogener Weise gehandelt74, beginnend bei der politisierenden Benützung der mittelalterlichen Notare in Südtirol durch Ettore Tolomei75. Albertoni beobachtet die gewissermaßen kriegerische Sprechweise einzelner Protagonisten in der historiographischen Auseinandersetzung (mit Termini wie Rückeroberung usw.)76. Siegel- und notarielles Urkundenwesen erschienen hier als zwei als unversöhnlich aufgefasste Systeme; Hybridformen waren im Kontext der Auseinandersetzung weniger ein interessantes Studienobjekt und eher ein Ärgernis. Vor dem Hintergrund der Anschauung, das Urkundenwesen sei jeweils ein Spiegel der Gewohnheiten der betreffenden Gesellschaft, wurden urkundliche Formen als Indikator für kulturelle und territoriale Grenzen angesehen und benützt. Eben deshalb ging die Auseinandersetzung auch darum, ob das nun einmal auch in Südtirol nachweisbare Notariat hier wirklich eingewurzelt gewesen sei, sowie darum, ob oder inwieweit die urkundlichen Systeme Rechtsgebieten oder Sprachgrenzen entsprachen77. Eine echte Diskussion zum Thema kam lange nicht zustande78. Das aus der Zwischenkriegszeit rührende Gegensatzparadigma war für lange Zeit bestimmend und hat die Historiker beider Seiten noch bis in die 1960er Jahre ge72   Erhart–Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16). Entsprechende Würdigung z. B. bei Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 417. 73  Das wurde vor nicht langer Zeit ausdrücklich in Erinnerung gerufen: Hannes Obermair, Das Recht der tirolisch-trientinischen „Regio“ zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Concilium medii aevi 9 (2006) 141–158, hier 152–154. 74   Giuseppe Albertoni, Il notariato del Tirolo medievale nello specchio della storiografia italiana e tedesca tra le due guerre. Vortrag, gehalten am 24. Februar 2011 auf der Tagung „Il notariato nell’arco alpino. Produzione e conservazione delle carte notarili tra medioevo ed età moderna“ in Trient. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags möchte dem Autor auch hier seinen Dank für die freundliche Überlassung des für den Druck vorbereiteten Textes aussprechen. 75  Ettore Tolomei, Recupero del materiale archivistico di Merano. Archivio per l’Alto Adige 31/1 (1936) 145–153. 76  Dies geschieht insbesondere anhand der Diktion von Richard Heuberger. 77   Vgl. grundsätzlich Richard Heuberger, Das deutschtiroler Notariat. Umrisse seiner mittelalterlichen Entwicklung. Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 6 (1927) 27–122; Franz Huter, Das Urkundenwesen Deutschsüdtirols vor dem Jahre 1200. Ein Überblick über die verbreiteten Urkundenarten und ihre Entwicklung. Tiroler Heimat 7/8 (1934/35) 183–213, besonders 201–213 (zum Notariatsinstrument); ders. in: Tiroler Urkundenbuch I/1 (Innsbruck 1937) XVI–XIX; ebd. I/2 (Innsbruck 1949) VI–XI; ebd. I/3 (Innsbruck 1957) IX–XV (jeweils in den einleitenden Bemerkungen über die Verteilung der Urkundenarten). Geraffte Zusammenfassung in ders., Das Südtiroler Notariat als urkundengeschichtliche Erscheinung. Österreichische Notariats-Zeitung 83 (1951) 133–135; dazu Neudr. in ders., Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Tirols, hg. von Marjan Cescutti–Josef Riedmann (Schlern-Schriften 300, Innsbruck 1997) 110–113. 78  Sie wäre auch dadurch erschwert gewesen, dass jene Italiener, die sich mit den mittelalterlichen Urkunden Südtirols befassten, die Sache überwiegend als Rechtshistoriker anpackten. Bei ihnen ging es also nicht eigentlich um Urkundenterritorien; aus diesem Grund braucht hier auf diese Arbeiten auch nicht näher eingegangen zu werden.

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trennt79. So weit Albertoni. Natürlich ist auch Fichtenaus „Urkundenwesen in Österreich“ im Wesentlichen den Ergebnissen von Richard Heuberger und Franz Huter verpflichtet: Notariats­instrument und Siegelurkunden waren Konkurrenten, jetzt aber nicht mehr im Sinne einer nationalen Scheidung, und Fichtenau betonte nunmehr auch das Miteinander der verschiedenen kulturellen Traditionen80. Damit schlug er den Bogen zurück in eine Zeit lange vor dem Ersten Weltkrieg, als Hans von Voltelini in seiner Ausgabe der Südtiroler Notarsimbreviaturen das Land Tirol als eine Pforte charakterisierte, „an der sich“ (so Voltelini) „zwei der edelsten Nationen Europas die Hand zwar nicht immer zu zärtlicher Begrüssung, immer aber zu segensreichem Austausche germanischer und romanischer Cultur reichen“81. Pforten haben es eben an sich, zu Zeiten begangen zu werden und zu anderen Zeiten nicht gefragt zu sein. Weiter im Osten werden in Fichtenaus „Urkundenwesen“ die Abgrenzungen viel weniger scharf, und die Eindringlichkeit der Bearbeitung lässt – was die Urkundenlandschaften angeht – spürbar nach82. Natürlich wird klar, dass das Urkundenwesen in Kärnten (dessen Territorium überwiegend zur Diözese Salzburg gehörte und dessen Bistum Gurk ein Eigenbistum Salzburgs war) engstens mit jenem von Salzburg zusammenhängt 83. Dementgegen mag an anderer Stelle jene Charakteristik Kärntens überraschen, der gemäß diese Urkundenlandschaft ihrem Typus nach am ehesten mit der tirolischen verwandt gewesen war, gegenüber der ganz anders gearteten Salzburgs84. Auch in der Steiermark herrschten zunächst Salzburger Diktate und Schreiberhände vor; im Lauf des 12. Jahrhunderts wurden die steirischen Klöster und Stifte urkundlich selbständiger 85. Dem gegenüber stehen die engen Beziehungen im österreichischen Donauland zur Passauer Kanzlei86. Hier zeichnen sich tatsächlich die Diözesen als Urkundenlandschaften ab.

79  Vielfach verdienten die in diesem Zusammenhang geführten Debatten diese Bezeichnung nicht wirklich: Deutsche wie Italiener (um wie Albertoni etwas zu vereinfachen) publizierten zumeist in solchen Organen, die mit hoher Zuverlässigkeit nur von Lesern der jeweils eigenen Nationalität oder kulturellen Tradition gelesen wurden. 80  Fichtenau, Urkundenwesen 174. Vgl. aus neuerer Zeit auch Werner Köfler, Zum Vordringen des Notariats in Tirol, in: Notariado público (wie Anm. 38) 1167–1175; Neschwara, Notariat (wie Anm. 43) 30–34. 81   Hans von Voltelini, Die Südtiroler Notariats-Imbreviaturen des dreizehnten Jahrhunderts 1 (Acta Tirolensia II/1, Innsbruck 1899) XI. 82  Was es an Bemerkungen zum Thema gibt, findet sich in Fichtenaus Buch an verstreuten Stellen. Außer den gleich weiter unten zu erörternden Bemerkungen geht es hier z. B. um den Hinweis auf zeitliche Verschiebungen in der Entwicklung der Urkundlichkeit in einzelnen österreichischen Landschaften; bei gewissen (vorübergehenden) Sonderentwicklungen in Salzburg geht es vor allem um das Bene valete in erzbischöflichen Urkunden: Fichtenau, Urkundenwesen 161 und 182. 83  Dies vor allem über das Bistum Gurk; ebd. 186. 84  Fichtenau, Urkundenwesen 198. Aber es gibt auch immer wieder Berührungen mit dem südlichen Urkundenwesen, sprich mit jenem im Friaul; zu Mischformen brauchte es aber lange (ebd. 197f.). Zu den Einflüssen aus dem Süden bereits Oswald Redlich, Siegelurkunde und Notariatsurkunde in den südöstlichen Alpenländern. Carinthia I 103 (1913) 23–33. 85  Fichtenau, Urkundenwesen 199. 86  Im österreichischen Donauland hatte der Bischof von Passau seit Altmann eine bedeutende Stellung inne, ab etwa 1200 bestanden enge Beziehungen auch zwischen der Passauer Kanzlei und jener der Babenberger; das Passauer Urkundenwesen gab der Urkunde in Österreich etliches an Anregungen: Fichtenau, Urkundenwesen 221.



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Friaul, Krain und Istrien Aber ein Blick in die südliche Nachbarschaft zeigt, dass das Bild von dieser Rolle der hochmittelalterlichen Diözesen jenseits der Grenzen des heutigen Österreich sehr bald seine Geltung verlieren kann. Ein erstes Beispiel hierfür ist das Friaul. Bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts gab es hier nur notarielle Urkunden, im 12. Jahrhundert hingegen – neben den Siegelurkunden der Patriarchen – vielerorts auch Traditionsnotizen von nördlicher Art, jedenfalls in Klöstern und Kapiteln87. Nirgendwo sonst in Venetien und Istrien ist Vergleichbares festzustellen 88. Der aus dem Norden ins Friaul gekommene Adel hat sich hier allerdings regelmäßig des Notariats bedient. Das lenkt das Interesse auf die transalpinen Verbindungen des friaulischen Klerus. Im 11. und 12. Jahrhundert wurden mehrere friaulische Klöster vom Norden her besiedelt. Im ganzen 12. Jahrhundert blieben die engen Beziehungen zu Reformklöstern im heutigen Österreich und in Süddeutschland lebendig. Das zeigt sich in erster Linie in den Memorialquellen89, aber es gibt auch urkundliche Nachweise90. Ähnlich zeigt das Nekrolog des Aquileier Domkapitels dessen Verbindungen zu dem aus dem Norden gekommenen Adel im 11. und 12. Jahrhundert91. All das fügt sich bestens zu dem Bild, 87  Zum Urkundenwesen im Friaul und in dessen Nachbarländern Reinhard Härtel, Notariat und Romanisierung. Das Urkundenwesen in Venetien und Istrien im Rahmen der politischen und der Kulturgeschichte (11.–13. Jh.), in: Notariado público (wie Anm. 38) 879–926; dazu leicht adaptierte Version unter dem Titel: Die Kultur des mittelalterlichen Friaul zwischen Veneto und Österreich, in: Cultura in Friuli. Atti del convegno internazionale di studi in omaggio a Giuseppe Marchetti (1902–1966) 1, hg. von Gian Carlo Menis (Udine 1988) 49–86. Eine knapper gehaltene Übersicht bietet ders., Wolfger und das Schriftwesen in Oberitalien, in: Wolfger von Erla, Bischof von Passau (1191–1204) und Patriarch von Aquileja (1204–1218) als Kirchenfürst und Literaturmäzen, hg. von Egon Boshof–Fritz Peter Knapp (Germanische Bibliothek N. F. 3/20, Heidelberg 1994) 139–194, bes. 146–167. Unter anderem Blickwinkel auch ders., Tre secoli di diplomatica patriarcale (944–1251), in: Il Patriarcato di Aquileia. Uno Stato nell’Europa medievale, hg. von Paolo Cammarosano (Udine 1999) 227–262. Vgl. auch Reinhard Härtel, Il notariato fra Alpi e Adriatico. Rassegna degli Archivi di Stato 60/1 (2000) 9–26; der letztere Beitrag nahezu identisch wiederholt in: Le Alpi medievali (wie Anm. 5) 263–279 mit Bibliographie 297–299. Zuletzt ders., Diplomatica transalpina (wie Anm. 40) 61–67. Auffallenderweise finden sich nördliche Urkundenformen nicht in dem reichen Bestand des westlich des Tagliamento und damit in der Diözese Concordia gelegenen Klosters Sesto. 88   Es gibt hier, wenn überhaupt, nur punktuelle Nachweise. Die auffälligste Konzentration findet sich nicht zufällig in Trient, siehe Hannes Obermair–Martin Bitschnau, Die Traditionsnotizen des Augustinerchorherrenstiftes St. Michael an der Etsch (San Michele all’Adige). Vorarbeiten zum „Tiroler Urkundenbuch“. MIÖG 105 (1997) 263–329. 89  Cesare Scalon, Fonti e ricerche per la storia del monastero benedettino di S. Maria di Aquileia, in: Atti del convegno internazionale di studio „Il Friuli dagli Ottoni agli Hohenstaufen“, 4–8 dicembre 1983, hg. von Giuseppe Fornasir (Udine 1984) 53–189, hier 53–70 (einleitender Teil); Johannes Giessauf, Totenmemoria im Südostalpenraum und seiner südlichen Nachbarschaft. Eine begrenzte Bestandsaufnahme bis 1300 oder Grenzen sind da, um überschritten zu werden, in: Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“, Friesach (Kärnten), 11.–15. September 2002, hg. von Reinhard Härtel et al. (Schriftenreihe der Akademie Friesach 8, Klagenfurt 2008) 151–202, hier 182–190; Härtel, Diplomatica transalpina (wie Anm. 40) 75–77. 90   Angehörige transalpiner Familien im Kloster S. Maria zu Aquileia bei Reinhard Härtel, Die älteren Urkunden des Klosters S. Maria zu Aquileia (1036–1250) (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturforum in Rom II/6/2, Wien 2005) 78 Nr. 3, 83–89 Nr. 6–8, 91f. Nr. 11, 94–96 Nr. 13 und 110f. Nr. 22. – Es erscheint signifikant, dass in Bezug auf alle diese Verbindungen das im westlichen Friaul gelegene Kloster Sesto wiederum abseits steht; vgl. Cesare Scalon, Produzione e fruizione del libro nel Basso Medioevo. Il caso Friuli (Medioevo e Umanesimo 88, Padova 1995) 11. 91   Cesare Scalon, Necrologium Aquileiense (Fonti per la storia della Chiesa in Friuli 1, Udine 1982) 53–55.

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wie es für die Kultur des Friaul in jener Zeit anhand anderer Kriterien schon gezeichnet worden ist92, und dieses wiederum fügt sich räumlich wie zeitlich sehr gut zur Verbreitung der nördlichen Urkundentypen. Hier im Friaul gibt es also tatsächlich auch einen ethnischen Zusammenhang – aber nicht bezogen auf eine flächenmäßig angesessene Bevölkerung, sondern auf (anfänglich) von außen her besetzte Institutionen. Die während des 12. Jahrhunderts im Friaul (östlich des Tagliamento) vorhandenen nördlichen Urkundenformen sind keine unmittelbare Folge der Diözesaneinteilung93 und ebenso wenig des Kulturkontakts, sondern sie sind die Folge des massiven Eintritts von Geistlichen aus dem Norden in – mehrfach eben erst gegründete – kirchliche Institutionen des Südens. Diese geistlichen Zuwanderer haben im Friaul an ihren gewohnten Beurkundungsformen festgehalten und damit für etliche Jahrzehnte eine Urkundenlandschaft geschaffen. Ohne entsprechenden personellen „Nachschub“ hatte diese aber nur beschränkten Bestand94. Hier war also ein Zuzug von Kulturträgern maßgeblich, wie ihn für das Frühmittelalter anhand des Mondseer-Passauer Formulars nicht zuletzt Fichtenau als für urkundliche Erscheinungen maßgeblich vorgeführt hat95. Lehrreich ist auch ein Blick nach Krain, dessen älteres Urkundenwesen erst in jüngerer und jüngster Zeit durch Dušan Kos und Peter Štih zusammenhängende Darstellungen erfahren hat96. Die Julischen Alpen und der Karst haben das im Wesentlichen dem Norden zugehörige Urkundenwesen Krains von der notariellen Mittelmeerwelt ebenso geschieden wie das die Karnischen Alpen und die Dolomiten weiter im Westen getan haben97. Wenn auch negative Kennzeichen eine Urkundenlandschaft definieren können, dann bildete Krain jedenfalls bis um 1200 eine solche insofern, als die dieses Land angehenden Urkunden, in Ermangelung der dafür nötigen Institutionen bzw. Zentren, nicht im Land selbst entstanden sind98. 92  Im Titel vielversprechend, inhaltlich aber unergiebig Pietro Londero, Penetrazione e diffusione del germanesimo in Friuli nei secoli XII–XIII. Ce fastu? 30 (1954) 120–124; vielseitig, aber unter ausdrücklichem Ausschluss der Privaturkunden Carlo Guido Mor, La cultura aquileiese nei secoli IX–XII, in: Storia della cultura veneta dalle origini al Trecento (Vicenza 1976) 287–311; mit besonderem Bezug auf das Handschriftenwesen Cesare Scalon, Libri, scuole e cultura nel Friuli medioevale. „Membra disiecta“ dell’Archivio di Stato di Udine (Medioevo e Umanesimo 65, Padova 1987) 11–22. 93  Es fällt natürlich auf, dass das vom nördlichen Urkundenwesen nicht berührte Kloster Sesto westlich des Tagliamento in der Diözese Concordia liegt. Doch dieses war seit dem 10. Jahrhundert ein Eigenbistum des Patriarchats Aquileia und gerade im 12. Jahrhundert mehrfach mit einstigen Patriarchen-„Kanzlern“ besetzt. Hier hätte man also ähnliche Effekte erwarten dürfen wie im Salzburger Eigenbistum Gurk. 94  Härtel, Diplomatica transalpina (wie Anm. 40) 80f. 95  Fichtenau, Urkundenwesen 20, 23 und 35. – Für die Traditionsnotizen von St. Michael an der Etsch gilt grundsätzlich dasselbe, doch blieb das Auftreten von nördlichen Beurkundungsformen hier in noch viel höherem Maße ephemer. 96  Zunächst die monographische Darstellung von Dušan Kos, Pismo, pisava, pisar. Prispevek k zgodovini kranjskih listin do leta 1300, mit englischer Zusammenfassung: Document, Writing, Writer. A Contribution to the History of the Carniolian Documents up to 1300 (Zgodovinski arhiv Ljubljana. Gradivo in razprave 14, Ljubljana 1994); zuletzt zwei bewusst sich ergänzende Beiträge: Peter Štih, Anfänge und Entwicklung der Urkunden und urkundennahen Schriftlichkeit im Gebiet Sloweniens bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, in: Schriftkultur zwischen Donau und Adria (wie Anm. 89) 293–310; Dušan Kos, Wie entwickelt sich das Urkundenwesen in der Provinz? Krain 1150–1300, in: ebd. 311–345. 97  Vgl. Štih, Anfänge (wie Anm. 96) 293f. 98  Ebd. 293f. und 304; Kos, Urkundenwesen (wie Anm. 96) 312f. Im sozusagen „nächsthöheren“ Fall, d. h. beim bloßen Fehlen besonderer Stilisierungen anstelle der Beachtung bestimmter Konventionen, spricht Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 414, von einer „Ähnlichkeit auf geringem Niveau“.



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Für eine gewisse (wenn auch bescheidene) Rolle des Notariats in Krain99 dürften (im späteren 13. Jahrhundert) kirchliche Amtsträger des Patriarchats verantwortlich gewesen sein. Allerdings bleibt unklar, ob diese hinsichtlich des Urkundenwesens eine über ihre eigene Tätigkeit hinausgehende Wirkung hatten100. Immerhin wird wieder einmal der Diözesansprengel als Hintergrund fassbar. Die personale Komponente wiederum wird an Mischformen deutlich, für welche Notare romanischer Herkunft (und mit Verbindungen nach Friaul oder Istrien) verantwortlich sind101. Anscheinend stand das Notariat auch am Anfang des Urkundenwesens in den städtischen Siedlungen102. Insgesamt kam es, dies auch unter Einfluss der tirolischen Verwaltung, zur Vorherrschaft der nördlichen Siegelurkunde, wenn auch unter Einschluss vieler Formeln aus den notariellen Instrumenten 103. Dušan Kos resümiert, dass sich bis um 1300 von „Krainer Urkunden“ nur im geographischen Sinne sprechen lässt104, und das hieße dann auch: von keiner Urkundenlandschaft Krain. Ein weiteres Ergebnis von Kos scheint übrigens die Bedeutung des Kulturkontakts für die Bildung von Urkundenlandschaften noch einmal zu reduzieren: Der unmittelbare Einfluss des Urkundenwesens der Bischöfe von Brixen und Freising auf die regionale Urkundenproduktion war wesentlich geringer, als bei dem hohen Anteil ihrer für Krain ausgegangenen Urkunden erwartet werden könnte105. Krain bietet aber zusammen mit Kärnten noch eine Besonderheit: Hier kam es im Spätmittelalter zu einer grenzüberschreitenden Urkundenlandschaft. Diese muss sich sozusagen spontan gebildet haben, also unabhängig von Politik, Rechtsordnung, Diözesen oder einer anderen der schon in Betracht gezogenen Ursachen. Diese Urkundenlandschaft, wenn man sie so nennen will, beruht zwar nur auf einem einzigen Merkmal, aber dieser Fall, mit dem ich mich selbst vor Jahren befasst habe, scheint trotzdem aufschlussreich106. In den Jahrzehnten um 1300 tritt in Kärnten, in Oberkrain sowie vor allem im Süden der damaligen Steiermark in den Datumformeln die Mode auf, den Tagesheiligen mit dem Adjektiv „gut“ zu versehen. Das Verbreitungsbild schließt eine Rezeption von außen aus. Der gute Heilige setzt 1286 in Völkermarkt ein und bald darauf auch in Oberkrain, wo er in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts rund um die Stadt Stein (Kamnik) zu einer prägenden Erscheinung wird. Im übrigen Verbreitungsgebiet ist sein Vorkommen deutlich dünner. Die betreffenden Urkunden kommen fast immer aus den Städten und Märkten; sie stammen zumindest in Kärnten von immer wieder anderen Händen. In Urkunden von Fürsten und Bischöfen findet sich der gute Heilige nicht. Es muss sich tatsächlich um eine spontane Neuschöpfung gehandelt haben, die ein Areal von etwa 150 × 100 Kilometern Ausdehnung zumindest wesentlich mitbestimmt hat107. Hier hat 99   Das Notariat scheint sich in Krain eher mehr bemerkbar gemacht zu haben als in Kärnten; dazu speziell Dušan Kos, Zur Problematik des öffentlichen Notariats in Krain im Mittelalter. MIÖG 105 (1997) 57–73. 100  Dazu Kos, Urkundenwesen (wie Anm. 96) 318–320. 101  Ebd. 322. 102   Štih, Anfänge (wie Anm. 96) 295. 103   Kos, Urkundenwesen (wie Anm. 96) 337. So wie in der nördlichen Nachbarschaft sollte ab den 1280er Jahren auch das Deutsche zur Urkundensprache werden; vgl. ebd. 338. 104   Ebd. 343. 105   Ebd. 328. 106   Reinhard Härtel, Der gute Heilige. Ein Beitrag zum Privaturkundenwesen des Spätmittelalters. AfD 19 (1973) 211–286; vgl. Kos, Urkundenwesen (wie Anm. 96) 337f. 107   Dass Kärnten und Krain zur Zeit jeweils demselben Herrn unterstanden, wird man nicht überbewer-

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der Seebergsattel offenbar mehr Verbindendes gehabt als die Karawanken Trennendes, aber es bestanden zu beiden Seiten des Gebirges auch keine grundverschiedenen urkundlichen Systeme. Ein Blick noch nach Istrien! Nach der vor nun schon mehr als 100 Jahren gebotenen Übersicht aus der Feder von Pier Silverio Leicht108 hat vor etwas über 50 Jahren auch Milko Kos das ältere Privaturkundenwesen Istriens einer flächendeckenden Untersuchung unterzogen109. Kos sah in der mittelalterlichen Urkunde Istriens neben vielerlei Beziehungen zu den Nachbarländern auch viel Eigenartiges, seiner Ansicht nach spezifisch Istrianisches110. Kos hat am Schluss seiner Darstellung die von ihm konstatierten Eigentümlichkeiten der istrianischen Urkunde übersichtlich zusammengestellt. Auch wenn sich bei Kos das Wort „Urkundenlandschaft“ nicht findet, hat er damit doch eine solche viel präziser als üblich definiert111. Zweifellos boten die langehin ungebrochenen antiken Traditionen günstige Voraussetzungen für die Ausbildung einer eigenen Urkundenlandschaft 112. Dazu kommt, dass der Karst die Halbinsel Istrien vom Kontinent eher trennt als diese mit ihm verbindet. Trotzdem würde es eine Überprüfung verdienen, ob die von Milko Kos für die istrianische Besonderheit in Anspruch genommenen Eigenarten tatsächlich hinreichen, um von einer Urkundenlandschaft zu sprechen113. So zeigt sich am Beispiel Istriens eine methodische Gefahr für die Erforschung von Urkundenlandschaften, der gegenüber es stets wachsam zu sein gilt: Wer das Urkundenwesen eines Landes oder einer a priori definierten Landschaft flächendeckend auf Einflusszonen und Eigenarten untersucht, kann verleitet sein, den Untersuchungsraum in einem höheren Maß als dies zustünde als Einheit zu sehen. Unerörtert scheint auch die Frage, ob sich zwischen den Küstenstädten und dem Binnenland (mit wesentlich dünnerer Überlieferung) eine Differenzierung ergibt. Die in Istrien sehr kleinräumigen Diözesen werden für eine solche Differenzierung schwerlich in Frage kommen. Das Fichtenau’sche Kriterium für die Bildung hochmittelalterlicher Urkundenlandschaften kommt hier definitiv nicht mehr in Betracht.

Folgerungen für die künftige Forschung Nach alledem stellt sich die Frage, ob aus dem Vorgeführten Nutzanwendungen für die künftige Erforschung der Urkundenlandschaften abgeleitet werden können. Den Atlas der Urkundenlandschaften des österreichischen Raumes werden auch die Jüngsten von Heute mehr nicht erleben. Die Zeit der gewaltigen Universalprogramme im Stile Harold Steinackers ist vorbei; es hat keinen Sinn, immer neue Forderungskataloge zu erstellen, ten dürfen, dafür ist das Verbreitungsbild allzu unausgewogen: von Krain ist nur ein Teil erfasst, und von der Steiermark sozusagen viel zu viel. 108  Pier Silverio Leicht, Note ai documenti istriani di diritto privato dei secoli IX–XII, in: Miscellanea di studi in onore di Attilio Hortis, Trieste, maggio MCMIX (Trieste 1910) 179–201, wieder abgedruckt in ders., Scritti vari di storia del diritto italiano II/2 (Milano 1948) 165–186. 109   Milko Kos, Aus der Geschichte der mittelalterlichen Urkunde Istriens, in: Studien zur älteren Geschichte Osteuropas 1: Festschrift für Heinrich Felix Schmid, hg. von Günther Stökl (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 2, Graz u. a. 1956) 49–62. 110  Ebd. 49. 111  Abschließende Zusammenfassung ebd. 62. 112  Štih, Anfänge (wie Anm. 96) 295f. und 298. 113  Etliches hat Kos nur anhand sehr weniger Beispiele belegt; auch die Parallelität einzelner Erscheinungen innerhalb bestimmter zeitlicher Perioden wäre wohl noch genauer anzusehen.



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bei denen abzusehen ist, dass jemand aus der nächsten oder übernächsten Generation diese als immer noch unerfüllt erklären wird. Schon Heinrich Fichtenau hat hier das bessere Augenmaß gehabt und gesagt, die Diplomatik würde an Ansehen gewinnen, wenn es hin und wieder ein Buch über größere Zusammenhänge gibt114. Damit hat er sicher auch die Urkundenlandschaften gemeint. Nur angedeutet werden soll in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Frage, welche Ausweitungen sich die Diplomatik heutzutage – über ihre Kernaufgaben hinaus – angesichts der verfügbaren Ressourcen überhaupt noch leisten kann. So wird es auch hier und jetzt angemessen sein, nicht diese oder jene Forschungsrichtung zu favorisieren, sondern an ein paar methodische Grundsätze zu erinnern, welche als Voraussetzung für vergleichende Studien anzusehen sind115. Das klingt vielleicht wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber (leider) nicht. Ein zentrales Problem scheint dieses: Urkundenlandschaften werden einmal aufgrund dieser und dann wieder jener Kriterien konstatiert. Aber im konkreten Einzelfall wird nur allzu oft nicht hinreichend deutlich, welche Kriterien hinter dem Befund „Urkundenlandschaft“ stehen. Hier kommt sehr vieles und sehr Verschiedenes in Frage: der Gebrauch von Urkunden überhaupt116, die Träger der Urkundlichkeit, die Organisation der Beurkundungen117, Auftreten und Häufigkeit einzelner Urkundenarten118, Beschreibstoff, Format und Layout, Beglaubigungsmittel, graphische Symbole119, Schriften120, Formular und Benützung von Formularbehelfen, einzelne Formeln, eigen- und fremdhändige Unterfertigungen121, inhaltliche Merkmale122, die spätere Benutzung der Urkunden123 und schließlich die Art der Überlieferung124. Die unterschiedliche Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung einzelner Kriterien bei ein und demselben Urkundencorpus kann jedoch zu abweichenden Gruppen- und damit Landschaftsbildungen führen125. Mit den Unklarheiten über jene Kennzeichen – bzw. über die erforderliche Intensität, mit der sich solche Kennzeichen   Fichtenau, Urkundenwesen 254.   Im Übrigen geht es hier auch nicht darum, ob Urkundenlandschaften um ihrer selbst willen ein Forschungsziel sein sollen oder ob man – wie bisher normal – zufrieden sein kann, wenn einschlägige Ergebnisse gewissermaßen als Nebenprodukt anderweitiger Studien anfallen. 116  Dazu gehört dann auch die Differenzierung nach Geschäftsbereichen, gegebenenfalls auch der Gebrauch von Mehrfachausfertigungen, beglaubigten Abschriften usw. 117  Hier geht es um professionelle Urkundenschreiber (und deren allfällige besondere Autorisierung) sowie um Geistliche und gegebenenfalls auch andere Personengruppen, ferner um Empfängerausfertigungen und um die Eigenhändigkeit (oder Nicht-Eigenhändigkeit) von Urkunden bzw. Unterfertigungen. Es wurden sogar regionale Ausprägungen von Notarssigneten und damit Signetlandschaften konstatiert. 118  Dazu zählen hier auch die Traditionsbücher. Diese wurden lange Zeit hindurch für den bayerischösterreichischen Raum für charakteristisch gehalten. Stephan Molitor, Das Traditionsbuch. Zur Forschungsgeschichte einer Quellengattung und zu einem Beispiel aus Südwestdeutschland. AfD (1990) 61–91, hier 63 und 75, hat demgegenüber nachdrücklich auf deren Vorkommen auch im schwäbisch-alemannischen bzw. im südwestdeutschen Urkundenterritorium hingewiesen. 119  Das heißt auch jenseits ihres Gebrauchs als Beglaubigungsmittel. 120  Das heißt einschließlich Gebrauch und Gestalt von Auszeichnungsschriften. 121  Einschließlich Pseudoautographie. 122   Dazu gehört z. B. eine besonders starke religiöse Prägung. 123   Insbesondere ihre Rolle als Beweismittel, aber auch Eintragung in Chartulare usw. 124   Vgl. Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 301 und 938: hier werden Räume dichterer oder auch fehlender Überlieferung als „Urkundenlandschaften“ angesprochen. 125  Nicht immer liegen die Dinge so vergleichsweise „einfach“ wie im Fall Rätien. Vgl. Erhart– Kleindinst, Rätien (wie Anm. 16) 17. – In jüngster Zeit hat sich mit der grundsätzlichen Zuwendung auch (!) zu den Merkmalen der Schrift (statt der lange Zeit überwiegenden Betrachtung des Formulars) aber doch schon einiges zum Besseren gewendet; vgl. Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 289f. 114 115

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präsentieren – hat es wohl auch zu tun, dass die Aussagen über das Vorhandensein einer Urkundenlandschaft mehrfach sehr schwammig ausfallen bzw. ausfallen müssen126. Künftig wird die konsequente Offenlegung der Kriterien für die Bestimmung dieser oder jener Urkundenlandschaft wesentlich sein. Das erhöht nicht nur – so wie beim Schrift- und Diktatvergleich – Glaubwürdigkeit und Überprüfbarkeit von künftig festgestellten Urkundenlandschaften127, sondern daran hängt auch die Möglichkeit zum seriösen Vergleich von Ergebnissen, die verschiedene Forscher an verschiedenen Urkunden­ corpora angestellt haben128. Nur so kommt man über Urteile hinaus, die den starken Beigeschmack von gefühlsmäßigen Eindrücken aufweisen, und nur so können sich die Forscher auch selbst wirksam vor ungewollten Inkonsequenzen schützen. Ferner scheint auch noch nicht – oder nicht ausreichend – diskutiert, welche Art von urkundlichen Grundlagen die Forschung überhaupt berechtigt, eine Urkundenlandschaft festzustellen. Im Frühmittelalter wird wiederholt ein bedeutendes Areal von der urkundlichen Überlieferung einer einzigen Institution beherrscht. In solchen Fällen gibt es zwar ein hinsichtlich seines Urkundenwesens einheitlich wirkendes Gebiet, aber nicht unbedingt schon eine „Urkundenlandschaft“ in dem üblicherweise gemeinten Sinn129. Für die Feststellung einer solchen scheint es doch nicht genug, wenn an den für ihre Feststellung herangezogenen Dokumenten stets ein und dieselbe Urkundspartei beteiligt ist. Diesen Aspekt hat in expliziter Weise – und wie dem Verfasser scheint, bisher als einzige – Gesine Jordan hervorgehoben, anlässlich des Studiums der karolingerzeitlichen Bretagne. Jordan verweist darauf, dass das urkundliche Material des Klosters Redon viele Grundstücksgeschäfte zwischen Laien enthält (nämlich in 74 von den 283 im Chartular enthaltenen Urkunden), und dieser Umstand sei sehr bedeutsam, „will man nach einer wirklichen Urkundenlandschaft und nicht nach dem Urkundenwesen eines bestimmten Klosters fragen“130. Auch eine territorial ungleichmäßige Überlieferung bildet keine zuverlässige Grundlage für die Feststellung von Urkundenlandschaften, wie Herbert Zielinski anhand der spoletinischen Urkunden aus dem Frühmittelalter festgestellt hat: Die vorhandenen Urkunden stammen nahezu alle aus dem Gebiet von Rieti und können daher kaum für alle Gebiete des Großdukates stehen131. Aber auch angesichts dieser Probleme wird es nicht angemessen sein, anhand dieses oder jenes negativen Einzelbefundes das Konzept der Urkundenlandschaften als solches in Frage zu stellen132. 126   Vgl. z. B. Jordan, Bretagne (wie Anm. 61) 227: „Wenn es stimmt, dass die diplomatische Praxis einer Region etwas über ihren Charakter als Kulturlandschaft aussagt, dann war die Bretagne zwar alles andere als ein geschlossenes ‚Urkundenterritorium‘, aber doch eine Kulturlandschaft mit eigenem Charakter“. Zum Problem der „signifikanten Unterschiede“ und zum Erfordernis der Berücksichtigung einer Vielfalt von Kategorien (im Bereich der Diplomatik) vgl. Pohl, Ausblick (wie Anm. 62) 247. 127   Dazu kommt noch die von Fichtenau, Urkundenwesen 11, angesprochene Problematik, dass verschiedene Blickwinkel (wie der Blick auf Details oder der Blick aufs Ganze) zu konträren Ergebnissen führen können. 128  Genau dieses Verfahren hatten Steinacker und Fichtenau und danach auch noch Peter Johanek vor Augen, nämlich als Mittel zur Lösung übergeordneter oder jedenfalls weitergehender diplomatischer Fragen: Steinacker, Traditio cartae (wie Anm. 20) 64 und 71; Fichtenau, Urkundenwesen 14; Johanek, Traditionsnotiz (wie Anm. 12) 159. 129  Der mit Recht immer wieder herangezogene Fall von St. Gallen ist, wie man sehr gut weiß, ein Glücksfall von Ausnahme, mit Erzeugnissen aus zwei verschiedenen und noch dazu klar abgrenzbaren Urkundenlandschaften. Vgl. Mersiowsky, Karolingerzeit (wie Anm. 17) 413. 130  Jordan, Bretagne (wie Anm. 61) 218. 131   Herbert Zielinski, Studien zu den spoletinischen „Privaturkunden“ des 8. Jahrhunderts und ihrer Überlieferung im Regestum Farfense (BDHIR 39, Tübingen 1972) 213. 132  Das ist offensichtlich der Fall bei Declercq, Formulae salicae Lindenbrogianae (wie Anm. 7) 142.



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Schließlich noch ein Wort zum Verhältnis von Urkundenlandschaften und allgemeiner Geschichte. Es fehlt bisher sichtlich an grundsätzlichen Überlegungen, ob die Erforschung von Urkundenlandschaften, außer Erkenntnismittel für weitergehende diplomatische Forschung oder selbst Erkenntnisziel zu sein, auch für die allgemeine Geschichte von Bedeutung sein kann. Konkreter noch: Können Urkundenlandschaften Anzeiger von Kulturräumen sein, oder inwieweit können sie es? Fichtenau selbst scheint dieser Auffassung gewesen zu sein133. Diese Option ist auch in allerjüngster Zeit wiederum als eine reizvolle Aussicht betrachtet worden134. Dass dies aber auch ein heikles Thema sein kann, hat das Beispiel Südtirol gezeigt. Carlo Guido Mor hat in seinem Überblick zur Aquileier Kultur des Hochmittelalters eine reiche Palette von Kriterien berücksichtigt und am Schluss bemerkt, dass er eine Quelle trotz ihrer überreichen Fülle an Informationen beiseitelasse: die Privaturkunden135. Mors Diktion lässt allerdings den Schluss zu, dass das keine grundsätzliche Ablehnung dieser Quellengattung bedeutet, sondern dass es nur die im Rahmen eines Handbuchartikels nicht zu bewältigende Materialfülle war, die ihn zu diesem Verzicht bewogen hat. Wenn man in Südtirol zur Einsicht gekommen ist, dass Volksgruppen und Kulturgrenzen nicht mit Hilfe der Anwendungsbereiche von Siegel- und notarieller Urkunde ausgemacht werden können, so darf man das Kind doch nicht mit dem Bade ausschütten. Denn dass auch ethnisch definierbare Gruppen durch ihr Urkundenwesen sichtbar werden können, war anhand der Notizen im Friaul zu sehen. Und wenn mehrfach zu erkennen war, dass nachbarlicher Kontakt für die Vermittlung urkundlicher Formen offenbar weniger Bedeutung hatte als der Zuzug von „Immigranten“136, so könnte damit ein wichtiger Beitrag für die „Mechanik“ der Vermittlung von kulturellen Merkmalen insgesamt geleistet sein. Wer sich für Kulturräume interessiert, wird – bei entsprechender Vorsicht – auch aus den Urkundenlandschaften Gewinn ziehen können. Aber das ist Zukunftsmusik, und niemand kann wissen, ob und wann dieses Konzert aufgeführt werden wird. Von Ingeborg Bachmann stammt das mittlerweile schon geflügelte Wort: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler“. Hätte sich die Autorin für Urkundenlandschaften interessiert, dann hätte der Satz vielleicht so gelautet: „Die Urkundenlandschaften sind immer interessant, aber sie finden nur wenige Bearbeiter“. Die österreichische Mediävistik hat auf diesem Feld seit langem eine Vorreiterrolle innegehabt, auch und gerade dank der Arbeiten von Heinrich Fichtenau. Es liegt an ihr, ob sie diese Spitzenposition pflegen will.

133   Vgl. die Einschätzung von Pohl, Ausblick (wie Anm. 62) 245: „Andererseits hat bereits Fichtenau den Akzent auch in eine andere Richtung gesetzt. Paläographie ebenso wie Diplomatik sind kultureller Ausdruck und fügen sich daher in ein Gesamtbild menschlicher Ausdrucksformen einer Epoche. Diese Position vertritt sein Frühwerk ‚Mensch und Schrift‘“. 134  Jordan, Bretagne (wie Anm. 61) 213. 135   Mor, Cultura (wie Anm. 92) 311. 136   Fichtenau, Urkundenwesen 48, hat in ähnlicher Weise zu Erscheinungen im rätischen Urkundenwesen gemeint, hier sei eher die Wahrung alter Traditionen anzunehmen als Übernahme aus einem der Nachbarländer. Auch in Krain waren wir mit Erscheinungen konfrontiert, die eher für eine Marginalisierung als für eine Betonung des Kulturkontakts sprechen; vgl. Kos, Urkundenwesen (wie Anm. 96) 325 und 328 (dieser Eindruck wird allerdings wieder relativiert durch den von den Zisterziensern in Viktring längere Zeit hindurch ausgeübten Einfluss; ebd. 325). Vor allem aber waren, wie oben dargestellt, die Traditionsnotizen im Friaul keine Übernahme aus der nördlichen Nachbarschaft, sondern ein Import durch „Immigranten“ aus dem Norden.





Die Streitfälle des Klosters Garsten um tradierte Güter Lebensordnungen im Spiegel von Traditionsnotizen Siegfried Haider

Das nahe der Stadt Steyr am Fluss Enns gelegene, später oberösterreichische Kloster Garsten wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts von dem steirischen Markgrafen Otakar I. als Kanonikerstift gegründet, 1107/1108 von Markgraf Otakar II. in ein Benediktinerkloster umgewandelt und 1787 von Kaiser Joseph II. aufgehoben1. In der zweiten Hälfte und gegen Ende des 12. Jahrhunderts hat man dort zwei Traditionskodizes angelegt, von denen der jüngere (A) bis heute erhalten ist. Der ältere (B) ist seit Anfang des 19. Jahrhunderts verschollen; sein Inhalt kann aber durch einen neuzeitlichen Index weitgehend rekonstruiert werden2. Durch diese beiden Überlieferungsstränge kennen wir insgesamt 247 Garstener Traditionsnotizen3. Sie sind neben der hagiographischen Lebensgeschichte des ersten Abtes Berthold († 1142)4 und einer Reihe von im Original oder abschriftlich überlieferten Siegelurkunden aus dem Klosterarchiv die wichtigsten Quellen für die Frühzeit des Klosters Garsten. Mindestens ebenso wichtig sind sie jedoch auch für die Frühgeschichte des mit diesem markgräflich-otakarischen Eigenkloster in Beziehung stehenden steirisch-österreichischen Adels5. 1   Siegfried Haider, Zu den Anfängen von Pfarre und Kloster Garsten. MIÖG 113 (2005) 293–329; Waldemar Huber, Garsten, in: Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Südtirol 1, hg. von Ulrich Faust–Waltraud Krassnig (Germania Benedictina III/1, St. Ottilien 2000) 501–560. 2   Siegfried Haider, Studien zu den Traditionsbüchern des Klosters Garsten (MIÖG Ergbd. 52, Wien– München 2008). – Abkürzungen: TU Garsten = Siegfried Haider, Die Traditionsurkunden des Klosters Garsten. Kritische Edition (QIÖG 8 = Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 20, Wien–München 2011). 3  TU Garsten. 4  Josef Lenzenweger, Berthold Abt von Garsten † 1142 (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 5, Linz 1958). 5   Siehe dazu etwa Gerhard Berthold–Hansjörg Pfeiler, Otakarische Ministeriale aus dem Traungau, in: Beiträge zur Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte. Festgabe für Alfred Hoffmann zum 60. Geburtstag (MOÖLA 8, Graz–Köln 1964) 146–159; dazu aber auch die grundsätzliche Kritik von Heinz Dopsch, Ministerialität und Herrenstand in der Steiermark und in Salzburg. ZHVSt 62 (1971) 16f., und Max Weltin, Die steirischen Otakare und das Land zwischen Donau, Enns und Hausruck, in: Das Werden der Steiermark. Die Zeit der Traungauer. Festschrift zur 800. Wiederkehr der Erhebung zum Herzogtum, hg. von Gerhard Pferschy (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 10, Graz–Wien–Köln 1980) 163–180, hier 173 Anm. 34, wieder abgedruckt in Maximilian Weltin, Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, hg. von Folker Reichert–Winfried Stelzer (MIÖG Ergbd. 49, Wien–München 2006) 188–204, hier 193 Anm. 34, die Bemerkung von Heinz Dopsch, Die Ministerialität des Herzogtums Steiermark zur Zeit der Georgenberger Handfeste. Ihre rechtliche, gesellschaftliche und politische Stellung, in: 800 Jahre Georgenberger Handfeste. Lebensformen im Mittelalter. Ausstellung im Museum

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Charakteristisch für die Quellengattung der Traditionsnotizen sind bekanntlich ihre formale Sprödigkeit und ihre inhaltliche Kargheit, im Besonderen jedoch ihre thematische Ausrichtung auf Schenkungen von Gütern und Liegenschaften sowie auf Kauf- und Tauschhandlungen. Trotz dieser Einschränkungen lohnt es sich, die Garstener Traditionen, die Güterschenkungen und Gütererwerbungen im Bereich der heutigen österreichischen Bundesländer Oberösterreich, Niederösterreich und Steiermark zum Inhalt haben6, auf bestimmte Lebensordnungen hin zu untersuchen7. Im Folgenden sollen die Rechtsstreitigkeiten des Klosters mit weltlichen Adeligen behandelt werden, weil diese Streitfälle um tradierte Güter überschaubar sind und wichtige Einblicke in das im hohen Mittelalter im Umkreis des Klosters praktizierte Rechtsleben gewähren, aber auch deshalb, weil sie dazu anregen, Überlegungen über die Rolle und das Wesen von Traditionsnotizen anzustellen. In einer ersten Bestandsaufnahme ist festzustellen, dass wir von 14 Streitfällen des Klosters Garsten mit Adeligen aus 13 Traditionsnotizen Kenntnis haben; eine Notitia beinhaltet zwei verschiedene Fälle8. Von den 14 bekannten Fällen, die alle dem 12. Jahrhundert, in der weitaus überwiegenden Mehrzahl aber dessen zweiter Hälfte angehören, wurden drei vor dem Gericht des steirischen Markgrafen bzw. Herzogs ausgetragen9, zwei wahrscheinlich vor otakarischen Richtern10 und einer wahrscheinlich vor einem Weinberggericht11; bei zwei Fällen ist der Gerichtsstand unbekannt12; sechs Streitfälle konnte der Abt von Garsten außergerichtlich beilegen13. Wenn wir zuerst jene Gerichtsfälle analysieren, die vor dem steirischen Landesherrn, der auch die (Haupt-)Vogtei über das Kloster innehatte14, ausgetragen wurden, so zeigt sich als keineswegs überraschende Gemeinsamkeit, dass in allen drei Fällen steirische Ministerialen Streitgegner der Klostergemeinschaft waren. Im ersten Fall hatte der Konverse Arnhalm aus dem Ministerialengeschlecht der Gleink–Volkensdorfer durch seinen Onkel Heinrich als Salmann dem Kloster das Gut Hartheim als Seelgerät tradiert, und zwar, wie es in der Traditionsnotiz formelhaft heißt, ohne jede Widerrede15. Als SpitzenzeuLauriacum Enns 15. Mai bis 26. Oktober 1986, hg. von Johannes Ebner–Willibald Katzinger (Mitteilungen des Museumvereines Lauriacum Enns N. F. 24, Enns 1986) 29–44, hier 32, und die Kommentare von Roman Zehetmayer zu den Garstener Urkunden in Niederösterreichisches Urkundenbuch 2: 1075–1156, hg. von Roman Zehetmayer–Dagmar Weltin–Maximilian Weltin unter Mitarbeit von Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (St. Pölten 2013) 1–73. 6   TU Garsten 44. 7  Vorbild sind entsprechend Anlass und Themenstellung der aktuellen Jubiläumstagung die kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Strukturanalysen von Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen. 8  TU Garsten 101 Nr. T 16/118f. Nr. T 45, 133f. Nr. T 69/139f. Nr. T 79, 158 Nr. T 106, 183f. Nr. T 147, 195 Nr. T 161, 201f. Nr. T 170, 206f. Nr. T 175, 208f. Nr. T 177, 214f. Nr. T 185, 225f. Nr. T 194bc, 227f. Nr. T 196, 231f. Nr. T 200 und 233f. Nr. T 202. Außer diesen Konflikten mit Adeligen weltlichen Standes ist in den Garstener Traditionskodizes A und B noch ein durch ein Schiedsgericht geschlichteter Streit mit dem Benediktinerkloster Admont um eine Waldgrenze in der Nähe des Salinenortes Hall bei Admont belegt (TU Garsten 205f. Nr. T 174). 9   TU Garsten 118f. Nr. T 45, 184 Nr. T 147b, 214f. Nr. T 185b. 10  TU Garsten 206f. Nr. T 175 und 233f. Nr. T 202. 11  TU Garsten 208f. Nr. T 177. 12  TU Garsten 201f. Nr. T 170 und 227f. Nr. T 196b. 13  TU Garsten 139f. Nr. T 79, 158 Nr. T 106, 195 Nr. T 161, 225f. Nr. T 194bc, 231f. Nr. T 200. 14   Dazu Alois Zauner, Der Rechtsinhalt der älteren Garstener Urkunden. MOÖLA 5 (1957) 265–310, hier 285–298, und Huber, Garsten (wie Anm. 1) 501–560, hier 530–534. 15  TU Garsten 101f. Nr. T 16 (absque ulla contradictione).



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gen werden der Vater und ein Verwandter (propinquus) des Schenkgebers namens During angeführt, der auch die Besitzeinführung (Investitur) vorgenommen hat. Wenig später erhoben jedoch nicht genannte Verwandte (propinqui) des Tradenten vor Markgraf Otakar II. Einspruch gegen diese Schenkung und konnten dort leicht, wie die klösterliche Notitia einbekennt, durchsetzen, dass dem Brudersohn des Schenkgebers namens During ein Teil des geschenkten Gutes zugesprochen wurde. Diese Entscheidung hat das Kloster anerkannt und daraufhin dem berechtigten Neffen des Tradenten die Hälfte des Gutes Hartheim ohne jeden Streit um 4 Mark abgekauft, als ob Garsten darauf keinerlei Recht gehabt hätte16. Fraglich ist, ob dieser During, dessen Ansprüche in diesem Fall als Sohn eines offenbar bereits verstorbenen Bruders des Schenkgebers Arnhalm gegen das Kloster durchgesetzt werden konnten, mit dem in der Traditionsnotiz über die ursprüngliche Seelgerätschenkung als zweiter Zeuge genannten propinquus During identisch ist. Es wäre nämlich sehr merkwürdig, wenn dieser Mann, der als Zeuge und als Investitor sein Einverständnis mit der Schenkung kundgetan hat, kurz darauf Einspruch erhoben hätte. Aber vielleicht hat er die Schenkung gar nicht selbst beeinsprucht, sondern es waren Personen aus seiner familiären Umgebung – die betreffende Traditionsnotiz spricht von propinqui –, die auf seinem Anrecht an dem Schenkungsgut des verwandten Konversen bestanden haben. In der Zeit der Vormundschaftsregierung der Markgräfin Kunigunde für ihren minderjährigen Sohn Otakar IV. wurde nach 1164 ein weiterer Klagsfall vor das markgräfliche Gericht getragen. Der wahrscheinliche Ministeriale Udalschalk, sein Sohn Gebhard und seine Tochter Swanhild hatten gemeinsam dem Kloster Garsten ein Gut tradiert, wobei der Ministeriale Arnhalm von Gleink(–Volkensdorf ) und Markgraf Otakar als Salmänner fungierten17. Als wenig später der Mittradent Gebhard starb, klagten seine Witwe und sein Sohn wegen der Tradition vor dem Markgrafen, der darauf coram ministerialibus suis prudenti consilio entschied, dass den beiden für die Dauer ihres Lebens der Nutzgenuss des tradierten Gutes zustünde und dieses danach ohne jeden Widerspruch zur Pfründe der Mönche fallen solle18. Welchen Rechtsanspruch diese Witwe und ihr Sohn damals erhoben haben, wissen wir nicht, er dürfte aber im Rahmen des Erbrechts zu suchen sein. Vielleicht bestand das Motiv für die Klage in einer prekären wirtschaftlichen Situation der beiden. In derselben Regierungsperiode vor 1180 tätigten die Ministerialen Hildegard und ihr Sohn Udalrich von Ipf zu ihrem und ihrer Verwandten Seelenheil eine umfangreiche Schenkung an das Kloster. Die Funktion des Salmannes übten die Markgräfin Kunigunde und ihr minderjähriger Sohn Otakar IV. aus19. Etliche Jahre später erhob der Ministeriale Erchenger I. von Neuberg–Landesehre aus Gründen, die wir nicht kennen20, Klage gegen 16   TU Garsten 118f. Nr. T 45 (Set quia propinqui erga marchionem facile obtinuerunt, ut portio eiusdem fundi fratris filio, Duringo scilicet, cederet, nos absque omni controversia quatuor marcis quasi nil in eo iuris habentes eandem portionem coemerunt [!]). 17  TU Garsten 183f. Nr. T 147a. Dass Arnhalm eidlich zur Weitergabe an den jugendlichen Markgrafen verpflichtet wurde, mag mit dessen Unmündigkeit in Zusammenhang stehen. 18   TU Garsten 183f. Nr. T 147b (Cum autem paulo post vidua predicti Gebehardi et filius eius super idem predium conquerentur [!], predictus marchio querimoniam eorum coram ministerialibus suis prudenti consilio terminavit, …); siehe dazu Roman Zehetmayer, Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Südosten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (VIÖG 53, Wien–München 2010) 79. 19  TU Garsten 196f. Nr. T 163 = 214f. Nr. T 185a. 20  Über die Neuberger, einen Zweig der Herren von Stubenberg, und über die Genealogie der Stubenberger siehe Hans Pirchegger, Landesfürst und Adel in Steiermark während des Mittelalters 2 (Forschungen

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diese Schenkung. Er blieb damit jedoch erfolglos, weil sie der seinerzeitige Mittradent Udalrich von Ipf auf einer Versammlung des mittlerweile 1180 zur Alleinregierung und zur Herzogswürde gelangten steirischen Landesfürsten Otakar IV. öffentlich (publica voce) widerlegen konnte21. Nicht durch das Gericht des Landesherrn selbst, sondern wahrscheinlich von steirisch-otakarischen Richtern22 wurden zwei andere Streitfälle entschieden. Im ersten hatte das Kloster Garsten von dem Ministerialen Arnold Grezcinc ein Gut in der oberösterreichischen Riedmark um 20 Talente gekauft23. Nach dessen Tod anerkannte sein Sohn Rudolf Grezcinc diesen Verkauf des Vaters nicht – cupiditate rerum ductus animę patris sui oblitus, wie es in der berichtenden Traditionsnotiz heißt, wobei Letzteres zu erkennen gibt, dass die frühere Kaufhandlung als Seelgerät deklariert gewesen war. Rudolf zog das Gut gewaltsam an sich, indem er es nach Erbrecht beanspruchte und erklärte, vom Verkauf nichts zu wissen24. Daraufhin wandte sich das Kloster an nicht näher bezeichnete iudices terrę illius, von denen einer höchstwahrscheinlich der als Spitzenzeuge genannte iudiciarius Boto (von Steyr) war25. Anscheinend dauerte es jedoch längere Zeit, bis das Kloster ein Urteil in seinem Sinne erlangte. Außerdem bedurfte es nach Darstellung der betreffenden Traditionsnotiz nicht nur eines Gerichtsurteils, sondern auch einer Erkrankung als Wink Gottes, um Rudolf zum Verzicht zu bewegen26. Seine Tradition des Gutes an das Kloster erfolgte dann zwischen 1182 und 1192 in Anwesenheit des Abtes Markward I. und von testes valde veridici auf dem Friedhof von Gallneukirchen. In zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 13, Graz 1955) 6f., 215 und 224f. (Stammtafel); Fritz Posch, Siedlungsgeschichte der Oststeiermark (MÖIG Ergbd. 13/4, Innsbruck 1941) 496–500, 581–588 und 675 Stammtafel 2, und Heinz Dopsch, Landherren, Herrenbesitz und Herrenstand in der Steiermark 1100–1500. Wurzeln und Entstehung des steirischen Herrenstandes (Diss. Wien 1968) 161–176 und 191 (Stammtafel). Um 1140 ist ein Richer von Ipf mit seinem miles Bruno bezeugt (TU Garsten 160f. Nr. T 110). Der Personenname Richer würde eher auf verwandtschaftliche Beziehungen der Ipfer zu den Vorfahren der Herren von Wildon verweisen; siehe dazu Dopsch, Landherren 211–228 und 233 (Stammtafel). 21   TU Garsten 214f. Nr. T 185bo (Item eiusdem traditionis confirmatio. Erchengerus de Nitberc querimoniam tulit super ipsa traditione, quam idem Vdalricus delegator prefatę traditionis annichilavit publica voce apud Willehelmesburc in presentia domini Othacari ducis Stirensis, per cuius manum supradicta delegatio facta est); siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 80 Anm. 476. 22  Über das Gerichtswesen im Auftrag des Landesherrn siehe Weltin, Otakare (wie Anm. 5) 166, 168, 175 Anm. 39 und 177 Anm. 69 = Weltin, Land (wie Anm. 5) 194f. mit Anm. 39 und 199 mit Anm. 69; Max Weltin, Zur Entstehung der niederösterreichischen Landgerichte, in: Babenberger-Forschungen, hg. von Max Weltin (JbLKNÖ N. F. 42, 1976) 276–315, hier 290–295 wieder abgedruckt in Weltin, Land 24–59, hier 37–41, und Karl Spreitzhofer, Georgenberger Handfeste. Entstehung und Folgen der ersten Verfassungsurkunde der Steiermark (Styriaca Neue Reihe 3, Graz–Wien–Köln 1986) 14f. § 9, 64f. und 87f. „Die Schaffung einer einheitlichen Gerichtsverwaltung, deren Ausübung an verläßliche Dienstmannen als Landrichter übertragen wurde“, wird Markgraf Otakar III. (1140–1164) zugeschrieben; Heinz Dopsch, Von der Mark an der Mur zum „Stirelant“ – Die Steiermark unter Otakaren und Babenbergern, in: Heinz Dopsch–Karl Brunner–Maximilian Weltin, Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter (Österreichische Geschichte 1122–1278, Wien 1999) 270–307, hier 281. 23  TU Garsten 206f. Nr. T 175; siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 74 Anm. 433 und 79. 24   Hic cupiditate rerum ductus animę patris sui oblitus predictum predium a nobis, ut dictum est, emptum sibi violenter vendicavit, hęreditario iure possidere voluit, venditionis patratę se inscium confirmavit. 25   Über diesen landesherrlichen Ministerialen siehe die Vorbemerkung zu TU Garsten Nr. T 175 (S. 206); Weltin, Otakare (wie Anm. 5) 175 Anm. 39 = Weltin, Land (wie Anm. 5) 195 Anm. 39, und Weltin, Entstehung (wie Anm. 22) 293 = Weltin, Land 40. 26   Cuius violentiam nos Deo advocato summo et iudicibus terrę illius conquerentes ab illius pervasione eximi obnixius expetivimus et etiam exauditi sumus. Nam iudicum censura et nichilominus Dei nutu per ęgritudinis molestiam coactus resipuit et … .



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diesem Fall hat Rudolf Grezcinc, dessen Zustimmung zum seinerzeitigen Verkauf durch den Vater nicht eingeholt worden war, offensichtlich sein Erbrecht nicht gegenüber dem Kaufrecht des Klosters durchsetzen können. Im zweiten Fall hatte der Ministeriale Udalrich Stozzel vor 1180 ein Gut von einem Mann namens Herbord gekauft und dieses kurz vor seinem Tod durch seine Ehefrau in der Funktion einer Salfrau an das Kloster Garsten tradiert27. Als Jahre später die beiden Söhne des Herbord, also des Verkäufers, nicht des Tradenten, großjährig wurden, verklagten sie das Kloster vor Gericht, weil sie um ihr Erbe gebracht worden seien28. In diesem Fall kam es zu keinem Urteil, sondern zu Verhandlungen, die auf den Rat der Landsleute (consilio conprovincialium mediante) mit einem Vergleich endeten, der dem Erbrecht der Söhne Rechnung trug: Das Kloster zahlte fünf Talente an die Söhne Herbords, wofür diese ihren Ansprüchen entsagten und die seinerzeitige Tradition des Gutes an das Kloster bestätigten29. Der in der betreffenden Traditionsnotiz als Zeuge angeführte Ulrich preco war sicherlich an diesem Rechtsfall beteiligt, vielleicht sogar als herzoglicher Richter, falls er mit dem an anderer Stelle bezeugten iudex de Styre identisch gewesen ist30. In zwei weiteren Fällen wissen wir nicht, an welches Gericht sich der Abt von Garsten mit seinen Klagen gewandt hat. Ein Mann namens Rudiger hat jedenfalls ein dem Kloster lange gewaltsam entzogenes Gut in Nöstlbach nach einem Gerichtsentscheid (iudiciario ordine) zurückgegeben31. Im zweiten Fall hatte das Ehepaar Gertrud und Rudiger von Thern dem Kloster vor 1173 nullo contradicente ein Gut als Seelgerät gestiftet32. Nach beider Tod hat allerdings ihre Tochter Alheit diese Schenkung missachtet und sich das Gut aus der Sicht des Klosters rechtswidrig (contra iusticiam) angeeignet33. Als Abt Markward I. daraufhin Klage einbrachte, suchte Alheit das Gespräch mit ihm und erreichte in dem Streit zwischen 1182 und 1195 einen Vergleich. Demnach verblieb ihr das Gut bis an ihr Lebensende gegen Zahlung von fünf Talenten, danach sollte es unter denselben Bedingungen an ihren Ehemann und ihren Erben übergehen, wenn diese das wünschten, und erst dann sollte das Gut wieder in das Eigentum des Klosters zurückkehren34. Auf diese Weise war es Alheit gelungen, das Schenkungsgut mindestens für zwei Generationen im Besitz ihrer Familie zu erhalten. Warum ihr gerade an diesem Gut, das   TU Garsten 233f. Nr. T 202; siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 80.   Evolutis autem pluribus annis duo filii eiusdem Herbordi ad maturam ętatem provecti exhereditari se causantes fratres prefati cenobii pro ablato patrimonio coram iudicio propulsarunt. 29   De qua re conventione cum eis habita consilio conprovincialium mediante filii predicti Herbordi acceptis quinque talentis omnem ipsius predii repeticionem abdicarunt et patris pristinam delegationem confirmarunt … . 30   Über Ulrich preco bzw. Ulrich iudex de Styre siehe TU Garsten 216f. Nr. T 187 und 222–225 Nr. T 193 (jeweils Zeuge), sowie Max Weltin, Kammergut und Territorium. Die Herrschaft Steyr als Beispiel landesfürstlicher Verwaltungsorganisation im 13. und 14. Jahrhundert. MÖStA 26 (1973) 1–55, hier 38; Weltin, Otakare (wie Anm. 5) 176 Anm. 46 = Weltin, Land (wie Anm. 5) 196 Anm. 46, wo er in Ulrich einen Gefolgsmann (homo) des Klostervogtes Gundaker von Steyr sieht, und Weltin, Entstehung (wie Anm. 22) 292f. = Weltin, Land 38f. (über die precones). 31   TU Garsten 201f. Nr. T 170 (… predium … diu a monasterio Garstensi violenter ablatum, tandem iudiciario ordine per Rdegerum, qui id manutenuerat, prefato monasterio traditum …); siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 80. 32   TU Garsten 227f. Nr. T 196a. 33   TU Garsten 227f. Nr. T 196b (… post amborum de hac luce discessum eorum filia domina Alheith de prefata villa Terin easdem res contra iusticiam sibi vendicavit). 34   Quo facto cum ego Marquardus, licet indignus servorum Dei Garstensis abbas, pro talibus bonis querimoniam movimus, obnixis precibus nos adiit, quatenus prenominata bona diebus vitę suę pro V talentis ei concederemus et post dies eius … . Cuius deprecationi annuentes … . 27 28

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noch dazu auf Intervention ihres Onkels, des Garstener Priors Udalrich, geschenkt worden war, so viel gelegen war, wissen wir nicht. Wie in diesem Fall scheint es auch in einem anderen nach der Schilderung der betreffenden Traditionsnotiz zu einer außergerichtlichen Einigung gekommen zu sein. Der Ministeriale Dietrich von Weikersdorf hatte zu seinem Seelenheil dem Kloster Garsten zwei Weingärten um neun Mark verkauft35. Nachdem dies offenbar ohne das Wissen oder die Zustimmung seiner Kinder geschehen war, erhoben seine beiden Söhne, seine fünf Töchter und deren Kinder Einspruch gegen diese Tradition36. Diesen Streit löste das Kloster, indem es den Klägern sieben Talente, den kleinen Kindern und Frauen ein halbes Talent zahlte. Daraufhin erklärten die Nachkommen Dietrichs dessen Verkauf an das Kloster für rechtmäßig37. Nach dieser Darstellung des Handlungsablaufes könnte man meinen, Abt Markward I. habe diesen Kompromiss selbst herbeigeführt, wäre da nicht noch die abschließende Angabe der Traditionsnotiz, die Mönche hätten den BergrechtsPröpsten (prepositis montani iuris) zwei Talente und 60 Pfennig gegeben38. Dies deutet doch darauf hin, dass der Streitfall vor deren Weinberggericht geschlichtet worden sein dürfte39. Ohne dass irgendein Gericht eingeschaltet worden wäre, scheint das Kloster die restlichen Streitfälle um Liegenschaften einer Lösung zugeführt zu haben. So anerkannten die Mönche nach gemeinsamer Beratung (communicato consilio) den Einspruch des Ministerialen Rudolf gegen die Schenkung eines Gutes durch dessen Bruder Diepold, der seine frühere Tradition an die Bedingung geknüpft hatte, falls er ohne rechtmäßigen Erben sterbe40. Nachdem Diepold anscheinend kinderlos verschieden war, konnte sein Bruder Rudolf seinem Erbanspruch zwar grundsätzlich Geltung verschaffen, musste aber dabei einen Kompromiss eingehen, der einen Gütertausch vorsah. Das Kloster gab das von Diepold geschenkte Gut an Rudolf zurück und bekam dafür von diesem eine Mühle und einen Wald41. Über die Wertigkeit dieser Tauschgüter gibt es leider keine Aussagen. Anders gelagert war der Fall des nobilis Otto42, der eine unter Eid erfolgte Tradition seines Bruders Markward für nichtig erklärt hat, weil er das betreffende Schenkungsgut (Dominikalgut) seinem Bruder schon früher abgekauft habe 43. Das Kloster hat diese Rechtslage trotz des bei der Tradition geleisteten Eides anerkannt und Otto die seinerzeit   TU Garsten 208f. Nr. T 177.   … tradidit duas vineas … et venditione inter se et fratres Garstenses facta, videlicet novem marcarum, set filii eius Dietericus et Eggewardus et sorores eorum Mahtilt, Berhta, Eberlint, Hazacha, Adelheit et filii illorum huic traditioni contradixerunt. 37  Denuo fratres cum contradictoribus in unum convenientes dederunt eis septem talenta, parvulis et mulieribus dimidium talentum. Ob quod ipsi consentientes traditionem patris ratam statuerunt. 38   Insuper prepositis montani iuris duo talenta et sexaginta denarios dederunt. 39   Siehe dazu Ernst Klebel, Zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des alten Niederösterreich. JbLKNÖ N. F. 28 (1944) 11–120, hier 83–85, und Hans Plöckinger, Aus der Geschichte des Weinbaus der alten Städte Krems und Stein, in: Krems und Stein. Festschrift zum 950-jährigen Stadtjubiläum, hg. von Otto Brunner (Krems an der Donau 1948) 103–134, hier 110–113. 40   TU Garsten 133f. Nr. T 69 ( … interposita hac conditione, si absque legitimo obiret herede). 41  TU Garsten 139f. Nr. T 79 ( … qualiter fratres isti communicato consilio predium, quod quidam nomine Diepoldus tradidit ad altare sanctę Marię, remiserunt propter contradictionem fratris Růdolfi tradito nobis in mutua vicissitudine molendino et silva sita predio Friginmanni). 42  Über seine Familie siehe TU Garsten 108 Nr. 28, 130f. Nr. T 64, 136f. Nr. T 74 und 144f. Nr. T 86. 43   TU Garsten 158 Nr. T 106 ( … qualiter quidam nobilis Otto nomine traditionem predii Eiglarin, quam frater eius Marquardus pridem ad altare sanctę Marię premissa iuramenti interpositione cęlebravit, pro nichilo reputans respuit et idem dominicale se ante erga fratrem coemisse affirmavit). 35 36



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bezahlte Kaufsumme in Anwesenheit der Markgräfin Sophia und ihrer Ministerialen erstattet44. Eine andere Lösung hat man im Kloster Garsten im Falle des Einspruches eines nicht weiter bekannten Gebolf gegen die Tradition eines Gutes durch Dietmar Halmile gefunden. Man entschädigte nämlich Gebolf, indem man seinen Sohn in die klösterliche Gemeinschaft aufnahm45. Welcher Art der Rechtsanspruch des Gebolf auf das tradierte Gut gewesen ist, wird nicht gesagt. Größere Probleme entstanden aus der Tradition eines Allods, das der als Konverse in das Kloster eingetretene, wahrscheinlich verwitwete Ministeriale Hermann von Mödring unter der Bedingung übertragen hat, dass es sein Schwestersohn (sororius) Konrad zeitlebens zu Lehen haben solle46. Nach dem Tod Konrads zog nämlich Graf Leopold von Plain(–Hardegg) das Gut aus unbekannten Gründen, aber aus Sicht des Klosters widerrechtlich (contra iusticiam) so lange an sich, bis die Mönche Dei nutu, wie es in der betreffenden Traditionsnotiz heißt, das Gut dem Grafen um sechs Talente abkaufen konnten. Dieser tradierte es daraufhin an das Kloster47, womit der erste Streitfall abgeschlossen war. Das Eigentumsrecht des Klosters war jedoch damit noch nicht gesichert. Nun erhob nämlich ein anderer Schwestersohn des Tradenten Hermann von Mödring namens Otto – vermutlich stammte er nicht von derselben Mutter wie der frühere Nutznießer Konrad – auf das gekaufte Gut einen Rechtsanspruch, der wohl nur erbrechtlicher Natur gewesen sein kann. Diese Forderung anerkannte das Kloster, indem es Otto mit zwei Talenten entschädigte48. Auch den letzten bekannten Streitfall hat Abt Markward I. von Garsten im Wege eines Kompromisses durch Abfindung mit Geld lösen können. Zwei Dienstleute Ottos IV. von Lengenbach hatten aus unbekannten Gründen zwei Güter und zwei Weingärten „ihrer Herrschaft unterstellt“ und jahrelang nach Erbrecht besessen, obwohl diese Besitzungen einst die Ministerialin Gisela von Haselbach als Seelgerät an das Kloster tradiert hatte. Dem Geschick des Abtes Markward war es offenbar zu verdanken, dass er die beiden Dienstleute durch mahnende Worte (verbis divinis eos ammonente) – wie der Schreiber der betreffenden Notitia vermerkte – und gleichzeitige Zahlung von drei bzw. vier Talenten dazu brachte, auf ihre Rechte an den Gütern zu verzichten49. Dies geschah jeweils in Anwesenheit ihrer Herren Otto IV. und dessen Sohnes Hartwig III. von Lengenbach.   Quod fratres nostri postea in presentia marchionissę et familiarium eius prenominata pecunia comparave­

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runt.

45  TU Garsten 195 Nr. T 161 (Quę traditio pulsata est a quodam Gebolfo et a fratribus Garstensibus per susceptionem pueri prenominati Gebolfi soluta). 46   TU Garsten 225f. Nr. T 194a ( … ea conditione tradidit, ut, quamdiu Chunradus sororius eius superstes esset, in beneficio haberet et post dies illius nullo contradicente in perpetuam eidem ęcclesie rediret proprietatem). 47   TU Garsten 225f. Nr. T 194b (Postquam autem idem Chunradus de hac luce migravit, dominus Liupoldus comes de Plegen contra iusticiam illud tamdiu tenuit, quousque Dei nutu pro sex talentis ab eo nos redimentes super altare sancte Marie predicti cenobii delegavit). Siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 79. 48   TU Garsten 225f. Nr. T 194c (Quibus ita peractis Otto prenominati Hermanni sororius a nobis duobus talentis acceptis, quicquid iuris in eodem allodio habuit, in ius nostrum transfudit tali pactione, ut …). Über Otto siehe auch TU Garsten 217f. Nr. T 188. 49  TU Garsten 231f. Nr. T 200 (Quę predia et vineas duo de familiaribus domini Ottonis de Lengenbach suo dominio subdiderunt et per annos aliquot iure hereditario possederunt, sed domino Marquardo abbate Garstensi verbis divinis eos ammonente simulque septem talenta dante, uni tria, alteri quatuor, ab hac iniusta dominatione reflexit. Unde in unum ambo consentientes resignaverunt, si quid iuris videbantur habere, …). Siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 80.

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Dieser Überblick über die in den Garstener Traditionen überlieferten Streitfälle, die im Zusammenhang mit der Übertragung von Liegenschaften an das Kloster entstanden sind, hat gezeigt, dass das Empfängerkloster in drei Fällen als Kläger aufgetreten ist – bekannt ist nur ein Fall vor otakarischen Richtern50, in zwei Fällen bleibt der Gerichtsstand unbekannt51. In zwei Fällen, in denen es gegen den Grafen Leopold von Plain(–Hardegg) und die Dienstleute der Herren von Lengenbach um entfremdetes Klostergut ging 52, ist die Klosterleitung anscheinend in direkte Verhandlungen mit diesen „Usurpatoren“ eingetreten. In neun Fällen ist das Kloster insofern als geklagte Partei in Erscheinung getreten, als es Ansprüche auf geschenkte oder gekaufte Güter abwehren musste53. Wie wir gesehen haben, gehörten die meisten Streitgegner des Klosters nach Aussage unserer Quellen dem Stand der steirischen Ministerialen an. Ihm sind sehr wahrscheinlich auch jene Personen zuzurechnen, über deren Standesqualität es keine Angaben gibt, wenn man bedenkt, dass Garsten das erste Hauskloster der steirischen Markgrafen aus dem Geschlecht der Otakare gewesen ist und die Mehrzahl der aus den Garstener Traditionsbüchern bekannten Tradenten als otakarische Ministerialen bezeugt ist54. Wenn diese Adeligen Klagen gegen das Kloster erhoben haben, taten sie dies vor dem Gericht des steirischen Markgrafen bzw. Herzogs55, wobei die betreffenden Notitien in keinem dieser Fälle auf dessen Vogteigewalt hinweisen, vor einem Gericht wahrscheinlich in Vertretung dieses Landesherrn56 und wohl auch vor einem Weinberggericht57, überwiegend aber anscheinend vor dem Abt des Klosters58. Bei den Klägern handelte es sich zumeist um Verwandte (propinqui) und nahe Angehörige des jeweiligen Tradenten wie Bruder, Bruder- und Schwestersohn, Schwiegertochter mit Enkel, Söhne nach Erreichen der Großjährigkeit, Söhne, Töchter und Enkelkinder. Die Rechtsansprüche, die sie auf die von ihren Verwandten dem Kloster Garsten tradierten Güter geltend gemacht haben, scheinen vornehmlich im Erbrecht begründet gewesen zu sein, wie eine Reihe von Traditionsnotizen entweder direkt59 oder indirekt zu erkennen gibt. Dabei ist offensichtlich ein Beispruchsrecht mit Erbenlaub von Bedeutung gewesen60, d. h. die erforderliche Zustimmung des zur Zeit der Verfügung nächsten Erben, worauf auch Söhne nach Erreichen der Großjährigkeit sozusagen nachträglich noch Anspruch hatten. Auch 50  TU Garsten 206f. Nr. T 175 (Cuius violentiam nos Deo advocato summo et iudicibus terrę illius conque­ rentes ab illius pervasione eximi obnixius expetivimus et etiam exauditi sumus. Nam iudicum censura et …). 51   TU Garsten 201f. Nr. T 170 und 196b. 52   TU Garsten 225f. Nr. T 194b und 231f. Nr. T 200. 53  TU Garsten 118f. Nr. T 45, 139f. Nr. T 79, 158 Nr. T 106, 183f. Nr. T 147b, 195 Nr. T 161, 208f. Nr. T 177, 214f. Nr. T 185b, 225f. Nr. T 194c, 233f. Nr. T 202. 54  Haider, Zu den Anfängen (wie Anm. 1) 314 und 329; Huber, Garsten (wie Anm. 1) 503f. und 530, sowie TU Garsten 44. 55   TU Garsten 118f. Nr. T 45, 183f. Nr. T 147b, 214f. Nr. T 185b. 56  TU Garsten 206f. Nr. T 175 und 233f. Nr. T 202; siehe dazu oben S. 216f. 57  TU Garsten 208f. Nr. T 177. 58  TU Garsten 139f. Nr. T 79, 158 Nr. T 106, 195 Nr. T 161, 225f. Nr. T 194c. 59   TU Garsten 206f. Nr. T 175 (predium a nobis … emptum sibi violenter vendicavit, hęreditario iure possidere voluit …), 231f. Nr. T 200 (… suo dominio subdiderunt et per annos aliquot iure hereditario possederunt) und 233f. Nr. T 202 (exhereditari se causantes). 60  TU Garsten 118f. Nr. T 45?, 139f. Nr. T 79, 206f. Nr. T 175, 208 Nr. T 177, 225f. Nr. T 194c, 227 Nr. T 196b?, 231f. Nr. T 200? und 233f. Nr. T 202. Dazu siehe Werner Ogris–Christian Neschwara, Art. Erbenlaub. HRG 1 (Berlin 22008) 1360f.; Werner Ogris, Art. Erbenwartrecht. HRG 1 (Berlin 1971) 958f., und Doris Hellmuth, Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in Alamannien (700–940) (VuF Sonderbd. 42, Sigmaringen 1998) 69–76 und 201–203.



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die verschiedentlich in den Text von Notitien aufgenommene Formel, die Tradition sei ­absque ulla contradictione bzw. nullo contradicente erfolgt61, bot, wie die Traditionen des Konversen Arnhalm von Gleink–Volkensdorf, des Ministerialen Hermann von Mödring und des Ehepaares Gertrud und Rudiger von Thern zeigen, in der Realität keine Garantie dafür, dass nicht im Nachhinein doch jemand Einwände und Ansprüche erhob62. In jenen Fällen, in denen sich ein Adeliger ein tradiertes Gut nach Ansicht des Klosters widerrechtlich oder gewaltsam angeeignet hat63, wissen wir nicht, was den Betreffenden wirklich zu dieser Vorgehensweise veranlasst hat. Und ebenso wenig gibt es Hinweise auf die Beweggründe für die Klagen des Erchenger von Neuberg und des Gebolf 64. Wenn also im Normalfall der Traditionsakt und die darüber angefertigte Traditionsnotiz den Eigentumstitel des Empfängerklosters an dem übertragenen Gut begründet und gesichert haben, haben in den meisten unserer Streitfälle die erhobenen Erb- und sonstigen Ansprüche die Berechtigung der Tradition an sich und damit auch das daraus resultierende Eigentumsrecht des Klosters in Frage gestellt. Und dabei hat anscheinend die Überlegung keine Rolle gespielt, dass sie dadurch besonders in jenen Fällen, in denen die angefochtene Tradition als Seelgerätstiftung deklariert worden war, das Seelenheil eines ihnen nahegestandenen Menschen gefährden konnten65. Leider erfahren wir in keiner der Rechtsstreitigkeiten des Klosters Garsten um tradierten Grundbesitz, auf welche Beweismittel sich die Streitparteien vor Gericht oder im außergerichtlichen Verfahren gestützt haben66. Traditionsnotizen vorzulegen, die den korrekten Vollzug einer Schenkung oder eines Verkaufes beweisen konnten, hätte auf Seiten des Empfängerklosters nur dann Sinn gemacht, wenn ein Tradent seine eigene Tradition im Nachhinein wieder angefochten hätte oder wenn dem Kloster tatsächlich ein ordnungsgemäß tradiertes Gut entfremdet wurde bzw. wenn eine solche Aneignung durch einen Dritten jeder Rechtsgrundlage entbehrt hätte. Die im Kloster primär im eigenen Interesse als Einzel- oder Sammelstücke angefertigten bzw. in den Traditionsbüchern aufgezeichneten und aufbewahrten Traditionsnotizen enthielten nämlich nichts, womit man auf der Seite des Empfängerklosters erbrechtliche oder andere Rechtsansprüche später auftretender weltlicher Kläger abwehren hätte können, und sie waren andererseits noch weniger geeignet, diesen Klägern als Beweismittel zu dienen. Das dürfte wohl auch einen guten Teil jener Fälle erklären, die den Anschein erwecken, „dass Adelige sich (in ihren Streitfällen mit einem Kloster um Grundbesitz) von der Existenz einer Traditionsnotiz nicht beeindrucken ließen“ bzw. dass Traditionsnotizen vor Gericht keine Rolle gespielt haben, worauf jüngst Roman Zehetmayer in seiner Argumentation gegen die Rechtskraft und Rechtswirksamkeit von Traditionsnotizen und Traditionskodizes nachdrücklich hingewiesen hat67. Wenn die von weltlichen Klägern gestellten Ansprüche erbrechtlich be61   Diese Formeln nur auf die Zustimmung des Umstands bzw. der Handlungszeugen zu beziehen (so Die Traditionen des Klosters Schäftlarn 760–1305, ed. Alois Weissthanner [QEBG N. F. 10/1, München 1953] 25*), ist eine zu enge Interpretation, die sich so auch nicht bei Oskar Freiherr von Mitis, Studien zum älteren österreichischen Urkundenwesen (Wien 1912) 11f., findet. 62   TU Garsten 101 Nr. T 16, 225f. Nr. T 194a, 227f. Nr. T 196a. 63  TU Garsten 201f. Nr. T 170, 225f. Nr. T 194b, 231f. Nr. T 200. 64  TU Garsten 214f. Nr. T 185b und 195 Nr. T 161. 65  Dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 73f. und 293f. über die Pflege der Memoria mit einem Fall aus Garsten (TU Garsten 206f. Nr. T 175: animę patris sui oblitus), in dem das Kloster auf diese Gefahr hingewiesen hat. 66   Vgl. ebd. 76–80 mit Beispielen aus anderen Klöstern. 67   Ebd. 66–70, 76, 80 und 293. Anscheinend zu sehr im Banne der Siegelurkunde und ihres neuen

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Beglaubigungsmittels, aber auch einer von ihm gesuchten absoluten Rechtskontinuität stehend spricht Zehetmayer Traditionsnotizen und Traditionsbüchern „Rechtskraft per se“ und damit Rechtswirksamkeit ab. Man wird aber dem Charakter dieser spezifischen Geschichtsquellen nur dann gerecht, wenn man ausgehend von den Erkenntnissen Heinrich Fichtenaus über den Rechts- und Urkundencharakter von Schriftstücken (Fichtenau, Urkundenwesen 137 und 74) in ihnen die ihrer Zeit gemäßen Beurkundungsmittel sieht. Dass Traditionsnotizen Urkundencharakter hatten, ist allein schon daran zu ersehen, dass diese spezielle Gattung überall dort, wo sie üblich geworden ist, ein für sie typisches Formular ausgebildet hat, im Wesentlichen bestehend aus Publicatio, Kontext, Corroboratio und Zeugenreihe, manchmal bzw. fallweise ergänzt durch eine Arenga, eine Sanctio bzw. Pönformel oder andere urkundliche Elemente wie Pertinenzformeln, Invocationes, Salutationes und Angabe des Handlungsortes. Dazu siehe etwa Joachim Wild, Besiegelte Traditionsnotizen, in: Festschrift Walter Jaroschka zum 65. Geburtstag, hg. von Albrecht Liess–Hermann Rumschöttel–Bodo Uhl (AZ 80, Köln–Weimar–Wien 1997) 469–483, hier 474–479; TU Garsten 35–41; Die Traditionen des Benediktinerklosters Biburg, ed. Monika von Walter (QEBG N. F. 45/1, München 2004) 68*–71*, und Die Traditionen des Augustiner-Chorherrenstifts Herrenchiemsee, ed. Birgit Gilcher (QEBG N. F. 49/1, München 2011) 65*–80*. Mancherorts wie beispielsweise in Polling und Asbach sind sogar vollständige Datierungen überliefert (Die Traditionen des Stiftes Polling, ed. Friedrich Helmer [QEBG N. F. 41/1, München 1993] 36*–38* und 47*–49*; Die Traditionen, Urkunden und Urbare des Klosters Asbach, ed. Johann Geier [QEBG N. F. 23, München 1969] 20*). Als Beglaubigungsmittel der Traditionsnotizen dienten entsprechend den Möglichkeiten ihrer Zeit für die von der Lebensdauer der Zeugen abhängige mittelfristige Rechtssicherung die Namensliste der Zeugen und für die Langzeitsicherung die Offenkundigkeit des Rechtsgeschäftes, die von der an eine größtmögliche Öffentlichkeit (alle Gläubigen, die gesamte Christenheit, alle jetzt und künftig Lebenden, aber auch das schlichte Notum sit etc.) gerichteten Publicatio zum Ausdruck gebracht wurde (Fichtenau, Urkundenwesen 80f. und 137f.; Stephan Molitor, Das Traditionsbuch. Zur Forschungsgeschichte einer Quellengattung und zu einem Beispiel aus Südwestdeutschland. AfD 36 [1990] 61–92, hier 72–75; Peter Johanek, Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotiz, Traditionsbuch und früher Siegelurkunde, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von Peter Classen [VuF 23, Sigmaringen 1977] 131–162, hier 132–155). Beide Urkundenformeln haben einander auf diese Art ergänzt, wie Wild, Traditionsnotizen 478, gezeigt hat. Dazu kam die kirchlich-sakrale Autorität der von Konventualen des Klosters angefertigten Schriftstücke. Sie hat vor allem den an diesem geweihten Ort auf Dauer verwahrten und damit im Rahmen des Möglichen gesicherten, überlieferungsbeständigeren Traditionskodizes eine besondere, auch öffentlichkeitswirksame Glaubwürdigkeit verliehen, die im Übrigen erklärt, warum das Formular der Traditionsnotizen nicht überall in vollem Umfang in die Traditionsbücher übernommen werden musste. Dass weite Kreise des weltlichen Adels in einer besonderen Beziehung zu Klöstern und Stiften standen, beweisen ihre zahlreichen (Seelgerät-)Schenkungen an diese ebenso wie die Tatsache, dass manche Adelige ihre Kinder dort erziehen ließen und selbst dort ihr Begräbnis anstrebten. Welcher Wertschätzung sich Traditionsbücher geistlicher Institutionen beim Adel erfreuen konnten, zeigen Beispiele aus dem oberösterreichischen Garsten und dem bayerischen Moosburg. In beiden Traditionskodizes A und B des Klosters Garsten findet sich eine Traditionsnotiz über die Schenkung eines Hauses in Steyr durch einen Ministerialen an den Johanniterorden (TU Garsten 202f. Nr. T 171 = B 138), in das Traditionsbuch des Kollegiatstifts St. Kastulus in Moosburg hat man ebenfalls im Vertrauen auf Rechtssicherheit eine Traditionsnotiz eingetragen, die eine Schenkung zweier Ministerialen an eine Verwandte für den Todfall der beiden Tradenten auf dem Kreuzzug zum Inhalt hat (Die Traditionen des Kollegiatstiftes St. Kastulus in Moosburg, ed. Klaus Höflinger [QEBG N. F. 42/1, München 1994] 236 Nr. 231; siehe dazu auch 224f. Nr. 217 und 232 Nr. 226). Die sachliche Diskussion über den Wert und die Rechtswirksamkeit von Traditionsnotizen und Traditionsbüchern kann hier nicht in allen Einzelheiten geführt werden. Grundsätzlich ist jedoch gegen Zehetmayers Ansicht einzuwenden, dass ein Denkmodell, das für einen Jahrhunderte umfassenden Zeitraum den wenigen bekannten Notitien des weltlichen Adels, von denen einige in Freisinger Traditionsheften bzw. in einem Passauer Traditionsbuch enthalten sind, Rechtswirksamkeit und damit Urkundencharakter zuerkennt (Zehetmayer, Urkunde [wie Anm. 18] 19–39, bes. 52–54, spricht von „schriftlich festgehaltenen Rechtsgeschäften“, von der „Niederschrift von Rechtsgeschäften“, von „Eheverträgen“, von „Verträgen“, „Abkommen“ und „Übereinkünften“ sowie von „Schenkung“ und „Überlassung“), den tausenden überlieferten Traditionsnotizen der Klöster und Stifte mit durchaus unterschiedlichen Rechtsinhalten neben der großen Mehrzahl von Schenkungsakten jedoch nicht, schon vom Ansatz her nicht zu überzeugen vermag. Ebenso auffällig ist, dass Zehetmayer ein einziges, von ihm in Salzburg gefundenes Beispiel dafür gelten lässt, dass Traditionsnotizen im außergerichtlichen Verfahren eine Rolle gespielt haben könnten (Urkunde 69f. und 81), dagegen aber die beiden Zeugnisse aus Garsten, wonach die Schenkung eines Ministerialen an den Johanniterorden, wie oben erwähnt, in der Form einer Traditions-



Die Streitfälle des Klosters Garsten um tradierte Güter 223

gründet waren, standen dafür ebenfalls keine schriftlichen Dokumente als Beweismittel zur Verfügung, und die klagende Partei konnte sich nur auf die Aussagen von kundigen Zeugen stützen, die über die Verwandtschaftsverhältnisse und die Rechtsstellung der Tradenten und der die Tradition anfechtenden Kläger Bescheid wussten. Auf Seiten des Klosters war man jedenfalls von der Beweiskraft seiner Traditionsnotizen bzw. Traditionsbücher in künftigen Streitfällen überzeugt. Das ist zum einen daran zu ersehen, dass man in Garsten die Lösung der Rechtsstreitigkeiten um tradierte Güter in der zur damaligen Zeit üblichen Urkundenform der Traditionsnotiz schriftlich fixiert hat, und zum anderen daran, wie man die betreffenden Streitfälle dokumentiert hat. Man hat nämlich in einer Reihe von Fällen auch die dem Streit zu Grunde liegende ursprüngliche Traditionsnotiz auf verschiedene Weise mit einbezogen. Wenn diese Erstnotiz im Traditionsbuch schon an früherer Stelle eingetragen war, konnte man sich damit begnügen, das Ergebnis der rechtlichen Auseinandersetzung in Form einer neuen Notitia an der durch die chronologische Reihung gegebenen späteren Stelle zu verzeichnen68. In einem Fall hat man sogar die Erstnotiz unmittelbar vor der Notitia über die Beilegung des Streites noch einmal fast wortwörtlich wiederholt und damit die chronologische Reihenfolge im Traditionsbuch gestört69. Eine solche Kombination von Streitnotiz und vorangestellter, an dieser Stelle zeitlich unpassender Erstnotiz hat man aber auch in zwei Fällen gewählt, in denen die Erstnotiz über die Tradition an das Kloster bis dahin anscheinend noch nicht im Traditionsbuch verzeichnet war70. In fünf Fällen wird in der Notitia über die Streitbeilegung die Vorgeschichte so geschildert, dass man daraus auf eine ursprünglich vorhandene Erstnotiz schließen kann71, die vielleicht in der lückenhaften Garstener Überlieferung72 nicht auf uns gekommen ist. In drei Notitien ist die Vorgeschichte so kurz gehalten, dass ihr nicht zu entnehmen ist, ob es in diesem Fall überhaupt eine ursprüngliche Erstnotiz über die Tradition gegeben hat73. Wie man die Streitfälle in den Garstener Traditionskodinotiz in die Garstener Traditionsbücher eingetragen worden war und man das Garstener Traditionsbuch B im Kloster als autenticum registrum bezeichnet hat (Haider, Studien [wie Anm. 2] 139–141), als Einzelfall bzw. mit Zitieren von Heide Dienst als mönchisches Wunschdenken abtut (Urkunde 66f., 293 und 65). Siehe zu dieser grundsätzlichen Diskussion auch Haider, Studien 154–168, wo eine andere Sicht dargelegt wird, und die Rezension dess. über Zehetmayers überaus respektables Buch im JbOÖMV 156 (2011) 219–224. Zu dieser Diskussion kann die vorliegende, auf wenige Beispiele aus Garsten beschränkte Abhandlung nur einen kleinen Beitrag leisten. Dass die hier gewonnenen Erkenntnisse für Traditionsnotizen und Traditionsbücher allgemein gültig sind, ist zu vermuten, wird aber noch durch gleiche oder ähnliche Untersuchungen der Urkundenfonds anderer Klöster und Stifte im süddeutsch-bayerisch-österreichischen Raum abzuklären sein. Dazu bieten vor allem die Editionsbände bayerischer Traditionen in den QEBG mit ihren ausführlichen Einleitungen eine Fülle von leicht zugänglichem und gut aufbereitetem Material. Hilfreich und wegen der mit den Tradenten nahe verwandten Kläger aufschlussreich sind auch die knappen Zusammenstellungen von Fällen aus Klosterneuburg und Göttweig bei Zehetmayer, Urkunde 77–79. 68   TU Garsten 101 Nr. T 16/118f. Nr. T 45 und 133f. Nr. T 69/139f. Nr. T 79. In diesen Fällen gibt es im erhaltenen originalen Garstener Traditionskodex A keine Querverweise; vgl. dazu die Beispiele im Traditionsbuch des Klosters Weihenstephan in: Die Traditionen des Klosters Weihenstephan, ed. Bodo Uhl (QEBG N. F. 27/1, München 1972) 97*. 69   TU Garsten 196f. Nr. T 163/214f. Nr. 185a/185b. Dazu Haider, Studien (wie Anm. 2) 62. 70   TU Garsten 183f. Nr. T 147ab und 227f. Nr. T 196ab. Dazu Haider, Studien (wie Anm. 2) 62f. 71   TU Garsten 195 Nr. T 161, 208 Nr. T 177, 225f. Nr. T 194a, 231f. Nr. T 200 und 233f. Nr. T 202. Friedrich Hausmann, Die Admonter „Salbücher I–IV“. Ihre Vernichtung und die Wiederherstellung ihres Inhaltes in Übersicht. ZHVSt 91/92 (2000/2001) 151–231, hier 159f., spricht in solchen Fällen von überarbeiteten Notizen. Siehe dazu auch Haider, Studien (wie Anm. 2) 160. 72  Dazu ebd. passim. 73   TU Garsten 158 Nr. T 106, 201f. Nr. T 170 und 206f. Nr. T 175.

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zes auch dokumentiert hat, alle diese verschiedenen Arten der Aufzeichnung haben weder als bloße Gedächtnisstütze noch Aspekten der Verwaltung, der Historiographie oder der liturgischen Memoria gedient, sondern eindeutig in erster Linie der Rechtssicherung der zuvor umstrittenen Güter74. Und das spricht denn doch dafür, dass Traditionsnotizen und Traditionsbücher zu ihrer Zeit auch rechtswirksam gewesen sind. Es gibt aber auch Garstener Traditionen, die zeigen, dass das Kloster im Bewusstsein von möglichen künftigen Konflikten mit potentiellen Erben und Verwandten von Tradenten schon im Vorfeld von Traditions- bzw. Kaufgeschäften Abwehrstrategien entwickelt hat. Die Tatsache, dass man diese rechtlichen Verpflichtungen in die betreffenden Traditionsnotizen aufgenommen hat, spricht ebenfalls dafür, dass man an deren Rechtswirksamkeit geglaubt hat. So haben die Mönche von einem markgräflichen Ministerialen ein kleines Gut unter der Bedingung gekauft, dass er es im Falle eines Einspruches von allen Ansprüchen befreie oder eine angemessene Entschädigung leiste75. Als Abt Markward I. einen Weingarten um die hohe Summe von 25½ Talenten kaufen wollte, sicherte er sich gegen eine Anfechtung des Kaufes durch Verwandte des Verkäufers ab76. Wohl auf Verlangen des Abtes musste der Verkäufer einen anderen Weingarten zur Sicherstellung anbieten, der mit zusätzlichen 10 Talenten in das Eigentum des Klosters übergehen sollte, wenn der Verkäufer den entstandenen Streit nicht selbst lösen können sollte77. Und dieses Problem trat tatsächlich sofort danach auf, weil die Schwester des Verkäufers ihr Erbrecht an dem zum Verkauf stehenden Weingarten geltend machte. Sie wurde daraufhin von ihrem Bruder, dem Verkäufer, durch die Zahlung von 18 Schilling zum Verzicht auf ihr Recht und zur Tradition des Weingartens bewogen, wobei ihr Ehemann fünf Pfennig und jedes ihrer kleinen Kinder (!) zwei Pfennig für ihre Zustimmung zum Verkauf bekamen78. Erst nach dieser Klärung der Rechtsverhältnisse hat Abt Markward den Kauf durch die Zahlung der vereinbarten Kaufsumme abgeschlossen79. Ähnlich waren Rechtslage und Vorgangsweise beim Erwerb eines Gutes, das Wernhard Viernis kurz vor seinem Tod zu seinem Seelenheil gestiftet hat80. Er hatte es nämlich dem Ministerialen Boto von Steyr um 11 Talente abgekauft cum manu et traditione omnium filiorum mit Ausnahme von dessen zwei kleinsten Söhnen. Für den Fall, dass diese beiden jüngsten Söhne das verkaufte Gut später anstreben würden bzw. um auch deren künftige Zustimmung zum Verkauf zu sichern, hat ihr Vater Boto ein anderes Gut um 74   Siehe über Zweck und Funktionen von Traditionsbüchern Molitor, Traditionsbuch (wie Anm. 67) 72–87, und Heide Dienst, Regionalgeschichte und Gesellschaft im Hochmittelalter am Beispiel Österreichs (MIÖG Ergbd. 27, Wien–Köln 1990) 111f. 75  TU Garsten 125 Nr. T 55 (… ea scilicet conditione, ut, si umquam alicuius contradictio nobis obstaret, idem expeditum redderet aut pari recompensaret). 76   TU Garsten 210f. Nr. T 179a–d. 77   TU Garsten 210f. Nr. T 179b (Qui Cadelhoh deposuit aliam vineam Radendorf ea conditione, ut, si ullus propinquorum eius pulsaret nos pro empta vinea, aut ipse questionem solveret vel vineam Radendorf in proprios reditus legitime haberemus et insuper ipse nobis decem talenta conferret). 78   TU Garsten 210f. Nr. T 179c (Conventione autem hac facta soror eius supervenit ius hereditarium in emptam vineam proclamans. Cui ipse dans decem et octo solidos ipsam cum marito ac filiis a proclamatione cessare fecit et ipsa denuo suam vineam hęreditariam tradens, ut, si posteritas eius ex se nata querimoniam ferat ad vineam supradictam, sine omni contradictione vinea, quam tradidit, nostra consistat. Huic pacto maritus cum filiis eius consensit accepitque ius venditionis, quinque videlicet denarios, set et parvulorum quisque duos). 79  TU Garsten 210f. Nr. T 179d (Omnibus, quę supra diximus, peractis debitum nos venditori persolvimus in domo Henrici Bruggenare …). 80   TU Garsten 216f. Nr. T 187a.



Die Streitfälle des Klosters Garsten um tradierte Güter 225

10 Talente an den Käufer Wernhard verpfändet81. Und dieses Pfandrecht hat Wernhard mit der Tradition des gekauften Gutes dem Kloster Garsten übertragen82, wodurch der Schenkgeber selbst für dessen Schadlosstellung gegenüber künftigen Erbrechtsansprüchen der beiden Söhne gesorgt hat, die zum Zeitpunkt der Tradition noch minderjährig gewesen sind. Wir dürfen annehmen, dass diese Sicherstellung gegenüber dem Recht der Söhne auf Erbenlaub ebenfalls auf Wunsch des Abtes Markward erfolgt ist. Im Fall des Otto von Mödring hat das Kloster dessen Anspruch auf ein Gut anerkannt und eine Entschädigungszahlung von zwei Talenten geleistet83. Zusätzlich hat es sich allerdings durch eine Haftungsvereinbarung mit Otto abgesichert, wonach es die Hälfte von dessen Hof in Mödring für acht Talente verpfänden durfte, wem es wolle, wenn einer von Ottos Brüdern von dem tradierten bzw. gekauften Gut künftig etwas entfremde und Otto dies nicht verhindern könne84. Bemerkenswert daran ist die Höhe der festgesetzten Pfandsumme, die größer ist als die zuvor an den Grafen Leopold von Plain (–Hardegg) gezahlte Kaufsumme und weit über der Entschädigung Ottos liegt. Schließlich ist noch der Fall bezeugt, dass sich die Verkäufer eines Gutes bei dessen Tradition an das Kloster eidlich verpflichten mussten, diese Übertragung (delegatio) zeitlebens zu verteidigen85. Ziehen wir abschließend Bilanz mit der Frage, zu wessen Gunsten die vorgestellten 14 Streitfälle ausgegangen sind, so stoßen wir auf eine weitere für das mittelalterliche Rechtsleben charakteristische Denkart86. Es gab nämlich nur selten einen klaren Gewinner oder Verlierer, die meisten dieser Rechtsstreitigkeiten wurden im Wege von faktischen, d. h. nicht römisch-rechtlichen Kompromissen gelöst. Das besagt, die Streitparteien – auf der einen Seite das Kloster Garsten als Empfänger tradierter Güter und auf der anderen Seite Adelige, die entweder gegen diese Traditionen geklagt haben oder vom Kloster wegen Missachtung seiner Rechte geklagt wurden – haben sich entweder vor Gericht oder außergerichtlich auf einen Vergleich geeinigt. Überblickt man die Konflikte, die das Kloster Garsten mit Adeligen um tradierte Besitzungen ausfechten musste, so hat die geistliche Gemeinschaft von den drei Streitfällen, in denen sie als Kläger vor Gericht auftrat, zwei gewonnen87; in einem Fall kam es nach Erhebung der Klage zur gütlichen Einigung, indem Abt Markward I. der Streitgegnerin Alheit (von Thern) auf deren Bitte das strittige 81   TU Garsten 216f. Nr. T 187b (Idem predium predictus Wernhardus emerat a Botone ministeriali ducis Styrensis XI talentis cum manu et traditione omnium filiorum eiusdem Botonis exceptis duobus tamen minimis filiis ipsius, qui non sunt adhibiti, quia nondum annos discretionis intraverant. Ad horum autem duorum assensum futurum confirmandum pater Boto predium suum ad Eich prefato Wernhardo inpignoravit pro X talentis, ut, si hii duo filii eius postmodum predium a patre venditum vellent impetere, Wernhardus predii Eich inpignorationem haberet pro X talentis). 82   Et hoc ipsum ius inpignorationis idem Wernhardus monasterio Garstensi tradendum confirmavit. 83   TU Garsten 225f. Nr. T 194c; siehe oben S. 219 mit Anm. 48. 84  TU Garsten 225f. Nr. T 194c (… tali pactione, ut, si quis fratrum suorum a prefato loco deinceps hoc alienaverit et ab eius infestatione defendere non potuerit, medietatem curtis sue Moderich pro octo talentis, cui velimus, obpignorandi potestatem habeamus). Auf die „sehr frühe Haftungsformel“ hat Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 79f., aufmerksam gemacht. 85   TU Garsten 231 Nr. T 199 (… delegaverunt sub confirmatione iuramenti pollicentes eandem delegationem omnibus diebus vitę suę ex defensione ipsorum ratam et inconvulsam permansuram). 86   Dazu Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10, Linz 1967) 22f. und 212–217, und Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 80f. und 294. Viele Beispiele finden sich auch in den edierten Traditionsbüchern bayerischer Klöster und Stifte. 87   TU Garsten 201f. Nr. T 170 und 206f. Nr. T 175.

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Gut gegen Zahlung von fünf Talenten für ihre und ihrer Familie Lebenszeit überließ88. Die Klage des Ministerialen Erchenger von Neuberg gegen eine umfangreiche Tradition wurde auf einer Versammlung Herzog Otakars IV. durch den öffentlichen Auftritt des seinerzeitigen Mittradenten Udalrich von Ipf zum Vorteil des Klosters widerlegt89. Zuvor schon hatte derselbe Landesherr einen Streitfall durch den Kompromiss beigelegt, dass den adeligen Klägern die lebenslange Nutzung eines dem Kloster tradierten Gutes zugestanden wurde90. Dagegen kam eine Übereinkunft mit dem Bruder eines Tradenten einer Niederlage des Klosters gleich, weil es diesem Bruder den vollen Kaufpreis erstatten musste, für den er das tradierte Gut schon früher von seinem Bruder, dem späteren Tradenten, gekauft hatte91. In allen anderen Fällen verglich sich das Kloster mit seinen Streitgegnern auf verschiedene Weise, indem man vor allem die Kläger finanziell für ihren Verzicht entschädigte92, das umstrittene Gut gegen andere Güter tauschte93 oder den Sohn des Klägers in das Kloster aufnahm94. In einem dieser Fälle, der vor Gericht gebracht worden war, kam es ausdrücklich auf den Rat der Landsleute zur gütlichen Einigung 95. In zwei Streitfällen musste das Kloster den realen Machtverhältnissen dadurch Rechnung tragen, dass es den angeblichen Usurpatoren tradierter Güter diese um sechs bzw. um sieben Talente abkaufte96. Es waren also nicht unbeträchtliche Entgegenkommen, zu denen sich das Kloster Garsten bereitfand, um in den tatsächlichen Besitz tradierter Güter zu gelangen. Als Hauptgrund dafür ist anzunehmen, dass das Kloster entweder nicht umhin kam, die Rechtsansprüche der Kläger ganz oder teilweise anzuerkennen, oder dass die Rechtslage nicht eindeutig zu klären war. Im Einzelfall mag auch mitgespielt haben, dass man sich außer Stande sah, sein eigenes Recht gegen einen mächtigen Adeligen zur Gänze durchzusetzen97, oder dass man vielleicht einen drohenden, lange dauernden Streit vermeiden wollte. Die dahinter stehende Überlegung wurde in einer zeitgleichen Traditionsnotiz des bayerischen Augustiner Chorherrenstiftes Gars überaus trefflich formuliert. Ihre Kernaussage, die eine entsprechende Handlungsweise des Propstes Heinrich I. rechtfertigt, lässt sich am besten mit dem bekannten Sprichwort wiedergeben: „Besser der Spatz in der Hand als die Taube am Dach“98. Aber natürlich war auch der Adel zum Einlenken bereit gewesen und hatte nicht auf Maximalforderungen bestanden. Wir haben anhand weniger und spezifischer Quellen Beispiele für Denkart und Existenz im hohen Mittelalter kennengelernt – Lebensordnungen eben, wie sie Heinrich Fichtenau genannt hat. Wenn am Beginn dieser Abhandlung Einblicke in das Rechtsleben des   TU Garsten 227f. Nr. T 196b.   TU Garsten 214f. Nr. T 185b. 90   TU Garsten 183f. Nr. T 147b. 91   TU Garsten 158 Nr. T 106. 92  TU Garsten 208f. Nr. T 177 und 233f. Nr. T 202. Einmal hat man nach einer Grundsatzentscheidung des Markgrafen einem Erbberechtigten die Hälfte eines strittigen Gutes um vier Mark nachträglich abgekauft (TU Garsten 118f. Nr. T 45). 93   TU Garsten 139f. Nr. T 79. 94   TU Garsten 195 Nr. T 161. 95   TU Garsten 233f. Nr. T 202 (consilio conprovincialium mediante). 96  TU Garsten 225f. Nr. T 194bc und 231f. Nr. T 200. 97  Siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 18) 81. 98  Die Traditionen, Urkunden und Urbare des Stifts Gars, ed. Heiner Hofmann (QEBG N. F. 31, München 1983) 35 Nr. 34: … videns prepositus nichil aliud superesse, nisi vel omnia perderet vel ex multis aliqua acciperet, melius esse arbitratus est, aliquid quam nichil lucrari. 88 89



Die Streitfälle des Klosters Garsten um tradierte Güter 227

hohen Mittelalters angekündigt worden sind, so ist jetzt zusammenfassend festzustellen, dass wir mehr über die bemerkenswerte Vielfalt der gelebten Rechtspraxis erfahren haben als über die dahinterstehende allgemein verbindliche Rechtsordnung. So wurde zwar die große Bedeutung des Erbrechts in männlicher und weiblicher Linie für die Adelswelt der steirischen Ministerialität deutlich, die dafür gültigen Normen lassen sich jedoch aus den wenigen Einzelfällen, die in den untersuchten speziellen Garstener Quellen dokumentiert sind, nicht herauslesen99. Selbst im Falle des wiederholt in Erscheinung tretenden Beispruchs- oder Wartrechtes der Erben kann letztlich nicht genau definiert werden, für welchen Personenkreis es unter welchen Umständen gültig war. Bemerkenswert ist, dass nach Aussage unserer Quellen anscheinend niemand seine Klage damit begründet hat, die betreffende Schenkung des Tradenten sei nicht angemessen gewesen, wie das der Paragraph 14 der Georgenberger Handfeste von 1186 für Vergabungen an die Kirche nicht zuletzt auch zum Schutz der Erben verlangt hat100. Gerne hätte man auch detaillierte Kenntnis von den Abläufen der verschiedenen Streitfälle bzw. Prozesse, über die die Garstener Traditionsnotizen in der Regel nur knapp zusammenfassend berichten. In diesem Zusammenhang sei nur kurz darauf hingewiesen, dass wir mit der Schwiegertochter des Ministerialen Udalschalk, mit den fünf Töchtern des Dietrich von Weikersdorf und mit Alheit (von Thern) Frauen kennengelernt haben, die in Streitfällen mit dem Kloster Garsten entweder gemeinsam mit Männern oder allein als Klägerinnen bzw. als Gegnerinnen aufgetreten sind101. Genaueres über ihre Aktivitäten zu erfahren, wäre ebenfalls interessant. Trotz solcher Desiderata dürften die vorliegenden Ausführungen deutlich gemacht haben, welch hoher Quellenwert den Garstener Traditionsnotizen für das rechtliche und soziale Gefüge im 12. Jahrhundert eigen ist. Nicht zuletzt haben die behandelten Beispiele aus Garsten aber auch zu kritischen Überlegungen über die rechtliche Bedeutung von Traditionsnotizen und Traditionsbüchern veranlasst.

99  In der Georgenberger Handfeste von 1186 wird „hinsichtlich des Eigengutes“ der steirischen Ministerialen für den Fall, dass „der Erblasser keine besondere Verfügung getroffen hat“, dem nächsten (= männlichen oder weiblichen) Blutsverwandten das Erbrecht zugeschrieben; Spreitzhofer, Handfeste (wie Anm. 22) 14f. § 7 (Si Stirensis intestatus obierit, iure succedat heredis, qui proximus fuerit sanguinis) und 64 sowie 87 über die abgeänderte Handfeste Kaiser Friedrichs II. von 1237. 100  Siehe dazu Spreitzhofer, Handfeste 16f. § 14 (et de reditibus suis, quod conveniens fuerit, deo conferre disposuerit, …) und 67, sowie Heinrich Appelt, Zur diplomatischen Kritik der Georgenberger Handfeste. MIÖG 58 (1950) 106f., wieder abgedruckt in ders., Kaisertum, Königtum, Landesherrschaft. Gesammelte Studien zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, hg. von Othmar Hageneder–Herwig Weigl (MIÖG Ergbd. 28, Wien 1988) 238–254, hier 248, der diese Bestimmung im Zusammenhang mit dem Eintritt in ein Kloster sieht. 101  TU Garsten 183f. Nr. T 147b, 208f. Nr. T 177 und 227f. Nr. T 196b. Siehe dazu Siegfried Haider, Zur Rechtsstellung von Frauen im Lichte der Garstener Traditionsnotizen (12./erste Hälfte 13. Jahrhundert). MIÖG 122 (2014) 1–21, bes. 19.





Außenbeziehungen und „internationale“ Verträge in der Spät­antike und am Beginn des Frühmittelalters Andreas Schwarcz

Heinrich Fichtenau hat sich als Diplomatiker nicht intensiv mit völkerrechtlichen Vertragsurkunden beschäftigt, aber ein kurzer Abschnitt seiner umfassenden Studie zur Arenga ist unter der Überschrift „Frankreich. Politische Verträge“1 diesem Thema gewidmet. Dort setzt er, Ludwig Bittner und Heinrich Mitteis2 folgend, das Entstehen der Unterhändlerurkunde in das 11. und 12. Jahrhundert und behandelt in der Folge Verträge vom Vertrag von Konstanz 1153 bis zum Vertrag zwischen König Rupert und Venedig von 1401. Mitteis selbst hat allerdings durchaus bereits auf internationale Verträge des Altertums verwiesen, insbesondere auf Verträge Roms mit den hellenistischen Königreichen, und sah eine Kontinuität im politischen Vertragswesen auch im Mittelalter vom ersten Konkordat Pippins mit Papst Stephan II. bis zur Höhe des Mittelalters 3. Der Zeit davor ist dieser Beitrag gewidmet. Das Imperium Romanum der Spätantike und die Königreiche des Frühmittelalters kannten keine Außenpolitik in der modernen Bedeutung und auch kein spezielles Officium, das sich wie ein neuzeitliches Außenministerium speziell mit dieser Materie beschäftigte. Aber die römischen Juristen der Kaiserzeit hatten bereits das ius gentium, das ursprünglich den Umgang mit individuellen peregrini regelte, weiterentwickelt zu einem System von Regeln, das auch Grundsätze von Krieg und Frieden mit gentes externae und den benachbarten Königreichen regelte und auch den diplomatischen Umgang mit ihnen. Der Begriff taucht zum ersten Mal bei Cicero auf: Er unterscheidet zunächst zwischen dem ius civile und dem ius gentium im Sinne eines allgemeinen Rechts, dem auch das ius civile entsprechen müsse4. In einer Rede im Jahr 56 v. Chr. bezeichnete er dann Gn. Pompeius Magnus im Sinn der modernen Interpretation als Völkerrecht als gewiegten Kenner … in foederibus, pactionibus, condicionibus populorum, regum, exterarum nationum, in universo denique belli iure atque pacis5. Zu diesem Regelwerk gehörte   Fichtenau, Arenga 187–191.   Ludwig Bittner, Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden (Stuttgart 1924); Heinrich Mitteis, Politische Verträge im Mittelalter, in: ders., Die Rechtsidee in der Geschichte (Weimar 1957) 567–612. 3   Mitteis (wie Anm. 2) 576–579. 4   Itaque maiores aliud ius gentium, aliud ius civile esse voluerint; quod civile, non idem continuo gentium, quod autem gentium, idem civile esse debet. M. Tullius Cicero, De officiis, 3. 69: M. Tullius Cicero, De officiis, ed. with an English translation by Walter Miller (London–Cambridge, Mass., 1956) 338–341. 5  M. Tullius Cicero, Pro L. Cornelio Balbo Oratio, 6. 15: M. Tullii Ciceronis Orationes 5, ed. William Peterson (Oxford 1911, Nachdr. 1962) 1–28, hier 5f.; Ernst Baltrusch, Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 7, München 2008) 99. 1 2

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auch die Konzeption des bellum iustum, des gerechtfertigten Krieges, die Augustinus im christlichen Sinn uminterpretierte und damit auch in die mittelalterliche Gedankenwelt tradierte6, und ein System von bilateralen Verhandlungen über Gesandte, deren Unversehrtheit und Schutz durch eben dieses Recht garantiert war. Bei Isidor von Sevilla wird das ius gentium dann folgendermaßen definiert: Ius gentium est sedium occupatio, aedificatio, munitio, bella, captivitates, servitutes, postliminia, foedera pacis, indutiae, legatorum non violandorum religio, conubia inter alienigenas prohibita. Et inde ius gentium, quia eo iure omnes fere gentes utuntur7. Dieses unterscheidet er sorgsam vom ius naturale, das bei ihm die Rolle eines universalen Rechts aller Völker übernimmt, vom ius civile als nationalem Recht im modernen Sinn, vom ius militare, dem Kriegsrecht, und dem ius publicum, das dem Kult, den Priestern und den Magistraten gewidmet ist8. Auch aus dieser Aufstellung des Isidor lassen sich zumindestens noch einige wichtige Vertragstypen der römischen Tradition für das Frühmittelalter feststellen: ausdrücklich erwähnt sind Friedensverträge, in denen foedus und pax zu einer Einheit verschmolzen sind, und Waffenstillstände (indutiae). Nicht erwähnt sind von den klassischen Instrumenten des römischen Vertragswesens die amicitia und die societas, die aber in der römischen Kaiserzeit ihren Ausdruck rechtlich in foedera fanden. Bereits die Republik hatte für mit Rom verbündete Herrscher den Begriff des rex socius und des amicus Populi Romani geprägt und ein System der Anerkennung und der von Rom verliehenen Ehrenzeichen für diese Anerkennung entwickelt. Die Spätantike kombinierte das mit der adoptio ad arma, die zwar nicht als vollgültige Adoption im rechtlichen Sinn galt, aber mit der Verleihung von Waffen und einem reich geschmückten Pferd durch den Kaiser auch einem Bündnis noch eine personale Verpflichtung hinzufügte. Die Praxis der Regna auf Reichsboden übernahm von der Concordia Augustorum auch den Abschluss von Bündnissen, die durch Heiraten zwischen den Königshäusern bekräftigt wurden. Seit Augustus war das Recht, Bündnisverträge (foedera) abzuschließen, auf den Princeps übergegangen, der es sich beim Regierungsantritt durch Senatsconsult bestätigen ließ, wie es für Vespasian belegt ist: foedusve cum quibus volet facere liceat, ut licuit divo Aug(usto) Ti. Iulio Caesari Aug(usto) Tiberioque Claudio Caesari Aug(usto) Germanico9. In der Spätantike übte der Kaiser dieses Recht entweder persönlich aus oder schloss Verträge durch Feldherren oder hohe Beamte, dann über bevollmächtigte Gesandte. Die Verträge bedurften dann aber der Bestätigung durch den Imperator. Ähnlich handelten dann auch die Könige der Nachfolgereiche. Solange das Imperium seine militärische Dominanz bewahren konnte, stand als Rechtsinstrument neben foedus und societas mindestens gleichrangig die deditio. Ihr Vertragscharakter ist in der Rechtsgeschichte umstritten, und sie wird in der Literatur 6  Siehe zur reichen Literatur zum Thema z. B. Frederick H. Russell, The Just War in the Middle Ages (Cambridge–London–New York–Melbourne 1975) bes. 16–26. 7  Isidor, Etymologiae, 5. 6: Isidori Hispalensis Episcopi Eymologiarum sive Originum libri XX, ed. W. M. Lindsay, 2 Bde. (Oxford 1911) 1 (ohne Seitennummerierung). 8  Isidor, Etymologiae, 5. 5–8. 9  Inscriptiones sacrae. Augustorum, magistratuum, sacerdotum. Latercula et tituli militum. Ed. Eugen Bormann–Wilhelm Henzen (Inscriptiones Urbis Romanae Latinae 1. Corpus Inscriptionum Latinarum 6/1, Berlin 1876) 167 Nr. 930 (= CIL VI 930). Dazu Karl-Heinz Ziegler, Das Völkerrecht der römischen Republik, in: Von den Anfängen Roms bis zum Ausgang der Republik 2 (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1/2, Berlin–New York 1972) 68–114, hier 112; Andreas Schwarcz, Art. foederati. RGA2 9 (1995) 291–299, hier 291.



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manchmal auch nur als Verfügungsgeschäft bezeichnet. Die auf die deditio folgende receptio in fidem konnte jedenfalls auch mit Verhandlungen verbunden sein, die das Ergebnis der receptio in fidem für die dediticii voraus bestimmten und berechenbar machten. Die Aufnahme gentiler Gruppen in das Reich setzte jedenfalls eine deditio voraus, die sich bis ins 4. Jh. für alle nachweisen lässt, denen neue Wohnsitze im Imperium vom Kaiser gewährt wurden10. Im Prinzipat und in der Spätantike bis ca. 400 wurde ein foedus ohne vorangegangene deditio offensichtlich nur dann abgeschlossen, wenn eine deditio, also eine bedingungslose Kapitulation, des Vertragspartners militärisch nicht erzwungen werden konnte. So vereinbarte Constantius II. 348/349 nach gotischen Übergriffen an der Donau einen gegenüber der deditio von 332 und dem danach gewährten foedus modifizierten Vertrag mit den Tervingen trotz der gotischen Christenverfolgung, die zur Flucht des Wulfila und seiner Anhänger ins Reich geführt hatte, weil er Ruhe an der Donaugrenze und gotische Hilfstruppen gegen die Perser benötigte11. Der Frieden zwischen Kaiser Valens und dem Tervingeniudex Athanarich von 369 wurde zu Schiff in der Mitte der Donau beschworen und der zwischen Valentinian I. und dem Alamannenkönig Macrianus Herbst 374 in einer Zeremonie, die der Kaiser zu Schiff auf dem Rhein vollzog, während Macrianus in der Mitte seiner Getreuen am Ufer stand. Die äußere Form der Zeremonie sollte die condiciones aequas des Vertrags unterstreichen. Im Unterschied zum foedus von 369 mit den Tervingen, deren Anführer Athanarich nach Themistius die ihm angebotene appellatio als Rex ausdrücklich abgelehnt hatte, wurde der Alamannenkönig auch formell amicus et socius und hielt seine Bündnisverpflichtungen getreu bis zum Tod12. Verträge wurden in der Regel und nach alter Tradition durch Eide abgesichert, wie sie etwa beim Friedensschluss mit den Persern von 363 n. Chr. belegt sind. Damals wurde auch die Stellung von je vier hochrangigen Geiseln von beiden Seiten während des römischen Rückzugs vereinbart. Dieser Friede wurde auf dreißig Jahre abgeschlossen13. Mitunter sind auch religiöse Zeremonien bezeugt. Verhandlungen mit den Baquaten in Mauretanien sind inschriftlich auf Altären überliefert. Ammianus Marcellinus (17. 12. 21) berichtet die deditio der Quaden 358 n. Chr. vor Constantius II. mit einer Zeremonie, bei der diese nach der receptio in fidem mit gezogenen Schwertern Treue schworen. Auch damals wurden Geiseln gestellt14.   Ebd. 291–293.   Libanius, Oratio 59, 89–93: Libanius, Orationes LI–LXIV. Libanii Opera 4, ed. Richard Förster (Leipzig 1908) 252–255; vgl. Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie (München 31990) 72f.; Schwarcz Art. foederati (wie Anm. 9) 292. 12   Ammianus Marcellinus, Res gestae, 27. 5. 9f., 30. 3. 4–7 und 31. 4. 13: Ammianus Marcellinus, with an English translation, ed. John C. Rolfe, 3 Bde. (Cambridge, Mass.–London 1935–1939, revised and reprinted 1952–1956) 3 34f., 316f. und 408f.; Zosimus, Historia nea, 4. 11: Zosime, Histoire Nouvelle, ed. François Paschoud, 3 Bde. (Paris 1971–1989) 3/2 272f.; Themistius, Oratio 10, 132–141: Themistii Orationes quae supersunt, ed. Heinrich Schenkl–Glanville Downey, 3 Bde. (Leipzig 1964, 1971 und 1974) 1 200–214; dazu Peter Heather–John Matthews, The Goths in the fourth century (Translated Texts for Historians 11, Liverpool 1991) 39–50; vgl. Wolfram, Goten (wie Anm. 11) 77 mit Anm. 77; Ingeborg Masur, Die Verträge der germanischen Stämme (Diss. Berlin 1952) 176f.; R. C. Blockley, East Roman Foreign Policy. Formation and conduct from Diocletian to Anastasius (ARCA 30, Leeds 1992) 32f.; Raimund Schulz, Die Entwicklung des römischen Völkerrechts im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. (Stuttgart 1993) 42–56; Schwarcz, Art. foederati (wie Anm. 9) 292f. 13   Ammianus Marcellinus 25. 7. 13, ed. Rolfe 2 434–537; vgl. Blockley (wie Anm. 129) 160. 14  Ammianus Marcellinus 17. 12. 21, ed. Rolfe 1 378–381; vgl. Doug Lee, Die Diplomatie zwischen 10 11

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Die in der römischen Republik übliche Selbstexekration wurde im 6. Jahrhundert zwar nicht mehr von byzantinischen Gesandten ausgeübt, aber mitunter von ihren Verhandlungspartnern. Menander Protector berichtet, dass beim Abschluss des Bündnisses zwischen Byzanz und den westlichen Türken im Jahr 568 n. Chr. der Leiter der türkischen Delegation, der Sogderfürst Maniakh, und seine türkischen Begleiter für den Fall des Vertragsbruchs Verwünschungen auf sich selbst, ihr Volk, und auf ihren Fürsten Ishtami (bei Menander Sizebulos genannt) herabriefen15. Berühmte Fälle von Vergeiselungen waren Fl. Aetius, der zunächst Geisel bei den Westgoten und, wie später sein eigener Sohn Carpilio, bei den Hunnen war16, und Theoderich der Große, der seine Erziehung in Konstantinopel erhielt, nachdem sein Onkel Walamir nach einem Kriegszug 459 n. Chr. bis nach Epirus das Foedus mit Byzanz erneuert hatte und Jahrgelder von 300 Goldpfund zugesichert erhielt17. In einem Schreiben an Kaiser Anastasius betonte der Gotenkönig später, er habe im Ostreich gelernt, wie man Römer gerecht regiere18. Verträge konnten schriftlich oder mündlich abgeschlossen werden, aber mit den Persern und im 6. Jahrhundert auch mit den Franken und wohl auch mit den anderen Königreichen des Westens war die Schriftform üblich. Menander Protector, der den vom römischen Unterhändler Petros Patrikios, dem Magister Officiorum, verfassten Bericht ausführlich zitierte19, dokumentiert die Sorgfalt, mit der die Klauseln des Vertrags 561 n. Chr. im Grenzgebiet bei Dara verhandelt wurden, ehe man den Friedensvertrag auf 50 Jahre nach mehreren fünfjährigen Waffenstillständen abschloss. Als Procedere wurde vereinbart, dass sowohl vom Kaiser wie vom Großkönig Urkunden unterzeichnet werden sollten, litterae sacrae, die an Ort und Stelle ausgefertigt wurden und an die beiden Höfe abgeschickt wurden. Zu den Vertragsbedingungen gehörte ein jährlicher Tribut seitens der Römer von 30.000 Nomismata in Gold, von denen die ersten sieben Jahresraten bei der Ratifizierung bezahlt werden sollten und weitere drei nach sieben Jahren, der Rest dann in Jahresraten. Außerdem sollte der Kaiser sich in einer weiteren Urkunde verpflichten, die Zahlung der Dreijahresrate sogleich nach Ablauf der sieben Jahre zu bezahlen, und im Gegenzug dann der Großkönig, das Eintreffen der Zahlung sofort nach Erhalt schriftlich zu quittieren. Nach weiteren Verhandlungen wurde dann der vereinbarte Text Rom und den Barbaren, in: Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit der Völkerwanderung. 22. August bis 28. Oktober in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (Bonn 2008) 130f. 15  Menander protector, frg. 10. 1: R. C. Blockley, The history of Menander the Guardsman. Introductionary essay, text, translation and notes (ARCA 17, Leeds, paperback reprint 2006) 110–117; Ernst Doblhofer, Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren. Aus den Excerpta de legationibus des Konstantinos Porphyrogennetos ausgewählte Abschnitte des Priskos und Menander Protektor (Byzantinische Geschichtsschreiber 4, Graz–Wien–Köln 1955) 135. 16   Fl. Merobaudes, Carmina, 4. 42–46: Fl. Merobaudis reliquiae, Blossii Aemilii Draconti carmina, Eugenii Toletani Episcopi carmina et epistulae, ed. Friedrich Vollmer (MGH AA 14, Berlin 1905) 6; vgl. Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 161 mit Anm. 66. 17  Priscus frg. 37: R. C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, 2 Bde. (ARCA 6 and 10, Leeds 1981 und 1983) 2 340f. 18  ... nos maxime, qui divino auxilio in re publica vestra didicimus, quemadmodum Romanis aequabiliter imperare possimus. Cassiodor, Variae, 1, 1, 2, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 12, Berlin 1894) 10. Educavit te in gremio civilitatis Graecia presaga venturi. Ennodius, Panegyricus dictus clementissimo regi Theoderici, 2. 11, ed. Friedrich Vogel (MGH AA 7, Berlin 1885) 203–214, hier 204. Insgesamt dazu Wolfram, Goten (wie Anm. 11) 263; Andreas Schwarcz, Die Goten in Pannonien und auf dem Balkan nach dem Ende des Hunnenreiches bis zum Italienzug Theoderichs des Großen. MIÖG 100 (1992) 50–83, hier 57. 19  Menander prot., frg. 6. 2, ed. Blockley (wie Anm. 15) 86–89. Zu den Quellen Menanders vgl. Blockley, Menander the Guardsman (wie Anm. 15) Introduction 18–20.



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in Griechisch und Persisch schriftlich niedergelegt und dann die beiden Dokumente wechselseitig übersetzt und Wort für Wort verglichen. Sogar die Dauer des Jahres wurde für die beabsichtigte Vertragsdauer von 50 Jahren mit 365 Tagen pro Jahr vertraglich festgelegt. Die Ratifikation sollte durch Handschreiben der Herrscher erfolgen. Außerhalb des Vertrags wurde noch eine Sondervereinbarung über die in Persien lebenden Christen getroffen, denen Kirchenbau, freie Abhaltung des Gottesdienstes und Sicherheit vor Zwangsbekehrung durch persische Magi zugesichert, aber auch die Mission untersagt wurde. Auch dieser „Side letter“, um einen modernen diplomatischen Ausdruck zu gebrauchen, wurde wie die Haupturkunde in beiden Sprachen ausgestellt, miteinander verglichen und dann von jedem Exemplar eine Abschrift hergestellt. Dann wurden die Exemplare des Hauptvertrags sorgfältig zusammengerollt, mit Wachssiegeln verschlossen und mit den Abdrücken der Siegelringe der Gesandten und der 12 Dolmetscher (sechs römische und sechs persische) versehen. Petros bekam die persischen litterae sacrae, der persische Ziech Iesdegousnaph das griechische Exemplar und beide erhielten zusätzlich je ein offenes Exemplar in ihrer eigenen Sprache ohne Siegel, das als Gedächtnisprotokoll dienen sollte. Die vereinbarten Tribute wurden für die ersten sieben Jahre noch an Ort und Stelle ausbezahlt. Es folgten noch ergebnislose Nachverhandlungen über Suanien in Persien, aber dort schloss Petros den Frieden 562 n. Chr. endgültig ab. Erstmals vereinbarte man damals auch eine gemeinsame Kommission zur Regelung von Grenzübergriffen, die aus den Grenzbehörden bestehen sollte20. Bereits 485 hatte allerdings der Perserkönig Valash den Bischof von Nisibis als Inspekteur der persischen Grenztruppen beauftragt, Grenzkonflikte auf Grund von Übergriffen von Arabern unter persischer Herrschaft gemeinsam mit dem Kommandeur der Grenzregion, dem Marzban, und dem König der persischen Araber durch Verhandlungen mit dem römischen Dux und den römischen Arabern zu lösen21. Auf römischer Seite war für Verhandlungen vor Ort speziell im Umgang mit den Gentes externae der Grenzdux seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert verantwortlich. Der diplomatische Schriftverkehr zwischen den Frankenkönigen und Justinian I. ist mehrfach belegt. So überliefert Prokopios ein Schreiben Justinians an die Frankenkönige Childebert I., Chlothar I. und Theudebert I., mit dem er sie vor dem Angriff auf das ostgotische Italien 535 n. Chr. zu einem Bündnis aufforderte und dieses gegen kräftige Zahlungen auch erhielt (Procopius, bellum Goticum I 5, 8–10). Dies hinderte sie aber nicht daran, auch mit dem Ostgotenkönig Theodahad ein Bündnis einzugehen, wobei dieser ihnen die Abtretung der ostgotischen Provence und 20 Kentenarien Gold versprach. Vor der Erfüllung der Versprechungen wurde er aber 536 n. Chr. umgebracht. Im Jahr darauf trat Witigis die Provence tatsächlich ab und erhielt dafür die Zusage heimlicher Unterstützung durch nichtfränkische Hilfstruppen, um das Bündnis mit dem Kaiser nicht zu gefährden22. Wie Prokopios berichtet, ließen sich die Frankenkönige allerdings sofort die 20  Menander prot., frg. 6. 1, ed. Blockley 54–87. Doblhofer, Byzantinische Diplomaten (wie Anm. 15) 95–117; J. B. Bury, History of the Later Roman Empire from the death of Theodosius I. to the death of Justinian, 2 Bde. (London 1923, Nachdr. New York 1958) 2 120–123. 21   Barsauma von Nisibis, Epistulae 2: Oscar Braun, Des Barsauma von Nisibis Briefe an den Katholikos Akak, in: Actes du dixième congrès international des orientalistes, session de Genève, 1894, Partie 2 (Leiden 1897) 90–99. Dazu Stephen Gero, Barsauma of Nisibis and Persian christianity in the fifth century (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 426. Subsidia 63, Louvain 1981) 35–37 und 121; Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 84 und 130. 22   Procopius von Caesarea, bellum Goticum I, 13, 26–29: Procopii Caesariensis Opera Omnia 2. De bellis

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Okkupation der Provence auch von Justinian mit Brief und Siegel bestätigen. Voll Ingrimm stellte er auch fest, dass sie seither den Vorsitz in Arelate bei Zirkusspielen führten und Goldmünzen mit ihrem Bild prägen ließen23. Beides bezieht sich wohl auf Theudebert I., von dem Goldprägungen mit der Aufschrift dominus noster, die eigentlich dem Kaiser vorbehalten war, bekannt sind und der als König von Austrasien auch die Reste des ostgotischen Rätien und dessen Alpenpässe unter seine Kontrolle brachte24. Drei Schreiben in den Epistolae Austrasicae bestätigen umgekehrt den Schriftverkehr seitens Theudeberts I. und seines Sohnes Theudebald I. mit Konstantinopel. Der Bekannteste davon ist Ep. Austras. 20, in dem Theudebert wahrscheinlich ca. 548 n. Chr. prahlerisch die Ausdehnung seines Reichs von Norditalien bis zu den Sachsen, von den Westgoten bis nach Pannonien betont. Aber alle drei Schreiben (Ep. Austras. 18–20) 25 betonen die Aufrechterhaltung der Amicitia zwischen Byzanz und den Franken. Selbst Theudebert I. ordnet sich durch die Bezeichnung Justinians als pater (DOMINO INLUSTRO ET PRAECELLENTISSIMO DOMNO ET PATRI, IUSTINIANO IMPERATORE)26 eindeutig noch unter, aber subtil strebt er durch den eigenen Gebrauch des dominus noster für sich selbst eine Rangannäherung an und nahm die Selbsteinschätzung und die Außendarstellung Theoderichs des Großen auf. Die schwächere Position seines Sohnes Theudebald drückt sich auch in der Titulierung seines Adressaten als DOMINO INLUSTRO, IN­CLITO TRIUMPHATORI AC SEMPER AUGUSTO, IUSTINIANO IMPERATORE27 und im ehrerbietigen Tonfall des Schreibens aus. Theudebald vermeidet sogar den Anspruch einer Eingliederung in die „Familie der Könige“ durch eine Anrede des Kaisers als pater28. Verhandlungen wurden zwar von Herrscher zu Herrscher geführt, aber mit dem Ausnahmefall der direkten militärischen Konfrontation und damit der Niederlage der einen, des Sieges der anderen Seite, nicht in Person, sondern durch Gesandte, die auch selbst entsprechend hochrangig sein mussten. Botschaften, die nur Grüße überbrachten oder Briefe, werden bei Menander als geringere Gesandtschaften bezeichnet, die von den großen Gesandtschaften mit Verhandlungsmandat und Vollmachten unterschieden werden29. Aber schon Priskos beobachtet, dass Attila nach dem Frieden von 443 n. Chr. mehrere Gesandtschaften ohne besonderes Pouvoir nach Konstantinopel schickte, um ihnen Gastgeschenke von ihren oströmischen Gesprächspartnern zu verschaffen30. Bevollmächtigte Gesandte sind jedenfalls schon im 5. Jahrhundert nachgewiesen. Sicher traf dies für den Magister Officiorum Helion zu, der 422 n. Chr. im Auftrag von Theodosius II. einen Frieden mit den Persern verhandelte. Er erhob auch am 23. Oktober 424 Valentinian III. zum Caesar und nach dem Sturz des Usurpators Johannes genau ein libri V–VIII, ed. Jacobus Haury. Editio stereotypa correctior addenda et corrigenda adiecit Gerhard Wirth (Leipzig 1962) 74. 23   Procopius von Caesarea, bellum Goticum III, 33, 1–6 (ed. Haury–Wirth 441–443). 24  Waltraud Bleiber, Das Frankenreich der Merowinger (Berlin 1988) 87. 25  Epistolae Austrasicae 18–20: Epistolae Austrasicae, ed. Wilhelm Gundlach, in: Epistolae Merovingici et Carolingici Aevi 1, ed. Ernst Dümmler (MGH Epistolae 3, Berlin 1892) 110–153, hier 131–133. 26   Epistolae Austrasicae 19 und 20, ed. Gundlach 132f. 27  Epistolae Austrasicae 18, ed. Gundlach 131f. 28  Siehe dazu auch Rudolf Helm, Untersuchungen über den auswärtigen diplomatischen Verkehr des römischen Reiches im Zeitalter der Spätantike, in: Antike Diplomatie, hg. von Eckhart Olshausen–Hildegard Biller (Wege der Forschung 162, Darmstadt 1979) 321–408, hier 328–330. 29   Menander prot., frgg. 18, 2 (Buch 6), 20, 1 und 23, 8, ed. Blockley (wie Anm. 15) 158f., 178–183 und 204–215. Dazu Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 152. 30  Priscus frg. 10, ed. Blockley (wie Anm. 17) 2 240–243.



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Jahr später auch zum Augustus31. Der Magister Officiorum spielte jedenfalls eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle in der Beratung des Kaisers in außenpolitischen Fragen, und ihm und seinem Personal oblag die Betreuung ausländischer Gesandtschaften. Ihm unterstanden auch die bereits in der Notitia dignitatum erwähnten Dolmetscher, die interpretes omnium gentium32. Priskos betont, dass eben deswegen Theodosius II. sofort den Magister Officiorum zu sich rufen ließ, als ihn Chrysaphius über den geplanten Mordanschlag auf Attila unterrichtete, denn „er wurde nämlich zu allen Gesprächen beigezogen, die sich mit Gesandtschaften, Dolmetscherangelegenheiten oder der kaiserlichen Leibwache“ befassten33. Gesandtschaften zu den Persern wurden im Regelfall jedenfalls von Personen im Rang eines illustris geleitet, bei anderen Gelegenheiten nicht immer. Für Vorerkundungen sind von beiden Seiten her auch Bischöfe als Gesandte bekannt34. Selbst hochrangige Gesandtschaften waren bis an den Beginn des 6. Jahrhunderts in der Regel nicht größer als drei Personen mit entsprechendem Begleitpersonal. Erst unter Justinian I. und seinen Nachfolgern wurden Gesandtschaften zu Persern und Avaren mit vier bis fünf Personen beschickt, und bei den Verhandlungen von 461/462 sind dazu noch sechs Dolmetscher belegt35. Abschließend seien noch kurz die Außenpolitik und das Vertragswesen des Ostgotenreiches unter Theoderich dem Großen betrachtet. Schon die Zeitgenossen beeindruckte sein weitgespanntes Beziehungsnetz, das er mit den anderen Regna auf dem Boden des Westreiches und im Fall der Thüringer und Heruler auch außerhalb des Imperiums über Bündnisse, abgesichert durch Heiratsverbindungen und – im Fall der Heruler – durch eine Adoptio per Arma aufbaute. Diesen Aspekt seiner langfristigen Strategie betonen besonders Jordanes, Getica, 297–29936, einige Briefe der Variae Cassiodors und die anonyme valesianische Chronica Theodoriana. Von den Briefen im Namen des Ostgoten­ königs sind II 41 und III 4 an Chlodwig gerichtet37, dessen Schwester Audefleda er selbst geheiratet hatte, I 46 und III 2 an den Burgunderkönig Gundobad38, dessen Sohn ­Sigismund bereits 490 mit Theoderichs Tochter Ostrogotho-Areagni verlobt worden war und sie wohl 496 heiratete39, III 3 gleichlautend an die Könige der Thüringer, Heruler und Warnen40. An den ungenannten König der Warnen ist auch V 1 mit Dank für ein Geschenk von Schwertern gerichtet41, IV 1 begleitete die Nichte Theoderichs, Amalaberga, auf ihrer Hochzeitsreise zu ihrem Bräutigam42, den Thüringerkönig Herminafred, 31   Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 152; J. R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire 2: A. D. 395–527 (Cambridge u. a. 1980) 2 533 s. v. Helion 1. 32  Notitia dignitatum Occidentis 9, 46: Notitia Dignitatum accedunt Notitia Urbis Constantinopolitanae et Laterculus Provinciarum, ed. Otto Seeck (Berlin 1876) 146. Interpretes diversarum gentium Notitia dignitatum Orientis 11, 52, ed. Seeck 33; Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 155; Helm, Untersuchungen (wie Anm. 28) 343–345. 33  Priskos, frg. 11, 1, 58–66, ed. Blockley (wie Anm. 17) 244–247. 34  Blockley, East Roman Foreign Policy (wie Anm. 12) 153. 35  Helm, Untersuchungen (wie Anm. 28) 335. 36   Jordanes, Getica, 297–299: Jordanis Romana et Getica, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 5, Berlin 1882) 134f. 37  Cassiodor, Variae II 41 und III 4, ed. Mommsen (wie Anm. 17) 73 und 80f. 38  Cassiodor, Variae I 46 und III 2, ed. Mommsen 42 und 79. 39  Wolfram, Goten (wie Anm. 11) 311. 40   Cassiodor, Variae III 3, ed. Mommsen 79f. 41  Cassiodor, Variae V 1, ed. Mommsen 143. 42  Cassiodor, Variae IV 1, ed. Mommsen 114.

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und bedankt sich für den formellen Brautpreis, prächtige silberfarbene Schimmel, aus der berühmten thüringischen Pferdezucht. IV 2 berichtet die Adoptio per Arma des Herulerkönigs43. III 1 ist an den anderen Schwiegersohn Theoderichs gerichtet44, den Westgotenkönig Alarich II., der nach dem Sieg Theoderichs über Odoaker 493 Theoderichs Tochter Thiudigotho geheiratet hatte. Die erste Phase der ostgotischen Bündnispolitik fällt in die Phase zwischen dem Sieg über Odoaker 493 n. Chr. und der endgültigen Anerkennung dieses Herrschaftswechsels in Italien durch einen Vertrag mit Kaiser Anastasius 498 n. Chr. und wurde komplettiert durch die eigene Heirat Theoderichs März 493 mit Chlodwigs Schwester Audefleda und die Verehelichung des Frankenkönigs mit der burgundischen Prinzessin Chrodehilde. Die Ehen der beiden gotischen Königstöchter mit dem Westgotenkönig Alarich II. und dem Erben des Burgunderreichs, Sigismund, schufen tatsächlich eine Familie der Könige auf dem Boden des Westreichs und zwangen schließlich auch Kaiser Anastasius, den nahezu imperialen Status des Regenten in Italien 498 durch einen Vertrag anzuerkennen. Dieser wurde wohl schriftlich ausgefertigt und beruhte auf dem Foedus zwischen Zenon und Theoderich. Damit erfolgte die offizielle Bestätigung der Legitimität des ostgotischen Regnum Hesperiae, die auch ihren symbolischen Ausdruck in der Rückgabe der west­ lichen Ornamenta palacii fand, die man wohl als die kaiserlichen Insignien verstehen muss. Odoaker hatte sie 476 Zenon übergeben lassen. Jetzt kehrten sie wieder in den Westen zurück45. Nach den Tricennalien für Theoderichs Königtum im Jahr 500, die er mit einem Besuch in Rom feierte, rundete ein weiteres Heiratsbündnis diese Allianzen ab: Der Vandalenkönig Thrasamund heiratete wohl im gleichen Jahr Theoderichs verwitwete Schwester Amalafrida. Teil aller dieser Heiratsbündnisse war es auch, dass wie bei dieser Hochzeit die Braut von einem stattlichen bewaffneten Gefolge begleitet wurde. Hier waren es 1000 gotische Krieger mit 5000 Knechten, vergleichbar mit den beiden Rangstufen byzantinischer Buccellarii des 6. Jahrhunderts46. Das gotische Bündnissystem geriet nach der gotischen Besetzung von Sirmium 505 n. Chr. und dem Sieg Chlodwigs über die Alamannen ins Wanken. Als Theoderich den Schutz eines Teils der besiegten Alamannen übernahm (Variae II 41)47, half wohl auch der Harfenspieler wenig, den er mit dieser Botschaft zur Besänftigung Chlodwigs mitschickte. Die oströmische Diplomatie hatte bessere Argumente, und auch die Warnschreiben Theoderichs Variae III 1–448 konnten den Angriff der Franken und Burgunder auf die West­ goten und deren Niederlage bei Vouillé 507 n. Chr. nicht verhindern. Wie die brillante Analyse Andrew Gillets überzeugend dargelegt hat, sind diese vier Schreiben und dazu noch die beiden Schreiben an den Burgunderkönig Gundobad (Variae I 46)49 und an Chlodwig (Variae II 41)50 von einer einzigen Gesandtschaft auf einer ausgedehnten Reise im Jahr 506 n. Chr. überbracht worden. Einer der beiden, bei Cassiodor anonymen, Ge  Cassiodor, Variae IV 2, ed. Mommsen 114f.   Cassiodor, Variae III 1, ed. Mommsen 78. 45  Ausführlich zum Vertrag von 498 Jan Prostko-Prostyński, Utraque res publica. The emperor Anastasius I’s Gothic policy (491–518) (Poznań 1994) 151–212. 46  Wolfram, Goten (wie Anm. 11) 307. 47  Cassiodor, Variae II 41, ed. Mommsen (wie Anm. 17) 73. 48   Cassiodor, Variae III 1–4, ed. Mommsen 78–81. 49  Cassiodor, Variae I 46, ed. Mommsen 42. 50  Cassiodor, Variae II 41, ed. Mommsen 73. 43 44



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sandten dürfte Senarius gewesen sein, der insgesamt 25 diplomatische Missionen für den Hof in Ravenna unternommen hat und zu den Vertrauensmännern des Ostgotenkönigs gehörte. Darauf deuten zwei Schreiben des Ennodius, die bald nach dem 1. September 506 abgefasst wurden und die Rückkehr des Senarius de prolixis gentium finibus und ab ultimis terrarum partibus feiern51. Der scheinbare Erfolg der Gesandtschaft wurde durch den Kriegsausbruch und den fränkisch-burgundischen Angriff auf die Westgoten widerlegt52. Die Allianz zwischen den Franken, den Burgundern und Byzanz bekräftigte Anastasius durch die Verleihung der Konsularinsignien und die Übersendung entsprechender Codicilli an Chlodwig53. Die darauf folgende diplomatische Offensive des Hofes in Ravenna gegenüber den Nachbarn der Frankenkönige in Mitteleuropa nördlich der Donau ist wohl auch im Zusammenhang mit der Vorbereitung des militärischen Eingreifens Theoderichs in den Krieg auf Seiten der Westgoten im Jahr 508 zu sehen54. Resultat dieser Verhandlungen waren die Heirat Amalabergas mit dem Thüringerkönig Herminafred und die Adoptio per Arma des Herulerkönigs, durch Variae IV 1f. belegt55. Der Erfolg dieser Missionen brachte dem Senarius die Erhebung zum Comes Patrimonii56. Die militärischen Erfolge führten nicht nur zur Ausrufung des Ostgotenkönigs zum Herrscher im Westgotenreich 511, sondern auch zu einer Aussöhnung mit Byzanz bereits davor, für die Variae II 1 ein Beleg ist. Mit diesem Schreiben an Anastasius nominierte Theoderich Arcadius Placidus Magnus Felix zum Consul prior für das Jahr 51157. Das zweite Standbein der ostgotischen Politik gegenüber dem Kaiser in Byzanz war die kirchenpolitische Rolle des Ostgotenkönigs und seine erfolgreiche Kooperation mit dem Senat in Rom, die aber hier nicht Gegenstand der Erörterung sind. Es sei nur an die Rolle des homöischen Königs als Arbiter im Laurentischen Schisma in Italien erinnert und sein Eingreifen im Zusammenwirken mit dem Papst und dem Senat in das akazianische Schisma und die Kirchenpolitik in Byzanz, die sich in den „Epistolae pontificorum et imperatorum“ spiegelt58. Mit dem Ende dieses Schismas und der Erhebung eines orthodoxen Kaisers in der Person des Justinus I. zerbrach dieses Bündnis. Die letzten Lebensjahre des Ostgotenkönigs verdüsterten sowohl der Konflikt mit der Kirche, der sich in der Einkerkerung und dem Tod des Papstes Johannes nach einer Gesandtschaft nach Konstantinopel äußerte, wie auch eine neue Sorge um die Zuverläs51  Ennodius, Opera 241f. (Epistulae V 15f.): Magni Felicis Ennodii Opera, ed. Friedrich Vogel (MGH AA 7, Berlin 1885) 190f. 52   Siehe dazu und zu Senarius Andrew Gillet, Envoys and political communication in the late antique West, 411–533 (Cambridge u. a. 2003) 190–219, bes. 207–212. Zu Senarius auch Martindale, The Prosopography 2 (wie Anm. 31) 988f. 53  Gregor, Historia Francorum II, 38: Gregorii episcopi Turonensis libri Historiarum X, ed. Bruno Krusch–Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 1/1, Hannover 1951) 88f. Siehe dazu auch Michael McCormick, Eternal Victory. Triumphal rulership in late antique Byzantium and the early medieval West (Cambridge u. a. 1986) 335–337. 54  Siehe dazu Andreas Schwarcz, Die Restitutio Galliarum des Theoderich, in: Teoderico il Grande e i Goti d’Italia. Atti del XIII Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo. Milano 2–6 novembre 1992 (Spoleto 1993) 787–798, hier 787–794. 55  Cassiodor, Variae IV 1f., ed. Mommsen (wie Anm. 17) 114f. Dazu Gillet, Envoys (wie Anm. 52) 212. 56  Cassiodor, Variae IV 3f., ed. Mommsen 115f. Zur Herulergesandtschaft Andreas Schwarcz, Die Heruler an der Donau, in: Sprache als System und Prozess. Festschrift für Günter Lipold zum 60. Geburtstag, hg. von Christiane M. Pabst (Wien 2005) 504–512, bes. 510f. 57   Cassiodor, Variae II 1, ed. Mommsen (wie Anm. 17) 46. 58  Siehe dazu Andreas Schwarcz, Beato Petro devotissimus ac si catholicus. Überlegungen zur Religionspolitik Theoderichs des Großen. MIÖG 112 (2004) 37–52.

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sigkeit der Senatsaristokratie, die in der Hinrichtung des Senatsvorsitzenden Symmachus und dessen Schwiegersohn Boethius ihren Ausdruck fand. Die Grenzen der Familienpolitik des Ostgotenreichs zeigten sich parallel dazu im Jahr 523: Theoderichs designierter Nachfolger und Schwiegersohn Fl. Eutharicus Cilliga, 519 von Justinus legitimiert durch die Verleihung des Konsulats und die Adoptio per Arma, starb unverhofft. Der Burgunderkönig Sigismund ließ damals seinen eigenen Sohn Sigerich, den Enkel Theoderichs, erdrosseln und wurde in der Folge selbst von den Franken besiegt und ermordet. Auch die Allianz mit den Vandalen fand ein Ende nach dem Tod des Thrasarich im gleichen Jahr 523. Der neue König Hilderich, ein Enkel Valentinians III., war ein treuer Verbündeter von Justinus I. und ließ 525 Theoderichs Schwester Amalafrida und ihr Gefolge hinrichten59. Der anonyme Chronist der Theoderichzeit kommentiert dies mit den Worten, dass Theoderich 33 Jahre regiert habe, aber Italien nur 30 Jahre seiner Herrschaft glücklich gefolgt sei60. Die Nachfolger konnten auch das weitgespannte politische Beziehungssystem Theoderichs nicht erfolgreich fortsetzen.

  Wolfram, Goten (wie Anm. 11) 308.   Theodericiana (Anonymus Valesianus) 12. 59: Ingomar König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle (Texte zur Forschung 69, Darmstadt 1997) 79. 59 60



Traditionscodices und Skriptorium am Beispiel von Göttweig und Reichersberg Christian Lackner

„An den ‚Nahtstellen‘ zwischen den von der Diplomatik erarbeiteten Kanzleien und den Skriptorien der Buchschriften liegen noch manche Probleme“, so Heinrich Fichtenau 1974 in seinem Artikel „Paläographie“ für die Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden1. Ob Fichtenau damit auch auf das Verhältnis von Traditionscodices und Skriptorium Bezug nahm, bleibt ungewiss. Indes scheint ziemlich klar, dass sich zwischen Skriptorium und Traditionsbuch im hochmittelalterlichen Kloster tatsächlich eine solche „Nahtstelle“ – heute würde man vielleicht eher das Wort Schnittstelle gebrauchen – befand. Es gilt, den materiellen Entstehungskontext des Traditionsbuches zu bestimmen und mit dem klösterlichen Skriptorium in Beziehung zu setzen. Dass hier noch manches zu tun bleibt, jedenfalls was das hochmittelalterliche Österreich betrifft, wird man kaum übersehen können. Nicht so sehr einer schmalen Quellenbasis scheint dieser unbefriedigende Forschungsstand tatsächlich geschuldet, als einer problematischen Separierung der Forschungsdisziplinen, die in Heinrich Fichtenaus eingangs zitiertem Satz auch diskret anklingt. Traditionsbücher ressortieren nach traditionellem Verständnis und gemäß ihrer üblichen Zugehörigkeit zum Archivgut in das Arbeitsfeld der Diplomatik. Häufig lässt die Skriptoriumsforschung diese nicht in der Bibliothek liegenden Handschriften dann außen vor. So kommt es, dass Forschungen zu Traditionsbuch und Skriptorium oftmals aneinander vorbeigehen und die so dringend erforderliche Vernetzung bedauerlicherweise unterbleibt. Im Folgenden werden zwei österreichische Klöster, Göttweig und Reichersberg, beispielhaft im Mittelpunkt stehen. Es kann hier nicht darum gehen, wesentlich neue Erkenntnisse, geschweige denn abschließende Ergebnisse, zum Thema „Traditionscodices und Skriptorium“ zu bieten. Wohl aber soll der gegenwärtige Forschungsstand erhoben, eine Zusammenführung von Erkenntnissen der unterschiedlichen mit dem Thema befassten Disziplinen versucht und sollen Vorschläge und Anregungen für zukünftige Forschungen erarbeitet werden. Äußerst günstig muss die Quellenlage in Göttweig erscheinen. Zwei im 12. Jahrhundert angelegte Traditionsbücher und rund 60 heute in der Stiftsbibliothek verwahrte, diesem Jahrhundert angehörende Codices2, womit wohl die für die Erforschung eines   Fichtenau, Die historischen Hilfswissenschaften, Art. Paläographie 129.   Eine exakte Bezifferung ist beim gegenwärtigen Wissenstand nicht möglich. Werner Telesko, Göttweiger Buchmalerei des 12. Jahrhunderts. Studien zur Handschriftenproduktion eines Reformklosters (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens Ergbd. 37, St. Ottilien 1995) 9, legte seiner Studie 40 1 2

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Skriptoriums erforderliche Dichte des Denkmalbestandes vorliegt, lassen einen für unser Thema reichen Ertrag erwarten. Und auch die Forschung zu Traditionsbüchern und Klosterskriptorium kann im Falle Göttweigs auf eine fruchtbare Entwicklung seit dem frühen 20. Jahrhundert zurückblicken. Fichtenau bemerkt in seiner Darstellung des Urkundenwesens in Österreich zu den beiden Göttweiger Traditionscodices recht knapp: „In Göttweig liegt der sehr merkwürdige Fall vor, daß die – auch anderwärts begegnende Zweiheit von Traditionscodices nicht ein ‚Konzept‘ und eine ‚Reinschrift‘ betrifft, sondern zwei weithin dieselben Notizen verzeichnende Reinschriften, freilich mit teilweise anderer Reihenfolge der Stücke. Ein inhaltliches Prinzip dieser anderen Ordnung läßt sich nicht erkennen, und auch zeitlich bestehen kaum Unterschiede“3. Eingehende paläographische und kodikologische Untersuchungen, die von Adalbert Fuchs über Karl Uhlirz bis Heide Dienst vorgenommen wurden, haben eine weitgehende Klärung hinsichtlich der an den beiden Codices wirkenden Hände gebracht4. Eine gewisse Unsicherheit blieb dagegen in Bezug auf die zeitliche Bestimmung derselben bestehen. Traditionscodex A, so die von Adalbert Fuchs vertretene These, sei kurz vor 1125 angelegt worden. Nachdem die Anlagehand 107 Traditionsnotizen in einem Zuge kopiert hatte, sei das Traditionsbuch ein Jahrzehnt unberührt gelegen, ehe eine zweite Hand die Arbeit in den Jahren 1134–1136 fortsetzte. Nur einige wenige Seiten am Ende von Traditionsbuch A rührten von einer dritten Hand, deren Tätigkeit Fuchs in die Jahre 1157–1164 legen wollte 5. Für unser Thema interessanter ist der nach Fuchs jüngere Traditionscodex B, der sich in seiner äußeren Gestaltung als deutlich qualitätsvoller als Codex A erweist, was in drei Initialen mit Rankenzeichnungen und Knollenblättern seinen sichtbarsten Ausdruck findet. Die Anlagehand hat hier mehr als 60 Blätter alleine beschrieben, ehe ab fol. 71v mehr als zwei Dutzend verschiedene Hände die verbleibenden 25 Folia füllten. Während Oskar von Mitis, der sich als erster zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Göttweiger Traditions­ büchern intensiver auseinandersetzte, Codex B zwischen 1120 und 1130 entstanden glaubte6, gelangte Adalbert Fuchs zu einer Datierung der Anlage auf die Jahre 1135/36. Bis heute besitzt dieser letztere Datierungsansatz weitgehend Geltung7. Und doch sind die von Fuchs gebrauchten Argumente, die ich hier noch einmal Revue passieren lassen möchte, nicht über jeden Zweifel erhaben. Bestimmend für die von Fuchs ermittelte Dailluminierte Handschriften zu Grunde. Darüber hinaus führt er 179f. noch 17 Handschriften des 12. Jahrhunderts ohne Illumination an. Die Liste ist indes keineswegs vollständig, fehlen doch z. B. das Annalenfragment Cod. 180 und der ganz bedeutende Cod. 106, der die Narratio de electione Lotharii enthält. 3  Fichtenau, Urkundenwesen 232f. 4  Adalbert Fuchs, Der älteste Besitz des Stiftes Göttweig. JbLKNÖ N. F. 9 (1911) 39–49; Karl Uhlirz, in: Monumenta palaeographica. Denkmäler der Schreibkunst des Mittelalters. Ser. II, ed. Anton Chroust (München 1902–1917) Lfg. XIV T. 2 a, b; Adalbert Fuchs, Die Traditionsbücher des Benediktinerstiftes Göttweig (FRA II/69, Wien–Leipzig 1931) Einleitung 1–14, und Heide Dienst, Babenberger-Studien (Wiener Diss. aus dem Gebiete der Geschichte 7, Wien 1966) 18–21. Siehe zuletzt auch Christoph Sonnlechner, Landschaft und Tradition. Aspekte einer Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. von Christoph Egger– Herwig Weigl (MIÖG Ergbd. 35, Wien–München 2000) 123–223, bes. 139–156. 5   Fuchs, Traditionsbücher 2f.; Dienst, Babenberger-Studien 19 mit Anm. 48; Sonnlechner, Landschaft und Tradition 142–144 (alle wie Anm. 4). 6  Oskar von Mitis, Studien zum älteren österreichischen Urkundenwesen (Wien 1906–1912) 187. 7  Christine Tropper, in: Ausstellungskatalog 900 Jahre Stift Göttweig 1083–1983. Ein Donaustift als Repräsentant benediktinischer Kultur (Bad Vöslau 1983) 23 Kat. Nr. 12b; Sonnlechner, Landschaft und Tradition (wie Anm. 4) 147, räumt zwar ein, die von Adalbert Fuchs vorgeschlagene Datierung auf 1135/36 sei „nicht unumstritten“, hält dann aber doch an dieser fest.



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tierung war die Person des ersten und maßgeblichen Schreibers von Traditionscodex B. In diesem wollte Fuchs die zentrale Figur der Göttweiger Schriftkultur im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts erkannt haben. Der Schreiber, der das Traditionsbuch B mit einer prologartigen Diffinitio operis sequentis einleitete8, sollte niemand anderer als der Verfasser der Vita Altmanni prior gewesen sein9. Mit stilistischen Parallelen zwischen dem erwähnten Traditionsbuchprolog und der Vita, namentlich dem Gebrauch der Reimprosa, begründete Fuchs seine Gleichsetzung, nicht ohne unverzüglich von Hans Hirsch dafür heftigen Widerspruch zu erfahren10. Die Frage ist bis heute unentschieden, wobei die Skepsis gegenüber der von Fuchs postulierten Identität der Traditionsbuchanlagehand mit dem Vita-Autor deutlich überwiegt11. Fuchs glaubte das Wirken des Hauptschreibers von Traditionsbuch B aber auch in etlichen echten und unechten Siegelurkunden nachweisen zu können12. Eine dieser Urkunden, eine noch im Original im Göttweiger Archiv erhaltene Siegelnotiz des Babenberger Markgrafen Leopold III., geriet Adalbert Fuchs dabei zum wichtigsten Argument für die Datierung der Anlage des Traditionsbuchs B auf 1135/36. Wiewohl undatiert, wurde diese besiegelte Traditionsnotiz von Fuchs zu 1136 gesetzt, worin ihm Fichtenau als Bearbeiter des 1. Bandes des Babenberger Urkundenbuches 1950 gefolgt ist13. Auf fol. 71v–72r findet sich nun der Text der Babenberger Siegelnotiz auch im Traditionsbuch B. Es ist dort der erste Eintrag, der nicht mehr von der Anlagehand geschrieben wurde – diese hatte ihre Arbeit am Traditionsbuch offenkundig unmittelbar davor abgebrochen und sollte sie nicht wieder aufnehmen. Für Fuchs war klar: „Diese Hand hat zwar noch den Akt verfaßt und geschrieben, war aber nicht mehr dazugekommen, ihn in Tr.B einzutragen“14. Ein terminus ad quem für die Anlage von Traditionsbuch B schien gewonnen. Karl Uhlirz übernahm sämtliche Ergebnisse von Fuchs, ja fügte zur Tätigkeit des Hauptschreibers in Traditionsbuch B noch eine weitere Facette hinzu, indem er diesem auch einige Einträge im Göttweiger Annalenfragment (Cod. Rot 180 ) zuwies15. Indes scheint mir die Sache keineswegs so eindeutig. Unlängst hat Roman Zehetmayer Zweifel geäußert, ob die Siegelnotiz Leopolds III. und der Großteil von Traditions-

8   Zur gattungsgeschichtlichen Würdigung und Deutung der Diffinitio siehe Heide Dienst, Regionalgeschichte und Gesellschaft im Hochmittelalter am Beispiel Österreichs (MIÖG Ergbd. 27, Wien–Köln 1990) 112f. Siehe auch Sonnlechner, Landschaft und Tradition (wie Anm. 4) 150f. 9   Fuchs, Der älteste Besitz (wie Anm. 4) 38f., und ders., Traditionsbücher (wie Anm. 4) 9f. 10   Hans Hirsch, Die Vita Altmanni episcopi Pataviensis. JbLKNÖ N. F. 15/16 (1916/17) 349–366, bes. 354f. 11   Vgl. Alphons Lhotsky, Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs (MIÖG Ergbd. 19, Graz–Köln 1963) 205f., zuletzt Fritz-Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (Geschichte der Literatur in Österreich I, hg. von Herbert Zeman, Graz 1994) 80–82. – Von einer möglichen Verfasseridentität spricht Franz Josef Schmale (Wilhelm Wattenbach–Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter 1 [Darmstadt 1976] 194); vorsichtig Christine Fleck, Vita Altmanni (Diss. Wien 1978) 28f. 12  Fuchs, Der älteste Besitz (wie Anm. 4) 39–41, und ders., Traditionsbücher (wie Anm. 4) 9. – Es handelt sich u. a. um eine von Bischof Ulrich besiegelte Notiz über die Schenkung Sigibotos von Parnham an Göttweig, ferner um eine Siegelnotiz Bischof Reginmars über den Vergleich mit Perhardus von Stattersdorf und um zwei Falsa Bischof Ulrichs für Göttweig (Uα und Uγ). Vgl. Egon Boshof–Franz Reiner Erkens, Die Regesten der Bischöfe von Passau 1: 731–1206 (München 1992) 135f. Nr. †458, 156f. Nr. 517 und Nr. †519, 178f. Nr. 582. 13  BUB 1, vorb. von Oskar von Mitis, ed. Heinrich Fichtenau–Erich Zöllner (Wien 1950) 7 Nr. 6. 14  Fuchs, Der älteste Besitz (wie Anm. 4) 41. 15   Uhlirz, Monumenta palaeographica Ser. II (wie Anm. 4) Lfg. XIV T. 2a, b (Begleittext).

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buch B tatsächlich von ein und derselben Hand stammen16, wie dies Adalbert Fuchs mit Gewissheit vertrat. Ich möchte diese Zweifel hier nachdrücklich unterstreichen. Uhlirz nannte als eine Eigentümlichkeit des Traditionsbuchschreibers den Ansatz des Abkürzungsstrichs an der Mitte des s in der Sigle für sancte. In der Siegelnotiz ist dieses s dagegen vom Kürzungsstrich schräg durchstoßen. Gewichtiger noch die gesprengte ct-Ligatur der Siegelnotiz, wohingegen die Anlagehand des Traditionsbuchs B die beiden Buchstaben c und t ausnahmslos trennt. Sollte all das nur auf das Konto der unterschiedlichen Schriftgenera – hier eine Buchschrift, dort eine sich der diplomatischen Minuskel vorsichtig annähernde Hand – zu setzen sein? Eine engere Verwandtschaft der beiden Hände mag man konzedieren, doch einiges lässt an einer Gleichsetzung massiv zweifeln. So unverrückbar, wie es bisher schien, ist das Datum 1135/36 für die Anlage des Göttweiger Traditionscodex B also nicht. Und doch hat dieses Datum erst jüngst zentrale Bedeutung für die Erforschung des Göttweiger Skriptoriums im 12. Jahrhundert gewonnen. Dieser Umstand ist wesentlich Friedrich Simader geschuldet. Doch zunächst zur Forschungsgeschichte. Wiewohl schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Uhlirz ausgehend vom Traditionsbuch B eine Untersuchung der Göttweiger Schreiberhände des 12. Jahrhunderts anregte, richtete die Forschung – und es war eine fast ausschließlich kunsthistorische Forschung – ihr Augenmerk auf die illuminierten Handschriften und deren Ausstattung17. Mit Werner Teleskos 1995 publizierter Studie zur Göttweiger Buchmalerei des 12. Jahrhunderts erfuhr das Thema eine umfassende, monographische Darstellung, in der freilich der Traditionscodex B trotz Ausstattung mit Knollenblattrankeninitialen ausgeklammert blieb. Telesko, der auch eine Reihe von heute nicht mehr in Göttweig befindlichen Codices untersuchte, konnte den Kreis der sicher in Göttweig im 12. Jahrhundert entstandenen Handschriften durch Analyse der Buchmalerei wesentlich klarer fassen, als dies bis dahin geschehen war. Schmerzlich machte sich jedoch das Fehlen von Fixpunkten für eine absolute Chronologie des Göttweiger Skriptoriums bemerkbar. Telesko lässt die ganz überwiegende Zahl der Göttweiger illuminierten Handschriften erst nach 1160, ja eigentlich erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden sein. Ausnahmen bildeten nur die Handschriften Rot 31, 32 (?), 49, 97, 122 und 181, von denen indes nach Telesko18 keine einzige, auch nicht die von Martina Pippal noch 1983 so eingestufte Handschrift 3219, der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts angehöre. Zu einem deutlich früheren zeitlichen Ansatz etlicher illuminierter Codices Göttweiger Provenienz gelangte hingegen zuletzt Friedrich Simader in seinem Österreich-Beitrag für 16  Roman Zehetmayer, Zu den Anfängen des Urkundenwesens der Hzge. von Bayern und Kärnten und der Markgrafen von Österreich und Steier. AfD 57 (2011) 123–146, 133 Anm. 58: „Völlig gesichert scheint diese Gleichsetzung aber nicht“. – Fichtenau sprach in den Vorbemerkungen zu BUB Nr. 6 (wie Anm. 13) lediglich allgemein von einer Empfängerhand, ohne die von Fuchs postulierte Identität des Mundators mit der Anlagehand von Traditionsbuch B zu erwähnen. 17  Martina Pippal, Mittelalterliche Buchmalerei in Göttweig bis zum internationalen Stil, in: Ausstellungskatalog 900 Jahre Stift Göttweig (wie Anm. 7) 542–569; Gregor M. Lechner, Rupertus Abbas Tuitiensis – Explanatio in Cantica Canticorum Libri VII: De Incarnatione Domini (Cod. 49[rot] Stiftsbibliothek Göttweig), in: Ausstellungskatalog Ratisbona Sacra – Das Bistum Regensburg im Mittelalter (Kunstsammlungen des Bistums Regensburg. Diözesanmuseum Regensburg Kataloge und Schriften 6, München–Zürich 1989) 138–140. 18  Telesko, Göttweiger Buchmalerei (wie Anm. 2) 74f., 102, 156, 159f.: Cod. Rot 31: um 1150/60; Cod. Rot 32: letztes Drittel des 12. Jahrhunderts; Cod. Rot 49: um 1160/70; Cod. Rot 122: drittes Viertel des 12. Jahrhunderts; Cod. Rot 181: um 1160/70. 19   Pippal, Mittelalterliche Buchmalerei (wie Anm. 17) 543.



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den von Andreas Fingernagel herausgegebenen Romanik-Band der Reihe „Geschichte der Buchkultur“20. Sicheren Anhalt dafür, wann spätestens im Göttweiger Skriptorium mit der Produktion von illuminierten Büchern begonnen wurde, boten ihm die drei im Grundstock von Traditionsbuch B enthaltenen, einfachen Knollenblattrankinitialen, die er erstmals von kunstgeschichtlicher Seite berücksichtigte. Dieser Initialtyp, so Simader, beherrsche „in unterschiedlichen Ausprägungen die Göttweiger Buchmalerei der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts“21. Besondere Varianten „mit altertümlichen knorpeligen, zum Teil spitz ausgezogenen Enden (Cod. 31, 36–38, 92, 122 u. a.)“, die Simader weniger schwäbischem Einfluss als dem allgemeinen Zeitstil verpflichtet sieht, könnten noch dem 1. Jahrhundertviertel angehören. Parallelen zu den runden, mehrteiligen Knollenformen des Traditionsbuchs B glaubt Simader etwa in Cod. Göttweig 95, 111, Cod. 156 in Lilienfeld und ÖNB Cod. 807 zu erkennen und weist diese Handschriften deshalb folgerichtig dem 2. Viertel des 12. Jahrhunderts zu22. Bedauerlicherweise konnten die für die Buchmalerei erzielten Ergebnisse bislang nicht mit anderen Merkmalkategorien des Skriptoriums verschränkt werden, da nur von wenigen Göttweiger Codices zuverlässige kodikologische und/oder paläographische Untersuchungen vorliegen. So besitzen wir noch keinen Überblick über spezifische Gewohnheiten des hochmittelalterlichen Göttweiger Skriptoriums die Einrichtung der Lagen, die Linierung, Kürzungszeichen, Interpunktion oder Zeilenfüllsel betreffend, von einer tragfähigen relativen Chronologie der Göttweiger Schreiberhände ganz zu schweigen. Ich möchte hier nur einige durchaus vorläufige Beobachtungen mitteilen. Näher angesehen habe ich die Codices Rot 31, 32, 95, 106 und 111, die sämtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Göttweig entstanden sind, wenngleich nur einer, nämlich Cod. 106, einen Göttweiger Besitzvermerk des 12. Jahrhunderts aufweist23. Für die Wahl meines Samples ausschlaggebend war der Umstand, dass bei diesen fünf Handschriften in der bisherigen Literatur eine chronologische Einreihung in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zumindest schon einmal erwogen bzw. diskutiert wurde und sie damit in eine zeitliche Nachbarschaft zur Anlagehand des Göttweiger Traditionsbuchs B gerückt sind. Fast völlige Übereinstimmung besteht bei den untersuchten Handschriften hinsichtlich der Linierung bzw. des Linienschemas. Alle genannten Codices sind gleich dem Traditionsbuch B blindliniert. Wie bei diesem wird der Schriftraum von je zwei senkrechten Linien innen und außen eingerahmt, von den waagrechten reichen die beiden obersten und beiden untersten an den Seitenrand, die anderen nur bis zu den inneren Abschnittlinien. Geringfügig weicht von diesem Muster Cod. 32 ab, indem jeweils nur eine Begrenzungslinie an den Seitenrand geführt wurde. Codex 106 besitzt auf einem vorgebundenen Einzelblatt ein Verzeichnis der im Band enthaltenen Titel, das möglicherweise noch der Zeit der Anlage 20   Friedrich Simader, Österreich, in: Geschichte der Buchkultur 4/2: Romanik, hg. von Andreas Fingernagel (Graz 2007) 327–377, hier 351f., und ders., Göttweig (Einleitung), in: Ergänzungen und Nachträge zum Katalog der deutschen romanischen Handschriften, von Andreas Fingernagel–Friedrich Simader Stand 2007) http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/kataloge/ergaenzungen/goettweig.htm (eingesehen 12. 7. 2014). 21   Simader, Österreich 351. 22   Simader, Göttweig (Einleitung) (wie Anm. 20). 23   Besitzvermerk fol. 108v: Iste liber attinet at sanctam Mariam; vgl. dazu Hermann Kalbfuss, Zur Entstehung der „Narratio de electione Lotharii“. MIÖG 31 (1910) 538–557, hier 542; zuletzt Ludwig Vones, Narratio de electione Lotharii, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995 Bd. 1, hg. von Jochen Luckhardt–Franz Niehoff (München 1995) 134f. Kat. Nr. C 8.

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der Handschrift, jedenfalls aber dem 12. Jahrhundert angehört. In das Linienschema, welches ganz dem aller anderen Seiten der Handschrift gleicht, ist ein mit drei Kreuzen verziertes Diptychon eingezeichnet, das mit den Titeln befüllt wurde24. Vergleichbares findet sich in den anderen untersuchten Codices nicht. Zusammenfassend halte ich fest, dass die Anlagehand des Göttweiger Traditionsbuchs B bisher in keiner anderen Göttweiger Handschrift mit Sicherheit festgestellt werden konnte. Für eine nähere zeitliche Bestimmung der Hände des Göttweiger Skriptoriums vermag der letzte Teil des Traditionsbuchs B mit seinen zeitlich zumindest auf ein bis zwei Jahrzehnte eingrenzbaren Händen gute Dienste zu leisten. Eine erste kursorische, freilich noch zu vertiefende Untersuchung der in den Codices 31, 32, 95, 106 und 111 tätigen Hände scheint die von Simader entgegen Telesko vorgeschlagene Frühdatierung einzelner dieser Handschriften in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts klar zu bestätigen. Namentlich für Cod. 111, den Telesko erst im späten 12. Jahrhundert entstanden sieht, muss dies nachdrücklich unterstrichen werden. Bei Cod. 106, der in der historischen Forschung seit jeher größte Aufmerksamkeit wegen des darin enthaltenen einzigen Überlieferungszeugen der Narratio de electione Lotharii erfahren hat25, konnte die seit der ersten paläographischen Expertise vom Beginn des 20. Jahrhunderts gegebene Datierung in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts erhärtet werden26. Wiewohl die von Kalbfuss vorgenommene   Kalbfuss, Entstehung 543f.   Heinz Stoob, Zur Königswahl Lothars von Sachsen im Jahre 1125, in: Historische Forschungen für Walter Schlesinger, hg. von Helmut Beumann (Köln–Wien 1974) 438–461; Wattenbach–Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen (wie Anm. 11) 1 7–9; Ludwig Vones, Der gescheiterte Königsmacher. Erzbischof Adalbert I. von Mainz und die Wahl von 1125. HJb 115 (1995) 85–124; Knut Görich, Narratio de electione Lotharii, in: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters 1, hg. von Matthias Puhle–Claus-Peter Hasse (Dresden 2006) 178f.; Bernd Schneidmüller, Mittelalterliche Geschichtsschreibung als Überzeugungsstrategie. Eine Königswahl des 12. Jahrhunderts im Wettstreit der Erinnerungen, in: Überzeugungsstrategien, hg. von Angelos Chaniotis–Amina Kropp–Christine Steinhoff (Heidelberger Jahrbücher 52, Heidelberg 2008) 167–184. – Die letzten allgemeinen Darstellungen zu Markgraf Leopold III. bzw. zu den Babenbergern streifen die Problematik nur ganz am Rande. Siehe Karl Brunner, Leopold, der Heilige. Ein Porträt aus dem Frühling des Mittelalters (Wien–Köln– Weimar 2009) 165, und Georg Scheibelreiter, Die Babenberger. Reichsfürsten und Landesherren (Wien– Köln–Weimar 2010) 165–168. 26  Den ersten Versuch einer paläographischen Datierung unternahm Kalbfuss. Er fand sehr überzeugende Argumente für eine einheitliche Entstehung der Göttweiger Sammelhandschrift Cod. Rot 106 und sprach sich vorsichtig für eine Datierung „in das spätere XII. Jahrhundert“ aus (Kalbfuss, Entstehung [wie Anm. 23] 555). Rund 50 Jahre blieb dieser Zeitansatz unwidersprochen, ehe Heinz Stoob, Königswahl 440 und 459f., um seiner historischen Argumentation das nötige Fundament zu schaffen, vorschlug, die Entstehungszeit der Göttweiger Hs. deutlich nach vorne zu verlegen. Die Niederschrift sei „mindestens vor 1147, dem Todesjahr Konrads von Salzburg, besser aber noch vor 1137, dem Ende der Herrschaft Lothars, anzusetzen“, so Stoob, der sogar meinte, aus inhaltlichen Gründen den Abschluss der Arbeit am Göttweiger Codex 106 „auf die Monate von Oktober 1133 bis Februar 1135“ eingrenzen zu können. Ihm zufolge könnte es sich bei der Narratio um einen Augenzeugenbericht handeln, welcher, verfasst unmittelbar nach dem Wahlvorgang von 1125, unter Einfluss Erzbischof Konrads von Salzburg in den dreißiger Jahren des 12. Jahrhunderts durch den Einschub des so genannten Pactum interpoliert wurde. Widersprochen hat der Frühdatierung Stoobs mit paläographischen Argumenten Jörg W. Busch, Der Liber de Honore Ecclesiae des Placidus von Nonantola. Eine kanonistische Problemerörterung aus dem Jahre 1111. Die Arbeitsweise ihres Autors und seine Vorlagen (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 5, Sigmaringen 1990) 33: „Nach den paläographischen Merkmalen der am Traktat beteiligten Hand C, die bereits Anklänge an die gotische Minuskel des 12. Jahrhunderts erkennen läßt, muß der Kodex 106 insgesamt mehr dem Ende, als der Mitte des dritten Viertels dieses Jahrhunderts zugeordnet werden“. Seither hat sich auch die verfassungsgeschichtliche Forschung erneut der Narratio angenommen. Gestützt auf die paläographische Expertise Buschs vermuten zwei Katalogartikel (Vones, Narratio 1995 und Görich, Narratio 2006 [wie Anm. 23 und 25]), das Pactum dürfte vielleicht in 24 25



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und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend unverändert fortgeschriebene Händescheidung einiger nicht unwesentlicher Korrekturen bedarf27, ist doch der zeitlichen Einreihung von Cod. 106 zwischen 1150 und 1170 (drittes Viertel des 12. Jahrhunderts) eindeutig zuzustimmen. Der Vergleich mit den Händen des Traditionsbuchs B spricht hier eine deutliche Sprache. Doch nun zu Reichersberg: Am ehesten, so scheint es, lässt sich eine Zusammenführung von Diplomatik, Paläographie und Kodikologie dann bewerkstelligen, wenn das Autograph vorzüglich eines namhaften Autors oder einer bedeutenden Persönlichkeit die Verbindung zwischen Bibliothek und Archiv, bzw. zwischen literarischen Handschriften, Traditionscodices und Urkunden herzustellen erlaubt. Diesen Weg, der in jüngerer Zeit etwa von Françoise Gasparri an Suger von Saint-Denis exemplarisch für das 12. Jahrhundert erprobt wurde28, hat Heinrich Fichtenau schon in seiner Institutsarbeit über Propst Gerhoh von Reichersberg im Jahre 1935 eingeschlagen29. Das Interesse an den von Gerhoh verfassten bzw. eigenhändig geschriebenen Texten führte Fichtenau zu einer Zusammenschau so unterschiedlicher Quellengenera wie Urkunden, Traditionscodices und Handschriften mit historiographischem oder theologischem Inhalt. Einer stärkeren Einbeziehung der Skriptoriumsforschung stand und steht die ungünstige, weil äußerst schmale Überlieferung der hochmittelalterlichen Reichersberger Bibliothek entgegen. Die Reichersberger Buchbestände sind bei dem Stiftsbrand von 1624 mit ganz wenigen Ausnahmen zugrunde gegangen30. Aus dem 12. Jahrhundert haben sich in Reichersberg den 1160er Jahren in die Narratio eingefügt worden sein. Noch einen Schritt weiter geht jetzt Schneidmüller, Mittelalterliche Geschichtsschreibung 180, der nicht nur das Pactum sondern auch die Narratio selbst vor dem Hintergrund der „schweren Konflikte zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Erzbischof Konrad II. von Salzburg“ entstanden sehen möchte. 27   Eine Korrektur scheint mir insbesondere hinsichtlich jener Hand G (so die Bezeichnung bei Kalbfuss) erforderlich, welche fol. 107v den größeren Teil der Seite – die von der Forschung nachmals als Pactum bezeichnete Passage – schrieb. Nach Kalbfuss, Entstehung (wie Anm. 23) 542, sei dies eine Schrift „mit kräftigen niedrigen und breiten Buchstaben und gegabelten Schäften. Sie bildet die Ligaturen ct und st mit weiter Verbindung“. Nur an dieser einen Stelle des Codex habe Hand G gearbeitet, so Kalbfuss, Busch und Vones übereinstimmend. Ich meine indes, die Beteiligung dieser Hand schon weiter vorne, nämlich in dem ersten, Passiones martyrum enthaltenden Teil der Handschrift erkennen zu können. Kalbfuss sah hier nur eine Hand (A) am Werk, von der er freilich einräumt, sie sei erst „nach mehreren vergeblichen Anläufen“ zu einer stabilen Schreibweise gelangt. Tatsächlich könnte etwa fol. 2r Hand G einige Zeilen vorgeschrieben haben, ehe eine zweite Hand (A) fortsetzte. Wenn meine Beobachtung zutrifft, dann dürfte man in jener Hand G vielleicht eine der führenden Kräfte des Göttweiger Skriptoriums der Zeit sehen, die weniger erfahrene Schreiber in die Arbeit einführte. 28   Françoise Gasparri, Suger de Saint-Denis. Pratiques, formes, langages d’une culture écrite au XIIe siècle (à propos d’une charte originale jusqu’ici inconnue: Arch. Nat. 2247 n. 3). Scrittura e civiltà 20 (1996) 111–135. – Allgemein zur Erforschung hochmittelalterlicher Autographen vgl. Monique-Cécile Garand, Auteurs latins et autographes des XIe et XIIe siècles. Scrittura e civiltà 5 (1981) 77–104; Gli autografi medievali. Problemi paleografici e filologici. Atti del convegno di studio della Fondazione Ezio Franceschini, Erice 25 settembre–2 ottobre 1990, hg. von Paolo Chiesa–Lucia Pinelli (Quaderni di cultura mediolatina 5, Spoleto 1994); Hartmut Hoffmann, Autographa des früheren Mittelalters. DA 57 (2001) 1–62. 29   Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg, in der Druckfassung mit geringfügigen Änderungen. 30   Vgl. Julian G. Plante, Catalogue of manuscripts in the Library of Stift Reichersberg (Paris 1973); ders., The Medieval Library of the Augustinerchorherrenstift Reichersberg, Austria: Towards Its Reconstruction from Two Surviving Catalogues (Munich, Staatsbibliothek Cod. Bav. 2), in: Studia codicologica, hg. von Kurt Treu (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 124, Berlin 1977) 363–373; Kurt Holter, Die mittelalterliche Buchkunst der Chorherrenstifte am Inn, in: Ausstellungskatalog „900 Jahre Augustiner-Chorherrenstift Reichersberg. Augustiner Chorherren zwischen Passau und Salzburg“ (Linz 1984) 205–231, bes. 213–215; zuletzt Simader, Österreich (wie Anm. 20) 344.

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selbst nur Bände eines Psalmenkommentars des Gerhoh erhalten, die im Zeitraum von 1144 bis 1167/68 angelegt wurden. Für einige wenige heute in anderen Bibliotheken und Sammlungen erhaltene Handschriften kann wahrscheinlich gemacht werden, dass sie sich einst in der Reichersberger Stiftsbibliothek befanden31. Es ist Heinrich Fichtenau schon in seiner Institutsarbeit aus dem Jahre 1935 überzeugend gelungen, die Hand Gerhohs zu identifizieren und an unterschiedlichsten Orten, in Annalenhandschriften wie in Urkunden oder auch im Reichersberger Traditionscodex, auszumachen. Im Traditionsbuch sah Fichtenau Gerhohs Hand bei zwei Traditionen auf fol. 7v (Nr. 20 und 23), ferner bei Tradition 70 auf fol. 15v und schließlich in einem größeren Block von Einträgen ab fol. 2132. Zentrale Bedeutung für die Identifizierung des Gerhoh-Autographen besitzen zwei Briefe des Reichersberger Propstes, der eine an einen Bamberger Kleriker, der andere an Abt Gottfried von Admont adressiert. Konzepte bzw. Abschriften dieser beiden Briefe finden sich im Reichersberger Traditionsbuch auf einem zwischen fol. 14 und 15 eingebundenen Zettel bzw. auf fol. 16. Die Schrift beider Texte ist gleich, und für Fichtenau konnte nicht zweifelhaft sein, dass es sich bei der Hand um jene Gerhohs handle33. „Wir spüren, daß wir hier nicht einen geduldigen Abschreiber vor uns haben, sondern eine starke Persönlichkeit, die am Inhalt der Texte inneren Anteil nahm“, so Fichtenau34. Als Gerhoh eigentümlich bezeichnet Fichtenau „die stets zur Auflösung geneigte Form der ct-Ligatur, … das e, das besonders bei eiliger Schrift aus einem Schaft und davon abgesetztem Halbbogen mit angehängter Zunge besteht, die am Wortschluß mit einem Punkt oder einer keulenförmigen, manchmal weit nach rechts gezogenen Verdickung endet“35. Es war das erklärte Anliegen Fichtenaus, das Wirken Gerhohs auch und nicht zuletzt im urkundlichen Bereich aufzuhellen. So weist er die Schrift einer für das Chorherrenstift Reichersberg gegebenen Urkunde des Salzburger Erzbischofs Eberhard I. von 1149, die nach Franz Martin von einer „bäurisch“ wirkenden Empfängerhand stammt36, gleichfalls ohne zu zögern Propst Gerhoh zu37. Die Fichtenau 1935 intensiv beschäftigende 31   Cod. ÖNB 1562 enthält zahlreiche Randglossen von der Hand Gerhohs. Man darf darum annehmen, dass diese Handschrift der hochmittelalterlichen Reichersberger Bibliothek angehörte. Für die Erforschung des Reichersberger Skriptoriums des 12. Jahrhunderts gibt Cod. ÖNB 1562 indes wenig her, lassen Schrift und kodikologischer Befund doch eindeutig auf französische Herkunft der Handschrift mit dem Pauluskommentar des Gilbert von Poitiers schließen. Vgl. zu Codex ÖNB 1562 Peter Classen, Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie. Mit einem Anhang über die Quellen, ihre handschriftliche Überlieferung und ihre Chronologie (Wiesbaden 1960) 435–438; Nikolaus M. Häring, Handschriftliches zu den Werken Gilberts, Bischof von Poitiers (1142–1154). Revue d’Histoire des textes 8 (1978) 133–194, hier 192 Nr. 182, und zuletzt vor allem Donatella Frioli, Per una storia dello Skriptorium di Reichersberg: Il prevosto Gerhoch e i suoi „segretari“. Scrittura e civiltà 23 (1999) 177–212, hier 207 und Anm. 76. 32   Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 44 und 47 (dort genau als Nr. 101–115 und 120, 121), gedruckt: 27f. – Was die größere Gruppe von Einträgen betrifft (Nr. 101ff.), möchte ich Fichtenau widersprechen. Die Hand erinnert zwar an Gerhoh, weicht jedoch in Einzelformen deutlich ab. Diese Einschätzung teilt auch der Neubearbeiter des Reichersberger Traditionscodex Erich Reiter, der mir Einsicht in seine Unterlagen gewährte, wofür ich an dieser Stelle herzlich danke. 33   Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 43, gedruckt: 26. 34   Ebd. 35   So nur in der Druckfassung: Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 26 Anm. 6. 36  Franz Martin, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Salzburg von 1106–1246. Vorbemerkungen zum Salzburger Urkundenbuch, in: MIÖG Ergbd. 9 (1915) 559–765, hier 639. 37  Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 17, gedruckt: 13: „Es wäre schwer, Gerhoh als Urheber des Diktats der Urk. 272 zu erklären, hätte er sie nicht eigenhändig geschrieben“ („doch wäre es unmöglich, die Urkunde auf Grund des Diktats Gerhoh zuzuweisen, ließe sich nicht die Schrift, die Martin ‚bäurisch‘ nennt,



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Frage nach Gerhohs Diktat übergehe ich hier und komme gleich zur Annalistik. Im Zuge einer sorgfältigen Prüfung der erhaltenen Reichersberger Annalenüberlieferung gelangte Fichtenau zur Ansicht, dass der kleinformatige clm 1090 aus Aldersbach so etwas wie das Arbeitsexemplar Gerhohs darstelle. Spätestens 1157 angelegt, vielleicht aber auch schon einige Jahre früher, habe hier Gerhoh den Großteil des Textes bis etwa 1166 eigenhändig eingetragen. Fichtenau gibt sich überzeugt, in der sehr kleinen, oftmals winzig anmutenden Schrift des Annalenbändchens Gerhohs „unverkennbare Altersschrift“ vor sich zu haben, nicht ohne in der ihm eigenen Art der rein paläographischen Expertise unverzüglich ein historisch-philologisches Argument folgen zu lassen. „Auch die Auswahl des Inhalts entspricht“, so Fichtenau, „ganz Gerhohs Persönlichkeit“38. Die Hand des jungen Gerhoh der 1130er Jahre tritt uns nach Fichtenau im Cod. 10 der Universitätsbibliothek Klagenfurt entgegen. Auf fol. 81r–115r findet sich in diesem kleinformatigen Codex, der darin dem eben besprochenen Annalenbändchen ähnelt, in gedrängter Schrift mit zahlreichen Nachträgen, Korrekturen und Tilgungen Gerhohs Libellus de eo quod princeps huius mundi iam iudicatus sit; ein Autograph Gerhohs also, das wiederholte Korrekturen und Änderungen von der Hand des Autors erfahren hat39. Bei all diesen erwähnten Schriftzuweisungen an Gerhoh wurde Fichtenau bis heute nicht entscheidend widersprochen. Namentlich Peter Classen, der 1960 eine großangelegte Biographie Gerhohs vorlegte, folgte Fichtenau, was die Identifizierung der Hand des Reichersberger Propstes betrifft, fast uneingeschränkt 40. Selbst in jenen Fällen, die in Fichtenaus Institutsarbeit aus den 1930er Jahren unberücksichtigt geblieben waren, entschied Classen erst, nachdem er Fichtenaus zustimmende paläographische Expertise eingeholt hatte. So verhielt es sich mit den zahlreichen Glossen in Cod ÖNB 1562, die Peter Classen entdeckte und als von der Hand Gerhohs herrührend erkannte41. Dass clm 1090 „zum größten Teil Autograph“ Gerhohs sei, betonte 1976 auch FranzJosef Schmale und sah keinen Anlass, an den Ergebnissen Fichtenaus hinsichtlich der früheren Reichersberger Annalistik zu rühren bzw. die Frage der eigenhändigen Beteiligung Gerhohs an clm 1090 nochmals aufzurollen42. Als unverrückbar feststehend galten die paläographischen Befunde Fichtenaus auch Hraban Haacke, der im Jahre 1980 Gerhohs Werke für das Verfasserlexikon bearbeitete. Er führt den kleinen Klagenfurter Codex gleich Fichtenau und Classen als Gerhoh-Autograph43.

auf Grund des Vergleichsmaterials sicher als die Gerhohs bestimmen“); ebd. 43 (gedruckt: 26): „Es ist der gleiche Mann, der Urk. 272 (die Püttener Urkunde) schrieb …“. – Widerspruch hat Fichtenau hier nicht erfahren, wiewohl der Befund keineswegs als eindeutig zu bezeichnen ist. Dass tatsächlich Gerhoh die in Frage stehende Urkunde mundiert hat, scheint mir mehr als zweifelhaft. 38   Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 78, gedruckt: 44. 39  Ebd. 53–64, gedruckt: 30–37. 40  Classen, Gerhoch (wie Anm. 31) 373f. Nr. 99 (1159 Juni–1161 August) und 398f. Nr. 150 (1165 nach Juni) (zu den beiden im Traditionsbuch überlieferten Briefkonzepten); 408ff. Opus 4 (zu Hs. Klagenfurt 10); 434f. (Opus 23) (zum Annalencod. A); vgl. auch Peter Classen, Aus der Werkstatt Gerhochs von Reichersberg. DA 23 (1967) 31–92, bes. 35 (zur Eigenhändigkeit der beiden Briefkonzepte). 41   Classen, Gerhoch (wie Anm. 31) 436: „Herr Prof. Dr. H. Fichtenau, dessen Untersuchungen wir die Kenntnis der Hand Gerhochs verdanken, hatte die große Freundlichkeit, die Handschrift auf meine Bitte hin zu überprüfen und mein Ergebnis zu bestätigen“. 42  Wattenbach–Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen (wie Anm. 11) 1 202f., und zuvor schon Franz J. Schmale, Die österreichische Annalistik im 12. Jahrhundert. DA 31 (1975) 144–203, hier 195f. 43   Hraban Haacke, Art. Gerhoch von Reichersberg. VL2 2 (1980) 1248f.

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Gerhoh bildete im Jahre 1999 auch den Ausgangspunkt zu einer subtilen paläographisch-kodikologischen Studie über das Skriptorium von Reichersberg im 12. Jahrhundert44. Im Zusammenhang mit einem geplanten Band der Autographa medii aevi (Corpus Christianorum), der Gerhoh von Reichersberg gewidmet sein soll, analysierte Donatella Frioli exemplarisch anhand des in einem längeren Zeitraum zwischen 1159 und den letzten Lebensmonaten Gerhohs entstandenen Cod. 8 des Stiftsarchivs Reichersberg, wie verschiedene Hilfskräfte unter Aufsicht Gerhohs dessen Werke ins Reine schrieben, der Autor freilich bis zuletzt, so scheint es, textliche Verbesserungen an der Reinschrift vornahm. Frioli verdanken wir eine eingehende Beschreibung der Schrift des Reichersberger Propstes, an der sie den konservativen Grundzug des Theologen Gerhoh auch im Graphischen wiederzuerkennen meint. Fast gänzlich unberührt von den aus Frankreich einströmenden Neuerungen zeige sich die Schrift des Reichersberger Propstes, wiewohl ihm das Neue durch eigene Anschauung vertraut sein musste45. Anders als Fichtenau sieht Frioli auch keine ausgeprägten altersbedingten Wandlungen im Schriftbild Gerhohs, vielmehr weise dieses durchaus in den Formen Konstanz auf von den frühesten autographen Zeugnissen (Klagenfurter Handschrift) bis hin zu den kurz vor Gerhohs Tod entstandenen Ergänzungen und Korrekturen in Cod. 8 des Stiftsarchivs Reichersberg46. Seine amanuenses wählte Gerhoh offenkundig sorgfältig aus dem Kreis seiner Mitbrüder aus. Frioli hebt einen von diesen, der an der Herstellung der Handschriften 6, 7 und 8 des Stiftsarchivs Reichersberg maßgeblich und offenbar über einen langen Zeitraum beteiligt war, geradezu als den „bevorzugten Mitarbeiter“ („collaboratore prediletto“) hervor47. Außerhalb der Gerhoh-Psalmenkommentarbände bzw. Cod. lat. 4236 der Bibliothèque Nationale in Paris (Tractatus in psalmum LXIV) will sie dessen Hand freilich nirgendwo gefunden haben, anscheinend auch nicht im Reichersberger Traditionscodex48. Von der Neuedition des Traditionsbuches, die Erich Reiter besorgt, darf hier vielleicht noch eine Klärung erwartet werden. Im Übrigen hat das Chorherrenstift Reichersberg neben Propst Gerhoh noch eine zweite Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts aufzuweisen, deren historiographische Werke in autographer Gestalt auf uns gekommen sind. Die Rede ist von Magnus von Reichersberg und seiner heute zumeist als Annalen bezeichneten cronica (Graz Steierm. Landesarchiv Cod. 894)49, welche Fichtenau in seine Gerhoh-Studien zwar einbezogen hat, doch 44  Frioli, Per una storia (wie Anm. 31) 177–212. – Zuletzt hat Donatella Frioli ihre Forschungen zu Gerhoh und dem Reichersberger Skriptorium nach einem längeren Intervall neuerlich aufgegriffen: Donatella Frioli, Gerhoch di Reichersberg et i suoi segretarii, in: Medieval autograph manuscripts: proceedings of the XVIIth Colloquium of the Comité International de Paléographie Latine held in Ljubljana, 7–10 September 2010, hg. von Nataša Golob (Turnhout 2013) 111–132. Neben dem Klagenfurter Codex gelten ihre Ausführungen der Annalenhandschrift clm 1090, an deren von Fichtenau postulierter überwiegender Eigenhändigkeit sie hier erstmals deutlich Zweifel äußert (112 Anm. 7). 45   Frioli, Per una storia (wie Anm. 31) 206f.: „… la scrittura di Gerhoch si mostra praticamente indenne dal repertorio di innovazioni che muovono dalla Francia … . Radicale conservatore in campo culturale e teologico, Gerhoch ratifica questo aspetto della sua personalità anche a livello grafico“. 46  Ebd. 209: „… credo che gli esiti non siano riflesso di un decadimento grafico legato all’età avanzata del prevosto, ma siano piuttosto il frutto di una specifica scelta legata alla non ufficialità – per così dire – degli interventi, alla strumentalità della loro destinazione“. 47  Ebd. 188f. und Anm. 33. 48  Ebd. 189f. Anm. 37: „All’anonimo amanuense responsabile di un cosi cospicuo impegno grafico non sembra atribuibili altri interventi nell’ambito dello scriptorium di Reichersberg – ad esempio di revisione/correzione di spezzoni testuali copiati da altri – né la sua mano sembra avere ulteriori attestazioni nel vario numero di testi documentari ancora realizzati nell’officina grafica interna alla canonica“. 49  Zu Magnus von Reichersberg vgl. Schmale, Die österreichische Annalistik (wie Anm. 42) 199–203;



Traditionscodices und Skriptorium am Beispiel von Göttweig und Reichersberg 249

nur soweit, als dies zur Klärung von Fragen um Gerhoh dringlich notwendig und geboten erschien50. Die Frage, ob Magnus’ Hand im Traditionsbuch von Reichersberg begegnet, wurde von der Forschung bisher nicht thematisiert. Dass dieser gleich seinem berühmteren Reichersberger Mitbruder und Propst Gerhoh ab und an selbst Traditionsnotizen niederschrieb, darf als wahrscheinlich gelten. Eine entsprechende paläographische Untersuchung steht freilich bislang aus und stellt eine der zahlreichen Forschungslücken dar, die sich nach wie vor im Schnittbereich zwischen Traditionsbüchern und Skriptorium auftun. Der kurze Überblick über das Problemfeld „Traditionscodices und Skriptorium“ hat die eingangs getroffene Feststellung, dass noch sehr vieles zu tun bleibt, überdeutlich bestätigt. Mehr als ein Problemaufriss war in diesem Rahmen nicht möglich. Es dürfte aber doch sichtbar geworden sein, dass in jüngerer und jüngster Zeit bemerkenswerte Forschungen zu diesem Thema unternommen wurden bzw. gerade im Gange sind. Überall dort, wo ein interdisziplinärer Brückenschlag gelang, ermöglichte dieser wichtige neue Erkenntnisse und über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Einsichten. Heinrich Fichtenau hat dazu weit mehr als bloß Anregungen gegeben.

Wattenbach–Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen (wie Anm. 11) 1 203–208; zuletzt Franz J. Worstbrock, Art. Magnus von Reichersberg CanAug. VL2 11 (2004) 954–957. 50   Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 77–98, gedruckt: 43–56.





Probleme um die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark Roman Zehetmayer

Heinrich Fichtenau hat in seinem Buch über das „Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert“1 bekanntlich weniger diplomatische Detailprobleme seziert, als vielmehr die größeren Entwicklungsstränge, die Querverbindungen und Einflüsse offengelegt, wodurch er viel mehr als lediglich eine Summe der diplomatischen Einzeluntersuchungen bieten konnte. Zu versuchen, diesen Weg weiter zu beschreiten, scheint zwar vermessen, ist aber angesichts der Forschungsfortschritte der letzten Jahrzehnte vielleicht dennoch nicht ganz ungerechtfertigt. Im Speziellen sollen noch einmal die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark aufgerollt werden, ein Thema, das auch Heinrich Fichtenau sichtlich interessiert hat2.

Voraussetzungen Um den Beginn der privaten Siegelurkunde besser einordnen und verstehen zu können, ist in einem ersten Schritt nach den Voraussetzungen zu fragen. Bis zur Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert wurden Verträge in der Babenbergermark nur mündlich vor Zeugen geschlossen, Siegelurkunden waren hier alleine in Form von Diplomen bekannt3. Die heimischen Klöster haben ihre Rechtsgeschäfte aber bekanntlich in zahllosen Traditionsnotizen schriftlich festgehalten, die sich indes nicht nur hier, sondern auch in Pfarren nachweisen lassen. Erhalten haben sich die Traditionsnotizen der ursprünglich adeligen Eigenkirchen

1   Fichtenau, Urkundenwesen. – Abkürzungen: BUB 1 = Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich 1: Siegelurkunden der Babenberger bis 1215, vorbereitet von Oskar von Mitis, ed. Heinrich Fichtenau–Erich Zöllner (Publikationen des IÖG 3/1, Wien 1950); NÖUB 1 = Niederösterreichisches Urkundenbuch 1: 777–1076, ed. Maximilian Weltin–Roman Zehetmayer unter Mitarbeit von Dagmar Weltin et al. (Publikationen des IÖG 8/1, St. Pölten 2008); NÖUB 2 = Niederösterreichisches Urkundenbuch 2: 1075–1156, ed. Roman Zehetmayer–Dagmar Weltin–Maximilian Weltin unter Mitarbeit von Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (St. Pölten 2013); SUB 2 = Salzburger Urkundenbuch 2: 790–1199, ed. Willibald Hauthaler–Franz Martin (Salzburg 1916); StUB 1 = Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark 1: 798–1192, ed. Josef von Zahn (Graz 1875); UBE 2 = Urkundenbuch des Landes ob der Enns 2: 777–1230 (Wien 1856). 2  Fichtenau, Urkundenwesen 221–225, 243f. 3  Erst seit etwa 1100 kamen vereinzelt auch Papsturkunden hinzu; NÖUB 2 92–94 Nr. 31 (1098 IV 3), 94–95 Nr. 32 (1104 X 24).

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St. Veit an der Gölsen4, Kirchstetten bei St. Pölten5 und Pergkirchen im Mühlviertel6. Diese geographische Streuung und die jeweiligen auf Zufall beruhenden Erhaltungsumstände lassen auf eine weitere Verbreitung von Notitien in Pfarren und auf eine entsprechende Schriftlichkeit der dort tätigen Priester schließen. Dazu kommt, dass auch Adelige ihre Rechtsgeschäfte vereinzelt schriftlich fixieren ließen, was immerhin erkennen lässt, dass zumindest Teilen des Adels bereits damals der schriftliche Abschluss von Rechtsgeschäften nicht so fremd gewesen sein kann, wie bislang öfters vermutet7. Für die Zeit um 1100 ist ein deutlicher Anstieg der Zahl der Traditionsnotizen und Traditionsbücher in der Mark zu bemerken. Dies wurde vor kurzem mit einer generell zu beobachtenden Zunahme der pragmatischen Schriftlichkeit in Verbindung gebracht, die ihre Ursache in einer in vielen Lebensbereichen verstärkt zum Tragen kommenden Rationalität und Effizienzsteigerung gehabt hätte8. Doch lässt sich ein solcher Einstellungswandel für jene Zeit in den heimischen Quellen kaum ausmachen9. Vielmehr ist die bereits zuvor große Zahl an Traditionsnotizen etwa in den westlichen Nachbarregionen der Babenbergermark zu bedenken, sodass die Steigerung um 1100 eher mit den zahlreichen Klostergründungen, der Schenkungszunahme im Zuge der Reform und dem nun in ruhigen Bahnen verlaufenden Landesausbau10 und weniger mit Änderungen im Denken und in der Einstellung der damaligen Bevölkerung zu tun haben dürfte. Weshalb aber waren Traditionsnotizen so verbreitet und konnten sich auch noch nach dem Aufkommen der ersten Siegelurkunden länger halten? – Gerade Heinrich Fichtenau hat gezeigt, dass die Rechtssicherheit der in Traditionsnotizen festgehaltenen Handlungen über den Zeugenbeweis hinaus durch öffentliche Verlautbarung des Inhalts und durch die so erreichte Offen- oder Landeskundigkeit erhöht werden konnte 11. Darüber 4   Letzter Druck: NÖUB 2 239–246 Nr. 6. Zwar dürfte das überlieferte Pergamentblatt mit den Traditionen erst im Stift Göttweig, dem die Kirche 1161 übertragen worden war, beschrieben worden sein, doch wurden die Originalnotitien zweifelsohne in St. Veit aufgezeichnet; siehe Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum zweiten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs. NÖLA 15 (2012) 59–116, hier 88–90; ältere Literatur: Ulrich Schmid, Traditionen an die Kirche St. Veit an der Gölsen. MIÖG 25 (1904) 688–693; Die Traditionsbücher des Benediktinerstiftes Göttweig, ed. Adalbert Fuchs (FRA II/69, Wien 1931) 132–136 (Einleitung). Siehe auch Heide Dienst, Regionalgeschichte und Gesellschaft im Hochmittelalter am Beispiel Österreichs (MIÖG Ergbd. 27, Wien–Köln 1990) 135. 5  Letzter Druck: NÖUB 2 582–585 Nr. 174–8. Siehe Ernst Klebel, Niederösterreich und der Stammbaum der Grafen von Görz und Schwarzenburg. UH 23 (1952) 111–123; Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 90–93. 6   NÖUB 2 438–440 Nr. 1114. Siehe ebd. 447; Oskar von Mitis, Studien zum älteren österreichischen Urkundenwesen (Wien 1912) 208; Karl Lechner, Zur Geschichte von Pergkirchen im Machlande. Pfarre und Amt des Klosters Melk. MOÖLA 8 (1964) 173–187, hier 180f., 187. 7  Siehe dazu Roman Zehetmayer, Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Südosten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (VIÖG 53, Wien–München 2010) 19–54. 8   Hagen Keller, Die Entfaltung der mittelalterlichen Schriftkultur im europäischen Kontext. Schriftgebrauch und Kommunikationsverhalten im gesellschaftlich-kulturellen Wandel vom 5. bis 13. Jahrhundert, in: Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Reinhard Härtel et al. (Schriftenreihe der Akademie Friesach 8, Klagenfurt 2008) 15–45, hier 33. 9  Etwa im Gerichtswesen oder in der Rechtspraxis lassen sich in dieser Zeit keine wesentlichen Änderungen feststellen. Auch die Städte nehmen augenscheinlich erst nach der Mitte des 12. Jahrhunderts und in den meisten Fällen ohnehin noch später einen markanteren Aufschwung. 10  Siehe dazu auch bereits Roman Zehetmayer, Zu den Anfängen des Urkundenwesens der Herzöge von Bayern und Kärnten und der Markgrafen von Österreich und Steier. AfD 57 (2011) 123–146, hier 146. 11  Fichtenau, Urkundenwesen 80, 137; siehe auch ders., Forschungen 306f.; Peter Johanek, Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotiz, Traditionsbuch und früher Siegelurkunde, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von Peter Classen (VuF 23, Sigmaringen 1977) 131–162, hier 132–134, 144, 155; Dienst, Regionalgeschichte (wie Anm. 4) 106.



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hinaus wurde in der jüngeren Forschung sogar postuliert, dass Traditionsnotizen bzw. dem Eintrag in ein Traditionsbuch als „objektive, parteineutrale Beurkundungen“ per se Rechtskraft zukomme12. Die Untersuchung der Rechtspraxis zeigt aber, dass Traditionsnotizen oder -kodizes bei keinem Gerichtsprozess als Beweismittel nachweisbar sind und von einer allgemeinen Anerkennung der Aufzeichnungen keine Rede sein kann 13. Eine Ausnahme bildet scheinbar ein Rechtsstreit zwischen dem Passauer Bischof und der Zisterze Baumgartenberg um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Das Stift legte nämlich dem zur Streitschlichtung delegierten Abt von Ebrach ein das Stift begünstigendes, unbesiegeltes14 Testament des Gründers vor15, doch erschien dies selbst Baumgartenberg als so wenig erfolgsversprechend, dass Adelige zur Verhandlung mitgebracht wurden, die den Inhalt durch Zeugenaussagen bestätigten. Auch sonst wird in diesem Prozess deutlich, dass die wesentliche Rolle bei der Beweisführung und -würdigung die Zeugen spielten16. 12  Joachim Wild, Besiegelte Traditionsnotizen, in: Festschrift Walter Jaroschka zum 65. Geburtstag, hg. von Albrecht Liess et al. (AZ N. F. 80, München 1997) 469–483, hier 477f., 482. Die Zeugenlisten hatten laut Wild dagegen eher eine untergeordnete Funktion: „Daß die Nennung der Zeugen im Anfechtungsfalle die Beweisführung erleichtern sollte, indem man die Namen der Zeugen rasch bei der Hand hatte, ist sicherlich auch intendiert gewesen und war zumindest ein praktischer Nebeneffekt“ (ebd. 478f.). An die Stelle der Originalnotizen konnte nach Wild der Eintrag in das Traditionsbuch treten, das sich schließlich zu einem Auslaufregister für Siegelurkunden wandelte; ders., Charta und Notitia im Herzogtum Bayern, in: De litteris, manuscriptis, inscriptionibus … . Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Koch, hg. von Theo Kölzer et al. (Wien u. a. 2007) 27–37, hier 37. 13   Siehe Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 66–85. Zustimmend Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter (Historische Hilfswissenschaften [4], Wien–München 2011) 111f., 116. Siehe auch bereits Dienst, Regionalgeschichte (wie Anm. 4) 111, die meint, dass die Zumessung von Beweiskraft eher dem Wunschdenken der Mönche als der Realität entsprochen habe, obwohl auch sie zugibt, dass die Eintragung in ein Buch die Rechtssicherheit eines Vertrags erhöhte und Traditionsnotizen auch nach dem Aufkommen der Siegelurkunden eine wichtige Rolle spielten. 14  Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 103f. 15   NÖUB 2 784–786 Nr. 273 (1148). Zum Inhalt siehe ebd. 821f. Das Testament weist freilich auch keine Zeugen auf, sodass es sich um eine Art Gedächtnisprotokoll handeln dürfte. 16  NÖUB 2 786–791 Nr. 274: Quod scimus, loquimur, et quod vidimus, hoc testamur. Scimus et vidimus bone memorie Ottonem virum nobilem duorum claustrorum fuisse fundatorem: alterius Cisterciensis ordinis, alterius regularium canonicorum. Sed claustrum regularium amplioribus diviciis ditavit collatis ad idem beneficiis, que ab episcopo Patauiense habuit. Cuius eciam privilegio eadem beneficia conmunivit, sed instante illi mortis articulo nobis presentibus, accito fratre suo Walchuno aliisque personis nobilibus honestis et veracibus, conmisit nobis omnia mobilia sua inter duo predicta cenobia dividenda sub ea tamen caucione, ut, si episcopus Pataviensis diminueret bona claustro regularium a suo predecessore collata, omnia tam predia quam mobilia nostre forent ecclesie. Facta hac et firmata omnium rerum testamento suarum donacione manus suas inter manus nostras conpositis Domino Christo sese nudum obtulit, promittens de reliquo vite sue tempore modum et formam vivendi sub precepto nostro se velle custodire. Norunt hec domnus Eberhardus Salisburgensis episcopus, Heinricus dux Bawarie et multi comites et viri nobiles ac religiosi abbates et prepositi. Predicto igitur Ottone viam universe carnis ingresso episcopus Patauiensis bona per antecessorem suum prefato cenobio regularium tradita usibus suis mancipavit et, ut res sub predicta condicione nobis conmissas cum regularibus divideremus, a nobis instanter exigere cepit. Cum ergo ad causam hanc dirimendam abbas Ebracensis a Cysterciensi capitulo dispositus advenisset, episcopus offerebat assercionis sue testimonia, quod nulla condicione interposita bona illa mobilia duobus iamdictis cenobiis fuerint destinata. Nos vero econtra testamentum morte testatoris confirmatum et nobilium personarum testimonium de illa donacione, que ab ipso donatore novissimum spiritum fuerat dictata, ad confirmandam assercionis nostre partem parati sumus exhibere. Sed cum abbas Ebracensis testimonium episcopi contra nos vellet recipere, ipsum deprecati sumus, quatenus ad examen sanctorum patrum Cysterciensis capituli terminanda differetur summa tocius negocii. Quo nobis non concesso denuo ei suggessimus, ne consensu suo vel presencie sue auctoritate iusiurandum testium episcopi roboraret, utpote qui nec de visis nec auditis falso iuraturi essent. Preterea episcopo per fratrem nostrum mandavimus, ut saltem pro reverencia domini pape ab iniusta testium produccione cessaret. … Accepto autem mandato per litteras apostolicas Saltzburgensis archiepiscopus ad prosequendam causam nostram Patauiensem episcopum evocavit necnon et eos, qui supremo et extremo interfue-

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Von einer den Siegelurkunden nahekommenden Rechtskraft ist also nichts zu bemerken, und auch jüngst wieder geäußerte andere Auffassungen können nicht überzeugen17. Zahlreich sind hingegen Belege dafür, dass sich Streitparteien von der Existenz einer Traditionsnotiz bzw. Notitia nicht haben beeindrucken lassen18. Immerhin vereinzelt haben sich Hinweise gefunden, dass bei gütlicher Streitschlichtung die Vorlage einer Traditionsnotiz die Rechtsposition einer Partei verbessert hat, doch dürfte dies nicht sehr häufig der Fall gewesen sein19. Aber auch Offenkundigkeit konnte die Rechtssicherheit nur bis zu einem gewissen Grad erhöhen, zumal das durch Erzählungen oder durch eigene Anschauung tradierte Wissen über eine Übereinkunft nur eine gewisse Zeit lang allgemein präsent bleiben konnte. Denn wer hätte sich Details von all den im Laufe von Jahrzehnten landeskundig gewordenen Rechtsgeschäften am ehesten merken können? Vor allem wohl Verwandte oder die Besitznachbarn. Doch gerade deren Verhalten musste auf Grund eigener Begehrlichkeiten nicht immer zur Rechtskontinuität beitragen. Die Gefahr von Irrtümern und Manipulationen war auch dann virulent, wenn ein Rechtsgeschäft offenkundig war20. Als rechtssicherheitserhöhend wurde von der Forschung der letzten Jahrzehnte weiter die Verknüpfung von Schenkungen mit der Stiftermemoria angesehen21. In heimischen Quellen lässt sich dies aber nicht nachweisen. Es finden sich dagegen zahlreiche Beispiele von Konflikten von Klöstern mit Adeligen22, die sich von einer Anfechtung der Schenrunt testamento Ottonis viri nobilis, de cuius rebus videbatur esse contencio. Cumque assistente ei domino Romano Gurcense episcopo testes accitos, viros nobiles ac veraces, de visis et auditis sub iureiurando dicere paratos paratus esset audire, …; siehe auch die Einschätzung bei Reinhard Härtel, Schrift und Gericht, in: Schriftkultur (wie Anm. 8) 363–397, hier 382. 17   Siegfried Haider vertritt die Meinung, dass Traditionsbüchern sehr wohl Rechtskraft zukommt (siehe Rezension von Zehetmayer, Urkunde [wie Anm. 7], in: JbOÖMV 156 [2011] 219–224, hier 221, und seinen Aufsatz im vorliegenden Band). Er begründet dies etwa mit der Erwähnung von früheren Schenkungen in Notitien über später darüber ausgebrochene Streitigkeiten. Doch ist darin wohl kein Beleg für eine Rechtskraft der älteren Traditionsnotizen zu sehen, da so nur der Sachverhalt aus Sicht der Klöster dargelegt werden sollte. Wären Traditionsnotizen tatsächlich ein Beweismittel gewesen, wären sie in Prozessaufzeichnungen auch als solche herausgestellt worden, wie dies ja auch bei Siegelurkunden oder Zeugenaussagen häufig der Fall ist. Zudem haben Adelige in der Regel den Klöstern nicht das nötige uneingeschränkte Vertrauen entgegengebracht, wie nicht zuletzt die nicht seltenen Konflikte zeigen (dazu Zehetmayer, Urkunde 66–68). Außerdem hätten die Adeligen in diesem Fall auf Zeugen ganz verzichten können oder etwa untereinander geschlossene Verträge in Traditionsbücher eintragen lassen. Auch andere angeführte Argumente überzeugen nicht (siehe dazu ebd. 76–85). 18   Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 76–85. Dies wurde am Beispiel des Adels erarbeitet, trifft aber zumindest bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts im Wesentlichen auch auf Konflikte zwischen geistlichen Institutionen zu, wie auch der eben geschilderte Streit zwischen Baumgartenberg und Passau nahe legt. – Eine gewisse rechtliche Funktion kam Traditionsnotizen sehr wohl aber bei Konflikten innerhalb der klösterlichen Grundherrschaft zu; siehe etwa Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 64; Fichtenau, Urkundenwesen 84; Härtel, Urkunden (wie Anm. 13) 116f.; Dienst, Regionalgeschichte (wie Anm. 4) 111. 19  BUB 1 9f. Nr. 8; NÖUB 2 176–178 Nr. 53; Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 69f. 20  Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 62–64. 21  Fichtenau, Urkundenwesen 83f. Grundlegend Johanek, Funktion (wie Anm. 11) 145–153; weiters ders., Die Corveyer Traditionen als Gedenküberlieferung, in: Der Liber Vitae der Abtei Corvey. Studien zur Corveyer Gedenküberlieferung und zur Erschließung des Liber Vitae, hg. von Karl Schmid–Joachim Wollasch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 40/2/2, Wiesbaden 1989) 124–134; Dienst, Regionalgeschichte (wie Anm. 4) 111f.; Jürgen Dendorfer, Adelige Gruppenbildung und Königsherrschaft. Die Grafen von Sulzbach und ihr Beziehungsgeflecht im 12. Jahrhundert (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 23, München 2004) 160f. 22  Siehe Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 73f. – Ähnliches trifft auch auf die Androhung geistlicher Strafen in den Traditionen zu (etwa Codex traditionum ecclesiae collegiatae Claustroneoburgensis ..., ed. Ma-



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kung ihrer Verwandten auch nicht von der Memoria an diese haben abhalten lassen. Da aber jene Fälle nirgends dokumentiert sind, bei denen im Vorfeld von Konflikten die Memoria Einfluss auf die adelige Streitpartei ausübte oder es gar nicht erst zu Anfechtungen gekommen ist, kann das Ausmaß von Wirkung und Bedeutung nicht eingeschätzt werden. Auch die Einbettung eines Vertrags „in eine rechtsbegründende Kette von öffentlichen Symbolhandlungen“, wodurch die „Verbindlichkeit und dauerhafte Geltung im kollektiven Gedächtnis“ hergestellt worden seien23, konnten die Rechtskontinuität nur bedingt sichern, denn dies bedeutet nichts anderes, als dass eine möglichst große Offenkundigkeit erreicht werden sollte, wodurch aber Rechtssicherheit eben nur bis zu einem gewissen Grad gewährleistet werden konnte24.

Zu den Anfängen der besiegelten Passauer Bischofsurkunden Diese Mängel der mündlich geschlossenen Verträge waren nun eine der Voraussetzungen dafür, dass sich seit etwa 1100 die Siegelurkunde in der Mark durchsetzen konnte. Diese Defizite alleine führten aber noch zu keinen großflächigen Versuchen, nach anderen Instrumenten für die Rechtssicherung zu suchen, sondern es bedurfte weiterer Gründe, damit es zu Änderungen kommen konnte. Mindestens ebenso wichtig war der seit dem 10. Jahrhundert stattfindende allgemeine Wandel im Urkundenwesen. Damals begannen zunächst in bestimmten politischen Situationen und nur vorübergehend einzelne Metropoliten25 und Herzöge26 und dann nachhaltig die Erzbischöfe von Köln, Diplome zu imitieren und ihre Urkunden zu besiegeln, um die eigene Stellung hervorzuheben und das Prestige zu steigern. Bald darauf folgten die beiden anderen rheinischen Metropoliten und erste Suffraganbischöfe, die oft aus einem bestimmten Anlass heraus ihren Amtskollegen oder Vorgesetzten nicht nachstehen wollten27. ximilian Fischer [FRA II/4, Wien 1851] 26 Nr. 122, 27 Nr. 124, 30f. Nr. 142). Auch diese könnten in dem einen oder anderen Fall die Bereitschaft, das Rechtsgeschäft einzuhalten, erhöht haben. Nachweisen dürfte es sich für unseren Untersuchungsraum aber nicht lassen. 23  Hagen Keller, Schriftgebrauch und Symbolhandeln in der öffentlichen Kommunikation. Aspekte des gesellschaftlich-kulturellen Wandels vom 5. bis zum 13. Jahrhundert. FMSt 37 (2003) 1–24, hier 13. 24   Siehe dazu Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 71f. 25   Zuletzt etwa Mark Mersiowsky, Y-a-t-il une influence des actes royaux sur les actes privés du IXe siècle?, in: Les actes comme expression du pouvoir au Haut Moyen Age. Actes de la Table Ronde de Nancy, 26–27 novembre 1999, hg. von Marie-José Gasse-Grandjean–Benoît-Michel Tock (Atelier de recherches sur les textes médiévaux 5, Turnhout 2003) 139–178, hier 164; Roman Zehetmayer, Funktion und Rechtskraft der besiegelten Privaturkunde im Reich bis zur Jahrtausendwende. DA 69 (2013) 503–530, hier 506–508. 26   Siehe Kurt Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger 893–989. Sammlung und Erläuterung der Quellen (QEBG N. F. 11, München 1953) 77–80 Nr. 48, 134–138 Nr. 65, 157–159 Nr. 82b; dazu Fichtenau, Urkundenwesen 117; Hans Rall, Die Urkunden der Herzoge von Bayern und Pfalzgrafen bei Rhein als verfassungsgeschichtliche Aussage, in: Siegfried Hofmann, Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem der Herzoge von Bayern von 1180 bzw. 1214 bis 1255 bzw. 1294 (Münchener Historische Studien, Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften 3, Kallmünz 1967) 1–18; Walter Kienast, Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland (9. bis 12. Jahrhundert). Mit Listen der ältesten deutschen Herzogsurkunden (Wien–München 1968) 353; Brigitte Merta, König, Herzog und Urkunden im spätkarolingisch-ottonischen Bayern. Die Interventio als Spiegel der Machtverhältnisse. MIÖG 112 (2004) 93–118, hier 104–106. 27  Siehe zu den Anfängen der besiegelten Privaturkunden Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (Berlin 31958) 693–705; Oswald Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte IV/3, München–Berlin 1911) 109f.; Friederike

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Noch keine Siegelurkunden aus dieser Frühphase sind hingegen von bayerischen Bischöfen nachweisbar, zumal ein Siegel des Salzburger Erzbischofs Friedrich aus der Mitte des 10. Jahrhunderts zuletzt als Fälschung erkannt worden ist28. Betrachtet man nun die für die Babenbergermark entscheidenden, weil zuständigen Passauer Bischöfe, so stellten diese, und zwar namentlich Egilbert, eine erste besiegelte Urkunde im Jahre 1046 für die vom kurz zuvor verstorbenen heiligen Gunther gegründete Zelle Rinchnach aus29. In der Corroboratio wird ausdrücklich das Siegel als Beglaubigungsmittel angeführt 30, wobei die nur auf Lebenszeit des Bischofs und des für Rinchnach zuständigen Niederaltaicher Abtes geschlossene Abmachung eigentlich ganz gut durch Zeugen hätte besichert werden können. Doch wurde auf deren Nennung verzichtet, was zu dieser Zeit doch recht ungewöhnlich war31. Als zusätzliche Sicherstellung (causa testimonii) wurde eine jährliche Honiglieferung an den Bischof vereinbart32. Dies deutet an, dass ein Bischofssiegel als Rechtssicherungsinstrument noch ungewohnt war, und fast scheint es, als ob man noch nicht so recht wusste, wie man damit umgehen sollte. Möglicherweise hat Bischof Egilbert wenige Jahre später anlässlich der Gründung des in der Babenbergermark liegenden Erlaklosters eine weitere Siegelurkunde ausgestellt, in der aber Zeugen vorhanden sind33. Der Text ist lediglich gekürzt und sichtlich verändert als Insert in einer Urkunde des 12. Jahrhunderts erhalten. Eine Corroboratio fehlt, und es muss unsicher bleiben, ob je eine vorhanden war. Für eine Besiegelung aber könnte die Bezeichnung der Urkunde des 11. Jahrhunderts im „Transsumpt“ als privilegium sprechen34. Durchgesetzt hat sich die Siegelurkunde bei den Passauer Bischöfen damals freilich noch nicht, denn weitere Beispiele aus den folgenden Jahrzehnten sind keine bekannt. Dass die beiden Urkunden so völlig isoliert dastehen, muss dennoch nicht zwangsläufig Zaisberger, Die Frühzeit der geistlichen Siegelurkunde in Deutschland (10. und 11. Jahrhundert). MIÖG 74 (1966) 257–291; Härtel, Urkunden (wie Anm. 13) 120f.; Toni Diederich, Sancta Colonia – Sancta Coloniensis religio. Zur „Botschaft“ der Bleibullen Erzbischof Pilgrims von Köln (1021–1036). Rheinische Vierteljahresblätter 75 (2011) 1–49; Zehetmayer, Funktion (wie Anm. 25). 28   Diederich, Sancta Colonia (wie Anm. 27) 16. – Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends findet sich eine vereinzelt bleibende Siegelurkunde des Metropoliten; SUB 2 118–120 Nr. 65 (1002/18); siehe ebd. Tafel I/2; Oswald Redlich, Ueber einige kärntnerisch-salzburgische Privaturkunden des 11. und 12. Jahrhunderts. MIÖG 5 (1884) 353–365, hier 363; Franz Martin, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Salzburg von 1106–1246. Vorbemerkungen zum Salzburger Urkundenbuch, in: MIÖG Ergbd. 9 (Innsbruck 1915) 559– 765, hier 561. 29  Franz-Reiner Erkens, Die ältesten Passauer Bischofsurkunden. ZBLG 46 (1983) 469–514, hier 484– 492, mit Diskussion um die Echtheit, Druck: ebd. 508 Beilage IV. Erkens lehnt ebd. 490 gut begründet frühere Vermutungen ab, dass bereits die verschollene echte Vorlage einer gefälschten Bischofsurkunde für Rinchnach aus dem Jahre 1019 besiegelt gewesen sein könnte. So noch Lothar Gross, Das Urkundenwesen der Bischöfe von Passau im 12. und 13. Jahrhundert, in: MIÖG Ergbd. 8 (Innsbruck 1911) 505–673, hier 610. Zu Gunter siehe Herbert Grundmann, Deutsche Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hochmittelalter (10.–12. Jahrhundert), in: ders., Ausgewählte Aufsätze 2 (MGH Schriften 25/2, Stuttgart 1978) 93–124, hier 106–110. 30  Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 509 Beilage IV: Hec autem traditio, ut stabilis et firma me vivente permaneat, iussi hanc cartam scribi et sigilli huius impressione signari. 31  Siehe etwa Zehetmayer, Funktion (wie Anm. 25) 527f. 32  Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 509 Beilage IV: Verum ne hanc posteri quasi propriam retinendo iniuste sibi temptent usurpare, situlam mellis ecclesie mee statui singulis annis ex fratribus eiusdem cellule persolvi causa scilicet testimonii. Allgemein zu Beglaubigungen durch wiederkehrende Abgaben: Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 75–77. 33  NÖUB 1 300–303 Nr. 22l (1045–1065) mit 309. 34  Ebd. 309.



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einen Fälschungsverdacht aufkommen lassen, denn auch sonst im Reich ließen Bischöfe bis in das späte 11. Jahrhundert hinein ihre Siegel häufig nur in Abständen von mehreren Jahrzehnten an Urkunden befestigen35. Weshalb aber wurde die Bischofsurkunde von 1046 besiegelt? Dies lag wohl vor allem am Wunsch, so dem Stück eine besondere Feierlichkeit zu verleihen36, was vielleicht auch mit dem Andenken an den im Jahr zuvor verstorbenen Gründer der Zelle, den heiligenmäßigen Eremiten Gunter, zu tun hat. Ein ähnliches Motiv dürfte auch beim zweiten Fall vorliegen, zumal es hier immerhin um eine Klostergründung gegangen ist. Dass Siegel zur Hervorhebung des zu beurkundenden Ereignisses dienten, lässt sich damals auch sonst im Reich häufig beobachten37, ohne dass dies allerdings verallgemeinert werden könnte. Deshalb war in dieser Epoche die Siegelverwendung immer auch vom Ausstellerwillen abhängig, und bei Bischof Egilbert war dieser augenscheinlich vorhanden. Der aus der Herrscherkanzlei kommende und sonst so umtriebige Nachfolger Altmann (im Amt 1065 bis 1091) hat hingegen offensichtlich keine Siegelurkunden ausgestellt38, obwohl solche gerade bei den Reformbischöfen vermehrt feststellbar sind39. Zwar blieb Altmann während der Wirren des Investiturstreits einige Jahrzehnte räumlich auf den östlichen Teil der Diözese, also auf die Babenbergermark, beschränkt, doch hätte er angesichts der hier für ihn durchaus gesicherten Verhältnisse wohl ohne große Probleme einen Urkundenschreiber rekrutieren können40. Das Ausstellen von Urkunden hätte sich etwa bei den Gründungen der Stifte St. Nikola und Göttweig oder bei den zahlreichen Reformversuchen in diversen Klöstern angeboten. Altmann aber hat darauf verzichtet41.

* * *   Siehe die Überblicke bei Zaisberger, Frühzeit (wie Anm. 27) passim.   Siehe auch Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 488. 37   Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 27) 109f. 38  Siehe Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 90–123, 158–170, 177–179 und passim. Siehe zur Person Egon Boshof, Bischof Altmann, St. Nikola und die Kanonikerreform, in: Königtum, Kirche und Mission im Südosten des Reiches. Ausgewählte Aufsätze von Egon Boshof. Festgabe zum 75. Geburtstag, hg. von FranzReiner Erkens (Veröffentlichungen des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der Universität Passau 59, Passau 2012) 285–316. 39  Siehe dazu Jean-Luc Chassel, L’essor du sceau au XIe siècle. BEC 155 (1997) 221–234, hier 234. 40  Altmann dürfte sich länger in Mautern und Göttweig, aber auch in Zeiselmauer, seinem Sterbeort, aufgehalten haben; Wilhelm Felix Zedinek, Altmanns Lebenslauf, in: Der hl. Altmann, Bischof von Passau. Sein Leben und sein Werk. Festschrift zur 900-Jahr-Feier (St. Pölten 1965) 119–128, hier 124; Andreas Zajic, Stift Göttweig. Anmerkungen zu seiner mittelalterlichen Bau- und Ausstattungsgeschichte. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 120 (2009) 391–424, hier 392. Als weiterer Sitz kommt St. Pölten in Frage; siehe Herbert W. Wurster, Passau und St. Pölten im Hochmittelalter, in: St. Pölten im Mittelalter. Historische und archäologische Spurensuche. Referate der gleichnamigen Tagung am 29. Oktober 2009 in St. Pölten, hg. von Heidemarie Bachhofer (St. Pölten 2012) 43–78, hier 54f. 41  Über die Gründe können nur Vermutungen angestellt werden. Die Initiative zur Urkundenausstellung hätte in diesen Fällen auch wegen der Abhängigkeiten der zu einem guten Teil bischöflichen Eigenklöster und der geringen Verbreitung der privaten Siegelurkunde wohl nur vom Aussteller ausgehen können. Doch dürfte Altmann in Urkunden kein wichtiges Instrument der Bischofsherrschaft oder der Repräsentation gesehen haben. – Bei den in den Jahren nach den Stiftsgründungen vorgenommenen Schenkungen Altmanns (NÖUB 1 395–407 Nr. +32 mit S. 409; Fuchs, Göttweig [wie Anm. 4] 144–146 Nr. 1 [1072/91], 147–151 Nr. 4 [1072/91], 153f. Nr. 6 [1072/91], 154f. Nr. 7 [1072/91], 157f. Nr. 9 [1072/91], 225–227 Nr. 86 [1096–1108], 405f. Nr. 265 [1081/91]) wäre es denkbar, dass auch bereits die Empfänger Interesse an einer Rechtssicherung durch eine Siegelurkunde gehabt haben könnten. Die allgemeine Seltenheit der bischöflichen Siegelurkunden, die noch kaum Aussicht gehabt hätten, etwa bei den Adeligen Anerkennung zu finden, ließ aber noch keinen Bedarf entstehen. 35 36

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Ein grundlegender Wandel trat erst nach der Wende zum 12. Jahrhundert unter Bischof Ulrich ein. Dieser konnte sich zunächst wie sein Vorgänger nur im babenbergischen Teil der Diözese halten und erst nach 1104/05 über sein gesamtes Bistum und vor allem auch über Passau selbst verfügen42. Es wird für möglich gehalten, dass Bischof Ulrich bereits während seiner Teilnahme am Kriegszug König Heinrichs V. nach Preßburg im Jahre 1108 eine erste – nicht erhaltene – Siegelurkunde für Göttweig ausgestellt hat43. Dagegen spricht allerdings, dass noch 1109 sogar die Gründung des Stifts Seitenstetten und die Übertragung an Passau als Eigenkloster lediglich in einer Notitia festgehalten wurden44. Gesichert aber setzten Siegelurkunden in den Jahren 1110/11 ein, also mitten in der Amtsperiode Ulrichs und einige Zeit nach seiner Übersiedelung nach Passau45. Bemerkenswerterweise stammen die meisten Urkunden der ersten Jahre von einem einzigen Schreiber, auf den zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe gleichzeitig Hans Hirsch (1907)46, Oskar von Mitis (1908)47 und Lothar Gross (1911) gestoßen sind, der ihm die Sigle U(lrich) I zugewiesen hat48. Dem Notar U I sind Bischofsurkunden für die Pfarre Gramatstetten aus dem Jahre 111049, für das Stift Niedernburg50, die besiegelte Reinschrift und eine Zweitausfertigung einer Urkunde für St. Nikola51, das Konzept der Gründungsurkunde für das Stift St. Georgen aus dem Jahre 111252 und sogar zwei in Passau ausgestellte Diplome Kaiser Heinrichs V. für St. Nikola53 und den Passauer Bischof aus dem Jahre 111154 zuzuschreiben55. Eine Bischofsurkunde für das Stift St. Florian aus dem Jahre 1111 dagegen stammt von einem Empfängerschreiber, weist aber bischöfliches Dik42  Siehe auch Annette Zurstrassen, Die Passauer Bischöfe des 12. Jahrhunderts. Studien zu ihrer Klosterpolitik und zur Administration des Bistums (Vorarbeiten zu den Regesten der Passauer Bischöfe) (Passau 1989) 17–24. 43  NÖUB 2 79f. Nr. +24 (1108) mit Note ** und ebd. 88f. Erhalten hat sich lediglich eine gefälschte Urkunde, wenn auch der Sachverhalt über eine Zehentüberlassung durch den Bischof plausibel ist. Weil das Siegel der Fälschung abgefallen ist, wird die Frage nach dem Siegel von 1108 zusätzlich erschwert. Die Überlegung, dass nach diesem Siegel in Göttweig ein Typar hergestellt worden ist, das für Fälschungen Verwendung gefunden hat (ebd.), ist nur plausibel, falls Ulrich den auf den Fälschungen zu findenden Typartyp B bereits 1108 und damit parallel mit dem sonst vor 1111 nachweisbaren Typar A verwendet hätte; dazu Robert Steiner, Die Entwicklung der bayerischen Bischofssiegel von der Frühzeit bis zum Einsetzen des spitzovalen Throntyps 1 (QEBG N. F. 40, München 1998) 64–69; NÖUB 2 5 Nr. 13 mit Note *. 44  NÖUB 2 448f. Nr. 121. 45   Dies spricht dagegen, dass es erst des Umfelds Passaus bedurfte, um eine „Kanzlei“ aufzubauen. 46   Hans Hirsch, Studien über die Privilegien süddeutscher Klöster des 11. und 12. Jahrhunderts, in: MIÖG Ergbd. 7 (Innsbruck 1907) 471–612, hier 606f. 47   Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 92, 195f. 48  Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 526f. Siehe auch Fichtenau, Urkundenwesen 221f.; Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 496–499. 49   Die Regesten der Bischöfe von Passau 1: 731–1206, ed. Egon Boshof (Regesten zur bayerischen Geschichte 1, München 1992) 143 Nr. 479; Druck UBE 2 129 Nr. 92. 50   Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 157f. Nr. 521; Druck: Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 635 Nr. 1. 51  NÖUB 2 465–470 Nr. 131 (vor 1111 Juni 25); UBE 2 130–133 Nr. 93. Nicht ganz ausgeschlossen ist weiter, dass auch das Konzept dieser Urkunde aus der Feder des Notars stammt; Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 73f. 52   NÖUB 2 560–563 Nr. 161. 53   NÖUB 2 470–473 Nr. 132 bzw. DH.V.85 (http://www.mgh.de/ddhv/dhv_85.htm, eingesehen am 18. 6. 2014). 54   DH.V.84 (http://www.mgh.de/ddhv/dhv_84.htm, eingesehen am 18. 6. 2014). 55   Siehe eine ausführliche Diskussion bei Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 73f., mit der älteren Literatur.



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tat auf56, das vielleicht auf U I zurückgeht57. Insgesamt sind also dem Schreiber vermutlich sieben Dokumente von 1110 bis mindestens 1112 zuzuweisen. Erfolglos bleiben Bemühungen, U I mit einer Person zu identifizieren. Mitis hat angenommen, dass der Notar als Kanzleiangehöriger Heinrichs V. in dessen Gefolge während der Ungarnzüge 1108 und 1111 nach Passau gekommen und hier zurückgeblieben ist 58. Dies hat aber bereits Heinrich Fichtenau mit dem Hinweis, dass die Hofkanzlei damals nur aus einer Person bestanden hat, zurückgewiesen59. Franz-Reiner Erkens schließlich hat vermutet, dass der gesuchte Notar aus dem Passauer Stift St. Nikola, einem damals überregionalen Bildungszentrum, stammt60, zumal sich in einer – freilich erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts hergestellten – Fälschung auf Bischof Ulrich61 der Hinweis findet, die Chorherren würden als secretarii et cappellani des Bischofs eingesetzt. Allerdings wurden unter dem Begriff secretarius damals in der Regel keine „Sekretäre“ im heutigen Sinne, sondern allgemein „Berater“ verstanden62. Dennoch wäre eine Herkunft aus St. Nikola denkbar. U I könnte indes genauso gut dem engeren Mitarbeiterstab Ulrichs angehört haben, werden doch etwa 1111 in zwei Fälschungen zwei Schulmeister als Angehörige des Domklerus oder einige bischöfliche Kapläne genannt63. Es ist müßig zu überlegen, ob der Notar nicht durch einen längeren Aufenthalt in oder eine Herkunft aus anderen Gegenden das Privaturkundenwesen kennen gelernt haben könnte64. Wie auch immer: Die Passauer Siegelurkunden setzten also nicht allmählich, sondern geradezu „eruptiv“ ein65. Dies, dann das Wirken des Notars und das Faktum der Privilegierung einer Pfarre und eines eben gegründeten Stifts lassen darauf schließen, dass die   NÖUB 2 529–534 Nr. 151. Siehe Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 103, 113.   Roman Zehetmayer, Zur Gründungsurkunde des Stifts St. Georgen, in: Aufbrüche – Umbrüche – Kontinuitäten. 900 Jahre Stift Herzogenburg. Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium vom 22.–24. September 2011, hg. von Günter Katzler–Victoria Zimmerl-Panagl (Innsbruck 2013) 31–47. 58  Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 196: „Wir verdanken eben den unmittelbaren Anstoß zu dieser Bewegung keinem anderen Umstande, als der zweimaligen Anwesenheit des seit kurzem dem Markgrafen engverwandten Königs und seines Hofes im Herbst 1108 und 1111. […], es mag auch das Kanzleipersonal, oder wenigstens ein oder der andere Notar des Königs und seines Gefolges nicht über die ungarische Grenze gezogen und so im Lande zurückgeblieben sein.“; 242: „Ohne Mühe und mit voller Klarheit ist es dabei gelungen, nachzuweisen, wie diese ersten Anfänge unseres Urkundenwesens unter dem Vorbild der päpstlichen und unter unmittelbarem Einfluß der kaiserlichen Kanzlei entstanden sind.“ 59  Fichtenau, Urkundenwesen 222f.; siehe auch ebd. 243f. 60   Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 499–502. 61   UBE 2 109–116 Nr. 80. 62  Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 155. 63  NÖUB 2 534–538 Nr. +152, 504–506 Nr. +141: Huius rei testes sunt isti de clero maioris ęcclesię: Pabo, v v Odalricus scolasticus, Wernzo archipresbyter, Adololdus archipresbyter, Elbuuinus, Herbordus decanus, Odalricus plebanus, Woffo plebanus, Lanzo plebanus, Vokkho capellanus, Oppoldus et Immo capellani; die Zeugenliste dürfte authentisch sein; siehe Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 77. Weitere Überlegungen bei Zehetmayer, Di­ plomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 76f. 64  Fichtenau, Urkundenwesen 222f. – Die regelmäßige Verwendung von Siegelurkunden in anderen Bistümern wird den den Bischof begleitenden und deshalb die Diözese öfters verlassenden Geistlichen und anderen Passauer Klerikern nicht entgangen sein. 65  Auch in einigen anderen Diözesen wurden Siegelurkunden in den Jahrzehnten nach 1100 relativ rasch eingeführt (etwa Peter Johanek, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg [Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 21, Würzburg 1969] 29–41; Martin, Urkundenwesen [wie Anm. 28] 566), aber augenscheinlich nirgends derart schlagartig wie in Passau. Nur langsam wurde die Siegelurkunde in Regensburg eingeführt; Stephan Acht, Urkundenwesen und Kanzlei der Bischöfe von Regensburg vom Ende des 10. bis zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Traditionsurkunde und Siegelurkunde bis zur Entstehung einer bischöflichen Kanzlei (Diss. München 1998) 420f. 56 57

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Initiative für die Anfänge des Urkundenwesens nicht von den Empfängern, sondern vom Bischof bzw. von dessen Umfeld ausgegangen ist, wobei dem Notar dabei augenscheinlich eine gewisse Bedeutung zugekommen ist. Dafür spricht weiter, dass nach seinem von 1110 bis vermutlich 111266 nachweisbaren Wirken für einige Zeit kein mehrfach herangezogener bischöflicher Schreiber mehr feststellbar67 und die Urkundenproduktion unter Bischof Ulrich wieder zurückgegangen ist68. Zu welchem Zweck aber begannen die Passauer Bischöfe um 1100 erneut, Siegel­ urkunden auszustellen und weshalb konnte sich im Gegensatz zur Mitte des 11. Jahrhunderts nun ein kontinuierliches Urkundenwesen durchsetzen? Bei dieser Frage ist zu bedenken, dass gerade in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die private Siegelurkunde eine markantere Ausbreitung im Reich erfahren hat und etwa bei den rheinischen Metro­politen bereits beinahe zu einer Selbstverständlichkeit geworden war69. Aber auch bei einigen, wenn auch bei weitem nicht allen, Suffraganbistümern war um diese Zeit eine deutliche Zunahme zu bemerken70. Wenn man sich die nähere geographische Umgebung Passaus ansieht, so fallen zwar die Erzbischöfe von Salzburg aufgrund der Wirren des Investiturstreits als Urkundenaussteller in diesen Jahrzehnten und damit als unmittelbares Vorbild aus, immerhin aber haben im Gebiet der Erzdiözese die Herzoge von Kärnten bereits 110371 oder der Bischof

66   Die Urkunde für das Stift Niedernburg ist undatiert; Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 157f. Nr. 521; Druck: Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 635 Nr. 1. 67  Ebd. 526f. 68   Siehe die Auflistung ebd. 641f. 69  Siehe etwa Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 1: 313–1099, ed. Friedrich Wilhelm Oediger (Bonn 1954/1961); Manfred Groten, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250/La diplomatique épiscopale avant 1250. Referate zum VIII. Internationalen Kongreß für Diplomatik, Innsbruck, 27. September–3. Oktober 1993, hg. von Christoph Haidacher–Werner Köfler (Innsbruck 1995) 97–108, hier 100f.; Die ältesten Urkunden der Erzbischöfe von Mainz (888–1109), hg. von Irmgard Fees–Francesco Roberg in Zusammenarbeit mit Harald Winkel (Digitale Urkundenbilder aus dem Marburger Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden 3, Leipzig 2008); Mainzer Urkundenbuch 1: bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), ed. Manfred Stimming (Darmstadt 1932); Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die preussischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien 1: bis 1169, ed. Heinrich Beyer (Koblenz 1860); Zaisberger, Frühzeit (wie Anm. 27) 265f. und passim. 70   Siehe etwa den Überblick bei Zaisberger, Frühzeit (wie Anm. 27) passim, die für die Zeit um 1100 allerdings nur noch sporadische Beispiele bringt; die Literatur zum Urkundenwesen einzelner Diözesen ist mittlerweile beträchtlich, wenn es auch noch einige Lücken gibt. Erwähnt sei etwa Helmut Beumann, Beiträge zum Urkundenwesen der Bischöfe von Halberstadt 965–1241. AUF 16 (1938) 1–101, hier 36–48; Klemens Honselmann, Von der Carta zur Siegelurkunde. Beiträge zum Urkundenwesen im Bistum Paderborn (862– 1178) (Paderborner Studien 1, Paderborn 1939) 68–104; Johanek, Frühzeit (wie Anm. 65) 30–37; Gerhard Rösch, Studien zu Kanzlei und Urkundenwesen der Bischöfe von Straßburg. MIÖG 85 (1977) 285–314, hier 288–294; ergänzend Hans Heinrich Kaminsky, Das unbekannte Original einer Straßburger Bischofsurkunde. AfD 26 (1980) 126–134; Valerie Feist–Karl F. Helleiner, Das Urkundenwesen der Bischöfe von Augsburg von den Anfängen bis zur Mitte des XIII. Jahrhunderts (897–1248). AZ 37 (1928) 38–88, hier 44–55. 71  StUB 1 111f. Nr. 95 (echt ist die in den Noten angegebene Fassung); Monumenta historica ducatus Carinthiae. Geschichtliche Denkmäler des Herzogthumes Kärnten 3: Die Kärntner Geschichtsquellen 811–1202, ed. August Jaksch (1904) 208 Nr. 517. Siehe Othmar Wonisch, Die Urkunden Herzog Heinrichs III. von Kärnten vom 7. Jänner 1103 für St. Lambrecht, in: MÖIG Ergbd. 11 (Innsbruck 1929) 162–168; zum Siegel siehe Ludwig Freidinger, Herzog Heinrich III. von Kärnten, sein Siegel und dessen Fälschung. Carinthia I 192 (2002) 287–290. Siehe auch Fichtenau, Urkundenwesen 194f.; Zehetmayer, Anfänge (wie Anm. 10) 127–130.



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von Regensburg 1107 eine erste Siegelurkunde ausgestellt72, die ausgerechnet an ein Kloster der Diözese Passau, nämlich Mondsee, ging73. Für eine gewisse Vertrautheit mit dem besiegelten Privaturkundenwesen in der Diözese bereits bei der Einführung spricht etwa die erwähnte, regelkonforme Niederschrift einer Passauer Urkunde durch einen Konventualen St. Florians im Jahre 1111. Insgesamt gesehen lag der Beginn des Passauer Urkundenwesens im Zug der Zeit, und es ist davon auszugehen, dass die Nachahmung von Amtskollegen nicht zuletzt aus Prestigegründen ein wesentliches Motiv dafür war74. Fraglich ist, ob dieses Prestigedenken auch beim Layout eine Rolle gespielt hat, denn einige Stücke waren repräsentativ und feierlicher gestaltet75, andere aber durchaus schlicht76, ohne dass vorderhand ein System dahinter zu erkennen wäre. Auch bei den erwiesenermaßen auf bischöfliche Notare zurückgehenden Urkunden der ersten Jahrzehnte kam es zu unterschiedlich stilisierten Gestaltungen, sodass im Layout selbst nur bedingt ein Mittel der Herrschaftsrepräsentation zu sehen ist. Dies wäre zunächst ein Indiz dafür, dass auch bereits bei den frühen Siegelurkunden eine – gleich näher zu behandelnde – rechtliche Komponente eine Rolle spielte. Möglich wäre weiter, dass mitunter den Empfängern bei der Entscheidung über das Urkundenaussehen eine Mitsprache zugebilligt wurde77. Die Bischöfe verzichteten in den Intitulationes im Gegensatz zu den Markgrafen78 von Anfang an kaum auf die Gottesgnadenformel79, im Falle von Ausstellerdiktat noch seltener80. Dies trifft auch auf   Acht, Urkundenwesen (wie Anm. 65) 334.   NÖUB 2 349f. Nr. 82. – Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass 1106 eine erste Siegelurkunde eines Würzburger Bischofs an das in der Diözese Passau gelegene Stift Lambach gegangen ist; Johanek, Frühzeit (wie Anm. 65) 294. 74   Allgemein dazu: Fichtenau, Monarchische Propaganda 21–31; Peter Rück, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin 2, hg. von Anton von Euw– Peter Schreiner (Köln 1991) 311–333; Keller, Schriftgebrauch (wie Anm. 23) 14 und passim; Michael Lindner, War das Medium schon die Botschaft? Mediale Form, Inhalt und Funktion mittelalterlicher Herrscherurkunden, in: Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland, hg. von Tom Graber (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 12, Leipzig 2005) 29–57; Jan W. J. Burgers, Trust in Writing. Charters in the Twelth-Century County of Holland, in: Strategies of Writing. Studies on Text and Trust in the Middle Ages. Papers from „Trust in Writing in the Middle Ages“ (Utrecht, 28–29 November 2002), hg. von Petra Schulte et al. (Utrecht Studies in Medieval Literacy 13, Turnhout 2008) 111–131, hier 123. 75   UBE 2 129 Nr. 92; NÖUB 2 415–417 Nr. 112, 465–470 Nr. 131 (besiegelte Version), 560–563 Nr. 161. 76   NÖUB 2 506f. Nr. 142; Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 156 Nr. 518 (1114); NÖUB 2 101–106 Nr. 35. 77   Insgesamt gesehen wurden Bischofsurkunden bis etwa zur Mitte des 12. Jahrhunderts tendenziell häufiger als etwa die gleichzeitigen Markgrafenurkunden in einer feierlicheren Form gestaltet. Zu den Markgrafenurkunden siehe Zehetmayer, Anfänge (wie Anm. 10) 130–135. 78   Ebd. 144. 79   Siehe zu diesen allgemein Fichtenau, Zur Geschichte der Invokationen; Christian Lackner, Dei gratia comes. Zum Gebrauch der Gottesgnadenformel bei den Grafen von Görz, von Ortenburg und von Cilli und den Burggrafen von Maidburg, in: Päpste, Privilegien, Provinzen. Beiträge zur Kirchen-, Rechts- und Landesgeschichte. Festschrift für Werner Maleczek zum 65. Geburtstag, hg. von Johannes Giessauf et al. (MIÖG Ergbd. 55, Wien–München 2010) 213–228. 80  Siehe Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 635 Nr. 1; NÖUB 2 465–470 Nr. 131, 560–563 Nr. 161, 506f. Nr. 142 (1120/21), 415–417 Nr. 112, 529–534 Nr. 151 (Empfängerhand), 546f. Nr. 156 (Empfängerhand); Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 178 Nr. 581 (1122/38); NÖUB 2 101–106 Nr. 35. – Keine Gottesgnadenformel findet sich bei UBE 2 129 Nr. 92 (geschrieben von U I); freilich ist die Urkunde objektiv gehalten; Boshof, Regesten 1 164 Nr. 538, 156 Nr. 518. 72 73

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die Siegelumschriften zu81 und wäre ein Indiz, dass dieser Aspekt den Bischöfen besonders wichtig war. Hinweise darauf, dass mit den Siegeln nicht nur Herrschaftsrepräsentation ausgeübt werden sollte82, sondern durchaus auch eine Erhöhung der Rechtssicherheit angestrebt wurde, bieten regelmäßig entsprechende Formulierungen der Corroborationes83. In diese Richtung weisen auch die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts vorhandenen Arengen, wonach die Niederschrift vor dem Vergessen schütze84. Eine andere Frage ist indes, ob mit dem Siegel in der Rechtspraxis bereits damals ein entscheidender Vorteil erlangt werden konnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass besiegelte Privaturkunden vor allem für den heimischen Adel85, aber vermutlich auch für den Großteil der Landpfarrer oder des niederen Klerus etwas völlig Ungewohntes waren. Allerdings ist auch zu bedenken, dass Siegel als lose, etwa als Ring getragene Symbole für die Bischofsautorität bekannt waren86. Die Wirkung der Siegelurkunde reichte deshalb damals zumindest soweit wie die Autorität der Siegelführer87. Ein etwas mächtigerer Adeliger wird sich in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts alleine vom Siegel an einer Urkunde freilich kaum beeindrucken haben lassen. Aber auch die geistlichen Empfänger von Siegelurkunden haben noch lange nicht alleine auf das Siegel vertraut, sondern bekanntlich auf die Anführung von Zeugen nicht 81  Siehe Steiner, Entwicklung (wie Anm. 43) 66. Bei den Regensburger Bischöfen (ebd. 14) oder bei den Salzburger Erzbischöfen (Martin, Urkundenwesen [wie Anm. 28] 664) war dies damals nicht der Fall. 82  Siehe zu diesem Aspekt etwa Diederich, Sancta Colonia (wie Anm. 27) passim; Brigitte BedosRezak, Medieval Seals and the Structure of Chivalric Society, in: The Study of Chivalry. Resources and Approaches, hg. von Howell Chickering–Thomas H. Seiler (Kalamazoo 1988) 313–372; oder Wilfried Schöntag, Das Reitersiegel als Rechtssymbol und Darstellung ritterlichen Selbstverständnisses. Fahnenlanze, Banner und Schwert auf Reitersiegeln des 12. und 13. Jahrhunderts vor allem südwestdeutscher Adelsfamilien, in: Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, hg. von Konrad Krimm–Herwig John (Sigmaringen 1997) 79–124; Rainer Leng, Bleibullen an deutschen Bischofsurkunden des 11. Jahrhunderts. AfD 56 (2010) 273–316, hier 314. 83  NÖUB 2 465–470 Nr. 131 (1111) für St. Nikola: Hęc inquam omnia et quęcunque etiam in nominata bona idem monasterium vel nunc liberalitate predictarum personarum iure possidet vel in antea iuste et canonice Deo favente poterit adipisci, nostri precepti tuitione et sigilli inpressione firmamus et corroboramus …; 506f. Nr. 142 (1120/21): Et ut hęc charta illibata et inconvulsa permaneat et persistat, sigilli nostri impressione corroboramus. 529–534 Nr. 151 (1111): Et ut hęc ad futura quoque tempora indubia perveniant, presentem cartam nostrę imaginis inpressione sigillatam huius confirmationis vadem testemque relinquimus; 560–563 Nr. 161 (St. Georgen; 1112); Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 635 Nr. 1; Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 156 Nr. 518 etc. – Eine Corroboratio fehlt bei UBE 2 129 Nr. 92 (1110). – Siehe allgemein zur Aussagekraft der Corroboratio etwa Andrea Stieldorf, Die Magie der Urkunden. AfD 55 (2009) 1–32, hier 30. 84  NÖUB 2 568–570 Nr. 167 (1151): Contra oblivionis incursum salubriter labili hominum memorię consulendo scripturę, quę rerum index est absentium, suffragandum monimentis veneranda et prudens patrum censuit antiquitas; 795f. Nr. 276 (1154): Quia facile a memoria hominum labitur, quicquid apud modernos sine discretione agitur, placuit antiquitus, ut ea, que ad decorem domus Dei spectant, testimonio litterarum committantur, ne a supervenientibus oblivioni, tanquam si nunquam facta fuissent, tradantur. Dieser Aspekt wird nur kurz gestreift bei Käthe Sonnleitner, Die Darstellung des bischöflichen Selbstverständnisses in den Urkunden des Mittelalters. Am Beispiel des Erzbistums Salzburg und der Bistümer Passau und Gurk bis 1250. AfD 37 (1991) 155–305, hier 231. 85   Siehe zu diesem Problem Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 169. 86   Siehe dazu etwa Robert-Henri Bautier, Apparition, diffusion et evolution typologique du sceau épiscopal au moyen age, in: Diplomatik der Bischofsurkunde (wie Anm. 69) 225–242, hier 225f.; Chassel, L’essor (wie Anm. 39) 227f.; Manfred Groten, Vom Bild zum Zeichen. Die Entstehung korporativer Siegel im Kontext der gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklung des Hochmittelalters, in: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter, hg. von Markus Späth (Köln–Weimar–Wien 2009) 65–88, hier 65; Diederich, Sancta Colonia (wie Anm. 29) 7f. 87   Siehe Zehetmayer, Funktion (wie Anm. 25) 527–529.



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verzichtet88, auf deren Bedeutung für die Rechtssicherung immer wieder ausdrücklich auch in den Corroborationes verwiesen wird89. Diese Zweifel an der alleinigen Wirkung von Siegeln treffen wohl auch auf die Bischöfe selbst zu, die deshalb zusätzlich in beinahe allen Urkunden der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und darüber hinaus Androhungen des Bischofsbanns oder zumindest einer geistlichen Pön90 und so eine psychologisch wohl nicht zu unterschätzende weitere Sicherung eingefügt haben91.

Zur frühen Ausbreitung des Siegelurkundenwesens Auf welche Weise und in welchem Zeitraum aber konnte sich die geistliche Siegelurkunde in der Mark ausbreiten? Um in dieser Frage weiterzukommen, sei zunächst die Situation in einigen Klöstern separat betrachtet. Erwähnt wurde bereits, dass im Jahre 1111, also zeitgleich mit dem Beginn des Passauer Urkundenwesens, ein Chorherr aus St. Florian92 eine Bischofsurkunde für sein Stift reingeschrieben hat93. Der Schreiber verwendete eine gefällige diplomatische Minuskel samt Elongata und war sichtlich geübt 94. Dieser Chorherr hat vier Jahre später auch eine Siegelurkunde Markgraf Leopolds für sein Stift mundiert95, bei der es sich um die erste Babenbergerurkunde überhaupt handelt. Der Inhalt, das Faktum der Empfängerausfertigung, die ausdrückliche Bitte des Propstes um den Gunsterweis und die darnach zu bemerkende längerfristige Beschränkung der 88  Siehe Herwig Weigl, Materialien zur Geschichte des rittermäßigen Adels im südwestlichen Österreich unter der Enns im 13. und 14. Jahrhundert (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 26, Wien 1991) 203, 218; Härtel, Schrift und Gericht (wie Anm. 16) 386f.; Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 268f. 89  Etwa NÖUB 2 175f. Nr. 52 (1130/36): et tam delegationem quam emptionem rata testium infrascriptorum astipulatione corroboravit; 183–185 Nr. 58 (1145): Et ne actio ista vel temporis antiquitate vel ingenio vel ulla quorumlibet importunitate labefactata dispereat, precepimus, ut hec pagina de banno nostro et testibus super huius negocii tenorem conscripta, qui sunt quique futuri sunt, Christi fidelibus certissimum memoriale per inspectam sigilli nostri faciem pretendat; 585–587 Nr. 179 (1149/56): In futuris autem temporibus hęc inconvulsa ut permaneant, sit testis cum omnibus, qui aderant, presens pagina sigillo nostro bullata; 387–390 Nr. 105 (1150): Testes huius negotii, quoniam non omnes pagina caperet, ex paucis plurimos intelligere nostra debebit posteritas, quibus nec tunc necesse est, cum vel fama rem divulgante et intra et extra provinciam ore et noticia omnium corroborata est veritas; 629–632 Nr. 207 (1150): His ita peractis testes locum tempus eiusdem peractionis in memoriam presentium et futurorum in hac pagina sub nostro sigillo pariter et confirmationis banno contra omnium violentorum fraudes et nequiciam Deo omnium bonorum auctore ac defensore sicut infra evidens est annotari et conmuniri decrevimus; 610–613 Nr. 197: Sed ut hec pactio rata sit nec infringi valeat, presentem adtestacionem sigilli nostri impressione roboravimus, simul adnotantes qui interfuerunt testes. Siehe auch Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 56–59. 90  Etwa NÖUB 2 465–470 Nr. 131, 529–534 Nr. 151, 560–563 Nr. 161; Gross, Urkundenwesen (wie Anm. 29) 635 Nr. 1; NÖUB 2 543–545 Nr. 155 (1122): Hoc igitur, ut inconvulsum ratumque permaneat, sigyllo nostro subsignamus, banno confirmamus; 549–552 Nr. 158, 738f. Nr. 242 etc. 91   Zur Wirkung des bischöflichen Bannfluchs Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 27) 101f.; Joachim Studtmann, Die Pönformel der mittelalterlichen Urkunden. AUF 12 (1932) 251–374, hier 331f. 92  St. Florian lag zwar nicht in der Babenbergermark, aber unmittelbar an der Grenze und stand in einem engen Kontakt zur Markgrafenfamilie, sodass die Einbeziehung des Stifts in die Untersuchung berechtigt sein mag. 93  NÖUB 2 529–534 Nr. 151. Der Fälschungsverdacht Heinrich Kollers (Der Babenberger Markgraf Leopold III. und Baiern, in: Grundwissenschaften und Geschichte. Festschrift für Peter Acht, hg. von Peter Herde–Waldemar Schlögl [Münchener Historische Studien. Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 15, München 1976] 86–94, hier 86–91) wurde mittlerweile widerlegt; siehe Erkens, Bischofsurkunden (wie Anm. 29) 497, und bereits Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 103. 94  Siehe hier wie auch sonst die Abbildungen in www.monasterium.net. 95  NÖUB 2 541–543 Nr. 154; siehe Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 113.

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Babenberger auf nur mündlich vor Zeugen geschlossene Verträge legen nahe, dass die Initiative für die Ausstellung von St. Florian ausgegangen ist. Es ist sogar zu vermuten, dass das Stift bei seinem Wunsch nach einer Markgrafenurkunde und damit aber auch der Beginn des landesfürstlichen Urkundenwesens von den nur wenige Jahre zuvor einsetzenden bischöflichen Siegelurkunden beeinflusst war96. Vielleicht geht selbst bereits die Bischofsurkunde von 1111 auf eine Bitte der Chorherren zurück, zumal diese vom Inhalt profitiert und den Schreiber gestellt haben97. St. Florian muss bis 1121 zwei weitere Bischofsurkunden bekommen haben, die aber vermutlich nach 1200 im Zuge der Herstellung von Fälschungen vernichtet worden sind98. Dazu kommen Bischofsurkunden aus dem Jahre 1122 über einen Kirchentausch und von 1125, in der mehrere Adelsschenkungen zusammengefasst und durch das bischöfliche Siegel besichert wurden99. Als ein weiteres Beispiel sei Stift Göttweig herangezogen, das bereits 1098 und 1104 Papsturkunden100 und 1108 eine Herrscherurkunde erwirken konnte101, die auf einer Synode in Passau verlesen wurde und deren Rechtskraft bei der Gelegenheit durch den bischöflichen Bann erhöht werden sollte102. Bischofsurkunden blieben aber zunächst bis auf die erwähnte mögliche Ausnahme von 1108 aus103, und die gar nicht wenigen Rechtsgeschäfte zwischen Göttweig und dem Diözesan wurden anfänglich ausschließlich in Notitien festgehalten104. Gesichert erhielt Göttweig erste Bischofsurkunden durch den neuen Bischof Reginmar, der in einem 1121/25 ausgestellten Stück die von seinen Vorgängern überlassenen Schenkungen bestätigt und diese um Weingartenzehente in der Pfarre Krems vermehrt105 sowie 1125/30 in einem weiteren Dokument den Besitz aller Pfarren und Kirchen bekräftigt hat. Bei dieser Urkunde war vielleicht ein Empfängerschreiber am Werk106. Bemerkenswerterweise bereits etwa Mitte der dreißiger Jahre des 12. Jahrhun  Siehe dazu Zehetmayer, Anfänge (wie Anm. 10) 131f.   In diesem Fall wäre die oben aufgestellte Behauptung, dass die Anfänge des Passauer Urkundenwesens alleine auf die Initiative des Bischofs selbst zurückgehen, ein wenig zu relativieren. 98  Steiner, Entwicklung (wie Anm. 43) 68; siehe Anton Julius Walter, Die echten und gefälschten Privilegien des Stifts St. Florian und ihre Stellung in der Verfassungsgeschichte. AZ N. F. 41 (1932) 56–105, passim. 99  NÖUB 2 546f. Nr. 156 (1122), 549–552 Nr. 158 (1125). 100   NÖUB 2 92–94 Nr. 31 (1098 IV 3), 94f. Nr. 32 (1104 IV 24); siehe Albert Brackmann, Die Kurie und die Salzburger Kirchenprovinz (Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia 1, Berlin 1912) 25; Zurstrassen, Bischöfe (wie Anm. 42) 78f. 101   NÖUB 2 75–79 Nr. 23. 102   Fuchs, Göttweig (wie Anm. 4) Nr. 264; NÖUB 2 131 und bereits Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 13; Johanek, Funktion (wie Anm. 11) 133. 103  Siehe oben S. 258. 104  Fuchs, Göttweig (wie Anm. 4) 103–105 Nr. 136 (1108/14), 273 Nr. 137 (1108–1114), 303–305 Nr. 167 (vor 1121), 349f. Nr. 210 (1122/30), 339f. Nr. 198 (1122/25), Nr. 225 (1120/30); siehe aber auch NÖUB 2 565 Nr. 164 (1117/21), 603f. Nr. 191 (1117/21), 604f. Nr. 192 (1117/21). 105  NÖUB 2 96–98 Nr. 33 (1121/25). 106  NÖUB 2 101–106 Nr. 35; Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 187. – Besiegelte Bischofsurkunden wurden für Göttweig augenscheinlich also spätestens seit den 1120er Jahren in einem größeren Ausmaß erstrebenswert. Der Grund dafür kann aber kaum in einer besonderen Wertschätzung Bischof Reginmars liegen, wird dieser doch in der in Göttweig entstandenen Vita Altmanni negativ beurteilt; Vita Altmanni episcopi Pataviensis, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 12 (Hannover 1856) 226–243, hier 240. Siehe zum Verhältnis zwischen Bischof und Stift auch Hans Hirsch, Die Vita Altmanni episcopi Pataviensis. JbLKNÖ N. F. 15/16 (1916/17) 349–368, hier 364f.; Zurstrassen, Bischöfe (wie Anm. 42) 39f.; Christoph Sonnlechner, Landschaft und Tradition. Aspekte einer Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. von Christoph Egger– Herwig Weigl (MIÖG Ergbd. 35, Wien 2000) 123–223, hier 148. 96 97



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derts haben Göttweiger Mönche einige Fälschungen von Bischofsurkunden hergestellt107, um bei konkreten Anlässen die eigene Rechtsposition zu verbessern108. Ähnlich verlief die Entwicklung im Stift Melk, das 1120 eine erste Bischofsurkunde empfangen hat109. Nur wenige Jahre später bereits, um 1125, wurden mit einigem Aufwand mehrere Bischofsurkunden gefälscht, für die gleich zwei Typare hergestellt worden waren. In Klosterneuburg lassen sich Siegelurkunden erst nach der Umwandlung in ein Chorherrenstift 1133 nachweisen110. Dass die Chorherren, wie bislang angenommen, bereits 1141 eine Babenbergerurkunde zur Besitzabsicherung gefälscht haben 111, dürfte indes nicht zutreffen, denn das entsprechende Spurium ist wahrscheinlich erst um 1160 hergestellt worden112. Von den im Urkundenwesen generell fortschrittlichen Zisterziensern 113, die etwa in der Steiermark an den Anfängen des landesfürstlichen Siegelurkundenwesens maßgeblich beteiligt waren114, sei das 1133 gegründete Kloster Heiligenkreuz herausgegriffen. Die Überlassung der Gründungsdotation durch den Stifter, Markgraf Leopold III., wurde augenscheinlich noch nicht in einem besiegelten Dokument festgehalten115. Freilich hat Heiligenkreuz eine erste Bischofsurkunde bereits 1136, also nur drei Jahre nach der Gründung, empfangen116. Die Niederschrift geht auf einen Schreiber des Stifts117, das Diktat auf einen bischöflichen Notar zurück118. 1140 hat Heiligenkreuz eine Papst-119 und etwa zehn Jahre später eine erste Babenbergerurkunde120 erhalten. Diese Beispiele weisen auf eine relativ rasche Akzeptanz der Siegelurkunde bei den heimischen Stiften, doch finden sich auch in eine gegenteilige Richtung deutende Hinweise. Könnten das Fehlen von Siegelurkunden der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Augustinerchorherrenstift St. Pölten noch durch eine „Vernichtungsaktion“ im 13. Jahrhundert121 und der Verlust aller Stücke bis auf eine Ausnahme im Stift Ardagger durch Kriegseinwirkungen zu erklären sein122, so ist Ähnliches bei Seitenstetten nicht möglich.   NÖUB 2 107–110 Nr. 36, 110–114 Nr. 37, 114–116 Nr. 38; dazu ebd. 133f.   NÖUB 2 133f. 109   NÖUB 2 415–417 Nr. 112. Siehe ebd. 444f.; Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 27) 115f.; Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 207f., 213f. 110   Zuerst nachweisbar sind die Papsturkunden NÖUB 2 676f. Nr. 221 (1135) und 677–679 Nr. 222 (1137); die erste Bischofsurkunde ist aus dem Jahr 1139 erhalten, doch wird darin ein älteres „Privileg“ Bischof Reginmars (1121–1138) erwähnt (ebd. 693–695 Nr. 227). 111   NÖUB 2 685–688 Nr. 225; Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 258. 112   NÖUB 2 685–688 Nr. 225 Note * und ebd. 704f. 113  Siehe allgemein etwa Elke Goez, Pragmatische Schriftlichkeit und Archivpflege der Zisterzienser. Ordenszentralismus und regionale Vielfalt, namentlich in Franken und Altbayern (1098–1525) (Vita regularis 17, Münster–Hamburg–London 2003) 96f.; Johanek, Frühzeit (wie Anm. 65) 117–132. 114   Zehetmayer, Anfänge (wie Anm. 10) 137–140. 115   NÖUB 2 708–710 Nr. +231. Siehe zu dieser Fälschung und der Vorlage Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 270–284, vor allem ebd. 281 zu einer zugrunde liegenden Traditionsnotiz; zur Fälschung zudem Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 80–82. 116  NÖUB 2 710–712 Nr. 232. 117   Katharina Kaska, Untersuchungen zum mittelalterlichen Buch- und Bibliothekswesen im Zisterzienserstift Heiligenkreuz (MA-Arbeit Wien 2014) 24. 118  Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 81. 119  NÖUB 2 712–715 Nr. 233. 120  NÖUB 2 715–717 Nr. 234 (1148/56). 121  Siehe NÖUB 1 375. 122   NÖUB 2 610–613 Nr. 197; siehe Benedikt Wagner, Archiv und Bibliothek des Stiftes Ardagger, in: Kollegiatstift Ardagger. Beiträge zu Geschichte und Kunstgeschichte, hg. von Thomas Aigner (Beiträge zur Kirchengeschichte Niederösterreichs 3, St. Pölten 1999) 16–76, hier 30f. 107 108

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Seitenstetten gab zwar vor, vier Siegelurkunden aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erhalten zu haben123, die sich aber nunmehr alle als Fälschung vom Ende des Säkulums erwiesen haben124. Vermutungen, dass zum Teil echte Siegelurkunden als Vorlagen vorhanden waren125, haben sich nicht bestätigt, zumal auch alle vier Siegel unecht126 und die Formulierungen zum Teil Urkunden des Stifts Admont entnommen sind127. Dorthin aber wäre ein Seitenstettener Konventuale kaum gereist, wenn ihm zu Hause echte Stücke zur Verfügung gestanden wären128. Bis mindestens etwa 1170 dürfte demnach Seitenstetten keinen Wert auf Siegelurkunden gelegt und sich mit einer auf Offenkundigkeit beruhenden Rechtskontinuität begnügt haben, die weiter durch die Verjährungsfristen gesichert schien129. Das Stift St. Georgen erhielt zwar anlässlich der Gründung eine besiegelte Bischofs­ urkunde130, Grundstücksgeschäfte der folgenden Jahrzehnte mit den Passauer und Freisinger Bischöfen wurden indes alleine in Notitien festgehalten131. Erlakloster hat wie erwähnt vielleicht bereits bei seiner Gründung Mitte des 11. Jahrhunderts eine erste Siegelurkunde erhalten, bis zum Empfang der nächsten verging aber ein ganzes Jahrhundert132. Kloster Altenburg hat zwar bei seiner Errichtung 1144133, dann aber erst wieder etwa sechs Jahrzehnte später eine Bischofsurkunde empfangen134. Die erste Bischofsurkunde für das um 1150 gegründete Prämonstratenserstift Geras135 datiert in das Jahr 1188136. Der Zeitpunkt des Empfangs der ersten besiegelten Bischofsurkunde und die Zahl der erhaltenen Stücke divergieren demnach bei den einzelnen Stiften beträchtlich. Dies lässt darauf schließen, dass in den Jahrzehnten nach der vom Bischof initiierten ersten „Welle“   NÖUB 2 450–458 Nr. 122–5.   Dazu ausführlich Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 59–68. Die ältere Literatur: Heinrich Koller, Die Gründungsurkunden für Seitenstetten. Zugleich ein Beitrag zu den Anfängen des Herzogtums Österreich. AfD 16 (1970) 51–141; und Benedikt Wagner, Die Babenberger-Urkunden im Stift Seitenstetten und ihre lokalhistorische Bedeutung, in: Österreichs Wiege. Der Amstettener Raum. Beiträge zur Babenbergerzeit im politischen Bezirk Amstetten und der Statutarstadt Waidhofen an der Ybbs (Amstetten– Waidhofen/Ybbs 1976) 121–152. 125   Siehe etwa Wagner, Babenberger-Urkunden (wie Anm. 124) 134f. 126  Steiner, Entwicklung (wie Anm. 43) 71f. Nr. 6, 80f. Nr. 4, 89 Nr. 54. 127  Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 60f., 66f. 128  Die Rechtsinhalte dürften aber in den meisten Fällen durch Traditionsnotizen abgedeckt gewesen sein. Dazu Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen (wie Anm. 4) 67f. 129   Zu den Verjährungsfristen im österreichischen Raum siehe Rainer Murauer, Die geistliche Gerichtsbarkeit im Salzburger Eigenbistum Gurk (VIÖG 52, Wien 2009) 107–110; Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 83f. 130  NÖUB 2 560–563 Nr. 161; siehe Günter Katzler, Die Urkunden des Augustiner-Chorherrenstifts St. Georgen an der Traisen. Von seinen Anfängen bis 1201. Edition und Kommentar (Magisterarbeit, Wien 2009) 28–32; Zehetmayer, Gründungsurkunde (wie Anm. 57). 131  NÖUB 2 565 Nr. 164, 604f. Nr. 192. Eine Siegelurkunde wurde wieder 1151 bei einem Tausch mit Freising ausgestellt; ebd. 568–570 Nr. 167. Siehe auch ebd. 590f. Nr. 106 mit Note *. 132  NÖUB 1 300–303 Nr. 221. 133   NÖUB 2 743–746 Nr. 251. 134  BUB 1 228f. Nr. 170 (1210). 135  Folker Reichert, Landesherrschaft, Adel und Vogtei. Zur Vorgeschichte des spätmittelalterlichen Ständestaates im Herzogtum Österreich (Beih. zum AfK 23, Köln–Wien 1985) 151, mit der älteren Literatur; Maximilian Weltin, Die Grafschaft Pernegg-Drosendorf. Das Waldviertel 44 (1995) 1–22, wieder abgedruckt in: ders., Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, hg. von Folker Reichert–Winfried Stelzer (MIÖG Ergbd. 49, Wien–München 2006) 487–508, hier 499. 136  Boshof, Regesten 1 (wie Anm. 49) 258 Nr. 931. 123 124



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an Siegelurkunden nicht zuletzt der Empfängerwunsch wichtig für die Ausstellung war. Eine Rolle dabei hat auch die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Stifte gespielt, denn finanziell potentere haben früher und öfter Siegelurkunden erbeten. Für ein frühes Erkennen ihrer Vorteile durch einige Stifte sprechen besonders die erwähnten ersten Fälschungen137 in Göttweig und Melk bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren. Bemerkenswerterweise waren gerade diese frühen Spuria vor allem feststellender Natur138, bei denen es weniger um die Erwirkung eines neuen Rechtszustandes in doloser Absicht als vielmehr um Absicherung des Bestehenden ging, wofür die anderen Sicherungsmechanismen augenscheinlich als nicht mehr ausreichend angesehen wurden139. St. Florian hat nicht nur rasch auf die Einführung der Siegelurkunden reagiert, sondern auch versucht, solche von Autoritäten zu erhalten, die bis dahin noch gar keine eigenen ausgestellt haben. Das mancherorts vorhandene steigende Vertrauen in die Rechtskraft der bischöflichen Siegel seit dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts zeigen auch die seit damals nachweisbaren Bestätigungen von Rechtsgeschäften auf Basis der Vorlage älterer Bischofsurkunden in dieser Angelegenheit. So hat etwa im Jahre 1139 der Klosterneuburger Propst Hartmann dem Passauer Bischof Reginbert Urkunden von dessen Vorgänger und von Papst Innocenz II. vorgelegt und daraufhin eine Bestätigung erhalten140. Auch bei Ge137   Siehe auch die Bemerkungen bei Fichtenau, Urkundenwesen 247; Johanek, Funktion (wie Anm. 11) 155. 138   Siehe zum Begriff Carlrichard Brühl, Der ehrbare Fälscher. Zu den Fälschungen des Klosters S. Pietro in Ciel d’Oro zu Pavia. DA 35 (1979) 209–218, hier 218. 139  Siehe auch den bereits 1138/39 gefälschten Stiftbrief St. Nikolas; NÖUB 1 395–407 Nr. +32 mit Kommentar 408f.; Egon Boshof, Gefälschte „Stiftbriefe“ des 11./12. Jahrhunderts aus bayerisch-österreichischen Klöstern, in: Fälschungen im Mittelalter 1 (MGH Schriften 33/1, Hannover 1988) 519–550, hier 526f. 140   NÖUB 2 693–695 Nr. 227 (1139): … commendandum, quod frater Hartmannus Niwenburgensis ęcclesię primus et venerabilis prepositus ad conservandam eiusdem ęcclesię religionem et iusticiam privilegia quędam domni Innocentii pape et antecessoris nostri Reginmari episcopi legenda nobis obtulit, oblata ut ea nostris quoque confirmarentur litteris, communi fratrum peticione rogavit. … et insuper omnem decimationem parrochię Niwenburch concambio stabilitam et terciam partem decimarum ad Adalahte, cuius concambium est mansus unus in villa quę dicitur Buckindorf et vinea apud Chremese, sicut ab antecessore nostro Regenmaro episcopo data est, nos quoque datam et numquam inde auferendam esse decernimus. Die Urkunde Reginmars von Passau ist nicht erhalten, die Bezeichnung als privilegium weist wohl auf eine Siegelurkunde. – 1139 hat Propst Adalbert von St. Nikola dem Bischof eine gefälschte Urkunde Altmanns und eine Bischof Ulrichs vorgelegt und um Bestätigung gebeten, was auch durch eine Siegelurkunde gewährt wurde; ebd. 476f. Nr. 136: Reginbertus Dei gratia Patauiensis episcopus salutem in Christo Christi fidelibus. Pastoralis curę officium est per sollicitudinem pastorum lupos arceri a stabulis, raptores ęcclesiarum a rebus ęcclesiasticis. Cuius rei necessitate frater Adalbertus, ęcclesię sancti Nycolai venerabilis prev positus, privilegia eiusdem cęnobii ab Altmanno et Odalrico Patauiensis ęcclesię venerabilibus episcopis instituta nobis obtulit, eaque per nos renovari contra novas ęcclesiarum calumnias communi fratrum peticione rogavit. Quorum peticionibus assentientes, quicquid illi et piissima imperatrix Agnes cęterique fideles predicto cęnobio contulerunt vel quę adhuc conferenda sunt, nos quoque collata esse concedimus, quicquid illi apostolico et suo banno confirmaverunt, nos quoque apostolico et nostro banno confirmamus. Quisquis ergo contra statuta nostra venire temptaverit, quisquis predictos fratres per violentiam inquietare, bona ipsorum auferre vel minuere ausus fuerit, sciat se vinculo anathematis alligatum et cum tenebrarum principe nisi resipiscat ęternis tenebris esse mancipandum. Et ut sententia nostra nota rata et inconvulsa permaneat, et istam paginam conscribi et sigillo nostro fecimus assignari. Data est Patauię anno incarnationis dominicę MCXXXVIIII., indictione II., III. kal. iunii, apostolicę sedi Innocentio presidente, regnante rege Chnrado, duce Liupaldo. Siehe weiters ebd. 477–482 Nr. 137 (1144): Huius rei gratia frater Adelbertus, s(ancti) v Nycolai venerabilis prepositus, ęcclesię suę privilegia ab Altmanno et Odalrico Patauiensis ęcclesię venerabilibus episcopis instituta legenda nobis obtulit, eaque nostra auctoritate contra novas ęcclesiarum calumnias renovari communi fratrum peticione postulavit. Siehe auch die Urkunde Bischof Konrads von Passau für Mattsee; ebd. 192–194 Nr. 512 (1150): Inspectis predecessorum nostrorum privilegiis approbatisque eorum pluribus, quae ibi continentur, circa monasteria et homines Deo devotos beneficiis, dignum et utile duximus et illorum religiosas traditiones confirmare et

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Roman Zehetmayer

richtsprozessen oder bei anderswo bereinigten Streitigkeiten spielten, wenn auch zunächst sehr vereinzelt, ab etwa dieser Zeit besiegelte Privaturkunden als Beweismittel eine Rolle, und zwar zunächst alleine bei Konflikten zwischen Geistlichen und in Verbindung mit Zeugenaussagen141. Etwa um die Jahrhundertmitte bezichtigte Gerhoh von Reichersberg erstmals in unseren Breiten eine Urkunde ausdrücklich als unrechtmäßig zustande gekommen und wollte deswegen ein Rechtsgeschäft für ungültig erklären lassen142. Es hat also den Anschein, als ob zumindest Teile der höheren Geistlichkeit begannen, Siegel­ urkunden tatsächlich eine markante Verbesserung der Rechtssicherheit zuzutrauen. Vor allem bei den Adeligen aber ist noch längere Zeit eine Skepsis nicht zu übersehen.

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Selbst jene Stifte, die sich der Siegelurkunde bereits in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts aufgeschlossen zeigten, stellten in diesem Zeitraum selbst noch keine aus. So dürften Heiligenkreuz zuerst 1180143 und 1207144 oder Göttweig zuerst 1188/1200 eigene Siegel an Urkunden befestigt haben145. Von St. Pölten ist ein erstes Siegel 1195146, von St. Georgen 1201147, von Klosterneuburg 1206148 oder von Melk 1208149 bekannt. ex nobis ipsis Deo cooperante simile aliquid efficientibus in processu temporis nostros quoque successores bonis exemplis ita per ordinem derivatis ad meliora provocare. 141  Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 51, 220. 142   NÖUB 2 762–764 Nr. 263 (1144/47): C. Salzburgensis ecclesię Dei gratia archiepiscopus dilectis in Christo Richerispergensis cenobii fratribus orationem et perpetuam in Christo dilectionem. De contrarietate privilegiorum unde vos, ut audivimus, monachi Formbacenses molestant, quasi de bonis vobis collatis ipsi privilegium privilegio vestro contrarium a nobis habeant, nichil solliciti sitis, sed in omni oratione et obsecratione cum gratiarum actione peticiones vestre innotescant apud Deum orantibus vobis pro nobis, dum utimini elemosinis ecclesię Salzburgensis, cui devincti estis non solum per vinculum filialis dilectionis, verum etiam per iusticiam fundationis, quia fundata est ecclesia vestra in possessione Salzburgensis ecclesię. Fatemur quidem predictos monachos optinuisse a nobis privilegium per anticipationes concambio quodam destinato et nondum in usibus fructuariis conpensato, sed illud privilegium non est firmatum per clericorum nostrorum subscriptiones vel conlaudationem, quin potius cassatum est per eorum contradictiones et ministerialium nostrorum publicam reclamationem. Non igitur timeatis privilegium, quod non est canonice firmatum immo quod canonibus est contrarium, prohibente sanctorum patrum auctoritate perpetuas alienationes decimarum fieri, de quibus alienandis contendunt predicti monachi, quos non consentimus, plus habere de iuris nostri utilitate, nisi quantum attinet ad iustam et piam reconpensationem predii, quod ecclesie nostre contulerunt quodque vos ex parte habetis per munificentiam nostram; es handelt sich um ein von Gerhoh von Reichersberg verfasstes Konzept einer Urkunde des Salzburger Erzbischofs; siehe Fichtenau, Gerhoh von Reichersberg 11f.; Härtel, Schrift und Gericht (wie Anm. 16) 390. Siehe zu Gerhohs Einschätzung der Urkunde als Beweismittel auch Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 34f. 143  SUB 2 584f. Nr. 424a (1180). 144  BUB 1 203–205 Nr. 158; Prag, Staatsarchiv, A. Großpriorat der Malteser/Kommende Mailberg Urk. Nr. 1252 (1208). 145   Fuchs, Göttweig (wie Anm. 4) 535–537 Nr. 401 (1188–1200 III 3); Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 166 mit Anm. 796. 146  Urkundenbuch des aufgehobenen Chorherrnstiftes Sanct Pölten, Bd. 1: 976–1367, ed. Josef Lampel (Niederösterreichisches Urkundenbuch 1, Wien 1891) 27f. Nr. 18; Fichtenau, Urkundenwesen 236. 147   Katzler, Urkunden (wie Anm. 130) 110–113 Nr. 27; und Die ältesten Urkunden des Kanonikatstiftes Sanct Georgen in Unterösterreich 1112–1244, ed. Wilhelm Bielsky. AÖG 9 (1853) 235–304, hier 278 Nr. 21 (1201); Fichtenau, Urkundenwesen 236. 148  Felix Wintermayr, Das Urkundenwesen im Stift Klosterneuburg im 12. und 13. Jahrhundert. MIÖG 57 (1949) 123–192, hier 158. 149   Prag, Staatsarchiv, A. Großpriorat der Malteser/Kommende Mailberg Urk. Nr. 1487 (1208), Nr. 1253 (1208); siehe zur Datierung Dagmar Weltin, Studien zur Geschichte der Johanniterkommende Mailberg (Diplomarbeit Wien 2007) 71f.



Probleme um die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark 269

Einigermaßen regelmäßig sind Besiegelungen der Stifte erst seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Warum aber haben die Stifte nicht bereits früher eigene Siegelurkunden ausgestellt150? Gründe dafür waren wohl nicht zuletzt fehlende Gewohnheit und die erwähnten bis zu einem gewissen Grad durchaus brauchbaren Sicherungsmechanismen bei mündlich geschlossenen Verträgen. Dazu kam, dass im 12. Jahrhundert die in den Urkunden postulierte Rechtssicherheit durch das Siegel augenscheinlich immer noch wesentlich auf der Autorität des Siegelführers beruhte151 und zunächst lediglich davon auszugehen war, dass die Wirkung so weit wie dessen Autorität und Macht reichte. Die Empfänger aber haben vielleicht die Autorität der anderen Äbte und Pröpste noch nicht als hinreichend angesehen, um nur mit deren Siegeln etwa mächtigere Adelige von einer Rechtslage überzeugen zu können. Dass die Klöster um 1200 schließlich doch begonnen haben, allmählich Siegelurkunden auszustellen, hängt einmal mehr mit der immer größeren allgemeinen Verbreitung und Durchsetzung dieses neuen Instruments zusammen. So haben in den benachbarten Ländern einige Stifte bereits seit der Jahrhundertmitte Siegel geführt, wenn auch zunächst nur sporadisch. Erwähnt sei, dass Kremsmünster um 1140 ausnahmsweise einen objektiv formulierten Vertrag mit dem Stift Göttweig152 oder vereinzelt die steirischen Stifte St. Lambrecht und Rein ihre Urkunden besiegelt haben153. Zuweilen trifft dies sogar auf heimische Adelige zu154. Dies mag eine zunehmende Vertrautheit bewirkt haben155. Da nun doch immer mehr Klöster Siegel verwendeten, wollten die anderen nicht nachstehen.

  Siehe auch Johanek, Funktion (wie Anm. 11) 154.   Siehe oben S. 262. 152   NÖUB 2 125f. Nr. 312 (1138/46); zum Siegel: Benedikt Pitschmann, Kremsmünster, in: Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Südtirol 2, hg. von Ulrich Faust–Waltraud Krassnig (Germania Benedictina III/2, St. Ottilien 2001) 163–252, hier 249. 153  Alois Zauner, Die Anfänge der Zisterze Wilhering. MOÖLA 13 (1981) 107–220, hier 207f. Nr. 3 mit Vorbemerkung; StUB 1 240f. Nr. 231; zum Datum Othmar Wonisch, Über das Urkundenwesen der Traungauer. Eine diplomatische Untersuchung. ZHVSt 22 (1926) 52–149, hier 84f., der die Herstellung der Urkunde im Jahre 1148 annimmt. Zu St. Lambrecht weiter StUB 1 590 Nr. 621 (1183 X 28); zu den St. Lambrechter Siegeln siehe Othmar Wonisch, Die Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes St. Lambrecht (Österreichische Kunsttopographie 31, Wien 1951) 123; siehe weiter Richard Mell, Beiträge zur Geschichte der steirischen Privaturkunde (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 8/1, Graz–Wien 1911) 85. Ein frühes Gösser Äbtissinnensiegel wurde anlässlich der diplomatischen „Fälschungen“ durch die Nonne Pehrta um 1177 hergestellt; Redlich, Kärntnerisch-salzburgische Privaturkunden (wie Anm. 28) 358f.; ders., Privaturkunden (wie Anm. 27) 149. Siehe weiter die 1163/66 auf den so genannten Seckauer Transsumpten angebrachten Siegel des Stifts Seckau; dazu Heinrich Appelt, Das Diplom Friedrich Barbarossas für Seckau. MIÖG 67 (1959) 92–100, hier 95; Fichtenau, Urkundenwesen 211. Es handelt sich hier um die Siegel Propst Wernhers und des Konvents. Siehe SUB 2 293f. Nr. 201 (1140) zu einem frühen Siegel Michaelbeuerns. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts finden sich auch bereits Siegel Wilherings auf Urkunden: UBE 2 275f. Nr. 185 (1155), 277 Nr. 186; siehe Fichtenau, Urkundenwesen 234; Hans Hirsch, Studien über die Vogtei-Urkunden süddeutsch-österreichischer Zisterzienserklöster. AZ N. F. 37 (1928) 1–37, hier 3–13; Zauner, Anfänge 107–114, 116–126, 167–220, mit der weiteren Literatur. Wenig später findet sich ein erstes Siegel des Stifts Reichersberg; UBE 2 307f. Nr. 207; Fichtenau, Urkundenwesen 234f. Das erste Siegel Admonts lässt sich etwa 1170 nachweisen; Mell, Beiträge 85. Siehe dazu zusammenfassend auch Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 165f. 154   Siehe oben S. 262. 155  Siehe auch Joachim Wild, Das Aufkommen der Siegelurkunde bei den bayerischen Klöstern, in: Auxilia Historica. Festschrift für Peter Acht zum 90. Geburtstag, hg. von Walter Koch et al. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 132, München 2001) 461–477, hier 477: „Der Wandel hat sich in den Köpfen vollzogen“; Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307 (London 32013) 295–300. 150 151

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Von entscheidender Bedeutung aber war die Rezeption des gelehrten Rechts156, durch die etwa nicht nur der Schrifteinsatz bei Prozessen157, sondern überhaupt die Durchsetzung der Siegelurkunde wichtige Impulse erhielt158. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Dekretale Scripta vero authentica Papst Alexanders III. aus den Jahren 1167/69 zitiert, gemäß der nach dem Tod der Zeugen nur durch manus publica ausgestellte oder besiegelte Urkunden als Beweismittel zulässig seien159. Die Dekretale findet sich in der Compilatio Prima, die in St. Florian oder Lilienfeld bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts nachweisbar ist160. Die zeitliche Nähe fällt zwar auf, dass aber von der Dekretale tatsächlich direkte Impulse auf das heimische Urkundenwesen ausgegangen sind, ist angesichts der zunächst spärlichen Überlieferung dennoch zweifelhaft. Nicht zu bezweifeln aber ist, dass die Durchsetzung der Siegelurkunde mit der Rezeption des gelehrten Rechts und den damit einhergehenden Änderungen im Rechtsdenken und bei den rechtlichen Anforderungen zu tun hat. Deutlich wird dies auch in der Rechtspraxis, denn seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts lassen sich Urkundenbeweise vor Gericht markant öfters nachweisen, wobei oft gerade diese Prozesse in einem Zusammenhang mit dem neuen Recht stehen161. 156  Siehe grundlegend Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10, Linz 1967) 108–122; Winfried Stelzer, Gelehrtes Recht in Österreich. Von den Anfängen bis zum frühen 14. Jahrhundert (MIÖG Ergbd. 26, Wien–Köln–Graz 1982). 157  Hageneder, Geistliche Gerichtsbarkeit (wie Anm. 156) 114f. 158  Bereits Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 27) 111, 118; vor allem Winfried Trusen, Zur Urkundenlehre der mittelalterlichen Jurisprudenz, in: Recht (wie Anm. 11) 197–219, hier 206–208 und passim; Herwig Weigl, What to Write in Court. Literacy and Lawsuits in Late Medieval Austria, in: Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society, hg. von Karl Heidecker (Utrecht Studies in Medieval Literacy 5, Turnhout 2000) 63–80, hier 68, mit weiterer Literatur; weiters Dienst, Regionalgeschichte (wie Anm. 4) 111; siehe daneben Keller, Schriftgebrauch (wie Anm. 23) 15f. – Abweichend Heinrich Wanderwitz, Traditionsbücher bayerischer Klöster und Stifte. AfD 24 (1978) 359–380, hier 379: „Auffällig ist, daß die Rezeption des kanonischen Rechts bereits am Beginn des 13. Jahrhunderts hier keinen Bruch verursachte“; ähnlich Wild, Aufkommen (wie Anm. 155) 476f. 159  X 2. 22. 2 (Corpus Iuris Canonici II. Decretalium Collectiones. Decretales Gregorii papae IX., ed. Emil Ludwig Richter–Emil Friedberg [Leipzig 1881] 344): Scripta vero authentica, si testes inscripti decesse­ rint, nisi forte per manum publicam facta fuerint, ita, quod appareant publica, aut authenticum sigillum habuerint, per quod possint probari, non videntur nobis alicuius firmitatis robur habere; bereits in Compilatio Prima (XV, 2); dazu Trusen, Urkundenlehre (wie Anm. 158) 206f.; Johanek, Funktion (wie Anm. 11) 160; Härtel, Urkunden (wie Anm. 13) 119. 160  Zur Compilatio Prima in Österreich: Stelzer, Gelehrtes Recht (wie Anm. 156) 75, 77, 87, 199f. 161  Siehe etwa SUB 2 584f. Nr. 424a (1180) mit dem Abt von Heiligenkreuz als delegiertem päpstlichen Richter. Hier spielen sowohl päpstliche und Kaiserurkunden als auch Zeugen eine Rolle; dazu Murauer, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 129) 110–112; Urkundenbuch des Benedictiner-Stiftes Seitenstetten, ed. Isidor Raab (FRA II/33, Wien 1870) 24f. Nr. 16 (1188): hier spielen Siegelurkunden und Verjährungsfrist eine Rolle; siehe Mitis, Urkundenwesen (wie Anm. 6) 52, 57 Anm. 1; Hageneder, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 156) 21 Anm. 69; Härtel, Schrift (wie Anm. 16) 388–390; SUB 2 432f. Nr. 309; Urkundenbuch des Landes ob der Enns 1: Traditionsnotizen (Wien 1852) 312 Nr. 69. Siehe auch BUB 1 96f. Nr. 71 (1188 V 31), wo sich Herzog Leopold V. bei einem Urteil auf beigebrachte Urkunden stützt; zum Inhalt: Othmar Hageneder, Lehensvogtei und Defensorenamt in den babenbergischen Herzogsurkunden, in: Babenberger-Forschungen, hg. von Maximilian Weltin (JbLKNÖ N. F. 42, Wien 1976) 70–94, hier 74; BUB 1 114–116 Nr. 85 (1192). Siehe auch den Streit um Zehentrechte zwischen dem Pfarrer von Traismauer und dem Stift St. Georgen; Katzler, Urkunden (wie Anm. 130) 80–107 Nr. 18–25 (1181/1200); ein anderer Fall in Urkunden der Benedictiner-Abtei zum heiligen Lampert in Altenburg, ed. Honorius Burger (FRA II/21, Wien 1865) 2–4 Nr. 2 (1200/04), 7f. Nr. 6 (1223); siehe weiters BUB 1 153f. Nr. 117 (1201), 202f. Nr. 157 (1207); Hageneder, Gerichtsbarkeit 114f.



Probleme um die Anfänge der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark 271

Inwieweit bei der allmählichen Durchsetzung der Siegelurkunde die erwähnten allgemeinen Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungstendenzen in der Gesellschaft, die anderswo zu einer Zunahme an pragmatischer Schriftlichkeit geführt haben162, auch in Österreich eine Rolle spielten, sei dahin gestellt, zumal im 12. Jahrhundert kaum Anhaltspunkte dafür zu finden sind163. So lassen sich klösterliche Urbare oder Kopialbücher im Herzogtum Österreich erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisen. Noch zu erwähnen ist der von den Klöstern ausgehende Impuls auf die Entwicklung des adeligen Urkundenwesens. Die Klöster waren den Adeligen im Siegelgebrauch zeitlich kaum voraus. Dies war kein chronologischer Zufall, zumal sich ein Großteil der frühen Adelssiegel auf an für Konvente ausgestellten Urkunden findet. Offenkundig waren es häufig die Klöster, die zuerst von den Adeligen forderten, die Verträge mit einem Siegel zu bekräftigen. Der Adel akzeptierte dies schließlich doch rasch, weil auch er die Vorteile des Siegels erkannte und die geänderten Rechtsverhältnisse zur Kenntnis nehmen musste164.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der wichtigste Anteil an den Anfängen der geistlichen Siegelurkunde in der Babenbergermark den Passauer Bischöfen zukommt, die vor allem auf die Entwicklung bei den Amtskollegen reagierten und auch aus Prestigegründen nicht nachstehen wollten. Bemerkenswerterweise erfolgte der eigentliche Beginn in den Jahren 1110/11 geradezu „eruptiv“ und dürfte von einem Notar beeinflusst gewesen sein. Die Reaktionen der heimischen Klöster waren unterschiedlich: Während einige relativ früh bischöfliche Siegelurkunden erstrebten und bald Fälschungen herstellten, mit denen ältere nur mündlich geschlossene Verträge besser abgesichert werden sollten, legten andere weniger Wert darauf. Auffallend ist weiter, dass die Klöster generell lange zögerten, selbst Siegel­ urkunden auszustellen bzw. solche von anderen Konventen zu akzeptieren. Dies lag wohl an der fehlenden Gewohnheit, aber auch daran, dass in der Frühzeit die Siegelwirkung immer noch auch an die Autorität des dahinter stehenden Siegelführers gekoppelt war und die Autorität von anderen Äbten als nicht hinreichend angesehen wurde, um Rechte gegenüber Dritten mit einer Siegelurkunde durchzusetzen. Siegelurkunden wurden schließlich nicht zuletzt aufgrund der nicht zu übersehenden Vorteile, die neben der „Unvergänglichkeit“ etwa auch in der relativ hohen Fälschungssicherheit lagen, akzeptiert und vereinzelt um die Mitte und vermehrt seit dem Ende des 12. Jahrhunderts als Beweismittel vor Gericht eingesetzt. Aufgrund des geänderten Rechtsdenkens im Zuge der Rezeption des gelehrten Rechts konnte schließlich kein Kloster mehr auf dieses Instrument verzichten. 162   Siehe etwa Hagen Keller, Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Einführung zum Kolloquium in Münster, 13.–19. Mai 1989, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. von dems. et al. (Münstersche MittelalterSchriften 65, München 1992) 1–7, hier 2–5; ders., Schriftgebrauch (wie Anm. 23) 20; ders.–Franz Josef Worstbrock, Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit. Der neue Sonderforschungsbereich 231 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. FMSt 22 (1988) 388–409; Steffen Patzold, Konflikte im Kloster. Studien zu Auseinandersetzungen in monastischen Gemeinschaften des ottonisch-salischen Reichs (Historische Studien 463, Husum 2000) 356f. 163  Beim heimischen Adel ließen sich indes seit etwa 1200 vermehrt augenscheinlich höher qualifizierte Amtsträger festzustellen (Zehetmayer, Urkunde [wie Anm. 7] 152–162), die auf eine Effizienzsteigerung weisen. Ob dies auch bei den Klöstern der Fall war, müsste erst untersucht werden. 164   Siehe Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 7) 167.





Frauensiegel im hochmittelalterlichen Österreich Claudia Feller

Während in Deutschland im Jahr 1999 eine vielbeachtete Monographie über „Rheinische Frauensiegel“ erschienen ist1, sind österreichische Frauensiegel aus der Zeit des Hochmittelalters von der wissenschaftlichen Forschung bislang nur in Ansätzen näher untersucht worden. Immerhin umfassen die von Eduard Melly veröffentlichten „Beitraege zur Siegelkunde des Mittelalters“ aus dem Jahr 1846 einen eigenen Abschnitt „Ueber Siegel und Siegelweise österreichischer Damen“, der für die Zeit bis 1300 insgesamt 18 Siegel auflistet2. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1867, publizierte Karl von Sava eine kurze Abhandlung über „Die Siegel der österreichischen Fürstinen [!] im Mittelalter“, in der aus demselben Zeitraum elf verschiedene Siegel abgebildet sind3. Das „Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich“ enthält im dritten Band über „Die Siegel der Babenberger“ aus dem Jahr 1954 eine Beschreibung der Siegel sowohl der männlichen als auch der weiblichen Angehörigen dieses Geschlechtes4. Seitdem aber ist über Frauensiegel im hochmittelalterlichen Österreich keine einschlägige Literatur erschienen5. Aus arbeitstechnischen Gründen befasst sich dieser Beitrag, der auf einer Autopsie von ca. 70 im Original erhaltenen Exemplaren basiert, mit Frauensiegeln von den Anfängen bis um 1300 und geht dabei im Großen und Ganzen von Österreich in seinen 1   Vgl. Andrea Stieldorf, Rheinische Frauensiegel. Zur rechtlichen und sozialen Stellung weltlicher Frauen im 13. und 14. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 142, Köln–Weimar–Wien 1999). An älterer Literatur vgl. den Abschnitt über Frauensiegel bei Philipp Wilhelm Gercken, Anmerkungen über die Siegel zum Nutzen der Diplomatik (Augsburg 1781) 1–74; Leopold Freiherr von Ledebur, Ueber die Frauen-Siegel des Deutschen Mittelalters. Vortrag, auf Veranlassung des Berliner Hülfs-Vereins des Germanischen National-Museums zu Nürnberg, gehalten am 16. März 1859 (Berlin 1859). – Abkürzungen: AUR = Allgemeine Urkundenreihe; StA = Stiftsarchiv; StUB 4 = Das Urkundenbuch des Herzogtums Steiermark 4, ed. Gerhard Pferschy (Wien 1975). 2   Vgl. Eduard Melly, Beitraege zur Siegelkunde des Mittelalters 1 (Wien 1846) 219–248. Vgl. auch ders., Zur österreichischen Siegelkunde. I. Andeutungen über Frauensiegel im Mittelalter. Oesterreichische Zeitschrift für Geschichts- und Staatskunde 2 (1836) 316 und 319f. 3  Karl von Sava, Die Siegel der österreichischen Fürstinen im Mittelalter. Sonderabdruck aus „Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien“ 2 [1857]. 4   BUB III: Die Siegel der Babenberger, ed. Oskar Freiherr von Mitis, ergänzt und mit einer Einleitung versehen von Franz Gall (Publikationen des IÖG III/3, Wien 1954). 5   Über eine Dissertation, die derzeit von einer Studentin der Universität Graz zum Thema „Frauenwappen und Siegel im Herzogtum Steiermark bis zum Ende des 16. Jahrhunderts“ erstellt wird, sind mir zum jetzigen Zeitpunkt noch keine näheren Angaben möglich. Eine kurze Beschreibung des Forschungsvorhabens findet sich in Diana Biltog, Frauenwappen und Frauensiegel im Herzogtum Steiermark bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Erstausgabe. Veröffentlichungen junger WissenschafterInnen der Karl-Franzens-Universität Graz 2 (2009) 13–22.

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heutigen Grenzen aus. Eine vollständige Bestandsaufnahme sämtlicher österreichischer Frauensiegel nebst eingehender Analyse, die auch eine Untersuchung der einschlägigen Sammlungen von Siegeln und Siegelabdrücken umfasst, konnte in diesem Rahmen nicht angestrebt werden. Außerdem wird der vorliegende Beitrag die Konventssiegel von Frauenklöstern und -stiften6 sowie die Siegel von Äbtissinnen ausklammern und sich allein auf die Siegel weltlicher Frauen beschränken. Obwohl im Mittelalter vergleichsweise wenige Frauen Urkunden besiegelten, wurde ihre grundsätzliche Siegelkompetenz in den bislang bekannten mittelalterlichen Quellen zum Siegelrecht nicht infrage gestellt7. Diejenigen Frauen, welche eine Siegeltätigkeit ausübten, verfügten über keine speziellen rechtlichen Voraussetzungen, sondern hatten eine besondere Veranlassung dazu, ein eigenes Siegel zu führen8. Demgegenüber wurde in den überwiegenden Fällen, in denen eine Frau als Ausstellerin, Mitausstellerin oder Konsentientin einer Urkunde fungierte, zur Beglaubigung das (oftmals gemeinsam verwendete) Siegel des Ehemannes angebracht. Stattdessen bzw. ergänzend konnten auch ein oder mehrere Siegel – gemeinhin männlicher, selten weiblicher – Dritter befestigt werden9. In der Zeit vor 1200 sind Frauensiegel in Mittel- und Westeuropa vornehmlich westlich der Maas dokumentiert, während im deutschsprachigen Raum nur vereinzelte Beispiele nachweisbar sind10. Aus dem Gebiet des heutigen Österreich stammt das bislang älteste aufgefundene Exemplar aus der Zeit nach 1215. Dieses, ein Wachssiegel der Gräfin Agnes von Raabs, Witwe Gebhards II. von Hirschberg-Tollenstein (Oberpfalz)11, hängt an einer Urkunde, welche Agnes gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Gerhard und Gebhard ausgestellt hatte12. Die byzantinische Prinzessin Theodora, Gemahlin Herzog Leopolds VI., führte ein Frauensiegel, das im Zeitraum zwischen 1226 und 1233 gleich fünfmal belegt ist13. Dagegen ist ein bei Chrysostomus Hanthaler abgebildetes Siegel der Gräfin Euphemia von Peilstein aus dem Jahr 1230 heute nicht mehr auszumachen14.

6   Vgl. dazu Karl von Sava, Die mittelalterlichen Siegel der Nonnenklöster im Erzherzogthume Österreich­ ob und unter der Enns (Wien 1861). 7  Vgl. Stieldorf, Rheinische Frauensiegel (wie Anm. 1) 19–21. 8  Vgl. Maximilian Günther, Das Siegelrecht des Mittelalters erläutert aus den sphragistischen Formeln, welche des eigenen Siegels Abwesenheit oder Mangel, die s. g. Siegel-Carenz bezeichnen (lat. Diss. Leipzig 1813, übers. von K. L., o. O. 1870) 34f. 9  Zur Siegelkarenz von Frauen vgl. Stieldorf, Rheinische Frauensiegel (wie Anm. 1) 220–225. 10   Vgl. Stieldorf, Rheinische Frauensiegel (wie Anm. 1) 59. 11   Zur Gräfin Agnes von Raabs vgl. kurz Karl Lechner, Ursprung und erste Anfänge der burggräflichnürnbergischen (später brandenburgischen) Lehen in Österreich, in: Festschrift für Walter Schlesinger 1, hg. von Helmut Beumann (Mitteldeutsche Forschungen 74/1, Wien–Köln 1973) 286–332, hier 296f. 12  Zwettl, StA nach 1215; Edition in Das „Stiftungen-Buch“ des Cistercienser-Klosters Zwetl, ed. Johann von Frast (FRA II/3, Wien 1851) 112. Zur Datierung der Urkunde vgl. P. Benedikt Hammerl, Aus den Vorarbeiten für ein Zwettler Urkundenbuch. Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 3 (1906/07) 257–268, hier 258. Vgl. auch Roman Zehetmayer, Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Südosten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (VIÖG 53, Wien–München 2010) 144. 13  Vgl. von Sava, Siegel der österreichischen Fürstinen (wie Anm. 3) 4; Gustav A. Seyler, Geschichte der Siegel (Illustrierte Bibliothek der Kunst- und Kulturgeschichte, Leipzig 1894) 290f. Nr. 279; BUB III (wie Anm. 4) 68. 14   Chrysostomus Hanthaler, Recensus diplomatico-genealogicus archivii Campililiensis 2 (Wien 1820) 173 und Tab. XL Nr. XIV; vgl. Eduard Melly, Siegelkunde (wie Anm. 2) 316. Zur betreffenden Urkunde von 1230 vgl. BUB IV/2: Ergänzende Quellen 1195–1287, ed. Oskar von Mitis †–Heide Dienst–Christian Lackner–Herta Hageneder (Publikationen des IÖG 3/IV/2, Wien 1997) 198f. Nr. 1169; Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 12) 133 Anm. 422.



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Die bis 1300 siegelnden Frauen gehörten sowohl dem fürstlichen und gräflichen Adel als auch der Ministerialität an; dagegen findet sich unter den bislang gesammelten Siegeln keines einer bürgerlichen Frau. Frauensiegel von Angehörigen ministerialischer Adelsgeschlechter sind im Allgemeinen etwas später nachweisbar als solche von Fürstinnen und Gräfinnen. Das Siegel Euphemias von Kuenring ist zwar in der Corroboratio einer Urkunde von 1252 in eindeutiger Weise angekündigt, hat sich aber nicht erhalten15. Einer weiteren bedeutenden herrenständischen Familie des Landes unter der Enns gehörte Margarethe von Zöbing an, die 1255 eine von ihr ausgestellte Urkunde mit dem eigenen Siegel beglaubigte16. Es ist indessen in Betracht zu ziehen, dass mögliche zukünftige Siegelfunde diese Grenzen nach vorne verschieben könnten. Geographisch konzentrieren sich die Frauensiegel auf den Osten Österreichs, während eine Recherche im Tiroler Landesarchiv mit seinem reichen mittelalterlichen Urkundenbestand hinsichtlich allfällig überlieferter Frauensiegel aus der Zeit vor 1300 einen negativen Befund ergab. Die Ursache dürfte vornehmlich darin begründet sein, dass in der Grafschaft Tirol vom Süden her der Einfluss des Notariatswesens besonders ausgeprägt war17 und die von Frauen getätigten Rechtsgeschäfte im 13. Jahrhundert überwiegend in Form von Notariatsinstrumenten abgeschlossen und dokumentiert wurden. Brigitte Bedos-Rezak hat einen ähnlichen Befund für das mittelalterliche Frankreich erhoben, wo Frauensiegel größtenteils nördlich der Loire belegt sind, und sie erklärt diesen Umstand gleichermaßen durch das Vorherrschen des Notariatswesens im Süden Frankreichs18. Die rheinischen Frauensiegel sind durch die zu Beginn erwähnte gleichnamige Monographie von Andrea Stieldorf eingehend erforscht, weshalb hier zu Vergleichszwecken auf einige ihrer Ergebnisse verwiesen werden soll. Im Rheinland bevorzugten die Siegelführerinnen im 13. Jahrhundert Bildnissiegel mit verschiedenen Attributen, erst an zweiter Stelle Wappendarstellungen (v. a. auf den Gegensiegeln) und an dritter Stelle, mit einem Anteil von immerhin 24 Prozent, die sogenannten Falkenjagdsiegel. Eher fallweise sind andere Motive und Typen festzustellen, etwa solche mit religiösem Inhalt, Gemmensiegel oder Burgsiegel. Im 14. Jahrhundert avancierte im Rheinland das Wappensiegel bzw. das Bildnissiegel mit Wappen zum mit Abstand bevorzugten Siegelmotiv weltlicher Frauen. Falkenjagdsiegel sowie die bereits im 13. Jahrhundert selteneren Sujets (Erzählsiegel, Symbolsiegel, Burgsiegel, Gemmensiegel etc.) sind nach 1300 nur noch ausnahmsweise belegt19. Im Gebiet des heutigen Österreich stellt sich eine vollkommen andere Situation dar: Als weitaus häufigstes Bildmotiv begegnet hier schon im 13. Jahrhundert das Wappensiegel mit einem oder mehreren Wappenschilden, und dahinter, wenngleich deutlich abgeschlagen, religiöse Themen (Heiligensiegel, Adorantensiegel und Siegel mit anderer religiöser Bildmotivik), das Majestäts- bzw. Thronsiegel mit sitzender und das klassische 15  Vgl. Urkunde und Geschichte. Niederösterreichs Landesgeschichte im Spiegel der Urkunden seines Landesarchivs, ed. Maximilian Weltin–Dagmar Weltin–Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (Niederösterreichisches Urkundenbuch [Vorausband]. Die Urkunden des Niederösterreichischen Landesarchivs 1109–1314, St. Pölten 2004) 79–82 Nr. 20. Vgl. Zehetmayer, Urkunde (wie Anm. 12) 144. 16   Zwettl, StA 1255. 17   Zur Ausbreitung des Notariatswesens in Tirol vgl. Richard Heuberger, Das deutschtiroler Notariat. Umrisse seiner mittelalterlichen Entwicklung. Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 6 (1927) 27–122. 18  Brigitte Bedos-Rezak, Women, Seals, and Power in Medieval France, 1150–1350, in: Form and Order in Medieval France. Studies in Social and Quantitative Sigillography, hg. von ders. (Collected Studies Series 424, Aldershot 1993) 61–82, hier 65. 19   Vgl. Stieldorf, Rheinische Frauensiegel (wie Anm. 1) 244–246.

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Bildnissiegel mit stehender Figur sowie das Bildsiegel mit freischwebendem Objekt (z. B. Blüte, Adler, Ochsenkopf ). Eher sporadisch treten Erzählsiegel, Buchstabensiegel, Gemmensiegel, sprechende Siegel und dergleichen auf. Die optisch vielfach sehr eindrucksvoll gestalteten Falkenjagdsiegel kommen im engeren Untersuchungsgebiet nicht vor20.

Die Verwendung mehrerer Siegelstempel Adelheid von Reinsberg, eine mit Engelschalk von Reinsberg verehelichte Adelige aus dem Geschlecht der Lengbacher, verwendete als Siegelbild den Wappenschild21. Bereits verwitwet, befestigte sie am 13. Februar 1274 ihr persönliches Siegel an einer Urkunde. Bemerkenswert ist an diesem runden Siegel, welches einen Wappenschild mit drei Hämmern zeigt, insbesondere die Umschrift mit den drei darin enthaltenen S, die spiegelverkehrt (d. h. Ƨ) geformt sind (Abb. 1)22. Eine Urkunde vom 29. März 1285 trägt gleichfalls Adelheids Siegel. Für dessen Anfertigung nutzte sie ein anderes, wenngleich typologisch und im Hinblick auf den Bildinhalt sehr ähnliches Typar. Das Siegel enthält in der Umschrift korrekt ausgeführte S, der Hintergrund des Wappenschildes weist ein Rankenmotiv bzw. Zweige auf (Abb. 2). Noch vier Jahre später, am 13. April 1289, verwendete Adelheid dieses Siegel23. Dagegen bediente sie sich am 26. Dezember 1293 erneut eines anderen, dritten Siegelstempels. Das Motiv selbst, der Wappenschild mit den drei Hämmern, wurde – trotz insgesamt geringfügig abweichender Gestaltung – beibehalten, das Siegel erhielt nun aber einen etwas kleineren Durchmesser als zuletzt (Abb. 3)24. Adelheid von Reinsberg gebrauchte demnach innerhalb von knapp 20 Jahren immerhin drei unterschiedliche Typare. Ob der vergleichsweise häufige Wechsel auf die irrtümlich fehlerhaft geschnittenen S des frühesten Exemplars, den Verlust bzw. die Beschädigung eines (oder gar mehrerer) Siegelstempel oder auf andere Ursachen zurückzuführen ist, bleibt indessen unklar.

Siegelform und -farbe Sowohl runde als auch dreieckige Siegel eignen sich hervorragend für die Darstellung von Wappenschilden. Diese zeigen das Wappen des Ehemannes der Sieglerin (vgl. das Siegel Margarethas von Streitwiesen und ihres Sohnes Heinrich25, Abb. 4), jenes ihrer Herkunftsfamilie oder aber die Vereinigung beider Wappen, zumeist in zwei oder mehreren Schilden26. Auf Siegeln von spitzovaler Form lassen sich dagegen stilisierte Porträts 20   Mit Ausnahme eines schönen Falkenjagdsiegels der Gräfin Margaretha von Kyburg (Wien, HHStA Familienurkunden 9 [1267 IX 8]), das aber nicht ins Untersuchungsgebiet fällt, konnte ich bislang für die Zeit bis 1300 noch kein Siegel mit diesem bekannten Siegelmotiv auffinden. Der Befund deckt sich auch mit den Beobachtungen von Eduard Melly, der schon 1846 prägnant festgestellte: „Reitende Damen kennt unsere Sfragistik nicht.“ Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 225. 21   Zu den Siegeln Adelheids von Reinsberg vgl. kurz Herwig Weigl, Materialien zur Geschichte des rittermäßigen Adels im südwestlichen Österreich unter der Enns im 13. und 14. Jahrhundert (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 26, Wien 1991) 220. 22   Wien, HHStA AUR 1274 II 13. 23   Wien, HHStA AUR 1285 III 29; AUR 1289 IV 13. 24   Wien, HHStA AUR 1294 [!] XII 26. 25   Wien, HHStA AUR 1288 V 12. 26   Vgl. dazu ausführlich Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 227–232.



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stehender Personen vortrefflich wiedergeben. Bei diesem Typus des Bildnissiegels, der im Übrigen auch von höheren geistlichen Würdenträgern wie Bischöfen verwendet wurde, ist im Falle einer weiblichen Siegelführerin üblicherweise eine Frauengestalt, zumeist frontal, seltener halbseitlich, abgebildet. Im Gestus ähneln einander die Exemplare dieses Siegeltyps in hohem Ausmaß: In der rechten Hand hält die Frau einen Gegenstand oder ein Objekt aus Fauna und Flora – in Österreich bevorzugt eine Blume, oft eine Lilie –, mit der linken Hand fasst sie die Tasselschnüre ihres Mantels (vgl. das Siegel Euphemias von Taufers27, Abb. 5). Für die Darstellung sitzender Personen eignet sich sowohl die spitz­ ovale als auch die runde Siegelform. Das spitzovale Siegel der Gräfin Sophia von Hirschberg von 1282 zeigt etwa eine auf einer Art Thron sitzende Frauengestalt, rechts und links der Figur sind die Initialen G – für Gebhard, den Ehemann der Siegelführerin, – und S – für Sophia – erkennbar (Abb. 6)28. Dass Siegelform und -motiv stark korrelieren, ergibt sich allein aus dem für die künstlerische Umsetzung des Siegelbildes nur sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Raum. Daher verwundert es kaum, dass im 13. Jh. im Rheinland angesichts der zahlreichen Bildnissiegel die spitzovale Form des Frauensiegels überwog, in Österreich dagegen das runde Siegel29, und erst dahinter das spitzovale vor dem schildförmigen Siegel. Andere Formen, etwa oval30 oder achteckig31, sind für die Zeit bis 1300 bedeutend seltener belegt32. Die überwiegende Anzahl der Damensiegel ist von ungefärbtem Wachs, welches im Laufe der Zeit mehr oder weniger gelblich bzw. braun nachdunkelte. Nur selten sind eingefärbte Exemplare, etwa in rot, grün oder schwarz, festzustellen33. Exemplarisch sei auf das rote Wachssiegel der Herzogin Elisabeth von Österreich von 1293 hingewiesen. Die darauf abgebildete Frauengestalt thront, die linke Hand zur Brust geführt, auf einem steinernen Gestühl. In der Rechten hält sie einen Wappenschild, und mit dem Handgelenk stützt sie einen zweiten Wappenschild ab, dessen Spitze auf dem Thron ruht (österr. und steir. Wappenschild) (Abb. 7)34. Ein Beispiel für ein (nach Karl von Sava) grünes Siegel – es erscheint mittlerweile gänzlich schwarz – stellt das Secretsiegel der Herzogin Gertrud von Österreich aus dem Jahr 1247 dar35. Sava hat das Siegel im 19. Jahrhundert noch vollständig wiedergegeben36, heute ist davon nur mehr ein Fragment im Durchmesser von etwa einem Zentimeter erhalten37. Ein Vergleich mit der Nachzeichnung verdeutlicht, dass dieses Bruchstück tatsächlich als das Secretsiegel der Babenbergerin zu identifizieren ist (Abb. 8 und 9). Leider bildet es das einzige Belegstück, doch existieren in den Siegelsammlungen Smitmer und Sava des Haus-, Hof- und Staatsarchivs immerhin noch Abgüsse des Originals38.   Wien, HHStA AUR, nach 1293.   Wien, HHStA AUR 1282 XII 28. Zum Siegel vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 233f. Nr. 3. 29   Vgl. auch ebd. 221. 30  Vgl. z. B. Zwettl, StA 1256. 31  Vgl. z. B. Wien, HHStA AUR 1288 XI 4. 32   Zur Siegelform vgl. auch Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 221f. 33   Vgl. ebd. 222. Die bei ihm angegebenen Beispiele für farbige Siegel datieren allerdings – mit Ausnahme des von ihm aber nicht durch Autopsie überprüften roten Siegels Adelheids von Neuburg (vgl. dazu unten 278f.) – frühestens aus dem 14. Jahrhundert. 34   Wien, HHStA AUR 1293 IV 26. 35   Wien, HHStA AUR 1247. 36   Von Sava, Siegel der österreichischen Fürstinen (wie Anm. 3) 7. 37   Vgl. auch BUB III (wie Anm. 4) 77 Nr. 75. 38   Wien, HHStA Siegelsammlung Smitmer c 68; Siegelsammlung Sava 1127. 27

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Während die Verwendung farbigen Wachses bei mittelalterlichen Herrscherinnen kaum verwundert, so überrascht sie gleichwohl bei Angehörigen des nichtfürstlichen Adels. Zwei der bisher aufgefundenen Siegel von Frauen dieser gesellschaftlichen Ebene weisen ein rotes Siegelwachs auf, zum einen jenes der Margaretha dicta Prevzzelinna39. Der Familie Preussel gelang es unter den Brüdern Wernhard und Heinrich Preussel, als loyale Anhänger Friedrichs des Streitbaren in die Führungsschicht der ministeriales Austrie aufzusteigen40. Margarethas Siegel ist von achteckiger Form und enthält die Umschrift [+] S(IGILLUM) MA[RGARETHE]∙RELICTE∙H[..]I PRVZEL[…], das Siegelbild zeigt einen Wappenschild (Abb. 10). Das zweite Exemplar eines roten Wachssiegels einer nichtfürstlichen Adeligen rührt von Adelheid von Neuburg, Ehefrau Ottos von Neuburg, her und datiert aus dem Jahr 1293. Das von dieser Siegelführerin verwendete Secretsiegel zeigt ein T in einem Dreipass und weist die unpersönlich formulierte Umschrift + SECRETVM∙MEVM auf (Abb. 11)41. An einer weiteren Urkunde aus demselben Jahr, die von Otto von Neuburg gemeinsam mit seiner Frau ausgestellt wurde, hängt neben dem Siegel Ottos auch Adelheids Secretsiegel, diesmal in naturfarbenem Wachs42. Adelheid war die Tochter des bekannten und vermögenden ehemaligen Landschreibers Magister Konrad, der bereits 1267 in den Urkunden begegnet und infolge seiner Herkunft als Konrad von Tulln bezeichnet wird. Im Dienst König Ottokars zunächst als scriba Anasi (scriba … apud Anasum, scriba … per Anasum), dann als scriba in der Steiermark und ab 1275 in derselben Funktion in Österreich tätig, konnte er seine einflussreiche Stellung auch unter König Rudolf behaupten. Während Adelheid den Adeligen Otto von Neuburg, der auch unter den Namen Otto von Chalenperg, Otto pincerna de Ried und als Schenk von Ried in den Quellen aufscheint, ehelichte, nahmen zwei weitere Töchter und die Ehefrau Eytha (Ida) den Schleier. Der Landschreiber selbst folgte diesem Beispiel nach Beendigung seiner aktiven Karriere und trat – wohl nach 1283 – als Bruder Konrad in den Dominikanerkonvent zu Tulln ein. Im Jahr 1299 ist er letztmalig urkundlich belegt43. Konrad von Tulln verwendete im Laufe seines Lebens mehrere unterschiedliche Typare. Eines der erhaltenen Siegel – es trägt die Umschrift [+ SIGILLVM∙CH]VN­ R(ADI)∙SCRIBE∙AVSTRI[E] – präsentiert im Siegelbild ein T in einem Kreis, begleitet von den in einem Dreipass angeordneten Buchstaben V, L und N (für TVLN) (Abb. 12)44. Ein Vergleich von Adelheids Secretsiegel mit diesem Siegel ihres Vaters demon­ striert, dass sich beide in der Gestaltung außerordentlich nahestehen. Es erscheint daher plausibel, dass Agnes’ Typar ursprünglich ebenfalls von Konrad von Tulln geführt und   Wien, HHStA AUR 1288 XI 4.   Vgl. Max Weltin, Landesherr und Landherren. Zur Herrschaft Ottokars II. Přemysl in Österreich, in: ders., Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs, hg. von Folker Reichert–Winfried Stelzer (MIÖG Ergbd. 49, Wien–München 2006) 130–187, hier 133f. und ebd. Anm. 14 (zuerst abgedruckt in Ottokar-Forschungen. JbLKNÖ N. F. 44/45 [1978/79] 159–225, hier 162f. und ebd. Anm. 14). 41   Wien, HHStA AUR 1293. Vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 236 Nr. 14. 42   Wien, HHStA AUR 1293. 43   Vgl. Urkunde und Geschichte (wie Anm. 15) 275–278 Nr. 71, hier 277f. Kerschbaumer vermutete dagegen 1293 als Todesjahr. Vgl. A[nton] Kerschbaumer, Konrad von Tuln. Vortrag, gehalten am 12. December 1873 von Dr. A. Kerschbaumer. BlLkNÖ N. F. 8 (1874) 36–44, hier 42f. 44   Wien, HHStA AUR 1276 IV 19. Vgl. auch ein weiteres sehr ähnliches Siegel Konrads von Tulln, welches an einer Urkunde im Stiftsarchiv Rein hängt und anstelle des Drei- einen Vierpass zeigt. Rein, StA 1272 VII 1. 39 40



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nach seinem Eintritt ins Dominikanerkloster – vielleicht auch früher – von Agnes übernommen und als ihr eigenes weiterverwendet wurde; angesichts der neutralen Umschrift bot es sich dazu in besonderer Weise an. Mit einem sehr dunklen bzw. anthrazitfarbenen Wachs siegelte Gisela von Königsbrunn (verschwundener Ansitz bei Enzersfeld, Bez. Korneuburg, Niederösterreich), Tochter Otts von Rastenberg und Ehefrau Dietrichs von Kierling, im Jahr 1298 (Abb. 13). Ihr Siegel, das den Oberkörper einer Frauengestalt unter einer gotischen Gewölbearchitektur zeigt, ist nicht nur wegen der dunklen Siegelfarbe bemerkenswert, sondern auch insofern, als es im Gegensatz zu den meisten anderen Siegeln des 13. Jahrhunderts eine deutschsprachige Umschrift aufweist45: + * S(IGEL)∙GEISEL VON CHVNIGS­ PRVNNE46. Über die Verwendung farbigen Siegelwachses beim weltlichen Adel unterhalb der fürstlichen Ebene sind in der Literatur kaum konkrete Ausführungen auffindbar. Plausibel erscheint, dass die Verwendung der Farben zu diesem frühen Zeitpunkt, d. h. im 13. Jahrhundert, noch nicht so eindeutig auf bestimmte Siegelführergruppen festgelegt und damit ein gewisser gestalterischer Freiraum möglich war. In diese Richtung geht auch die Vermutung Wilhelm Ewalds, der in seiner Siegelkunde zu diesem Thema bemerkt: „Feste Regeln für den Gebrauch der einzelnen Wachsfarben haben offenbar in älterer Zeit nicht bestanden […]. Die Wahl der Farbe des Wachses war in älterer Zeit vollständig der Willkür des Siegelführers überlassen.“47 Nähere zeitliche oder quantitative Angaben bietet Ewald zu dieser Thematik nicht, weshalb hier von der Forschung zukünftig noch einige Fragen zu klären wären.

Die Gestaltung der Umschriften Die Umschriften auf österreichischen Frauensiegeln des Hochmittelalters enthalten häufig nach einem Kreuz ein Sʼ – für sigillum – (nur fallweise ist das Wort SIGILLVM ausgeschrieben), dann den Vornamen und eine eventuelle Rangbezeichnung, beide im Genitiv, und anschließend den Geschlechternamen. So lautet die Umschrift im Fall der hochfreien Kunigunde von Schleinz (Burgschleinitz), Witwe nach Otto I. von Schleinz, die urkundlich auch als Chunegunt diu Graevinne von Sleunz und von Mern tituliert wird48, +∙S(IGILLVM)∙CHVNIGV(N)D(IS):COMIT(ISSE) D(E) SLEVNZ∙49. Dem 45  Deutsche Inschriften finden sich laut Melly „schon in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts, doch noch ziemlich selten“. Das erste von ihm genannte Beispiel stammt aus dem Jahr 1314. Vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 224. 46   Zwettl, StA 1298 XI 2. Die Auflösung des Wortes S(igel) ist in diesem Fall angesichts der seltenen deutschsprachigen Umschrift nicht eindeutig. 47  Vgl. Wilhelm Ewald, Siegelkunde (München–Berlin 1914, Nachdr. München 1969) 157. 48  Zur Gräfin Kunigunde von Schleinz vgl. Viktor Freiherr von Handel-Mazzetti, Die Herren von Schleunz in Niederösterreich und ihre Beziehungen zum Lande ob der Ens (Mit einer lithographierten Tafel und einem Stammbaum). Jahrbuch der kais. kön. heraldischen Gesellschaft „Adler“ N. F. 23 (1913) 1–89, hier 79f. Auf den von ihr geführten Titel einer Gräfin geht Handel-Mazzetti nicht ein. 49  Wien, HHStA AUR 1285 XI 11, AUR 1288 V 9, AUR 1292 X 19; gedruckt bei [Joseph Chmel,] Urkunden zur Geschichte des Nonnenklosters Imbach. 23 Stücke aus dem 13. Jahrhunderte. Mitgetheilt vom Herausgeber. Aus den Original-Urkunden des k. k. geh. Haus-Archives, in: Der Österreichische Geschichtsforscher 2/3, hg. von dems. (Wien 1842) 559–575, hier 562f. Nr. XX (1285 XI 11) und 573 Nr. XXXIV (1292 X 19); vgl. Andreas H. Zajic, Vorbemerkungen zu einer Frühgeschichte des Dominikanerinnenklosters Imbach.

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Vornamen vorangestellt findet sich üblicherweise nur die Bezeichnung domina, ebenfalls im Genitiv50. Lediglich im bisher singulären Beispiel der Gräfin Wilbirg von Hardegg steht auch die Rangbezeichnung comitissa vor dem Vornamen, also in der Form +∙S(IGILLVM)∙COMITISSE∙ WILLWIRGIS∙ DE∙ HARDECK∙ (Abb. 14)51. Ob eine Siegelführerin auf ihrem Typar ihre Herkunftsbezeichnung oder ihren durch die Heirat angenommenen Namen anbringen ließ, war von diversen Faktoren abhängig. Zum einen, ob sie schon vor ihrer Eheschließung persönlich siegelte, zum anderen, welcher sozialen Schicht sie angehörte und ob ihre Verehelichung innerhalb derselben gesellschaftlichen Ebene erfolgte bzw. einen sozialen Auf- oder Abstieg mit sich brachte. Tendenziell kann man festhalten, dass der prestigeträchtigere Name und Titel in der Umschrift geführt wurde. Eher selten enthält die Siegelumschrift andere Titulaturen oder näher spezifizierende Beifügungen, etwa einen Verweis auf den Familienstand der Siegelführerin (relicta, vidua, uxor, filia). Das spitzovale Siegel der Adeligen Richardis von Mahrenberg (heute Radlje ob Dravi, Slowenien), Witwe Seifrieds von Mahrenberg, ist an einer Urkunde aus dem Jahr 1291 befestigt. Es zeigt im Siegelbild die Verkündigungsszene mit Maria, einem Engel sowie dem Heiligen Geist in Gestalt einer herabschwebenden Taube und trägt die Umschrift [+] S(IGILLVM) RICARDIS VIDVE DE MARENBERCH52. Aus nicht hinlänglich geklärten Ursachen – die Reimchronik Otachers ouz der Geul spricht von einer König Ottokar verweigerten Huldigung durch den Mahrenberger53 – wurde Seifried bei einem Gastmahl gefangen genommen und nach Prag abtransportiert. Dort ließ ihn König Ottokar an den Schweif eines Pferdes binden und schleifen sowie anschließend kopfüber an einen Galgen schmieden; schließlich schlug ihm ein Suppan den Schädel ein54. Die Ereignisse dürften sich zu Jahresanfang 1272 zugetragen haben, da Seifried noch am 6. Dezember 1271 urkundete, seine Ehefrau Richardis indessen bereits am 26. Februar 1272 als Witwe bezeichnet wird55. Schon bald nach seinem Tod wurde Seifried im Kloster Mahrenberg als Märtyrer und Heiliger verehrt56. Angesichts des gewaltsamen Todes ihres Mannes kann die Umschrift auf dem Siegel Richardis’ von Mahrenberg als selbstbewusster Hinweis auf diese Ereignisse und damit ihr persönliches Schicksal gedeutet werden, und sie enthält in letzter Konsequenz wohl auch eine politische Aussagekraft (Abb. 15). Eine vergleichbare Situation liegt bei Elisabeth von Lengbach, der Gemahlin Friedrichs von Lengbach, vor. Diese wird in einer von ihr mit Zustimmung ihres Ehemannes, Frideriches des chamerers in Ósterrich, ausgestellten Urkunde von 1293 in der bemerkensMit einem Nachtrag zu CDB V/2 und 3. MIÖG 115 (2007) 35–75, hier 65 (zu 1285 XI 11). 50  Vgl. z. B. das Siegel Ludmillas von Reusch. Zwettl, StA 1265 V 25. 51   Wien, HHStA AUR 1270 IV 23; AUR 1271 IV 23; AUR 1295 X 13. Zum Siegel vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 233 Nr. 1. 52  Wien, HHStA AUR 1291 I 7. Vgl. dasselbe Siegel auch an einer Urkunde vom 26. Februar 1272 (StUB 4 270 Nr. 449). Die Umschrift wird hier als [+ S∙RICA]RDIS∙VID[VE∙DE∙MA]RENBERh wiedergegeben. 53   Vgl. dagegen Alfons Huber, Die steirische Reimchronik und das österreichische Interregnum. MIÖG 4 (1883) 41–74, hier 71–73. 54   Ottokars Österreichische Reimchronik, nach den Abschriften Franz Lichtensteins ed. Joseph Seemüller (MGH Deutsche Chroniken 5, 1 und 5, 2, Hannover 1890–93, Nachdr. München 1980) 156 V. 11830– 158 V. 11987. Zur Thematik insgesamt vgl. Gerhard Pferschy, Zur Beurteilung Siegfrieds von Mahrenberg, in: Festschrift Friedrich Hausmann, hg. von Herwig Ebner (Graz 1977) 367–378, hier 376. 55  StUB 4 260 Nr. 433 und 270 Nr. 449. Vgl. Pferschy, Beurteilung (wie Anm. 54) 376 Anm. 56. 56   Vgl. Pferschy, Beurteilung (wie Anm. 54) 378.



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werten Form Elsbet von Lengenbach chamererinne in Ósterrich genannt. Büttner wertet diesen Umstand angesichts der Tatsache, dass Herzog Albrecht in Graz Ulrich von Kapellen und Friedrich von Lengbach der Untreue beschuldigt hatte, als „Protestdemonstration“57. Doch nicht nur die Urkunde selbst, sogar das daran befestigte Siegel enthält den auffälligen Hinweis auf das Amt des Ehemannes in der Umschrift + S(IGILLVM) ELIZABETE∙VXOR∙KAMERARI (Abb. 16)58.

Die Herren von Seefeld-Feldsberg Wenn in der Siegelumschrift auf die Abstammung vom namentlich genannten Vater verwiesen wird, kann gleichfalls von einer ganz bewussten Aufnahme dieser Information ausgegangen werden. Heinrich von Seefeld, der zu den ministeriales Austrie sowie den consiliarii per Austriam – einem aus zwölf Adeligen zusammengesetzten Kollegium, das für den abwesenden Herrscher regierte, – zählte59, war der letzte männliche Vertreter der Seefelder Linie des Geschlechtes von Seefeld-Feldsberg60. Seine Ehefrau Euphemia gebar ihm mehrere gemeinsame Kinder, die aber, mit Ausnahme einer Tochter namens Adelheid, vor dem Vater verstarben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb Adelheid wiederholt – erstmals am 9. November 1249 – ihr Einverständnis zu Schenkungen des Vaters erteilte61. Heinrich hatte am 2. Februar 1255 der Johanniterkommende in Mailberg das Patronatsrecht über die Kirche von (Groß-)Harras (Bez. Mistelbach, Niederösterreich) übertragen62. Einige Jahre später, am 10. Januar 1258, bestätigte Heinrich von Seefeld diese Schenkung unter Zustimmung seiner Tochter und übergab der Kommende zusätzlich ein Lehen zu Stranzendorf. Explizit heißt es in dieser Urkunde, Heinrich wolle die zuvor ausgestellte Urkunde nochmals bestätigen, quia hec donatio facta fuit sine consensu et sine sigillo Alhaydis dilecte filie nostre63. Bemerkenswert ist insbesondere die Umschrift des angehängten Siegels, welche trotz vorhandener Beschädigung den Wortlaut + S(IGILLVM)∙ALHEIDIS FILIE [HEINRICI] DE SEVELDE erkennen lässt (Abb. 17). Adelheid nahm als einziges überlebendes Kind Heinrichs von Seefeld eine erbrechtlich bedeutende Position ein, weshalb die Beschenkten Wert auf ihre ausdrückliche 57  Vgl. Rudolf Büttner, Die Ministerialen von Lengbach unter Ottokar und den ersten Habsburgern, in: Ottokar-Forschungen. JbLKNÖ N. F. 44/45 (1978/79) 405–426, hier 424f. 58   Wien, HHStA AUR 1293 IV 24; gedruckt in Urkunden zur Geschichte von Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Triest, Istrien, Tirol. Aus den Jahren 1246–1300, ed. Joseph Chmel (FRA II/1, Wien 1849) 255 Nr. LXXXIV. Zum Siegel vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 236 Nr. 13. 59  Vgl. Weltin, Landesherr (wie Anm. 40) 130 und 146f. 60   Vgl. Paul Herold, Die Herren von Seefeld-Feldsberg. Geschichte eines (nieder-)österreichischen Adelsgeschlechtes im Mittelalter (Studien und Forschungen aus dem niederösterreichischen Institut für Landeskunde 27, St. Pölten 2000) 89. 61  Vgl. ebd. 89f. und 205 Nr. 183 (Regest); Edition bei Maximilian Fischer, Merkwürdigere Schicksale des Stiftes und der Stadt Klosterneuburg aus Urkunden gezogen. 2. Abt. Urkundenbuch (Wien 1815) 209–211 Nr. 56; vgl. Karl Lechner, Heinrich von Seefeld und seine Beziehungen zu Heiligenkreuz. Sancta Crux 34 (1972) 9–22, hier 17. 62   Original in Prag, Staatsarchiv, A. Großpriorat der Malteser/Kommende Mailberg Urk. Nr. 1269; Regest bei Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 208f. Nr. 192; Edition bei Dagmar Weltin, Studien zur Geschichte der Johanniterkommende Mailberg (ungedr. Diplomarbeit, Wien 2007) 38 Nr. 19. 63  Original in Prag, Staatsarchiv, A. Großpriorat der Malteser/Kommende Mailberg Urk. Nr. 1275; Regest bei Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 211f. Nr. 201 und Abb. ebd. 258f.; Edition bei Weltin, Studien (wie Anm. 62) 39f. Nr. 20.

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Zustimmung gelegt haben dürften64. Offenbar schien es ihren Angehörigen angebracht, ihre Stellung zusätzlich abzusichern, indem sie Adelheid in der Siegelumschrift über ihr familiäres Bezugsverhältnis zu Heinrich von Seefeld definierten. Heinrichs Verwandter Albero von Feldsberg, der das Amt eines Truchsess von Österreich bekleidete, wird bereits in der zuvor genannten Stiftung Heinrichs von Seefeld vom 2. Februar 1255 an prominenter erster Stelle der Zeugenliste angeführt65. Albero von Feldsberg (heute Valtice, Tschechische Republik), ein Sohn Chadolds von Feldsberg, war mit Gisela von Ort (Stadt und Bez. Gmunden, Oberösterreich) verheiratet66. Am 1. März 1269 stiftete Albero mit Zustimmung seiner Ehefrau und seiner Erben eine Hofstatt in Imbach (Gem. Senftenberg, Bez. Krems-Land, Niederösterreich), welche einst dem Heinrich zweyman gehört hatte, zum Zweck der Errichtung eines Frauenklosters. Die Urkunde ist besiegelt mit dem Siegel Alberos von Feldsberg, und daneben siegelte auch seine Ehefrau Gisela von Ort – und zwar mit dem Siegel ihres verstorbenen Bruders Hartnid VI. von Ort67, des letzten männlichen Angehörigen dieses Geschlechtes. In der Siegelankündigung lautet es: Ut autem ista integra et inconvulsa permaneant, sigilli mei munimine et Hertnich consobrini mei pie memorie de Ort, quo uxor mea utitur, presentes volui roborare … 68. Gisela beschränkte sich indessen nicht allein auf die Verwendung des brüderlichen Siegels. Am 2. Juli 1269 stellte Gisela, die zu diesem Zeitpunkt bereits als Witwe nach Albero von Feldsberg bezeichnet wurde, eine Urkunde aus und besiegelte sie mit dem Siegel ihres verstorbenen Ehemannes (feci ipsum sigillo pendente domini et mariti mei evidencius roborari)69. Nur wenige Tage später, am 5. Juli 1269, traf sie angesichts einer schweren Erkrankung mit Zustimmung ihrer Töchter eine urkundliche Verfügung, der zufolge das neu errichtete Kloster Imbach im Falle ihres Todes Einkünfte von drei Pfund im Dorf Nöhagen (Gem. Weinzierl am Walde, Bez. Krems-Land, Niederösterreich) erhalten sollte. Wiederum siegelte Gisela mit dem Siegel Alberos von Feldsberg, das jedoch in der Corro­ boratio der Urkunde als das Ihre bezeichnet wird (presentem litteram sigillorum, mei videlicet et Diterici de Roraw et Leutoldi de Chunring generorum meorum appensione, disposui roborandam)70. Becker und Herold vermuteten schlüssig, dass beide Urkunden ins Jahr   Vgl. Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 90; Weltin, Studien (wie Anm. 62) 80.   Zur Urkunde vgl. oben. 66   Zum Geschlecht der Herren von Ort am Traunsee vgl. Viktor Freiherr von Handel-Mazzetti, Waltenstein und Eppenberg und die Herren „von Ort im Traunsee“. 67. Jahres-Bericht des Museum Francisco-Carolinum nebst der 61. Lieferung der Beiträge zur Landeskunde von Österreich ob der Enns (1909) 1–127, hier insbes. 42–96. Vgl. auch Hans Pirchegger, Landesfürst und Adel in Steiermark während des Mittelalters 3 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 16, Graz 1958) 220f. und 228 (Genealogie der Ort). 67   Das Siegel Hartnids VI. von Ort an einer Urkunde vom 22. April 1262 ist abgebildet (Nachzeichnung) bei Handel-Mazzetti, Waltenstein (wie Anm. 66) 103f. 68  Wien, HHStA AUR 1269 III 1; Regest bei Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 116f. und 224 Nr. 236 (irrtümlich zu 1269 Mai 1); vgl. Johann von Frast, Das Nonnenkloster Imbach. Mit einem diplomatischen Anhang vom Herausgeber, in: Der Geschichtsforscher 1/3, hg. von Joseph Chmel (Wien 1838) 533–565, hier 535 (irrtümlich zu 1269 Mai 1); Zajic, Vorbemerkungen (wie Anm. 49) 40–44. 69  StUB 4 206f. Nr. 347; Regest bei Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 225 Nr. 238. 70   Wien, HHStA AUR 1269 VII 5; Edition bei Frast, Nonnenkloster (wie Anm. 68) 550f. Nr. 1; vgl. auch ebd. 551, wo es heißt, „Ihre beyden Schwiegersöhne, Dietrich von Rohrau und Leutold von Chuenring, vereinigten zum Zeugnisse ihrer guten Gesinnung und ihrer treuen Beachtung des letzten Willens ihrer geliebten Schwiegermutter ihre Insiegel mit dem bemerkenswerthen Siegel der letzten.“; Regest bei Herold, SeefeldFeldsberg (wie Anm. 60) 225f. Nr. 240 (mit einem dem Wortlaut der Corroboratio folgenden Verweis auf das Siegel Giselas von Feldsberg). 64

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1270 datiert werden müssten, da Albero noch bis in den März dieses Jahres als Zeuge dokumentiert ist71. Den überlieferten urkundlichen Quellen gemäß dürfte Alberos Ableben demnach auf den Zeitraum zwischen 12. März 1270 und 2. Juli 1270 einzugrenzen sein72. Gisela hingegen erholte sich allem Anschein nach – zumindest kurzfristig – von ihrer Krankheit, denn noch am 25. Oktober 1270 begegnet sie als Ausstellerin zweier abschriftlich überlieferter Urkunden, in denen sie zum einen als relicta domini Alberti felicis memorie dapiferi de Veltsperch, zum anderen als relicta domini Alberti felicis memorie dapiferi de Velsperch, soror Hertnidi de Ort bezeichnet wird73. Letztere Urkunde verdient besondere Aufmerksamkeit: Inhaltlich stellt sie eine Schenkung Giselas an das Kloster Seckau dar, um einen Schaden von 500 Mark auszugleichen, den ihr Bruder einst dem Kloster verursacht hatte, weswegen ihm das Begräbnis in diesem Kloster bis zu diesem Zeitpunkt versagt worden war74. An die Urkunde hängte Gisela wiederum das Siegel ihres verstorbenen Bruders, wie die Corroboratio offenbart: Et quia sigillum proprium non habeo, sigillo fratris mei, quo uti consuevi, presentes literas communivi75. Gisela bediente sich demnach in einer gemeinsamen Urkunde mit ihrem Ehemann Albero im Mai 1269 zunächst des Siegels ihres verstorbenen Bruders, dann im Juli 1270 als alleinige Ausstellerin zweier Urkunden jeweils des Siegels ihres verstorbenen Ehemannes Albero, um schließlich im Oktober 1270 erneut das Siegel ihres verstorbenen Bruders Hartnid VI. von Ort zu gebrauchen – im letzteren Fall wohl deshalb, weil auch inhaltlich der eindeutige Bezug zu ihrem Bruder, mit dem das Geschlecht von Ort in männlicher Linie ausgestorben war, gegeben war. Bedauerlicherweise verliert sich Giselas Spur zu dieser Zeit in den Quellen, am 25. Oktober 1270 ist sie letztmals urkundlich belegt. Vom 20. März 1289 ist eine Urkunde überliefert, an die erstmals eine von Alberos Töchtern, nämlich Agnes von Feldsberg, das Siegel des Vaters hängte. Explizit heißt es in diesem von ihrem Ehemann Leutold von Kuenring, Schenk in Österreich, ausgestellten Dokument zur Besiegelung: Daz ist mins lieben herren herzog Albrehst [sic!] von Ósterrich, mein selbes und miner housfrowen vron Agnesen vater insigel, dacz si uncz her fúr ein eigen insigel behalten hat, und meins vetern hern Heinrichs und seins sunes Albers von Weitra. An der Urkunde (2. Orig.) sind fünf Siegel an rot-gelben Seidenfäden befestigt, beim ­dritten Siegel (beschädigt) – es trägt die Umschrift +∙S(IGILLVM)∙ALBERONIS∙DE∙­ [VEL]S­BERCH∙[DAPIFERI] + – handelt es sich wiederum um jenes Alberos von Feldsberg, das seine Tochter Agnes nun als ihr eigenes gebrauchte (Abb. 18)76. Für Alberos 71  Vgl. M[oritz] A[ugust] Becker, Feldsberg in Niederösterreich. BlLkNÖ N. F. 20 (1886) 336–411, hier 364f.; ders., Feldsberg, in: Topographie von Niederösterreich, hg. vom Verein für Landeskunde von Niederösterreich 3 (Wien 1893) 42–72, hier 54f.; Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 117–119. 72   Vgl. Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 120 (hier mit Verweis auf den Zeitraum zwischen 12. März und 5. Juli 1270). 73  Edition bei Handel-Mazzetti, Waltenstein (wie Anm. 66) 122f. Nr. 17 und 123–125 Nr. 18a; StUB 4 234f. Nr. 391 und 235f. Nr. 392; Regesten bei Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 227 Nr. 244 und 245. 74   Zum Inhalt der Urkunde vgl. auch Pirchegger, Landesfürst und Adel 3 (wie Anm. 66) 220f. 75   Zit. nach StUB 4 235f. Nr. 392, hier 236. 76  Wien, HHStA AUR 1289 III 20; gedruckt bei [Chmel,] Imbach (wie Anm. 49) 567–569 Nr. XXVII; Regest bei Gottfried Edmund Friess, Die Herren von Kuenring. Ein Beitrag zur Adelsgeschichte des Erzherzogtums Oesterreich unter der Enns (Wien 1874) L Nr. 413, und Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 231 Nr. 256. Vgl. auch Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 221; Karl Brunner, Die Kuenringer. Adeliges Leben in Niederösterreich (Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich 53, St. Pölten 1980) 19. Die Ergänzung

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Tochter Agnes dürfte die Verwendung des väterlichen Typars einen besonderen Stellenwert eingenommen haben, und sie bediente sich dessen auch in weiterer Folge, etwa am 2. April 1292. In einer von ihr an diesem Tag ausgestellten Urkunde für das Stift Zwettl bezeichnet sie das angehängte Siegel erneut ausdrücklich als das Ihre: Und ze urkunde dits dinges so gib ich dem apte und der samnunge von Zwetel disen brief veringesigelet min [sic!] minem ingesigel 77. Es sei indessen darauf hingewiesen, dass in sämtlichen angeführten Beispielen der Übernahme des Typars eines männlichen Siegelführers durch eine weibliche Familienangehörige das Geschlecht mit dem ursprünglichen Inhaber – das betrifft sowohl Konrad von Tulln als auch Hartnid von Ort und Albero von Feldsberg – in männlicher Linie ausgestorben war. Agnes von Feldsberg war nicht die einzige weibliche Sieglerin der Familie in ihrer Generation. An einer am 29. März 1285 von den Brüdern Hartnid (III.) und Luitold (III.) von Stadeck78 und ihren Ehefrauen Diemut von Feldsberg und Diemut von Rohrau ausgestellten Urkunde, mittels derer diese dem Kloster Imbach das Dorf Nöhagen, einen Hof in Laitzenperge (sog. Latzenhof ) und eine Mühle in Mukkental schenkten, sind gleich zwei Frauensiegel befestigt (Abb. 19 und 20). Wie die Abbildungen veranschaulichen, handelt es sich zum einen um ein Siegel mit sechs, zum anderen um eines mit drei blütenförmig angeordneten Wappenschilden im Siegelbild. Das eine ziert die Umschrift + S(IGILLVM)∙DIEMVEDIS∙DE∙STADEK79 und somit den mit der Heirat angenommenen Namen beider Frauen, das andere + [S(IGILLVM)∙ELI]SABET∙DE∙OR[T]80. Bei näherem Vergleich der beiden in der Gestaltung sehr ähnlichen Siegel und der darauf angebrachten Wappenschilde sowie nach einem Blick auf die Corroboratio der Urkunde, in der eine Elisabeth von Feldsberg aufscheint, wird deutlich, dass hier erneut zwei Siegel – diesmal Frauensiegel im engeren Sinn – von Töchtern Alberos von Feldsberg vorliegen81. Elisabeth war nicht, wie die Umschrift vermuten lassen würde, mit einem Angehörigen der Umschrift erfolgt nach der Abbildung eines anderen Exemplars desselben Siegels bei Herold, ebd. 263. 77  Zwettl, StA 1292 IV 2. Vgl. auch die Urkunde vom 5. April 1290, an die gleichfalls das Siegel Alberos von Feldsberg angehängt ist. [Chmel,] Imbach (wie Anm. 49) 569 Nr. XXVIII. 78  Zur Genealogie der Stadecker vgl. Hans Pirchegger, Landesfürst und Adel in Steiermark während des Mittelalters 2 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 13, Graz 1955) zwischen 224 und 225; zu Diemut von Feldsberg und Diemut von Rohrau vgl. außerdem ebd. 227 Anm. 9. 79   Zum Siegel Diemuts vgl. Alfred Ritter Anthony von Siegenfeld, Innerösterreichische Rosensiegel. Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“ N. F. 5/6 (1895) 461–484, hier 482 und Taf. IV Abb. 18. Bei den sechs Schilden handelt es sich ihm zufolge jeweils zweimal – gegenüber angeordnet – um jene von Feldsberg (dreimal geteilt), Rohrau aus dem Haus Lichtenstein (geteilt) und Stadeck (Pfahl). Dasselbe Siegel, das auch an einer Urkunde von 1286 hängt, wird beschrieben bei Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 234 Nr. 7, der im Gegensatz dazu zweimal das Feldsberger Wappen (dreimal geteilt), einen Löwen und einen Pfahl und zwei geteilte Wappen erkennen will. 80  Zum Siegel Elisabeths vgl. Anthony von Siegenfeld, Rosensiegel (wie Anm. 79) 482f. und Taf. IV Abb. 19, der allerdings als zweiten Gemahl Elisabeths Ortlieb von Winkel (auch Winkelberg) nennt (dieser heiratete Elisabeths Schwester Gisela) und die drei Wappenschilde demnach als jene von Feldsberg, Pillichsdorf und Winkel bzw. Winkelberg (letzteres unkenntlich) deutet. Elisabeth war jedoch in erster Ehe mit Ulrich von Pillichsdorf, in zweiter Ehe mit Ulrich III. von Kappellen zu Altenhofen verheiratet. Handel-Mazzetti liest die Legende desselben Siegels demzufolge irrtümlich als (Elis)abet de Ca(ppellen) und beschreibt die drei Wappenschilde als jene von Feldsberg, Pillichsdorf und Kappellen. Vgl. Handel-Mazzetti, Waltenstein (wie Anm. 66) 93. Elisabeths Siegel erwähnt auch Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 234 Nr. 5, der die ersten beiden Schilde als jene von Feldsberg und Ort, den dritten als nicht erkennbar ausweist. 81  Wien, HHStA AUR 1285 III 29; gedruckt bei [Chmel,] Imbach (wie Anm. 49) 561f. Nr. XVIII; zum Inhalt der Urkunde vgl. Zajic, Vorbemerkungen (wie Anm. 49) 63f.



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des Adelsgeschlechtes von Ort verheiratet, das ja mit ihrem Onkel Hartnid bereits in männlicher Linie ausgestorben war82, sondern – in erster Ehe – mit Ulrich von Pillichsdorf83. Dafür ist anzunehmen, dass ihr über ihre Mutter Gisela, die Schwester Hartnids, die Herrschaft Ort (vielleicht auch nur ein namhafter Anteil daran) – nachdem diese zunächst von Elisabeths ältester Schwester übernommen beziehungsweise von deren Ehemann Dietrich von Rohrau verwaltet worden war84 – zufiel. In weitere Folge verwendete sie offenbar diesen sehr prominenten Namen – immerhin jenen eines ursprünglich edelfreien Geschlechtes – in ihrem Siegel. Es handelt sich hier um ein Beispiel für die Mitbesiegelung einer Frau in einer Angelegenheit Dritter85. Schließlich ist noch das Siegel einer weiteren Schwester bekannt, nämlich jenes Gertruds (Tuta) von Feldsberg, die mit Gerhard von Obřany (aus Mähren) verheiratet war. An einer von Gertrud 1282 in Břeclav ausgestellten Urkunde, in der sie sich als Tvta des Druhsezzen tohter von Velsperch, hern Gerhartes hausvrowe von Obersezze bezeichnet, hängt ihr Siegel (Abb. 21), das im Gegensatz zu jenem ihrer Schwester Elisabeth ihren Herkunftsnamen Feldsberg nennt, und zwar in der Form +∙ S(IGILLVM)∙ [TVE]TE∙DE∙[VE]LSPER[CH]∙. Diesmal handelt es sich um ein dreieckiges Wappensiegel, das als Bildmotiv einen Schild mit dem Feldsberger Wappen zeigt86. Nicht nur die Umschrift, sondern auch das Siegelbild selbst verweist hier wiederum auf die Herkunftsfamilie der Siegelführerin. Die Namenswahl in der Umschrift bzw. die Nennung einer gesellschaftlich bedeutsamen Bezugsperson, die Übernahme des Siegels eines männlichen Verwandten (Bruder, Ehemann, Vater) beim Aussterben eines Geschlechts in männlicher Linie, ein gleiches oder leicht abgewandeltes Siegelmotiv, das auf eine nähere Verwandtschaft schließen lässt, sind nur einige von zahlreichen Themen, die im Zusammenhang mit hochmittelalterlichen Frauensiegeln zu diskutieren sind. Eine abschließende Analyse dieser Fragestellungen sowie detaillierte Angaben zur quantitativen Verteilung der unterschiedlichen Typen von Siegelbildern und weitere Varianten in der Gestaltung der Umschriften werden erst nach einer vollständigen Bestandsaufnahme sämtlicher österreichischer Frauensiegel erfolgen können und müssen somit künftigen Forschungen vorbehalten bleiben.

  Vgl. oben.   Vgl. Handel-Mazzetti, Waltenstein (wie Anm. 66) 93. Zur Genealogie der Feldsberger vgl. auch Herold, Seefeld-Feldsberg (wie Anm. 60) 245. 84  Handel-Mazzetti vermutete, dass die Herrschaft Ort zunächst an die älteste Feldsberger Tochter überging bzw. von deren Ehemann für die Verwandtschaft verwaltet wurde. Im Zuge späterer Erbteilungen dürfte die Herrschaft schließlich an die Nachkommen Elisabeths aus der Ehe mit Ulrich von Pillichsdorf und jene ihrer Schwester Gisela von Winkel (auch von Winkelberg) gefallen sein. Vgl. Handel-Mazzetti, Waltenstein (wie Anm. 66) 93–95. 85  Zur Besiegelung für Dritte durch weltliche Frauen vgl. etwa Stieldorf, Rheinische Frauensiegel (wie Anm. 1) 209–220. 86  Wien, HHStA AUR 1282; gedruckt bei [Chmel,] Imbach (wie Anm. 49) 560f. Nr. XVII. Zum Siegel Gertruds, welches auch an einer Urkunde aus dem Jahr 1285 hängt, vgl. Melly, Beitraege (wie Anm. 2) 234 Nr. 4. 82 83

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Abb. 1: Siegel Adelheids von Reinsberg, 1274 (HHStA)

Abb. 2: Siegel Adelheids von Reinsberg, 1285 (HHStA)

Abb. 3: Siegel Adelheids von Reinsberg, 1293 (HHStA)



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Abb. 4: Siegel Margarethas von Streitwiesen und ihres Sohnes Heinrich, 1288 (HHStA)

Abb. 5: Siegel Euphemias von Taufers, nach 1293 (HHStA)

Abb. 6: Siegel der Gräfin Sophia von Hirschberg, 1282 (HHStA)

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Abb. 7: Siegel der Herzogin Elisabeth von Österreich, 1293 (HHStA) ,

Abb. 8 und 9: Siegel der Herzogin Gertrud von Österreich, 1247 (HHStA; Vergleich des heute vorhandenen Siegelfragments mit der Nachzeichnung von Sava aus dem 19. Jahrhundert)



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Abb. 10: Siegel Margarethas dicta Prevzzelinna, 1288 (HHStA)

Abb. 11: Secretsiegel Adelheids von Neuburg, 1293 (HHStA)

Abb. 12: Siegel Konrads von Tulln, 1276 (HHStA)

Abb. 13: Siegel Giselas von Königsbrunn, 1298 (© Andreas Gamerith, StA Zwettl)

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Abb. 14: Siegel der Gräfin Wilbirg von Hardegg, 1270 (HHStA)

Abb. 15: Siegel Richardis’ von Mahrenberg, 1291 (HHStA)

Abb. 16: Siegel Elisabeths von Lengbach, 1293 (HHStA)

Abb. 17: Siegel Adelheids von Seefeld, 1258 (© Prag, Staatsarchiv)



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Abb. 18: Siegel Alberos von Feldsberg, hier verwendet von seiner Tochter Agnes, 1289 (HHStA)

Abb. 19: Siegel Diemuds von Feldsberg, 1285 (HHStA)

Abb. 20: Siegel Elisabeths von Feldsberg 1285 (HHStA)

Abb. 21: Siegel Tutas von Feldsberg, 1282 (HHStA)





Studentische Erinnerungen an Heinrich Fichtenau und die Santifaller-Nachfolge Manfred Stoy

Die „Einführung“ und die Vorlesungen Heinrich Fichtenau bedeutete mit seiner „Einführung in das Studium der Geschichte“, die er über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten gelesen hat, für eine Vielzahl von StudentInnen den Beginn ihres Geschichtsstudiums. Er las noch als Privatdozent1 im Sommersemester (in der Folge SS) 1945 eine zweistündige diesbezügliche Lehrveranstaltung und diese dann ab dem Wintersemester (in der Folge WS) 1949/50 in zwei Teilen, anfänglich im Hörsaal 41, den es heute noch gibt, später in den Hörsälen 35 (ab dem WS 1951/52) und 36 (ab dem WS 1955/56), die beide nicht mehr existieren und Teile der Universitätsbibliothek Wien sind. Bis zum SS 1960 war sein Proseminar, so hieß es auch, für die Studenten mit den Anfangsbuchstaben M–Z bestimmt, ab dem WS 1960/61 für jene mit R–Z und ab dem WS 1964/65 für jene mit S–Z, dies auf Grund der steigenden Studentenzahlen. Zum letzten Male hat Fichtenau seine Einführung im WS 1970 und SS 1971 gelesen. Ab dem WS 1960/61 und im SS 1961 besuchte auch ich am Beginn meines Studiums seine „Einführung“. Im ersten Teil seiner Vorlesung bzw. Übung behandelte Fichtenau vorwiegend die verschiedenen Formen der Geschichtsquellen und das Archivwesen, im zweiten brachte er hauptsächlich eine Übersicht über die Geschichtsphilosophie sowie die wichtigsten historischen Zeitschriften und Bibliographien. Im ersten Teil erhielt man 1   Wien, UAW, PA Fichtenau, Schuber 281, Zl. 3858, fol. 135. Die Bestätigung der am 20. Mai 1942 erworbenen Lehrbefugnis Fichtenaus für Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften erfolgte durch das Bundesministerium für Unterricht am 21. Mai 1948. Bundesministerium für Unterricht an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (Hurdes) Zl. 29.454-III/8/48. Santifaller hatte den Antrag am 17. März 1948 gestellt (fol. 137). Die Ernennung Fichtenaus zum ao. Professor für Geschichte des Mittelalters erfolgte durch den Bundespräsidenten Karl Renner mit 12. Januar 1950. Ebd. fol. 110 und 112 (Orig.), Mitteilung des Bundesministeriums für Unterricht (Skrbensky) an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Wien vom 17. Januar 1950, Zl. 1822/I-2/50, D.-Zl. 1266. Siehe zu den Anfängen der Karriere Fichtenaus Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (MIÖG Ergbd. 50, Wien–München 2007); weiters Fritz Fellner–Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 99, Wien–Köln–Weimar 2006) 121f. – Abkürzungen: PA = Personalakt; UAW = Universitätsarchiv Wien.

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als Aufgabe, die verschiedenen Teile einer Urkunde zu markieren, im zweiten zu einem bestimmten Thema die entsprechende Literatur aus den Bibliographien zu ermitteln, wobei mir die so genannte „Reformatio Sigismundi“ zufiel. In Erinnerung blieb mir, dass Fichtenau die Behandlung der Archive weniger gut lag, weitaus engagierter trug er die Diplomatik und vor allem die Geschichtsphilosophie vor. Fichtenaus Einführung galt als die strengste, worauf er auch hinwies und erklärte, man könne ja auch in eine der anderen Vortragenden wechseln. Die diesbezüglichen Ergebnisse hat er selbst in Zahlen festgehalten2. So hatten zum Beispiel im WS 1960/61 111 StudentInnen seine Lehrveranstaltung inskribiert, 90 waren zur Prüfung angetreten, 74 bestanden sie, 16 nicht. Im SS 1961 waren 102 TeilnehmerInnen inskribiert, 66 traten an, 56 schlossen positiv, 10 negativ ab. Im WS 1965/66 waren 91 Hörer inskribiert, 69 unterzogen sich der Prüfung, 49 erzielten ein positives, 20 ein negatives Ergebnis. Im SS 1966 lauteten die Zahlen 92, 67, 46, 21. Es bleibt noch zu erwähnen, dass man für die Abschlussprüfung der Einführung zuzüglich zu den vorgetragenen Themen für den ersten Teil den Stoff über das Altertum aus den Lehrbüchern für die Oberstufe der Mittelschulen von den AutorInnen Anna Janda und Richard Pittioni und für den zweiten Teil die Neuzeit aus den Bänden von Josef Sint, Renate Wagner-Rieger, Franz Heilsberg und Friedrich Korger zu lernen hatte. Sehr breit gefächert waren die Prüfungsfragen beim zweiten Teil3. Bei meiner Abschlussprüfung von Teil II erhielt ich die Fragen: „Der Beginn der Völkerwanderung“ und „Savonarola“, an die dritte erinnere ich mich nicht mehr. Die Benotung Fichtenaus zeigte sehr wenige „sehr gut“ und „gut“, viele „befriedigend“, „genügend“ und „nicht genügend“. Fichte­ naus Vortrag war etwas ungewohnt, seine Sprechweise gedehnt, die Formulierungen oft witzig und ironisch, stets blickte er, wenn er nicht in das Manuskript sah, in die rechte obere Ecke des Hörsaales. Gelegentlich lockerte er seine Ausführungen durch Einschübe auf, wie etwa den, dass seine Tochter gerade Karl May lese oder dass in Zukunft wieder einmal eine Zeit der Romantik kommen würde, von der bis heute jedoch nichts zu bemerken ist. Eine Anwesenheitskontrolle erfolgte immer am Beginn der Lehrveranstaltung. In Erinnerung habe ich weiters, dass er sich stets auf seine ältere, etwas abgegriffene braune Aktentasche setzte, fast ein Zeremoniell. Als wir im Jahre 1983 im Zuge seiner Emeritierung das Direktionszimmer räumten, entdeckte ich, dass Fichtenau auf seinem Drehsessel beim Schreibmaschinentischchen einen dicken Band des Speculum historiale des Vincentius Bellovacensis liegen hatte, der mit einem Deckchen zugedeckt war und auf dem er saß. Wenn man sich die von Fichtenau peinlich genau geführten Proseminarlisten ansieht, so entdeckt man einige bekannte Namen aus dem universitären Bereich wie Michael Mitterauer, Richard Georg Plaschka, Werner Welzig, Alois Mosser, Edith Saurer,   Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Proseminar Listen.   Sie lauteten zum Beispiel: Die Staufische Monarchie an ihrem Höhepunkt, Heinrich VI.; Der Humanismus; Die Reformation in der Schweiz; Die Wiedertäufer; Die Pragmatische Sanktion; Die Reformen Maximilians I., Maria Theresias, Josefs II.; Länderteilung und Türkengefahr unter Ferdinand I.; Die Staatengründungen der Normannen; Der Hundertjährige Krieg; Die Stände Österreichs im Mittelalter und in der Neuzeit; Das Herzogtum Kärnten sowie Das Herzogtum Steiermark im Mittelalter; Wie kamen Kärnten, die Steiermark und Tirol an Österreich?; Florenz im Spätmittelalter; Die Verfassung der USA; Probleme der Kulturgeschichte; Burgund im Spätmittelalter; Die glorreiche Revolution und parlamentarische Monarchie in England; Die Reformen Peters des Großen; Der Nordische Krieg; Leopold von Ranke; Oswald Spengler; Toynbee; Teildisziplinen der Rechtsgeschichte; Kolonialerwerbungen der Spanier, Franzosen, Portugiesen und Engländer im 15., 16. und 17. Jahrhundert; Historische Bibliographien; Historische Zeitschriften und Österreichische Historische Zeitschriften; Historische Zeitschriften aus den österreichischen Bundesländern; Regestenwerke (eigene Sammlung von Prüfungsfragen). 2 3



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Heinz Dopsch und andere. Außeruniversitär sind mir die Namen des ehemaligen Bundeskanzlers Fred Sinowatz, der Schriftstellerin Jutta (später Julian) Schutting und Gesine Tostmann von den Trachtenmoden aufgefallen4. Was die Vorlesungen Fichtenaus betrifft, so hat er vor 1945 nach inoffiziellen Angaben noch unter Hans Hirsch, Institutsvorstand von 1929–1940, eine so genannte kleine „Paläographie“ gelesen5. Dokumentiert ist in den offiziellen Vorlesungsverzeichnissen im WS 1944/45 eine „Einführung in die Münz-, Siegel- und Wappenkunde“6. Fichtenau war vor seiner Ernennung zum Institutsvorstand 1962 fast ausschließlich in der Lehre tätig, für die hilfswissenschaftlichen Kollegien wurde er mit einer Ausnahme nicht herangezogen. Dies war seine dreistündige Vorlesung „Mittellatein für Historiker (Sprache, Stilistik, Quellenkunde)“, die er zum ersten Mal im SS 1952 und bis zu seiner Emeritierung insgesamt elf Mal gehalten hat, zuletzt im SS 1983. Vorläuferin war die im SS 1949 gehaltene zweistündige „Einführung in die lateinische Sprache und ­Literatur des Mittelalters“. Dieses Kolleg, stets im Institutshörsaal gehalten, bezeichnete er gerne als seine Lieblingsvorlesung. Nur ein einziges Mal, nämlich im WS 1948/49, las er in seiner frühen Zeit „Lateinische Buchschrift und Buchornamentik des Mittelalters“, was wohl im Zusammenhang mit seinem Studium der Kunstgeschichte zu sehen ist. Die schon vorher erwähnte kleine dreistündige „Paläographie des Mittelalters“ hielt er im WS 1949/50 und 1954/55. Im SS 1965 las er zusammen mit seinem damaligen Assistenten, dem späteren Institutsdirektor Herwig Wolfram, eine ebenfalls dreistündige „Einführung in die lateinische Paläographie“. Einer einstündigen Verfassungsgeschichte des europäischen Mittel­alters widmete sich Fichtenau im SS 1949 (Hörsaal 41), im SS 1963 hielt er eine zweistündige Vorlesung mit dem Titel „Grundzüge der Verfassungsgeschichte des europäischen Mittelalters“ (Hörsaal 41), diese wohl für den Ausbildungskurs, um sie in der Folgezeit seinem Kollegen Heinrich Appelt zu überlassen, der im WS 1965/66 bereits eine „Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters“ las. Der große Vorlesungszyklus zur Geschichte des Mittelalters begann mit einem zweistündigen Vorspann im WS 1948/49 mit dem Titel „Das karolingische Imperium“ im Hörsaal 41, wobei wohl Fichtenaus 1949 erschienenes gleichnamiges Werk die Grundlage bildete. Im SS 1950 begann dann der dreistündige Zyklus „Geschichte des europäischen Mittelalters“ mit I und endete mit VI im SS 1953 (III ist im Vorlesungsverzeichnis nicht angeführt). Er wurde mit I–V wiederholt und lief vom WS 1953/54 bis zum SS 1956 (Teil V als Repetitorium für Lehramtskandidaten) und vom WS 1956/57 bis zum SS 1959 (Teil V nur zweistündig) abwechselnd in den Hörsälen 36 und 37. Der Titel änderte sich dann im WS 1959/60 mit „Nachfolgestaaten des Römerreiches“, es folgten im SS 1960 „Karolingisches und ottonisches Kaisertum“, im WS 1960/61 „Kaisertum und Papsttum vom Ende des 10. bis in das 12. Jahrhundert“, im WS 1961/62 „Die Geschichte der Stauferzeit“ und im SS 1962 „Europäische Geschichte von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis ins 15. Jahrhundert“. Im WS 1963/64 begann dann im Hörsaal 41 die „Geschichte des europäischen Mittelalters I. Die Nachfolgestaaten des Römerreiches“, fortgesetzt mit Teil II „Karolinger und Ottonenzeit“ im WS 1964/65. Der Zyklus begann dann wieder neu im WS 1966/67 mit „Geschichte des Frühmittelalters“   Wie Anm. 2.   Stoy, Institut (wie Anm. 1) 266. 6  Die angeführten Vorlesungen wurden den offiziellen Vorlesungsverzeichnissen der Universität Wien entnommen. 4 5

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gefolgt von „Karolinger und Ottonenzeit“ im WS 1967/68 und setzte sich in der gleichen Reihenfolge fort in den Wintersemestern 1969/70 (Geschichte des Frühmittelalters bis etwa 750) sowie 1970/71, 1972/73 sowie 1973/74, 1975/76 sowie 1976/77, 1978/79 sowie 1979/80 und zum letzten Male 1981/82 sowie 1982/83 (zweistündig). Damit hatte Fichtenau seine Übersichtsvorlesung ab dem WS 1966/67 auf das Früh- und Hochmittelalter reduziert, dies wohl einerseits infolge der Beanspruchung durch den Institutskurs, andererseits nach Absprache mit Appelt durch eine Aufteilung in der Lehre der mittelalterlichen Geschichte (Grenze um 1000 respektive Heinrich II., gest. 1024). Zu ergänzen ist diese Reihe von Vorlesungen noch durch eine sechsstündige „Geschichte des Mittelalters“ für Lehramtskandidaten der Kunsterziehung in der Akademie der Bildenden Künste im SS 1949 und wohl auch in den folgenden Jahren sowie eine einstündige Spezialvorlesung mit dem Titel „Das geographische Weltbild des Mittelalters“ im SS 1962 (Hörsaal 37). In meiner Erinnerung war der Zyklus mit der Übersichtsvorlesung sehr ansprechend, öfters gewürzt mit ironischen Bemerkungen oder dem Eingeständnis, dass man darüber halt nichts Genaues wüsste, was zum Beispiel die Herkunft der Slawen betreffe. Es mag sein, dass im Laufe von über dreißig Jahren das dynamische Element abgeflacht, eine Erstarrung eingetreten ist. Bemängelt wurde von den Vertretern der so genannten Achtundsechziger-Bewegung der Mangel in der Anwendung der von ihnen vertretenen sozial-ökonomischen Betrachtungsweise7, die aber Fichtenau in seinem Werk über die „Lebensordnungen“ auf wissenschaftliche Weise durchaus zu handhaben wusste. Nur ein einziges Mal hat Fichtenau zusammen mit seinem Assistenten Siegfried Haider die Übung „Lektüre und Interpretation von mittelalterlichen Geschichtsquellen“ im WS 1970/71 im Hörsaal 35a abgehalten. Mit der Übernahme der Leitung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung fielen Fichtenau die jeweils zweisemestrige vierstündige „Lateinische Paläographie I und II“ sowie die „Urkundenlehre II. Privaturkunden“ zu. Die „Lateinische Paläographie“ las er im Abstand von drei Jahren vom WS 1962/63 bis zum SS 1979 und dann im Abstand von einem Jahr zum letzten Male im WS 1980/81 und SS 1981. Insgesamt hat er diese Lehrveranstaltung somit sieben Mal abgehalten. Die einsemestrige, vierstündige „Urkundenlehre II“ mit den Privaturkunden hat er vom SS 1964 bis zum SS 1982 eben sooft gelesen. Eine Beurteilung der „Paläographie“ nimmt im vorliegenden Band Winfried Stelzer vor, das Kolleg über die Privaturkunden reichte in der Qualität an diese nicht ganz heran. Vom WS 1949/50 an hielt Fichtenau anfänglich im Historischen Seminar, dann ab dem WS 1964/65 im Hörsaal 39 und ab dem SS 1966 im Hörsaal 35a ein zweistündiges „Historisches Seminar für mittelalterliche Geschichte“ ab (im SS 1951 nur vierzehntägig), der Wechsel könnte mit der Übernahme der Vorstandschaft des Instituts zusammenhängen und auch auf die mögliche Verstimmung mit Hugo Hantsch, dem Vorstand des Seminars für Geschichte, zurückzuführen sein, der räumliche Ansprüche an das Institut gestellt hatte8. Ab dem SS 1971 kündigte er die Seminare zusammen mit seinem Assisten7   Skriptum ohne Datum mit dem Titel „Geschichte Rezensionen IV“, hg. vom Historischen Institut der Universität Wien, für den Inhalt verantwortlich Anselm Skuhra. 8   München, Archiv der MGH, Nachlass Gottfried Opitz, Korrespondenz mit Alphons Lhotsky. Hier Lhotsky an Opitz, München 23. Oktober 1960. Opitz war von 1949–1969 (71) Geschäftsführer der MGH. Hans Martin Schaller, Opitz. DA 32 (1976) 328f. Für die Überlassung ihrer Aufzeichnungen sowie für interessante und aufschlussreiche Gespräche danke ich Frau Dr. Bettina Maleczek-Pferschy sehr herzlich. Zur Raumfrage siehe auch den Beitrag von Thomas Winkelbauer, Heinrich Fichtenau als Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, S. 331f.



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ten Haider an, seit dem WS 1971/72 wechselweise mit seinem zweiten Assistenten Georg Scheibelreiter und zuletzt mit Anton Scharer (ab dem SS 1981). In den SS 1958, 1982 und 1983 hielt Fichtenau keine Seminare ab, das letzte fand im WS 1982/83 im Institutshörsaal statt. Insgesamt kam er damit auf die stattliche Zahl von 65 Seminaren.

Die Seminare Wie kam man nun in ein Seminar von Heinrich Fichtenau? Es gab damals im Allgemeinen zahlenmäßige Beschränkungen oder Aufnahmsprüfungen. In diesem Fall fand im Hörsaal 41 eine Prüfung statt, wobei man vom Assistenten Herwig Wolfram eine Herrscherurkunde erhielt, in welcher der Aussteller nur bedingt erkennbar beziehungsweise nicht zu ersehen war, um welchen „Otto“ es sich handelte. Man hatte nun ein Regest anzufertigen und durch genaue Erschließung des Herrschers und Inhaltes eine zeitliche Einordnung vorzunehmen. Was das Regest betrifft, so hatte ich dank eines profunden Lateinunterrichtes in der Mittelschule durch den bekannten Genealogen und Heraldiker Ludwig Igáli-Igálffy (1925–2012) damit keine Schwierigkeiten, bei der Bestimmung des Herrschers lag ich möglicherweise nicht ganz richtig, wurde aber in das Seminar aufgenommen. Das Thema dieses Seminars im WS 1961/62 betraf jenen Komplex, den Fichtenau in seinem 1992 erschienenen Werk über „Ketzer und Professoren“ mit dem Untertitel „Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter“, seinem letzten großen Werk, behandelt hat. Ausgehend von den kirchlichen Missständen um 1200, über Waldenser, Katharer, östliche Sekten (Manichäer, Bogomilen, Paulitzianer), Häretiker im Westen, Diskussion um Wesen und Herkunft des westlichen Ketzertums, Ketzermission und Randschichten der religiösen Bewegung spannte sich der Bogen weiter über die Mönchsorden, Regularkanoniker, die neuen Orden (Franziskaner, Dominikaner), das Gericht über die Ketzer seit Alexander III., den Kreuzzug gegen die Ketzer (Albigenserkrieg), über Ketzer und Inquisition in Deutschland bis hin zur Pariser Universität und den neuen Orden, zur neuen Wissenschaft (Aristoteles, Averroes, Thomas), zur neuen Predigt (Mission der Bettelorden) sowie Frauenbewegung und Mystik9. Man sieht anhand eines Vergleiches dieser Themen mit dem Inhalt des Buches, wie lange sich Fichtenau damit beschäftigt hat. Für die Anfertigung der Seminararbeit bekam man von ihm die zu verwendenden Quellen und Literatur genannt, die Ausfertigung konnte einfach ohne entsprechenden wissenschaftlichen Apparat sein, man musste jedoch im mündlichen Vortrag das Thema beherrschen. Es gab damals im Seminar einige Klosterschwestern, Geistliche und Juristen, so dass es zu interessanten Diskussionsbeiträgen kam. Fichtenau hat es einmal bedauert, keine allzu speziellen Kenntnisse im Kirchenrecht und allgemeinen Recht zu besitzen, wie die Ergänzungen der Juristen und Geistlichen zeigten. Es war dieser tiefere Einstieg in den Bereich des Mittelalters für mich sehr interessant und insofern wegweisend, als ich über mein Referat über die östlichen Sekten zur osteuropäischen Geschichte gelangte. Das Thema hatte mich deshalb interessiert, da mir auch als Protestant bekannt war, dass der Kirchenvater Augustinus in seiner frühen Lebensphase Manichäer war. Wer im Zeugnis ein „sehr gut“ erhielt, konnte ein weiteres Seminar ohne Aufnahmsprüfung besuchen. So inskribierte ich bei Fichtenau im WS 1963/64 ein zweites Seminar, dessen Thema   Themenzettel des Seminars im Eigenbesitz.

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Papst Gregor VII. war. Wer auf diese Weise ins Seminar kam, hatte kein Referat zu halten, sondern die Übersetzung einschlägiger lateinischer Texte vorzubereiten. Es handelte sich dabei um Teile aus dem Register Gregors VII., dem Dictatus Papae, dem Bonizonis (Bonizo) episcopi Sutrini ­liber ad amicum und andere. In diesem Seminar konnten neben den mündlichen Referaten die Arbeiten auch nur schriftlich abgegeben werden. Der Themenbogen spannte sich hier von den Briefsammlungen des Investiturstreites, Herkunft und Stellung Hildebrands vor der Papstwahl, der Behördenorganisation in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, den Rechten des Königs bei der Papstwahl und weiter über die Wahl Gregors VII., Eigenkirche und Reichskirche, die wirtschaftliche Bedeutung der Reichskirche für das Königtum, die kanonistische Bewegung, Simonie und Priesterehe, das Reformprogramm Gregors VII., Wesen des Dictatus Papae, Stellung des Papsttums zum Lehens- und Königswesen bis zum Pontifikat Gregors VII., Gregor Hildebrand als Kriegsmann und Lehensherr europäischer Staaten, die Helfer Gregors VII. in Italien bis hin zum Komplex der Beziehungen beziehungsweise Auseinandersetzung mit Heinrich IV. und endend mit einer Bewertung der Persönlichkeit Gregors VII. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts und seiner Charakteristik in der modernen Geschichtsschreibung10. Bedingt durch das Befassen mit den Texten habe ich von diesem gut gegliederten und ebenfalls interessanten Seminar etwas weniger mitbekommen. In meiner Sammlung haben sich die Programme von zwei weiteren Seminaren erhalten. Eines betraf den Bischof Liudprand(t) von Cremona mit starken Bezügen zu Byzanz. Das Referat über die Bulgaren und Byzanz zeigt wieder Fichtenaus Interesse für den Bereich des Balkans. Das andere Seminar hatte das Nachleben Karls des Großen im Mittelalter zum Inhalt. Grundlage war hier Fichtenaus Werk „Das karolingische Imperium“ (1949). Dabei wurde das Karlsbild bei verschiedenen Autoren und in Werken (Einhard, Notker von St. Gallen, Rolandslied, Vita Karoli Magni imperatoris und Kaiserchronik, die Historia Karoli Magni von Turpini [Turpinus pseudo], das Rolandslied des Pfaffen Konrad und andere) und sein Nachleben (Karl IV. und Karl der Große, Karl der Große in humanistischer Sicht, der französische Karlskult sowie Napoleon und Karl der Große) behandelt. Weitere Themen waren Karl als Vorbild und Ahnherr deutscher Kaiser, Karl der Große im Heiligen Land und die Kanonisation Karls des Großen. Auf die Hilfswissenschaften bezog sich „Urkundenfälschung auf den Namen Karls des Großen“. Die Themen weiterer Seminare waren „Die ottonischen Reichsbischöfe“, „Die deutsche Königswahl“ und „Romani, Barbari, Christiani“11. An Sprachkenntnissen waren für die Seminare neben Latein oft Französisch, Italienisch und Englisch erforderlich. Zusammenfassend kann man sagen, dass in meiner Zeit die Anforderungen Fichtenaus Seminar betreffend vor allem in der Beherrschung und im Verständnis des gewählten Themas lagen. Wenn man wollte, so konnte man aus dem in der Übung Gebotenen Vieles an Verständnis und eine Vertiefung in die Welt des Mittelalters mitnehmen.

  Wie Anm. 9.   Für die freundliche ergänzende Auskunft zu den Seminarthemen danke ich Herrn Univ.-Prof. i. R. Dr. Georg Scheibelreiter sehr herzlich. 10 11



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Die Santifaller-Nachfolge Was die Nachfolge auf den Lehrstuhl Leo Santifallers, ab 1945 Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, betrifft12, so ist auf den im vorliegenden Band enthaltenen umfassenden Beitrag des Institutsdirektors Thomas Winkelbauer hinzuweisen, der zum größeren Teil auf der Korrespondenz Heinrich Fichtenaus beruht13. Ebenfalls damit hat sich in knapperer Form beruhend auf Akten und Korrespondenzen Bettina Maleczek-Pferschy in ihrem Beitrag „Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica“ befasst14. Die Autobiographie Fichtenaus gibt zu den entsprechenden Vorgängen so gut wie nichts her15. In den nun folgenden Ausführungen wird vorwiegend das in den Archiven vorhandene relevante Material in breiterer Form ausgewertet. Das Verhältnis Fichtenaus zu Santifaller war von Anfang an gespannt, ihre Charaktere und wissenschaftliche Ausrichtung waren zu verschieden. Schon als Santifaller im Jahre 1943 seine Wiener Professur antrat, soll Fichtenau ihm bei einem erteilten Arbeitsauftrag erklärt haben, dass er nicht sein Assistent sei16. Dies stellte zweifelsohne eine gewisse Brüskierung dar, da er auch als Dozent einen Assistentenposten innehatte. Santifaller hatte wohl schon vorher erkannt, dass Fichtenau sich nur schwer in seinen Führungsstil und seine Pläne würde eingliedern lassen. So überlegte er, ihn auf seine Nachfolgeliste in Breslau setzen zu lassen, und holte dazu die Meinung von Otto Brunner, Institutsvorstand von 1941–1945, ein, die positiv ausfiel17. Fichtenau war aber wohl durch seinen Einsatz bei der Deutschen Wehrmacht unabkömmlich, auf die Lehrkanzel kam Heinrich Appelt. Nach 1945 suchte Santifaller Fichtenau in der Lehre festzunageln, der einen Wechsel nach Innsbruck nicht goutierte und in Wien blieb18. Nach eigener Aussage Fichtenaus soll ihm Santifaller nachgesagt haben, „parfümierte“ Geschichte zu betreiben19. Dies kam gemäß dem damaligen Leiter der Bibliothek und Sammlungen Herbert Paulhart daher, dass Santifaller nur an den Hilfswissenschaften interessiert war20. Nach Meinung von Heinrich Koller, Assistent am Institut und später Ordinarius in Salzburg, wollten Fichtenau und der Ordinarius für österreichische Geschichte am Institut, Alphons Lhotsky, die Geschichte mehr der Allgemeinheit erschließen, Santifaller dagegen habe eine isolierte Verwissenschaftlichung vertreten21. Nach Fritz Fellner, Institutsabsolvent und kurzfristig als Bibliothekar am Institut tätig, später Assistent am Historischen Institut und Ordinarius in Salzburg, agierte Fichtenau für den Wissenschaftsorganisator Santifaller einfach zu zurückhaltend22. Diesen Organisator hat man dann bei Fichtenau vermisst23, doch ist dabei zu berücksichtigen, dass Santifallers Position auch stark auf den Gegebenheiten   Art. Leo Santifaller, in: Fellner–Corradini, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 353f.   Winkelbauer, Fichtenau (wie Anm. 8). 14   Bettina Maleczek-Pferschy, Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica. MIÖG 112 (2004) 412–467, hier 458f. 15  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 43–57, hier 52f. 16   Persönliche Mitteilung Heinrich Fichtenaus. 17   Stoy, Institut (wie Anm. 1) 272. 18   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 50, und persönliche Mitteilung. 19   Gespräch mit Herrn Univ.-Prof. Dr. Heinrich Koller vom 10. Oktober 1994. 20   Gespräch mit Herrn Ministerialrat Dr. Herbert Paulhart vom 30. September 2007. 21   Gespräch mit Herrn Univ.-Prof. Dr. Heinrich Koller vom 19. Juni 1998. 22   Gespräch mit Herrn Univ.-Prof. Dr. Fritz (Friedrich Karl Paul) Fellner vom 11. September 1992. 23   Äußerung von Herrn Univ.-Prof. Dr. Walter Leitsch, Professor für osteuropäische Geschichte, gegenüber dem Autor. 12 13

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nach 1945 beruhte. Nicht so zurückhaltend war Fichtenau allerdings dann, als es um die Nachfolge in der Professur und Leitung des Instituts ging, hier entwickelte er ein großes Durchsetzungsvermögen. Wie aus den Akten zu ersehen ist, versuchte Santifaller schon sehr früh, die Weichen für seine Nachfolge zu stellen. Ich sehe den Beginn in einer Dekanatssitzung vom 27. April 1959, an der unter dem Vorsitz von Albin Lesky (Professor für Klassische Philologie) die Professoren Alphons Lhotsky, Hugo Hantsch (Professor für allgemeine Geschichte der Neuzeit und Vorstand des Historischen Seminars), Heinrich Felix Schmid (Professor für osteuropäische Geschichte), Hans Wieseneder (Professor für Mineralogie und Petrographie) und Heinrich Benedikt (Professor für allgemeine Geschichte der Neuzeit) teilnahmen24. Santifaller selbst referierte über die Ernennung Fichtenaus zum ordentlichen Universitätsprofessor unter Bezugnahme auf die Wiederherstellung der bis 1929 existierenden zweiten mediävistischen Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften. Damit ist jene Lehrkanzel gemeint, die durch das Taktieren von Hans Hirsch verloren gegangen war, der 1929 auf die Professur von Oswald Redlich (Institutsvorstand von 1926–1929 und Professor für mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften) gewechselt war, um durch seine auf einen außerordentlichen Lehrstuhl herabgestufte eigene Professur eine Bewerbung von Harold Steinacker aus Innsbruck zu verhindern25. Jetzt ging das Vorhaben Santifallers wahrscheinlich dahin, durch Schaffung eines zweiten Ordinariates nach seiner Emeritierung mit 30. September 1961 Fichtenau von der Bewerbung auf seinen Lehrstuhl fernzuhalten26. Dabei streute Santifaller Fichtenau Rosen, indem er betonte, dass dieser bereits die Agenden eines Ordinarius habe und wissenschaftlich außerordentlich fruchtbar sei. Der Antrag an das Bundesministerium für Unterricht um Hebung der Professur wurde einstimmig angenommen. Im Ministerium nahm die Behandlung der Sache den normalen Verlauf und war schon weit gediehen, als sie durch die nachfolgend geschilderten Vorgänge hinfällig wurde. Die entsprechenden Akten finden sich im Personalakt Fichtenaus im Österreichischen Staatsarchiv respektive Archiv der Republik. Hinter den Kulissen begannen nun bereits entsprechende Manöver, die Lhotsky wie aus einer Theaterloge betrachtete und darüber mit seinem Freund Gottfried Opitz korrespondierte. So nannte er am 1. November 1959 als Nachfolgekandidaten den von Santifaller favorisierten Appelt, weiters Fichtenau, Zatschek27, Pivec28 und Acht. Eigentlich, rä24   Wien, UAW, PA Fichtenau, Schuber 281, Phil. 107 1960/61, fol. 56, Protokoll der Dekanatssitzung der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, 27. April 1959 (ohne D.-Zl.). 25  Stoy, Institut (wie Anm. 1) 34–44, 47. Die außerordentliche Professur konnte erst 1931 durch Vermittlung des damaligen Unterrichtsministers und Professors am Historischen Seminar, Heinrich Srbik, sichergestellt werden. 26   Fichtenau selbst sah dies auch so. In zwei an Hoffmann gerichteten Schreiben vom 8. und 10. September 1961 meinte er, Schieffer würde sich mit der Entscheidung so lange Zeit lassen, bis er, Fichtenau, Ordinarius geworden sei (Schmerzensgeld). Nach der Absage Schieffers könnte Santifaller dann Appelt in der Fakultät durchbringen. In der Kommission habe ihm Santifaller eine primo loco-Position versprochen, um ihn von dieser fernzuhalten. Beide Schreiben (Durchschriften)Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Santifaller Nachfolge. 27   Heinz (Eugen Arthur) Zatschek war ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften in Prag und Wien, zu diesem Zeitpunkt Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien. Art. Heinz Zatschek, in: Fellner–Corradini, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 469. Zu seiner Wiener Tätigkeit vor 1945 siehe Stoy, Institut (wie Anm. 1) 244–247, 274f. 28   Karl Pivec war von 1950–1974 ordentlicher Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Innsbruck. Art. Karl Pivec, in: Fellner–Corradini, Geschichtswissenschaft (wie Anm.



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sonnierte er, müsste die Institutsdirektion auf Grund der Anciennität ihm zufallen, doch würde er sich mit allen Mitteln dagegen auflehnen. Am liebsten sähe er es, wenn Fichtenau die Hilfswissenschaften sowie die Direktion und Opitz die Mittelalter-Lehrkanzel überlassen würden29. Am 17. Oktober 1960 schrieb er an Opitz, Santifaller wünsche sich Appelt oder Peter Acht zum Nachfolger und würde die Direktion aus organisatorischen Gründen gerne selbst behalten30. Am 23. Oktober und am 9. November 1960 berichtete Lhotsky, dass Santifaller offenbar nicht mehr Appelt favorisiere, und befürchtete bei dessen bedächtiger und hilfswissenschaftlich orientierter Art eine neue Ära [Emil von] Ottenthal [Ottenthaler], der als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften von 1904–1926 Institutsdirektor war. Eigentlich, so Lhotsky weiter, bliebe nur Fichtenau, gegen den sachlich nichts einzuwenden, bei dem aber mit einer eigenwilligen Institutsführung zu rechnen sei. Die Zurücksetzung Fichtenaus von den Hilfswissenschaften würde er bedauern, aber dieser gehe ja dem Institut nicht verloren31. Als dann im Januar 1961 die Kommission zur Regelung der Nachfolge ernannt wurde 32 und Santifaller als Kandidaten nur Appelt und Acht genannt haben soll, stellte Lhotsky fest, dass im Falle der Ernennung von Acht die Inhaber beider Ordinariate, nämlich dieser und Fichtenau, nur dienstlich miteinander verkehren würden33. Am 20. Februar wandten sich dann Lhotsky, Hantsch und Arthur Betz (Professor für Römische Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik) auf Grund einer Notiz in der Presse34 in einem Schreiben mit der Bitte an den Dekan Richard Pittioni (Professor für Urgeschichte des Menschen), vor Eintritt in die Personalfragen auch Fichtenau Gelegenheit zu geben, sich über die sachlichen Bereiche der mediävistischen Forschungen zu äußern35. Aus einer Notiz Pittionis vom 24. Februar 1961 ist dann zu ersehen, dass Fichtenau zum ersten Teil der Kommission eingeladen wurde, der er, da es auch um ihn ging, nicht direkt angehören konnte36. Am 6. Juni erregte sich dann Lhotsky doch darüber, dass Fichtenau an der Sitzung nicht teilnehmen dürfe und die Lehrkanzel nur die Hilfswissenschaften umfassen solle, denn wenn die Geschichte des Mittelalters dazu käme, könne Santifaller weder Appelt noch Acht vorschlagen. Lhotsky äußerte sich dann in der Folge über die ganze Angelegenheit sehr drastisch und sprach von einem Schweinestall37. Am 15. Juni sprach Opitz gegenüber Lhotsky die Hoffnung aus, dass es trotz der starken Ambitionen Achts auf die Lehrkanzel gelingen werde, dieses Unheil vom Institut abzuwenden38. 1) 320. Zum Beginn seiner Karriere siehe Stoy, Institut (wie Anm. 1) 80f., 106, 114, 134, 144, 174. 29   München, Archiv der MGH, Nachlass Opitz (wie Anm. 8). 30  Ebd. 31  Ebd. 32  Wien, UAW, Phil. 107 1960/61, Santifaller an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, Richard Pittioni. Antrag zur Einsetzung einer Kommission zur notwendigen Neubesetzung der Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften vom 15. Januar 1961. 33  München, Archiv der MGH, Nachlass Opitz (wie Anm. 8). 34  Kein Nachwuchs für acht Lehrstühle. Die Nachfolgefrage ist eine der großen Sorgen der philosophischen Fakultät … . Im Falle Prof. Santifallers wird daran gedacht, die früher vorhandene Teilung des Faches wieder aufleben zu lassen. Dann käme als Ordinarius für mittelalterliche Geschichte der jetzige Extraordinarius Prof. Fichtenau, für die Historischen Hilfswissenschaften der Grazer Prof. Appel [sic!] in Frage: Felix Gamillscheg, in: Die Presse vom Sonntag den 19. Februar 1961. Zeitungsausschnitt in Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Nachfolge Santifaller. 35  Wien, UAW Phil. 107 1960/61, Hantsch, Lhotsky und Betz an den Dekan, 20. Februar 1961. 36  Ebd. 37  München, Archiv der MGH, Nachlass Opitz (wie Anm. 8). 38   Ebd.

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Der bereits oben angesprochene Gegensatz zwischen Santifaller und Fichtenau trat in der zur Regelung der Nachfolge Santifallers eingesetzten Kommission klar hervor. Sie tagte am 14. Juni 196139. Den Vorsitz führte der Dekan Richard Pittioni, und sie setzte sich aus den Professoren Santifaller, Lhotsky, Hantsch, Friedrich Engel-Janosi (Honorarprofessor für Geschichte der Neuzeit), Heinrich Felix Schmid, Karl Maria Swoboda (Professor für Kunstgeschichte), Herbert Wilhelm Duda (Professor für Turkologie und Islamwissenschaft), Hubert Rohracher (Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie), Siegfried Korninger (Professor für englische Sprache und Literatur), Otto Höfler (Professor für ältere deutsche Sprache und Literatur), Lesky, Fritz Schachermeyr (Professor für Griechische Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik), Betz, Wilhelm Marinelli (Professor für Zoologie), Erich Heintel (Professor für Philosophie), Kurt Schubert (Professor für Judaistik), Heinz Kronasser (Professor für allgemeine und vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft), Alfred Hoffmann (Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) und Hans Ludwig Gottschalk (Professor für Arabistik und Islamkunde)40 – entschuldigt war der Geograph Hans Bobek – zusammen (insgesamt 20 Mitglieder). Fichtenau konnte, wie schon erwähnt, da über ihn gesprochen wurde, a priori nicht Mitglied der Kommission sein. Am Beginn verlas der Dekan aber den schon zitierten Antrag von drei Kommissionsmitgliedern, es möge auch Professor Fichtenau Gelegenheit geboten werden, über die Aufteilung der sachlichen Bereiche der beiden mediävistischen Professuren, jener von Santifaller und seiner eigenen, zu sprechen. Dieser Antrag wurde angenommen. Vorerst betonte Santifaller in seinem Referat besonders die Bedeutung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung als Lehr- und Forschungsanstalt von internationalem Ruf und als staatliche Archivschule, weiters die wissenschaftlichen Forschungsunternehmen des Instituts und deren Zusammenhang mit den Forschungsunternehmen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, das damals allerdings nur eine Abteilung des Österreichischen Kulturinstituts war. Anschließend hob Fichtenau in seinen Ausführungen die gemeinsamen Aufgaben der beiden Lehrkanzeln hervor, forderte aber dabei programmatisch für die Lehrkanzel Santifaller, dass die so genannten Hilfswissenschaften eben nur Hilfswissenschaften seien und zugunsten der allgemeinen Geschichte zurücktreten müssten. Er bat nun um die Annahme der folgenden Anträge, dass erstens die bisherige Umgrenzung des Faches als Lehrkanzel für Mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften bestehen bleiben möge und zweitens bei der Wiederbesetzung dieser Lehrkanzel Santifaller jene Kandidaten ausgewählt werden sollten, die fähig und gewillt seien, beide Fachgebiete, das bedeute mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften, annähernd gleichmäßig zu vertreten. Beide Anträge wurden einstimmig angenommen, 39  Wien, UAW, Phil. 107 1960/61, Kommissionsbericht. Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften – Santifaller Nachfolge, 14. Juni 1961. 40  Merkwürdigerweise hat Gottschalk am 16. Juli an den Mediävisten Hermann Heimpel, seit 1947 Ordinarius in Göttingen, ein Schreiben gerichtet und ihn gefragt, ob er nicht nach Wien wechseln möge, was dieser ablehnte. In der an Gottschalk gerichteten Antwort lautet Heimpels Reihung für die Santifaller-Nachfolge: Fichtenau, Hausmann, Appelt. Heimpel begrüßte das Hochhalten der Tradition in der Wiener Hochburg. Fichtenau habe sich als Diplomatiker ausgewiesen, aber die Sünde begangen, nebenbei auch noch etwas von Geschichte zu verstehen. An Hausmann sollte man deshalb denken, da er der Allerbeste sei und seine Urkunden­ editionen alle eine historische Spitze hätten. Appelt und Acht seien reine Diplomatiker, letzteren könne er sich auf einem Lehrstuhl nicht vorstellen. Das hier verwendete undatierte Antwortschreiben (Abschrift) befindet sich in Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Nachfolge Santifaller.



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womit Fichtenau die Sitzung verließ und damit zufrieden sein konnte, die Linien nicht im Sinne Santifallers abgesteckt zu haben. Santifaller wies nun nochmals auf die Aufgaben seiner Lehrkanzel unter besonderer Betonung der hundertjährigen Tradition in der Pflege der Hilfswissenschaften in Lehre und Forschung sowie auf die großen wissenschaftlichen Unternehmen des Instituts, insbesondere jedoch auf die Leitung der seit 1875 bestehenden und mit dieser Lehrkanzel verbundenen Wiener Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica (MGH) hin. Anschließend schnitt er die Personalfrage an und nannte außer Fichtenau an österreichischen Historikern Heinrich Appelt aus Graz41, aus Deutschland Peter Acht (München)42, Heinrich Büttner (Marburg)43 und Theodor Schieffer (Köln)44. Mit Ausnahme von Fichtenau seien alle Ordinarien (!), Appelt, Büttner und Schieffer Vertreter des Mittelalters und der Hilfswissenschaften, Fichtenau des Mittelalters und Acht der Hilfswissenschaften. Appelt und Schieffer könnten als langjährige Mitarbeiter an den Diplomata-Abteilungen der MGH ihre Arbeiten in Wien unmittelbar fortsetzen. Fichtenau versehe seit 1950 in ausgezeichneter Weise die Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und sei mehrfach sowie auch neuerdings zum Ordinarius vorgeschlagen worden und ununterbrochen wissenschaftlich auf dem Gebiete des Mittelalters und der Hilfswissenschaften tätig. Er habe als Einziger unter den lebenden Historikern des deutschen Sprachgebietes eine Gesamtgeschichte des Mittelalters verfasst45, aber außer je zwei dreistündigen Vorlesungen über Paläographie (zuletzt 1955) niemals hilfswissenschaftliche Vorlesungen und Übungen, insbesondere der Urkundenlehre, gehalten und sich offenbar nicht um eine Erweiterung der venia um die Hilfswissenschaften bemüht. Bei der Habilitation Wagner habe er sich geweigert, das hilfswissenschaftliche Kolloquium zu übernehmen46. Santifaller äußerte schließlich die Meinung, dass Fichtenau kaum geneigt sein dürfte, im Falle einer Betrauung mit seiner Lehrkanzel die Leitung der großen Forschungsunternehmen des Instituts, insbesondere der Diplomata-Abteilung der MGH zu übernehmen, denn in der Zeit der größten Not habe er eine Mitarbeit abgelehnt47 und vor einigen Monaten betreffend die Neubesetzung der Lehrkanzel im Hinblick auf deren Übernahme ausweichend geantwortet. Dazu kämen noch seine programmatischen Ausführungen am Beginn der Sitzung. Nachdem Sanifaller mit diesen Argumentationen Fichtenau aus dem Rennen werfen wollte, beschloss die Kommission, Fichtenau diesbezüglich zu befragen. 41   Art. Heinrich Appelt, in: Fellner–Corradini, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 40f. Appelt war seit 1948 außerordentlicher Professor und seit 1959 ordentlicher Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Graz. 42  Walter Koch, Nachruf Peter Acht (1911–2010). ZBLG 73 (2010) 851–855. Peter Herde, Peter Acht (11. Juni 1911–7. Mai 2010). Ein „Hilfswissenschaftler“ vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zum demokratischen Wiederaufbau. AfD 58 (2012) XVII–XXXIII. Acht war seit 1959 Ordinarius für Geschichtliche Hilfswissenschaften an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. 43  Büttner war seit 1949 Professor an der Universität in Marburg. 44  Heinrich Appelt, Theodor Schieffer. DA 48 (1992) 417–419. Schieffer hatte seit 1954 den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte sowie Geschichtliche Hilfswissenschaften an der Universität Köln inne und war seit 1956 Mitglied der Zentraldirektion der MGH. 45   Fichtenau, Grundzüge. 46   Dabei handelte es sich offenbar um den Historiker Hans Wagner (Institutsabsolvent), der sich 1961 für österreichische Geschichte habilitiert hatte. Wagner war 1966–1982 Ordinarius in Salzburg, 1973/74 Dekan und 1974–1977 Rektor. Art. Hans Wagner, in: Fellner–Corradini, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 434. 47  Maleczek-Pferschy, Diplomata-Edition (wie Anm. 14), zur Mitarbeit Fichtenaus 434, 436, 438, 442, hier 449.

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Nach kurzer Diskussion erklärte dieser „zweimal“, im Falle einer Ernennung auf die Lehrkanzel Santifaller in Gottes Namen die Leitung der Diplomata-Abteilung zu übernehmen, die sich seiner Meinung nach aber erübrige, da sie wohl aufgelöst würde und lediglich Arbeitsverträge mit einzelnen Mitarbeitern zu schließen wären. Klar zu erkennen ist gemäß dem Protokoll die Generallinie der beiden Opponenten. Santifaller wollte eine weitere möglichst starke Ausrichtung des Instituts auf Hilfswissenschaften, Fichtenau deren Priorität zurückdrängen. Aus damaliger Sicht war die Eigenart des Instituts in seinem Schwerpunkt auf den Hilfswissenschaften respektive der Erschließung und Edition von Quellen die Voraussetzung seiner internationalen Stellung und Akzeptanz. Es bestand damit weniger die Gefahr, in der Universität aufzugehen, als mit einer Verstärkung der Aktivität in der Lehre. Natürlich ist hier auch die Monumenta-Verknüpfung Santifallers zu erkennen, die auf seine frühe Tätigkeit zurückgeht, währenddessen Fichtenau die Einstellung seines Lehrers Hans Hirsch verfolgte, dem die Lehre ein ebenso wichtiges Anliegen war wie die Hilfswissenschaften und der in Verkennung der Rechtslage das Institut fast als Universitätsinstitut ansah, bis er im Jahre 1938 von der Realität eingeholt wurde. Einige Details aus dem handschriftlichen Protokoll der Kommissionssitzung sind noch erwähnenswert48. So wies Fichtenau in seiner Argumentation auf die unterschiedlichen Hörerzahlen hin, nämlich den Anstieg bei den Geschichtsstudenten von 528 auf 660 und 830 in den letzten Jahren im Gegensatz zu den Hilfswissenschaften mit 84. Zudem stehe eine Teilung der Aufgaben der Lehrkanzel im Widerspruch zur Tradition, die von den beiden ursprünglichen Lehrkanzeln in gleichem Ausmaße vertreten worden sei. Hilfswissenschaften und Geschichte gehörten zusammen, erstere sollten kein Selbstzweck sein. Hoffmann meinte nun, man möge Fichtenau fragen, ob sich seine Professur mit den Hilfswissenschaften befassen könne, worauf dieser erwiderte, dass er nur Vorlesungen zur Geschichte des Mittelalters halte, ein Antrag auf Erweiterung betreffend die Hilfswissenschaften könne erfolgen. Hoffmann erklärte weiter, dass die Mittelalter-Lehrkanzel diese nur sekundär zu pflegen habe, dies sei dagegen die spezielle Aufgabe der anderen Lehrkanzel des Instituts, womit er die mit dem Amt des Vorstandes verbundene Professur meinte. Santifaller äußerte wiederum zu diesem Komplex, er habe nicht gewusst, dass Fichtenau die Hilfswissenschaften nicht in seiner Lehrverpflichtung habe, was seltsam anmutet und nicht gut vorstellbar ist. Schließlich brachte Santifaller die Sache nochmals auf den Punkt, indem er vorbrachte, dass Fichtenau nicht geneigt sei, die Diplomata-Abteilung weiterzuführen. Lhotsky, den man in diese Frage einbinden wollte, antwortete kryptisch, dass man Fichtenau auf alle Fälle besonders hervorheben müsste, denn dieser habe ein großes Œuvre vorzuweisen, übe eine große Vortragstätigkeit aus und beherrsche mehrere Sprachen, wogegen Appelt hauptsächlich Verfassungshistoriker und Diplomatiker sei. Nun schaltete sich wieder Hoffmann ein und meinte, dass Fichtenau die Diplomata-Verpflichtung sicherlich erfüllen würde. Santifaller darauf: er würde es bedauern, wenn Fichtenau sich als ein hervorragender Wissenschaftler vom Institut zurückzöge, aber die Lehrkanzel sei nun einmal eng mit der Diplomata-Abteilung verbunden, und es wäre daher schwierig, Fichtenau dafür vorzuschlagen. Fichtenau, jetzt gezielt von Santifaller gefragt, ob er geneigt wäre, diese zu übernehmen, antwortete, er würde sich der Aufgabe nicht entziehen. Schachermeyr wollte nun offensichtlich Fichtenau mit einer präziseren Aussage festnageln und meinte herausfordernd, dass Fichtenau offenbar keine Freude mit der Übernahme hätte, worauf dieser nochmals seine Bereitschaft erklärte, die Diplomata-Abteilung zu führen. Ein begeistertes 48

  Wie Anm. 39. Der handschriftliche Bericht liegt dem maschinschriftlichen Protokoll bei.



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Anliegen ist daraus nicht zu entnehmen, das im Endprotokoll angeführte zweimalige „in Gottes Namen“ kommt im handschriftlichen Protokoll jedenfalls nicht vor. Nicht ganz glauben kann man Santifaller, dass er, wie im Protokoll angegeben, von der oben erwähnten Zeitungsnotiz nichts gewusst habe. Nicht richtig ist ein Passus im Protokoll, dass Hirsch beide Lehrkanzeln innegehabt hätte, nämlich seine eigene und jene von Redlich. Hirsch war ja, wie schon oben beschrieben, aus taktischen Gründen auf jene von Redlich gewechselt und hatte seine eigene zur außerordentlichen Professur herabstufen lassen. Nach dem Ende der Diskussion kam es nun für eine Abstimmung zu einer Liste I mit Appelt – Büttner – Fichtenau – Schieffer primo et aequo loco und Acht secundo loco. Es erfolgte daraufhin eine Umstellung, nachdem Hantsch darauf hingewiesen hatte, dass vier Kandidaten primo loco unvorteilhaft und unüblich wären. Die Liste II enthielt nun Fichtenau und Schieffer primo et aequo loco, Appelt und Büttner secundo et aequo loco sowie Acht tertio loco. Ein Gegenvorschlag von Hoffmann mit Liste III erbrachte primo loco Fichtenau, secundo loco Schieffer und tertio loco Büttner. Swoboda und Lesky stellten nun den Antrag auf eine Kugelabstimmung über Liste II, die ergab: primo et aequo loco Fichtenau mit 17 Ja und 1 Nein und Schieffer 10 Ja, 6 Nein, 2 Enthaltungen, secundo loco Appelt 7 Ja, 11 Nein, Büttner 16 Ja, 2 Enthaltungen, tertio loco Acht 9 Ja, 8 Nein und 1 Enthaltung. Demgemäß ergaben sich nun für eine neue Liste III primo et aequo loco Fichtenau und Schieffer, secundo loco Büttner sowie tertio loco Acht. Am Ende der Sitzung stellte Rohracher noch den Antrag auf Aufrechterhaltung des im Dienstpostenplan 1962 enthaltenen Antrages auf Hebung des Extraordinariates für „Mittelalterliche Geschichte“ auf ein Ordinariat mit Ausweitung auf „Historische Hilfswissenschaften“ ohne Bindung an den derzeitigen Inhaber. Mit dem Ergebnis der Abstimmung hatte man Fichtenau auf alle Fälle in eine günstige Position gerückt, da einerseits erfahrungsgemäß nicht unbedingt mit der Annahme eines deutschen Kandidaten zu rechnen, andererseits Appelt eliminiert war, was man Fichtenau und seinen Anhängern zuschrieb 49. Lhotsky führt dies allerdings auf ein ungeschicktes Verhalten von Appelt in der Fakultät bei einer Feier für Santifaller zurück50, der nun ein Minoritäts-Votum für Appelt erstellte, das mit 24. Juni datiert ist. Es wurde von den Professoren Engel-Janosi, Lhotsky, Schmid und Duda unterschrieben51. Von Lhotsky, der an und für sich eher auf der Seite von Fichtenau stand, wird kolportiert, dass er Santifaller in dieser Situation nicht so isoliert sehen wollte. In diesem Schriftstück gab Santifaller einen Überblick über die Laufbahn Appelts, wies auf das Steirische und Schlesische Urkundenbuch, die Regesta Imperii Heinrichs II. und die Diplome Friedrich Barbarossas hin. Er nannte weiters 39 größere wissenschaftlich bedeutsame Abhandlungen, darunter 9 Bücher, Appelts, der sich überdies als akademischer Lehrer mit 15 aus seiner Schule hervorgegangenen Dissertationen bestens bewährt habe. Schließlich betonte Santifaller, dass er es nicht für richtig hielte, wenn auf der Liste seiner Nachfolger außer Fichtenau kein Österreicher genannt würde, „als wir in Prof. Appelt einen in jeder Hinsicht bestens qualifizierten Österreicher besitzen“. Das der Philosophischen Fakultät übermittelte Resultat wurde von dieser am 29. Juni 1961 in einer Abstimmung mit 56 Ja, 4 Nein und 3 Enthaltungen angenommen. Santifallers Minoritäts-Votum für Appelt secundo loco ex aequo neben Büttner wurde in einer   Winkelbauer, Fichtenau (wie Anm. 8) 313f.   München, Archiv der MHG, Nachlass Opitz (wie Anm. 8), Lhotsky an Opitz, 17. Juli 1961. Lhotsky spricht hier unter anderem von einem pastoralen Tonfall Appelts. 51   Wie Anm. 39. Liegt dem Kommissionsbericht bei. 49 50

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Kugelabstimmung mit 26 Ja, 30 Nein und 7 Enthaltungen von der Fakultät abgelehnt. In dem nun dem Ministerium für Unterricht übersandten und dort am 4. Juli einlangenden Bericht wies der Dekan Pittioni noch darauf hin, dass Fichtenau entgegen den Angaben Santifallers hilfswissenschaftliche Vorlesungen gehalten habe, die im Curriculum auch aufscheinen würden. Eine Erweiterung der venia Fichtenaus auf Hilfswissenschaften wäre durch die 1942 erteilte venia nicht mehr notwendig. Was die Diplomata-Abteilung betreffe, so sei die Reserve Fichtenaus ihr gegenüber in einer wesentlich milderen Form angesprochen worden, der überdies neun Jahre mitgearbeitet habe, was wohl sehr großzügig gerechnet ist, und mit deren Aufgaben wohl vertraut sei52. Nun harrte man der ministeriellen Entscheidung, eine Phase, in der die Unterstützer Fichtenaus nicht untätig blieben. So setzte sich ein ganzer Tross von Personen in Bewegung, der sich zu einem erheblichen Teil aus Universitätsprofessoren zusammensetzte, die sich beim Bundesminister Heinrich Drimmel, dem Sektionschef Adalbert Meznik bis hin zu den Ministerialräten beziehungsweise Abteilungsleitern Franz Hoyer (Sektion I/1), Franz Sturminger ( I/2), Franz Veits (I/4), Alfred Weikert (I/8) und anderen für Fichtenau einsetzten. Neben dieser Gruppe intervenierten auch die Landeshauptleute Josef Krainer senior von der Steiermark und Heinrich Gleißner von Oberösterreich bei Drimmel53, Ministerialrat Hoyer, an den eine größere Gruppe herantrat, vertrat generell die Ansicht, dass ein inländischer Gelehrter einem ausländischen Bewerber vorzuziehen sei 54, doch der Minister und sein Sektionschef gaben dem von Santifaller gewünschten Theodor Schieffer den Vorzug. Aus einer Anfrage von Hantsch in einer späteren Sitzung geht hervor, dass es sich letztlich um eine persönliche Entscheidung des Ministers gehandelt habe55. Der Dekan Pittioni verfolgte nun die Angelegenheit im Ministerium hurtig weiter, indem er am 20. Juli ein Schreiben an den Unterrichtsminister Drimmel richtete, in welchem er der Hoffnung Ausdruck gab, dass die Nachfolge Santifaller dem Beschluss der Fakultät entsprechend entschieden werde56. Am 8. September schrieb er an Schieffer etwas entrüstet, von dessen Verhandlungen mit dem Ministerium gehört zu haben, und bedauerte, dass es keine Gelegenheit zu einer persönlichen Aussprache gegeben habe. Er bitte Schieffer, seine Entscheidung so bald wie möglich zu treffen und diese nicht nur dem Ministerium, sondern auch der Fakultät mitteilen zu wollen57. Am 12. September brachte er persönlich gegenüber Ministerialrat Hoyer sein Befremden über das ministerielle Vorgehen zum Ausdruck und ersuchte im Falle einer Ablehnung Schieffers den an erster Stelle genannten Fichtenau zu Verhandlungen einzuladen58. Am 22. September richtete Pittioni nochmals ein Schreiben an Drimmel, in welchem er das Befremden über die Betrauung Schieffers zum Ausdruck brachte und darauf hinwies, dass bei einer Absage für die Fakultät eine Berufung Fichtenaus erwünscht wäre59. 52  Wien, UAW, Phil. 107 1960/61, Dekanat (Pittioni) an das Bundesministerium für Unterricht, Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften. Nachfolge Prof. Dr. Leo Santifaller, 29. Juni 1961. 53   Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Nachfolge Santifaller. 54   Gespräch mit Herrn Dr. Helmut Hoyer, Sohn von Dr. Franz Hoyer, vom 20. Januar 2013. 55   Wien, UAW, Phil. 107 1960/61 Protokoll der Dekanatssitzung an der Philosophischen Fakultät vom 9. Oktober 1961. Antwort Pittionis auf eine Frage von Hantsch. 56  Wien, UAW, Phil. 107 1960/61, Der Dekan (Pittioni) an Drimmel, 20. Juli 1961. 57  Ebd. Pittioni an Schieffer, 8. September 1961. 58  Ebd. Geht aus einem Schreiben Pittionis an Drimmel vom 22. September 1961 hervor. 59   Ebd. Pittioni an Drimmel, 22. September 1961.



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Schieffer, dem, wie schon erwähnt, von Drimmel die Nachfolge Santifallers angeboten wurde (11. Juli, Vorsprache im Ministerium am 30. August), hatte inzwischen ein ­Schreiben an den Sektionschef Meznik gerichtet (4. September 1961)60. Darin wünschte er eine Klarstellung hinsichtlich der Rollenverteilung betreffend der Leitung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der mittelalterlichen Abteilung des Historischen Seminars und Ausbaus der neueren und neuesten Geschichte. Er verlange aber nicht die Leitung des Instituts, da er nicht zum Kreise der alten Mitglieder zähle61. Schieffer sprach in seinem Schreiben auch die Situation der Bibliotheken an, bezeichnete die Institutsbibliothek als erstklassige Einrichtung, in der es allerdings an Publikationen zur westeuropäischen Geschichte, insbesondere der französischen, mangle, außerdem wären umfangreiche Buchbinderarbeiten notwendig. Die mittelalterliche Abteilung des Historischen Seminars entspreche dagegen nicht seinen Erwartungen. Er wünschte sich daher separat für beide Bibliotheken für einen Zeitraum von fünf Jahren jährlich eine Dotation von S 100.000, –, insgesamt also S 1,000.000,– , eine nicht geringe Summe, der wohl kaum entsprochen worden wäre. Weitere Punkte, die er anschnitt, betrafen die Gehalts- und Urlaubsfrage62. Nachdem Schieffer auch die Frage der Aufgaben der beiden Lehrkanzeln angeschnitten hatte, kam es am 9. Oktober 1961 unter dem neuen Dekan Ferdinand Steinhauser (Professor für Meteorologie und Geophysik) zu einer weitern Sitzung im Dekanat, an der die Professoren Lhotsky, Hantsch, Schmid, Hoffmann, Fichtenau, Pittioni und Benedikt teilnahmen. Auf eine Frage von Schmid, ob das zweite Ordinariat überhaupt gesichert sei, bejahte dies Pittioni, das Ministerium habe dies zugesichert. Es wurde in der Folge sehr ausführlich über die Aufteilung der Lehrveranstaltungen gesprochen. Dabei wurde nochmals festgehalten, dass nur Kandidaten in Frage kämen, die fähig und gewillt seien, beide Fächer in gleichmäßiger Weise zu vertreten. Wesentlich war, dass sich Santifaller mit dem Titel der beiden Mittelalter-Ordinariate einverstanden erklärte, nämlich „Mittelalter und Hilfswissenschaften“. Er freue sich, so bekundete er nun auf einmal weiter, dass die Durchführung der hilfswissenschaftlichen Vorlesungen und Übungen des Instituts in Zukunft auf beide Ordinariate verteilt werden solle. Schließlich betonte er noch, dass die Ernennung des Institutsvorstandes Sache des Ministers sei, worauf Lhotsky ergänzte, dass die Ernennung des Leiters des Seminars der Fakultät zustehe. Santifaller fügte dem allen noch hinzu, dass er die in Verbindung mit der Akademie stehenden Forschungsunternehmen weiter zu leiten gedenke63. Präzisierungen die Vorlesungen und Übungen betreffend wurden dann in einer Dekanatssitzung vom 7. November vorgenommen, das Ergebnis dem Ministerium am 9. November mitgeteilt64. Dieses sah für beide Ordinariate so aus: A 1. Drei Hauptvorlesungen aus der Geschichte des europäischen Mittelalters nach Absprache mit dem anderen Ordinarius oder zwei Vorlesungen des Zyklus und eine aus dem Bereich der Verfassungsgeschichte. A 2. Abhaltung von Seminarübungen für jedes Or60  Wien, ÖStA, AdR, Bundesministerium für Unterricht, 4 Phil. Lehrkanzel 1945–1965, Kt. A-K. Schieffer an Sektionschef Meznik, Bad Godesberg 4. September 1961, eingelangt am 13. September 1961 zu Zl. 92.004-4. 61   Schieffer war kein Institutsabsolvent. 62   Wie Anm. 60. 63   Wien, UAW Phil. 107 1960/61. Protokoll der Dekanatssitzung der Philosophischen Fakultät vom 9. Oktober 1961. 64  Wien, ÖStA, AdR, Bundesministerium für Unterricht, Personalakt 803 Fichtenau Tl. 2. Dekanat (Steinhauser) an das Bundesministerium für Unterricht vom 9. November 1961. Betreff: Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften. Berufungsverhandlungen mit o. Prof. Dr. Theodor Schieffer, Köln.

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dinariat. A 3. Beteiligung an den historischen Proseminaren. B. Abhaltung von zwei der aufgezählten Hauptvorlesungen aus dem Gebiet der Hilfswissenschaften nach Absprache mit dem zweiten Ordinarius und dem Institutsvorstand. Darüber hinaus (C) war jeder Ordinarius Mitglied der Prüfungskommission, eine Verringerung der Verpflichtungen bei Schaffung eines neuen Ordinariates sollte beiden Ordinariaten zugute kommen (D). Was die Leitung der Forschungsunternehmen betraf, wurde festgelegt, dass diese am besten und eindringlichsten (Änderung am Rand auf einfachsten) in gemeinsamer Absprache zwischen Santifaller und den beiden Ordinarii festgelegt werden sollte (E). Santifaller enthielt sich bei der Abstimmung wegen der Frage der Aufteilung bei der Prüfung der Archivare, die nach Absprache und nicht nach einer Teilung erfolgen solle, der Stimme. Das Ergebnis dieser Sitzung bedeutete die Zementierung der Vorstellungen Fichtenaus. Die ganze Situation änderte sich aber dann personell dadurch, dass ein von Schieffer mit 26. November datierter Brief eintraf, in welchem er das Angebot der SantifallerNachfolge ausschlug65. Eingangs betonte er, dass ein Angebot des Kultusministeriums von Nordrhein-Westfalen es ihm nicht möglich mache, die Entscheidung weiter hinauszuschieben. Vernunft und nüchterne Abwägung geboten ihm, in Köln zu bleiben. Die Gehaltsobergrenzen in Wien stünden den deutschen Verhältnissen nicht nach, aber eine kräftige Erhöhung des Kollegiengeldes würde bei einem Wechsel nach Wien eine wesentliche wirtschaftliche Verschlechterung für ihn bedeuten. Er fühle sich der rheinischen Heimat verwurzelt, die Familie, in einem eigenen Hause wohnend, würde in eine wesentlich andere Welt verpflanzt werden. Schließlich wolle er sich nach längerer Beschäftigung mit den Kaiserurkunden von diesen lösen, denen er sich in Wien hätte mehr widmen müssen66. Schweren Herzens verzichte er auf das Angebot. Man fragt sich bei der Angabe dreier derartig gewichtiger Gründe, ob sich das Schieffer nicht hätte schon früher überlegen können. Es könnte allerdings sein, dass es darüber hinaus auch andere Gründe für die Ablehnung gegeben hat. Da wäre einmal die für ihn nicht leicht durchschaubare Verflechtung des Instituts mit dem Historischen Seminar, aber wohl noch mehr die ablehnende Haltung der Fakultät seiner Person gegenüber. Dazu kam noch die damals unsichere rechtliche Stellung des Instituts, die erst viel später durch das Forschungsorganisationsgesetz (FOG) behoben wurde. Damit war nun der Weg für Fichtenau frei. Am 4. Dezember stellten die Professoren Lhotsky, Hoffmann, Betz und Pittioni einen Antrag an die Philosophische Fakultät, es möge in der Sitzung vom 16. Dezember beschlossen werden, Berufungsverhandlungen mit Fichtenau aufzunehmen67. Das Professorenkollegium fasste daraufhin einen entsprechenden einstimmigen Beschluss, das Ministerium zu bitten, in der Angelegenheit der Wiederbesetzung des bestehenden Ordinariates für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften mit Fichtenau diesbezügliche Verhandlungen aufzunehmen (20. Dezember 1961)68. Diese stießen im 65  Ebd. Schieffer an Sektionschef Meznik, Bad Godesberg, 26. November 1961. Orig. Schieffer teilte seine Absage ohne Angabe von Gründen mit Hinweis auf sein Schreiben an das Ministerium der Philosophischen Fakultät ebenfalls mit. Wien, UAW, Phil. 107, Schieffer an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, Bad Godesberg 26. November 1961. 66   1960 hatte Schieffer die Diplome Zwentibolds und Ludwig des Kindes ediert, doch setzte er diese Tätigkeit mit den Diplomen Lothars I. und Lothars II. (1966) und der burgundischen Rudolfinger (1977) fort. Diese Bände waren allerdings schon lange in Arbeit gewesen. 67  Wien, UAW Phil. 107 1960/61, Antrag an die Philosophische Fakultät vom 4. Dezember 1961. 68  Wien, ÖStA, AdR, Bundesministerium für Unterricht, PA 803 Heinrich Fichtenau, Dekanat der Philosophischen Fakultät an das Bundesministerium für Unterricht, 20. Dezember 1961.



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Ministerium insofern auf ein positives Echo, als mit Jahresbeginn Franz Hoyer Sektionschef Meznik nachgefolgt war69. Noch Ende Dezember hatte sich Richard Meister (Professor für Pädagogik und Kulturphilosophie an der Universität Wien und Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) unter dem Hinweis darauf, dass Fichtenau Kaiserurkunden, Papsturkunden, Privaturkunden und Paläographie zu lesen habe, dafür stark gemacht, dass man Fichtenau auch zum Vorstand des Instituts ernennen müsse70. Fichtenau versicherte Hoyer in einem Schreiben vom 15. Januar 1962, dass er sich zu einer vollen Erfüllung der mit dem Ordinariat verbundenen Aufgaben verpflichte. Er erklärte die Bereitschaft, die wesentlichen Kollegien aus dem Fachgebiet der Historischen Hilfswissenschaften gemäß den Bedürfnissen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in loyaler Zusammenarbeit mit dem zu ernennenden zweiten Vertreter des Faches zu lesen, und er wolle dieses Fachgebiet zu seinem besonderen Anliegen machen71. Seine finanziellen Bedingungen waren eher bescheiden. Er bat um die Summe von S 40.000,- auf drei Jahre für die Ergänzung des paläographischen Apparates, davon S 10.000,- gleich nach Antritt der Professur, und die Erhöhung der Subvention für die steigenden Kosten der MIÖG von S 50.000,- auf S 63.000,-. Darüber hinaus wünschte er die Schaffung einer Diätendozentur, wenn diese aber nur schwer einzurichten sei, einen Assistentenposten. Das Ministerium sagte die angesprochenen Mittel nach Maßgabe der Möglichkeiten zu und richtete ein entsprechendes Ersuchen an die Abteilung 2 des Ministeriums. Bei der Diätendozentur meinte man, sei es besser, um Zuweisung eines Assistentenpostens anzusuchen. Was die finanzielle Einstufung Fichtenaus anbelangt, so erhielt er die 5. Gehaltsstufe eines Ordinarius ab 1. Juli 1962 zugesagt, darüber hinaus S 385,- als Aufwandsentschädigung für Forschungsarbeiten und S 130,- für Mehrleistungen. Hinsichtlich einer eigenen Zulage für die Tätigkeit als Vorstand wurde darauf hingewiesen, dass Redlich dafür keine Vergütung erhalten habe und die Ernennungsdekrete für Hirsch und Brunner zwecks Einsichtnahme nicht auffindbar seien. Fichtenau äußerte, dass er eine Vergütung begrüßen würde, stelle aber diesbezüglich keine Ansprüche72. Kurz nach seiner Emeritierung versicherte er einmal … und ich habe das alles umsonst gemacht73. Fichtenau wurde dann mit Entschließung des Bundespräsidenten Adolf Schärf mit 15. Mai 1962 zum ordentlichen Professor für Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften an der Universität Wien ernannt74. Er trat am 1. Juni seinen Dienst als Ordinarius an und wurde mit Wirksamkeit vom 1. Juli 1962 zum Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung ernannt75. Was in Fichtenau während der ganzen Zeit vorgegangen ist, zeigen die von Winkelbauer ausgewerteten Briefe sehr deutlich. Er schrieb bei der Erreichung seines Zieles P. Willibrord Neumüller (Stift Kremsmünster) einen bedeutenden Einfluss zu76. Das Ministerium hatte aber nach der Absage Schieffers wohl keine andere Wahl, die aber letztlich   Siehe dazu auch Winkelbauer, Fichtenau (wie Anm. 8) 314.   Wie Anm. 68, Amtsvermerk Hoyers zu Zl. 108.156-4/61 vom 30. Dezember 1961. 71  Wie Anm. 68, Fichtenau an Hoyer, 15. Januar 1962. 72   Wie Anm. 68, 1. Einlageblatt zu Zl. 34.451-4/62. 73   Aussage in einem Telefongespräch kurz nach seiner Emeritierung gegenüber dem Autor. 74   Wien ÖStA, AdR, Bundesministerium für Unterricht, Personalakt 803 Heinrich Fichtenau. Formloser Zettel mit Schärfs Unterschrift und Mitteilung des Ministeriums an Fichtenau vom 22. Mai 1962 (Drimmel) und Wien UAW, Personalakt Fichtenau, Schuber 281, Zl. 3858, fol. 55. 75  Wien, UAW, Phil. 107 1960/61, Bundesministerium für Unterricht (Drimmel) an Fichtenau, Zl. 31.451-4/62 vom 22. Mai 1962. 76   Winkelbauer, Fichtenau (wie Anm. 8) 315. 69 70

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auch der oben geschilderten Einstellung des nunmehrigen Sektionschefs Hoyer entsprach. Man sollte aber bei der Beurteilung der ganzen Angelegenheit das gegenseitige Ringen der Kontrahenten zur Erreichung ihrer Ziele von ihnen als Person abheben. Es war eben die Zeit gekommen, wo die in der Vergangenheit mehr oder minder vorhandene Dominanz der MGH bei der Bestellung der mit dem Amt des Institutsvorstandes verbundenen Professur zwangsläufig in den Hintergrund treten musste. Man befand sich ja schließlich auch schon weit in der Zweiten Republik, in der sich ein verstärktes Österreich-Bewusstsein entwickelt hatte. Mit dem ab 1. Januar 1962 geschaffenen zweiten Ordinariat für mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften, auf das Fichtenau Heinrich Appelt aus Graz holte77, gingen die Editionsarbeiten, die dem Institut in der Vergangenheit viel Ansehen gebracht hatten, mit der Herausgabe der Barbarossa-Diplome unter der Leitung Appelts aber weiter. Ein Wermutstropfen bestand allerdings darin, dass das Institut auf der Titelseite nicht genannt ist, was jetzt aber wieder bei den Urkunden Heinrichs VI. der Fall ist (im Internet) und auch bei den am Institut von Othmar Hageneder und seinem Team bearbeiteten Bänden des Registers Papst Innocenz’ III. so gehandhabt wird. Es hätte allerdings neben das bis dahin noch nicht fertig gestellte Babenberger-Urkundenbuch (Bd. 3. 1954) ein weiteres die österreichischen Belange betreffendes Unternehmen treten können wie etwa die Fortführung der Regesta Habsburgica, wofür aber damals kaum Arbeitsmöglichkeiten und die dafür notwendigen Dienstposten noch nicht vorhanden waren. Wenn man die Situation genauer betrachtet, so waren auch die am Institut tätigen Professoren auf ihren eigenen Bereich konzentriert, ein gemeinsames großes Projekt wohl schwer verwirklichbar. Überdies musste Fichtenau seine ganze Energie und Kraft aufwenden, um das Institut über zahlreiche Klippen hinwegzubringen, was ihm auch erfolgreich gelungen ist. Zusammen mit Heinrich Appelt, mit dem ihn eine harmonische Zusammenarbeit verband, haben beide für längere Zeit das Institut für Österreichische Geschichtsforschung entscheidend geprägt.

Zusammenfassung Die im ersten Teil dieses Beitrages geschilderten studentischen Erinnerungen beruhen auf der Teilnahme des Autors an den Proseminaren und Seminaren Heinrich Fichtenaus. Dabei werden Aufbau, Inhalt sowie Ablauf dieser Lehrveranstaltungen einschließlich der Grundthemen aller Seminare und auch eine Zusammenstellung der von Fichtenau gehaltenen Vorlesungen geboten. Im zweiten Teil wird basierend auf den in den relevanten Archiven vorhandenen Akten und weiterer ergänzender Quellen die Nachfolge Leo Santifallers auf seine Lehrkanzel und im Amt des Vorstandes des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung im Jahre 1961 behandelt. Dabei glückte es Santifaller nicht, den von ihm favorisierten Kandidaten Theodor Schieffer von der Universität Köln als Nachfolger zu platzieren, der nicht nach Wien wechseln wollte. So konnte der von der Philosophischen Fakultät der Universität gewünschte Kandidat Heinrich Fichtenau im Mai 1962 die Nachfolge auf den Lehrstuhl antreten und im Juli in der Leitung des Instituts übernehmen.

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  Siehe das entsprechende Kapitel ebd.



Heinrich Fichtenau als Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (1962–1983) Thomas Winkelbauer

Michael Tangl hat in seinem Nachruf auf Engelbert Mühlbacher († 1903) dessen „Abscheu gegen innere Hohlheit und Strebertum“ hervorgehoben. In seinem Beitrag über „Diplomatiker und Urkundenforscher“ im 100. Band der Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zitierte 1992 der damals achtzigjährige Heinrich Fichtenau diese Charakterisierung1, die auch auf ihn selbst zugetroffen haben dürfte. Mühlbacher wurde erst 1896, nach 15 Jahren als Extraordinarius im Schatten Theodor von Sickels und gleichzeitig mit seiner Bestellung zum Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, zum ordentlichen Professor ernannt. Seither war er, wie Oswald Redlich berichtete, „ein ganz anderer Mensch“2. Vielleicht gilt das auch für Heinrich Fichtenau, der erst 1962, kurz vor seinem 50. Geburtstag, zum ordentlichen Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften ernannt wurde, nach zwölf Jahren als Extraordinarius und ebenfalls gleichzeitig mit der Bestellung zum Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Spekulationen darüber sind freilich nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags eines Autors, der, obwohl er die Gelegenheit gehabt hätte, leider selbst keine Lehrveranstaltung Fichtenaus besucht hat, ihn aber noch persönlich gekannt und auch des Öfteren mit dem freundlichen alten Gelehrten gesprochen hat, unter anderem am 31. März 1995 nach einem Vortrag im Rahmen eines Institutsseminars über die österreichischen Kriegsanleihen im Ersten Weltkrieg3.

Nachfolge Santifaller Heinrich Fichtenau hatte am 1. Februar 1937, knapp zwei Jahre nach der Absolvierung des 39. Institutskurses4, am Österreichischen Institut für Geschichtsforschung, wie 1  Fichtenau, Diplomatiker und Urkundenforscher 24. – Für die kritische Lektüre des Manuskripts und wichtige Hinweise danke ich Heide Dienst, Wolfgang Häusler, Othmar Hageneder, Paul Herold, Johannes Holeschofsky, Georg Scheibelreiter, Winfried Stelzer, Manfred Stoy und Herwig Wolfram. – Abkürzungen: BMU = Bundesministerium für Unterricht; BMUK = Bundesministerium für Unterricht und Kunst; BMWF = Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung; UAW = Universitätsarchiv Wien. 2  Zit. nach Fichtenau, Diplomatiker und Urkundenforscher 33. 3  Gedruckt als: Thomas Winkelbauer, Wer bezahlte den Untergang der Habsburgermonarchie? Zur nationalen Streuung der österreichischen Kriegsanleihen im Ersten Weltkrieg. MIÖG 112 (2004) 368–398. 4  Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (MIÖG Ergbd. 50, Wien–München 2007) 336f.

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es damals hieß, eine Anstellung als „wissenschaftliche Hilfskraft“ erhalten, nachdem er bereits seit 1936 Mitarbeiter der Diplomata-Edition am Institut (Edition der Urkunden Konrads III.) gewesen war5. Jahrzehnte später erinnerte er sich, er habe nicht zu den Favoriten seines Doktorvaters Hans Hirsch, des damaligen Institutsvorstands, gezählt, der sich anderseits mir gegenüber durchaus korrekt verhalten hat, als man6 ihm 1938 riet, mich doch durch jemand zu ersetzen, „der mit ganzem Herzen bei der Sache ist“ 7. Mitte Juli 1938 schrieb Hirsch in einem Brief an einen Kollegen: Dass es gelungen ist, Fichtenau zu halten, ist ein großes Glück8. Im Juni 1940 wurde Fichtenau zur Deutschen Wehrmacht einberufen. Unter anderem da er gut Maschinschreiben konnte, wurde er während seines vierjährigen Kriegsdienstes bei der Luftwaffe als Fernschreiber eingesetzt. Mit 1. August 1940 wurde er zum Assistenten am Institut für Geschichtsforschung bestellt. Während eines kurzen Urlaubs habilitierte er sich im Mai 1942 (bei Heinz Zatschek, dem Nachfolger des 1940 gestorbenen Hans Hirsch) für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften9. Zwei Tage vor dem 20. Juli 1944 wurde er in Wien in die Reserve übergeführt10. Nach Kriegsende wurde er von Leo Santifaller, dem Nachfolger Otto Brunners als Institutsvorstand, mit der Arbeit am „Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich“ betraut, zusammen mit dem vier Jahre jüngeren Erich Zöllner11. Die Bände 5   Ebd. 144; Bettina Maleczek-Pferschy, Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1875–1990). MIÖG 112 (2004) 412–467, hier 431 und 434. 6  Insbesondere der Nationalsozialist Walter Wache, ein gebürtiger Wiener (und Kurskollege Heinrich Appelts), der sich 1938 in Köln habilitierte. Vgl. Stoy, Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 4) 158f. und 325; Andreas H. Zajic, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in: Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts 1, hg. von Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) 307–417, bes. 341–347. 7  Wien, IÖG, Korrespondenz Heinrich Fichtenau, Fichtenau an Albert Hollaender, Wien, 5. Dezember 1978. – Fichtenau hatte im Mai 1938 um Aufnahme in die NSDAP angesucht. Das Ansuchen wurde jedoch zurückgestellt, und Fichtenau hat es nicht erneuert. In einem Schreiben vom 9. Juli 1945 an den Magistrat der Stadt Wien gab er an, den Aufnahmeantrag auf wiederholte Vorstellungen [s]eines Vorgesetzten [...] Hans Hirsch gestellt zu haben, [d]a der Nachweis eines positiven Verhältnisses zur Partei für meinen Verbleib in der Universitätslaufbahn dringend erforderlich schien. Wien, UAW, Personalakt Heinrich Fichtenau (PH PA 3858), fol. 147. Zwischen 1938 und 1945 „rassisch“ und politisch verfolgte Persönlichkeiten sowie keiner nationalsozialistischen Neigungen verdächtige Historikerkollegen (Alphons Lhotsky, August Loehr, Willy Lorenz, Amalie Oppenheim, Viktor Reimann und Erich Zöllner) bescheinigten Fichtenau zwischen Juli und September 1945 schriftlich eine antifaschistische, dem Nationalsozialismus gegnerische, antirassistische und österreichische Einstellung sowie seine moralische und finanzielle Unterstützung seit 1938. Ebd., fol. 149–152. Die „Sonderkommission II der Universität Wien für Dozenten, Assistenten und wissenschaftliche Hilfskräfte der philosophischen und juridischen Fakultät (gemäß § 21 des Verbotsgesetzes)“ beurteilte in ihrer Sitzung vom 14. Dezember 1945 Fichtenau dahin […], dass er nach seiner bisherigen Betätigung die Gewähr dafür biete, er werde jederzeit rückhaltlos für die unabhängige Republik Österreich eintreten. Die „Überprüfungskommission beim Bundesministerium für Unterricht“ stellte am 28. Juli 1947 fest, es sei erwiesen, dass sich Dr. Fichtenau überhaupt nur deshalb um die Aufnahme in die Partei beworben hatte, um die ihm drohende Entfernung vom Institute zu verhindern. Wien, ÖStA, AdR, BMU, Personalakt 803: Heinrich Fichtenau, 1. Teil. Vgl. auch Gernot Heiss, Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in: Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. von Margarete Grandner et al. (Querschnitte 19, Innsbruck u. a. 2005) 189–210, hier 191f. 8  Zit. nach Stoy, Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 4) 159. 9   Zur Habilitation Fichtenaus siehe Stoy, Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 4) 264–268. 10   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 48. 11  Oskar von Mitis, der im Jahr 1900 mit der Sammlung und Auswertung des Materials für das Babenberger-Urkundenbuch begonnen hatte, hatte „seine umfangreichen Materialsammlungen“ im August 1945 dem



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1 und 2 (mit den Siegelurkunden der Babenberger) erschienen in relativ rascher Folge 1950 und 1955. Santifaller überließ Fichtenau, der 1950 zum außerordentlichen Professor für Geschichte des Mittelalters (ohne die Historischen Hilfswissenschaften!) ernannt wurde, die Lehrveranstaltungen für die Lehramtskandidaten und zur mittelalterlichen Geschichte. Bis zu Santifallers Emeritierung (Ende September 1961 12) wurde er am Institutslehrgang, mit Ausnahme des Mittellatein-Kollegs, nicht beteiligt 13. Es war, schreibt Fichtenau in seiner (mit ihren 15 Druckseiten leider recht kurzen) Autobiographie, ein Nebengeleise, als solches mir nicht unerwünscht, weil es wenigstens an zwei oder drei Tagen der Woche Gelegenheit zur wissenschaftlichen Tätigkeit inmitten der Bücherschätze des Instituts bot; meine Übersiedlung ins Historische Seminar [das heutige Institut für Geschichte; Th.W.] war geplant, ließ sich aber nicht durchführen. Mein persönliches Verhältnis zu Santifaller blieb stets ziemlich kühl [...]14. Anfang September 1960, ein Jahr vor der Emeritierung Santifallers, berichtete Fichtenau Peter Munz, dem Übersetzer seines Buches „Das karolingische Imperium“ ins Englische, der abtretende Herr – also Santifaller – wolle nicht ihn, sondern seinen einstigen Assistenten – sc. Heinrich Appelt, seit 1948 Extraordinarius und ab 1959 Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften in Graz – als Nachfolger15. Nicht von Santifaller, sondern aus einem Zeitungsartikel erfuhr Fichtenau, dass dieser an zwei Ordinariate dachte, eines für Mittelalter und Lehramtskandidaten, das zweite für historische Hilfswissenschaften, verbunden mit der Direktion des Instituts. Ich konnte, schreibt Fichtenau, die Mehrheit der [Berufungs-]Kommission davon überzeugen, daß eine solche Trennung der beiden Fächer einen Rückschritt um ein Jahrhundert bedeutet hätte. Man beschloß einen Vorschlag für die Besetzung von Santifallers Ordinariat im bestehenden Umfang,

Institut für Österreichische Geschichtsforschung übergeben. Heide Dienst, Einleitung, in: BUB IV/2: Ergänzende Quellen 1195–1287, ed. Oskar Frh. v. Mitis†–Heide Dienst–Christian Lackner unter Mitwirkung von Herta Hageneder (Wien–München 1997) VII–XVIII, hier XII. 12   Auf einstimmigen Antrag des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät der Universität Wien in seiner Sitzung am 18. Mai 1960 genehmigte Unterrichtsminister Heinrich Drimmel Prof. Leo Santifaller (geboren am 24. Juli 1890) ein „Ehrenjahr“, d. h. die Emeritierung erst mit 30. September 1961. Wien, UAW, Personalakt Leo Santifaller (PH PA 3118), fol. 182–185. 13   Eine unter dem Vorsitz des Dekans Albin Lesky tagende, aus den Historikern Leo Santifaller, Alphons Lhotsky, Hugo Hantsch, Heinrich Felix Schmid, Artur Betz und Heinrich Benedikt sowie dem Mineralogen Hans Wieseneder bestehende Kommission von Professoren der Philosophischen Fakultät hatte allerdings schon am 27. April 1959 auf Antrag von Santifaller, Lhotsky, Hantsch und Benedikt den einstimmigen Beschluss gefasst, für Prof. Fichtenau die Hebung zum Ordinarius zu beantragen und so die zweite ord[entliche] Lehrkanzel für Geschichte des Mittelalters und hist[orische] Hilfswissenschaften, die bis 1929 [bis zur Emeritierung Oswald Redlichs; Th.W.] bestanden hat, wiederherzustellen. Wien, UAW, Personalakt Heinrich Fichtenau (PH PA 3858), fol. 56f. – Die dreistündige Vorlesung „Mittellatein für Historiker“ hielt Fichtenau erstmals im Sommersemester 1952. Siehe den Beitrag von Manfred Stoy im vorliegenden Band, bes. 296. 14  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 50. 15   [...] ich bin ihm zu „geistesgeschichtlich“ veranlagt [...]. Mancher ist schon zu mir gekommen[,] um mir seinen Dolch anzubieten, aber ich suche mich möglichst aus der Sache herauszuhalten, soweit bin ich auch Philosoph und eingedenk der Fragwürdigkeit akademischer Würden. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Peter Munz, Wien, 6. September 1960. – Ich stütze mich im Folgenden in erster Linie auf Fichtenaus Korrespondenz im Nachlass Fichtenau im IÖG. Für eine aus den Akten im UAW und im ÖStA, Abt. AdR, gearbeitete und auch den Briefwechsel zwischen Alphons Lhotsky und Gottfried Opitz, dem Geschäftsführer der Monumenta Germaniae Historica, im Archiv der MGH in München auswertende Darstellung der Berufung Fichtenaus siehe den Beitrag von Manfred Stoy im vorliegenden Band.

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an erster Stelle wurden ex aequo ich und Theodor Schieffer (Köln)16 genannt17. Dahinter standen auf der Liste, ebenfalls ex aequo, mit Heinrich Büttner (Ordinarius in Marburg)18 und Peter Acht (Ordinarius in München)19 zwei weitere Deutsche. Im Oktober 1961, während der Berufungsverhandlungen mit Theodor Schieffer, an den in der ersten Julihälfte der Ruf des Unterrichtsministers Heinrich Drimmel ergangen war, informierte Fichtenau Luitpold Wallach20 in prägnanten Worten über die Angelegenheit: Mit dieser Nachfolge sieht es so aus, daß ich ganz umgangen werden sollte, aber von der Fakultät in den Vorschlag hineingeboxt wurde, primo loco pari passu mit Schieffer (Köln). Obwohl ich mehr Stimmen hatte, alle außer einer, in dieser dramatischen Kommissionssitzung, hat das Ministerium nun nicht mit mir[,] sondern mit Schieffer zu verhandeln begonnen, das hat S[antifaller] hintenherum erreicht. Schieffer hat schon das Institut besichtigt, sich aber noch nicht entschieden. Mir will man mein Extraordinariat nun als Pflaster auf ein Ordinariat erhöhen, und nach S[antifaller] soll ich weiterhin im Alleingang die 673 Lehramtskandidaten betreuen, während der andere das Institut und die Wissenschaft über hätte – da spiele ich nun nicht mit, und habe das auch Sch[ieffer] gesagt21. Nachdem Schieffer am 26. November den Ruf abgelehnt hatte, blieb [dem Unterrichtsminister; Th.W.] nichts anderes übrig, als den Ruf mir zukommen zu lassen22. Der seit 1. Jänner 1962 als Leiter der Hochschulabteilung amtierende Sektionschef Franz Hoyer war Fichtenau im Gegensatz zu seinem Vorgänger wirklich gewogen23. Am 16. Jänner 1962 konnte Fichtenau seinem Studienkollegen Heinrich Schmidinger, der in den 1940er Jahren als „Spätberufener“ den Institutskurs absolviert hatte und seit 1961 Ordinarius für Geschichte des Mittelalters in Fribourg (Freiburg im Üechtland) war, in einem Brief, in dem er ihm unter anderem für seine Intervention bei Hoyer dankte, berichten: [...] nun sollte ich „victoria“ schreien, aber mir ist nicht danach zumute, weil Frau und Kinder krank sind. [...] Ich bekomme, so sagt Hoyer, die Lehrkanzel Santifaller und die 16  Theodor Schieffer (1910–1992) hatte seit 1954 den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte sowie Geschichtliche Hilfswissenschaften an der Universität Köln inne und war seit 1956 Mitglied der Zen­ traldirektion der MGH in München und seit 1957 Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 17  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 52. Bei dem erwähnten Zeitungsartikel handelt es sich um den Artikel „Kein Nachwuchs für acht Lehrstühle“ von Felix Gamillscheg in der Tageszeitung „Die Presse“ vom 19. Februar 1961, in dem zu lesen steht: Im Falle Prof. Santifallers wird daran gedacht, die früher vorhandene Teilung des Faches wieder aufleben zu lassen. Dann käme als Ordinarius für mittelalterliche Geschichte der jetzige Extraordinarius Prof. Fichtenau, für die Historischen Hilfswissenschaften der Grazer Prof. Appel [!] in Frage. Hier zitiert nach dem Zeitungsausschnitt in Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Nachfolge Santifaller. 18  Siehe den Eintrag Heinrich Büttner in: Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation, hg. von Jürgen Petersohn (Stuttgart 2001) 81–89. 19   Walter Koch, Nachruf Peter Acht (1911–2010). ZBLG 73 (2010) 851–855; Peter Herde, Peter Acht (11. Juni 1911–7. Mai 2010). Ein „Hilfswissenschaftler“ vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zum demokratischen Wiederaufbau. AfD 58 (2012) XVII–XXXIII, bes. XXVII. 20  Zu Luitpold Wallach, Autor des Klassikers Alcuin and Charlemagne. Studies in Carolingian History and Literature (Cornell Studies in Classical Philology 32, Ithaca 21968), siehe Karl Bosl, Vorwort des Herausgebers, in: Gesellschaft, Kultur, Literatur. Rezeption und Originalität im Wachsen einer europäischen Literatur und Geistigkeit. Beiträge Luitpold Wallach gewidmet, hg. von dems. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 11, Stuttgart 1975) VII–IX. 21  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 10. Oktober 1961. 22   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 52. 23  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an (P.) Willibrord (Neumüller), Wien, 28. Jänner 1962.



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Institutsdirektion. [...] Mir gehts ähnlich wie am Ende des 3. Reiches: jahrelang hatte ich geschworen[,] mir dann einen großen Rausch anzutrinken[,] wenns soweit sein werde, und als es kam[,] war ich dazu nicht in der Stimmung24. Seinem Freund und Kurskollegen P. Willi­brord Neumüller25, dem gelehrten und offenbar gut vernetzten Bibliothekar, Archivar und Kustos der Kunstsammlungen des Stiftes Kremsmünster, schrieb Fichtenau Ende Jänner 1962: [...] wahrscheinlich warst Du es, der das Eis gebrochen hat, jedenfalls eher als die zwei Landeshauptleute26 usw., die Routineinterventionen starteten27. Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 15. Mai 1962 wurde Fichtenau zum ordentlichen Universitätsprofessor für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien ernannt, am 1. Juni trat er seinen Dienst an (vom 1. Oktober 1961 bis zum 31. Mai 1962 hatte Santifaller als Emeritus die Professur suppliert28), und mit Wirksamkeit vom 1. Juli wurde Fichtenau zum Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung bestellt29. Anfang Juli konnte er Peter Munz berichten: Nun bin ich Ordinarius für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften ab 1. Juni, und soll die Institutsdirektion übernehmen [...]. Was vorher war, das würde den Band einer „Historia arcana“ füllen und ich kann nicht ohne Stolz sagen, daß ich gegen den Willen nicht nur meines Vorgängers, sondern auch des bis Jahresende amtierenden höchsten Ressortsbeamten und des Ministers meine Position erreicht habe – mein geschätzter Vorgänger hat mich überall als eine Art Antichrist hingestellt, und nun ist man erstaunt, daß ich eigentlich weder Bocksfuß noch Hörner trage. In der Fakultät, wo man mich kannte, hatte ich meine feste Stütze, und von daher hat man (vielfach ohne mein Zutun) hohe und höchste Würdenträger mobilisiert, um mir zu helfen. Es war eine ganze Fichtenau-Lobby, und so bin ich per aspera ad astra gelangt30. Fichtenaus Studienkollege Adam Wandruszka, seit 1959 Ordinarius für Neuere Geschichte in Köln, gratulierte zur Ernennung mit den Worten: Du hast es ehrlich verdient und ich freue mich herzlich, daß gerade Du jetzt die große und wichtige Aufgabe durchführen wirst, jene Verbindung von „Institutserudition“ und Geschichtswissenschaft in ihrer ganzen Breite und Tiefe wiederherzustellen, wie das in der Zeit unseres eigenen Studiums unter unse-

  Ebd., Fichtenau an Heinrich Schmidinger, Wien, 16. Jänner 1962.   Leo Santifaller, Das Institut für österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundert­jährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (VIÖG 11, Wien 1950) 150f. Nr. 460 und 470; Kurt Holter, P. Willibrord Neumüller OSB †. MIÖG 86 (1978) 534–536. 26  Heinrich Gleißner (Oberösterreich) und Josef Krainer senior (Steiermark). – Fritz Posch, der Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs, schrieb Ende Jänner 1962: Daß ich mich für Dich bei Krainer und Drimmel verwenden konnte, war nur eine selbstverständliche Freundespflicht und im Gedenken an Deine Hilfe in großer Notzeit mit Freuden geleistet. Ich weiß, wie groß Deine wissenschaftlichen Qualitäten sind, aber glaube mir, Deine menschlichen schätze ich noch höher. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fritz Posch an Fichtenau, Graz, 30. Jänner 1962. 27  Ebd., Fichtenau an (P.) Willibrord (Neumüller), Wien, 28. Jänner 1962. – Am 12. Februar informierte Fichtenau Hansmartin Decker-Hauff, der 1939 bis 1941 den 42. Kurs am ÖIG absolviert hatte und seit 1956 den Lehrstuhl für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Tübingen innehatte: Gegen den Willen Santifallers und seiner Freunde im Ministerium (bis ganz oben) soll ich sein Nachfolger werden und die Institutsdirektion übernehmen. Es war eine Sache mit vielen langen Verwicklungen und Windungen, man hat mit den allerverschiedensten Mitteln gearbeitet, aber nun ist das Eis gebrochen. In der Hand habe ich noch nichts, und bis dahin ist die Geschichte „top secret“ [...]. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau. 28  Wien, UAW, Personalakt Leo Santifaller (PH PA 3118), fol. 153–159. 29  Wien, IÖG, Institutsakten, 1962, Zl. 156/62, und MIÖG 70 (1962) 512. 30   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Peter Munz, Wien, 2. Juli 1962. 24 25

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rem lieben unvergeßlichen Vater Hirsch der Fall war31. Und Peter Classen, damals noch Privatdozent in Mainz, äußerte die Hoffnung, daß ein bißchen frischer Wind durch die Wiener Historie wehen wird! Bei aller Anerkennung der großen Materialsammlungen von Santifaller hat man doch den Eindruck, daß die Geschichte darüber zuweilen etwas kurz kommt (oder Materialsammlungen für Geschichte gehalten werden)32.

Die Berufung Heinrich Appelts und Adam Wandruszkas nach Wien Leo Santifaller hatte die Arbeit an der Edition der Urkunden Friedrich Barbarossas für die Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica 1956 Heinrich Appelt in Graz anvertraut, und ich, schreibt Fichtenau in seiner Autobiographie, sah es als meine erste Aufgabe an, Appelt und Barbarossa nach Wien zu holen. Es war der Beginn einer dauernden Freundschaft, in redlicher Teilung der Lehrveranstaltungen sowohl für die Masse der Studenten als auch für den Institutslehrgang33. Fichtenau hatte sich seit den ersten Monaten des Jahres 1962, also nachdem die Entscheidung in der Santifaller-Nachfolge zu seinen Gunsten gefallen war, schließlich erfolgreich darum bemüht, dass seine frei werdende außerordentliche Professur zu einem Ordinariat aufgewertet wird, und zwar nicht nur für „Geschichte des Mittelalters“, sondern für „Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften“34. In dem schon erwähnten Brief an P. Willibrord Neumüller betonte Fichtenau im Jänner 1962: Meine Anschauung ist, daß so wie stets früher auch zwei Leute die Hilfswissenschaften vermitteln sollen, der Alleingang S[antifaller]s hat dem Institut nicht gut getan. [...] Beide Disziplinen gehören untrennbar zusammen, so wie bei Hirsch und Mühlbacher35. Der zwei Jahre ältere Heinrich Appelt, ebenso wie Fichtenau ein Schüler von Hans Hirsch, dessen Forscherprofil von diesem aber viel stärker beeinflusst wurde als jenes Fich  Ebd., Wandruszka an Fichtenau, Köln, 3. April 1962.   Ebd., Peter Classen an Heinrich Fichtenau, Mainz, 17. April 1962. – Dem Urteil eines vertrauten Schülers zufolge waren „Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung“ in Santifallers Augen „zwei völlig getrennte Aspekte; die letztere hielt er nicht für eine wissenschaftliche, sondern für eine künstlerische Tätigkeit, die er selbst gar nicht zu betreiben wünschte.“ Heinrich Appelt, Leo Santifaller †. MIÖG 82 (1974) 556–560, hier 556. 33  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 52f. – Es gibt allerdings Hinweise, dass Fichtenau zunächst möglicherweise lieber Erich Zöllner als Nachfolger auf seiner zum Ordinariat aufgewerteten ehemaligen Professur gesehen hätte. Maleczek-Pferschy, Diplomata-Edition (wie Anm. 5) 462. – Hugo Hantsch schrieb am 17. September 1962 an den St. Pöltener Bischof Franz Žák, der bei ihm zugunsten Heinrich Schmidingers interveniert hatte, Fichtenau fühle sich verpflichtet, in fairer Rücksicht auf seinen Vorgänger Appelt primo loco zu nennen. Zitiert nach Johannes Holeschofsky, Hugo Hantsch. Eine biografische Studie (Diss. Wien 2012) 156. 34   Am 14. April 1962 schrieb Fichtenau an Appelt, Herbert Grundmann habe ihm gesagt, der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Richard Meister (Hofrat Meister) stehe auf dem Standpunkt, daß meine Nachfolge als Extraordinariat für Geschichte des Mittelalters (allein) herauskommen solle. Also eine dolce vita am Institut, während sich ein anderer mit den Lehramtskandidaten abrackert. Für mich wäre dann gewiss alles leichter, auch die Nachfolgefrage, aber ich glaube nicht, daß es den beiden Disziplinen gut täte. Ich weiß nicht, ob Sie etwas tun können um zu verhindern, daß das Ordinariat davonschwimmt, jedenfalls würde der Weg einer Aktion nicht über Santifaller führen können; derartiges könnte einen gegenteiligen Effekt haben. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau. 35  Ebd., Fichtenau an (P.) Willibrord (Neumüller), Wien, 28. Jänner 1962. – In einem Schreiben an Sektionschef Hoyer vom 14. April 1962 berief sich Fichtenau auf die alte Tradition des Instituts (zwei Ordinariate, jedes für Geschichte und Hilfswissenschaften, bestanden unter Mühlbacher + Redlich, Ottenthal + Redlich, Hirsch + Redlich: 1897–1940). Wien, ÖStA, AdR, BMU, Personalakt 803: Heinrich Fichtenau, 1. Teil, Zl. 57.014/62, miterledigt mit Zl. 76.073/62. 31 32



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tenaus36, wurde mit 1. Juni 1963 auf das zweite Ordinariat für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften nach Wien berufen37. Bei der Santifaller-Nachfolge hatte Fichtenau noch dafür gesorgt, dass Appelt gar nicht auf die Liste kam, um die Erteilung des Rufes an ihn völlig auszuschließen. Im Dezember 1962 schilderte Fichtenau das Berufungsverfahren so: Meine Nachfolge – Nachfolge auf meiner bisherigen Professur – wird nun voraussichtlich doch 1963 besetzt [...]; die Sache ging in Kommission und Fakultät ohne größere Kämpfe ab, und ich habe das Kunststück zuwege gebracht, daß der Mann, der das erstemal (Nachfolge Santifaller) meinetwegen nicht auf die Liste kam, nun an ihrer Spitze figuriert und bereits zu Verhandlungen im Ministerium eingeladen wurde (Appelt-Graz). Ich hatte das Gefühl, ihm das schuldig zu sein, auch wenn jene die Köpfe schüttelten, die sich [seinerzeit; Th.W.] für mich und damit gegen ihn eingesetzt hatten38. Fichtenau und Appelt teilten sich in den folgenden Jahren (bis zur Emeritierung Appelts im Jahr 1980) die Lehraufgaben sowohl im Rahmen des Institutslehrgangs als auch am Historischen Institut bzw. an der Universität39. Im Institutskurs übernahm Appelt die Verfassungsgeschichte des Mittelalters, die Diplomatik der Kaiser- und Königsurkunden sowie jene der Papsturkunden; Fichtenau lehrte Lateinische Paläographie, Diplomatik der Privaturkunden und (wie schon vor 1962) Mittellatein40. Fichtenaus Nachfolger Winfried Stelzer hat die Paläographie als „die anregendste Lehrveranstaltung Fichtenaus“ empfunden41. Dieser selbst hat „Mittellatein für Historiker“ als seine liebste Vorlesung bezeichnet, weil von hier Beziehungen zum ganzen Kosmos des Mittelalters ausstrahlen42.

36  Siehe [Autobiographie von] Heinrich Appelt, in: Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, hg. von Hermann Baltl–Nikolaus Grass–Hans Constantin Faussner (Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 14, Sigmaringen 1990) 9–22, hier 10f.; Othmar Hageneder, Heinrich Appelt †. MIÖG 107 (1999) 507–511; Zajic, Hans Hirsch (wie Anm. 6) 388–390. – Einen komprimierten Umriss des „Forscherprofils“ von Hans Hirsch bietet Roman Zehetmayer, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Urkundenforscher, in: Waldviertler Biographien 2, hg. von Harald Hitz et al. (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 45, Horn–Waidhofen/Thaya 2004) 221–236. 37   Heinrich Appelt nahm den Ruf und die Bedingungen am 8. Mai 1963 an. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Appelt an Fichtenau, Graz, 8. Mai 1963. Schon am 1. Juni 1963 trat er seinen Dienst an. Ebd., Fichtenau an Walter Ullmann, Wien, 11. Oktober 1963. 38   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Munz, Wien, 9. Dezember 1962. – Die Berufungskommission, in der Fichtenau als Referent fungierte, setzte auf die Liste primo et aequo loco Heinrich Appelt und Karl Jordan (geb. 1907, Schüler Paul Kehrs, seit 1943 Ordinarius für mittelalterliche und neuere Geschichte in Kiel) und secundo loco Heinrich Schmidinger und Friedrich Hausmann. In der Kommission erhielt Appelt mehr Ja-Stimmen als Jordan (Einstimmigkeit mit 9 Ja versus 5 Ja, 1 Nein, 3 Enthaltungen), in der Fakultät war es umgekehrt (45 Ja, 11 Nein, 4 Stimmenthaltungen versus 49 Ja, 4 Nein, 4 Stimmenthaltungen). Wien, ÖStA, AdR, BMU, Philosophische Lehrkanzeln 1945–1965, A–K, Geschichtsforschung 109.871-4/62 (= Dekanat der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Zl. 107/1 aus 1962/63), Bericht von Dekan Hans Bobek an das BMU, Wien, 12. November 1962, mit dem von Fichtenau unterschriebenen Kommissionsbericht als Beilage. Ein Durchschlag des von Fichtenau selbst verfassten Kommissionsberichts liegt im Konvolut Nachfolge Fichtenau in Wien, IÖG, Nachlass Fichtenau, Mappe Nachfolge Santifaller. 39   „Mit seinem [sc. Heinrich Appelts] Eintritt in den Lehrkörper des Instituts ist der einstige Zustand wiederhergestellt, daß die hilfswissenschaftlichen Hauptvorlesungen, als Kern der methodischen Ausbildung am Institut, in der Hand zweier Ordinarien liegen, die einander ergänzen und unterstützen.“ MIÖG 72 (1964) 259. 40   Winfried Stelzer, Heinrich Fichtenau †. MIÖG 109 (2001) 273–284, hier 279. Siehe auch Othmar Hageneder, Heinrich Fichtenau. Almanach der ÖAW 150 (2000) 443–456. 41   Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 279. 42   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 53f.

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1979 wurden Appelt und Fichtenau gemeinsam mit dem Wilhelm-Hartel-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet43. Im nächsten Jahr wurde der Preis nicht verliehen, so als wollte die Akademie bzw. deren philosophisch-historische Klasse zum Ausdruck bringen, dass beide einen „ganzen“, d. h. ungeteilten Hartel-Preis verdienten, man sich aber nicht entschließen wollte, den Preis einem der beiden ein Jahr früher zuzuerkennen44. 1964/65 bemühte sich Fichtenau intensiv, die Installierung seines Studienkollegen Adam Wandruszka in der Nachfolge von Hugo Hantsch als Professor für Geschichte der Neuzeit zu erwirken – letztlich ohne Erfolg45. Am 20. Jänner 1965 berichtete Fichtenau von der soeben zu Ende gegangenen entscheidenden Sitzung der Berufungskommission nach Köln: Mein Antrag, Dich zusammen mit [Ernst Walter] Zeeden primo loco zu nennen, ist gefallen (secundo sollte [Heinrich] Lutz sein); H[antsch]s Antrag, Dich ganz draußen zu lassen, ebenso gefallen; eine recht schäbige Lösung wurde akzeptiert: Zeeden primo, Du zusammen mit Lutz (!) secundo. Es war unter keinen Umständen mehr herauszuholen. [...] Daß das Weltanschauliche hineinspielt, wird jeder wissen, der den Namen Lutz und den Namen Zeeden hört, das sind nun eben „ganz geeichte“ Leute46. Seinem damals in Paris weilenden Assistenten Herwig Wolfram schrieb Fichtenau über die turbulenten Sitzungen der Berufungskommission und des Fakultätskollegiums: Mit Hantsch und [Friedrich] Engel[43   Der Wilhelm-Hartel-Preis wird jährlich an „Gelehrte, die in Österreich wirken und besonders hervorragende wissenschaftliche Leistungen in den von der philosophisch-historischen Klasse [der Österreichischen Akademie der Wissenschaften] im weitesten Sinne vertretenen Fächern vollbracht haben“ (http://stipendien. oeaw.ac.at/de/geschichte-des-wilhelm-hartel-preises), vergeben. Der nach dem Altphilologen Wilhelm Ritter von Hartel (1839–1907) benannte Preis wurde 1957 von Unterrichtsminister Heinrich Drimmel gestiftet. Siehe auch http://www.oeaw.ac.at/biblio/Archiv/pdf/Hartel.pdf (Zugriffe: 25. Jänner 2013). 44  Fichtenau äußerte sich in einem Brief an seinen Onkel Hans Linser wenig beeindruckt über die Verleihung des Hartel-Preises: Der Mai war ein „Sitzungsmonat“, auf der Universität und in der Akademie, wo ich erstmalig gerne die „Feierliche Sitzung“ geschwänzt hätte, die trotz Bundespräsident usw. überaus langweilig ist – aber das ging nicht, man hat mir dort einen „Hartl-Preis“ [sic!] verliehen und so mußte ich dabei sein. Wer Hartl [!] ist, hat man mir nicht gesagt, sicherlich war er ein braver Mann. Das Geld wird an meine ältere Tochter weitergeleitet [...]. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Hans Linser, Wien, 27. Mai 1979. 45   Zur Hantsch-Nachfolge siehe auch Holeschofsky, Hugo Hantsch (wie Anm. 33) 178–180. 46  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Wandruszka, (Wien,) 20. Jänner (1965) abends. – Den Verlauf der Fakultätssitzung am 25. Jänner fasste Fichtenau wie folgt zusammen: [...] wenn ich die gestrige stürmische Sitzung überdenke, war es im Rahmen des Möglichen ein schöner Erfolg. Das Wichtige war, daß Du nicht weniger Stimmen als die anderen Herren erhalten hast, obwohl H[antsch] mit politischem schwerem Geschütz aufrückte, den einen Fall [den „Fall Winkler“; Th.W.] multiplizierend. Du hast also eine gute Majorität [...]. Ich habe den Antrag gestellt, innerhalb der secundo-Position Dich vor L[utz] zu reihen; auch da gab es eine Majorität, aber da die Enthaltungs-Stimmen negativ gezählt werden, fehlten zwei Stimmen[,] so daß der Antrag gefallen ist – immerhin ein Achtungserfolg. Nun ist also die alphabetische Reihenfolge, d.h. es bleibt dem Ministerium überlassen[,] wem sie nach Anfrage bei Z[eeden] den Ruf geben wollen. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Wandruszka, (Wien,) 26. Jänner (1965) früh. – Beim „Fall Winkler“ handelt es sich um Folgendes: Am 15. März 1938, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, verhaftete Wandruszka, der damals gerade den „Kurs“ am Institut für Geschichtsforschung absolvierte, als Kommandant eines Trupps von SA-Männern einen persönlichen Freund Hantschs, den außerordentlichen Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel Arnold Winkler. Im Dezember 1957 bezeugte Alexander Novotny in einem Brief an Hugo Hantsch, zwei der SA-Männer seien Schüler Winklers gewesen und hätten ihn gerne wieder laufen lassen, fürchteten aber, daß Truppführer Adam Wandruszka es nicht erlauben würde. Holeschofsky, Hugo Hantsch (wie Anm. 33) 157 und 173. Arnold Winkler (1882–1969) war von 1928 bis 1938 außerordentlicher und von 1945 bis 1953 ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel in Wien. Fritz Fellner–Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 99, Wien–Köln–Weimar 2006) 456.



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Janosi] hatte ich große Kommissions- und Fakultätsrauferei wegen Nachfolge H[antsch], wo nur Piefkes serviert werden sollten, die doch nicht kommen oder wieder weggehen. [...] Mein Bestreben ist, jemand zu holen, unter dem die Beziehungen der beiden Institute wieder normalisiert werden, d. h. Neuzeit in den Institutskurs usw.47. Nachdem Zeeden abgesagt hatte48, wurde im Juni 1965 nicht Wandruszka, sondern Heinrich Lutz als Hantsch-Nachfolger berufen, der den Ruf ein Jahr später annahm. Wiederum zwei Jahre später starb am 21. Juni 1968 Alphons Lhotsky49, wodurch eines der beiden Ordinariate für Österreichische Geschichte vakant wurde. Diesmal ist Fichtenau – mit Unterstützung Erich Zöllners, der mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 17. Juli 1962 auf die neu geschaffene zweite ordentliche Professur für Österreichische Geschichte (mit besonderer Berücksichtigung der Neuzeit und der historischen Hilfswissenschaften) berufen worden war50, – die „Rückholung“ Wandruszkas gelungen: Am 7. Dezember 1968 erhielt Wandruszka den Ruf, am 27. Juni 1969 nahm er ihn an, am 19. Juli 1969 wurde er vom Bundespräsidenten zum ordentlichen Professor der Österreichischen Geschichte ernannt und am 1. Oktober 1969 trat er seinen Dienst an der Universität Wien an51.

Rechtliche Absicherung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre „brauten sich“, so Winfried Stelzer in seinem Nachruf auf Fichtenau, „schwere Gewitterwolken über dem Institut zusammen“52. Österreichische Archivdirektoren äußerten Kritik an der mangelnden Praxisnähe des Ausbildungskurses des Instituts, dessen Absolventinnen und Absolventen in den vorangegangenen Jahrzehnten etwa zur Hälfte den Archivarsberuf ergriffen hatten. Es gab sogar ernsthafte Überlegungen, eine eigene, beim Österreichischen Staatsarchiv angesiedelte Archivschule zu errichten. Vor allem aber schien zeitweise im Zusammenhang mit der Reform der österreichischen Universitäten geradezu die Existenz des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung bedroht53. Durch das Allgemeine Hochschul-Studiengesetz (AHStG) von 1966 und das Universitäts-Organisationsgesetz (UOG) von 1975 wurde an den österreichischen Hochschulen und Universitäten zum ersten Mal seit der Thun’schen Universitätsreform in der Mitte des 19. Jahrhunderts „wieder eine Weichenstellung von großer Bedeutung vollzogen“ 54. Die   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Herwig Wolfram, (Wien,) 31. Jänner 1965.   Zeeden hatte Hantsch übrigens bereits 1958, als sich dieser kurzfristig mit dem Gedanken trug, in Pension zu gehen, abgesagt. Holeschofsky, Hugo Hantsch (wie Anm. 33) 178. 49   Über seine Beziehung zu Lhotsky hat Fichtenau kurz nach dessen Tod geschrieben: Damit hat auch eine zwanzigjährige Symbiose im Institut ein Ende gefunden: an sehr vielen Sonntagen waren wir die einzigen dort, und haben wir einen kleinen Tratsch gehalten. Wir waren langezeit wirklich Freunde, erst in den letzten Jahren ist er anderen Einflüssen unterlegen und mir mehr oder minder entfremdet worden. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Adam Wandruszka, Wien, 15. Juli 1968. 50  Wien, IÖG, Institutsakten, 1962, Zl. 196/62, und MIÖG 70 (1962) 512. 51  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Herwig Wolfram, Wien, Freitag, 13. Dezember 1968; Adam Wandruszka an Fichtenau, Köln, 27. Juni 1969; MIÖG 82 (1974) 534. 52  Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 280. 53   Ebd. 54  Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs 5: Von 1918 bis zur Gegenwart (Wien 1988) 522. 47 48

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Zeit der Vorstandschaft Heinrich Fichtenaus deckt sich grosso modo mit dieser Reformperiode, er leitete das Institut also in „interessanten Zeiten“. Das 1854 gegründete Institut für Österreichische Geschichtsforschung war nie ein Institut bzw. Seminar der Universität Wien gewesen. Gleich im ersten Satz des § 1 (Zweck der Schule) der von Albert Jäger im Sommer 1853 entworfenen und von Minister Thun 1854 akzeptierten und dem Kaiser vorgelegten provisorischen Statuten ist die rechtliche Stellung des Instituts (bzw. der Schule) so definiert: Die Schule für österreichische Geschichtsforschung ist eine mit der Universität verbundene, unter dem unmittelbaren Schutz und der obersten Leitung des Unterrichtsministeriums stehende Anstalt55. In der Fassung von 1857 lautete der Satz wie folgt: Das Institut für österreichische Geschichtsforschung ist eine mit der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität verbundene, unter dem unmittelbaren Schutz und der obersten Leitung des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht stehende Anstalt56. Der Satz findet sich – unter Wegfall der ausdrücklichen Betonung des ministeriellen Schutzes – auch in den Statuten der Jahre 1874 und 189857. In der mit Erlass des Unterrichtsministeriums vom 18. Juni 1963, also ein Jahr nach Fichtenaus Amtsantritt, genehmigten Neufassung der Statuten ist die rechtliche Stellung des Instituts schließlich folgendermaßen definiert: Das Institut für österreichische Geschichtsforschung ist eine mit der philosophischen Fakultät der Wiener Universität verbundene, dem Bundesministerium für Unterricht unmittelbar unterstehende Anstalt58. Am 19. September 1966 stellte Fichtenau beim Ministerium den Antrag, es möge der offizielle Titel des Institutslehrganges nunmehr im Sinne von § 18 Abs. 5 des Allgemeinen Hochschul-Studiengesetzes lauten: „Lehrgang für höhere Studien des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“, wobei nötigenfalls der Zusatz „an der Universität Wien“ angefügt werden könnte. Nach Rücksprache mit Fichtenau wurde der Antrag vorläufig zurückgestellt (bis zur Neuordnung der philosophischen Studien)59. Im November 1967, nach dem Inkrafttreten des AHStG, berichtete Fichtenau: Sorgen machen weiterhin die Studiengesetze und die Stellung des Instituts in ihnen. Nun habe ich immerhin den persönlichen Weg zu einem Teil der Gesetzesmacher gefunden und bin in einer Aufklärungscampagne begriffen. [...] Was unseren Lehrgang vielleicht retten wird, ist die Auffassung eines dieser Juristen – nämlich des damaligen Sektionsrats im Unterrichtsministerium und späteren Generaldirektors der Österreichischen Nationalbibliothek Josef Zeßner-Spitzenberg60 –, daß wir 55   Zit. nach Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854– 1954. Festgabe zur Hundert-Jahr-Feier des Instituts (MIÖG Ergbd. 17, Graz–Köln 1954) 29. 56  Zit. nach ebd. 64. 57  Ebd. 131 und 237. 58  Statuten des Instituts für österreichische Geschichtsforschung. MIÖG 72 (1964) 253–258, hier 253. – Im Forschungsorganisationsgesetz (FOG) von 1981 scheint die Verbindung mit der Universität Wien trotz diesbezüglicher Bitten Fichtenaus nicht (mehr) auf. § 26 (1) FOG 1981 lautet: Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung ist eine Einrichtung des Bundes. [...] Es untersteht dem Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Nr. 341/1981. 59  Wien, ÖStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1966–1974, Karton 449: Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Zl. 114.905-I/4/66. – Die Akten ab dem Jahr 1975 sollten sich eigentlich noch in der Registratur des BMWF befinden, wo sie laut Auskunft des Ministeriums allerdings nicht gefunden werden konnten (E-Mail vom 29. Jänner 2013 von Frau Amtsdirektorin Andrea Huna an den Autor), sodass sie für den vorliegenden Aufsatz leider nicht herangezogen werden konnten. 60  Anlässlich seiner Ernennung zum Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek dankte Fichtenau Zeßner-Spitzenberg 1980 für seine Verdienste um das IÖG: Daß Sie, sehr geehrter Herr Generaldirektor, das Ministerium verlassen, ist traurig für uns, denn Sie haben bei mehreren Gelegenheiten wie der heilige Florian schützend die Hand über das Institut gehalten. Ich darf Ihnen heute nochmals besonders dafür danken, daß Sie das



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eine „Anstalt“ sind, so wie die Hochschulen, und daher nicht unter die Hochschulgesetze fallen. Ich wäre nun also der „Anstaltsdirektor“, so wie in einem Gefangenenhaus. Aber sei es drum, mir kommt es nur drauf an, daß etwas nicht zerstört wird, das funktioniert und seinen Zweck erfüllt61. Zeßner-Spitzenberg62 leitete aus der – wie zitiert in allen Fassungen der Institutsstatuten seit 1854 niedergelegten – Definition des Instituts als Anstalt die Möglichkeit ab, ein eigenes Bundesgesetz über das Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien zu schaffen. Der Entwurf zu diesem Gesetz, der im wesentlichen dem Ist-Zustand entsprach, wurde [im Frühjahr] 1969 zur Begutachtung ausgesandt63. In seiner Stellungnahme zu dem Gesetzesentwurf forderte das Bundeskanzleramt, zu dem das Österreichische Staatsarchiv ressortiert, daß ein Archivar, der Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, in die Leitung des Instituts aufgenommen werde – das Projekt einer Mitdirektion wurde in Archivars­kreisen erörtert. Außerdem forderte das Bundeskanzleramt eine Erweiterung des Institutstitels durch den Zusatz und Archivwissenschaft, praktisch-technische Übungen, Mitbestimmung des Bundeskanzleramtes über die das Institut betreffenden Verordnungen und ähnliches [...]. Was die [Gesetzes-]Vorlage nicht enthielt: [d]ie Ankündigung des Bundeskanzleramtes, eventuell eine Dienstprüfung als Definitivstellungserfordernis an die Stelle der Institutsprüfung treten zu lassen und für diesen Fall die Auflösung des Instituts zu erwägen64. Die Frage des Verhältnisses des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zum Historischen Institut, dem heutigen Institut für Geschichte, im Besonderen und zur Universität Wien im Allgemeinen harrte nach der „Schubladisierung“ des Gesetzesentwurfs „Institutsgesetz“ in die Wege geleitet haben: Wenn es auch nicht Gesetzeskraft erlangt hat, so hat es doch in der schwierigen Situation der Überleitung in die neuen Verhältnisse hervorragende Dienste geleistet. Ohne Ihre Feststellung, daß wir eine „Anstalt“ sind, wären wir nicht mehr das, was das Institut war und sein soll. Und jüngst wieder, als es um unsere Bibliothek ging, hat Ihr Anruf die Situation geklärt und bereinigt. Ich weiß nicht, ob jemals ein zweiter Band der Geschichte unseres Instituts geschrieben werden wird; aber ich weiß, daß in diesem Band Ihr Name ehrenvoll genannt werden müßte. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an (Heinrich) Zeßner-Spitzenberg, Wien, 29. Mai 1980 (Xerokopie eines eigenhändigen Briefes). 61   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Walter Ullmann, Wien, 25. November 1967. – Bereits in einer Stellungnahme der Abteilung I/5 des Unterrichtsministeriums vom 18. Jänner 1967 zu Fichte­ naus Antrag vom 19. September 1966 (s. oben Anm. 58) war festgestellt worden: Eine Neufassung der Vorschriften, welche die rechtliche Grundlage der vom genannten Institut durchgeführten Studien darstellen, ist […] nur durch ein eigenes Bundesgesetz möglich. Wien, ÖStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1966–1974, Karton 449, Einlageblatt zu Zl. 114.905-I/4/66. 62   Zu den legistischen Verdiensten Zeßners vgl. Walter G. Wieser, Generaldirektor Dr. Josef ZeßnerSpitzenberg zum Gedenken. Biblos. Österreichische Zeitschrift für Buch- und Bibliothekswesen, Dokumentation, Bibliographie und Bibliophilie 32 (1983) 203–209, hier 206, und Edith Fischer, Dr. Josef Zeßner-Spitzenberg als Leiter der Abteilung für wissenschaftliches Bibliotheks-, Dokumentations- und Informationswesen im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. Ebd. 210–212. 63   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 54f. – Am 21. April 1969 übermittelte Fichtenau dem Unterrichtsministerium die Stellungnahme von Vorstand und Mitgliedern des Lehrkörpers des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und die Stellungnahme der [studentischen] Institutsvertreter (Annemarie Fenzl, Karl Ehrenfellner und Wolfgang Häusler) zu dem „Entwurf eines Bundesgesetzes über das Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien“. Wien, IÖG, Institutsakten, 1969, Zl. 92/69. Vgl. auch den undatierten (Vor-) Entwurf eines Bundesgesetzes „über die Errichtung [!] des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien“ (wohl Anfang März 1968), das Protokoll über die (dreistündige) Sitzung des Lehrkörpers des Instituts vom 15. März 1968, in der Fichtenau einleitend über seine Unterredung mit Sektionsrat Zeßner-Spitzenberg am 12. März referierte, sowie die Zusammenstellung der bei dieser Sitzung angenommenen Vorschläge zum Entwurf eines Bundesgesetzes über das Institut für österreichische Geschichtsforschung in den Akten des IÖG, 1968, Zl. 54/68; ebd., Zl. 215/68, Fichtenaus Kommentar zu dem Gesetzesentwurf, den er am 5. Dezember 1968 an das Ministerium zu Hdn. Herrn Sektionsrat Dr. Josef Zessner-Spitzenberg übermittelte. 64   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 54f.

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von 1969 weiterhin einer Lösung. Dabei kamen dem Institut die guten Beziehungen Fichtenaus zu Hertha Firnberg, der legendären Wissenschaftsministerin der Regierungen Kreisky I bis IV (1970–1983), einer – als Schülerin von Alfons Dopsch – promovierten Historikerin, zugute65. In den Erläuterungen zum Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen („Philosophengesetz“) wurde die Rechtsstellung des IÖG folgendermaßen erklärt: Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung wurde auf Grund der Allerhöchsten Entschließung vom 20. Oktober 1854 mit Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 11. November 1854 errichtet. Die genannte Entschließung, die auf der Stufe eines Gesetzes steht, bildet heute noch die Rechtsgrundlage des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der an ihm durchgeführten Studien. Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung steht mit der Philosophischen Fakultät der Universität zwar in personellem und sachlichem, jedoch nicht in rechtlichem Zusammenhang und führt seinen Lehrgang daher zwar durch Angehörige des Lehrkörpers der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, jedoch außerhalb des autonomen Wirkungsbereiches derselben durch. [...] Eine gesetzliche Neuregelung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und des an ihm durchgeführten Lehrgangs wird anzustreben sein66. Nach dem Inkrafttreten des UOG 1975 und angesichts des Schwindens der Hoffnung auf ein eigenes „Institutsgesetz“ scheint Fichtenau eine neue Strategie eingeschlagen zu haben. In einem Brief an seinen in Zagreb lebenden Verwandten Toussaint Levičnik (genannt „Santo“)67 brachte er im August 1976 seine Sorgen zum Ausdruck: Es handelt sich um den Einbau des Instituts in die neue [gesetzliche] Ordnung, eine überaus schwierige Sache angesichts der allseitigen Unsicherheit und auch der verschiedenen rivalisierenden Abteilungen im Ministerium. Wenn dabei etwas schiefgehen sollte, wird man später natürlich mir die Schuld zuschieben68. Fichtenau verfolgte den Plan, das Historische Institut in zwei selbstständige Universitätsinstitute zu teilen: ein Institut für Geschichte der Neuzeit und ein Institut für Geschichte des Mittelalters und Österreichische Geschichte. Am 26. November 1976 unterzeichneten die Vorstände und Mitvorstände des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und des Historischen Instituts (Heinrich Appelt, Heinrich Fichtenau, Günther Hamann, Heinrich Lutz, Gerald Stourzh, Adam Wandruszka und Erich Zöllner) eine Vereinbarung im Hinblick auf das künftige Verhältnis der Universitätsinstitute, denen sie anzugehören beabsichtigen69. Am 11. Dezember brachte Fichtenau 65  Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 280. Firnbergs Dissertation ist gedruckt worden: Hertha HonFirnberg, Lohnarbeiter und freie Lohnarbeit im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der agrarischen Lohnarbeit in Deutschland (Veröffentlichungen des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 11, Baden u. a. 1935). 66   Zit. nach: Gesetzliche Bestimmungen über das Institut. MIÖG 80 (1972) 1–3, hier 2. – Bereits in der zitierten Stellungnahme der Abt. I/5 vom 18. Jänner 1967 (wie Anm. 61) war festgestellt worden: Diese Allerhöchste Entschließung [vom 20. Oktober 1854], die auf der Stufe eines Bundesgesetzes steht, bildet die Rechtsgrundlage des Instituts und der an ihm durchgeführten Studien. 67   Die Identifizierung von „Santo“ mit Dipl.-Ing. Toussaint Levičnik (1903–1984) verdanke ich den beiden Töchtern Heinrich Fichtenaus, Dr. Elisabeth Herrmann und Dr. Irene Fichtenau. Toussaint Levičnik, ein Sohn von Valentin Levičnik und Anna Fichtenau, und Heinrich Fichtenau hatten in Gestalt von Johann Georg und dessen Frau Maria Katharina Fichtenau gemeinsame Vorfahren (für Fichtenau Ururgroßeltern, für Levičnik Urururgroßeltern). 68  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 22. August 1976. 69   Wien, IÖG, Institutsakten, 1976, Zl. 133/76.



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in der Sitzung der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien den Antrag durch, in den Räumen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung ein Institut für mittelalterliche und österreichische Geschichte zu gründen, ein Parallelinstitut zum Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Die beiden Parallelinstitute sollten, die Zustimmung des Ministeriums vorausgesetzt, mit gleichen Räumen und gleicher Bibliothek nebeneinander existieren. Mit solchen juridischen Drehs muß man arbeiten, um die bestehende Lage einigermaßen aufrecht zu erhalten70. Mit Schreiben vom 1. Juli 1977 an das Fakultätskollegium der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien lehnte das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung diesen Plan ab, anerkannte in dem betreffenden Schreiben aber ausdrücklich die Sonderstellung71 des IÖG, seine, wie sich Fichtenau ausdrückte, reichsunmittelbare Stellung72: Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung als vom UOG nicht erfaßtes, sondern dem ho. Ressort direkt unterstelltes Institut eigener Art bliebe hievon [sc. von der vorgesehenen Umbenennung des Historischen Instituts in Institut für Geschichte; Th.W.] unberührt73. Die Gelder für unser Institut werden nicht mehr durch die Fakultät gegeben, sondern durch das Ministerium direkt, und zwar von der einen Sektion für Bücher, von der anderen für das Übrige – wenn das klappt, und wenn man bei der gegenwärtigen Lage nicht bei uns zu sparen beginnt74. Im Frühjahr 1978 lehnte das Ministerium auch den Beharrungsantrag, den Fichtenau am 3. November 1977 erfolgreich durch die Fakultät gebracht hatte, ab75. Geklärt werden musste daher, so Fichtenau im Rückblick, insbesondere die künftige Stellung der Assistenten des Instituts [für Österreichische Geschichtsforschung], die ja einem Universitätsinstitut zuzuweisen waren. Dem Rat eines Fachmanns folgend[,] beantragte ich ihre Dienstzuteilung an unser Institut, was ein Novum war und damals nicht nur positive Reaktionen hervorrief  76. Ende Juni 1978 leitete Fichtenau die Ansuchen der Universitätsassistenten Karl Brunner, Wolfgang Häusler, Georg Scheibelreiter, Winfried Stelzer und Karl Vocelka sowie des Studienassistenten Anton Scharer um Dienstzuteilung an das Institut für Österreichische Geschichtsforschung an das Wissenschaftsministerium weiter. Am 4. September 1978 wurden die Genannten unter ausdrücklichem Hinweis, dass sie dem Institut für Geschichte der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angehören, ab 1. Oktober 1978 bis auf weiteres dem Institut für österreichische Geschichtsforschung zur Dienstleistung zugewiesen. Die Dienstpflichten der Betroffenen in bezug auf die 70   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 11. Dezember 1976. 71  Ebd., Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 31. August 1977. 72  Ebd., Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 20. August 1977. 73  Wien, IÖG, Institutsakten, 1977, zu Zl. 98/77 (BMWF, Aktenzahl 62.600/193-UK/77). Vgl. Fichtenau, Ausbildung von Archivaren 49. – In ihrer Sitzung vom 25. November 1977 begrüßten [d]ie am Institut für österreichische Geschichtsforschung wirkenden Professoren (Heinrich Appelt, Heinrich Fichtenau, Adam Wandruszka, Herwig Wolfram und Erich Zöllner) lebhaft, daß mit Erlaß des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung Zl. 62.000/193-UK/77 vom 1. Juli 1977 festgestellt wurde: „Das Institut für österreichische Geschichtsforschung als vom UOG nicht erfaßtes, sondern dem ho. Ressort direkt unterstelltes Institut bliebe hievon (Institutsgliederung nach UOG) unberührt.“ Wien, IÖG, Institutsakten, 1977, Zl. 133/77. 74   Fichtenau, Ausbildung von Archivaren 49. 75   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 4. November 1977, und Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 12. April 1978. Vgl. auch Wien, IÖG, Institutsakten, 1977, ad Zl. 98/77, Stellungnahme der Professoren Heinrich Fichtenau, Günther Hamann, Heinrich Lutz, Gerald Stourzh, Paul Uiblein, Adam Wandruszka, Herwig Wolfram und Erich Zöllner vom 20. Oktober 1977 zum Schreiben des BMWF vom 1. Juli 1977, Zl. 62.000/193-UK/77, Punkt 4-e. 76   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 55f.

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Mitwirkung in der Lehre im Rahmen des Institutes für Geschichte sowie die allfällige Mitwirkung in Kollegialorganen der Universität blieben hiedurch unberührt77. Bei der Vorsprache einer Professoren- und Assistentendelegation des Faches Geschichte bzw. der Fächer Geschichte des Mittelalters, Geschichte der Neuzeit und Österreichische Geschichte bei Ministerin Firnberg am 24. Juni 1978 fragte übrigens Edith Saurer, die damalige Assistentin von Professor Gerald Stourzh, wo in Zukunft die Räume des IÖG seien – man träumte drüben [d. h. am Institut für Geschichte] davon, alles werde jetzt dem Inst[itut] f[ür] Gesch[ichte] gehören, so wie wir selbst und unsere Assistenten. Ich antwortete vor der Frau Minister, die Räume seien dort, wo sie immer waren78. An Toussaint Levičnik schrieb Fichtenau mit sichtlicher Befriedigung: Ende Juni hatten wir eine Sitzung mit der Frau Minister und (ih)ren Beratern über das Schicksal unserer Institute. Dem meinen s(oll) nichts passieren, im Gegenteil, es wurden Versprechungen auf Ko(sten) des Nachbarinstituts gemacht, divide et impera; im Herbst wir(d) die knifflige Lage erst sichtbar werden, doch hoffe ich, daß (die) Dinge zu meistern sein werden79. Ein paar Monate später setzte er seinen Tätigkeitsbericht fort: Was das Institut betrifft, so kämpfe ich nach allen Richtungen – vorige Woche im Ministerium am Montag ums Geld, am Dienstag um die Formulierung des uns betreffenden Paragraphen des Forschungsorganisationsgesetzes, am Mittwoch mit meinen Kollegen von der neueren Geschichte, die von uns etwas erben wollen. Ich hoffe, in dieser „Rundumverteidigung“ nicht schlecht abgeschnitten zu haben80. Zu Weihnachten 1978 informierte Fichtenau Fritz Posch, den Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs: Nun haben wir befehlsgemäß, nach langer vergeblicher Opposition, jenes „Institut für Geschichte“ gegründet, dem alle Professoren und Assistenten des IÖG auch 81 angehören; die Assistenten aber nur in Dingen der akademischen Lehre, während sie für Forschung und Verwaltung dem IÖG dienstzugeteilt sind. Damit ist dem Buchstaben [des UOG] Genüge getan, tatsächlich ändert sich kaum etwas bis auf die Tatsache, daß jetzt Appelt der Vorstand des „Instituts für Geschichte“ ist, das praktisch weiterhin mit dem [ehemaligen] Historischen Institut gleichzusetzen ist82. Mit der Verankerung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, des Ausbildungslehrgangs, der Staatsprüfung und der sechs Stipendien im Forschungsorganisationsgesetz (FOG) vom 1. Juli 1981 fand die Rechtsunsicherheit schließlich ein Ende83. Wenn es nach dem Bundeskanzleramt gegangen wäre, dann wären im FOG die Aufgaben des Instituts nur ganz kurz mit „Förderung der Erforschung und Vermittlung der österreichischen Geschichte“ umschrieben worden. Es gelang Fichtenau aber, dank seiner guten Kontakte im Wissenschaftsministerium, eine Erwähnung von Lehrgang, Staatsprüfung und Stipendien und damit ihre gesetzliche Fundierung zu erreichen, während eine Bezugnahme auf den Archivdienst unterbleiben mußte84. Am 2. Oktober 1978 bemängelte er in seiner Stellungnahme zum Vorentwurf des Forschungsorganisationsgesetzes (FOG) die   Wien, IÖG, Institutsakten, 1978, ad Zl. 89/78 (BMWF, Zl. 768/5-110/78).   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an MR Dr. Herbert Paulhart (BMWF), den ehemaligen Bibliothekar des IÖG, Wien, 27. Juni 1978. – Herbert Paulhart, von 1955 (bzw. seit der Ablegung der Dienstprüfung 1962) bis 1968 Leiter der Bibliothek des IÖG, war mit 2. Mai 1968 der Hochschulsektion des BMU „zur Dienstleistung zugeteilt“ worden. MIÖG 76 (1968) 485. 79   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 7. Juli 1978. 80   Ebd., Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), (Wien,) 27. Oktober 1978. 81   Im Original gesperrt. 82   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Fritz Posch, Wien, 23. Dezember 1978. 83   Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 280. 84   [Heinrich Fichtenau,]Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 4. Juni 1982 über den Lehrgang des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien. MIÖG 91 (1983) 514. 77 78



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Nichterwähnung des Lehrgangs des Instituts, der dafür bestellten Staatsprüfungskommission und der Forschungsstipendien und bat dringend, den Wortlaut des § 28 (in der endgültigen Fassung: § 26) FOG wie folgt zu erweitern: / § 28. (2) Seine [sc. des IÖG] Aufgaben umfassen die Förderung der Erforschung der österreichischen Geschichte und die vertiefte Ausbildung für die Forschungsaufgaben der österreichischen Geschichtswissenschaft unter Einschluß der historischen Hilfswissenschaften, insbesondere auch durch Abhaltung von Lehrgängen, Abnahme von Staatsprüfungen und Vergabe von Stipendien85. In der am 22. Mai 1979 abgegebenen Stellungnahme des IÖG zum Entwurf des FOG forderte Fichtenau die Aufnahme eines Hinweises auf den personellen und sachlichen Zusammenhang [des IÖG] mit der Universität Wien und betonte: Das Institut hat größtes Interesse daran, daß die tatsächliche und unumgängliche Verbindung mit der Universität Wien auch legistisch zum Ausdruck kommt86. Der zuletzt genannte Wunsch wurde vom Ministerium bzw. vom Gesetzgeber nicht umgesetzt. Trotzdem hielt Fichtenau sowohl, was das FOG 1981, als auch was die am 4. Juni 1982 vom Ministerium erlassene Verordnung über den Lehrgang des Instituts betrifft, in seiner Autobiographie dankbar fest: In legistischen Dingen [...] habe ich am Minoritenplatz [d. h. im Ministerium; Th.W.] hohes Verständnis für die notwendigen Festlegungen gefunden87. § 26 (2) FOG enthält Wort für Wort den von Fichtenau erbetenen Text88. In der erwähnten Verordnung von 1982 erscheint überdies die im FOG nicht erwähnte Ausrichtung des Institutskurses auch auf die Archivarsausbildung ausdrücklich unter den Aufgaben des Instituts auf. „Damit war eine Konsolidierung der Rechtsposition erreicht, die den Fortbestand für die nächste Zeit sicherstellte.“89 Walter Ullmann gegenüber fasste Fichtenau die Bedeutung der neuen rechtlichen Absicherung des Instituts so zusammen: Das Institut ist jetzt auf eine neue juridische Grundlage gestellt, bisher „lebten“ wir von einer kaiserlichen Entschließung als Rechtsgrundlage, aus dem Jahr 1854, und das war unter der Linksregierung bedenklich, weil von manchen Juristen nicht als immer noch geltendes Recht anerkannt. Nun ist das „Forschungsorganisationsgesetz“ herausgekommen, darin figurieren wir neben anderen Anstalten, und sogar der Österr[eichischen] Nationalbibliothek. Aber um die Verordnungen zu dem Gesetz geht jetzt die Debatte, und ich bin jeden Augenblick im Ministerium, möchte die Sache noch in meiner Amtszeit durchziehen90. Im März 1982 schrieb Fichtenau an Herbert Hassinger91, sein Nachfolger werde es leichter haben als er: Dann wird das Institut (im Laufe des nächsten Jahres)[,] wenn alles gut geht[,] zusätzliche neue Räume bekommen (Auszug der Pflanzenphysiologen) und die   Wien, IÖG, Institutsakten, 1978, Zl. 104/78.   Ebd., 1979, ad Zl. 50/79. 87  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 55f. Vgl. auch Wien, IÖG, Institutsakten, 1982, Z. 42/82, Stellungnahme Fichtenaus zum Entwurf der Verordnung, 20. April 1982. 88   „Seine Aufgaben umfassen die Förderung der Erforschung der österreichischen Geschichte und die vertiefte Ausbildung für die Forschungsaufgaben der österreichischen Geschichtswissenschaften unter Einschluß der historischen Hilfswissenschaften, insbesondere auch durch Abhaltung von Lehrgängen, Abnahme von Staatsprüfungen und Vergabe von Stipendien.“ Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Nr. 341/1981. 89   Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 280. 90   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Walter Ullmann, Wien, 15. März 1982. – Nun kann auch das Ministerium, falls einmal schlimme Zeiten kommen sollten, unser Institut nicht „einsparen“ oder in seinem Wesen verändern. Ebd., Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 11. August 1981. 91  Herbert Hassinger war ein Kurskollege von Irmtraut Lindeck-Pozza, Hanns Leo Mikoletzky, Fritz Posch und Adam Wandruszka, ab 1961 titulierter außerordentlicher und von 1965 bis 1975 ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck. Santifaller, Institut (wie Anm. 25) 152 Nr. 481, und Fellner–Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft (wie Anm. 46) 170. 85 86

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juridische Neugestaltung (Verordnung über den Lehrgang92, Institutsordnung93, Institutskonferenzgeschäftsordnung94, Bibliotheksordnung, Bibliotheksbenützungsordnung – das ist kein Scherz) werden vorhanden sein95. Fünf Wochen vor seiner Emeritierung konnte Fichtenau berichten: Im letzten Heft der MIÖG ist die Institutsordnung unseres Instituts abgedruckt, deren Text unseren Wünschen entspricht (ich konnte das meiste formulieren ohne Widerspruch des Ministeriums). Nun ist auch die „Geschäftsordnung der Institutskonferenz“ bewilligt, sie wird mit dem Bericht über die Institutsprüfung zusammen gedruckt werden96.

Heinrich Fichtenau und die Archivare, oder: Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung als österreichische Archivschule Leo Santifaller hatte bereits im Mai 1960, angeregt durch Forderungen der österreichischen Archivdirektoren nach einer Anpassung der Institutsausbildung an die modernen Anforderungen [an eine staatliche Archivschule; Th.W.] auf dem Gebiet der neueren und neuesten Geschichte, in einer Eingabe an das Unterrichtsministerium, nach reiflicher Überlegung und nach eingehenden Beratungen des Lehrkörpers des IÖG, die Errichtung einer [Friedrich Walter zugedachten; Th.W.] Professur für Geschichte und Hilfswissenschaften 92  Die am 4. Juni 1982 von Ministerin Firnberg erlassene und mit 1. September 1982 in Kraft getretene Verordnung über den Lehrgang des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien ist abgedruckt in: MIÖG 90 (1982) XI–XVI. 93  Die am 1. Dezember 1982 von der Institutskonferenz des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung beschlossene und im Verordnungsblatt für die Dienstbereiche der Bundesministerien für Unterricht und Kunst, Wissenschaft und Forschung am 1. April 1983 verlautbarte Institutsordnung ist abgedruckt in: MIÖG 91 (1983) 1–4. 94  Geschäftsordnung der Institutskonferenz des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, genehmigt durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung am 16. Juni 1983. MIÖG 91 (1983) 548–551. 95  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Herbert Hassinger, Wien, 22. März 1982. Im selben Brief klagte Fichtenau: Wenn ich die Emeritierung haben will, also 100 %, muß ich bis 30. 9. 1983 dienen. Mir hängt aber die Sache zum Hals heraus, zwanzig Jahre Institutsvorstand ist zuviel. Um meine Nachfolge wird sich niemand reißen, ich hatte nicht einen Groschen davon, und hätte in der Zeit ein paar Bücher schreiben können, die ich mit den Institutsgeschäften und den MIÖG verbracht habe. Wenn dann ein Jüngerer kommt, wird er es sich wohl leichter machen, wir alten Esel haben zuviel Pflichtgefühl. 96   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 25. Juli 1983. – Erzählungen von Ministerialrat Herbert Paulhart (siehe Anm. 77) zufolge weigerte sich Fichtenau, einen (irgendwann in den 1970er Jahren?) von Paulhart im Einvernehmen mit einem weiteren Beamten des Wissenschaftsministeriums ausgearbeiteten Entwurf für einen Vertrag zwischen dem Institut und der Universität Wien zu unterschreiben. Manfred Stoy hat es in seinem Nachruf auf Paulhart so zusammengefasst: „Es ist allerdings schade, dass der Institutsvorstand bzw. Direktor Heinrich Fichtenau den von Paulhart im Einvernehmen mit dem damaligen Ministerialrat Otto Drischel vollkommen fertig gestellten Entwurf für einen Vertrag zwischen dem Institut und der Universität Wien nicht effektuieren wollte.“ Manfred Stoy, Herbert Paulhart †. MIÖG 119 (2011) 281–285, hier 285. (Erst am 14. August bzw. am 9. September 1998 haben Institutsdirektor Herwig Wolfram und Franz Römer, der Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, einen Vertrag zwischen der Fakultät und dem Institut über den Status der am Institut für Österreichische Geschichtsforschung im Rahmen des dreijährigen Lehrganges universitären Charakters abgehaltenen Lehrveranstaltungen unterschrieben. Wien, IÖG, Institutsakten, 1998, Zl. 48/98. Nicht nur die Lehrveranstaltungen, sondern das Verhältnis zwischen dem Institut und der Universität in einem weiteren Sinn betreffende Vereinbarungen zwischen der Universität Wien und dem IÖG wurden erst im November 2001 und neuerlich im Februar 2011 von Rektor Georg Winckler und Direktor Herwig Wolfram bzw. Thomas Winkelbauer sowie einem Vertreter bzw. einer Vertreterin des Ministeriums unterzeichnet.)



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der neueren und neuesten Zeit vorgeschlagen97. 1962, schon unter dem Institutsvorstand Fichtenau, wurde tatsächlich eine neue Professur geschaffen, aber nicht mit der von Santifaller geforderten Denomination, sondern als zweites Ordinariat für Österreichische Geschichte, das, wie bereits erwähnt, mit Erich Zöllner besetzt wurde. Anfang September 1967 zeigte sich Fichtenau auf dem 7. Österreichischen Archivtag in Linz, auf dem der Verband österreichischer Archivare (VÖA) gegründet wurde, in der Frage der Reform des Curriculums des Institutslehrgangs grundsätzlich kompromissbereit. Er forderte allerdings: Die Herren Archivare mögen sich unter sich einigen, was sie eigentlich wollen, und dann werden wir versuchen Ihnen entgegenzukommen. [...] Auf Einzelforderungen einzugehen[,] halte ich für sinnlos, denn was der eine lobt, tadelt der andere [...]98. Deutlich an Intensität und Schärfe gewann die Diskussion über eine Reform der Archivarsausbildung seit dem Frühjahr 1969 im Zuge der Begutachtung des schon erwähnten Entwurfs eines Bundesgesetzes über das Institut für Österreichische Geschichtsforschung99. Richard Blaas, der Gründungspräsident des Verbandes österreichischer Archivare (1969–1977), damalige Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1957–1976) und künftige (1976–1978) Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, forderte auf dem Österreichischen Historikertag bzw. auf der 13. Fachkonferenz der leitenden österreichischen Archivare am 19. Mai 1969 in Graz sowie im ersten Heft des ersten Jahrgangs der neu gegründeten Zeitschrift des Verbandes österreichischer Archivare eine Reform des Curriculums des Institutslehrganges und drohte dem Institut mehr oder weniger unverhohlen, dass die Archive für den Fall der Reformverweigerung seitens des Instituts gezwungen wären, eine eigene Archivarausbildung aufzuziehen, ähnlich wie die Bibliotheken es seit langem praktizieren100. Er meinte, ein zu konstituierendes, aus Vertretern des Lehrkörpers des IÖG und der Archivleitungen bestehendes Gremium müßte zunächst einmal den Mut aufbringen, wissenschaftlichen Ballast abzuwerfen, indem aus dem Unterricht alles das eliminiert oder in seinem Umfang reduziert wird, was reiner Lernstoff ist, dessen praktische Verwertung sowohl in der Forschung als auch im Archivdienst minimal ist101. Und weiter: Die gediegene wissenschaftliche Ausbildung muß durch eine wenigstens technische Grundfragen umfassende Informierung ergänzt werden. Archivtechnik oder Archivistik [...] müßte als eigenes Unterrichtsfach in den Ausbildungslehrgang aufgenommen werden102. Ende Oktober 1969 informierte Fichtenau Fritz Posch: Noch im heurigen Jahr soll eine Konferenz der leitenden Archivbeamten einberufen werden, der Blaas seine Wünsche und Beschwerden gegenüber dem Institut vorlegen will. Er arbeitet mit dem Kanzleramt zusammen, das in einem Gutachten bereits andeutete, ob wir nicht aufgelöst werden sollen103. Toussaint Levičnik gegenüber sprach Fichtenau wörtlich von einer Archivarsfronde (eigentlich eine Ein-Mann-Partei) gegen das Institut104. Zu Jahresende berichtete Fritz Posch, dass die erwähnte Archivdirektorenkonferenz von Hanns Leo Mikoletzky, dem Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, für 29. und 30. Jänner 1970 einberufen worden sei. Posch 97

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  Zit. nach Richard Blaas, Reformvorschläge zur Archivarsausbildung. Scrinium 6 (1972) 20–37, hier

  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Herwig Wolfram, Wien, 19. Mai 1969.   Blaas, Reformvorschläge (wie Anm. 97) 26. 100  Richard Blaas, Der Archivar und seine Berufsausbildung. Scrinium 1 (1969) 7–17, hier 10. 101  Ebd. 11. 102  Ebd. 16. 103  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Fritz Posch, Wien, 31. Oktober 1969. 104   Ebd., Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 9. November 1969. 98 99

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gab sich zuversichtlich: Ich glaube, daß wohl alle Landesarchivdirektoren für den Weiterbestand des Instituts eintreten werden, vermutlich wohl auch alle Leiter der Wiener Archive. [...] Ich bin der Meinung, daß es letzten Endes darauf hinauslaufen wird, daß gewiße Fächer, die für den Archivar von größerer Bedeutung sind, mehr im Lehrplan des Instituts für Geschichtsforschung berücksichtigt werden sollen [...]105. Eine Woche vor der Konferenz fasste Fichtenau, der noch immer keine Einladung dazu erhalten hatte, Posch gegenüber seine Einwände und Bedenken zusammen: Zu Deiner Information möchte ich auf einige Dinge zurückkommen, die in dem Forderungsprogramm enthalten sind, das von Blaas dem Kanzleramt suggeriert wurde. Vor allem muß die Forderung auf ernste Bedenken stoßen, daß der Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs das Institut mitleiten soll. Wie soll ein Beamter aus dem Ressortbereich des Bundeskanzleramtes im Dienstbereich des Bundesministeriums für Unterricht eine leitende Stellung innehaben, die z. B. mit der Dienstaufsicht über Universitätspersonal verbunden ist? [...] Vom praktischen Gesichtspunkt her ist ein solcher Doppeladler ein Unding, es käme zu fortwährenden Raufereien. [...] Neue Staatsprüfungsfächer zu schaffen, würde die ohnehin schon sehr große Prüfung überlasten. / [...] Neue Fächer wie eine Urkundenlehre der Neuzeit aufzunehmen, wäre unsinnig. Hier wäre der wissenschaftliche Charakter höchstens für die Verträge gegeben, alles andere ist nicht durchgearbeitet, weil es wenig bedeutsam ist106. Die Archivdirektorenkonferenz fand statt, Fichtenau wurde, offenbar auf Drängen einiger Landesarchivdirektoren, kurzfristig eingeladen107 und stellte sich den Forderungen der Archivare. Nach Angaben von Richard Blaas beschlossen die Archivdirektoren (am 29. Jänner 1970 in Wien oder schon im Mai 1969 in Graz?) einstimmig, daß am Institut für österreichische Geschichtsforschung als Ausbildungsstätte für den höheren Archivdienst festzuhalten sei, daß aber [...] der Lehrplan des Institutes entsprechend ausgebaut und das Fach Archivwissenschaft und seine Teildisziplinen durch Heranziehung von Archivaren und deren Einbau in den Lehrkörper Rechnung getragen werde. Die Resolution blieb ohne vernehm  Ebd., Fritz Posch an Fichtenau, Graz, 29. Dezember 1969.   Ebd., Fichtenau an Fritz Posch, Wien, 22. Jänner 1970. In einem Postskriptum fügte Fichtenau noch hinzu: Gerüchteweise sollen wir – Appelt, Zöllner und ich – für Freitag zu den Archivberatungen eingeladen werden. Wahrscheinlich sollten wir dann mit Donnerstag beschlossenen Forderungen überrumpelt werden. Es wäre ausgezeichnet, wenn wir sie vorher kennen und diskutieren könnten. Könntest nicht Du (und vielleicht noch Sturmberger und Bachmann, wenn er kommt) nach dem Abschluß am Donnerstag von der Sitzung direkt auf die Universität kommen [...]? Ich wäre Dir außerordentlich dankbar! – Während sich Fichtenau um 1970 gegenüber den Archivaren „nur“ gegen die Ausweitung der seit unterschiedlich langer Zeit im Institutskurs in je zweistündigen Lehrveranstaltungen gelehrten Fächer Aktenkunde, Archivkunde und Schriftenkunde der Neuzeit und gegen die Einführung neuer Fächer aussprach, hatte Engelbert Mühlbacher um 1900 gegenüber der von Seiten der Archivare erfolgten Anregung, auch „Schriftenkunde der Neuzeit“ in den Institutslehrplan aufzunehmen, die Ansicht vertreten, „dass, wer spätmittelalterliche Texte lesen könne, auch die ‚greulichen‘ Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts zu entziffern in der Lage sei“. Michael Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters (Wien–München 2013) 348f. 107  Die von Generaldirektor Mikoletzky unterzeichnete Einladung Fichtenaus und eventuell auch anderer Mitglieder des Lehrkörpers zu einem „Hearing“ am Vormittag des 30. Jänner 1970 im Rahmen der „14. Fachkonferenz leitender österreichischer Archivare“ datiert vom 26. Jänner 1970. Wien, IÖG, Institutsakten, 1970, Zl. 95/70 = Beilage I zu Zl. 27/70. In der Vorbemerkung zu seinem Gedächtnisprotokoll über die Sitzung der Archivarskonferenz am 30. 1. 1970 (datiert Wien, 2. Februar 1970) hielt Fichtenau fest, dass das Schreiben vom 26. Jänner vom Vorstand des Instituts wegen seiner Form zurückgewiesen wurde. Schließlich erfolgte telefonisch die Einladung durch Hofrat [Walter] Goldinger (in dessen Archiv [d. h. im Allgemeinen Verwaltungsarchiv, das damals im Palais Pálffy in der Wallnerstraße untergebracht war; Th.W.] die Konferenz tagte), am zweiten Tag möchten „die Vertreter des Instituts“ erscheinen. Der Institutsvorstand sagte für seine eigene Person zu und bat, die übrigen Herren, an die man denke, persönlich anzurufen. Dies ist nicht erfolgt. Ebd., Z. 27/70. 105 106



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bares Echo, da auch der Entwurf eines Bundesgesetzes über das Institut für österreichische Geschichtsforschung, der sie ja provoziert hatte, sozusagen aus dem Verkehr gezogen wurde108. An Irmtraut Lindeck-Pozza, die er seit Studententagen kannte109 und die seit 1955 am Institut für Österreichische Geschichtsforschung am „Urkundenbuch des Burgenlandes“ arbeitete, berichtete Fichtenau über seine Debatte mit den Archivdirektoren: Hier ist wegen des Institutsgesetzes eine Archivarskonferenz gehalten worden, auf der Blaas & Mikoletzky eine Fronde gegen das Institut bildeten. Ich sollte dazu gar nicht eingeladen werden, aber schließlich kamen aus den Bundesländern Donner und Blitz, und ich bin – wie ich hoffe – so etwas wie ein Sieger nach Punkten geblieben110. Damit waren, wie es scheint, die Reformforderungen der Archivare fürs erste vom Tisch, nicht aber das in den Reihen der Archivare spürbare Unbehagen an der Ausbildung111. In den folgenden Jahren ergab sich, so Fichtenau in seiner Autobiographie, andererseits sogar etwas wie eine gemeinsame Frontstellung von Archivaren und Institut gegenüber der Hochbürokratie auf dem Ballhausplatz112, also im Bundeskanzleramt. Dem Direktor des Kärntner Landesarchivs versicherte Fichtenau Ende November 1976: Das Lehrprogramm soll nicht versteinern, sondern den jeweiligen Erfordernissen der Zeit angepaßt werden. Grundvoraussetzung für eine Änderung der Statuten des Instituts wäre allerdings eine Übereinkunft wenigstens des größeren Teiles der Archivare über jeden Punkt, den es zu ändern gilt, und dazu wiederum bedarf es einer Intensivierung der Meinungsbildung und stärkerer Kontakte der Archivare untereinander113. Zu dieser Meinungsbildung kam es schließlich auf dem 13. Österreichischen Archivtag in Kitzbühel im Oktober 1977, in dessen Vorfeld Richard Blaas prinzipiell an der folgenden „These“ festgehalten hatte: Die optimale wissenschaftliche Ausbildung erhält der Archivar durch die Absolvierung des Institutskurses. Gleichzeitig betonte er aber, dass die Aufrechterhaltung des seit der Novelle zum Gehaltsüberleitungsgesetz vom 9. Juli 1970 bestehenden Anstellungserfordernisses für den höheren Archivdienst in den staatlichen Archiven in Gestalt der Ablegung der Staatsprüfung am IÖG voraussetze, daß das Institut sein Ausbildungsprogramm so erstellt und abwickelt, daß es von allen Archivverwaltungen als optimal akzeptiert wird 114. In seiner Eröffnungsrede stellte Blaas in Kitzbühel fest: Sie wissen, daß ich persönlich schon immer an der Frage der Berufsausbildung interessiert war und ich bin mir bewußt, daß ich mit meinen Artikeln zu dieser Frage sicher auch dazu beigetragen habe, das Institut als Ausbildungsstätte etwas ins Zwielicht zu bringen, aber ich habe niemals das Institut als Ernennungs- und Definitivstellungserfordernis [für Archivare des höheren Dienstes ins staatlichen Archiven] in Frage gestellt. Was ich wollte und worüber gerade dieser Archivtag reichlich Gelegenheit geben wird zu sprechen und zu diskutieren, ist eine zeitgemäße Reform und Anpassung der Lehrveranstaltungen an die Erfordernisse der Archivare115.   Blaas, Reformvorschläge (wie Anm. 97) 27.   Fichtenau hatte den Institutskurs 1933–1935 absolviert, Lindeck-Pozza 1935–1937. Santifaller, Institut (wie Anm. 25) 150 Nr. 460 und 152 Nr. 482. 110  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Irmtraut Lindeck-Pozza, Wien, 12. Februar 1970. Vgl. Fichtenaus Gedächtnisprotokoll über die Sitzung (wie Anm. 107). 111   Blaas, Reformvorschläge (wie Anm. 97) 24. 112   [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 55. 113  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Wilhelm Neumann, Wien, 29. November 1976. 114  Richard Blaas, Zur Problematik der Archivarausbildung (Dem Archivtag 1977 zum Geleit). Scrinium 16 (1977) 3–11, hier 5 und 11. 115  Zum 13. Österreichischen Archivtag in Kitzbühel 1977. Resolution über die Ausbildung der Archivare des höheren Dienstes im Österreichischen Staatsarchiv. Scrinium 17 (1977) 3–6, hier 5f. 108 109

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Fichtenau hielt auf dem Kitzbühler Archivtag ein Referat über die Archivarsausbildung am Institut, in dem er „den methodischen Schwerpunkt der Ausbildung heraus­ strich“116 und sich dialog- und kompromissbereit gab117. Er verschaffte sich durch das Auflegen von Unterschriftenlisten einen groben Überblick über die Meinungsbildung unter den anwesenden Archivaren, dem zufolge die Forderung nach Einführung der folgenden neuen Lehrveranstaltungen die stärkste Zustimmung erfuhr: „Übungen, die dem Wirken der Mittel- und Unterbehörden gewidmet sind“ (33 Befürwortungen); „Übungen an Quellen, besonders für Landes- und Gemeindearchivare“ (32 Befürwortungen); Reduzierung der der Kaiser- und der Papsturkunde gewidmeten Stunden zugunsten der Fächer „Privaturkundenlehre“ und „Aktenkunde“ sowie stärkere Einbeziehung des Spätmittelalters und der Neuzeit in die Privaturkundenlehre und Behandlung der Aktenkunde mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (28 bzw. 27 Befürwortungen); Umwandlung des Pflichtfachs „Museumskunde“ in „Ausstellungs- und Konservierungstechnik“ (28 Befürwortungen)118. Fichtenau zeigte sich mit dem erzielten Kompromiss zufrieden: Anfang Oktober hatte ich eine Art Schauboxen mit ein paar Dutzend Archivaren abzuführen, wegen unserem Lehrplan am Institut; es ging ganz ordentlich119. Am 25. Jänner 1978 wurden Heinrich Fichtenau in seiner Funktion als Vorstand des IÖG „Anregungen und Vorschläge des Verbandes Österreichischer Archivare für die Gestaltung des Kurses am Institut für Österreichische Geschichtsforschung“ überreicht, die am 3. April 1978 von der Generalversammlung des VÖA zur Kenntnis genommen wurden120. Bereits mit dem Wintersemester 1978/79 trat die Reform des Ausbildungslehrgangs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Kraft, deren wichtigstes Element in einer markanten Aufwertung der archivwissenschaftlichen sowie der den neuzeitlichen Behörden, Institutionen und Quellen gewidmeten Fächer bestand. In den folgenden Jahrzehnten wurden die drei bisher zweistündigen Lehrveranstaltungen „Schriftenkunde der Neuzeit“, „Archivkunde“ und „Aktenkunde“ jeweils vierstündig unterrichtet. Gleich­zeitig wurden „Übungen an Quellen zur Geschichte der österreichischen Länder und Städte“ sowie „Übungen über die Tätigkeit österreichischer Mittel- und Unterbehörden“ als neue Pflichtfächer eingeführt. Alle fünf genannten Lehrveranstaltungen wurden künftig von österreichischen Archivaren unterrichtet121. Einen vorläufigen Abschluss fand die Reform des Institutskurses in der am 4. Juni 1982 erlassenen Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung über den Lehrgang am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien122. Rückblickend wird man der Einschätzung Leopold Auers zustimmen müssen, der 2003 aus Anlass des 90. Geburtstages von Richard Blaas über diesen und seine Bemühungen um eine Anpassung des Lehrplans des IÖG an die Bedürfnisse der Archive ges  Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 280.   Fichtenau, Ausbildung von Archivaren. 118   Ebd. 52–55. 119  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 4. November 1977. 120  Rainer Egger, Chronik. Scrinium 18 (1978) 42–45, hier 42–44. 121  Vgl. auch den grundlegenden Aufsatz von Othmar Hageneder, Die wissenschaftliche Ausbildung der österreichischen Archivare und das Institut für österreichische Geschichtsforschung. AfD 27 (1981) 232–298, hier 286–296. 122  MIÖG 90 (1982) XI–XVI, bes. XII–XIV; Othmar Hageneder, Die wissenschaftliche Ausbildung der österreichischen Archivare. Scrinium 36/37 (1987) 239–260, hier 257. 116 117



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chrieben hat: „Obwohl Richard Blaas als Historiker Bedeutendes geleistet hat, war er vor allem mit Leib und Seele Archivar. [...] Vor allem [...] ging es ihm um eine sachgerechte Ausbildung. Seine diesbezüglich vor drei Jahrzehnten erhobenen Forderungen haben zum Teil heftige Diskussionen ausgelöst. Heute können sie als selbstverständlich gelten; ihre Berechtigung wurde erst kürzlich durch die jüngsten Reformen des Lehrgangs am Institut für österreichische Geschichtsforschung eindrucksvoll bestätigt.“123

Räumliche Vergrößerung des Instituts Der arge Platzmangel im Institut konnte in zwei Etappen zu Beginn und am Ende der Vorstandszeit Heinrich Fichtenaus stark gelindert werden. Seit den frühen 1950er Jahren hatten sowohl das Institut für Österreichische Geschichtsforschung als auch das Pflanzenphysiologische Institut der Universität Wien für die Zeit nach dem Auszug des Kunsthistorischen Instituts aus dem Hauptgebäude der Universität Ansprüche auf den über den Räumen des IÖG liegenden Trakt des Kunsthistorischen Instituts erhoben. Angesichts der bevorstehenden Übersiedlung des Kunsthistorischen Instituts in des Neue Universitätsgebäude einigten sich Heinrich Fichtenau und Richard Biebl, der Vorstand des Pflanzenphysiologischen Instituts, am 18. Juni 1962 über die Aufteilung der frei werdenden Räume124. Bei der Übergabe des dem IÖG zufallenden Teils am 19. Jänner 1963 meldete Fichtenau für das Institut eine Erneuerung der historischen Ansprüche125 auf den Rest der Räume für den Fall an, daß künftig das Pflanzenphysiologische Institut seinerseits in ein anderes Gebäude übersiedeln würde126. Um die Jahreswende 1962/63 sah sich Fichtenau mit mehreren Wünschen um die Überlassung einiger der neuen Räume konfrontiert. Im Dezember 1962 berichtete er Heinrich Schmidinger: Leider hatte ich mit [Hugo] Hantsch ein eher unangenehmes Gespräch, er stellte [namens des Historischen Seminars] neuerlich Raumforderungen an das Institut (jetzt, da alles entschieden ist! statt sich früher um Räume zu kümmern). Nun hat mir der akademische Senat auf dem Weg über den Rektor (Jurist, Kriminologe) die Forderung gestellt, ich möge [Ludwig] Jedlicka einen Raum für seine „Gesellschaft für Zeitgeschichte“ zur Verfügung stellen, da sie aus dem durch einen früheren Rektor beigestellten Raum neben dem Auditorium Maximum hinaus muß. Da drittens auch der Dekan der katholischen Theologen an den neuen Räumen partizipieren will, habe ich es für das beste gehalten[,] der Zeitgeschichte den Raum zu bewilligen, dann ist wenigstens das 123  Leopold Auer, Richard Blaas zum 90. Geburtstag. Scrinium 57 (2003) 141f.; vgl. zuletzt: Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 106) 351f. 124   Wien, IÖG, Institutsakten, 1962, Zl. 182/62. 125   Bereits Ende November 1940 hatte Otto Brunner in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät eine Vergrößerung des Instituts durch die benachbarten Räume des Kunsthistorischen und des Pflanzenphysiologischen Instituts gefordert. Stoy, Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 4) 277f. Am 2. Mai 1960 ersuchte Leo Santifaller, der Vorstand des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, [a]n­läßlich der bevorstehenden Übersiedlung des Kunsthistorischen Instituts in das neuerrichtete Gebäude der Universitätsinstitute den Vorsitzenden des akademischen Gebäudeausschusses, Prof. Hubert Rohracher, nach Auszug der kunsthistorischen Lehrkanzel das Institut für österr. Geschichtsforschung in seinen nunmehr 60jährigen Rechten auf den Zwischenstock zu bestätigen bzw. denselben wieder in den unmittelbaren Besitz des Institut[s] für österr. Geschichtsforschung zurückzuführen. Wien, ÖStA, AdR, BMUK, Hauptreihe 1945–1965, Karton 511: Institute D–G, Zl. 59.265-4/60, Durchschlag. 126  Räumliche Veränderungen. MIÖG 72 (1964) 262f., hier 262; vgl. Wien, IÖG, Institutsakten, 1963, Zl. 21/63.

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Institut unten davon frei, und außerdem will ich mir im Ministerium ([Ministerialrat] Weikert!) guten Wind für die sehr kostspieligen Adaptierungsarbeiten schaffen. Früher oder später wird J[edlicka] doch seine eigenen Räume bekommen außerhalb der Universität, und bei ihm handelt es sich nicht um eine Abtrennung (Abmauerung), wie es Hantsch und die Theologen wünschen – also das geringere Übel 127. Im Zuge des Umbaus und der Renovierung der alten und neuen Räumlichkeiten des Instituts wurde der seit 1944 wegen eines Bombentreffers geschlossene traditionelle Haupteingang des Instituts auf der Seite zur Universitätsbibliothek wieder geöffnet, und das seit 1945 nicht mehr als solches verwendete Direktionszimmer wurde reaktiviert und mit einer Polstertür ausgestattet. In einem ausführlichen Schreiben an die UniversitätsGebäude-Verwaltung betreffend die baulichen Änderungen und Adaptierungsarbeiten begründete Fichtenau dies am 11. September 1962 so: Das kommende Jubiläum der Universität und der internationale Historikerkongress [in Wien] 1965 machen die Wiederherstellung eines repräsentativ wirkenden Empfangsraumes dringlich128. Im März 1964 berichtete er über Probleme bei der Möblierung des Direktionszimmers: Da sind noch Möbelschwierigkeiten (das Bundesmobiliendepot hat nur mehr alten Kram und vor allem keinen Luster129), aber ich dränge nicht, weil ich in meinem jetzigen Zimmer viel lieber bin als in dieser „Reitschule“130. Nach dem Auszug der Pflanzenphysiologen aus dem Hauptgebäude der Universität konnte der von Fichtenau 1963 angemeldete Anspruch im Mai 1983 realisiert werden131. Nächstes Jahr soll renoviert werden, mit starken baulichen Veränderungen, für die ich die Pläne entworfen habe (wenn wirklich Geld da ist)132. Der große Umbau des Instituts fand dann aber erst in den Jahren 1989 bis 1993 statt133.

Fichtenaus Publikationstätigkeit in der Zeit seiner Institutsvorstandschaft In den 21 Jahren, in denen Fichtenau das Institut für Österreichische Geschichtsforschung leitete, hat er – den administrativen und sonstigen Belastungen zum Trotz 134 – seine zwei vielleicht wichtigsten Bücher geschrieben: „Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert“, sein 1971 als Ergänzungsband der MIÖG 127   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Heinrich Schmidinger, Wien, 9. Dezember 1962. – Am 6. Dezember 1962 teilte Fichtenau dem Rektor mit, dass er bereit sei, der Gesellschaft für Zeitgeschichte in den neuen Räumen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, und fügte hinzu: Ich tue dies in der sicheren Erwartung, daß weitere Raumforderungen an das Institut nicht mehr die Unterstützung des Akademischen Senats finden werden. Wien, IÖG, Institutsakten, 1962, zu Zl. 347/62. 128   Wien, IÖG, Institutsakten, 1962, Zl. 218/62. 129   Am 17. Jänner 1964 hatte Fichtenau in einem Schreiben an die Direktion der Bundesmobilienverwaltung unter anderem um 1 vielflammige[n] Metall-Luster, 18. oder früheres 19. Jahrhundert, gebeten. Wien, IÖG, Institutsakten, 1964, Zl. 37/64. 130   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Heinrich Schmidinger, Wien, 7. März 1964. 131   Räumliche Erweiterung des Instituts. MIÖG 91 (1983) 514f. 132   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 18. Mai 1983. 133   Manfred Stoy, Bibliotheks-Umbau. MIÖG 101 (1993) 513–515; ders., Bibliothek und Sammlungen. MIÖG 104 (1996) 462–465. 134  Am Ende der mit Ostern 1984 datierten Einleitung von „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ schreibt Fichtenau: Die Arbeit an dem vorliegenden Buch ging, vor allem wegen beruflicher Belastungen, nur langsam vonstatten. Dadurch bedingte Ungleichmäßigkeiten konnten nicht völlig getilgt werden. Fichtenau, Lebensordnungen, hier zitiert nach der (einbändigen) Taschenbuchausgabe (München 1992) 7.



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erschienenes hilfswissenschaftliches Hauptwerk135, und sein historiographisches Meisterwerk „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich“, das 1984, im Jahr nach seiner Emeritierung, erschienen ist und das Patrick Geary ins Englische übersetzt hat. Die englische Übersetzung ist 1991 erschienen, ein Jahr vor der Taschenbuchausgabe der deutschen Fassung (in der Reihe dtv wissenschaft). Im Jänner 1972, nach dem Erscheinen des „Urkundenwesens“, orientierte sich Fichte­ nau als Historiker neu und beschloss, die Historischen Hilfswissenschaften vorderhand zu vernachlässigen. An Luitpold Wallach schrieb er: Mein Buch über das Urkundenwesen in Österreich ist nun doch erschienen [...]; nun bin ich diese Verpflichtung los und werde die Hilfswissenschaften nur mehr gelegentlich pflegen, ich muß meinen Horizont zu erweitern suchen, der in diesen Jahrzehnten durch die Urkundenarbeit recht eng geworden ist. So will ich einmal lesen, dies und das, und warten was dabei herauskommt136. Und dem 1910 in Pulkau geborenen, 1939 aus Österreich nach England ins Exil gegangenen Rechtshistoriker und Mediävisten Walter Ullmann (seit 1959 Fellow des Trinity College und seit 1972 Professor für mittelalterliche Geschichte in Cambridge) teilte er mit: [...] ich benütze das Datum [sc. des näher rückenden 60. Geburtstags] dazu, mich langsam von dem allzu hastigen Getriebe abzusondern, Artikel und Vorträge abzulehnen, die mir nicht Spaß machen [...] und ich will mich in Hinkunft auch nicht mehr so auf die Hilfswissenschaften festlegen. Daß ich ihnen Jahrzehnte opferte, mußte sein, es ist die Linie dieses Instituts, die ich fortführen und sachte modernisieren mußte. Aber nun glaube ich bald genug getan zu haben und beginne einmal wieder zu lesen, jenseits der Zunftgrenzen, Ethnologie usw. Was dabei herauskommt, ist noch ungewiß und im Nebel, vielleicht gar nichts, jedenfalls macht es mir Spaß, und das konnte man von meiner bisherigen Tätigkeit nicht immer sagen137. Was dabei „herauskam“, waren die 1975 und 1977 erschienenen Bände 1 und 2 seiner „Ausgewählten Aufsätze“138, vor allem aber die „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“139. Im Jänner 1977 berichtete Fichtenau an Wallach: Inzwischen sammle ich – soweit mir überhaupt Zeit bleibt, d. h. selten – Material über Kulturgeschichte des 10. Jahrhunderts, d. h. einige mit der (so modernen) „Mentalität“ zusammenhängende Teilgebiete – Zeremoniell usw., „Horizont“-Probleme usw. Werden sehen, ob ich das in ein paar Jahren publizieren kann. Für mich ist es ein Vergnügen, einmal wieder Quellen zu lesen, die keine Urkunden sind140. Er versuche, schrieb Fichtenau im Juni 1978 an Peter Munz, sich quer durch die Quellen des 10. Jahrhunderts durchzulesen und einige derartige [von Georges Duby in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France aufgeworfene; Th.W.] Fragestellungen zu verfolgen. Es ist sozusagen „Geistesgeschichte“ von unten, nicht der Eliten, 135   Winfried Stelzer hat das Buch als „große[n] Wurf“ und „kühne Pionierarbeit“ bezeichnet (Stelzer, Fichtenau [wie Anm. 40] 281). Fichtenau selbst hat es mit dem für ihn typischen Understatement als eine nützliche Zusammenfassung, nur für die Frühzeit eigene Forschungen bringend charakterisiert ([Autobiographie von] Heinrich Fichtenau 53). 136   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 18. Jänner 1972. 137   Ebd., Fichtenau an Walter Ullmann, Wien, 16. Jänner 1972. Zu Ullmann siehe John A. Watt, Walter Ullmann 1910–1983. Proceedings of the British Academy 74 (1988) 483–509, und Horst Fuhrmann, Walter Ullmann, Lehrmeister „mit Rute und Liebe“. Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1983, 198–201, Wiederabdruck in: ders., Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie (München 2001) 231–236. 138   Fichtenau, Beiträge. 139   Fichtenau, Lebensordnungen. 140   Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 17. Jänner 1977.

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wie bei Kantorowicz und anderen Georgeschülern141. Anfang Dezember 1978 umfasste die Materialsammlung 3600 Zettel, aber das ist natürlich viel zu wenig142. In den folgenden zwei Jahren stieg die Zahl der Zettel auf 5500143. Was mir vorschwebt, ist einiges, das in Frankreich – nicht immer in glücklicher Weise – von den Mediävisten getrieben wird, also eine Verbindung zwischen den Vorstellungen der Leute und ihren wirtschaftlich-sozialen Voraussetzungen herzustellen. In Deutschland gibt es kaum jemand, der diese Dinge ernsthaft betreibt, am ehesten tut es A[rno] Borst[,] und einiges klingt bei [Horst] Fuhrmann an, wenn er nicht gerade über die Dekretalen schreibt144. Mit der Niederschrift des Buches scheint Fichtenau im Sommer 1980 begonnen zu haben: Nun habe ich begonnen, an dem Manuskript eines Buches zu schreiben, für das ich seit vielen Jahren Notizen gesammelt habe. Es handelt sich um Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des 10. Jh., wobei die „Mentalität“ im Vordergrund steht [...]. Mit dem Ende der Ferien wird das Ende dieser Arbeit gegeben sein, und Monate lang werde ich andere Sachen machen müssen. Es wird also wohl noch 3 Jahre dauern, bis ich ans Drucken denken kann. Dann bin ich siebzig Jahre, und gehe auch geistig „in Pension“145. Zu Weihnachten 1980 berichtete Fichtenau: Das Schreiben geht sehr langsam, da ich fast nur die Feiertage dazu verwenden kann [...]. Es macht mir aber großen Spaß, zu sehen, wie die Dinge aus den Zetteln „heraussteigen“ und plastisch werden. Mich interessiert vor allem das, was damals selbstverständlich war (und heute „überwunden“ ist), nicht die von einer Elite gepflegte Geistigkeit146. Im Mai 1983 konnte Fichtenau erleichtert vermelden: Ich bin sehr froh, daß ich trotz allem mein Buch fertig geschrieben habe147. Den ganzen Sommer über feilte er am Stil und überprüfte die Zitate und die Anmerkungen148. Am 28. September sandte er das Manuskript mit 476 Seiten Text und 183 Seiten Anmerkungen an den Verlag149. Seine Motivation für das Bücherschreiben und seine Art, dies zu tun, charakterisierte Fichtenau 1981 so: Wenn ich Bücher schreibe, so tue ich das (wenigstens im „Oberbewußtsein“) nicht, um bei meinen Kollegen, die mir ziemlich egal sind, „unsterblich“ zu werden. Sondern weil ich erprobt habe, daß man nur durch Formulieren sich selbst wirklich klar wird über die Dinge. Meine 5500 Zettel sind Mosaiksteinchen, erst ihre Ordnung ergibt das Mosaik. Anderseits soll man nicht zu lange an einer Sache herumbasteln, und dagegen ist das Drucken gut. Man ist dann frei für Neues und kann das Alte vergessen150. Die Beschränkung auf das („lange“?) 10. Jahrhundert begründete Fichtenau 1983, kurz vor der Fertigstellung des Buches, so: Es sind Dinge, die zumeist auch andere Jahrhunderte betreffen, aber ich habe es immer als „Unschärfe“ empfunden, wenn man nicht die zeitliche Einheitlichkeit einiger Generationen gewahrt hat151.   Ebd., Fichtenau an Peter Munz, Wien, 4. Juni 1978.   Ebd., Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 5. Dezember 1978. 143   Ebd., Fichtenau an Hans Linser, Wien, 26. Jänner 1981. 144  Ebd. 145  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 21. August 1980. 146  Ebd., Fichtenau an Walter Ullmann, 23. Dezember 1980. 147   Ebd., Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 18. Mai 1983. 148  Ebd., Fichtenau an Ivan Hlaváček, Wien, 25. Juli 1983; Fichtenau an (Heinz) Dopsch, Wien, 2. September 1983; Fichtenau an Patrick J. Geary, Wien, 27. September 1983; Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 29. Oktober 1984. 149  Ebd., Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart, an Heinrich Fichtenau, 4. Oktober 1983, gez. Dr. R. W. Fuchs. 150  Ebd., Fichtenau an Hans Linser, Wien, 26. Jänner 1981. 151  Ebd., Fichtenau an Friedrich Prinz, Wien, 4. Februar 1983. 141 142



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Schluss Am 27. September 1983, drei Tage vor seiner Emeritierung, konnte Fichtenau Patrick Geary zufrieden und erleichtert berichten: Herwig [Wolfram] ist nun als Vorstand ernannt, es ist also auch diese langwierige Sache in Ordnung152. An Toussaint Levičnik schrieb er am selben Tag: Auch ist die Sache mit meinem Nachfolger als Institutsvorstand durch den Minister unterschrieben und er hat schon sein Dekret (3 Zeilen) und ich meine Entlastung von den Amtsgeschäften. Da es sich um meinen Schüler handelt, geht alles reibungslos vor sich. Ich schreibe schon in meinem neuen Austragstüberl, wo ich vorderhand allein bin, dann werden noch zwei Ex-Ordinarien dazukommen, der eine [Adam Wandruszka] in einem Jahr, der andere [Erich Zöllner] in drei Jahren. Es ist ziemlich finster und gleich neben dem Klo gelagert, an beides muß man sich gewöhnen. Ich habe mir dieses Lokal selbst ausgesucht, weil es über einen Gasofen verfügt und ich sehr „erfroren“ bin, Erbe meiner Ahnen?153 In der 17-jährigen Direktionszeit Leo Santifallers „wurde die Editionstätigkeit bzw. die Publikation von Regesten als wichtigste Aufgabe des Instituts verstanden“ 154, ganz im Sinne von Santifallers Überzeugung, daß es für uns Historiker die erste, vornehmste und dringlichste Pflicht und Aufgabe ist, die Geschichtsquellen, insbesondere die exaktesten unter ihnen, die Urkunden, zu sammeln, kritisch zu untersuchen und zu veröffentlichen, d. h. also herauszugeben155. Fichtenaus primäres Anliegen war es hingegen, „die Forschung zu forcieren; er verspürte aber keinerlei Neigung, andere – womöglich gegen deren Willen – als Mitarbeiter für Editions- oder Forschungsunternehmen zu verpflichten. Dies entsprach seiner noblen Haltung, sicher auch seiner Gewohnheit, im Alleingang zu arbeiten. [...] Die Freiheit, die er für sich selbst beanspruchte, gestand er auch allen anderen zu“156. Quelleneditionen waren ihm kein Herzensanliegen, die Beendigung angefangener Projekte betrachtete er aber als unbedingte Ehrensache. Anfang Mai 1963 hatte er vor dem Akademischen Senat der Universität Wien, wie er sich Toussaint Levičnik gegenüber ausdrückte, eine Rauferei mit dem Rektor, einem Kriminologen157, der für die Geschichte nun gar nichts übrig hat; er wollte die Gelder für die Fortführung der Ausgabe der Matrikel unserer Universität einstellen – ich habe mir erlaubt zu bemerken, daß das eine ausgesprochen originelle Tat wäre jetzt vor dem Jubiläum (600-Jahrfeier 1965), und bin schließlich Sieger geblieben, die Arbeiten gehen weiter. Sie müssen es auch, denn in der vergangenen Ära wurde fleißig Text ediert, drei Bände, aber ohne Register, und ohne ein solches (umfangreicher als der Text) ist nun der Text unbenützbar. Meine Herzenssache sind ja derlei Editionen nicht, aber ich muß weitermachen[,] was begonnen wurde, um nicht Urheber oder Förderer einer Blamage unseres Instituts in der wissenschaftlichen Welt zu sein158. Den von ihm unter Mitwirkung von Heide Dienst bearbeiteten Band IV/1 des Babenberger-Urkundenbuches (mit den – sc. die Siegelurkunden – ergänzenden Quellen von 976 bis 1194) führte er jedenfalls erfolgreich zu Ende159.   Ebd., Fichtenau an Patrick J. Geary, Wien, 27. September 1983.   Ebd., Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 27. September 1983. 154   Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 281. 155   Leo Santifaller, in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Geleitet von Nikolaus Grass, Bd. 2 (Schlern-Schriften 69, Innsbruck 1951) 163–208, hier 178. 156  Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 281. 157  Prof. Dr. Roland Grassberger (1905–1991), Jurist (Kriminologie und Strafrecht), Rektor im Studienjahr 1962/63. 158  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an „Santo“ (Toussaint Levičnik), Wien, 12. Mai 1963. 159   BUB IV/1: Ergänzende Quellen 976–1194, ed. Heinrich Fichtenau–Heide Dienst (Wien 1968). 152 153

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Winfried Stelzer hat in seinem Nachruf resümierend geschrieben: „Wohltuend gelassen bei aller Bestimmtheit, von hohem Verantwortungsbewußtsein getragen, hat Fichtenau das Institut durch mehr als zwei Jahrzehnte geleitet und durch schwierige Zeiten über manche gefährliche Klippen in ruhige Gewässer gesteuert. Von übertriebener Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung hielt er nicht viel.“160 Und: „Dem Institut, das durch fast sieben Jahrzehnte der zentrale Ort seines wissenschaftlichen und beruflichen Wirkens gewesen ist, fühlte er sich zeitlebens eng verbunden.“161 Recht bezeichnend für Fichtenaus selbstbewusste Bescheidenheit und für seine, wie es Gustav Seibt 1992 aus Anlass von Fichtenaus achtzigstem Geburtstag in der FAZ formulierte, „glückliche österreichische Skepsis“162 ist die 1975 gegebene Begründung für das von ihm, sofern es seine eigene Person betraf, erteilte ‚Festschriftverbot‘: Meine Haltung in dieser Frage ist durchaus ambivalent (oder vielleicht etwas schizophren): Ich bin durchaus dafür, daß andere Historiker Festschriften bekommen, ich habe selbst neun Stück redigiert im Lauf der Jahre und an vielen mitgewirkt, aber ich selbst möchte keine Festschrift erhalten. Anders als in den USA (und auch in der Bundesrepublik) ist das Festschriftwesen bei uns sozusagen zur Norm geworden, eine Sache des „Dienstalters“ und nicht der Meriten. Und daß man alle zehn Jahre eine bekommt, also daß die Langlebigkeit belohnt wird, halte ich auch nicht für richtig163. Lieber bereitete Fichtenau selbst die erwähnte Ausgabe überarbeiteter Aufsätze vor: Ich arbeite alte Aufsätze um [...]; zwei Bände „ausgewählte Aufsätze“ sollen im Verlag Hiersemann herauskommen [...] Festschrift habe ich mir verbeten, das ist nun eine Art Ersatz, der niemand belästigt164.

  Stelzer, Fichtenau (wie Anm. 40) 281.   Ebd. 284. 162  Zitiert nach Gerhard Oberkofler, Die Wahl von Leo Santifaller zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1955). Der Schlern 70 (1996) 745–750, hier 747. 163  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Luitpold Wallach, Wien, 19. März 1975. 164   Ebd., Fichtenau an P. Virgil E. Fiala, Zeiselmauer-Muckendorf, 13. August 1975. 160 161



Heinrich Fichtenau als Mensch und Lehrer Herwig Wolfram

„Meine Damen und Herren! Studieren Sie Geschichte, weil Ihnen Mathematik zu intelligent oder Turnen zu gefährlich ist oder weil Sie meinen, daß Sie es unbedingt tun müssen?“ Diese Worte richtete Heinrich Fichtenau an die Studienanfänger des Wintersemesters 1952/53. Als Freund Heinz Dopsch sich geraume Zeit später bei Fichtenau vorstellte, warnte der Professor den Enkel des bekannten Alfons Dopsch vor dem Geschichtsstudium mit dem Hinweis, der gleichnamige Großneffe des berühmten Theodor Mommsen habe schließlich Selbstmord begangen. Heinz Dopsch studierte dennoch Geschichte und hat es nie bereut. Ebenso wenig gaben die meisten Anfänger auf, die vor 60 Jahren Fichtenaus Proseminar besuchten. Was bezweckte er aber mit seinen Fragen und Warnungen? Wollte er die gegenüber späteren Zeiten ohnehin lächerlich kleine Zahl von Studienanfängern noch weiter verringern? Oder war er nur ein großer Zyniker oder gar ein Studentenfeind, wie manche Fernerstehende behaupteten? Solche Vorwürfe können mit guten Gründen als absurd zurückgewiesen werden. Allerdings musste man genauer auf Fichtenaus Worte hinhören. Legion sind seine, an Christoph Lichtenberg erinnernden, durchaus übertreibenden, jedoch stets hintergründigen Sentenzen und Aphorismen. Diese besaßen nicht selten Parabelcharakter, und Parabeln wollen in ihrer Gesamtheit eine Wahrheit oder allgemeine Tatsache vermitteln, ohne dass ihre einzelnen Bestandteile „wahr“ sein oder die Meinung ihres Schöpfers wiedergeben müssen. Kein Wunder, dass Fichtenau auch die Anekdote als dichteste und aussagekräftigste Form der intentionalen Überlieferung schätzte. Etwa nach Art des Diktums Heinrichs IV. vor dem Grabmal des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden. Der Salier wurde in Merseburg gefragt, wie er denn eine so königliche Bestattung seines Feindes erlauben könne. Seine Antwort war: „Würden doch alle meine Gegner so ehrenvoll liegen.“1 In mitunter ebenso scharfer Form wollte Fichtenau seine Schüler und Mitarbeiter zum Nachdenken, zur Selbstreflexion und Selbstkritik anregen, gewissermaßen sie durch Fordern zu fördern suchen, um herauszufinden, ob seinem Gegenüber eine Sache wirklich ernst war. Etwa wenn er im Anstellungsgespräch fragte: „Bewundert Sie Ihre Frau?“ und eine negative Antwort erhoffte. Er wollte sich vergewissern, ob der Betreffende aus einer kritischen Umgebung käme, und hatte im gegenteiligen, nur scheinbar positiven Fall das Scheitern von so manchem Kollegen vor Augen. Das soll aber auch nicht heißen, Fichtenau sei ein Frauenfeind gewesen. Noch in seinem berühmten Alterswerk, den „Lebensordnungen“, die er seiner Frau widmete, folgt auf den mit wenig Sympathie 1  Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris I 7, ed. Georg Waitz–Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [46], Hannover 1912, Nachdr. Hannover 1997) 23.

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Herwig Wolfram

vorgetragenen Abschnitt „Abwertung der Frau“ die einfühlsame Darstellung der „tatsächlichen Stellung der Frau“2. Selbstverständlich hat Fichtenau den jungen Heinz Dopsch ebenso fachlich und menschlich bestens betreut und beraten wie die Erstsemestrigen von 1952 und ihre Vorgänger und viele, viele Nachfolger. Wir hätten uns ohnehin nicht abschrecken lassen. Dafür waren die Lehrveranstaltungen des jungen vierzigjährigen Professors, seine Vorlesungen, Seminare und vor allem die Paläographie und das Mittellatein zu anregend und aufregend zugleich. Der Lehrer vermittelte lebendige und glaubwürdige Geschichte auf höchstem wissenschaftlichen Niveau und mit Humor besonderer Art gewürzt. Fichtenau kam einmal aus der Vorlesung ins Institut und bemerkte: „Heute ist mir etwas Schreckliches passiert. Ich habe einen der viel zu vielen Merowinger zuerst sterben lassen und dann verheiratet. Das war den Hörern und vor allem den Hörerinnen gar nicht recht. Da habe ich gesagt: ‚Tut mir leid, aber es ist mir zu blöd, jetzt in meinem Manuskript nachzuschauen, um den Fehler zu finden. Merken Sie sich, es war ein furchtbarer Skandal.‘“ Ebenso wie die Lehrveranstaltungen faszinierten Fichtenaus Publikationen, und zwar unmittelbar das 1949 erschienene „Karolingische Imperium“ mit dem Untertitel „Soziale und geistige Problematik eines Großreiches“. Das Buch wurde ins Englische (1957), Italienische und Französische (1958) übersetzt, was damals in Österreich einmalig war und lange blieb. „Daß der Glanz geschichtlicher Größe zumeist mit Not und Bedrückung erkauft wird, daß mit der Macht die Gefährdung ihrer Träger wächst und sich hinter der autokratischen Strenge schon Zeichen kommenden Verfalls andeuten – all dies gehörte zu den Binsenweisheiten für die Zeitgenossen der Weltreiche und wurde wenig später doch so oft und so willig vergessen.“3 Solche Worte entsprachen 1952 sieben Jahre nach Kriegsende zwar den Erfahrungen der Erstsemestrigen, aber – heute vielen völlig unverständlich – nicht der akademischen Tradition im deutschsprachigen Raum. Diese Tradition oder das, was man – schließlich hatte es bei uns schon vor Fichtenau einen Hans Hirsch und Otto Brunner gegeben – bequem als Tradition ausgab, war nur schwer zu erschüttern. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt auch die unbequeme, weil schöpferische Fortsetzung der Tradition. Und auch diese hat Fichtenau überzeugend vertreten. Siehe seine akribischen quellenkundlichen Arbeiten am Bericht der Lorscher Annalen über die Kaiserkrönung Karls des Großen. Darin machte er als erster darauf aufmerksam, dass die weltgeschichtliche Entscheidung vom Weihnachtstag 800 auch, vielleicht sogar vor allem, deswegen fiel, weil der Frankenkönig alle sedes imperii, alle Hauptstädte des alten Weströmischen Reiches, in Italien, Gallien, Germanien und Illyrien beherrschte4. Und dann erschien 1957 „Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln“. Das Buch setzte neue Maßstäbe und wurde Vorbild für andere Publikationen. Ebenso wichtig wurde „Das Urkundenwesen in Österreich“ (1971), ist doch eine frühmittelalterliche Ge  Fichtenau, Lebensordnungen 145–148 und 149–155.   Fichtenau, Das karolingische Imperium 7. 4   Fichtenau, Karl der Große 320–322 (64–66 im Nachdr.). Interessant ist, dass die Lorscher Annalen Sirmium/Sremska Mitrovica nicht erwähnen, obwohl die pannonisch-illyrische sedes imperii bei Paulinus von Aquileia, Versus de Herico duce, str. 2, v. 2, ed. Ernst Dümmler (MGH Poetae Latini 1, Berlin 1881, Nachdr. München 1997) 131, die Namen der um Erich „klagenden Städte“ anführt. Das Klagegedicht ist kurz nach dem, wohl im Sommer 799 erfolgten Tod des Herzogs Erich von Friaul entstanden: siehe Harald Krahwinkler, Friaul im Frühmittelalter. Geschichte einer Region vom Ende des 5. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts (VIÖG 30, Wien–Köln–Weimar 1992) 152–158; Herwig Wolfram, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. 378–907 (Wien 22003) 239 und 241. 2 3



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schichte des österreichischen Raums nicht ohne Urkunden zu schreiben. Da der Buchttitel „in Österreich“ enthielt, dauerte es längere Zeit, bis erkannt wurde, dass der Autor darin die Geschichte des früh- und hochmittelalterlichen Urkundenwesens dargestellt und dafür den österreichischen Raum von Churrätien bis Ungarn als Beispiel gewählt hatte. Hier sei die parade de richesse der wichtigsten Veröffentlichungen unterbrochen, um Fichtenaus hohe literarische Kunst, die auch die Bürokratie beeindruckte, zu würdigen. Fichtenau führte seine Zuhörer und Leser sofort medias in res und vermied lange Vorreden. Dass der vorliegende Text nicht bloß mit einem Zitat beginnt, sondern unter den drei Stilarten das (Originalton Fichtenau) „Trara“ der oratio gravis oder des ornatus difficilis wählt5, ist eines von seinen Lehrstücken. Siehe den Anfang von „Mensch und Schrift im Mittelalter“ über das „Karolingische Imperium“ bis hin zu seinem letzten Buch „Ketzer und Professoren“. Fichtenau legte großen Wert auf den richtigen schriftlichen wie mündlichen Ausdruck. Schwerfälligkeit und Umständlichkeit seien in erster Linie zu meiden. Die Historie zähle mittelbar, das heißt als Teil der Rhetorik oder Grammatik, zu den „Sieben Künsten für den Freien“, den septem artes liberales, und Ars habe nun einmal etwas mit Kunst zu tun. „Sie werden Bücher schreiben und keine Aufsatzerl“ war der Auftrag an den Assistenten, dem er seine Stilkunde mit manchen, mitunter höchst drastischen Vergleichen vermittelte. Fichtenau schätzte freilich keineswegs die Autoren unius libri. Das stieß nicht überall auf Verständnis. Nachdem mein erstes Buch erschienen war6, wurde ich von Kollegen gefragt, was mein Lehrer gegen mich habe, weil er mich nicht habilitiere. Kaum abzuschätzen, was geschehen wäre, hätte Fichtenau nicht darauf gedrungen, dass erst ein zweites Buch zur Habilitation qualifiziere7. Zu meiner Studie, mit der die UCLA-Publikation „Viator“ ihr Erscheinen begann8, erklärte er: „Von nun an lese ich Wolfram nur mehr auf englisch.“ Viel mehr als die deutsche zwinge die englische Sprache zu Prägnanz und Eindeutigkeit, weil sie das aktive vor dem passiven Genus, den indikativen vor dem potenzialen Modus und den verbalen Stil vor der Verwendung abstrakter Substantiva bevorzuge. Ein Problem, das einer Lösung zugeführt wird, wird nie gelöst, ein Problem, das man löst, ist dagegen schon gelöst. An alle diese „Tugenden“ solle man sich auch im Deutschen halten. Wenn aber eine Zeile, eine Formulierung vor Fichtenaus strengen Augen bestehen konnte, war man sicher, damit auch die Öffentlichkeit überzeugen zu können. Man möge sich aber hüten, alles sagen zu wollen, was man zu wissen meine, weil sonst die Darstellung zu unleserlicher Masse anschwelle: Βιβλίον μέγα μέγιστον κακὸν, ein großes Buch ist das größte Übel, war einer seiner Lieblingsaussprüche. Wie es die mittelalterliche Lehre von der narratio, von der Gerichtsrede und der gleichnamigen Urkundenformel, verlangte9, zählte auch Fichtenau   Leonid Arbusow, Colores rhetorici (Göttingen 1948) 15–20.   Herwig Wolfram, Splendor Imperii. Die Epiphanie von Tugend und Heil in Herrschaft und Reich (MIÖG Ergbd. 20/3, Graz–Köln 1963). 7  Herwig Wolfram, Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des achten Jahrhunderts (MIÖG Ergbd. 21, Graz–Wien–Köln 1967). 8   Herwig Wolfram, The Shaping of the Early Medieval Kingdom. Viator 1 (1970) 1–20. 9   Arbusow, Colores rhetorici (wie Anm. 5) 95–103; Fichtenau, Rhetorische Elemente, bes. 131–134; Herwig Wolfram, Politische Theorie und narrative Elemente in Urkunden, in: Kanzleiwesen und Kanzleisprachen im östlichen Europa, hg. von Christian Hannick (AfD Beih. 6, Köln 1999) 1–23, hier 18–21; Brigitte Merta, Recht und Propaganda in Narrationes karolingischer Herrscherurkunden, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von Anton Scharer–Georg Scheibelreiter (VIÖG 32, Wien–München 1994) 141–157; Herwig Wolfram, Einleitung oder Lügen mit der Wahrheit – ein historiographisches Dilemma, in: ebd. 11–25, hier 16f. 5 6

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die brevitas, die Kürze, zu den virtutes dicendi, zu den Tugenden der Mitteilung. So bespricht Fichtenau zwar Theophanus Eheurkunde, deren ellenlange Arenga bei Adam und Eva beginnt, druckte sie aber nicht ab, sondern wählte ein kürzeres Beispiel10. Keines seiner zahlreichen Bücher zeichnet sich durch einen „zu großen Abstand zwischen den beiden Buchdeckeln“ aus, und in dem einzigen Fall, da dies doch eintrat, teilte er das Buch. Daher sind die „Lebensordnungen“ 1984 in zwei Bänden erschienen. Der Antrag, der an den Vorläufer des Forschungsfonds gerichtet wurde, um für die Drucklegung meines ersten Buches eine Subvention zu erhalten, war für den Schreibtisch von Professor Fritz Schachermeyr bestimmt. Fichtenaus Mutterbruder war damals der für die Geisteswissenschaften zuständige Referent. Das gute Stück umfasste zwei Seiten. Fichtenau nahm das Papier, strich es auf eine Seite zusammen und bemerkte: „Zwei Seiten liest der Onkel nicht.“ Die im Frühjahr 1962 erteilte Lehre begleitet den Verfasser als ein Beispiel für die Kunst des erfolgreichen Antragsstellens bis heute. Dazu kam der Rat: Zunächst sei der richtige Titel des zuständigen Förderers, hohen Beamten oder mittleren Sachbearbeiters gewählt. Danach werde der Sachverhalt kurz und im Indikativ dargestellt, wobei man „hinauf“ bittet und „nach unten“ ersucht. Für den Schluss aber heben „wir uns die Bitte um aufrechte Erledigung des Ansuchens auf; dieser althergebrachten bürokratischen Wendung kann kein Ministerialbeamter widerstehen“. Und so war es auch, selbst als Fichtenau um seine Entpflichtung als Professor und Institutsvorstand einkam. Die Sekretärin hatte den Sachverhalt selbstverständlich in einem kurzen Schreiben, aber als Eremitierung statt Emeritierung festgehalten und – von uns allen übersehen – mit Fichtenaus Unterschrift ins Ministerium gesandt. Aber der Lehrer warnte auch vor überhasteter Kürze, vor Brachyologie, wie er sich ausdrückte. „Hier fehlt eine Anmerkung, wie ich mir auf S. 4 oben gedacht habe“, kommentierte er einmal einen meiner Texte. Die meisten von uns haben Fichtenau erst kennen gelernt, als er nicht mehr reiste und kaum an Tagungen außerhalb Wiens teilnahm. Eine bezeichnende Ausnahme bildete freilich die 1200 Jahr Feier der Gründung Kremsmünsters im Frühjahr 1977. Er fuhr dorthin, schon um seinen alten Freund und unser Institutsmitglied, Dozent P. Willibrord Neumüller, den Alois Brandstätter in seinem Roman „Die Abtei“ verewigte, zu ehren und ihm eine Freude zu machen. Fichtenau hatte 1963 einen Aufsatz „Die Urkunden Herzog Tassilos III. und der ‚Stiftbrief‘ von Kremsmünster“ veröffentlicht11. Dabei musste er sich auch mit der späteren Verfälschung der Gründungsurkunde von 777 auseinandersetzen. So wurde eine längst erwiesene Tatsache nun auch in der lokalen Öffentlichkeit bekannt und erregte bezüglich der klösterlichen Besitzverhältnisse eine gewisse Unruhe im Stiftsgebiet, die durch die Feier jedoch besänftigt wurde. Selbstverständlich fuhr Fichtenau auf Institutsexkursionen ins Ausland mit, vor dem Ausbruch des 6-Tage Krieges in die Slowakei, vor dem Ende des Prager Frühlings nach Prag, nach Slowenien und Slawonien 1969, oder schon 1966 nach Churrätien/Graubünden, wo uns Dietrich Schwarz, Jahrgang 1913, erwartete. Dieser war Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte der Universität Zürich und Bürger seiner Heimatstadt im Vollsinn des Wortes. Er starb nur drei Wochen nach seinem Freund Fichtenau, den er kennen gelernt hatte, als er den 40. Institutskurs 1935/37 besuchte, und mit dem die Verbindung selbst in der Kriegszeit niemals abgerissen war12. Die Freundschaft zwischen Dietrich Schwarz und dem Institut kam mir noch   Fichtenau, Arenga 152.   Fichtenau, Urkunden Herzog Tassilos III. 12  Herwig Wolfram, Nachruf auf Dietrich Schwarz. MIÖG 109 (2000) 289f. 10 11



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1996 zugute, als er meine Frau und mich zu einem Ostarrîchi-Vortrag nach Zürich einlud und uns in Anschluss daran die Habsburg und Königsfelden zeigte. Tatsächlich ist Fichtenau in seiner „Sturm- und Drang-Zeit“, wie er sich ausdrückte, gereist, nach Italien, nach Frankreich und England. Und er hat auch ausländische Kollegen nach Wien eingeladen, wie Cinzio Violante aus Mailand und Georges Duby aus Paris. Im Frühjahr 1965 waren Gina Fasoli aus Mailand, den ganzen April Hermann Heimpel aus Göttingen und danach Karl Jordan aus Kiel im „Hotel für Geschichtsforschung“ zu Gast. Gegenüber vielen seiner deutschen Alterskollegen übte Fichtenau jedoch eine gewisse Zurückhaltung, und das hatte seinen Grund: „Das karolingische Imperium“ galt als Schwarzmalerei, „Mensch und Schrift“ gar als Irrweg, die „Arenga“ wurde lange Zeit nicht verstanden, ja als Abkehr von den Hilfswissenschaften verunglimpft. Fichtenau war zunächst ein Außenseiter, und damit sein Assistent nicht ein solcher werde, sandte er ihn an die École des Chartes und auf Vermittlung von Alfred Hoffmann und Michael Mitterauer zu den Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises auf der Bodensee-Insel Reichenau, weil er dorthin selbst nie eingeladen wurde. Und er stellte die Verbindung zu Gerhart B. Ladner her13. Der ehemalige Wiener Dozent (1938) und Absolvent des Instituts war nach erzwungener Emigration und langen, mühevollen Wanderjahren an die University of California at Los Angeles (UCLA) 1963 berufen worden14 und holte nun den jungen Dozenten für das Studienjahr 1968/69 als „associate professor over scale“ an seine Universität. Es waren erst die jüngeren deutschen Kollegen, die Fichtenau die große, ja enthusiastische Anerkennung zuteil werden ließen, die er außerhalb Mitteleuropas schon längst besaß. Das so positive Echo bewirkten besonders seine Spätwerke, die dreibändige Aufsatzsammlung, die auch ins Englische übersetzten „Ketzer und Professoren“ (München 1992)15 und ganz besonders die „Lebensordnungen“. Dieses Opus maximum erschien 1984 im Jahr nach seiner Emeritierung und erlebte eine große Zustimmung. Das Buch war aber entsetzlich teuer; Fichtenau meinte dazu, man könne es nicht kaufen, nur stehlen. Der Erfolg beim anglo-amerikanischen Publikum ist Patrick Geary zu verdanken, der das Buch als „Living in the Tenth Century“ (University of Chicago Press 1991) übersetzte und auf diese Weise gleichsam im Nachhinein Fichtenaus Schüler wurde. Es war eine dieser sonderbaren Fügungen, dass Pat und ich am 15. Juni 2000 gemeinsam ein Manuskript bearbeiteten, als die Nachricht vom Tode Heinrich Fichtenaus im Institut eintraf; in seinem Institut, dem sein ganzes berufliches Leben galt. Er war hier der Assistent von Hans Hirsch gewesen, hatte die zerbombten Räume aufgeräumt, hatte sich stets dafür eingesetzt und verlangte diesen Einsatz auch von anderen. Das Duwort trug er mir an, als ich im Ministerium einen Wunsch frei hatte und diesen im Interesse des Instituts aussprach. Als Josef Riedmann nach Innsbruck und Siegfried Haider nach Linz zurückkehrten, hat er den Verlust dieser ausgezeichneten Historiker für das Institut mit Recht sehr bedauert. Meine Lehrtätigkeit in den USA hätte er gerne positiv bewertet, wären damit nicht auch Flugreisen verbunden gewesen. Der letzte Brief, den Fichtenau am 19. Mai 1969 nach Los Angeles schrieb, schließt mit den Worten: „Und nun alles Gute für die Heimreise! Suchen Sie nicht die billigste, sondern die beste Fluggesellschaft, es zahlt sich unter Umständen aus.“ Als ich einmal wieder von einem 13  Gerhart B. Ladner, Erinnerungen, hg. von Herwig Wolfram–Walter Pohl (ÖAW, phil.-hist. Kl., SB 617, Wien 1994). 14  Ebd. 70. 15   Fichtenau, Heretics and Scholars.

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Amerika-Aufenthalt ins Institut zurückkam, begrüßte er mich mit den Worten: „Gut, daß Du wieder da bist. Ich habe schon darüber nachgedacht, wer Dein Nachfolger werden könnte, mir ist aber keiner eingefallen.“ Das Institut hatte den Hilfswissenschaften zu dienen. Als Fichtenau dem Schüler im Spätwinter 1962 mitteilte, er habe sich als neuer Institutsvorstand und Ordinarius „durchgesetzt“, schwor er ihn auf die Hilfswissenschaften ein, bevor er ihn als Assistenten ans Institut holte. Zugleich forderte er aber auch, die Fragestellungen über die Grundlagen hinaus weiter zu denken. Von der Paläographie zur Skriptorienforschung und zur Fragestellung „Text und Identität“, wie es heute heißt16. Von der Diplomatik zur allgemeinen Urkundenforschung im Sinne Karl Brandis und von Julius von Ficker17. Oder vom Diktatvergleich, der im Unterschied zur französischen Forschung nach unserer Auffassung für eine Edition in vielen Fällen möglich und daher auch notwendig ist, zu den politisch-historischen Inhalten von Arenga, Intitulatio oder Datumzeile. Dass man neue Fragestellungen zu suchen habe, formulierte Fichtenau einmal so: „Wenn mich etwas interessiert, ich aber davon noch keine Ahnung habe, will ich ein Buch darüber schreiben.“ Andererseits konnte es auch geschehen, dass er seine früheren Publikationen hinter das Neue in den Hintergrund treten ließ oder sie veränderte. Es empfiehlt sich daher, die in die „Beiträge zur Mediävistik“ aufgenommenen Aufsätze nach dieser Sammlung und nicht nach den ursprünglichen Veröffentlichungen zu zitieren. Auch konnte es geschehen, dass man auf Fragen nach älteren Arbeiten die Antwort erhielt: „Das habe ich zur Interpretation frei gegeben.“ Fichtenau verwendete lange vor der Zeit neue oder für die deutschsprachige Mediävistik ungewöhnliche Begriffe. So sprach er nach westlichem Muster von einem „Ersten“ und einem „Zweiten Mittelalter“ anstelle der auf Dynastien aufbauenden Dreiteilung und bezeichnete die Terminologie politischer Aussagen als Staatssprache. Fichtenau ließ sich eher vom aequum, vom Billigen, als vom iustum, dem Gerechten leiten. „Wir werden keinen Richter brauchen“, hörte ich von ihm bei vielen Gelegenheiten. Als für die Vorbereitung des Vortrags der Ordner „Fichtenau“ geöffnet wurde, lag an oberster Stelle der Durchschlag eines Schreibens an die Quästur der Universität Wien vom 2. März 1965: „Der Unterzeichnete verzichtet zu Gunsten von Assistent Dr. Herwig Wolfram auf seinen Anteil am Kolleggeld der 3-stündigen Vorlesung ‚Einführung in die lateinische Paläographie‘ im Sommersemester 1965, die er gemeinsam mit Dr. Wolfram abhält. Unterschrift: Univ. Prof. Dr. Heinrich Fichtenau.“ Nach der damaligen Gesetzes­ lage gab es kein iustum, das diesen Verzicht verlangt hätte, den der Lehrer jedoch für billig, für ein aequum, hielt und danach getreu seinem vielfach zitierten Ausspruch: „Ein ­Assistent ist ein Mann, dem man hilft“ handelte. Niemals hätte er geistiges Eigentum seiner Schüler und Mitarbeiter welcher Art auch immer für sich reklamiert. Das ging so weit, dass er selbst seine Rolle als Präceptor in Frage stellte, wenn er meinte: „Ein richtiger Kerl hat keinen Lehrer.“ Der Respekt vor der Billigkeit sei jedoch gleichsam ein Ausdruck der Demut, wozu der Erfolgreiche verpflichtet sei. „Als Extraordinarius habe ich jede zweite Putzfrau im Hause gegrüßt, jetzt als Ordinarius und Institutsvorstand grüße ich jede, und das zuerst“ hat er kurz nach seiner Ernennung gesagt.

16  Vgl. Texts and Identities in the Early Middle Ages, hg. von Richard Corradini et al. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 12, Wien 2006). 17  Siehe etwa Fichtenau, Zur Lage der Diplomatik, bes. 7 und 12, vgl. auch 14 Anm. 35, und ders., Die Reihung der Zeugen.



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Fichtenau verachtete jedoch keineswegs das iustum, vor allem nicht das iustum pretium, die gerechte Bezahlung. Als man ihm wieder einmal einen Orden anbot und über mich wie üblich anfragte, bekam ich zu hören: „Sag’ ihnen, behalt’s euch euer Blech, zahlt’s mich anständig.“ Da diese Worte so nicht weiter zu geben waren, konnten die dienstwilligen Ordensverleiher mit einer ausweichenden Antwort auch nicht zufrieden gestellt werden. Sie verlangten, es solle die gnädige Frau gefragt werden. Ich rief sie an und erhielt nach kurzer Zeit folgenden Rückruf: „Sie hatten recht, Herr Professor, mein Mann will keine sichtbar zu tragende Auszeichnung. Weil ich aber weiß, daß Sie seine Aussprüche sammeln, sagen ich Ihnen nicht, mit welchen Worten er das Angebot abgelehnt hat.“ Und doch gab es begründete Ausnahmen. Auf Einladung des österreichischen Vertreters fand 1965 der Internationale Historikertag anlässlich der 600 Jahr-Feier der Universität in Wien statt. Fichtenau war an seiner erfolgreichen Organisation maßgeblich beteiligt und sollte dafür ausgezeichnet werden. Er nahm den Orden an, „weil er nicht komisch“ sein und vor allem „dem Institut (für Österreichische Geschichtsforschung) nicht schaden“ wollte. Getragen hat er den Orden jedoch nie. Zufrieden, ja mit Stolz ließ sich Fichtenau dagegen von den Trägern des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst in die Kurie „Wissenschaft“ wählen. Er hatte jedoch mit einem Passus der Statuten des österreichischen „Pour le mérite“, wie er sich ausdrückte, seine Probleme. Es hieß nämlich dort, der Träger habe das Ehrenzeichen nach seinem Tod in der Präsidentschaftskanzlei zurückzugeben. Darauf erklärte Fichtenau, er werde in seinem Testament festlegen, der Leichenwagen solle über den Ballhausplatz fahren und dort bei geöffnetem Fenster eine ruckartige Kurve drehen, damit das auf dem Sarg liegende Ehrenzeichen in die Präsidentschaftskanzlei geschleudert werde. Der Passus wurde geändert, und der Schüler erhielt noch im Jahre 2000 des Lehrers rite zurück gegebenes Ehrenzeichen. Fichtenau war jedoch wie wenige von den Formen der akademischen Eitelkeit frei. Er musste sich nicht zitiert finden, wenn jemand seine Gedanken und Einsichten übernahm, und quittierte es mit dem Hinweis auf Franz Liszt, dessen Schwiegersohn Richard Wagner stillschweigend viel von ihm „übernommen“ hat und der dazu gemeint haben soll: „Kommt’s wenigstens unter die Leut’.“ Geburtstagsfeiern wurden für Fichtenau mit einem Umtrunk im Direktionszimmer des Instituts begangen, während er für andere Kollegen „schlichte Feiern veranstaltete, bei denen kein Aufwand gescheut wurde“. Er war Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie mehrerer anderer gelehrter Gesellschaften und hat mit seltener Klarheit die gegenwärtige Krise der Wiener Institution vorausgesehen. In der kurzen Abschiedsrede vor seiner Emeritierung dankte er im Juni 1983 der Fakultät und bemerkte, er halte sich zugute, keine Sitzung während seiner fast vierzigjährigen Zugehörigkeit durch unnötige Wortmeldungen verlängert zu haben. Hätte man sich selbst nur stets an dieses Beispiel gehalten, von manchem lieben Kollegen ganz zu schweigen! Als Beispiel befolgt wurde dagegen des Lehrers Abneigung gegen Festschriften. Er hat die Freude daran anderen mit Recht nicht verdorben und sehr fleißig Beiträge zu zahlreichen Festschriften geliefert, aber für sich selbst eine solche abgelehnt. Fichtenaus Berufung als Lehrer und seine Menschlichkeit bildeten eine untrennbare Einheit. Er kümmerte sich um das Wohlergehen seiner Schüler und Mitarbeiter und nahm Anteil an ihren Freuden und Sorgen, allerdings mit der noblen Zurückhaltung, die ihm in allen Lebensbereichen eigen war. In der schwersten Krise unseres Lebens, die meine Frau und ich in den ersten Monaten des Jahres 1962 durchleiden mussten – Tod unseres dritten Kindes nach der Geburt, lebensbedrohende Schwäche meiner Frau und

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meine eigene schwere Schiverletzung – hat uns Fichtenau neuen Mut gemacht und eine Zukunft als Familie ermöglicht. Er konnte dies tun, weil er selbst für und in seiner Familie lebte und auch damit ein Beispiel setzte. Und in gewissem Sinne zählten auch seine Mitarbeiter dazu: Der Band „Living in the Tenth Century“, den ich von ihm erhielt, trägt die Widmung: „Filio unico unus patrum“, eine Antwort auf die Widmung meines „Reiches und die Germanen“ (Berlin 1990, 21992), die Fichtenau unter meinen drei Vätern aufzählte. Die Familie, verstanden als generationenlange Gemeinschaft der Lebenden und Toten, prägte wesentlich seine Anschauungen von Welt und Wissenschaft. In seinen „Lebensordnungen“, nicht Lebensformen oder Lebensweisen, spricht er von der „Verwandtenmoral“ und dem „familiären Modell“ und schuf damit Begriffe, die heute in aller Munde sind. Weil er Familie hatte, was mehr ist, als nur aus guter Familie zu sein, verfasste er nach seiner Emeritierung auch ihre Geschichte und nur für sie. Er verwehrte jedem Außenstehenden die Einsicht darin und tat dies mit einer für ihn typischen Bemerkung „zuviel sex and crime!“ Aber er erzählte daraus doch die historisch wichtige Tatsache, dass der Illyrismus viele Familien spaltete und dies auch bei seinen Unter­krainer Vorfahren der Fall war. Diese politische Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts trug wesentlich zur Entstehung der slowenischen Identität bei und fußte auf institutionellen Formen, die vieles an der „Kärntner Urangst“ erklären, wenn auch nicht entschuldigen können. In den Jahren 1809 bis zum Untergang Napoleons hatten nämlich Teile von Osttirol und Kärnten (Villacher Kreis), die Krain, Istrien und Dalmatien mit der Hauptstadt Laibach die illyrischen Provinzen des Empire gebildet, eine Ordnung, die auch nach 1816 von Metternich übernommen wurde18. Da trug der eine Fichtenau als maire, als Bürgermeister, seines Heimatortes die Tricolore und sandte seinen schwarzgelben Bruder 1812 zur Großen Armee nach Russland. Gott sei Dank muss die „Geheimgeschichte“ auch heitere Geschichten enthalten haben, von denen Fichtenau einige sogar in seiner allzu kurzen Selbstbiographie veröffentlichte19. „Gelehrtengeschichte verträgt keine allzu nahe Distanz“, schrieb Fichtenau als ­Achtzigjähriger im 100. Jubiläumsband der „Mitteilungen“20. Diese Einsicht ist nur allzu richtig. Aber ich verstand meinen Auftrag so: Ich hätte einem alten Topos zu folgen. Das heißt, mit Sidonius Apollinaris keine historia, keine kritische Geschichte, zu schreiben, sondern von studia et persona, von „den Bestrebungen und der Persönlichkeit“21, des Lehrers, Vorgängers und väterlichen Freundes zu berichten. Sein exemplum vitae prägte das Leben vieler von uns, wofür ein Leben lang zu danken ist.

18  Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Wien 22005) 102f. (mit Karte) und 192. 19  [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau. 20   Fichtenau, Diplomatiker und Urkundenforscher 9. 21  Siehe Herwig Wolfram, Die Goten (München 52009) 211, nach Sidonius Apollinaris, Epistulae I 2, 10, ed. Christian Luetjohann (MGH AA 8, Berlin 1887, Nachdr. München 2004) 4.



Heinrich Fichtenau im Ausland Patrick Geary

Denjenigen unter uns, die Heinrich Ritter von Fichtenau persönlich gekannt hatten, mag der Titel dieses Beitrags etwas absurd erscheinen: Obwohl der junge Fichtenau Reisen nach Italien, Frankreich und sogar England unternahm, war der Professor Heinrich Fichtenau eher dafür bekannt, dass er nicht ins Ausland fuhr1. Er vermied internationale Kongresse und Tagungen. Ich fragte ihn einmal, ob er an der großen Konferenz über „Fälschungen im Mittelalter“ von Horst Fuhrmann, Direktor der Monumenta Germaniae Historica, teilnehmen würde. „Nein“, antwortete er, „denn wenn ich hinginge, müsste ich leider darüber sprechen, dass die übereifrige Hyperkritik der Mediävisten viele echte Dokumente fälschlicherweise als Fälschungen identifiziert hat. Das würden mir einige der Herren Gelehrten dort wahrscheinlich übelnehmen.“ Bei einer anderen Gelegenheit fragte ich ihn, ob er während der Sommerferien verreiste. Er antwortete: „Ich nehme den Zug zu meinem Familienmausoleum in Baden, und um der Hitze zu entkommen, lege ich mich in mein Grab.“ Der Heinrich Fichtenau, den wir kannten, reiste nicht ins Ausland. Aber auch wenn Heinrich Fichtenau nicht corporaliter reiste – seine Ideen, seine Bücher, seine Artikel und seine Rezensionen reisten weit und, wie alle anderen Reisenden, wurden sie im Ausland mal mit Unverständnis, mit Gleichgültigkeit, manchmal mit offener Feindseligkeit, aber auch mit Enthusiasmus und Beifall aufgenommen. Wie so oft bei Reisenden aus fernen Ländern sagt die Rezeption, die Heinrich Fichtenaus Veröffentlichungen in der internationalen Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit erhielten, mehr über die Empfänger als über Fichtenau selbst aus. In der Tat, auch bei denjenigen, die ihn sehr gut kannten, wie Thomas Winkelbauer und Herwig Wolfram, sorgten Fichtenaus zutiefst ironischer Stil und seine Vorliebe, vertraute Texte und altbekannte Pro­ bleme auf neue und unerwartete Weisen anzugehen, immer wieder für Überraschungen. Was sollten dann Ausländer von diesem zurückhaltenden, aber ikonoklastischen österreichischen Gelehrten denken, dessen Werk sowohl diplomatische Editionen und Kommentare des klassischen Typs („Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich“, „Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift“) enthielt, als auch die kühnsten, innovativsten und sehr persönlichen Studien wie „Mensch und Schrift im Mittelalter“, „Askese und Laster in der Anschauung des Mittelalters“, „Das Karolingische Imperium. Soziale und Geistige Problematik eines Großreiches“, „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“, „Ketzer und Professoren“? Die Lektüre der Rezensionen seiner Werke aus fast 50 Jahren in deutschen, französischen, italienischen, britischen und nord  Übersetzung aus dem Englischen von Christina Pössel.

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amerikanischen Fachzeitschriften eröffnet uns den Blick auf internationale Wissenschaftler, die mal beruhigt, mal frustriert oder verärgert, mal dankbar für neue Erkenntnisse, aber immer angeregt waren von den außergewöhnlichen Ideen dieses außergewöhnlichen Mannes. Dabei entwickelte sich sein internationaler Ruf nicht besonders vielversprechend. Seine Institutshausarbeit, „Grundlagen der Landeshoheit im Mittleren Arelat“, die in einem Ergänzungsband der Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung erschien, wurde meines Wissens nur mit einer kurzen Notiz bedacht. Und diese stammte von Walther Holtzmann in der Historischen Zeitschrift, die ja 1939 keine wirklich ausländische Zeitschrift mehr war, da im Vorjahr Österreich als „Ostmark“ Teil des Deutschen Reiches geworden war. Auch war die Besprechung nicht besonders aufschlussreich. Sie erschien im Abschnitt „Kurze Mitteilungen“ und liest sich im Ganzen folgendermaßen: „Heinrich von Fichtenau behandelt die Anfänge der Grafschaften Savoyen und Albon, der späteren Dauphiné, Neubildungen, die sich aus der Schwäche des burgundischen Königtums im 10. und 11. Jahrhundert erklären.“2 Fichtenau musste zwei weitere Jahre auf die erste ernsthafte Rezension seiner Arbeit warten, die die Qualität seiner Forschung beurteilte, in diesem Fall seines MIÖG-Artikels über „Zwei Weltenburger Traditionsbücher“. Karl Jordans Urteil war vor allem knapp: Fichtenau analysiere „genau“3. Das war zwar nicht viel Lob, aber es hätte auch schlimmer kommen können; und so erarbeitete sich Fichtenau langsam seinen Ruf als sorgfältiger Diplomatiker der Wiener Tradition. Die Publikation seiner während des Krieges geschriebenen Habilitationsschrift, „Neue Wege der paläographischen Forschung“, überarbeitet und veröffentlicht im Jahr 1946 als „Mensch und Schrift im Mittelalter“, sorgte allerdings für Aufregung. Obwohl vieles in diesem frühen Buch uns heute fragwürdig erscheinen mag, für seine zeitgenössischen Leser war vor allem eines klar: Hier argumentierte ein Diplomatiker und Paläograph, dass der traditionelle Ansatz der Paläographie das wichtigste Element des geschriebenen Wortes vernachlässige: nämlich die Menschen, die es geschrieben hatten. Das gelehrte Establishment „was not amused“. Um nur einen relativ milden Kritiker, Neil Ker, Reader in Paläographie in Oxford, zu zitieren: Dies sei „ein schwieriges Buch, voller kompliziert ausgedrückter Ideen“4. Ker schreckte sichtlich vor der These zurück, dass verehrte Koryphäen wie Ludwig Traube den Schwerpunkt der Paläographie irrigerweise auf die schreibenden Hände und nicht auf die schreibenden Menschen gelegt hätten. In einer etwas widersprüchlichen Schlussfolgerung wies Ker Fichtenaus Analogie zurück, dass, so wie Botaniker nicht nur systematische Botanik, sondern auch Pflanzenökologie studierten, so auch Paläographen zusätzlich zu den technischen Aspekten die Persönlichkeit und das Leben des Schreibers in ihre Studien miteinbeziehen sollten. Ker behauptete dann allerdings, dass Fichtenau die Tatsache ignoriert habe, dass die Fachleute dies ohnehin schon immer getan hätten. Paul Kirn, Professor für mittelalterliche Geschichte in Frankfurt, war ebenfalls skeptisch: „Dürfen wir hinzufügen, daß wir mit der Zustimmung im Einzelnen uns weitgehend zurückhalten möchten, ja daß uns der ganze Weg, der hier beschritten wird, nicht mit Sicherheit zum Ziel zu führen scheint, indem öfter das Übernächste in Angriff ge  Walther Holtzmann, HZ 160 (1939) 404f.   Karl Jordan, HZ 165 (1942) 646f. 4   Neil R. Ker, EHR 63 (246) (1948) 129f. 2 3



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nommen wird, bevor das Nächste zu seinem Rechte kam?“5 Natürlich lehnte nicht jeder Kollege Fichtenaus Thesen ab, dass Psychologie, Graphik, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte zum besseren Verständnis der Geschichte der mittelalterlichen Schriftlichkeit hinzugezogen werden sollten. Die zutiefst menschliche Annäherung an das geschriebene Wort, die den heutigen Arbeiten über Schriftlichkeit um 40 Jahre voraus war, wurde zumindest von einigen als positiver Beitrag gewertet. Im Historischen Jahrbuch nahm der Benediktinermönch und Historiker Ursmar Engelmann eine positivere und einfühlsamere Position ein: „Gewiss können hier und da Einwände erhoben werden, doch wesentlich ist, dass hier mutig gute Wege gegangen werden, die endlich aus der unfruchtbaren Atmosphäre leerer Methodik herausführen können.“6 Diese gemischten Reaktionen auf sein erstes Buch waren in vielerlei Hinsicht typisch für die Rezeption, die Fichtenaus Bücher in den nächsten Jahrzehnten empfangen sollte. Sein aktives Leben lang kämpfte er gegen die unfruchtbare Atmosphäre leerer Methodik, und die Befürworter der leeren Methodik schlugen zurück. Aber Fichtenau brachte seine Kritiker dadurch in Verlegenheit, dass er Quelleneditionen auf höchstem Niveau produzierte, Bände, die auch sie nur loben konnten, wie das dreibändige „Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich“, an dem er ab 1950 arbeitete. Solche Arbeiten verwirrten seine Gegner, da er gleichzeitig gewagte und experimentelle Bücher veröffentlichte, Bücher, die die grundlegenden Prinzipien des traditionellen, positivistischen Umgangs mit solchen Quellen infrage stellten. Wo „Mensch und Schrift“ gemischte Kritiken erhielt, waren die Meinungen über „Das Karolingische Imperium“, Fichtenaus berühmtestes, oder, für einige seiner älteren Zeitgenossen, sein berüchtigtstes Buch, noch gegensätzlicher. Geschrieben in einem besetzten und geteilten Wien von einem ehemaligen Unteroffizier der Wehrmacht, der über den zu hohen Preis eines Großreiches nachdachte, sind die ersten Zeilen der Vorbemerkung eine offenkundige Herausforderung aller derjenigen Deutschen und Franzosen, die noch versuchten, im karolingischen Reich den fernen Widerschein von Glanz und Herrlichkeit zu finden. Dieser Frontalangriff auf den „großen Karl“ schockierte traditionelle Historiker zutiefst. Die negativen Bewertungen und Kommentare, die folgten, wagten es nicht, auf die grundlegenden Ziele des Buches, welche der Untertitel verdeutlichte, die „Soziale und Geistige Problematik eines Großreiches“, einzugehen. Michael Wallace-Hadrill, in einer recht widerwilligen Rezension, ging sogar so weit zu argumentieren, dass das Verdienst des Buches, seinem Untertitel zum Trotz, in traditioneller politischer Geschichtsschreibung lag7. Anstatt sich mit dem eigentlichen Anliegen von Fichtenaus Buch auseinanderzusetzen, begnügten sich seine Kritiker damit, vereinzelte technische Details seiner Obduktion des karolingischen Reiches zu beanstanden. François-Louis Ganshof, Doyen der positivistischen karolingischen Historiographie, stimmte zwar vielen von Fichtenaus Schlussfolgerungen zu, bedachte aber seine Methode mit einem erbitterten Angriff: „M. Fichtenau hat nicht der Versuchung widerstanden, eine enge Verbindung zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen öffentlicher und privater Handlungen in einem bestimmten histo-

  Paul Kirn, HZ 171 (1951) 338f.   Ursmar Engelmann, HJb 62/69 (1942/49) 884–886. 7   J. M. Wallace-Hadrill, EHR 65 (256) (1950) 390f. 5 6

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rischen Kontext zu postulieren.“8 Heutzutage würden viele argumentieren, dass gerade solche Verbindungen ein Hauptgegenstand historischer Forschung sein sollten. Die vielleicht bösartigste Besprechung war wahrscheinlich die neunseitige Sezierung des Buches durch den Schweizer Paläographen Hans Foerster. Er machte sich die Mühe, jeden kleinsten Fußnotenfehler, jede möglicherweise fragwürdige Übersetzung, jedwede Errata minutiös aufzuzeigen – wahrscheinlich die Früchte eines ganzen Semesters Arbeit seiner Studenten –, ohne dabei auch nur irgendwie auf Fichtenaus Argumente einzugehen9. Aber das Hauptproblem des Buches wurde prägnant von Theodor Mayer, dem ehemaligen Nazi und Präsidenten des Reichsinstitutes für ältere deutsche Geschichtskunde und Begründer des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte – zu dem Fichtenau übrigens nie eingeladen wurde – zusammengefasst: „Fichtenau malt zu schwarz.“10 Weder dieser herablassende Kommentar noch die anderen unschmeichelhaften Kritiken minderten allerdings den ansonsten begeisterten Empfang von Fichtenaus „Karolingischem Imperium“ in Europa und Nordamerika. Auch viele, die vielleicht nebensächlichere Aspekte des Buches kritisierten, fanden viel zu loben. Léopold Genicot schrieb: „In 300, mit munterer Feder und in ausdrucksstarker und lebendiger Sprache geschriebenen Seiten skizziert er ein Bild der Herrschaft Karls des Großen, das sowohl ansprechend, klar und vollständig, als auch in einem allgemeineren Sinne akkurat ist.“ 11 Zwei der einfühlsamsten und tiefblickendsten Rezensionen stammten von zwei europäischen Gelehrten, die in die USA ausgewandert waren: von Theodor E. Mommsen, dem Großneffen des großen Theodor Mommsen und damals Professor an der Universität von Princeton, und von Fichtenaus engem Freund Gerhard Ladner. Mommsen, trotz seiner Ablehnung von Fichtenaus Interpretation der Kaiserkrönung von 800, verstand genau warum und für wen Fichtenau das Buch geschrieben hatte und warum es so eine bedeutende Leistung war: „[Fichtenau] ist sich der Bedeutung des ,Mythos [Karls des Großen], der den Europäern so lieb geworden ist‘ sehr wohl bewusst, aber gleichzeitig fühlt er sich – wohl nicht zuletzt durch die Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte – dazu verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass ,der Glanz geschichtlicher Größe zumeist mit Not und Bedrückung erkauft wird‘[…]. Er ist weder interessiert an bloßer Erzählung, noch an der ‚übliche[n] Harmonisierung und Verklärung‘ der Ereignisse. Im Gegenteil, er ist davon überzeugt, dass ‚das kontrastreiche Gesamtbild […] der Wahrheit näherkommen‘ dürfte, d. h. eine Geschichtsschreibung, die ,die dunklen Seiten dieser Epoche sehr stark [hervorhebt]‘.“12 Auch Ladner kam medias in res: „Vor der Nazizeit betrachteten ihn [d. h. Karl den Großen] die meisten deutschen und österreichischen Historiker mit Ehrfurcht und Be8   „M. Fichtenau n’a pas résisté à la tentation de postuler l’existence d’une connexion intime entre les diverses manifestations de l’activité publique et privée dans un milieu historique déterminé.“ François-Louis Ganshof, Le Moyen Age 56 (1950) 375–383, hier 382. 9  Hans Philipp Foerster, Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 151/152 (1952) 410–418. 10 Theodor Mayer, Staatsauffassung in der Karolingerzeit. HZ 173 (1952) 471, wieder abgedruckt in ders., Staatsauffassung in der Karolingerzeit, in: Das Königtum: Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. Mainau-Vorträge 1954, hg. von Theodor Mayer (VuF 3, Sigmaringen 1956) 169–183. Mayer hat „Das Karolingische Imperium“ ebenfalls abgewiesen als „ein unerquickliche Buch“ (S. 173). 11  „En trois cents pages écrites d’une plume alerte et dans une langue riche et vivante, il a brossé du règne de Charlemagne un tableau plaisant, clair, complet, et, d’une façon générale, exact.“ Léopold Genicot, Heinrich Fichtenau, Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Grossreiches. RHE 46 (1951) 227. 12   Theodor E. Mommsen, Traditio 7 (1949/51) 500–502.



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wunderung. Die nationalsozialistische Geschichtsschreibung warf Karl dem Grossen dann seinen ,un-nordischen‘, christlichen und mediterranen politischen Horizont vor. Daher wirkt es fast befreiend, wenn Professor Fichtenau von der Universität Wien uns erklärt, dass das karolingische Reich deshalb scheiterte, weil seine religiösen und gesellschaftspolitischen Reformen auf [bloßen] äußerlichen Handlungen und nicht auf wahren, inneren Veränderungen [seitens] der Verantwortlichen basierten.“13 Die Debatten um „Das Karolingische Imperium“ wären vielleicht ein Professo­ren­streit geblieben, und das Buch – dessen Überarbeitung oder Wiederver­öffent­lichung Fichtenau stets ablehnte – wäre vielleicht heute vergessen, wenn nicht ein neuseeländischer Philosoph und Historiker, Peter Munz, sich dazu entschlossen hätte, die ersten sechs Kapitel ins Englische zu übersetzen. Seine Begründung, wie er in seinem Vorwort schrieb, war, dass er das Buch als „ein gutes Beispiel“ ansah, „wie solide wissenschaftliche Arbeit mit einer lebhaften Auseinandersetzung mit religiösen, sozialen oder kulturellen menschlichen Problemen kombiniert werden kann“14. Munz ließ allerdings die letzten zwei Kapitel weg, die sich mit der Zeit Ludwigs des Frommen und dem Untergang des Karolingerreiches befassten. Dies veränderte das Buch, das nun aus einer Untersuchung der „Sozialen und geistigen Problematik eines Großreiches“ eine Studie über die Herrschaft Karls des Großen geworden war, bescherte ihm aber ironischer Weise eine erstaunliche anglo-amerikanische Karriere15: Zuerst 1957 von Blackwell veröffentlicht, wurde es von Harper 1964 in den Vereinigten Staaten nochmals herausgebracht, wo es bis 1978 zahlreiche Auflagen erlebte, weil es bald zur Pflichtlektüre der meisten Einführungsvorlesungen in die Geschichte des Europäischen Mittelalters an amerikanischen Universitäten zählte. Ich selbst las es 1967 als Teil einer solchen Einführungsveranstaltung. Nachdem Harper es nicht wieder aufgelegt hatte, war die Nachfrage so groß, dass die Medieval Academy of America es als ersten Band ihrer Serie Medieval Academy Reprints for Teaching in der University of Toronto Press herausbrachte. So ist es auch heute noch lieferbar und stellt für tausende von nordamerikanischen Studenten ihre erste und oft einzige Einführung in die Welt der Karolinger dar. Bis heute sind über 12.000 Exemplare des Nachdruckes verkauft worden; das Buch bleibt einer der gefragtesten Titel der Serie. Daher stand im englischsprachigen Ausland der Name Fichtenau für viele Jahre nicht für den Diplomatiker, den Erforscher der Geschichte der Schriftlichkeit, von Askese und Laster etc., sondern einfach für den Historiker der frühen Karolingerzeit. Selbstverständlich beschäftigte sich der wahre Fichtenau sehr wohl mit Diplomatik; er produzierte Editionen und gleichzeitig tiefschürfende und kritische Studien darüber, wie diese Texte entstanden und welche Aspekte des menschlichen Lebens sie reflektierten. Während die deutsche und österreichische Wissenschaft diese Untersuchungen größtenteils ignorierte, wurden sie außerhalb des deutschsprachigen Raumes deutlich besser aufgenommen als seine früheren Werke. Robert Folz, der zum Beispiel „Das Karolingische Imperium“ mit einer sehr negativen Kritik bedacht hatte16, war voll des Lobes für Fichtenaus Buch „Arenga“: „Die essenzielle Wichtigkeit dieses Buches liegt im Dienst, den es der Diplomatik, der Literaturgeschichte und im weiteren Sinne der Geistesgeschichte 13   Gerhart B. Ladner, The First European Empire, Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Grossreichs by Heinrich Fichtenau. The Review of Politics 13 (1951) 117f. 14  Peter Munz, Translators’s Introduction, in: Fichtenau/Munz, The Carolingian Empire xii. 15  Siehe den Beitrag von Janet Nelson in diesem Band. 16  Philippe Dollinger–Robert Folz, Histoire d’Allemagne au Moyen Age. Publications des années 1946–1954 (1re partie). RH 215 (1956) 96–128, hier 121f.

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erweist. Durch Studien dieser Art wird die politische Sprache des Mittelalters ergründet werden.“17 Noch wärmeren Beifall erhielt „Arenga“ von dem herausragenden französischen Di­ plomatiker und Chartisten Georges Tessier, der die Bedeutung dieses einzigartigen Werkes erkannte, das zum ersten Mal die Formulierungen der Urkundenpräambeln ernst nahm und untersuchte, was Generationen von Diplomatikern vor ihm als bloße Formeln abgetan hatten. Tessier erkannte in Fichtenau einen verwandten Geist, der wie er die Paläographie vom Status der bloßen Hilfswissenschaft zum Studium der Schriftlichkeit als „sozialem Phänomen, zur Geschichte der Zivilisation als solche“ erheben wollte – eine Formulierung, die leicht „Mensch und Schrift“ entstammen könnte18. Als im darauffolgenden Jahr die französische Übersetzung von „Das Karolingische Imperium“ erschien – allerdings basierend auf der gekürzten englischen Fassung, nicht dem Original – schrieb Tessier wieder eine lobende Besprechung und bedauerte, dass die Originalausgabe nicht zwölf Jahren zuvor in der Bibliothèque de l’École des Chartes rezensiert worden war19. Die begeisterte Rezeption von „Arenga“ war ohne Zweifel der Grund dafür, dass Fichtenau 1960 eine seiner seltenen Reisen unternahm, um an der École des Chartes in Paris vorzutragen, der einzigen Institution in Europa, die in Auftrag und Ansehen dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung gleichkam. Sein Vortrag, welcher im Jahr danach in der Bibliothèque de l’École des Chartes veröffentlicht wurde20, präsentierte, aus seiner Sicht, den Stand der Diplomatik in Österreich. Aber weil der Vortragende Heinrich Fichtenau war, bestand dieses Referat nicht aus einer trockenen Aufzählung der Veröffentlichungen, Editionen und akademischen Genealogien der größten österreichischen Diplomatiker. Stattdessen präsentierte Fichtenau seinen Zuhörern an der École seine Sicht von zwei Hauptrichtungen in der zeitgenössischen Diplomatik, und obwohl er diese in Bezug auf seine österreichischen Kollegen erläuterte, hätte er dasselbe auch über die Disziplin in ganze Europa sagen können. Die eine Richtung sah er als in der Tradition Theodor von Sickels, des eigentlichen Begründers des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, die andere als in der Nachfolge von Julius von Ficker, dem Direktor der Regesta Imperii und ab 1869 Ordinarius für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte an der Universität Innsbruck. Sickel, so Fichtenau, war um die Autonomie der Diplomatik gegenüber den anderen historischen Disziplinen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten, bemüht. Als preußischer Flüchtling, der mit französischem Pass in Wien ankam, vermied er jegliche Beteiligung an der zeitgenössischen Politik und versuchte, sein Institut und dessen Arbeit von den Unsicherheiten und Subjektivitäten der allgemeinen Geschichtswissenschaft fernzuhalten. Die Aufgabe des Diplomatikers war für Sickel die Beschreibung der formalen Aspekte von Urkunden und Dokumenten, mit der Produktion von Editionen als dem ultimativen Ziel der Disziplin. Dieser Sickel’schen Schule stellte Fichtenau den „diplomatischen Historiker“, verkörpert von Julius von Ficker, gegenüber. Eine Analyse von Urkunden, die 17   „L’importance essentielle du livre réside dans le service qu’il est appelé à rendre à la diplomatique, à l’histoire littéraire et à celle de la pensée tout à la fois. C’est à partir d’enquêtes de ce genre que l’on pourra parvenir à dégager la langue politique du Moyen Age.“ Philippe Dollinger–Robert Folz, Histoire d’Allemagne au Moyen Age. Publications des années 1955–1959 (1re partie). RH 224 (1960) 123–154, hier 125. 18  „L’acte écrit médiéval n’est pas un simple phénomène juridique, il est aussi un phénomène social, un fait de civilisation.“ Georges Tessier, BEC 115/1 (1957) 251–254, hier 252. 19  Georges Tessier, BEC 117/1 (1959) 286–288. 20   Fichtenau, La situation actuelle.



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sich nur auf ihre formalen, äußeren Merkmale konzentrierte und nicht mit einer ebenso detaillierten Untersuchung des Inhalts einherging, konnte, laut Fichtenau, nie zu einer zufriedenstellenden Diplomatik führen. Sickels Suche nach absoluter wissenschaftlicher Gewissheit war eine Chimäre, und Fichtenau wies die Fehler nach, die dem großen Meister dabei unterliefen. Die Alternative im 19. Jahrhundert stellte Fickers Ansatz dar, der nicht nur Form, sondern auch Inhalt der Dokumente berücksichtigte und letzteren sowohl in Bezug zu seiner Form setzte, als ihn auch mit anderen Dokumenten aus derselben Zeit verglich. In seinem Vortrag vor den Pariser „chartistes“ gab Fichtenau nicht vor, dass Fickers Methode den Ansprüchen des zwanzigsten Jahrhunderts genügte, aber er bekräftigte nachdrücklich, dass sowohl Form als auch Inhalt von Urkunden untersucht werden müssten, da sie zwei untrennbare Aspekte derselben Sache seien21. In diesem seltenen Vortrag vor internationalem Publikum formulierte Fichtenau seinen eigenen, grundlegenden Ansatz: Die Diplomatik müsse ein Teil der umfassenden Erforschung sowohl der Menschen, als auch der Texte, die sie produzierten, sein. Studien, die sich auf äußere, formale und positivistische Aspekte beschränkten, seien nicht nur unzureichend, sondern letztendlich zum Scheitern verdammt. Dieser Ansatz fand großen Anklang nicht nur bei Tessier und den fortschrittlichen „chartistes“, sondern auch bei Anhängern anderer französischer und italienischer Historikerschulen der 1960er und 1970er Jahre. Zusätzlich zu seinem kollegialen Kontakt mit Tessier baute Fichtenau auch gute Verbindungen zu Robert Folz, Cinzio Volante und Georges Duby auf. Letzteren lud er auch nach Wien ein, um einen Vortrag am Institut zu halten. Außerdem ermutigte Fichtenau seine Studenten zu Auslandsaufenthalten – und nicht nur zum Studium an der École des Chartes, sondern auch zur Annahme von Lehraufträgen an solch exotischen Orten wie Los Angeles, Kalifornien. Fichtenau selber blieb zuhause, leitete sein Institut, lehrte, und schrieb. Sein internationales Renommé als Diplomatiker nahm stetig zu, besonders nach der Veröffentlichung von „Das Urkundenwesen in Österreich“, das, wie die meisten seiner diplomatischen Studien, so viel mehr war, als der Titel vermuten ließ. In diesem Buch behandelte Fichtenau nicht nur Österreich – das es ja zu der Zeit, die er untersuchte, noch gar nicht gab – sondern einen viel größeren geographischen Raum, und in Erfüllung seiner in Paris angekündigten Vision war „Das Urkundenwesen“ eine Geistesgeschichte eines großen Teils Europas bis ins zweite Viertel des dreizehnten Jahrhunderts. Zunehmend wandte er aber seinen Blick der Art von Geschichte zu, die er mit dem „Karolingischen Imperium“ begonnen hatte. Diesmal allerdings wählte er eine Epoche, die für andere, aber nicht für Fichtenau, „das dunkle Jahrhundert“ darstellte. 1984 erschien sein großes, zweibändiges Werk „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ mit dem charakteristischen Untertitel „Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich“. Es wurde schnell als Meisterwerk erkannt: Rudolf Schieffer schrieb, dass „Lebensordnungen“ „nichts Geringeres bieten [wollte] als die Totalansicht eines Zeitalters“22. Der amerikanische Historiker der Salzburger Frühgeschichte, John Freed, zeigte sich überrascht, dass das Buch „von einem österreichischen Diplomatikexperten, und nicht einem französischen Annaliste, geschrieben“ war23. Auch Bernd   „Les chartes font partie de la littérature de l’époque.“ ebd. 18.   Rudolf Schieffer, VSWG 73/1 (1986) 129. 23   John B. Freed, The American Historical Review 91 (1986) 1171. 21 22

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Schneidmüller, in seiner Rezension für die Historische Zeitschrift, fühlte sich an die Schule der „Annales“ erinnert, aber beschrieb Fichtenau als „hervorragenden Kenner […] und kaum nur als Rezipient[en] französischer histoire des mentalités“. Sein Buch sei „nicht nur ein Blick ins pralle Leben des Mittelalters (was immer das auch sein mag), sondern ist auf originelle und bescheidenere Art zurückhaltender und umfassender zugleich“24. Timothy Reuter, der früh verstorbene deutsch-britische Historiker der karolingischen und ottonischen Reichsgeschichte, der das Buch für das Deutsche Archiv besprach, war sich der Bedeutung des Werkes sehr bewusst: „Fichtenau bringt mit diesem Buch quasi einen Nachfolgeband zu seinem beim Erscheinen stark kritisierten, inzwischen klassisch gewordenen Werk über das karolingische Imperium. Man könnte es auch mit Blochs Société Féodale vergleichen, wenngleich der betrachtete Zeitraum wesentlich beschränkter ist. Beide Bücher sind nicht zuletzt Versuche, die Mentalität (bzw. vielmehr die Mentalitäten) einer bestimmten Epoche anhand charakteristischer Anekdoten plastisch und greifbar zu machen.“25 Zufällig war ich Gast am Institut, als Fichtenau sein großartiges Buch vollendete, und hatte so das Glück, ihn um die Erlaubnis für eine englische Übersetzung bitten zu können. Obwohl diese leider statt der zahlreichen Fußnoten nur einen Anhang mit kurzen bibliographischen Kommentaren enthielt, eröffnete sie doch dem reiferen Fichtenau eine große britische und amerikanische Leserschaft und das zu einem erschwinglichen Preis. Letztendlich gewann „Lebensordnungen“ bei deutschen und amerikanischen Doktoranden fast so etwas wie Kultstatus und war so beliebt, dass es durch eine dtv-Edition der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Aus mir unerklärlichen Gründen blieb eine solche Rezeption in Frankreich aus. Meines Wissens setzte sich nur Philippe Buc, damals Professor in Stanford und heute Professor in Wien, ernsthaft mit dem Buch auseinander und integrierte Fichtenaus Ansatz in seinen Aufsatz „Rituel politique et imaginaire politique au Moyen Âge“, der in der „Revue historique“ erschien26. Ansonsten scheinen sowohl die deutsche wie die englische Ausgabe in Frankreich ignoriert worden zu sein. Fichtenau selbst zeigte sich davon nicht überrascht. Er schrieb mir: „Ich habe mein Buch Duby geschickt, er schrieb mir freundlich zurück, nichts weiter. Die französische Übersetzung meines Karol. Imperiums (aus dem Englischen!) war ein Flop und ich denke, so würde es vielleicht auch diesmal sein. Es gibt die Bücher Dubys, eben hat er wieder eines geschrieben, und das wird den Franzosen wohl genug sein.“27 Diese französische Zurückhaltung sowie seine ebenso enttäuschenden Erfahrungen mit der italienischen Übersetzung von „Das Karolingische Imperium“ (er erklärte mir, dass die Deutschkenntnisse des italienischen Übersetzers so mangelhaft waren, dass er „Richter“ und „Ritter“ nicht unterscheiden konnte) führten dazu, dass Fichtenau keine Übersetzung von „Lebensordnungen“ in romanische Sprachen anstrebte. Allerdings schrieb mir Jacques Le Goff im März 1985: „Vielen Dank für den Hinweis auf Fichtenaus Buch. Ich kenne seine anderen Werke, und er ist tatsächlich gleichzeitig sowohl sehr offen als auch sehr solide. Ich werde es lesen und Pierre Nora vorschlagen, es in die Biblio  Bernd Schneidmüller, HZ 245 (1987) 145f.   Timothy Reuter, DA (1987) 702. 26  Philippe Buc, Rituel politique et imaginaire politique au haut Moyen Âge. RH 303 (620) (2001) 843–883. 27   Brief von Heinrich Fichtenau an Patrick Geary, 17. Jänner 1985. 24 25



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thèque des Histoires aufzunehmen.“28 Diese Initiative blieb allerdings ohne Erfolg, was Fichtenau wieder nicht überraschte. Ähnlich erging es ihm mit seinem letzten, charakteristischerweise ikonoklastischen Buch über Häresie, „Ketzer und Professoren“. In Deutschland fand das Buch auch außerhalb akademischer Kreise Beachtung und wurde sogar in Tageszeitungen rezensiert. Fichtenau schrieb mir im Juli 1993: „Man nimmt das Buch in der Presse der Bundesrepublik zur Kenntnis, und hat sogar mein Bild gebracht – allerdings war es durch eine Verwechslung nicht das meine, sondern jenes des Kollegen Wilhelm Treue. Er ist viel schöner als ich, oder vielmehr war es, denn er ist kurz vorher gestorben. So konnte er sich nicht mehr ärgern, und ich habe es auch nicht getan.“29 Anderswo wurde das Buch mit weniger Begeisterung empfangen. Viele traditionelle Häresieforscher wie R. I. Moore oder John Mundy zeigten sich frustriert von einem Buch, das weder versuchte, Verbindungen zwischen gelehrten Häretikern und häretischen Volksbewegungen aufzuzeigen noch neue Richtungen häretischen Denkens oder Glaubens aufzuspüren30. Sie begriffen nicht, dass es Fichtenau hauptsächlich darum ging, die neuen Denkarten, mit denen hochmittelalterliche Menschen ihre Welt zu verstehen suchten, darzustellen. Zum Glück gab es immerhin einige ausländische Historiker, die Fichtenaus Intentionen erkannten und guthießen, wie zum Beispiel Edward Peters31. In Frankreich scheint wieder nur Philippe Buc Fichtenaus Absicht verstanden zu haben und konnte sie auch in den Kontext des Entwicklungsbogens von Fichtenaus intellektuellen Interessen über ein halbes Jahrhundert einreihen: „Was sonst sollten wir von diesem Pionier der Mentalitätsgeschichte und der Verwendung von anthropologischen Ansätzen in der deutschsprachigen Welt erwarten? Oder von dem Skeptiker, der Das Karolingische Imperium schrieb? Allen Reduktionismus entschieden zurückweisend, versucht Ketzer und Professoren, ein wenig die Komplexitäten der Mentalitäten der Epoche wiederherzustellen.“32 Leider blieb Bucs Appell für eine französische Übersetzung des Buches unbeachtet. Am Ende seines Lebens wurde Fichtenau allgemein international als, wie Buc es formulierte, „le grand médiéviste autrichien“ angesehen. Und trotzdem blieb sein internationaler Ruf widersprüchlich: Obwohl sein Ansehen als großartiger Diplomatiker, basierend auf seinen früheren Werken, seinen Ruhm in Deutschland und Frankreich begründete, bezog er sich doch in seinen späteren, wichtigsten Werken kaum auf Urkunden. Als ich ihn einmal danach fragte, bekam ich die Antwort: „Letzendlich erfahren wir aus Urkunden doch recht wenig.“ Obwohl dies natürlich ein ironisches „Wort des Chairman Fichtenau“ war, enthielt es doch ein Körnchen Wahrheit. Fichtenau war nie an Urkunden und Diplomen an sich interessiert. Was ihn wirklich interessierte, waren die Menschen: Urkunden, wie die hagiograpischen Erzählungen, die er in der späteren Hälfte seiner Kar28  „Merci pour la référence du livre de Fichtenau. Je connais d’autres travaux de Fichtenau, effectivement très ouverts et solides en même temps. Je lirai celui-ci et le proposerai à Pierre Nora pour la Bibliothèque des Histoires.“ Brief von Jacques Le Goff an Patrick Geary, 1. März 1985. 29   Brief von Heinrich Fichtenau an Patrick Geary, 2. Juli 1995. 30   John Hine Mundy, The Catholic Historical Review 79 (1993) 518f. 31  Edward Peters, The American Historical Review 98 (1993) 1219f. 32  „Qu’attendre de moins de ce pionnier, dans l’espace germanophone, de l’histoire des mentalités et de l’utilisation de l’anthropologie? Ou de sceptique auteur de Das Karolingische Imperium? Refusant fermement tout réductionnisme, Ketzer und Professoren cherche à restituer un peu de la complexité des mentalités d’une époque.“ Philippe Buc, Annales 50 (1995) 187–189, hier 187.

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riere so ausgiebig nutzte, oder die lateinische Poetik, die er so gerne unterrichtete, waren alles nur Mittel, um Menschen besser zu verstehen. Fichtenau hätte Marc Bloch zugestimmt, als der sagte: „Ein guter Historiker gleicht dem Oger in einem Märchen: seine Beute weiß er dort, wo er Menschenfleisch wittert.“33 Als Fichtenau 2000 starb, wusste sein internationales Publikum größtenteils nichts von den Komplexitäten der zweiten österreichischen Republik, den Herausforderungen und Belastungen durch sein Institut für Österreichische Geschichtsforschung, seinen langen Kampf gegen die leere Methodik rein technischer Diplomatik. Daher verstanden nur wenige die intellektuellen, persönlichen und institutionellen Umstände, in denen er seine Werke produzierte. Was Fichtenaus ausländische Leser allerdings verstanden und wovon sie immer noch (und immer wieder) inspiriert werden, ist sein leidenschaftliches Interesse dafür, die Menschen in all ihrer Komplexität, ihrer Leidenschaft, und ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen. In dieser Herausforderung, die immer – sowohl in seinen technischen als auch in seinen allgemeineren Studien – vorhanden war, lebt Fichtenau auch heute im Ausland weiter.

33  „Le bon historien, lui, ressemble à l’ogre de la légende. ,Là où il flaire la chair humaine, il sait que là est son gibier.’” Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou métier d’historien (Paris6 1964) 4.



Abschließende Bemerkungen: Fichtenaus Beiträge zur Mediävistik Walter Pohl

„Geschichte lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln darstellen, die einander ergänzen.“1 Das stellte Fichtenau in der Einleitung zu seinen „Lebensordnungen“ fest. Der vorliegende Band zeigt diese Verschiedenheit in eindrucksvoller Breite. Er versammelt Beiträge von Mitgliedern und Gästen bei der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, die 2012 aus Anlass des 100. Geburtstags von Heinrich Fichtenau abgehalten wurde2. Die Autoren der Beiträge waren Fichtenaus Schüler oder Enkelschüler oder ihm in anderer Weise verbunden; oder sie stammen aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, dessen Direktor Fichtenau einundzwanzig Jahre lang war. Der Vielfalt dieser „neuen Beiträge zur Mediävistik“ könnte eine allgemeine Schlussbetrachtung nicht gerecht werden. Es kann nur versucht werden, im Anschluss an den letzten Abschnitt noch einmal Fichtenau in den Blickpunkt zu rücken und aus der Perspektive des Frühmittelalterforschers einige Punkte über seine Bedeutung für die heutige Mediävistik noch einmal aufzugreifen. Viele der Referenten haben Heinrich Fichtenau besser gekannt als ich. Nur ganz wenige seiner berühmten „Sentenzen und Aphorismen“, von denen Herwig Wolfram in seinem Beitrag manche zitiert, habe ich selbst gehört; sie blieben aber in lebhafter Erinnerung. Immerhin hatte ich noch einige Gelegenheit, ihn als akademischen Lehrer zu erleben. Sein Überblick über die Geschichte des Frühmittelalters gehörte vor fast 40 Jahren zu den wenigen Lehrveranstaltungen, die ich als Studienanfänger mit Freude besuchte 3. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er in dieser Vorlesung das sogenannte gotische Epigramm des Codex Salmasianus zitiert: Inter eils goticum scapia matzia ia drincan4 – eine Klage, dass unter den Rufen der Goten nach Essen und Trinken keine lateinischen Gedichte rezitiert werden können. Es war erstaunlich, was er in diese Gedichtzeile hineinlegen konnte, so dass sie mir bis heute im Ohr geblieben ist. Damals wusste ich noch nicht,   Fichtenau, Lebensordnungen 1. Ich danke Herwig Wolfram für die Durchsicht dieses Beitrages.   Eine knappe Zusammenfassung der Beiträge zur Jahrestagung bietet der Tagungsbericht von Markus Gneiss und Katharina Kaska, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4730 (Zugriff 22. Dezember 2013). 3   Siehe auch den Überblick von Manfred Stoy über die Lehrtätigkeit Fichtenaus, in diesem Band. 4  Inter eils goticum scapia matzia ia drincan / non audit quisquam dignos edicere uersos. De conuiuis barbaris, ed. Anthologia Latina sive Poesis Latinae supplementum, Fasc. I: Libri Salmasiani aliorumque carmina, ed. Alexander Riese (Leipzig ²1894) Nr. 285; Martin E. Huld, The „Gothic“ epigram in the Anthologia Latina and the development of PG *Æ in East German dialectology. Michigan German Studies 16 (1990) 120–127; Wolfgang Binning, Gotisches Elementarbuch (Berlin–New York 51999) 137f. 1 2

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dass ich später ein Leben lang über derartige Barbaren forschen würde. Fichtenau selbst hat sich mit diesen „Barbaren“ und der Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter weniger beschäftigt; das blieb zunächst Erich Zöllner und später vor allem Herwig Wolfram überlassen, der dabei von Fichtenau nach Kräften unterstützt wurde. In diesem Band wird diese Periode durch den Beitrag von Andreas Schwarcz über „Internationale Verträge im Frühmittelalter“ repräsentiert. „Geschichte lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln darstellen, die einander ergänzen“. Fichtenau selbst hat in seinem Œuvre eine erstaunliche Vielfalt von Blickwinkeln geboten; es umfasst unter anderem Paläographie und Diplomatik, Geschichtserzählung, Geistes-, Mentalitäten- und Vorstellungsgeschichte, Österreich und Europa, Früh- und Hochmittelalter, aber auch die Zeit Maximilians I. Die Gliederung dieser Tagung hat die wesentlichen Eckpunkte geboten. Beeindruckend ist die Quantität der Arbeiten und ihre Nachhaltigkeit. Google Scholar, das für die Geisteswissenschaften noch keineswegs erschöpfende Daten bietet, listet für Fichtenau 1740 Ergebnisse (Publikationen und Zitate) auf5. Hier wird der international rezipierte Fichtenau sichtbar, den Patrick Geary in seinem Beitrag so eindrucksvoll präsentiert. Die zahlreichen Übersetzungen seiner Werke belegen die weite Ausstrahlung Fichtenaus – die beste und längste davon, die englische Fassung der „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“, verdanken wir Patrick Geary selbst6. Immer noch am meisten zitiert wird aber Fichtenaus „Karolingisches Imperium“ 7. Janet Nelson hat in ihrem Beitrag meisterhaft zusammengefasst, warum und auch wie wir Fichtenaus „Carolingian Empire“ heute noch lesen sollen. Ich möchte hier ihre drei Gründe noch einmal aufzählen: Erstens war er ein großer Schriftsteller und konnte Geschichte so erzählen, dass hinter den Ereignissen vielfache Hintergründe, Prozesse und Strukturen (ein Wort, das er vermied) sichtbar werden. Insofern ist es schade, dass er dann kaum mehr in dieser Art in einem Buch Geschichte erzählt hat. Zweitens verstehen wir das karolingische Imperium, seinen Aufbau und seine geistigen Voraussetzungen trotz aller Forschungen (zu denen gerade Janet Nelson Bahnbrechendes beigetragen hat8) heute noch nicht genügend. Und drittens gehörte „understanding people“, wie Nelson es prägnant nennt, zu den Stärken Fichtenaus – er verstand es hervorragend, mittelalterliche Menschen in ihrer Lebenswelt anschaulich zu machen. Die Menschen sind es, das wird in diesem Band vielfach betont, die im Zentrum von Fichtenaus Forschungen standen. Das war in einem von Strukturgeschichte geprägten Zeitalter mutig und führte dazu, dass Fichtenau in mancher Hinsicht erst heute zeitgemäß geworden ist. Es sind aber keineswegs nur die großen Männer, die wie im 19. Jahrhundert dabei im Blickfeld stehen. Er betrieb „Geistesgeschichte von unten“, wie er es in einem Brief an Peter Munz formuliert hat, den Thomas Winkelbauer in diesem Band zitiert9. Schon sein Buch „Mensch und Schrift“, das Winfried Stelzer und David Ganz 5  http://scholar.google.at/scholar?as_vis=0&q=Heinrich+Fichtenau&hl=de&as_sdt=1,5 (Zugriff 22. Dezember 2013). 6   Fichtenau, Lebensordnungen; engl. ders., Living in the Tenth Century. 7   Fichtenau, Das karolingische Imperium; engl. ders., The Carolingian Empire. 8  Unter ihren vielen Publikationen möchte ich besonders verweisen auf die Aufsatzsammlung: Janet L. Nelson, Courts, Elites and Gendered Power in the Early Middle Ages. Charlemagne and Others (Variorum Collected Studies Serie 878, Aldershot–Burlington 2007). 9  Es ist sozusagen „Geistesgeschichte von unten“, nicht der Eliten, wie bei Kantorowicz und anderen Georgeschülern. Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Peter Munz, Wien, 4. Juni 1978.



Abschließende Bemerkungen: Fichtenaus Beiträge zur Mediävistik 357

in ihren Beiträgen in den größeren Zusammenhang einordnen, wagte den Schritt von der Paläographie über die Schriftenforschung zum Menschen, der schreibt10. Das war ein wichtiger Neuansatz. Heute könnte man ein derartiges Buch vielleicht auch „Menschen und Schrift“ nennen, im Sinn der neueren Forschungen über Schriftlichkeit. Es sagt uns ja auch vieles über den Menschen Fichtenau, wenn wir hören, dass er seine Bücher an zwei Schreibmaschinen geschrieben hat, von denen eine für die Fußnoten bestimmt war, wie Werner Maleczek sich erinnert. Fichtenau bediente sich bei „Mensch und Schrift“ eines interdisziplinären Zuganges, wie er erst viel später modern wurde, und dabei vor allem der Psychologie. „Mensch und Schrift“ kann man im heutigen Sinn als ein durchaus theoriegeleitetes Werk bezeichnen; die Theorien, von denen es inspiriert war, die Typenlehre Kretschmers zum Beispiel, waren freilich viel schneller überholt als das heute noch zeitgemäße Anliegen des Buches. Noch zum „Karolingischen Imperium“ vermerkte der Rezensent Michael Wallace-Hadrill in der English Historical Review etwas ungnädig: „I am not much helped by the information, derived from Kretschmer, that überwiegen unter den Pyknikern die zyklothymen Temperamente, and that Charlemagne had it.“11 Aber es war nicht der historische Ansatz, der verfehlt gewesen wäre; die psychologischen Zugänge waren nicht tragfähig genug. Heute kann historische Forschung an ganz andere psychologische Positionen anknüpfen, wie Barbara Rosenweins Forschungen über Emotionen zeigen, die Fichtenau noch in seinen letzten Lebensjahren sehr interessiert verfolgt hat12. Weniger veraltet als bei „Mensch und Schrift“ wirkt heute das zu Grunde gelegte Menschenbild bei Fichtenaus fast gleichzeitig erschienener Arbeit über „Askese und Laster“, die Barbara Rosenwein und Christina Lutter in diesem Band diskutieren und weiterdenken13. Die Arbeit bewegt sich, wie Lutter zeigt, auf der Ebene der großen Erzählungen über den Zivilisationsprozess und die „Geschichte des Körpers“, die sich erst zwei Jahrzehnte nach Erscheinen von „Askese und Laster“ im Gefolge der Norbert Elias-Rezeption verbreiteten. Heute ist die pauschale Darstellung kollektiver psychischer Entwicklungen und ihrer Veränderung überholt. Doch „unterstreicht Fichtenau selbst mit seiner quellennahen Interpretation der von ihm vorgestellten Phänomene immer wieder deren Gleichzeitigkeit und Ambivalenz, ja sogar Widersprüchlichkeit, die sich nicht leicht in das Narrativ einer eindeutigen Entwicklungsgeschichte historischen Wandels einpassen lassen“14, und überschreitet damit eine zeitgebundene Betrachtung. Auch Fichtenaus hilfswissenschaftliche Studien beziehen bei aller technischen Präzision den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext mit ein. Reinhard Härtel hat Fichte­ naus aufschlussreichen Satz zitiert: „Die Diplomatik würde an Ansehen gewinnen, wenn hin und wieder ein Buch über größere Zusammenhänge erscheinen würde.“ Wir verdanken Härtels Beitrag wesentliche Überlegungen zum Begriff „Urkundenlandschaften“. Wie alle griffigen Termini verführt er zum leichtfertigen Gebrauch. Das wiegt freilich seine Vorteile nicht auf. Zum Unterschied von „Gebiet“ oder „Territorium“ liegt bei der 10 11

390f.

  Fichtenau, Mensch und Schrift.   Michael Wallace-Hadrill, Review of Fichtenau, The Carolingian Empire. EHR 65 (256) (1950)

12  Siehe den Forschungsüberblick in Barbara H. Rosenwein, Worrying about the history of emotions. The American Historical Review 107 (2002) 821–845, sowie dies., Emotional Communities in the Early Middle Ages (Ithaca 2006). 13  Fichtenau, Askese und Laster. 14   Christina Lutter, in diesem Band.

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„Landschaft“ der Akzent auf der inneren Gliederung, auf den allmählichen Übergängen und den ganz unterschiedlich markanten Abgrenzungen, und das ist dem Gegenstand durchaus adäquat. In manchen Fällen, wie im St. Gallener Material, das Beat von Scarpatetti in seinem Beitrag präsentiert und an dem in Fichtenaus direkter Tradition auch Bernhard Zeller und Peter Erhart arbeiten, verlaufen deutliche Grenzen zwischen dem alemannischen Bereich und der „Urkundenlandschaft Rätien“ sogar durch einen Bestand15. Anderswo verschwimmen die Abgrenzungen, was je nachdem am Material selbst oder an seiner unzureichenden Erfassung liegen kann. Jedenfalls, auch in diesem Fall hat Fichtenau einen Begriff verwendet, dessen Konjunktur erst lange danach kam. Gerade die hilfswissenschaftlichen Arbeiten Fichtenaus bieten in diesem Band vielfache Anknüpfungspunkte. Fichtenaus „Arenga“ hat es wiederum erlaubt, auf sehr anregende Weise in der Formelhaftigkeit der Urkunden deutliche Spuren politischer Zusammenhänge zu finden. Damit hat er manche weitere Untersuchung inspiriert, namentlich die Bände von Herwig Wolfram und später seinen Mitarbeitern über die Intitulatio16. Im Beitrag von Helmut Reimitz in diesem Band zum „vir inluster“ des 8. Jahrhunderts erlauben erst die Ergebnisse diplomatischer Untersuchungen, in der historiographischen Überlieferung das soziale Profil der Trägerschicht des Aufstiegs der Karolinger zu erfassen. Fichtenaus „politische Datierungen“ schließlich waren in ähnlicher Weise ein wichtiger Anhaltspunkt bei meinen eigenen Bemühungen, den Herrschaftsübergang von den Langobarden auf die Karolinger und seine Folgen besser zu verstehen17. Fichtenaus historische Methode, auch das ist mehrfach gesagt worden, ist fast nur aus seinem Werk selbst zu erschließen, da er selbst sich zumindest in Publikationen wenig dazu geäußert hat und nicht äußern wollte. „Ich singe wie der Vogel singt“, diese Bemerkung Fichtenaus zitierte Anton Scharer in seinem Vortrag. Sicher trifft der Satz des französischen Althistorikers Paul Veyne auf Fichtenau zu: „Alle großen Historiker werden von einem theoretischen Wissen geleitet; aus Askese tun sie so, als ignorierten sie es; dieses traumwandlerische, implizite Wissen ist vergleichbar mit dem Wissen, das ein Mann der Tat hat.“18 In diesem Sinn war Fichtenau ein intuitiver Historiker. Herwig Wolfram hat in seinem Beitrag darauf hingewiesen, dass Fichtenau Geschichte als „ars“ verstanden hat. Etwas, was vor allem seine späteren Bücher auszeichnet, ist seine besondere Kunst, die Quellen zum Sprechen zu bringen und die Zusammenhänge plastisch zu machen. Es macht mir aber großen Spaß, zu sehen, wie die Dinge aus den Zetteln „heraussteigen“ und plastisch werden19, so hat ihn Thomas Winkelbauer aus einem Brief zitiert. Das setzte 15  Peter Erhart–Julia Kleindinst, Urkundenlandschaft Rätien (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 7, Wien 2004); Chartae Latinae Antiquiores. Facsimile-Edition of the Latin Charters. Ser. 2: Bd. 101–106 (Sankt Gallen II–VII), ed. Peter Erhart et al. (Dietikon–Zürich 2008–2013). 16   Fichtenau, Arenga; Herwig Wolfram, Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des achten Jahrhunderts (MIÖG Ergbd. 21, Wien u. a. 1967); Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, hg. von Herwig Wolfram mit Beiträgen von Karl Brunner, Heinrich Fichtenau, Elisabeth Garms-Cornides und Herwig Wolfram (MIÖG Ergbd. 24, Wien u. a. 1973); Intitulatio III. Lateinische Herrschertitel und Herrschertitulaturen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Herwig Wolfram–Anton Scharer (MIÖG Ergbd. 29, Wien u. a. 1988). 17   Walter Pohl, Gens ipsa peribit: Kingdom and identity after the end of Lombard rule, in: 774 – ipotesi su una transizione, hg. von Stefano Gasparri (Turnhout 2008) 67–78. 18  Paul Veyne, Ein Inventar der Differenzen. Antrittsvorlesung am Collège de France, in: Die Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung (Frankfurt am Main 1988) 7–42, hier 12f. 19  Wien, IÖG, Korrespondenz Fichtenau, Fichtenau an Walter Ullmann, 23. Dezember 1980. Siehe den Beitrag von Thomas Winkelbauer in diesem Band, S. 334.



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die Knochenarbeit der 5500 Zettel voraus, die als Grundlage für die „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ dienten. Aber es erforderte auch eine subtile Hermeneutik, die Fichte­naus Bücher erst zu Meisterwerken macht (auch wenn ihm der Begriff Hermeneutik selbst vielleicht nicht recht gewesen wäre). Typisch für Fichtenau war, wie sehr er sich dabei selbst im Hintergrund hielt – seine „selbstbewusste Bescheidenheit“, wie es Thomas Winkelbauer in seinem Beitrag genannt hat. Das wird auch am mehrfach in diesem Band angesprochenen Spannungsverhältnis zur Schule der Annales deutlich, die den historischen Meisterdenker viel unvermittelter inszeniert hat. Charakteristisch für Fichtenaus Zugang zu den „Annales“ ist eine Passage in der Einleitung zu den „Lebensordnungen“, in der er feststellt: „Letztlich ist alle Geschichte zugleich Geschichte von Mentalitäten.“20 Doch setzt er fort: „Was dieses Wort betrifft, sollte es nicht zerredet werden. Es wurde in diesem Buch ebenso wenig wie andere Wörter verwendet, die kaum zu definieren und in Gefahr sind, zu Schlagworten zu werden.“ Dennoch zögerten, wie Patrick Geary in seinem Beitrag zeigt, namhafte Rezensenten nicht, dem Werk das Etikett zu geben, das er selbst vermieden hatte. In seinem Versuch, die Fichtenau-Rezeption in Frankreich zu fördern, nannte ihn Philippe Buc in einer Rezension von „Ketzer und Professoren“ in den Annales (1995, 187) „ce pionnier, dans l’espace germanophone, de l’histoire des mentalités et de l’utilisation de l’anthropologie“21. Der Rezeption von Fichtenaus „mentalitätengeschichtlichen“ Werken in Frankreich hat das nicht wirklich geholfen, ein Beispiel dafür, wie gerade erfolgreiche historische Schulen durch zunehmende Selbstzentriertheit letztlich erstarren können. Miri Rubin schrieb in ihrer Rezension desselben Werkes: „The book feels like a product of the Annales school, yet comes from the pen of a man who ventured out of Austria on scholarly pursuits only twice […].“22 Fichtenaus Verweigerung des akademischen Tourismus hatte sich bis zu ihr herumgesprochen. Kaum zutreffend ist hingegen, was Jo Ann McNamara, die Pionierin der amerikanischen Frauengeschichtsforschung, im Speculum schrieb: „Fichtenau sees himself as a missionary of the French school of mentalités to the German scholarly community.“23 Fichtenau als Missionar – wer ihn kannte, kann sich ausmalen, was er dazu wohl gesagt hat. Fichtenaus begriffliche Enthaltsamkeit setzte also voraus, dass er das Instrumentarium wohl zu gebrauchen wusste, auf das zugehörige Etikett (in diesem Fall „Mentalität“) aber verzichtete, und dass informierte Leser den Konnex auch so wahrnahmen. Fichtenaus „Lebensordnungen“ sind in paradoxer Weise ein Hauptwerk der Mentalitätengeschichte wider Willen. Das gibt dem Buch den Vorteil einer gewissen Zeitlosigkeit. Fichtenau hatte durchaus einen Sinn für zukünftige Entwicklungen in der Forschung, etwa wenn er 1984 feststellte, es sei Zeit, sich wieder stärker der Kulturgeschichte zuzuwenden, und damit den späteren „cultural turn“ in den Geschichtswissenschaften vorwegnahm. Die Abneigung gegen expliziten Theoriegebrauch mag Fichtenau auch aus der Erfahrung mit der Rezeption seines Frühwerkes abgeleitet haben, und sie entsprach der historisch-positivistischen Tradition des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Fichtenau vermied aber auch den entgegengesetzten Irrtum, die Quellen an überkommene und nur mehr   Fichtenau, Lebensordnungen 3.   Philippe Buc, Heinrich Fichtenau: Ketzer und Professoren. Annales 50 (1995) 187–189. 22  Miri Rubin, Review of Fichtenau, Ketzer und Professoren. Social History 18 (1993) 392. 23  Jo Ann McNamara, Review of Fichtenau, Ketzer und Professoren, Speculum 68 (1993) 143–144, hier 20 21

143.

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wenig erklärungsmächtige Begriffe rückzubinden und damit nur als Illustration für längst Bekanntes sprechen zu lassen. Die reichen Quellenbelege in seinen Büchern bestätigen nicht, was wir ohnehin schon wissen, sondern sie sind immer Versuche, den Menschen einer vergangenen Epoche und den größeren Zusammenhängen, in die sie gestellt waren, näherzukommen. Es ist diese balancierte Kunst umsichtiger Quelleninterpretation, die in den „Lebensordnungen“ einen Höhepunkt erreicht. Dieser Begriff der „Lebensordnungen“ wurde auf der Tagung, die diesem Band zu Grunde liegt, viel diskutiert. Fichtenau hätte auch, wie Arno Borst, von Lebensformen sprechen können, worauf Karl Brunner in seinem Vortrag hinwies24. Fichtenau hat den anspruchsvolleren, quellennäheren Begriff Ordnung, ordo, verwendet, getreu seinem Anspruch, eine Gesellschaft aus sich selbst heraus zu erklären, und er hat ihn im Plural verwendet: Lebensordnungen, das betont Georg Scheibelreiter in seinem Beitrag. Bei seiner englischen Übersetzung musste Patrick Geary also schon beim ersten Titelwort das Problem lösen, dass es unübersetzbar ist. „Living in the tenth century“ bietet eine attraktive Alternative, die aber andere Akzente setzt. Bis heute unterscheidet die Rolle des Ordnungsbegriffs als Schlüsselkonzept ja die deutschsprachige von der englischsprachigen Forschung, getreu traditionsreichen nationalen Stereotypen. Fichtenau hätte allerdings kaum von den heute in der deutschen Mediävistik beliebten „Ordnungskonfigurationen“ gesprochen (ein Begriff, der noch schwerer übersetzbar ist)25. Wie hat Fichtenau „Ordnung“ verstanden, oder vielmehr, was hat er aus dem Begriff alles herausgeholt? „Ordo“ bezeichnet (wie Siegfried Haider auf der Tagung bemerkt hat) bei Fichtenau eine Ordnungsvorstellung, die dazu dienen soll, die gelebte Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, wobei sich nicht immer genau angeben lässt, was genau die angestrebte Norm ist. Drei wesentliche Stärken zeichnen Fichtenaus Begriffsgebrauch aus: erstens, „Lebensordnung“ erlaubt es ihm, quer über traditionelle Unterscheidungen wie Norm-Praxis, Denken-Handeln, Individuum-Gesellschaft hinweg zu denken: Ordnung ist Idee und Ideal, Vorgestelltes ebenso wie Gelebtes, Resultat ständiger Bemühungen oder von rigoroser Disziplin, sie beschreibt das Wesen des politischen Zusammenhanges ebenso wie den Aufbau sozialer Gruppen und ihre Interaktion, sie ist alltäglich ebenso wie transzendental – sie ist eben „Lebens“-ordnung. Im Jargon der Annales-Schule wäre das ein Phänomen der „histoire totale“. Zweitens bildet „Lebensordnung“ daher den Rahmen, in dem Mensch und Welt, Individuum und Gesellschaft zusammengedacht werden können. Und drittens wird der Ordnungsbegriff auch von seinem Gegenteil, der confusio, her gedacht. Wie die Diskussionen anlässlich einer Tagung über den frühmittelalterlichen Staat26 vor einigen Jahren gezeigt haben, war Fichtenau auch damit seiner Zeit voraus. Einige Teilnehmer aus englischsprachigen Ländern forderten in ähnlichem Sinn, Staatlichkeit gerade von ihren Grenzen und Widerständen her zu konzipieren, während Vertreter der deutschsprachigen Mediävistik dagegen Vorbehalte äußerten. Wie „Ordnung“ wird auch „Staat“ als Begriff erst produktiv, wenn die Integrations- und Orientierungsleistung in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld dargestellt wird. Das verbindet den Zugang der „Lebensordnungen“ auch mit dem „karolingischen Imperium“, wo Fichtenau so in  Vgl. Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter (Frankfurt am Main–Wien 1973).   Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller–Stefan Weinfurter. (VuF 64, Ostfildern 2006). 26  Der frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven, hg. von Walter Pohl–Veronika Wieser (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16, Wien 2009). 24 25



Abschließende Bemerkungen: Fichtenaus Beiträge zur Mediävistik 361

sistent nach den tiefen Schatten hinter dem imperialen Glanz sucht. Vielleicht ist es das, was Fichtenaus vielfachem Schaffen gemeinsam ist: der Blick unter die Oberflächen, bei dem er sich immer wieder von den Sehgewohnheiten der Disziplin zu lösen versteht. Das können wir auch heute noch von Heinrich Fichtenau lernen.



Siglenverzeichnis Abh. ADB AdR AfD AfK AHC Annales AÖG ASRSP ASV AUF AZ BAV BDHIR BEC BISI(M) BlLkNÖ BN BUB CCSL CPPM CSEL DA EHR FMSt FRA FSI HHStA HJb HRG HZ IÖG JbLKNÖ JbOÖMV JL LMA

Abhandlung(en) (allgemein) Allgemeine Deutsche Biographie Archiv der Republik Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde Archiv für Kulturgeschichte Annuarium Historiae Conciliorum Annales Économies, Sociétés, Civilisations Archiv für Österreichische Geschichte (bis Bd. 33: für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen) Archivio della Società Romana di Storia Patria Archivio Segreto Vaticano Archiv für Urkundenforschung Archivalische Zeitschrift Biblioteca Apostolica Vaticana Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bibliothèque de l’École des chartes Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo (e Archivio Muratoriano) Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich Bibliothèque Nationale Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich Corpus Christianorum. Series Latina Clavis Patristica Pseudepigraphorum Medii Aevi Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Deutsches Archiv für Erforschung (bis 1944: Geschichte) des Mittelalters English Historical Review Frühmittelalterliche Studien Fontes Rerum Austriacarum Fonti per la Storia d’Italia Haus-, Hof- und Staatsarchiv Historisches Jahrbuch Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historische Zeitschrift Institut für Österreichische Geschichtsforschung Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereins – Gesellschaft für Landeskunde Jaffé–Löwenfeld, Regesta Pontificum Romanorum Lexikon des Mittelalters

364 Siglenverzeichnis

Mansi

Johannes Dominicus Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Florenz–Venedig 1757–1798 (Nachdr. Graz 1960– 1961) MGH Monumenta Germaniae Historica AA Auctores antiquissimi D, DD Diploma, Diplomata LL Leges SS Scriptores (die weiteren Reihen in verständlichen Kürzungen) MIÖG (MÖIG) Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (1923– 1942: des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung; 1944: des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien) MÖOLA Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs MÖStA Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs NA Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde NÖLA Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv ÖAW Österreichische Akademie der Wissenschaften ÖNB Österreichische Nationalbibliothek ÖStA Österreichisches Staatsarchiv PL Migne, Patrologia Latina Potthast, Regesta Pontificum Potthast QEBG Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken QIÖG Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Reg. Imp. Regesta Imperii RGA Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RH Revue Historique Revue d’Histoire Ecclésiastique RHE SB Sitzungsberichte (allgemein) SC Sources Chrétiennes Settimane Settimane di Studio del Centro Italiano sull’Alto Medioevo StT Studi e Testi UH Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich VIÖG Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung VL2 Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (2. Auflage) VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte VuF Vorträge und Forschungen ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie ZHVSt Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark



Verzeichnis der gekürzt zitierten Werke von Heinrich Fichtenau Arenga = Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (Graz– Köln 1957). Askese und Laster = Askese und Laster in der Anschauung des Mittelalters (Wien 1948). Veränderter Neudruck: Askese und Laster in der Anschauung des Mittelalters, in: Beiträge 1 24–107. Ausbildung von Archivaren = Die Ausbildung von Archivaren am Institut für österreichische Geschichtsforschung. Scrinium 17 (1977) 46–55. [Autobiographie von] Heinrich Fichtenau = [Autobiographie] in: Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, hg. von Hermann Baltl–Nikolaus Grass–Hans Constantin Faussner (Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 14, Sigmaringen 1990) 43–57. Bamberg = Bamberg, Würzburg und die Stauferkanzlei. MÖIG 53 (1939) 241–285. Beiträge 1 = Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze 1: Allgemeine Geschichte (Stuttgart 1975). Beiträge 2 = Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze 2: Urkundenforschung (Stuttgart 1977). Beiträge 3 = Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze 3: Lebensordnungen – Urkundenforschung – Mittellatein (Stuttgart 1986). Bernhard Bischoff = Bernhard Bischoff. Almanach der ÖAW 142/1991/92 (Wien 1993) 505–510. Bildung und Schule im 10. Jahrhundert = Bildung und Schule im 10. Jahrhundert, in: Domus Austriae. Eine Festgabe Hermann Wiesflecker zum 70. Geburtstag, hg. von Walter Höflechner–Helmut J. Mezler-Andelberg–Othmar Pickl (Graz 1983) 117–124. The Carolingian Empire = The Carolingian Empire. The Age of Charlemagne. Translated by Peter Munz (Toronto–London 1957, reprint Oxford 1968).

366 Verzeichnis der gekürzt zitierten Werke von Heinrich Fichtenau

„Carta“ et „Notitia“ = „Carta“ et „Notitia“ en Bavière du VIIIe au Xe siècle. Le Moyen Age ser. 4, 18 (1963) 105–120. Diplomatiker und Urkundenforscher = Diplomatiker und Urkundenforscher. MIÖG 100 (1992) 9–49. Die Fälschungen Georg Zapperts = Die Fälschungen Georg Zapperts. MIÖG 78 (1970) 444–467. Wieder abgedruckt in: Beiträge 1 270–295. Forschungen = Forschungen über Urkundenformeln. Ein Bericht. MIÖG 94 (1986) 285–339. Gerhoh von Reichersberg = Studien zu Gerhoh von Reichersberg (Prüfungsarbeit am ­Institut f. österr. Geschichtsforschung Wien [1935]). Mit geringfügigen Veränderungen gedruckt: Studien zu Gerhoh von Reichersberg. MIÖG 52 (1938) 1–58. Grundzüge = Grundzüge der Geschichte des Mittelalters (Universum-Bibliothek des Wissens 23, Wien 1947, 21948). Heretics and Scholars = Heretics and Scholars in the High Middle Ages, 1000–1200, translated by Denise A. Kaiser (Philadelphia 1998). Die historischen Hilfswissenschaften = Die historischen Hilfswissenschaften und ihre Bedeutung für die Mediävistik, Art. Paläographie, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, Lieferung 10: Methoden der Geschichtswissenschaft und der Archäologie, hg. von Manfred Thiel (München–Wien 1974) 115–143. Karl der Große = Karl der Große und das Kaisertum. MIÖG 61 (1953) 256–334. Wieder abgedruckt als: Karl der Große und das Kaisertum. Mit einer Einleitung zum Nachdruck (Libelli 320, Darmstadt 1971). Das karolingische Imperium = Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreiches (Zürich 1949). Englische Übersetzung s. The Carolingian Empire. Ketzer und Professoren = Ketzer und Professoren. Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter (München 1992). Englische Übersetzung s. Heretics and Scholars. Lebensordnungen = Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30/1–2, Stuttgart 1984). Englische Übersetzung s. Living in the Tenth Century.



Verzeichnis der gekürzt zitierten Werke von Heinrich Fichtenau 367

Die Lehrbücher Maximilians I. = Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift (Hamburg 1961). Living in the Tenth Century = Living in the Tenth Century. Mentalities and Social Orders. Translated by Patrick J. Geary (Chicago–London 1991). Mensch und Schrift = Mensch und Schrift im Mittelalter (VIÖG 5, Wien 1946). Monarchische Propaganda = Monarchische Propaganda in Urkunden. Bulletino dell’ Archivio paleografico Italiano N. S. Il/lll (1956/57) 299–316. Wieder abgedruckt in: Beiträge 2 18–36. Monastisches und scholastisches Lesen = Monastisches und scholastisches Lesen, in: Herrschaft, Kirche und Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Georg Jenal (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37, Stuttgart 1993) 317–337. „Politische“ Datierungen = „Politische“ Datierungen des frühen Mittelalters, in: Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Herwig Wolfram (MIÖG Ergbd. 24, Wien–Graz–Köln 1973) 453–548. Ergänzt und wieder abgedruckt in: Beiträge 3 186–285. Die Reihung der Zeugen = Die Reihung der Zeugen und Konsentienten, in: Beiträge 3 167–185. Reliquienwesen = Zum Reliquienwesen im früheren Mittelalter. MIÖG 60 (1952) 60–89. Wieder abgedruckt in: Beiträge 1 108–144. Rhetorische Elemente = Rhetorische Elemente in der ottonisch-salischen Herrscherurkunde. MIÖG 68 (1960) 39–62. Wieder abgedruckt in Beiträge 2 126–156. Riesenbibeln = Neues zum Problem der italienischen Riesenbibeln. MIÖG 58 (1950) 50–67, Stark überarbeitet wiederabgedruckt unter dem Titel: „Riesenbibeln“ in Österreich und Mathilde von Tuszien, in: Beiträge 1 163–186. La situation actuelle = La situation actuelle des études de diplomatique en Autriche. BEC 119 (1961) 5–20. Deutsche Überarbeitung s. Zur Lage der Diplomatik. Soziale Mobilität = Soziale Mobilität in Quellen des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, in: Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann zum 75. Geburtstag, hg. von Herbert Knittler (Wien 1979) 11–29.

368 Verzeichnis der gekürzt zitierten Werke von Heinrich Fichtenau

Urkunden Herzog Tassilos III. = Die Urkunden Herzog Tassilos III. und der „Stiftbrief“ von Kremsmünster. MIÖG 71 (1963) 1–32. Wieder abgedruckt in: Beiträge 2 62–99. Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau = Zu den Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau. MOÖLA 8 (1964) 81–100. Wieder abgedruckt in Beiträge 2 157–179. Urkundenwesen = Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert (MIÖG Ergbd. 23, Wien–Köln–Graz 1971). Vier Reichsbischöfe = Vier Reichsbischöfe der Ottonenzeit, in: Kirche und Staat in Idee und Geschichte des Abendlandes. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ferdinand Maass SJ, hg. von Wilhelm Baum (Wien–München 1973) 81–96. Vom Ansehen des Papsttums im 10. Jahrhundert = Vom Ansehen des Papsttums im 10. Jahrhundert, in: Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem 75. Geburtstag und fünfzigjährigen Doktorjubiläum, hg. von Hubert Mordek (Sigmaringen 1983) 117–124. Wieder abgedruckt in Beiträge 3 98–107. Vom Verständnis der römischen Geschichte = Vom Verständnis der römischen Geschichte bei deutschen Chronisten des Mittelalters, in: Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag, hg. von Peter Classen–Peter Scheibert 1 (Wiesbaden 1964) 401–419. Wieder abgedruckt in Beiträge 1 1–23. Walter Ullmann = Walter Ullmann. Almanach der ÖAW 133/1983 (Wien 1984) 399– 403. Wolfger von Prüfening = Wolfger von Prüfening. MÖIG 51 (1937) 313–357. Zur Geschichte der Invokationen = Zur Geschichte der Invokationen und „Devotionsformeln“, in: Beiträge 2 37–61. Zur Lage der Diplomatik = Zur Lage der Diplomatik in Österreich, in: Beiträge 2 1–17.



Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Claudia Feller Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Prof. Dr. David Ganz 10 Covent Garden, Cambridge CB1 2HR UL, GB [email protected] Prof. Patrick Geary School of Historical Research, Institute for Advanced Study Einstein Drive, Princeton, New Jersey 08540 USA [email protected] Univ.-Prof. Dr. Reinhard Härtel Institut für Geschichte der Universität Graz Heinrichstraße 26/III, 8010 Graz [email protected] ao. Univ.Prof. Dr. Siegfried Haider Kaisergasse 23, 4020 Linz Univ.-Prof. Dr. Christian Lackner Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Univ.-Prof. Dr. Christina Lutter Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Em. O.Univ-Prof. Dr. Werner Maleczek Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Professor em. Dame Janet Nelson Department of History, King’s College London

370 Beiträgerinnen und Beiträger

Strand, London WC2R 2LS, GB [email protected] Univ.-Prof. Dr. Walter Pohl Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte, Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Prof. Dr. Helmut Reimitz History Department, Princeton University 129 Dickinson Hall, Princeton, NJ 08544-1017 USA [email protected] Prof. Barbara Rosenwein Department of History, Loyola University Chicago 1032 W. Sheridan Road, Chicago, IL 60660, USA [email protected] Dr. Beat von Scarpatetti Universität Basel Neusatzweg 7, CH 4102 Binningen/Basel [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Anton Scharer Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Georg Scheibelreiter Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Schwarcz Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Em. O.Univ-Prof. Dr. Winfried Stelzer Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Dr. Manfred Stoy Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected]



Beiträgerinnen und Beiträger 371

Univ.-Prof. Dr. Thomas Winkelbauer Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Em. O.Univ.-Prof. Dr. Herwig Wolfram Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Doz. Dr. Roman Zehetmayer Niederösterreichisches Landesarchiv Landhausplatz 1, 3100 St. Pölten [email protected]



VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTSFORSCHUNG HERAUSGEGEBEN VON THOMAS WINKELBAUER



EINE AUSWAHL

BD. 59 | CHRISTINA LUTTER (HG.) FUNKTIONSRÄUME, WAHRNEHMUNGS­

BD. 55 | INES PEPER

RÄUME, GEFÜHLSRÄUME

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BD. 56 | KURT MÜHLBERGER, META NIEDERKORN-BRUCK (HG.)

BD. 60 | ANITA HIPFINGER, JOSEF

DIE UNIVERSITÄT WIEN IM KONZERT

LÖFFLER, JAN PAUL NIEDERKORN,

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GENESE UND WIRKUNG VON INSTRUKTIONEN IM ZEITLICHEN

BD. 57 | MICHAEL HOCHEDLINGER,

LÄNGSSCHNITT VOM MITTELALTER BIS

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