Unterwegs zum Selbst. Begegnung mit der Lehre Gurdjieffs. 3859141694, 3589141694

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Unterwegs zum Selbst. Begegnung mit der Lehre Gurdjieffs.
 3859141694, 3589141694

Table of contents :
Unterwegs zum Selbst
Inhalt
Einfuhrung
Fragen
1
2
Die richtige Selbstbeobachtung
Die
Daseinszustdnde
Zentren und Funktionen
Wesen und Personlichkeit

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Jean Vaysse

Unterwegs zum Selbst Begegnung mit der Lehre Gurdjieffs

Sphinx Verlag Basel

Aus dem Franzdsischen von Hans Henning Mey

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Vaysse, Jean: Unterwegs zum Selbst: Begegnung mit d. Lehre Gurdjieffs Jean Vaysse. [Aus d. Franz, von Hans Henning Mey]. Basel: Sphinx-Verlag, 1985. Einheitssacht.: Vers 1‘eveil J soi-meme (dt.) ISBN 3-85914-169-4

1985 © Sphinx Verlag Basel Alle deutschen Rechte vorbehalten © 1973 Tchou editeur, Paris Originaltitel: Vers 1’eveil h soi-meme Umschlaggestaltung: Thomas Bertschi lypografie: Stefan Sessler Satz: Uhl + Massopust, Aalen Herstellung: Clausen & Bosse, Leek Printed in Germany ISBN 3-58914-169-4

Inhalt

Einfiihrung Fragen Inneres und ausseres Leben - ein allgemeiner Uberblick Die Bedeutung der Selbsterforschung Die richtige Selbstbeobachtung 27 Einfaches Gesamtbild vom Aufbau des Menschen 51 Bedingungen, Mittel und Bedeutung wirklicher Selbstbeobachtung 41 Die Daseinszustande 57 Zentren und Funktionen 75 Wesen und Persdnlichkeit 115 Erwachen zu sich selbst und Hindernisse zum Erwachen 135 Erste Schritte in der Selbsterforschung: Beruhigung, Entspannung, Selbstempfindung und Selbsterinnerungsversuch 159

Glaube des Bewusstseins ist Freiheit, Glaube des Gefiihls ist Schwache, Glaube des Korpers ist Dummheit. Liebe des Bewusstseins ruft das Gleiche hervor, Liebe des Gefiihls erweckt das Gegenteil, Liebe des Korpers hangt von Typus und Polaritat ab. Hoffnung des Bewusstseins ist Kraft, Hoffnung des Gefiihls ist Sklaverei, Hoffnung des Korpers ist Krankheit.

G. I. Gurdjieff, Beelzebubs Erziihlungen fiir seinen Enkel

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Einfuhrung

.Ui& Ideen, denen wir uns hier zuwenden, stellen nur eine Seite der Lehre dar, die G. I. Gurdjieff zu seinen Lebzeiten vermittelt hatte. Ihren wahren Sinn erhalten sie allein im Rahmen eines grbsseren Zusammenhangs, welcher jedem Menschen, der die Notwendigkeit erkennt, eine Arbeit der inneren Verwandlung gestattet. In erster Linie wurden diese Ideen, zwar in verhtillenden Worten, doch meisterhaft weitgespannt, von Gurdjieff selber in seinen Schriften dargelegt1. Dariiber hinaus fanden sie in P.D. 1 G. I. Gurdjieff, Beelzebubs Erzdhlungenfiir seinen Enkel, Innsbruck 1951; Basel 1981. 2 P. D. Ouspensky, Aufder Suche nach dem Wunderbaren, Innsbruck 1950; Munchen 1978. Siehe auch: P. D. Ouspensky, Vom inneren Wachstum des Menschen. Der Mensch undseine mogliche Evolution, Weilheim/Obb. 1965; Berlin 1981.

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Ouspenskys Auf der Suche nach dem Wunderbaren2 einen bemerkenswert getreuen Widerklang3. Ihre Bedeutung und wirkliche Reichweite zeigte sich freilich mehr in der lebendigen Erfahrung, die Gurdjieff seinen Schiilern vorbehielt, nicht allein durch seine Darlegungen und direkten Antworten auf ihre Fragen oder durch zu ihren Entwicklungsstufen passende Ubungen, sondern mehr noch und vor allem durch Priifungen im Leben, an denen er sie teilhaben liess. Es war das Werk Jeanne von Salzmanns, dass nicht allein dieser schriftliche, sondern vor allem auch der miindliche und praktische Teil der Gurdjieffschen Lehre, der ohne sie sicherlich untergegangen ware, in unverfalschter Form bewahrt und uberliefert wurde. Ihr verdanken wir persbnlich alles, was uns erreichte. Gurdjieffs Ideen, die in unserer Zeit in den Westen gelangten, enthalten wahrscheinlich die tiefe Antwort auf jene Fragen, die angesichts einer ungeheuren materiellen Macht, wie sie dem modernen Menschen zur Verfiigung steht, in ihm aufsteigen und als Fragen die «Entscheidungen» betreffen, zu denen ihn der Gebrauch dieser Macht zwingt. Diese Ideen, die ihrem Gehalt nach mit den traditionellen Aussagen des Grossen Wissens vdllig iibereinstimmen, lassen die tiefe Kluft jah sichtbar werden, die sich zwischen ihnen und unserer gegenwartigen Lebens- und Denkweise aufgetan hat. Wer sich diesen Ideen vorurteilslos zum erstenmal nahert, fiihlt sich von einer unleugbaren Wahrhaftigkeit im Innersten beriihrt, zugleich aber auch zum Zweifeln an den Werten aufgefordert, die er seinem bisherigen Leben zugrunde legte. Wir mochten zu einer solchen ersten und allzu oft schwierigen Begegnung unsern Beitrag leisten, damit diese Ideen besser erfasst werden. Der vorliegende Versuch ist die Ausarbeitung eines einzelnen, mit all den Einschrankungen, die ein solcher Versuch mit sich bringt. Er zielt darauf, die Grundziige dieser neuen «Lehre vom Erwachen»

3 Wer defer in diese Ideen eindringen mbchte, dem ist die Lektiire der beiden Werke Ouspenskys zu empfehlen, auch wenn sie von kaum mehr handeln als den ersten Phasen dieser Lehre. Gurdjieffs Buch vermittelt wohl einen tiefgriindigeren Einblick in die Ideen, ist jedoch auch schwerer zuganglich. 10

in verstandlicher Form darzustellen, so wie wir es bereits in einer Reihe vorbereitender Vortrage versuchten fiir Menschen von unterschiedlicher Bildung, die den Wunsch geaussert hatten, sich auf ein Studium dieser Lehre einzulassen. Aus diesem Grund findet man hier bedeutsame Anleihen bei den Autoren der bereits angefuhrten Werke. Da jeder dieser Vortrage fur sich genommen ein Ganzes bildet, mag diese Form Wiederholungen zur Folge haben, fur die wir um Entschuldigung bitten. Ferner musste, im Hinblick auf die Relativitat der Sprache, die Bedeutung der Wdrter besondere Beachtung finden. Der von Gurdjieff verwendete Wortschatz ist sehr einfach: dennoch ist die Bedeutung einiger Wdrter nicht immer diejenige, die ihnen andere zeitgendssische Sprachsysteme zuweisen. Dariiber hinaus hangt der Sinn mancher Wdrter von der Verstandnisstufe des Lesers ab, und der «wahre» Sinn mag von ihrer gewdhnlichen Bedeutung abweichen. Anfiihrungsstriche bezeichnen jene Wdrter, die auf die eine oder andere Weise Verwirrung verursachen kdnnten. Dass die allgemeine Form dieser Seiten ihre Lektiire nicht leicht macht, ist uns durchaus bewusst, gleichwohl haben uns einige, wie wir meinen, triftige Griinde bewogen, es so zu belassen. Wer davon weiss, wie solche Ideen in Erscheinung treten und sich entwickeln kdnnen, fiir den liegt es auf der Hand, dass eine derartige Kurzfassung eine lange Gemeinschaftsarbeit widerspiegelt, vor der alles Persdnliche nur zuriicktreten kann in dem Bemiihen, dem tiefen Sinn des Gedankens Raum zu geben. Mdge der Leser den Geschmack einer ahnlichen Haitung in sich entdecken und so, bei seiner heutigen Suche nach der unwandelbaren Wahrheit, auf diesen Seiten wirkliche Hilfe finden.

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Fragen

1 Wir sehen, dass im Weltall, in dem wir leben, nichts verlorengeht. Alles kommt irgendwoher und kehrt mehr oder weniger verandert Oder verwandelt irgendwohin zuriick. Nichts von dem, was Form oder Leben angenommen hat, bleibt unveranderlich bestehen, und jede Veranderung dient dem Leben auf die eine oder andere Weise. Der Mensch kann von dieser universalen Regel keine Ausnahme bilden. 1st es mdglich, dass einer, der zu denken vermag, dahinlebt, ohne sich die Frage nach sich selbst zu stellen: und kann ihn als auch des Fiihlens Fahigen eine solche Frage gleichgiiltig lassen?

2 Gestein, Gewachs, Getier, Mensch, jedes dieser Reiche oder jede Gattung des Lebens auf unserem Planeten ist Trager einer besonde-

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ren Eigenart, die fur sie kennzeichnend ist und die sie mit mehr oder weniger zahlreichen Varianten zu entwickeln hat. Vermag der denkfahige Mensch der Frage auszuweichen, was die besondere Eigenart des Menschenlebens ist und was sich nur durch dieses entwickeln lasst? Kann ein Mensch, sofern er diesen Namen verdient, wenn er eines Tages vielleicht zu einer ihm giiltig erscheinenden Antwort kommt, sich fortan mit etwas anderem befassen als dem Versuch, diese Eigenart, die ihn und seine Mitmenschen kennzeichnet, mit alien Mitteln wachsen zu lassen?

3 Wenn einem Menschen aufgegangen ist, dass er den Dingen auf den Grund gehen muss, dass er sich nicht mehr damit begniigen kann, nur so zu leben, wie man es gewohnlich von ihm verlangt, und wenn in ihm die Frage aufsteigt nach dem, was er selbst und was der Sinn seines Lebens ist, kann im Anfang die Weise, wie dieser Mensch sucht und wie er sich diese Frage stellt, recht unterschiedliche Formen annehmen. Aber gibt es in diesem Bereich, jenseits der Teilaspekte, nicht letztlich nur eine Suche: die Suche nach dem, was hinter den Erscheinungen wahr ist; und ist nicht letzten Endes jeder, der sich eine derartige Frage stellt, dem Wesen nach ein Wahrheitssucher?

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Inneres und dusseres Leben ein allgemeiner Uberblick

Zahlreiche Anzeichen, die durch unparteiische Beobachtung schnell zur Gewissheit werden kdnnen, machen uns darauf aufmerksam, dass es in uns zwei Naturen gibt: eine personliche oder individuelle, unseren gewohnlichen Wahrnehmungsweisen relativ zugangliche; sie ist organisch und zugleich psychisch (oder animalisch und seelisch); und eine andere, viel weniger leicht wahrnehmbare, die wir als unsere Teilhabe an etwas Grdsserem als dem Individuum empfinden, so dass wir sie geistig, ja sogar universal nennen; tatsachlich wissen wir nicht recht, wie wir von dieser zweiten Natur sprechen sollen. Die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbringt, ist von Mensch zu Mensch und je nach den Augenblicken des Lebens sehr verschieden; allerdings diirften fast alle anerkennen, dass sie, zumindest in gewissen Momenten, neben ihren egozentrischen und personlichen Bestrebungen dieses Bedurfnis nach dem Unendlichen

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oder «Absoluten» in sich verspiirt haben. Von dem Augenblick an, da sich ein Mensch auf diese Weise sich selbst zuwendet, sich zur Frage wird und zu verstehen versucht, was er ist und auch was er sein kdnnte, von da an leuchtet ihm ein, dass er sich auf zweierlei Weise ausrichten und sozusagen zwei Arten von «Tatigkeiten», zwei Arten von Leben mit unterschiedlichem Sinn haben kann. Die eine ist ganz nach aussen gerichtet und zielt vor allem auf Wirksamkeit, Niitzlichkeit und Leistung des «einzelnen» im Rahmen der Gesellschaft, zu der er gehort. Diese Lebensweise hat sich besonders in der westlichen Zivilisation entwickelt, deren Mitglieder dazu viele Jahre Erziehung, Ausbildung, Lehre, Studium, Spezialisierung, Umschulung usw. durchlaufen; die schliesslich erreichte Leistungsfahigkeit im ausseren Leben ist der Hauptmassstab, nach dem man die «einzelnen» einstuft. Die andere Weise, sich auszurichten, die andere Art von «Tatigkeit», betrifft das innere Leben: sie zielt vor allem auf die «Verwirklichung» der im Einzelmenschen potentiell enthaltenen Mdglichkeiten, auf die Entwicklung der Fahigkeiten und Eigenschaften, die seine menschliche Natur kennzeichnen, und somit auf die Erlangung von (oder die «Ruckkehr» zu) «Lebensebenen» oder «Welten», die sich vom ausseren Leben und der ausseren Tatigkeit her nicht vermuten lassen. Diese der westli­ chen Zivilisation recht wenig bekannte Lebensweise haben vornehmlich gewisse Kreise der orientalischen Zivilisation entwickelt; ihre Entfaltung verlangt von denen, die sich darauf einlassen, noch mehr Zeit und Sorgfalt, methodische Ausbildung, Forschung und Studien als das aussere Leben. Diese beiden Lebensformen mdgen auf den ersten Blick als einander widersprechend erscheinen, und in gewisser Weise sind sie es auch; dennoch liegt klar auf der Hand, dass sie den beiden Naturen des Menschen entsprechen und dass ein vollkommener Mensch zugleich die eine und die andere leben muss: sie liegen in der menschlichen Verfassung begriindet, der damit ein standiger Widerspruch anhaftet. Diejenigen grossen Lehren und traditionellen Wege, die ihre Vollstandigkeit bewahrt und nicht die eine oder die andere Seite des Menschen vergessen haben, sagen, alle auf ihre Weise, dass diese zwei Naturen ein Zeichen sind fur die Zugehdrigkeit des Menschen zu zwei grossen, gleich wichtigen Strdmen, die das Weltall durchziehen und im Gleichgewicht halten. Der eine ist der Schopfungsstrom,

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der, aus der Ursprungsebene hervorgegangen, in die mannigfaltigen Formen der Erscheinungswelt eingeht und somit ein involutiver, absteigender Strom ist; den anderen kann man als den Strom der «Vergeistigung» bezeichnen, denn er kehrt, ausgehend von den Erscheinungsformen, zur Ursprungsebene zuriick (er kehrt zu «Gott» zuriick) und ist darum ein Evolutions-, ein aufsteigender Strom. Der Mensch gehdrt durch seine doppelte Natur und die zwei Seiten seines Lebens zum einen und zum anderen (er hat die «Fiisse auf der Erde und den Kopf im Himmel»), und er stellt eine Briicke dar, eine Austauschstufe, einen «Vermittler» zwischen diesen beiden Strbmen. Vielleicht zeigt gerade diese «Vermittlung» - die notwendig ist, damit sich der Mensch nicht in den einen oder den anderen Strom verliert - seine tatsachliche Leistung an und verleiht ihm zugleich einen dritten Aspekt. Was uns, so wie die Dinge liegen, im Augenblick angeht, wo wir uns ausschliesslich oder fast ausschliesslich im ausseren Leben bewegen, so kennen wir - oder kennen vermeintlich - eine dieser beiden Naturen, die, nach der wir alltaglich leben: unsere gewdhnliche Natur. Das Leben beansprucht diese Natur unaufhorlich, und unaufhorlich entspricht sie ihm. Von ihr verdeckt, gerat die andere Natur immer mehr in Vergessenheit: anfangs verborgen und gedampft lebend, taucht sie dann spater im Unbewussten unter, versinkt darin und geht schliesslich ganz verloren. Solange sie noch nicht allzu verschiittet ist, steigt sie von Zeit zu Zeit in lichten Augenblicken auf, wo sie sich uns (zumeist in schwierigen Momenten) pldtzlich aufdrangt, ohne dass wir wissen, woher sie kommt. Diese Augenblicke haben, verglichen mit dem, was wir gewohnlich sind, solchen Glanz, dass sie uns nicht mehr zur Ruhe kommen lassen; so bleibt ein Nachgeschmack unserer Unzulanglichkeit zuriick sowie das mehr oder weniger schlechte Gewissen, gefiihlt zu haben, dass wir nicht sind, was wir sein sollten. Doch fiirs Leben brauchen wir solche Augenblicke keineswegs, und falls wir wieder unsere Ruhe haben wollen, liegt es nur an uns, dass wir diese Augenblicke vergessen: auf solches Vergessen verzichten wir um so weniger, als im gewdhnlichen Leben alles um uns herum dazu angetan ist, uns dabei zu helfen. Sofern jedoch ein Mensch eines Tages ganz er selbst sein will, ist die Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichts zwischen seinen zwei Naturen und seinen beiden Lebensformen durchaus die erste, unerlassliche Arbeit. Deshalb richtet sich all das, womit wir uns in der 17

Folge befassen werden, an jene, die diesen besonderen Augenblikken Beachtung schenken und - in dem Wunsch, sich fiber deren Bedeutung Klarheit zu verschaffen - es hinnehmen, dass sie selbst nicht mehr so unbehelligt bleiben. Innere Weiterentwicklung und die Arbeit, die dafiir erforderlich ist, lassen sich nur dann durchfiihren, wenn sie wahrhaft in dem Wissen urn unsere Unzulanglichkeit und Fehler (- Gurdjieff sagte: unsere Nichtigkeit -) griinden sowie in dem Unbehagen, das sich daraus ergibt und das verbunden ist mit dem erneuten Aufsteigen jener wahrend unserer Ausbildung vernachlassigten oder vergessenen zweiten Natur, samt den inneren Widerspruchen und Konflikten, die dieses Wiederaufsteigen hervorruft. Nichts ist umsonst zu haben: dieses unvermeidliche Unbehagen hinzunehmen, ist der erste Tribut, den der entrichten muss, der sich auf die Suche nach sich selbst begibt. Vielleicht lauft man bei solcher Suche Gefahr zu schwanken zwischen dummer Gliickseligkeit (die eine vorsatzliche Nichtbeachtung des Unbehagens ware) und einem gewissen Masochismus (was doch hiesse, diesem Unbehagen eine iibertriebene Stellung einzuraumen; haben es nicht einige metaphysische Angst genannt?). Die einzig richtige - wenn auch schwierige - Haltung ist das rechte Mass: die voile Anerkennung unseres Unbehagens und inneren Zwiespalts, in der Hoffnung, sie aufzuldsen. Solche Hoffnung, solches Unterfangen ist selbstverstandlich nur dann vorstellbar, wenn wir die vorhandenen Gegebenheiten kennen. Deshalb erscheint die Frage, was wir in unserer einen und unserer anderen Natur sowie in all dem, was dazu gehort, in Wirklichkeit sind, als das Wesentlichste. Wer eines Tages ganz er selbst sein will, fur den ist die Suche nach der Wahrheit fiber das, was er ist, eine zwingende Notwendigkeit: fiihrt sie doch zu jener Selbsterkenntnis, der das Bestreben aller traditionellen Schulen gilt. Diese Erkenntnis lasst sich iibrigens nicht auf einen selbst beschranken: wie sollte der einzelne in seiner vollen Bedeutung erfasst werden, wenn er nicht wieder in seine allgemeine Umwelt hineingestellt wiirde? Der Mensch nimmt am gesamten Leben auf der Erde teil; er ist ein Element desselben, vielleicht das wichtigste, und das Erforschen der Bedeutung dieses Lebens ist nicht zu trennen von der Selbsterforschung. Doch das ist nicht alles, denn das Leben auf der Erde, an dem der Mensch teilhat, ist selber nur eine Ebene, eine Stufe mit einer bestimmten Stellung und Rolle beim Energieaus-

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tausch innerhalb des Sonnensystems, zu dem die Erde gehort. Dieses Sonnensystem wiederum ist auch nur ein Element unter anderen, und letztlich erweist sich die Erforschung des Menschen - die Selbsterforschung -, soil sie vollstandig sein, als untrennbar verbunden mit einer allgemeinen kosmischen Sicht. Der Mensch ist ein so vielschichtiges Wesen, dass er sich auf recht unterschiedliche Weisen betrachten lasst, die seinen Aufbau und die Beziehungen zwischen seinen verschiedenen Teilen mehr oder weniger gut darstellen. Die vollstandigste und fiir die von uns beabsichtigte Suche vorteilhafteste Betrachtungsweise geht davon aus, dass zu seinem organischen Leib, der als einziger ohne weiteres unmittelbar zuganglich ist, eine Gruppe verschiedener organischer und «psychologischer» Funktionen gehort, welche selber von Zentren gelenkt werden, die der fundamentalen Lebenskraft die spezifische, fiir jede Funktion charakteristische Form verleihen. Der Mensch besteht aus einer Reihe individueller Eigenschaften; die einen sind schon bei der Geburt vorhanden: sie machen die anfangliche Grundveranlagung jedes Menschen aus und kdnnen darum sein Wesen genannt werden; die anderen sind eine Ansammlung erworbener, im Laufe der Entwicklung und des Lebens von der Umwelt dariibergelegter Merkmale: sie kdnnen wegen dieses Zusatzcharakters (vergleichbar mit einer Schauspielmaske: persona) seine Persdnlichkeit heissen. Diese Persdnlichkeit, die Form, nach der sich ihre verschiedenen Elemente gruppieren, entsteht in jedem Menschen um eine kleine Zahl (zwei oder drei) oder sogar nur um einen einzigen Grundzug, der als Eigenart des Wesens allem, was sich im Menschen festsetzt, ein besonderes Aussehen gibt; dariiber hinaus gestaltet sich bei jedem Menschen die Persdnlichkeit auf unterschied­ liche, mehr oder weniger formelhafte Weise je nach den typischen Situationen, deren Bewaltigung die Umwelt gewdhnlich von ihm verlangt. Daher erwirbt ein und derselbe Mensch im Laufe seines Lebens vielfaltige persdnliche Erscheinungsformen, vielfaltige Rollen, vielfaltige «Ichs» (denn jedes sagt, wenn es erscheint, auf eigene Rechnung, unabhangig von den anderen, «ich»). Der Mensch nimmt ausser an diesem organischen Leben an anderen, weniger unmittelbar zuganglichen Lebensebenen teil: an einem «psychischen» oder vielmehr seelischen Leben, natiirlich an einem geistigen Leben, vielleicht noch an anderen, die alle in ihm ihren Trager, ihre Fahigkeiten und Funktionen haben. Der Mensch

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bewegt sich iiberdies in verschiedenen Zustanden: dem Schlaf, dem Traum, dem Wachzustand und hin und wieder in «Augenblicken einer grosseren Offnung» gegen das Leben: Augenblicken des Erwachens zur Schdnheit, zur Harmonie, zum Bediirfnis nach Unendlichkeit, die tatsachlich, ohne dass er es weiss, Augenblicke des Erwachens zu seinem inneren Wesen sind. Der Mensch sieht, wie in ihm diese verschiedenen Zustande nach einer recht launenhaften Art, die ihm haufig entgeht, aufeinanderfolgen. In diesem Ganzen bilden sich Gefiige heraus: so haben wir von uns und der Welt, in der wir leben, unsere eigenen Ideen und Vorstellungen; wir haben Feingefiihl, Wiinsche, Erregbarkeit, die unserem Leben einen ihm eigentumlichen Stil verleihen; wir haben im ausseren wie auch im inneren Leben besondere Verhaltensweisen. Doch das wahrscheinlich wichtigste, wenn auch zugleich das am wenigsten offenkundige Kennzeichen (- muss man es nicht suchen, um es zu entdecken? -) ist die phantastische Mechanitat dieser Gesamtheit. Durch eine Anhaufung von Gewohnheiten, automatischen Reaktionen und im Laufe des Lebens durch Wiederholung entstandenen Konditionierungen erhalt sich dieses Ganze, das wir sind, von selbst und schliesst sich bald in Begrenzungen ein, aus denen es nicht mehr heraustritt. Gleichwohl ahnen wir in gewissen Augenblicken, dass uns anderes moglich ist: unbeschreibliche innere Freiheit, harmonische Einheit und die Teilhabe am Leben einer «besseren Welt». Einfliisse, die uns bisweilen als «von woandersher gekommen» erscheinen, beriihren uns sogar im alltaglichen Leben und beleben diese Ahnung neu: so etwa einige Mythen, gewisse Kunstformen, die Uberlieferungen und Religionen. Und in der Tat verschaffen uns diese Einfliisse einen Augenblick der inneren Offnung, d. h. die Gelegenheit zu einem Moment des Erwachens, und sofern wir dabei aufmerksam sind, konnen wir erkennen, dass etwas in uns darauf antwortet: ein religidses Gefiihl oder ein innerer «geistiger» Sinn, von dem wir spiiren, dass er unserhebt. So kann sich in einigen eine besondere, fast magnetische Empfindsamkeit und Anziehung entwickeln fiir alles, was uns in diesem Sinn zu orientieren vermag. Immer klarer steigt die Frage auf: Ware es nicht moglich, seinem Leben eine andere Qualitat zu geben als die, welche wir gewohnlich an ihm feststellen: jene Qualitat, die wir nur in Augenblicken des «Erwachens» fliichtig gewahren? Schriften und Bucher berichten uns davon. Sie sprechen von einem - dem Menschen mdglichen - inneren Leben und einer 20

Umwandlung, die zu einer «Realisation», einem «Innewerden», fiihrt, dessen Benennung fe nach den Wegen verschieden ist; sie sprechen von hdheren Kdrpern, die ein eigenes Leben, eigene Fahigkeiten und ein eigenes Werden haben; sie sprechen von dem wirklichen oder unwirklichen Ich, seiner Entwicklung, seiner Ubersteigung: alles gabe es in den Biichern, waren wir nur in der Lage, sie zu verstehen. Doch all diese angesammelten Kenntnisse, diese Erfahrungen und die Schlussfolgerungen daraus gehdren anderen Menschen: uns bleibt das alles theoretisch. Vielleicht glauben wir daran, sofern es unserer Erfahrung und den allgemein anerkannten Vorstellungen nicht zuwiderlauft; aber in Wirklichkeit vermdgen uns die Schlussfolgerungen anderer so lange nicht wahrhaft zu iiberzeugen, wie wir sie nicht selbst nachvollzogen haben. Bucher kdnnen uns zwar helfen, unseren Erfahrungen eine Richtung zu geben, doch sind wir immer nur dessen sicher, was wir uberpriift und erlebt haben: Bei der Frage nach einer moglichen Weiterentwicklung kann fiir uns eine Antwort, zu der wir Vertrauen hatten, nur aus einer persdnlich erlebten Erfahrung kommen. Am Anfang haben wir freilich nicht viel, was uns zu einem solchem Versuch drangt; das aussere Leben nimmt uns vdllig in Anspruch, und alles, was diese Erfahrung erfordert, muss dem Leben abgewonnen werden. Wenn wir es dennoch wissen wollen, so besteht das einzige Mittel darin, es mit dem, was wir haben, trotzdem zu versuchen. Wovon gehen wir aus? Einfach von der grundlegenden Frage nach uns selbst, von dem Bediirfnis nach einer Antwort, von der Ahnung, dass diese Antwort existiert, und von der Gewissheit, dass wir, sofern wir in diese Richtung gehen wollen, unserem alltaglichen Leben die fur solche Suche notwendige Kraft und Zeit abtrotzen miissen. Eine gewaltige Aufgabe, von der wir nichts wissen und bei der wir durchaus sehen, dass wir, wollten wir allein aufs Geratewohl aufbrechen, wahrscheinlich in die Irre gehen, ermiiden oder scheitern wurden. Aber vielleicht kdnnen wir bei dieser Bemiihung um Erkenntnis und Klarheit uber das, was wir sind, wie bei alien grossen menschlichen Unternehmungen, andere Menschen finden, die zu der gleichen Suche bereit sind: und vielleicht kdnnen wir, wenn wir uns allein oder zusammen mit ihnen einer anderen Lebensebene zuwenden, hoffen, dass die auf jener anderen Ebene waltenden Krafte ihrerseits unser bediirfen und uns daher die notwendige Hilfe zukommen lassen.

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Dergleichen waren sicherlich die Griinde fur die Existenz von Schulen und Wegen. Bei den Schulen kann man verschiedene Arten unterscheiden, je nachdem ob sie zu einem Nachahmungsweg, zu einem Offenbarungsweg oder zu einem Weg des Verstehens gehdren, und jeder dieser Wege stiitzt sich vornehmlich, ja sogar ausschliesslich, auf bestimmte Mdglichkeiten des Menschen. So gibt es drei Hauptarten: die Wege der Kdrperbeherrschung (die des Fakirs), die Wege der Gefiihlsbeherrschung (die des Mdnches) und die Wege der Verstandesbeherrschung (die des Yogis). Alle diese Wege verlangen vom Menschen umgehend, dass er sich vom alltaglichen Leben zuriickzieht und sich dem gewahlten Weg verschreibt. Aber ist es in der heutigen Weltlage iiberhaupt moglich, sich dem Alltag so zu entziehen? Lasst die Gegenwart es noch zu, dass sich ein Mensch auf die Entwicklung nur einer Seite in sich beschrankt und auf die Mdglichkeit einer harmonischen und vollstandigen Entfaltung verzichtet, die als Mdglichkeit zum ganzen Menschen gehdrt? Oder - wenn man weiss, dass die Arbeit, die Anstrengung und die Opfer alles in allem ebenso gross oder womdglich sogar noch grosser sein werden als auf den anderen Wegen - ist im heutigen Leben eine wirkliche Arbeit an sich selbst und eine umfassende Entwicklung des Menschen nicht moglich? War sie nicht zu alien Zeiten auf verborgenen Wegen moglich? Und ist sie nicht fur die Welt, in der wir leben, zu einer zwingenden Notwendigkeit geworden? Diese Frage, bei der jede theoretische Antwort sich als unbefriedigend erweist,.bleibt offen.

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Die Bedeutung der Selbsterforschung

F F enn wir uns unter dem Einfluss von Erschiitterungen des Lebens oder in besonders giinstigen Augenblicken die Frage nach uns selbst stellen und nach dem, was wir sind, erhebt sich zugleich die weitere Frage, ob es, statt eines mehr oder weniger vollstandigen Sichauslieferns an die Geschehnisse und an eine Entwicklung, die sich uns vollig entzieht, ob es darin nicht etwas gebe, was von uns abhangt und sich von uns beeinflussen lasst. Einem Menschen, der ganz er selbst sein will, wird so klar, dass ihn eine solche Frage nicht mehr vollig in Ruhe lasst und dass fiir ihn die erste Notwendigkeit - genauso notwendig wie die Sorge um den Lebensunterhalt - darin bestehen sollte, herauszubekommen, ob und auf welche Weise ihm etwas in diesem Sinne tatsachlich moglich ist. Die Antwort konnen wir ausserhalb von uns suchen in Biichern,

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philosophischen Systemen und Doktrinen, in dem, was die Religionen sagen; und eine gewisse Zeit lang mdgen uns diese Antworten zufriedenstellen: wir kdnnen uns so lange mit ihnen begniigen, wie das Leben sie nicht ernstlich in Frage stellt. Der festeste, religiose Glaube an eine geoffenbarte Wahrheit gerat, vom Leben auf die Probe gestellt, letztlich ins Wanken, sofern er nicht in gelebten Erfahrungen Riickhalt und Bestatigung findet; und wir sind zudem so beschaffen, dass wir nur das fest und dauerhaft glauben, was wir selbst erlebt und selbst in uns iiberpruft haben. Wenn wir uns die Frage nach uns selbst und nach unserer mdglichen Weiterentwicklung eindringlich stellen, so miissen wir die Antwort zu guter Letzt von uns aus und in uns finden. Und wenn wir nach der Bedeutung der Welt, die uns umgibt, fragen, dann kann eine Antwort, die wir als die unsere anerkennen und zu der wir Vertrauen haben, auch wieder nur in uns und durch uns erfolgen. Darum bildete seit eh und je die Selbsterkenntnis Grundlage und Ausgangspunkt fiir viele Lehren und Schulen. Nicht etwa eine ausserliche, analytische Erkenntnis, wie es die moderne westliche Wissenschaft lange Zeit forderte, wobei sie alien inneren Fragen auswich oder den Versuch unternahm, diese rein materialistisch zu erklaren, sondern eine innere Selbsterkenntnis, bei der man jedes Einzelteil, jeden Aufbau, jede Funktion, deren Beziehungen und die sie lenkenden Gesetze, will man sie vor Entstellungen schiitzen, nicht nur von aussen betrachten darf, sondern in der Gesamtheit, zu der sie gehdren, erleben muss und sie nur «in ihrem Zusammenwirken» wirklich erkennen kann. Dies ist eine ganz andere Haltung als die, woran uns die moderne Wissenschaft gewdhnt hat, und die eine schliesst die andere nicht aus. Hinsichtlich unserer Mdglichkeit zu innerer Weiter­ entwicklung muss uns allerdings eines klar sein: es handelt sich nicht um «intellektuelle Erkenntnis»: sie ware genaugenommen blosse Kenntnis. Auch wenn solche Kenntnis notig ist, bleibt sie fiir unsere Suche unzureichend, denn bei dieser Suche ist die Selbsterkenntnis, die wir brauchen, vor allem bewusst erlebte innere Erfahrung dessen, was wir sind, mit all den Eindriicken von uns, die sie mit sich bringt. Der Mensch vermag eine derartige Erkenntnis nur um den Preis langer Arbeit und geduldiger Anstrengungen zu erreichen. Selbster­ kenntnis ist als Vollbringung untrennbar mit dem Grossen Wissen, dem objektiven Wissen verbunden. Sie umfasst mehrere Phasen, von denen die anfanglichen auf den ersten Blick einfach anmuten mdgen; 24

doch selbst dem, der die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis begreift, erscheint diese bald als eine gewaltige Unternehmung und ein nahezu unerreichbares Ziel: ihm enthiillt sich nach und nach eine Vielschichtigkeit, die er nicht vermutete. Es zeigt sich alsbald, dass die Erforschung des Menschen nur dann einen Sinn hat, wenn sie in den Lebens- und in den Weltzusammenhang gestellt ist, innerhalb dessen er existiert: sie ist nicht zu trennen von der lebendigen Erforschung des Kosmos. Deshalb treten fortwahrend Hindernisse auf bei diesem Versuch, der, auch wenn er vielleicht eindeutig erscheinen mag, letztlich in Horizonte einmiindet, die der Mensch zu Beginn nicht einmal ahnte. Damit der Mensch in der Selbsterforschung Aussicht hat auf Erfolg und nicht auf Abwege gerat oder in die Irre geht, braucht er einen Fuhrer: hier wie auch anderswo gilt es, von Wissenden zu lernen und die Fiihrung derer anzunehmen, die den Weg bereits gegangen sind. Selbsterkenntnis verlangt eine Schule; sie lasst sich nicht Biichern entnehmen, denn diese kdnnen nur theoretische Angaben und Kenntnisse liefern, an denen die gesamte eigentliche Arbeit noch zu verrichten ist, namlich: die Kenntnisse in Verstandnis zu verwandeln und das Verstandnis in Wissen. Das einzige, was von dem, der sich auf solche Suche einlasst, im Anfang verlangt werden kann, ist die Einsicht, dass er unter alien Umstanden unermiidlich auf diesem Weg voranschreiten und begreifen muss, dass allein richtig geleitete Selbsterforschung zu Selbster­ kenntnis und zum Grossen Wissen zu fuhren vermag.

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Die richtige Selbstbeobachtung

J^er erste Abschnitt eines Studiums, das zur Selbsterkenntnis fiihren soil, ist die Selbstbeobachtung. Sie muss freilich auf eine diesem Ziel gemasse Weise vollzogen werden. In diesem Sinne ist die gewdhnliche Selbstbeobachtung, wie die Leute sie das ganze Leben hindurch betreiben, fast vollig vergeblich und bringt, entgegen dem ausseren Schein, nichts Brauchbares fiir die Selbsterkenntnis, deren wir bediirfen: d.h. eine erprobte und erlebte Selbsterkenntnis. Nun gibt es zwei Selbstbeobachtungsmethoden: die Analyse und die Feststellung. Das iibliche Verfahren ist das der Selbstanalyse oder Introspektion; es ist dasjenige, welches die modernen Untersuchungen im allgemeinen angewandt haben und aus dem sie sich neuerdings zu befreien versuchen. Bei diesem Verfahren wird jede beobachtete

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Erscheinung fiir sich genommen und einer intellektuellen Analyse unterzogen, in Form von Fragen nach den Ursachen, Beziehungen und Folgen dieser Erscheinung: Woven hangt eine derartige Sache ab, warum tritt sie ein? Warum ereignet sie sich so und nicht anders? Der beobachtete Tatbestand bildet den Schwerpunkt der Untersuchung, und die anderen Elemente sind in bezug auf ihn und nicht in bezug auf den gesamten Menschen zusammengestellt. Der Mensch riickt an die zweite Stelle, wenn man ihn nicht sogar ganz aus den Augen verliert. Nun hat aber die Analyse einer von der Ganzheit und den allgemeinen Gesetzen abgetrennten Erscheinung keinen Sinn und bedeutet nur Zeitverlust. Mehr noch, wer sich auf diese Weise beobachtet, beginnt nach Antworten auf seine Feststellung zu suchen, er interessiert sich fiir die Antworten und deren Folgen, und bald sieht er nicht mehr, dass seine Aufgabe zunachst Selbstbeobachtung ist, und nicht Deutung, fur die er noch keineswegs iiber die erforderliche Materialmenge verfiigt. So entfaltet sich urn eine in den Hintergrund gedrangte, ja sogar vergessene Beobachtung eine umfangreiche intellektuelle Tatigkeit; und jemand, der sich auf diese Weise analysiert, kommt in der Selbsterkenntnis nicht nur nicht voran, sondern fordert in sich auch Vorstellungen oder Einbildungen iiber sich selbst, von denen einige zum schlimmsten Hindernis auf dem Weg zu dieser Erkenntnis werden, und er entfernt sich von dem, was er suchte. Eine andere unheilvolle Wirkung dieses analytischen Verfahrens ist die, dass die Funktionen des sich so beobachtenden Men­ schen voneinander getrennt werden: die vorherrschende unter seinen Funktionen (fast immer der Verstand) distanziert sich von alien anderen, um sie auf seine Weise zu betrachten, ihnen auf seine Weise zu folgen und sie haufig so zu beurteilen, wie er es versteht. Solche Haltung vergrossert nur das Ubergewicht der einen Funktion iiber eine andere, anstatt sie miteinander ins Gleichgewicht zu bringen: die innere Trennung und der jedem Menschen innewohnende Widerstreit verscharfen sich so unmittelbar. Das analytische Verfahren mag sich viel spater als zweckmassig erweisen, etwa um einen besonderen Punkt zu vertiefen, wenn man eine hinreichende Kenntnis der Gesamtheit erlangt hat, in die er gehdrt, und zwar ohne dass man dabei die Gesamtheit ausser acht lasst. Damit jedoch Selbstbeobachtung zu Selbsterkenntnis fiihrt und eine harmonische Weiterentwicklung ermoglicht wird, darf die

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Selbstbeobachtung zu Beginn unter keinen Umstanden Analyse oder Analyseversuch sein. Anfangs kann allein das feststellende Verfahren zu dem Ziel fiihren, das wir im Auge haben .Denn fiir die Selbsterkenntnis ist eine Beobachtung nur dann von wirklichem Wert, wenn sie in ihrem Bezug zum gesamten Aufbau des Sichbeobachtenden betrachtet und in Beziehung gebracht wird zu alien Elementen und Gesetzen, die diesen Aufbau ausmachen, und zwar nicht allein den Aufbau, wie er gegenwartig ist, sondern auch in dem, was ihm zu werden bestimmt ist: d. h. in der Bewegung und im Leben des Ganzen. Wahrend dieser «Feststellungen» darf zu keinem Zeitpunkt die Gesamtheit ausser acht gelassen werden; sie allein zahlt, und bei ihr muss der Schwerpunkt liegen. Daher miissen alle Ergebnisse oder friiheren Erfahrungen der Selbstbeobachtung unberiicksichtigt bleiben. Das heisst nicht, dass man solche Resultate systematisch verwerfen soil, kbnnen wir doch ohne sie nicht weiterleben; und moglicherweise gibt es in ihnen hdchst wertvolle Elemente. Doch all dieses Material wurde im Hinblick auf andersartige oder unvollstandige oder falsche Einteilungen und Vorstellungen vom Menschen gesammelt, so dass es der Arbeit, die wir in Angriff nehmen, in dieser Form nicht niitzen kann; was es an Brauchbarem enthalt, wird zu gegebener Zeit wieder aufgegriffen und an den ihm zukommenden Platz gestellt. Wirkliche Beobachtung zum Zwecke der Selbsterkenntnis ist nur mdglich, wenn zunachst bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Damit die Beobachtung ohne zerstorerische Wirkungen beginnen kann, miissen zuerst einige Informationen gegeben werden - als Riistzeug, das in diesem Stadium unvermeidlich intellektuell bleibt. Die erste Arbeit desjenigen, der sich wirklich beobachten will, besteht darin, diese Informationen mbglichst schnell anhand eigener Erfahrungen zu iiberpriifen und nichts als wahr anzunehmen, was er nicht selber beglaubigen kann. Diese notwendigen Informationen betreffen den Aufbau des Menschen, seine Funktionsweise und die unmittelbarsten seiner moglichen Verwandlungen. Sie miissen in einer hinreichend vollstandigen Form erteilt werden, damit sie spater der wirklichen Selbster­ kenntnis als Rahmen und Grundriss dienen. Gleichzeitig mit dieser Vorarbeit der Informationsiiberpriifung 29

kann man die Selbsterforschung beginnen, und zwar damit, dass man anfangt, sich anhand einfacher Feststellungen zu beobachten, ohne etwas zu beurteilen und zu verandern, so als ob man sich iiberhaupt nicht kennen wiirde, als wenn man sich noch nie beobachtet hatte, wobei man nur zu bestimmen versucht, zu welchem Zentrum oder zu welcher Gruppe von Zentren die beobachteten Erscheinungen gehbren, mit welchen Funktionen sie zusammenhangen und mit welcher Ebene dieser Funktionen. Schon bei den ersten Schritten wird offenkundig, dass die Hindernisse betrachtlich sind und dass es keine Hoffnung gibt, sie eines Tages zu uberwinden, sofern sie nicht zunachst, so wie sie sind, erkannt und gesehen werden. Auch ist deutlich, dass fur solche Arbeit Kraft, Zeit und besondere Umstande unerlasslich sind: wie sollen wir sie finden, wenn wir nicht zunachst untersuchen, auf welche Krafte in uns oder in unserer Umgebung wir uns verlassen kdnnen und wie wir iiber die ndtige Zeit und die notwendigen Bedingungen verfiigen kdnnen. Es ist praktisch ausgeschlossen, dass ein einzelner, wie gut seine Absichten anfangs auch sein mdgen, mit so vielen verschiedenartigen Schwierigkeiten allein fertig wird. Er braucht schleunigst zwei Arten von Hilfe. Zum einen braucht er innere Hilfe, die ihm die Selbstbeobachtung zu geben vermag: sie zeigt alsbald, ausser den Feststellungen iiber das, woraus wir bestehen, dass ein erheblicher Teil dieser Gesamtheit verkehrt funktioniert und den ganzen Platz nur fur sich beansprucht. Wer ganz er selbst zu sein versucht, bei dem lasst diese Einsicht in seine Lage den Wunsch nach gewissen Veranderungen und nach einer Verwandlung aufkommen. Diese Einsicht und der Wunsch, den sie erweckt, ist die grundlegende Kraft, von der die gesamte spatere Arbeit zehrt. Doch diese innere Hilfe, dieser Verbiindete in ihm, reicht nicht aus: der Mensch kann entgegen dem, was er gemeinhin glaubt, allein weder wissen, was es zu verandern, noch wie es dies zu verandern gilt. Er braucht schleunigst aussere Hilfe, und er muss mdglichst schnell eine Schule finden, in der die - ihm unbekannten - Bedingungen gegeben sind, damit die Verwandlung, nach der er sich sehnt, weitergehen kann. Eine Schule zu finden wird fur den, der sich seiner Lage bewusst geworden ist, zur zwingenden Notwendigkeit. 30

Einfaches Gesamtbild vom Aufbau des Menschen

amit eine wirkliche Selbstbeobachtung einsetzen kann und noch ehe sie zuverlassige Feststellungen gestattet, ist eine Vorstufe notwendig. Denn eine brauchbare Beobachtung ist nur insofern mdglich, als wir im vorhinein gewisse Informationen erhalten haben iiber das, was wir sind, und iiber die Perspektiven, die im menschlichen Leben angelegt sind. Solche Informationen bekommen fiir uns allein dann wirklichen Wert, wenn wir sie anschliessend selber Schritt fiir Schritt uberprufen kdnnen und so zu einem hinreichend klaren Gesamtiiberblick gelangen und zugleich zu hinlanglich erprobter praktischer Erfahrung, urn unsere spateren Beobachtungen in einen fest gegriindeten Gesamtrahmen einzufiigen, ohne deswegen die verschiedenen Anregungen, die uns das Leben gibt, zu verwerfen, doch auch ohne leichtglaubig auf sie hereinzufalien und ohne uns dutch sie unndtig ablenken zu lassen. Daher gilt es, diese Informatio

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nen spater eine nach der anderen in Frage zu stellen; da aber das Leben kurz ist angesichts der Lange des Weges, sollten uns, wenn moglich, die gleich zu Beginn mitgeteilten Ubersichten wahrend unseres gesamten Unternehmens von Nutzen sein. Diese Informationen betreffen den ganzen Menschen: seine Kdrperbeschaffenheit, die verschiedenen Funktionen, die ihm mdglich sind (das heisst die verschiedenen Erscheinungsformen, welche die ihm zur Verfiigung stehende Lebenskraft annehmen kann), die Beziehungen zwischen diesen Funktionen, die Zustande oder Stufen, auf denen diese Funktionen wirken, die Haupteigenschaften als Kennzeichen jedes individuellen Lebens, gewisse Seiten dieser Eigenschaften, die typisch sind fur die Stufen, auf denen der Mensch lebt oder leben kann, und die unmittelbarsten Ausblicke auf die verschiedenen Moglichkeiten seines Werdens oder seiner Verwandlung.

Im Hinblick auf den Menschen wurden von verschiedenen Systemen oder Philosophien zahlreiche Betrachtungsweisen vorgeschlagen. Die meisten haben Lucken und vertreten besondere Standpunkte und Auslegungen, die sie um jegliche Objektivitat bringen und zugleich fiir die Suche, die wir beginnen wollen, unbrauchbar machen. Ein sehr altes Wissen, auf das sich Gurdjieff beruft, vertritt die Anschauung, unser alltagliches Leben werde von fiinf Funktionen sichergestellt, die je ein «Zentrum» oder «Gehirn» haben, worin die Lebenskraft eine fur das jeweilige Zentrum geeignete Form annimmt und das die Verwendung der so spezialisierten Kraft im Leben lenkt. Vier dieser Funktionen sind verhaltnismassig unabhangig und dienen der Erhaltung unseres gewdhnlichen Lebens: - das intellektuelle Vermdgen, zu dem alle verstandesmassigen Tatigkeiten gehdren: Begriffsbildung, Denken und eine gewisse Form des Gedachtnisses, diejenige, die wir am besten kennen. Dieses Vermdgen erlaubt uns im allgemeinen zu vergleichen, zu urteilen, zusammenzustellen, einzuordnen und vorauszusehen; - das affektive Vermdgen, zu dem alle Gefiihle und Empfindungen gehdren. Es gestattet uns im allgemeinen, alles im Verhaltnis zu uns zu bewerten und abzuschatzen: d. h. im Bezug zu dem, was wir von uns wahrnehmen und kennen;

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- das motorische Vermdgen, zu dem alles das gehdrt, was Form oder Stiitze des Organismus und was Bewegung ist. Es erlaubt uns im allgemeinen unsern Kdrper zu spiiren und es ermdglicht diesem, die Aufgaben zu vollbringen, vor die er sich gestellt sieht. - das instinktive Vermdgen, zu dem all das gehdrt, wodurch unser organisches Leben automatisch reguliert und erhalten wird. Es ermdglicht gemeinhin, dass wir die Bediirfnisse des Lebens instinktiv wahrnehmen. Ubrigens ist am Anfang die Unterscheidung zwischen instinktiver und motorischer Funktion nicht unbedingt notwendig, und man kommt dem eigenen gewdhnlichen Aufbau hinreichend nahe, wenn man sich vorstellt, er bestehe aus drei Teilen oder drei Stockwerken: dem intellektuellen, dem affektiven und dem instinktiv-motorischen. Die fiinfte Funktion ist die sexuelle, die sich von den anderen insofern unterscheidet, als sie sich zwar auf jene stiitzt, an ihnen teilhat, aus ihnen hervorgeht, gleichwohl aber iiber sie hinausgeht, da sie mit der ihr eigentiimlichen Polaritat auf alien Stufen Trager des Schdpferischen im Menschen ist. Als Folge der Erziehung, die wir erhalten haben, betrachten wir diese Funktion gewdhnlich allein unter ihrem organischen Aspekt. Selbst hierbei bemerken wir schnell, dass sie sich nicht abgesondert erforschen lasst: da sie sich auf die anderen Funktionen stiitzt, ist zuvor deren Erforschung notwen­ dig; und mi thin ist die gesamte Ebene des organischen Lebens betroffen. Die geschlechtliche Polaritat und ihre Funktion gehen freilich den ganzen Menschen an, und wenn in ihm andere Lebensebenen bestehen als die organische, dann nehmen diese gleichfalls an ihr teil, so dass eine Erforschung der sexuellen Funktion einzig auf der Ebene des organischen Lebens nur einen partiellen und unzulanglichen Einblick vermittelt; eine harmonische Erforschung ist nur moglich, wenn die hoheren Ebenen des Menschen hinreichend bekannt sind. In der Tat bestatigen in unterschiedlicher (und bisweilen verhiillter) Form alle Lehren iibereinstimmend, dass der Mensch die Mbglichkeit zu zwei weiteren Lebensstufen hat, und das alte Wissen prazisiert dariiber hinaus, dass es im Menschen zwei andere Zentren gibt, zwei hbhere Zentren, deren Arbeit kennzeichnend ist fiir diese Ebenen; allerdings bleiben diese Zentren zumeist verborgen, und der Mensch hat, es sei denn durch eine besondere Arbeit, nur eine blitzartige Beziehung zu ihnen oder iiberhaupt keine. Es sind dies: 33

das hohere Gefiihlszentrum, zu dem nur die echten Gefiihlsempfindungen gehdren, und das hohere Denkzentrum, in dem eine objektive Form des Denkens waltet, von der der gewohnliche Mensch nicht einmal eine Vorstellung hat.

Das gleiche altiiberlieferte Wissen, zu dem uns Gurdjieff einladt, offenbart noch viele andere Sachverhalte. Es zeigt, wie das Leben des Menschen durchweg in drei Daseinsgraden oder drei Funktionsstufen, drei Lebensebenen verlauft: dem Schlaf-, dem Traum- und dem Wachzustand. Ausser diesen drei Zustanden kennt der Mensch hin und wieder fur Augenblicke einen vierten Zustand: den des Bewusst­ seins seiner selbst. Doch lasst er diese Momente des Erwachens zu einer hoheren Daseinsebene als der, die er gewohnlich kennt, fast immer unbeachtet, denn er glaubt, sein Wachdasein ware die vollstandigste Daseinsart, zu der er imstande sei: sie befriedigt ihn und geniigt ihm; vielleicht sucht er sogar nach ihrer Vervollkommnung, aber ihm kommt nicht in den Sinn, dass ihm ein hoheres Dasein mdglich ist und dass es gesucht werden kann. Auch wenn er etwas von dessen Beschaffenheit ahnt, vermag er jenes Aufleuchten des Selbstbewusstseins, das durch bestimmte Erschiitterungen des Lebens in ihm ausgelost wird, so lange nicht richtig zu deuten, wie seine Aufmerksamkeit nicht auf das gelenkt ist, was es in Wirklichkeit bedeutet. Jeder dieser dem Menschen mdglichen Daseinszustande ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm eine neue «Dimension» erscheint, die in den darunterliegenden Ebenen nicht existierte. Diese Ebenen sind dadurch aber weder zerstdrt noch gehen sie verloren, und sie kdnnen jederzeit wiedergefunden werden; sie sind vielmehr gleichsam «iiberstiegen» und eingefugt in eine umfassendere Gesamtheit, der andere und neue Beziehungen zugrunde liegen. Wegen des Erscheinens dieser neuen «Dimension» besitzt der Ubergang von einem Daseinszustand zu einem anderen fiir den Menschen, der ihn erlebt, das Merkmal einer Unterbrechung, einer Schwelle, einer jahen Veranderung oder, genauer gesagt, einer Verwandlung. Die Funktionen bleiben wohl bestehen, bekunden sich jedoch in einem anderen Rhythmus, in anderer Weite und anderen Moglichkeiten, welche in den neuen Beziehungen und dem Eingreifen anderer Wirkungszentren begrundet liegen. Und die mit 34

jedem Daseinszustand verbundenen wesentlichen Fahigkeiten, die gleichfalls an dieser neuen Dimension teilhaben, erfahren hierdurch eine Umwandlung. In jeder individuellen Lebensform finden sich, in unterschiedlicher Auspragung, drei wesentliche Fahigkeiten, die zusammen genommen eine verhaltnismassig autonome Individualitat mdglich machen, wobei die Qualitat dieser Fahigkeiten ein Zeichen ist fiir die Lebensebene, den Daseinszustand und den Seinsgrad; diese je nach den Ebenen verschiedene Qualitat kennzeichnet jeden Daseinszu­ stand und gestattet somit seine Erkennung und Einordnung. Diese drei Fahigkeiten sind fiir den Menschen die «Aufmerksamkeit», das «Bewusstsein» und der «Wille». Wiewohl sich der Mensch gewdhnlich eine sehr entwickelte Form dieser Fahigkeiten zuschreibt, bestehen sie bei ihm spontan nur in abgeschwachter Gestalt, in derjenigen, die seine gewohnliche Lebensweise mit sich bringt. Ihre entwickelte Form lernt er nur zufallig, blitzartig oder aber dann kennen, wenn er nach langer Arbeit an sich selbst in der Lage ist, den Zustand des Beisichseins zu erreichen. Fiir den Menschen, bei dem die Daseinszustande sich unentwegt verandern und nicht die Bestandigkeit haben, die er sich zuschreibt, sind die Qualitatsschwankungen dieser drei wesentlichen Fahigkeiten von Bedeutung, weil er so jederzeit die Ebene bestimmen kann, auf welcher sein Leben verlauft.

Diese verschiedenen Gegebenheiten sind nicht das einzige, was ein Mensch in sich wahrzunehmen vermag. In einem ganz anderen Zusammenhang kann man erkennen, dass der Mensch aus zwei Teilen besteht: der eine Teil kann als «Wesen» bezeichnet werden und der andere als «Persdnlichkeit». Das «Wesen» ist das Erbgut, das dem Menschen bei der Geburt mitgegeben wurde: seine Formen, seine Neigungen, seine Grundmerkmale. Es ist sein Eigentum, sein Erbe, der Trager seiner besonderen Ziige, das, was ihm anvertraut wurde, damit er es zum Gedeihen fiihre. Und das einzige wirkliche Wachstum eines «Menschen» ist das Wachstum seines Wesens. Dagegen ist die Persdnlichkeit alles das, was der Mensch gelernt hat: was er seit seiner Geburt aus den Vorkommnissen, durch Erziehung, Moral, soziale Umwelt und Religion gelernt hat. Nichts davon kommt aus ihm, alle diese Elemente sind ihm von aussen zugetragen oder aufgedrangt worden; das einzige, was von ihm stammt, ist die 35

Weise, wie er sie aufgrund der Eigenheiten seines Wesens aufgenommen hat. Die ersten Teilstiicke dieser Persdnlichkeit, die in friihester Kindheit einem noch unberiihrten Boden aufgepragt wurden, sind so tief in ihm verwurzelt, dass sie von seinem Wesen schwer zu unterscheiden sind und gleichsam eine zweite Natur bilden. Die kiinftige Entfaltung des einzelnen hangt grossenteils ab von dem Verhaltnis dieser anfanglichen Elemente zu seinem Wesen; wenn auf dieser Ebene durch die ersten Eindriicke und die erste Erziehung eine fundamentale Disharmonie begriindet wurde, dann liegt sie tief vergraben und ist, falls der Einzelmensch eines Tages zu neuem Einklang gefiihrt werden soil, sehr schwer zu erreichen und zu korrigieren. Spater pragen die ausseren Elemente sich immer weniger tief ein. Mit dem Erlernen von Antworten auf die Forderungen des Lebens tritt jedoch eine andere Erscheinung auf: es bilden sich Gewohnheiten. Die Wiederholung desselben Verhaltens in ahnlichen Situationen stellt im Menschen eine immer gleiche Verbindung seiner verschiedenen Funktionen her: als Folge davon setzt sich in ihm ein besonderes Beziehungsgeflecht fest, eine Seite seiner Persdn­ lichkeit, eine «Erscheinungsweise», die jedesmal automatisch wiederkehrt, wenn ahnliche aussere Umstande sich wiederholen. Jede dieser Seiten oder Erscheinungsweisen bildet alsbald eine Rolle fiir sich, ein kleines besonderes «Ich». Auf diese Weise entsteht fiir jede gewdhnliche Lebenslage ein «Ich»; und da sich diese Ichs unabhangig voneinander bilden, haben sie untereinander keine Beziehung: sie stehen ebensogut miteinander im Einklang wie im Widerspruch, und jedes ist nur ein Teilaspekt, der einem bestimmten Umstand entspricht. Letztlich - anstatt im Leben als er selbst zu erscheinen mit einer «Individualitat», bei der die Funktionen in jeder Lage harmonisch ausdriicken, was er tief in seinem Wesen ist - zeigt sich der Mensch als ein je nach den Verhaltnissen Verschiedener unter der Maske von allerlei Rollen, mannigfaltigen kleinen «Ichs», die ihm ein angelerntes Ausseres verleihen, das mit seinem wahren Selbst nichts zu tun hat. Das Ganze stellt seine «Persdnlichkeit» dar. Ohne die Arbeit einer richtig geftihrten Selbstbeobachtung jedoch ist sich der Mensch dieser Lage natiirlich nicht bewusst: er glaubt an die Wirklichkeit jeder seiner Rollen; einen Augenblick lang meint er ganz «aufrichtig», dass ihn jede voll und ganz ausdriicke; seine Veranderungen und 36

Ubergange von einer Rolle zur anderen bemerkt er nicht, und im grossen und ganzen glaubt er an seine Einheit.

Diese Feststellungen unterstreichen, wie wichtig die Beziehungen sind, die in uns entstehen, und wie notwendig es ist, sie zu kennen. Die fiinf Funktionen, die unser gewohnliches Leben gewahrleisten, sind, wie eine aufmerksame Beobachtung zeigt, unablassig tatig, allerdings in unterschiedlichem Masse: wir sehen, dassgewbhnlich eine von ihnen, als die aktivste, die anderen beherrscht und mitzieht, aber diese Vorherrschaft wechselt unter der Einwirkung ausserer oder innerer Ereignisse haufig. Gleichwohl herrscht ublicherweise eine von ihnen vor, stets dieselbe, je nach dem Typus des einzelnen. Die gleiche Beobachtung zeigt auch, dass - ungeachtet unserer gegenteiligen Vorstellung und trotz des Glaubens an eine gewisse Freiheit in uns - unsere Funktionen miteinander verbun den sind. Diese enge Verbindung - in Wirklichkeit: dieser Zusammenschlusstritt jeweils recht unterschiedlich zutage. Bald erscheint sie so eng, dass sie schwer aufldsbar ist: so etwa bei unseren Konditionierungen, unseren eingewurzelten Gewohnheiten und, wie wir gesehen haben, bei unseren Rollen. Bald ist die Beziehung zwischen verschiedenen Funktionen so weitlaufig, dass diese unabhangig erscheinen und zum Unbewussten gehbren, das allem Anschein nach unserer direkten Beobachtung unzuganglich ist. Insgesamt bestimmt, ohne dass wir es bemerken, eine sehr grosse Mechanitat unser gesamtes Alltagsleben. Der Durchschnittsmensch ist in der Tat eine ganz und gar auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegte Maschine: freilich sieht er das nicht, und wenn man es ihm sagt, will er es nicht wahrhaben. Das Spiel der Zusammenschliisse vollzieht sich in ihm unaufhbrlich, fast immer ohne sein Wissen, in Form automatischer Reaktionen auf Situationen, vor die ihn das Leben stellt: das sich daraus ergebende Geflecht aus Gewohnheiten, das sich gleichbleibt, sooft gleichartige Umstande wiederkehren, bildet jene wohlgestalteten «Seinsweisen», jene Rol­ len, die fiir uns kennzeichnend sind und die unsere Umgebung besser kennt als wir. Haufig bedient sich unsere Umgebung sogar derselben; genauer gesagt, sie bedient sich unser mit Hilfe des Unbewussten, das uns gefangenhalt. 37

Dass sich dem Menschen eine Hoffnung auf Veranderung und Verwandlung nicht erdffnet, solange er dergestalt ein Gefangener seiner Rollen und Gewohnheiten ist, liegt klar auf der Hand; und wenn er dessen gewahr wird, so stellt sich ihm die Frage, wie er dem entrinnen kann. Entgegen dem, was er fast immer glaubt, vermag er es nicht allein; auch kann er seine automatischen Gewohnheiten und Verbindungen nicht vernichten, denn sie sind fiir den Alltag notwendig; doch mit geeigneter Hilfe kann er (indem er in sich eine andere Ebene entwickelt, die des Beobachters, des Zeugen) jene Gewohn­ heiten entdecken, erkennen und sich ihrer bedienen lernen, und das heisst: wenn er durch geeignete Arbeit eine andere Daseinsebene in sich entwickelt, mag jene andere Art der inneren Beziehungen zustande kommen, ohne die ihm eine Befreiung nicht mdglich ware.

Es gibt noch eine andere Seite des Menschen, die wir, soweit uns das gegenwartig mdglich ist, berucksichtigen miissen: und zwar die hdheren Kdrper und ihre Entwicklung. Verschiedene Religionen oder Lehren sagen uns, dass wir eine Seele, einen Astralleib, einen Kausalkdrper, einen Geist, ein Double usw. haben oder haben kdnnen. Wenn wir uns allerdings uns selbst zuwenden, so kdnnen wir nicht behaupten, wir hatten in dieser Hinsicht zuverlassige, objektive Erfahrungen; alles, was wir haben, ist ein Sichhingezogenfiihlen, der Wunsch nach einem Weiterleben nach dem Tode, sogar nach Unsterblichkeit, sowie mehr oder weniger unbestimmte Vorahnungen, die uns glauben lassen, uns sei in der Tat eine Weiterentwicklung in dieser Rich tung mdglich (- so spricht man z. B. von der «Rettung» der Seele -), und diese Weiterentwicklung stehe in irgendeinem Bezug zu unserem mdglichen Werden nach dem kdrperlichen Tod und zu der inneren Veranderung, nach welcher uns verlangte (- man spricht auch vom Weg in den Himmel, ins Fegefeuer oder in die Hoile oder, in anderen Lehren, von der Wiedereinkdrperung in besseren oder schlechteren Verhaltnissen -). So wie wir im organischen Bereich fiber einen gewissen Instinkt verfiigen, der uns zu fiihren vermag, sofern ihn unsere kiinstlichen Lebensbedingungen nicht allzu sehr abgestumpft haben, so kdnnen wir auch im geistigen Bereich eine gewisse «Intuition» in uns finden, die uns zu fiihren imstande ist, falls wir ihr noch Raum zu geben und ihr zuzuhdren verstehen. In den Evangelien ist der «Mensch» ein «Samenkorn».

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Nun ist aber ohne einen geeigneten stofflichen Trager keine Lebensform, keine Existenzebene mbglich. Dies zeigt sich uns beim organischen Leben, das auf unserem physischen Kbrper und auf den psychischen sowie den instinktiv-motorischen Funktionen beruht. Wenn der Mensch durch innere Umwandlung in der Lage ist, zu anderen Lebensebenen - zu «hdheren» oder «subtileren» Ebenen zu gelangen, dann bedarf seine Existenz auch auf diesen Ebenen eines entsprechenden stofflichen Tragers von ahnlicher «Subtilitat», der ebenfalls fiber Wachstum, Nahrung, Fahigkeiten und eigene Funktionen verffigt: dergleichen Uberlegungen hinsichtlich des Bestehens hoherer Kbrper kdnnen wir vielleicht ohne weiteres verstehen. So vereinfacht und schematisiert diese ersten Informationen fiber uns auch sein mbgen und selbst wenn sie auf den ersten Blick, in einer gewissen Hinsicht, willkfirlich erscheinen, als provisorische Vorzeichnung, auf die sich die Selbstbeobachtung stiitzen kann, sind sie notwendig. Jede neue Feststellung, die in dieser Vorzeichnung an der richtigen Stelle eingetragen wird, verstarkt sogleich deren Grundlinien; sie lasst sich allerdings nicht analysieren und verstehen, solange nicht eine ausreichende Menge zusammengetragen worden ist und solange allzu grosse Lucken fortbestehen. Und man kann viel Zeit gewinnen, wenn man von Anfang an die Beobachtung auf die Uberprfifung der unmittelbar zuganglichen Hauptlinien dieser Vor­ zeichnung richtet. So gesehen, muss die Selbstbeobachtung vorbereitet werden durch die Erforschung der vier Funktionen, die unser alltagliches Leben gewahrleisten, sodann durch die Untersuchung der verschiedenen Zustande, in denen unser Leben verlauft, und schliesslich durch die Erforschung der Beziehungen zwischen der Qualitat der Funktionen und der Qualitat der verschiedenen Zustande. Dass man sich dieses zusammenhangenden Ganzen bewusst wird, ist der erste Schritt; wirkliche Selbstbeobachtung kann erst danach einsetzen.

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Bedingungen, Mittel und Bedeutung wirklicher Selbstbeobachtung

V ielleicht kdnnen wir jetzt besser verstehen, was die so vollzogene Selbstbeobachtung ist, d. h. vollzogen im Hinblick auf Selbsterkenntnis und Teilhabe am Grossen Wissen. In den meisten Uberlieferungen wird auf unterschiedliche Weise gesagt, die Wahrheit sei jenseits der Erscheinungswelt oder im Inneren derselben, und das Erschauen dieser Wahrheit befreie von den Unsicherheiten, den Zweifeln und Konflikten. Nun spuren wir freilich, dass, bevor wir zur Schau der inneren Wahrheit der Welt, an der wir teilhaben, gelangen, zunachst die Einsicht in die Wahrheit iiber uns selbst, die Losung der Zweifel und Konflikte in uns erforderlich ist: als erstes miissen wir lernen, uns wirklich uns selbst zuzuwenden und den Blick nach innen zu richten. Fest steht, dass weder solche Selbstschau noch auch nur die innere Bewegung, die sie ermdglicht, uns spontan zuteil werden. Wir

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fuhlen uns standig gefangen im Durcheinander ausserlicher Unruhe und fuhlen uns Zweifeln, Konflikten und Einbildungen ausgeliefert, die einen unbefangenen Einblick in das, was wir sind, verhindern. Nun miissen wir aber dieses unser Sein wahrnehmen und ein wirkliches Bedurfnis danach empfinden, dass sich dieses Durcheinander aufldse. In jenen Konflikten und der Unruhe, die sie schiiren, findet der Mensch namlich ein Lebensgefiihl, auf das er ungern verzichtet; und er will nicht sehen, dass ihn diese Ruhelosigkeit zu nichts Konstruktivem fiihrt. Solange er lieber so bleibt, wie er ist (und dies sogar dann, wenn er sich nicht wohlfiihlt, denn man nimmt Unannehmlichkeiten bereitwillig auf sich), und solange er kein Bedurfnis nach Veranderung spiirt, ist er zu einer Weiterentwicklung nicht imstande. Dies nun aber, dass sich in uns etwas andern muss, ist die erste Beobachtung an uns selbst, zu der uns bald jah und brutal, bald auch mehr schrittweise unter der Wirkung eines Mangels, eines Verlangens, einer inneren Forderung das Leben und seine Zufalle verhelfen. Von der Qualitat, der Eindringlichkeit und Starke dieser Beob­ achtung hangt oftmals die gesamte Sehnsucht eines Menschen nach Weiterentwicklung ab und seine ganze Kraft, sich darauf einzulassen. Von dem Augenblick an, da ein Mensch erkennt, dass in ihm etwas falsch ist oder ungeniigend und dass folglich etwas geandert werden muss, kann die Arbeit an ihm selbst mit dem Ziel der Weiterentwicklung beginnen. Und diesem Menschen stellt sich als erstes die Frage: Wie soli er eine Arbeit anfangen, die ihm einen wirklichen Einblick gewahrt in das, was er ist? Einerseits sieht man die gesamte Welt nur in bezug zu sich selbst, andererseits hat man selbst nur aus dem Bezug zur Welt einen Sinn; einerseits fuhlen wir uns als Nabel einer Welt, die wir von unserem Standpunkt aus betrachten, gleichzeitig sind wir jedoch fiir die Welt nichts: nicht einmal ein «Staubkorn». Die Erforschung konnte mit dem einen oder dem anderen beginnen, und wir neigen zunachst dazu, mit der Erforschung der uns umgebenden Welt anzufangen; aber in dieser Welt, in der wir nichts sind, vermdgen wir auch nichts; wir haben nichts, um ihre Ewigkeit und Unendlichkeit zu sehen; wir sind verloren in einer uns unfassbaren Unermesslichkeit und in einer Analyse, bei der unser ganzes Leben nicht ausreicht, um alles einzuschliessen, mit allem fertig zu werden und es in einer Synthese darzustellen. Selbst wenn diese 42

Synthese zustande kame, miissten wir uns noch in sie einfugen und verstehen, welchen Platz wir darin einnehmen. Gleichwohl hat die moderne Wissenschaft gerade diese Methode und diese endlose Analyse unternommen, mit eindeutiger, praktischer Wirksamkeit, wobei sie aber, unbesorgt um den Menschen, der sich auf sie einlasst, zugleich in die Zerstreuung und Spezialisierung, d. h. in die Beschrankung gerat. Nun stehen wir aber in dieser Suche selber in Frage: zuallererst brauchen wir sie; es geht um uns, um unser inneres Wesen, unseren Platz, unsere Konflikte, unsere Entwicklung und von heute an um unser ganzes Leben. Ausserdem wird fiir uns alles nur durch uns selber sichtbar. Wenn die Erforschung mit uns beginnt, dann ist es etwas ganz anderes: wir sind immer da, fiir uns erreichbar und an dem Platz, der der unsere ist. Vielleicht glauben wir, wir wiirden uns und diesen Platz kennen: unsere ganze Erziehung verleitet uns zu dieser Annahme; doch unsere Zweifel, unsere Konflikte, unsere Unwissenheit sind ebenfalls da: wiirden wir uns kennen, wie wir meinen, so waren sie nicht vorhanden, und es entstande nicht die Frage nach uns selbst. Wir miissen zugeben, dass wir uns in Wirklichkeit nicht kennen. Mehr noch, dieser Irrglaube, wir wiirden uns kennen, ist gerade das Hindernis, das uns davon abhalt, jene Arbeit in Angriff zu nehmen (halten wir sie doch fiir unniitz), deren wir tatsachlich dringendst bediirfen. Wenn wir diese Lage verstehen, so beginnen wir, uns Fragen nach uns selbst zu stellen, und wir begreifen, dass wir lernen miissen, uns unserem inneren Leben und uns selber zuzuwenden. Wir miissen statt des Bildes, das wir von uns haben, uns selber sehen, und zwar so wie wir sind. Damit wir uns besser sehen, gilt es zunachst, sich in aller Aufrichtigkeit unparteiisch zu beobachten, ohne etwas zu verandern: einfach weil wir dieses Bediirfnis verspiiren, uns so zu sehen, wie wir sind. Darum beginnt jede Arbeit in dieser Richtung mit der Selbstbeobachtung: einer umfassenden, ganzheitlichen Beobachtung. Sobaid wir versuchen, uns auf diese Weise zu beobachten und auf uns und zugleich auf einen bestimmten Aspekt in uns sorgfaltigzu achten, bemerken wir, dass diese Beobachtung von kurzer Dauer ist und, von aussergewdhnlichen Umstanden abgesehen, hdchstens einige Augenblicke wahrt.

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Dieses Unvermdgen, die Beobachtung langer dauern zu lassen, erscheint uns sehr schnell als das wichtigste aller Hindernisse zur Selbsterkenntnis, und so stehen wir vor der Frage, woher es kommt, dass dem im allgemeinen so ist, ob es besondere Umstande gibt, die eine Ausnahme bilden, und welches mdglicherweise diese Umstande sind. Wer sich auf diesen Weg begibt, fiir den taucht bald eine Schwierigkeit anderer Art auf: Selbstbeobachtung ist mit der Zeit langweilig; nach einer gewissen anfanglichen Begeisterung erlahmt das Interesse, und man greift alsbald zu alien moglichen Ausfliichten. Wir vergessen, dass diese Arbeit im Entsprechen zu unseren tiefsten Bestrebungen begonnen wurde und dass sie eine unumgangliche Etappe in dieser Richtung ist. Mit dem Kopf wissen wir es wohl, doch unser Interesse, von den standig sich wandelnden und neuen Verlokkungen des Lebens beansprucht, lasst sich fortwahrend davon ablenken. Wenn wir nicht mehr spiiren, dass wir fiir uns eine Frage sind, die uns nicht in Ruhe lasst, wenn sich kein wahres Interesse fiir uns mehr regt, wenn wir nicht merken, dass wir uns selber verraten oder, genauer gesagt: unsere nobelste Entwicklung preisgeben -, indem wir uns vom Lauf des ausseren Lebens vdllig blenden lassen, warum sollten wir dann eine solche Suche unternehmen? Keine Anstrengung in der inneren Arbeit, kein Versuch der Selbstbeobach­ tung hat irgendeinen Sinn, sofern er nicht jedesmal zuerst mit unserer Suche verkniipft wird und mit unserem Wunsch, vollstandiger wir selbst zu sein. Doch selbst wenn dieses Interesse fiir uns erwachen konnte, die Tatsache bleibt bestehen: unser Beobachtungsversuch kann nicht langer wahren als einige Augenblicke. Gleichzeitig bemerken wir, dass unser personliches Interesse an unserem Versuch schwindet und dass die fiirs Sehen erforderliche Aufmerksamkeit sich verbraucht; was wir beobachten, verblasst sehr rasch, und wir miissen eingestehen, dass wir, so wie wir sind, uns unaufhorlich, standig vergessen., Wer er selbst zu sein sucht, dem erscheint sofort das Vergessen - und vor allem die Selbstvergessenheit - als eines der schwer zu iiberwindenden Hindernisse. Selbstbeobachtung kann unter solchen Umstanden nicht wirklich von Nutzen sein: daher gilt es zu erforschen, wovon diese Fluchtigkeit herriihrt und wodurch wir unsere Beobachtung hinreichend dauerhaft machen konnten, damit uns zuverlassige Feststellungen moglich werden. Und eine grosse Vorarbeit erscheint uns nunmehr notwendig.

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Eine richtige, zu brauchbaren Feststellungen fuhrende Selbstbe­ obachtung erfordert, dass an ihr jene drei Faktoren - man konnte sagen: jene drei Krafte - beteiligt sind, von denen sie abhangt; und die Qualitat ihres Ergebnisses - d. h. die Qualitat der Beobachtung hangt von der Beschaffenheit dieser drei Faktoren ab. Zu ihnen gehdren als Gegeniiber ich, der ich beobachte, und das, was ich in mir beobachte; doch kommt dabei nichts zustande, falls es nicht dariiber hinaus zwischen ihnen den dritten Faktor gibt: die Aufmerksamkeit, die sie verbindet. Diese Aufmerksamkeit, deren wir hier bediirfen, ist wahrscheinlich das, woran es uns am meisten mangelt. Sie ist von einer besonderen Art, die wir in der Regel nicht haben und bislang nicht kannten. Die Aufmerksamkeit, fiber die wir normalerweise verfiigen, ist eine einbahnige Aufmerksamkeit, auf das gerichtet und nur das beachtend, was wir beobachten. Bei derartiger Aufmerksamkeit und der Haltung, die sie mit sich bringt, ermdglicht die auf einen selbst gerichtete Beobachtung wohl eine elementare Analyse (diejenige der herkommlichen Psychologie), nicht jedoch jene in das Ganze, das wir sind, eingebundenen Feststellungen, wie wir sie suchen. Die Aufmerksamkeit, die wir benotigen, ist eine Aufmerk­ samkeit einer anderen Ebene, die im Fortgang der Beobachtung all das berucksichtigt, was wir sind: es ist eine zwiegerichtete, in sich gegenlaufige Aufmerksamkeit, eine zweigeteilte Aufmerksamkeit; und sie bringt eine Haltung mit sich, die sich sehr unterscheidet von unserer iiblichen Haltung. Von Natur aus haben wir keine derartige Aufmerksamkeit, ausser durch Zufall in gewissen iiberraschenden oder gefahrvollen Augenblicken, in denen die Aufmerksamkeit zusammenfallt mit einem Aufleuchten des Bewusstseins; sie ist uns allerdings durch eine besondere Anstrengung «auf kiinstlich erzeugte Weise» mdglich, und durch geeignete Ubungen kann sie in uns entwickelt werden. Das ist die eine Wirkung derSelbstbeobachtungsversuche. Im Anfang besteht unsere Aufmerksamkeit als Einbahnstrasse: sie geht bald in die eine Richtung, bald in eine andere: bald auf mich zu, bald auf das, was ich in mir beobachte, wobei sie mehr oder weniger rasch wechselt. Und das geschieht um so mehr, als es anfangs sowohl in der einen wie in der anderen Richtung keinen festen Halt gibt, auf dem unsere Aufmerksamkeit ruhen kann: wirkliche Selbstbeobachtung scheint uns, wenn wir sie versuchen, alsbald ebensosehr von diesem Anhaltspunkt abzuhangen wie von

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der Aufmerksamkeit seiber, und wir verstehen sehr schnell, dass die drei Faktoren, die drei sich gegeniiberstehenden Krafte, eng zusammengehdren. Um besser zu verstehen, was echte Beobachtung ist, miissen wir uns daher die beiden anderen Faktoren anschauen, die sich bei diesem Versuch direkt gegeniiberstehen: mich, den Beobachtenden, und das, was ich in mir beobachte. Wirkliche Selbstbeobachtung, wie wir sie verstehen, ist nur mdglich, wenn der Beobachtende - «Ich» - wahrend der Beobach­ tung anwesend ist; die Einbindung dieser Beobachtung wird dabei um so zuverlassiger und vollstandiger sein, je vollstandiger der Beobachtende zugegen ist, d. h. in der Lage ist, eine mdglichst grosse Zahl von Elementen in dem auf ihn selbst gerichteten Aufmerksamkeitsfeld zu beachten. Das setzt voraus, dass er diese Elemente bereits kennt und imstande ist, sie dort fest zusammenzuhalten; dies kann man nennen: sich im Zustand des Beisichseins halten. Dieser Zustand ist fiir uns nicht natiirlich, aber auch er lasst sich durch die Arbeit der Selbsterforschung entwickeln, und so oft er in uns aufsteigt, setzt eine besondere innere Bewusstheit, eine besondere innere Selbstempfindung uns davon in Kenntnis, so dass man, wenn man es einmal empfunden hat, sich nicht mehr darin tauscht. Im Anfang ist uns nichts von all dem mdglich: diese Augenblicke des Beisichseins, auch wenn sie durch gewisse Einflusse in uns erscheinen, sind kurz und durch lange Unterbrechungen, oft ganze Tage, voneinander getrennt, in denen wir wie gewdhnlich in der Zerstreuung leben: ohne uns dessen, was wir sind, in seiner Gesamt­ heit bewusst zu sein. Wir mussen wirklich einsehen, dass wir uns fast fortwahrend vergessen; die Dinge: Reden, Lachen, Fiihlen, Handeln, tun sich in uns; dies geschieht allerdings automatisch, ohne dass wir selbst da sind: ein Teil lacht, ein Teil redet, der andere handelt; wir spuren nicht: ich - rede, ich - handle, ich - lache, ich beobachte. Nichts von dem, was sich so tut, kann in das Ganze eingebunden werden; wir leben in der Selbstvergessenheit, und alles geschieht, ohne eine Spur zu hinterlassen: das Leben wird zwar gelebt, doch es wird ohne «Ergebnisse» fiir das Subjekt gelebt. Selbstbeobachtung ist fiir uns nutzlos, wenn ein beliebiger Beobachter unsern Platz einnimmt und «ich», das Subjekt, nicht da bin, um, wahrend wir uns beobachten, zu verstehen: echte und vollstandige Selbstbeobachtung wiirde die vdllige Anwesenheit eines festen und

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wirklichen Ichs erfordern. Zu solcher Anwesenheit, zu solchem Dasein ist der Mensch erst nach langer Arbeit an der Selbsterkennt­ nis in der Lage; ein relatives Dasein jedoch, ein gewisser Zusammenhalt von allem, was er in sich zu finden vermag, steht ihm durch die Anstrengung, «sich seiner zu erinnern», schon jetzt jederzeit zu Gebote. Wirkliche Selbstbeobachtung kann nur dann beginnen, wenn wir uns zugleich in dieser Anstrengung versuchen. Bei diesem Versuch werden wir iibrigens entdecken, dass wir uns, ohne es zu wissen, unaufhdrlich verandern und dass durch die geringste unvorhergesehene Beanspruchung alles auseinanderbricht, was wir in uns vereint haben; bei solchem Versuch fallt uns nichts schwerer als dieses, bestandig fur eine Beobachtung dazusein. Der dritte an der Selbstbeobachtung beteiligte Faktor ist das, was wir in uns beobachten. Es ist der Gegenstand und die Stiitze unserer Beobachtung, und die Beobachtung ist auch nicht mdglich, falls sich diese Stiitze standig als schwindend erweist. Wenn wir in uns nach solchem festen Anhalt suchen, dann kdnnen wir sehr schnell feststellen, dass das, was am leichtesten zu sehen ist, namlich unser Ausseres, die Form unserer Reaktionen auf die Forderungen des Lebens, zunachst von diesen Forderungen abhangt und, selbst als etwas Wiederholbares, nur indirekt von uns: Es verandert sich dauernd und entzieht sich uns ganz und gar. Die Funktionsstrukturen hingegen, die uns reagieren lassen, sind standig da, in alien Situationen sich selbst gleich, aus dem bestehend, was wir sind, und aus dem, wozu das Leben sie gemacht hat; doch so wie sie sind, sind diese Strukturen (unsere Funktionen, unsere Rollen) unbrauchbar. Die Weise, wie die Dinge in uns zustande kommen (das Spiel unserer Funktionen, die Art, in der sie sich vereinigen, um unsere Rollen und Reaktionen zu bewirken), vollzieht sich im Verborgenen ohne unser Wissen. Und was wir gewdhnlich sind, bietet, wenn wir es nicht «eigens» hervortreten lassen, unseren Feststellungen keinen Ansatzpunkt. Zu einer fiir unsere Suche wirklich brauchbaren Beobachtung sind wir letzten Endes nur dann imstande, wenn die drei aktiven Faktoren, welche die Beobachtung ausmachen, gleichzeitig erscheinen: ein «Ich», das beobachtet, das Beobachtungsfeld eines vollstandigen Lebensmoments und die zweifache Aufmerksamkeit, die die Beziehung zwischen ihnen herstellt. Die besonderen Bedingungen, die eine derartige Arbeit sehr 47

leicht und sicher ermoglichen, sind die verschiedenen Formen des Kampfes gegen die automatischen Aspekte in uns: sind doch unsere Rollen allemal vorhanden. Alle Disziplinen zur Entwicklung des Menschen, welches sie auch sein mdgen, und ganz gleich, welche Form sie dieser Entwicklung geben, beginnen mit einem derartigen Kampf; er ist eine den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Lebens entsprechende Notwendigkeit. Die Beobachtung zum Zweck der Selbsterkenntnis kann dabei keine Ausnahme bilden. Sie beginnt auf der einfachsten Ebene mit dem Kampf gegen die iiblichen Verkettungen (d. h. Gewohnheiten), die uns so zeigen, wie wir zu sein scheinen. Dieser Kampf ist wegen seiner vorlaufigen Nutzlosigkeit, wegen des Irrens und des Unvermogens, irgend etwas zu verandern, wegen der Beharrlichkeit und Energie, die er erfordert, langwierig, schwierig und abschreckend. Begreiflich wird er einem Menschen nur, wenn dieser verstanden hat, wohin der Kampf fuhrt, und sich standig in Erinnerung ruft, warum er ihn unternimmt. Wenn er nun aber zu solchem Verstandnis gelangt ist oder, am Anfang, wenigstens erfasst hat, dass er sich dieser Disziplin unterziehen muss, dann wird der Kampf gegen die Gewohnheiten fur den Menschen ein naheliegendes Mittel, sich so zu sehen, wie er ist, und zugleich, ohne dass er es bemerkt, das erste Instrument zur inneren Umwandlung. Der Kampf ruft jene zweifache Aufmerksamkeit hervor, die der Mensch braucht, und zwingt ihn, jene Gewohnheiten wahrzunehmen, die ihn einschlafern, ihn zum Automaten machen und ihn standig in Selbstvergessenheit versinken lassen. Unsere Gewohnheiten und, wenn sie tiefer verwurzelt sind, unsere unbewussten Konditionierungen sind zahllos. Sie bilden ein so dichtes Gewirr, dass sie unentwirrbar bleiben; und von dem hier vertretenen Standpunkt aus kann man sagen, der gewohnliche Mensch ist kein wohlgeordnetes Gewebe (ausser vielleicht in seinem instinktiven Teil), sondern ein Mischmasch aus kleinen und grossen Gewohnheiten und Konditionierungen. Damit der Kampf gegen die Gewohnheiten im Anfang mdglich und fiir die Selbstbeobachtung von Nutzen ist, miissen wir uns einfache Gewohnheiten auswahlen, die mit bereits klar erkannten Funktionen in direktem Zusammenhang stehen. Die Erforschung der Bewegungsablaufe ist sicherlich sehr einfach. Zwar ist dem Menschen eine direkte Beobachtung derselben in

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der iiblichen Weise nur einige Augenblicke mdglich, doch lasst sie sich dadurch wirksam durchfiihren, dass man den verschiedenen, die Grundlage unserer gesamten Tatigkeit bildenden Bewegungsgewohnheiten, einer nach der anderen, stdrend entgegenwirkt; dem gewdhnlichen Gehen, dem Schreiben, den Bewegungen bei Tisch, den Handbewegungen im Beruf, den Haltungen usw. Jedes besteht aus zahlreichen kleinen Gewohnheiten, deren kiinstlich veranlasste Veranderung fiir die Selbstbeobachtung niitzlich sein kann. Die Schrittlange, die Gehweise, die Art, wie man die Schreibfeder halt, das Wechseln der Hande bei gewissen Gesten sind dafiir Beispiele, die sich vermehren liessen. Zugleich bemerkt der sich so beobachtende Mensch schnell, dass er, ohne es zu wissen, eingeschlossen ist in eine recht geringe Zahl von Bewegungsgewohnheiten; und diese Feststellung ist bedeutsam. Die Erforschung der intellektuellen Funktionen ist schon schwieriger. Wer sie zu erblicken versucht, stellt fest, dass er wohl eine gewisse Kraft besitzt, um im Anfang sein Denken zu steuern; zuweilen vermag er es noch eine Zeitlang in der von ihm gewahlten Richtung zu halten; friiher oder spater jedoch, haufig sehr rasch, entzieht es sich ihm: er ist zerstreut. Uberdies macht der Mensch im gewdhnlichen Leben von dem Vermdgen, sein Denken zu steuern, nur in seltenen Augenblicken Gebrauch; sein Verstand hingegen arbeitet unablassig, und standig sind Vorstellungen da; sie steigen automatisch auf infolge ausserer und innerer Reize, ohne dass der Mensch einen Einfluss darauf hat. Es sind in alien Situationen automatische Reaktionen des Verstandes, die assoziativ miteinander verbunden sind. Und gleichwie wir kdrperliche Gewohnheiten haben, so haben wir auch Denkgewohnheiten: Denkarten, die, was man nicht weiss, ebenfalls zahlenmassig gering sind. Eine erste Richtung in der Erforschung der intellektuellen Funktion ist der Kampf gegen diese Denkgewohnheiten. Der Mensch kann entdecken, dass seine Denkweisen nicht die jeweils einzigen sind: er kann sie in Frage stellen und sich bemiihen, in andere Denkweisen einzudringen, er kann sie vertiefen, verstehen und kann begreifen, inwiefern sie nicht die seinen sind; so macht er im Hinblick auf sich selbst und seine Art zu denken wertvolle Ent deckungen. Eine andere Richtung bei der Erforschung der intellektuellen Funktion ist die Beobachtung unserer Zerstreutheit. Sie ist ein

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eindeutiges Zeichen fiir die Schwachen des Denkzentrums. Wir fangen an zu lesen, zu reden, zuzuhdren, und pldtzlich sind wir zerstreut. Wenn wir von den Zielen, die wir zu verfolgen uns vorgenommen haben, nicht standig abgelenkt werden wollen, dann miissen wir wissen, was in uns vorgeht und wie eine derartige Zerstreutheit zustande kommt. Eine aufmerksame und schwierige Beobachtung (schwierig, weil der Vorgang subtil ist) zeigt uns, dass die Zerstreut­ heit zwei Hauptursachen hat: Einbildung und Traumerei. Beide sind Beispiele fiir das falsche Arbeiten und die Faulheit des Denkzen­ trums, das sich so all die Anstrengungen zu ersparen sucht, die ihm eine wirkliche Arbeit, in einer bestimmten Richtung auf ein genau abgegrenztes Ziel hin, abverlangen wiirde. Die Einbildung existiert in jedem unserer Zentren in einer dem jeweiligen Zentrum eigentiimlichen Form. Sie folgt auf einen Augenblick wirklicher, sinnvoller Arbeit. Sobaid die Anstrengung nachlasst, die Aufmerksamkeit sich abwendet, das Ziel dem Blick entzogen bleibt und der Funktionsablauf im Inneren des Zentrums weitergeht, ohne irgendeine Beziehung zu der zuvor begonnenen Arbeit und in keiner anderen Beziehung zu den iibrigen Zentren als derjenigen: nutz- und ziellose, also eingebildete Eindriicke von Lebendigkeit zu liefern, fur eine Befriedigung allein innerhalb der Funktionen, und nicht fiir eine tatsachliche Verwirklichung im Bereich der Wirklichkeit. Ein oder mehrere Zentren kdnnen zu derartigen Elaboraten beitragen, die den Menschen von den Aufgaben, welche das Leben ihm stellt, abbringen und sich mehr oder weniger an deren Stelle setzen. Der Antrieb zur Traumerei liegt stets im Gefiihls- oder im Bewegungszentrum, doch wird der Vorgang anschliessend vom Denkzentrum iibernommen, das jederzeit bereitwillig in den Dienst der beiden anderen tritt, um so Traumen nachzuhangen, die seinen eigenen Neigungen entsprechen; die Traumerei hat also einen doppelten Ursprung: zum einen in der Faulheit des Denkzentrums, das durch Traumerei funktionale Befriedigung findet und sich zugleich jeder Anstrengung fiir eine bestimmte Arbeit entzieht; zum anderen in der Befriedigung, die die Traumerei dem Gefiihls- und dem Bewegungszentrum verschafft, indem sie ihnen ein scheinbar lebendiges Bild bereits erlebter oder eingebildeter Erfahrungen bietet, wobei die Zentren diese Eindriicke wiederholen, um so jenes

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- angenehme oder unangenehme - Lebensgefiihl wachzurufen, das sie dabei erfahren hatten. Einbildung und Traumerei sind das Gegenteil niitzlicher, d. h. an ein genau umgrenztes Ziel gebundener, gedanklicher Tatigkeit; und um sie beide zu beobachten und zu erkennen, muss der Mensch gegen sie anzukampfen versuchen, indem er sich zu genauen, konkreten und bestimmten Aufgaben zwingt. Wenn der Mensch diesen Kampf aufgenommen hat, bemerkt er bald, dass Traumerei immer nur ein nutzloser Traum ist, allenfalls verstandlich, sofern er angenehme Empfindungen verschafft, jedoch krankhaft und selbstzerstdrerisch, wenn er negative und bedriikkende Assoziationen zum Inhalt hat, von denen Selbstbemitleidung die gelaufigste ist. Er bemerkt auch, dass der Wert, den man allgemein der Einbildung beimisst, keinesfalls gerechtfertigt ist: sie ist eine zerstdrerische Fahigkeit, die er niemals kontrollieren kann und die ihn in unvorhersehbare, mit seinen bewussten Zielen unvereinbare Richtungen zieht: Er beginnt, sich etwas vorzustellen, um sich daran zu erfreuen; daraufhin fangt er an,.zumindest teilweise an das Vorgestellte zu glauben, und er lasst sich darin verwickeln. Solche Einbildung ist durchaus nicht jene schdpferische Fahigkeit, der man einen unschatzbaren Wert einraumen mdchte; in Wirklichkeit ist sie schadlich, denn sie stellt nur die Entartung und Karikatur einer hoheren Fahigkeit dar, der wirklichen schdpferischen Einbildung: der bewussten Vorausdeutung gemass einem objektiven Wissen um die Gegebenheiten und Gesetze, welches Wissen der Mensch, wie er normalerweise ist, nicht im geringsten besitzt. Durch Einbildung und Traumerei jedoch wiegt er sich in der Illusion, er besasse es. Wenn er sich unbefangen beobachtet, so wird er dieser Illusion oder dieses Selbstbetrugs gewahr, und er versteht, dass Traumerei und Einbil­ dung in Wirklichkeit zu den Haupthindernissen gehdren, die vereiteln, dass er sich beobachtet und sich so sieht, wie er ist. Es gibt fiir einen Menschen nichts Schmerzlicheres; streng genommen ist dies der Sturz des Ikarus. Eine dritte Richtung bei der Erforschung unserer intellektuellen Funktion, die in diesem Fall ein gemeinsames Arbeiten des Intellekts und anderer Zentren betrifft, ist die Beobachtung unserer Gewohnheit zu reden um des Redens willen. Die gesprochene Sprache ist ein von der Gesellschaft bereitgestelltes und im Bewegungszentrum gespeichertes intellektuelles Material: ein Werkzeug, das dieses

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Zentrum alien anderen Zentren zur Verfiigung stellt, damit sie sich auf diese Weise ausdrucken und miteinander in Verbindung treten kdnnen. Zu reden und sich auszudriicken ist notwendig: das Leben ist ein Austausch; doch wird das Reden bei aller Notwendigkeit sehr rasch zur Gewohnheit: und zwar von friiher Kindheit an, wo man die Kinder reden um des Redens und nicht um des Sichausdriickens willen lehrt: anschliessend bringt man uns sogar bei, brillant iiber alles und nichts zu reden. Und wir sind so, ohne es zu bemerken: es gibt wenig, was zu sagen ware, aber wir reden viel. Reden kann sogar zu einem Laster werden: manche Leuten reden iiberall und ohne Unterlass von allem und jedem, selbst im Schlaf: und falls niemand da ist, reden sie noch mit sich selbst. Der Kampf gegen diese Gewohnheit zu reden, die wir in unterschiedlichem Masse alle haben, ist ebenfalls ein hervorragendes Mittel zur Selbstbeobachtung, das uns standig zur Verfiigung steht; so existiert in einigen Klosterregeln das Schweigegebot. Der Kampf gegen die Redegewohnheit und gegen jedes unniitze Wort zwingt uns, das zu sehen, was in uns aufsteigt und sich der Sprache bedient, und hierdurch kdnnen wir wichtige Beobachtungen sammeln iiber das, woraus wir bestehen. Die Erforschung des Gefuhlsbereiches ist selbst auf dem Umweg fiber unsere Gefiihlsgewohnheiten sicherlich noch schwieriger als die des Denkzentrums, denn sobaid wir diesen Bereich zu beobachten versuchen, miissen wir erkennen, dass wir keinen Einfluss auf ihn haben. Wir kdnnen an unseren Gefiihlen nichts verandern; obwohl sie immer vorhanden sind, sehen wir sie nur, wenn sie iiber das gewdhnliche Mass hinausgehen: dann nennen wir sie «Empfindung». Wirkliche Empfindung jedoch ware etwas ganz anderes: wir leben bloss mit automatischen affektiven Reaktionen, Gefiihlen, die im Leben standig aufeinanderfolgen und bewirken, dass uns in jeder Situation etwas gefallt oder missfallt, uns anzieht oder abstdsst. Freilich sehen wir dies genauso wenig, wie wir wissen, wodurch unsere Zu- und Abneigungen, unsere Zustimmungen und Ablehnungen zustande kommen: sie ereignen sich in uns automatisch. Wer sich zu beobachten sucht, sieht dies nur in einem kurzen Aufblitzen, und in den Augenblicken, da er es gewahrt, ist er in der Regel unangenehm davon iiberrascht: er hat an sich keine Lust, diese Erfahrung zu verlangern, und wenn er sich dazu zwingt, so lost sie in ihm tiefgehende Riickwirkungen aus, von denen einige gefahrlich sein

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kdnnen, denn wir legen diesen automatischen affektiven Reaktionen sehr grossen «Wert» bei: eine richtige Beobachtung unseres gewohnlichen Gefiihlslebens stellt alles, was wir sind, in Frage und zwingt uns, die Bedeutung jener «Werte» zu sehen, an denen wir hangen und nach denen wir leben. Sie riihrt an den Entwicklungsmoglichkeiten des Menschen: damit man eine solche Beobachtung unternimmt, ohne diese Moglichkeiten fur alle Zeiten zu beeintrachtigen oder zu zerstdren, muss zuvor eine «Empfindung» ganz anderer Natur erweckt worden sein. Es gibt allerdings einen Bereich, wo der sich zu beobachten bereite Mensch, ohne sich einer Gefahr auszusetzen, den Kampf gegen Gefiihlsgewohnheiten aufnehmen kann, so dass fiir ihn ein grosser Teil seines gewdhnlichen Gefiihlslebens sichtbar wird: es ist das Nichtausdriicken unangenehmer Gefiihle. Der sich beobachtende Mensch erkennt sehr schnell, dass er nichts unparteiisch zu betrachten vermag: dies gilt vor allem fiir das, was er in sich sieht, aber auch fiir das, was er ausserhalb von sich beobachtet. Zu allem hat er eine persdnliche «Empfindung»: das ist mir gleich, das gefallt mir oder missfallt mir. Wahrend er nun aber seine Zustimmung oder Gleichgiiltigkeit leicht zu verbergen vermag, ist es ihm fast unmoglich, sich seine Missbilligung nicht irgendwie anmerken zu lassen: ihm wird dies zu einer angenehmen Gewohnheit, und haufig gilt es sogar als Zeichen von Aufrichtigkeit. Den so empfangenen negativen Eindruck driickt er aus in Form von Gewalt, Widerstand oder Depression: Wut, Eifersucht, Kritik, Misstrauen, Verdruss, Angst, Selbstbemitleidung usw. Bei all diesen Ausdrucksformen setzt er an die Stelle der einfachen Aussage, die sich aus der blossen Feststellung der Tatsachen, so wie sie sind, ergibt, einen Ausdruck persdnlicher negativer Einstellung; sie sind ein Beweis dafiir, dass der Mensch ausserstande ist, seine personlichen Beschwernisse fiir sich zu behalten, und dass er, um «sich nicht einsam zu fiihlen», dazu neigt, sie uber seine Umgebung zu ergiessen, sie mit anderen zu teilen und sich so versuchsweise ihrer zu entledigen: es ist ein Zeichen von Schwache, der Beweis seiner Unfahigkeit, sich selbst und die Dinge, so wie sie sind, anzunehmen, und zugleich eine gewaltige, sinnlose Energievergeudung, die er seiner Umgebung aufzwingt und somit in eine die Negativitat nur noch vergrdssernde Kettenreaktion iibergehen lasst. Nun ist dieser Vorgang aber einer der seltenen Gefiihlsvorgange, die ohne die Gefahr schadlicher Kompensationen unterbrochen werden

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kdnnen; da dieser Kampf sich gegen das Ausdriicken negativer Gefiihle richtet (- handelt es sich doch darum, ihren nach aussen gehenden Ausdruck zu unterbinden, und nicht die Gefiihle selbst -), bringt er keine Veranderung des inneren Gleichgewichts mit sich; er stellt nur die Einsparung einer bedeutenden Energiemenge dar, die aussen ganz umsonst verausgabt worden ware und als eingesparte zu anderen Zwecken verwendbar wird. Gleichzeitig erlaubt der Kampf dem Sichbeobachtenden, einen Grossteil jenes Gefiihlsprozesses zu erblicken, mit dem er lebt. So kann der Kampf gegen die in alien unseren Zentren automatisch entstandenen Gewohnheiten der anfanglichen Selbstbeobach­ tung als Ansatzpunkt dienen, genau wie spater ein anderer Kampf, der mit sich selbst (der zwischen den zwei Seiten des Menschen), notwendig sein wird, um die Grundlagen zu schaffen fiir das Erscheinen eines «Daseins», und noch spater wird der Kampf zwischen dem Ja und dem Nein (zwischen den zwei Naturen des Menschen) fiir dessen Vergeistigung sich als unentbehrlich erweisen. Die Geschichte der Befreiung des Menschen ist die eines unaufhbrlichen Kampfes gegen seine immer subtilere Mechanitat, und sie beginnt im Bereich der Gewohnheiten mit dem Kampf fur wirkliche Selbstbeob­ achtung.

Indem der Mensch die Selbstbeobachtung in dieser Form praktiziert, stellt er fest, dass sie von selbst in seiner inneren Seinsweise und den daraus sich ableitenden Vorgangen eine Veranderung herbeifiihrt. Die Selbstbeobachtung, wie wir sie versucht haben, ist untrennbar verbunden mit einer inneren Spaltung: damit die Beobachtung moglich wird, muss sich zwischen zwei Teilen von einem selbst ein gewisser Abstand einstellen. Sofort erhebt sich im Hinblick auf mich die Frage: wer beobachtet, und wer wird beobachtet? Und gleichzei­ tig bringt diese Trennung einen Ansatz von Bewusstheit mit sich, einen Blick, unter dem «ich» mich zu fragen anfange, was ich selbst wirklich bin, was «aufrichtig» ist und was nicht. Bei diesem inneren Blick und dem Licht, das er projiziert, erscheinen die Vorgange, die bislang in vblliger Dunkelheit vor sich gegangen waren, als das, was sie sind; hierbei finden sie sich in Frage gestellt durch das, was ich als mein Sein entdecke. Und dieses unaufhbrliche, aufrichtige Infragestellen im Lichte eines sich erweiternden Selbstbewusstseins ist genau 54

das Ferment, das alle spateren Veranderungen ermoglichen wird. An sich ist Selbstbeobachtung ein Instrument fur das Erwachen zu einer anderen Lebensebene und somit ein Umwandlungsmittel. Denn sie bewirkt im Sichbeobachtenden, ohne dass er es weiss, das Erscheinen jener drei zusammengehdrigen und voneinander abhangigen Krafte, die das erste Anzeichen einer bestandigen Errungenschaft sind, das heisst der Entwicklung einer Individualitat mit autonomem Dasein. Diese «Veranderungen» werden vielleicht nicht das sein, was der sich beobachtende Mensch zunachst denken mochte. In dem Masse, wie er sich beobachtet und wie seine Selbster­ kenntnis zunimmt, wird er allmahlich der vdlligen Mechanitat seines gewohnlichen Lebens gewahr und seiner vollkommenen Ohnmacht gegeniiber dieser Mechanitat; daher ist ihm eine direkte Verande­ rung nicht mdglich. Diese Vorgange sind, was sie sind, und ihre Beobachtung oder Analyse kann nichts anderes mit sich bringen. Mit der Zeit versteht er, dass eine Veranderung in diesen Vorgangen immer nur eine begrenzte Tragweite hat und dass fiir ihn eine wirkliche Veranderung oder vielmehr eine Verwandlung allein dadurch zustande kommen kann, dass er hinausgeht fiber diese gewohnlichen Vorgange: dass sich jenseits derselben ein inneres Wesen entwickelt, welches er wirklich selbst ist. Von diesem Augenblick an stellt sich ihm eine andere Frage, und die Arbeit nimmt eine neue Richtung: dahingehend, dieses Wachs­ tum eines anderen Wesens in sich zu fdrdern. Sich so zu sehen, wie er es zuvor versuchte, genfigt nicht mehr. Mit dem Sichabzeichnen der Selbsterkenntnis, die nach und nach an die Stelle der reinen Selbstbe­ obachtung tritt, folgt auf das blosse Erwachen der Selbsterinnerung der Ansatz eines Beisichselbstseins. Die distanzierte Schau wird zu einer Beobachtung seiner selbst durch sich selbst. Wer sich so beobachtet, bemerkt schnell, dass er selber (seine Persdnlichkeit) bei seiner iiblichen Lebensweise fiir sich selbst (fiir seine Wesenhaftigkeit, sein Inneres) der schlimmste Feind ist: genau darin liegt das, was an unserm Sein verkehrt ist, sowie das Haupthindernis dagegen, dass wir wir selbst sind: die von der Umwelt, in der wir leben, geformte Persdnlichkeit greift fortwahrend ein und verwehrt unserm Inneren, sich zu aussern. Die Funktionen mit unserm Kdrper als ihrem Trager stehen im Dienste unserer angelernten Rollen, und nicht unseres inneren Wesens, das tatsachlich wir selbst sind, dem es jedoch nicht mehr gelingt, sich Gehdr zu verschaffen.

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Allerdings miissen wir dessen gewiss sein, und eine unparteiische Beobachtung samt zahllosen Feststellungen darf uns nicht mehr daran zweifeln lassen: Nichts ist zahlebiger als das beirrende Bild, das wir von uns haben, und ein Mensch braucht lange Zeit, viele Enttauschungen mit sich selbst und viele ehrliche Beobachtungen, damit er dies zu verstehen und sich so zu sehen beginnt, wie er ist. Wenn diese Sicht zum Durchbruch kommt, begreift er, dass in ihm alles umgekehrt werden muss. Falls dieser Mensch wirklich er selbst sein will, und nicht eine allmachtige Personlichkeit, die, unbesorgt um ein allzu schwaches Wesen, iiber alle Funktionen verfiigt, dann muss sein Inneres wiederbelebt und so weit entwickelt werden, dass es einen Platz, und zwar den hdchsten, wiedererlangt, somit die Leitung der von Persdnlichkeitseinfliissen befreiten Funk­ tionen iibernimmt und nach eigenem Gutdiinken sich jener Rollen bedient, die sich bislang seinen Platz angemasst hatten. Wenn sich diese Sicht durchsetzt, versteht der Mensch den eigentlichen Sinn einer wirklichen Arbeit an sich selbst, und er bekommt eine Ahnung von der ersten Etappe seiner mdglichen Weiterentwicklung.

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Die Daseinszustdnde

jL/er Mensch lebt in verschiedenen Zustanden - genauer gesagt: Daseinszustanden -, die gleichsam die «Dimensionen» seines Lebens sind: unterschiedliche Tatigkeitsebenen, auf denen das Leben des einzelnen jeweils andere Mdglichkeiten enthalt. Der einzelne ist in den verschiedenen Zustanden, die ihm mdglich sind, mit seinen mannigfaltigen Teilen anwesend. Die Entwicklung dieser Teile, ihre gegenseitigen Beziehungen und die Qualitat ihres Arbeitens sind freilich Veranderungen unterworfen. Der Aufbau bleibt wohl die verschiedenen Zustande hindurch derselbe, aber die Qualitat seines Lebens ist nicht die gleiche. Der Mensch kann in vier Zustanden leben, die man iiblicherweise nach ihrem Bewusstseinsgrad unterscheidet, weil das Bewusstsein dasjenige Vermdgen ist, dessen Veranderungen am deutlichsten zutage treten. 57

Der menschliche Aufbau bleibt sich gleich, auch wenn er in jedem Zustand ein fur diesen charakteristisches Aussehen annimmt. In alien Zustanden findet sich als Ergebnis des Ganzen ein gewisser «Daseins»-Grad. Das Dasein hat als stofflichen Trager seiner Form und seiner Erscheinungsweise einen Korper oder vielleicht mehrere. Es hat auch einen geistigen Trager, in der - seiner besonderen Ebene eigentiimlichen - Gestalt der drei grundlegenden Wesensfahigkeiten Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Wille, die selber Widerspiegelungen sind der drei grossen, grundlegenden Schdpfungskrafte: der aktiven, der ausgleichenden und der empfangenden. Das Dasein des Menschen hat zudem sieben Zentren, von denen jedes iiber ein Gehirn als Hauptstiitze verfiigt. Jedes Zentrum ist mit besonderen Eigenschaften ausgestattet, deren Gesamtheit das Wesen des Menschen ausmacht. Von jedem Zentrum und Gehirn hangt eine entsprechende Funktion ab; und die Funktionen mit ihren Arbeitsebenen, ihren Verbindungs- oder Beziehungsarten bilden als Gesamtheit die Individualitat des Menschen und stellen die Form seiner Persdnlichkeit dar. Falls man diese verschiedenen Zustande nicht beriicksichtigt, bleibt alles am Menschen unverstandlich, und Selbsterkenntnis ist unmoglich. Fur einen vdllig entwickelten Menschen gibt es vier mdgliche Daseinszustande. Der gewdhnliche Mensch hingegen lebt nur in den zwei untersten, und fur kurze Augenblicke im dritten. Uber den vierten mag er theoretische Auskiinfte haben, aber in Wirklichkeit sind ihm die beiden hoheren Zustande unerreichbar: er ist ausserstande, sie zu erfassen, und beurteilt das, was er von ihnen weiss, vom Standpunkt der niederen Zustande, der seinigen, aus, und dies lasst ihn nur zu abwegigen Urteilen kommen. Der erste Zustand ist der Schlaf: ein passiver Zustand, in dem der Mensch nichts tun kann, wo sich aber seine Krafte erneuern. In ihm verbringt er ein Drittel und haufig sogar die Halfte seines Lebens. Dieser Zustand passiven Bewusstseins ist lediglich mit Traumen bevolkert, die der Mensch als unwirklich ansieht. Der zweite Zustand ist der Wachzustand: ein Zustand, den der Mensch fur aktiv halt und in dem er die andere Halfte seines Lebens verbringt. In diesem Zustand bewegt er sich, handelt, macht Geschafte, redet von Politik, erdriickt oder totet seinen Nachsten, diskutiert iiber erhabene Themen und pflanzt sich fort. Diesen 58

Zustand nennt er: Wachzustand des Bewusstseins oder Zustand klaren Bewusstseins; es ist gleichwohl nur eine Karikatur, und die kleinste unparteiische Untersuchung zeigt sofort, dass dieser Wach­ zustand passiv ist und der Mensch in ihm iiber keine «Klarheit» verfiigt. Er befindet sich hdchstens in einem Zustand «relativen» Bewusstseins. Der dritte Daseinszustand ist der des Bewusstseins seiner selbst oder des Sichbewusstseins des eigenen Wesens. In diesem Zustand sieht sich der Mensch so, wie er ist, und wird gegen sich objektiv: es ist streng betrachtet der Zustand «subjektiven» Bewusstseins. Allgemein wird angenommen, der Mensch besitze diesen Zustand, und in der Tat, von seiner dreizentrischen Natur her hatte er natiirlicherweise einen Anspruch darauf. Doch aufgrund der anomalen Bedin­ gungen seiner Existenz (in der er fortwahrend seine Traume fiir die Wirklichkeit halt) besitzt er diesen Zustand nicht nur nicht, sondern bemerkt nicht einmal, dass ihm dieser fehlt. Der Durchschnittsmensch kennt ihn nur als ein kurzes Aufleuchten, dessen Bedeutung er nicht versteht. Der vierte Daseinszustand ist der des «objektiven» Bewusst­ seins. In diesem Zustand konnte der Mensch in Kontakt kommenmit der wirklichen, objektiven Welt (von der er getrennt ist durch die Sinne, die Traume und die subjektiven Bewusstseinszustande) und konnte folglich die Dinge so wahrnehmen, wie sie sind. Dieser Zustand wird ihm freilich nicht auf natiirliche Weise geschenkt, sondern kann nur der Endpunkt einer inneren Umwandlung sein und einer langen Arbeit an sich selbst. Der Durchschnittsmensch hat ihn, wie den Zustand des Selbstbewusstseins, lediglich als kurzes Aufscheinen, das er nicht einmal bemerkt; ein Aufleuchten desselben, an das er sich erinnert, kennt er nur im Zustand des Selbstbewusstseins. Allerdings besitzt der gewdhnliche Mensch viele theoretische Informationen iiber den vierten Zustand, und auf Grund deren bildet er sich ein, er konnte ihn geradewegs erreichen. Wenn wir von Betriigereien und Trugbildern absehen, so enthalten alle Religionen Beschreibungen und Zeugnisse dieses Zustands, die sie als Verziikkung, Erleuchtung oder mit verschiedenen anderen Namen bezeichnen. Oftmals begibt sich der Mensch auf die Suche nach ihnen, ohne zu verstehen, dass der einzig richtige Weg zum objektiven Bewusstsein iiber die Entwicklung des Selbstbewusstseins fuhrt. Es ist iibrigens eine Eigentiimlichkeit des gewdhnlichen Bewusstseinszu-

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standes (des zweiten Zustandes), dass das echte Wissen, das er enthalten mag, stets vermischt ist mit Traumen und Einbildungen, die es am Ende iiberfluten.

Ein voll entwickelter Mensch, der Mensch im vollen Sinne des Wortes, sollte iiber diese vier Bewusstseinszustande verfiigen; die gewohnlichen Menschen hingegen leben nur in zwei Bewusstseinszustanden. Gleichwie sie im Schlafzustand nur Schimmer des relativen Bewusstseins haben kdnnen, so vermdgen sie im Zustand relativen Bewusstseins nur Schimmer des Selbstbewusstseins zu haben. Wenn ein Mensch das Bewusstsein seiner selbst langere Zeit hindurch erfahren will, und nicht nur als kurze Schimmer, dann muss er verstehen, dass dergleichen nicht von selbst kommen kann. Zunachst muss er einsehen, dass er Gefangener ist einer ihm die Wirklichkeit verbergenden subjektiven Welt aus Traumen und Einbildungen; danach hat er eine lange Arbeit in Angriff zu nehmen, anfangs in sich selber und dann im Leben, um sich von den Traumen zu befreien und zu dieser Wirklichkeit zu erwachen. Als erstes jedoch muss der Mensch verstehen, dass er (d. h. sein wirkliches Ich) sogar im Wachzustand schiaft und dass fiir ihn die oberste Notwendigkeit ist, zu erwachen, d. h. die fiir das Erwachen des wirklichen Ichs notwen­ dige Arbeit auf sich zu nehmen. Sofern wir eine schrittweise, erfahrungsgebundene Uberprufung in uns nicht vergessen, kdnnen wir jetzt vielleicht versuchen, in theoretischer Form folgende Fragen besser in den Blick zu bekommen; was sind diese vier mdglichen Zustande, und welche Informationen kdnnen wir iiber sie zusammentragen? Der erste und niedrigste Bewusstseinszustand ist fur uns der Schlaf. Es ist ein passiver und rein subjektiver Zustand, in welchem der fast vdllig von der Aussenwelt abgeschnittene Mensch sich in eine innere Welt getaucht findet, deren er sich nicht bewusst ist. Umgeben ist er dort von Traumen; die psychischen Funktionen arbeiten ohne Leitung und unabhangig voneinander. Rein subjektive Bilder ziehen - als Widerhall vergangener Erfahrungen oder undeutlicher Augenblickswahrnehmungen (Gerausche, Empfindungen, Geriiche) durch das Gemiit, wobei sie nur eine winzige Spur im Gedachtnis zuriicklassen und meistens iiberhaupt keine. Dennoch ist der Schlaf ein Zustand von hdchster Bedeutung: abgesehen davon, dass der Mensch ein Drittel seiner Zeit darin verbringt; es ist der Zustand, in welchem die organische Natur des

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Menschen - wie alles, was sich von organischem Leben ernahrt jene Krafte wiederherstellt, die fiir die Existenz im Wachzustand notwendig sind. Man kann sagen, der Schlaf lade das mit den Zentren verbundene Energiespeichersystem wieder auf (wir werden dies noch im einzelnen untersuchen). Das Dasein des Menschen ist im Schlaf rein passiv, und das um so mehr, je tiefer der Schlaf ist (der Mensch hat namlich verschiedene Schlafstufen). Der Korper ist mehr oder weniger auf ein instinktives Arbeiten beschrankt, und im Tiefschlaf ist er es vdllig. Die Zentren mit ihren besonderen Merkmalen - das innere Wesen des Menschen - sind wohl vorhanden, empfangen aber keine Wahrnehmungen und antworten auch nicht auf das, was trotz allem zu ihnen gelangt; und selbst wenn sie hin und wieder antworten, so hat dies keine entsprechende Antwort in den anderen Funktionen zur Folge. Voll und ganz arbeitet nur das instinktive Zentrum, das (zumindest wahrend des Tiefschlafs) von jedem anderen Einfluss befreit ist oder einzig mit den entsprechenden instinktiv-motorischen Bereichen der anderen Zentren verbunden bleibt. Die Funktionen mit Ausnahme der instinktiven Funktion, die voll und frei arbeitet, befinden sich in der Ruhe, und die Verbindungen zwischen ihnen sind umso vollstandiger unterbrochen, je tiefer der Schlaf ist. Darum erfahren die zwei «Energieakkumulatoren», die alien Zentren beigegeben sind (und die wir spater untersu­ chen werden) nur eine Nachfrage nach instinktiver Energie, und es steht ihnen frei, sich unmittelbar mit der Hauptenergiequelle des Menschen zu verbinden, wodurch sie dann auch miteinander in Verbindung treten. Ein freier Energiestrom setzt ein; und wenn ihn nichts beeintrachtigt (wie etwa im Tiefschlaf), werden die Vorrate der Zentren an spezifischer Energie und das Gleichgewicht dieser Energien ungestdrt wiederhergestellt. In Wirklichkeit gibt es zwischen dem Wachzustand und dem Zustand des Tiefschlafs, dem des wahren Schlafs, zahlreiche Zwischenzustande. Der Schlaf ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zentren voneinander getrennt sind, wobei zugleich ihre Bekundungsmoglichkeit aussetzt; beim Durchschnittsmenschen sind diese Trennungen jedoch zumeist unvollstandig. Da der gewohnliche Mensch mit funf Zentren lebt, kann jedes der fiinf abgetrennt sein oder auch nicht; und normalerweise wird ein Zwischenzustand erreicht, in welchem eine oder mehrere Verbindungen unterbrochen

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sind, aber nicht alle. Der Schlaf beginnt im allgemeinen mit der Abtrennung des Intellekts oder vielmehr des Verstandes, mit dem wir gewbhnlich leben, und das nennt man gemeinhin einschlafen. Es ist nicht immer so; zahlreiche andere Teile kdnnen sich abtrennen, ohne dass der Verstand seine Tatigkeit unterbrochen hat. Im allge­ meinen jedoch erkennt man solche Zwischenzustande nicht als Schlaf an, und nach landlaufigen Vorstellungen bewirkt gerade die Abtren­ nung des Verstandes den Ubergang vom Wach- zum Schlafzustand. Das Zentrum, das sich anschliessend oder gleichzeitig mit dem Verstand abtrennt, ist das Bewegungszentrum. Der Mensch (und die meisten Tiere) legen sich nieder zum Schlafen. Dann trennen sich die anderen Zentren ab, aber auch nicht immer: viele andere Abtrennungsweisen sind moglich; die Unterbrechungen und die Reihenfolge, in der sie vonstatten gehen, hangen von den einzelnen Men­ schen und den Umstanden ab; man kann im Stehen schlafen, im Schlafen gehen, im Schlafen lieben, im Sprechen schlafen usw. Im Gegensatz dazu trennt sich das instinktive Zentrum als letztes ab; iibrigens trennt es sich nie ab ohne eine besondere - und gefahrliche - Arbeit und (solange das Leben wahrt) auch nur auf einigen Ebenen, denn seine vollstandige und endgiiltige Abtrennung hat den organischen Tod zur Folge. Alles dies kann sich unaufhdrlich verandern, wobei haufig auch konstitutionelle Veranlagungen eine Rolle spielen: ein Schlafwandler ist nicht jede Nacht mondsiichtig und auch nicht die ganze Nacht hindurch. Der Zustand des Tiefschlafs hat einen Sinn und eine Bedeutung, die man in der Regel nicht vermutet. Ihm wird in den alten Uberlieferungen, vor allem in der hinduistischen, ein wichtiger Platz eingeraumt; so gilt dieser Zustand, in welchem das Subjekt keinen Wunsch verspiirt und keinen Traum mehr hat, als die Riickkehr zur urspriinglichen Heiterkeit. Das Innere (das Wesen) zieht sich zuruck in den formlosen, uranfanglichen Bereich (den Quell moglicher Bekundungen in den anderen Zustanden), wo es sich, da ja jeder Formkonflikt erloschen ist, in «Gliickseligkeit» (Ananda) der Fiille seiner selbst erfreut und innerhalb seiner selbst in den Bereich des reinen Seins (Ischwara) zuriickkehrt. In diesem Zustand sind die verschiedenen Erscheinungsweisen, auch diejenigen seiner eigenen Individualitat, nicht vernichtet, sondern bleiben potentiell anwesend inmitten der vollstandigen Gesamtheit aller Mbglichkeiten, zu deren

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universaler Wesenhaftigkeit das individuelle Wesen zuriickgefunden hat. Weil es ein hinreichendes Bewusstsein der ihm eigenen Mdglichkeiten bewahrt, bleibt eine Verbindung zur Wesensform erhalten, und die Riickkehr zur formhaften Erscheinung, die die seine ist, bleibt moglich. Doch kann im Laufe gewisser Schuliibungen, die auf den Tiefschlaf abzielen, diese Verbindung verlorengehen; dies ist ein Risiko solcher Ubungen. Vollig verwirklichte Menschenwesen kdn­ nen den Augenblick, da diese Verbindung abgebrochen werden soli, in vollem Bewusstsein wahlen: man sagt, dass sie die Stunde ihres kdrperlichen Todes kennen oder aussuchen. So lasst sich der Tiefschlaf verstehen als Riickkehr zum reinen «wesenhaften» Zustand: einem Zustand, ahnlich dem embryonalen (dem des Beginns des individuellen Lebens), doch gesteigert um die bis dahin vom Wesen durch Lebenserfahrung erworbene Entwick­ lung. Und in solchem Zustand gerat der zur aussersten Grenze des formlosen, universalen und nichtindividuellen Seins zuriickgekehrte individuelle Mensch in Resonanz mit den wesenhaften Kraften des Lebens, die ihn auf diese Weise wieder ins Gleichgewicht bringen und neu beleben. Doch diese Heimkehr zu den Grundkraften des Lebens, in die reine Wesenhaftigkeit, die voile Freude und vollkommene Harmo­ nic, ist fiir den Menschen vollig passiv; sie vollzieht sich - vom Fortbestehen des instinktiven organischen Tragers, des automatischen Lebens im Korper abgesehen - unter Preisgabe jeder eigenen Bekundung und jeden Ausdrucks der eigenen Individualitat. Im Tiefschlaf sind die drei Hauptfahigkeiten, die der Individualitat ihre Daseinsqualitat und ihr Bekundungsvermdgen verleihen (namlich Aufmerksamkeit, Bewusstheit, Wille als Widerspiegelungen der drei grundlegenden Schdpfungskrafte), vollstandig aufgehoben; der so schlafende Mensch iibt keine von ihnen mehr aus, und sie bleiben nur «potentiell» bestehen. Wenn der Zustand des Tiefschlafs demjenigen der vollen Verwirklichung (dem vierten Zustand oder dem Zustand objektiven Bewusstseins) auch durchaus ahnlich ist in der Seinsfiille (Wesenhaf­ tigkeit und auch Erscheinung), in dem vollstandigen Wissen (und nicht nur der Freude) und der vollkommenen Heiterkeit (und nicht bloss der Harmonie), die solche Verwirklichung mit sich bringt, so befinden sich diese beiden Zustande gleichwohl an den entgegengesetzten Polen des Lebens: der Zustand des Tiefschlafs reicht an die 63

Grenze zu den unterindividuellen Seinszustanden (an die Grenze zur reinen Substanz), und der Zustand der vollen Verwirklichung reicht an die Grenze zu den uberindividuellen Seinszustanden (an die Grenze zum reinen Geist). Zwischen ihnen erstrecken sich die dem Menschen moglichen Zustande von der substanzhaften Finsternis bis zum Licht des reinen Bewusstseins: keine andere Wesensform in der uns bekannten Welt ist mit solcher Moglichkeit ausgestattet und fiir sie verantwortlich. In den Zustanden des Zwischenschlafes ereignen sich die Traum-«Phanomene». Indem der Tiefschlaf alle Funktionen der Zentren unterbindet, hebt er auch die Verbindungen auf zu ihrem jeweiligen Gedachtnis und Einbildungsvermogen. Wenn die Abtrennung jedoch misslingt oder unvollstandig bleibt, so kbnnen in den entsprechenden Zentren diese Funktionen weitergehen. Folglich befindet sich die Maschine nicht in volliger Ruhe, und gewisse Spuren ihrer Arbeit konnen uns im Wachzustand zuganglich bleiben. Eine Erforschung dieser Spuren - d. h. eine Erforschung der Traume vermag uns dann Auskunft zu geben fiber die Stdrungen, die die Maschine so beeintrachtigen, dass sie deren Stillegung verhindern (bei welchen Zentren etwa die Abtrennungen schlecht zustande kommen), und auch Auskunft dariiber, um welche Art von Stdrung es sich handelt (ihre Ursachen und ihre Bedeutung). Die herkdmmliche Forschung unterscheidet bei den Traumen drei Hauptarten; die assoziativen (oder reaktiven) Traume, die ausgieichenden Traume und die symbolischen (oder urbildhaften) Traume, aber es gibt viele andere Arten, wie etwa den vorahnungshaften oder den telepathischen Traum, die unter dem Gesichtspunkt geglfickter oder misslungener Abtrennungen zu betrachten von

Interesse ware. Die drei wichtigsten Traumarten bringt man unvermeidlich mit den drei Ebenen des'gewbhnlichen menschlichen Lebens in Verbin­ dung: die assoziativen Traume entsprechen dem mechanischen Leben, die kompensatorischen Traume einem gefiihlsbetonten persdnlichen Standpunkt, und die symbolischen Traume beziehen sich auf das dunkle Sichdffnen gegen das Leben des wahren Ichs, wenn es dem (auf einer anderen Ebene arbeitenden) hoheren Gefiihlszentrum gelingt, wahrgenommen zu werden, und zwar dank einer ausreichenden Abtrennung der unteren Zentren, die es gewdhnlich verdecken.

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Auf jeden Fall ist der Traum im Schlaf eine subjektive Erschei­ nung. Auch wenn der Traum von ausseren Eindriicken ausgeldst wird, entwickelt er sich doch innerhalb des Menschen und zwar aus Elementen, die in diesem enthalten sind. Die dabei verwendeten Gestalten erkennt der Mensch, falls er sich im Wachzustand an sie erinnert und sie von dort aus betrachtet, womdglich nicht als die seinen an, und er mag sie als fremd empfinden. Doch ist dies nur eine Fehleinschatzung: sie sind in ihm, selbst wenn er es nicht weiss, und gehdren, so fremd sie dem Anschein nach auch sein mogen, in alien Formen zu ihm; es handelt sich nur um verschiedene Aspekte seiner selbst, die unter Umstanden bezeichnend sind fiir Dinge in ihm, von denen er nichts ahnte. Bei einem unvollstandig verwirklichten, ja sogar seelisch gestbrten Menschen kommen aufgrund der Disharmonie der Zentren die Abtrennungen schlecht oder gar nicht zustande. Neben den rein assoziativen oder reaktiven (durch Wahrnehmungen ausgeldsten) Traumen kdnnen Traume auftreten, die auf ein wesenshafteres Leiden hinweisen, auf einen Mangel oder eine Unausgeglichenheit im Leben des Wesens, dem sie wahrend des Schlafs in verschiedenen Gestalten seine Vollstandigkeit zuriickzugeben versuchen. Bei einem Menschen hingegen, dessen Tagesarbeit umfassend, ausgewogen und voll befriedigend ist, vollzieht sich beim Eintritt des Schlafes die Abtrennung der verschiedenen Zentren harmonisch, stufenweise, vollstandig und anscheinend traumlos, das heisst sie vollzieht sich reibungslos, ohne Eindriicke, die etwa verschieden waren von denen des Wachzustandes oder so stark, dass er sich an sie erinnern konnte. Fiir einen Menschen, bei dem der dritte Bewusstseinszustand, der Zustand des Beisichseins und des Bewusstseins seiner selbst, verwirklicht ist, beginnt der Eintritt in den Schlaf mit der Inaktivierung der Verbindungen, die er zwischen dem hoheren Gefiihlszentrum und den gewbhnlichen Zentren hergestellt hat: diese Inaktivierung ist bei ihm bewusst und entspringt einer absichtlichen Handlung: wenn ein solcher Mensch den Augenblick fiir gekommen erachtet, schlaft er aus freien Stiicken ein. Wie bei dem Menschen mit einer ausgewogenen Alltagstatigkeit ist bei ihm im Schlaf die Abtren­ nung der unteren Zentren vollstandig, reibungslos und frei von Traumen, deren er sich erinnern konnte. Allerdings schwindet das hohere Ich hierbei nicht; es bewahrt eine Verbindung zu seinem 65

Trager: voriibergehend druckt es sich zwar nicht mehr durch ihn aus, doch seine Wachsamkeit bleibt bestehen; und dadurch ahnelt der Wechsel von Schlaf und Wachen dem jedermann vertrauten Wechsel von Ausatmung und Einatmung; Schlaf und Wachen sind fiir diesen Menschen die Atmung des Ichs (und dessen Wachen und Schlaf sind das «organische» Leben und der «organische» Tod - oder sollten es sein). Der zweite dem Menschen mbgliche Bewusstseinszustand ist der Wachzustand. Er erscheint von selbst, wenn der Mensch aus dem Schlaf heraustritt, und es ist der Zustand, in welchem der aktive Teil des Lebens verlauft: derjenige, in dem der Mensch arbeitet, spricht, handelt, denkt und Vorstellungen hegt. Dieser Zustand ist bereits weniger passiv und «subjektiver» als der Schlaf: in ihm unterscheidet der Mensch zwischen dem, was er ist, und dem, was er nicht ist, zwischen seinem Kdrper und jenen Gegenstanden, die nicht sein Korper sind, deren Stellung und Eigenschaften er erkennen und deren er sich bedienen kann. Er wird sich einer Zweiheit bewusst und eines verborgenen Gegensatzes - zwischen sich und der Welt. Er sagt, in diesem Zustand verfiige er uber «waches Bewusstsein» oder iiber «klares Bewusstsein», und er schreibt sich fiir die Dauer desselben viele neue Eigenschaften zu. Tatsachlich besteht der einzige Unterschied zwischen dem Schlaf (mitsamt seinen verschiedenen Stufen) und dem Wachzustand darin, dass der Verstand erneut ausgeschlossen ist, das heisst der automatisch reagierende und automatisch assoziative, mechanische Teil der intellektuellen Funktion: jener formgebende Apparat, dessen Aufgabe es ist, die von den verschiedenen Zentren empfangenen Eindriicke zu verbinden und aufeinander abzustimmen. Alle Kennzeichen des Schlafs bestehen weiter, und das Dasein des Menschen ist im Wachzustand nur eine hohere Stufe des Schlafs, wobei jedes Zentrum sich mit dem wieder aktiv gewordenen Verstand verbindet. Allerdings bleiben die hdheren Zentren abgetrennt, und der Schlaf des Ichs halt an; die unteren Zentren sind weiterhin voneinander abgeschnitten, und es kommt unter ihnen zu keiner direkten Gegeniiberstellung, so dass jedes seinen eigenen Vorstellungen nachhangt. Die Traume, denen die Zentren nachjagen, und die Eindriicke, die sie vom Leben erhalten: Sinneswahrnehmungen, Gefuhle und Wiinsche, laufen im Bereich des Verstandes zusammen. Dabei vermischen sich Traum und Wirklichkeit so griindlich, dass die automati66

sche Verstandestatigkeit sie nicht mehr auseinanderhalt: der Ver­ stand stellt sie nur einander gegeniiber, er assoziiert, registriert, gleicht alles, was zu ihm gelangt, aus und hat fiir Einordnung und Bewertung keine andere Grundlage als seine eigene Tatigkeit. Wenn im Verstand Eindriicke von Billigung oder Missbilligung, von Zustimmung oder Widerspruch, von Mdglichkeit oder Unmoglichkeit erscheinen, so rufen sie in ihm einen lebensvollen Eindruck hervor, wobei die von den Traumen, von der Einbildung und dem (perzeptorischen und assoziativen) automatischen Denken herriihrenden inneren Elemente den gleichen Rang und den gleichen (wenn nicht grosseren) Wert haben wie die wirklichen inneren und ausseren Wahrnehmungen des Augenblicks. Der unter der Wirkung solcher neuen Eindriicke wieder aktiv gewordene Verstand sendet jedem Zentrum die Antwortimpulse, die sich aus seinen Assoziationen ergeben; es sind Antworten des Verstandes auf momentane Anforderungen, und diese Antworten, an deren Ausarbeitung sich die Zentren nicht unmittelbar beteiligen, ersetzen standig die Antworten des wirklichen Ichs, das schlaft. So erweckt allein der Verstand einen Anschein von Wirklichkeit und Stetigkeit; er nimmt eine illusorische Persdnlichkeit an, die sich an die Stelle der wirklichen Individualitat, der des Ichs, setzt. Doch dies begreift der Mensch im Wachzustand genauso wenig, wie er im Schlaf den Wachzustand begreift. Solange sein wirkliches Ich schlaft, kann er nicht verstehen, dass die Autoritat und die Entscheidungen des Verstandes die eines Usurpators sind. Wenn der Mensch jedoch bereit ist, sich schonungslos so zu sehen, wie er ist (freilich muss man ihm die Mittel dazu geben), dann zwingen ihn die Tatsachen zu dem Eingestandnis, dass ein solcher Zustand nicht als wirklich klar gelten kann. Sein Dasein ist im Wachzustand scheinbar aktiv; auf alle Faile ist es riihrig. Aber diese Aktivitat ist tatsachlich nur Reaktion: automatische Reaktion des Verstandes auf Grund von Informationen und aufgezeichneten Kenntnissen; automatische Reaktion der Funktio­ nen gemass unter Umwelteinfluss erworbenen Reflexen: gemass der Erziehung und den Gewohnheiten. Solches «Leben» ist vdllig reaktiv und assoziativ; es kann rein funktionell bleiben oder kann unter der Vorherrschaft eines einzigen Zentrums verlaufen (das iibrigens wechseln mag), aber es erfordert keineswegs die Teilnahme aller Zentren, noch die des Wesens und des wahren Ichs; dieses erhalt nichts, hat an nichts teil, verharrt im Schlaf, lebt nicht und wachst 67

nicht. Das wahre Ich bleibt von all dem abgetrennt. Vom Standpunkt dieses Ichs und der wirklichen Individualist aus ist der Wachzustand ein passiver Zustand. Die Funktionen ermoglichen zwar durch unablassige Tatigkeit das Leben; jedoch vollzieht sich diese Tatigkeit im Schlaf und in der Passivitat des Ichs. So leben die Menschen wahrend des Wachzustands tatsachlich im Schlaf, im Schlaf des Ichs. Sie haben von diesem Ich noch keine Kenntnis. Sie wissen nicht, dass sie schlafen, und merken nicht, wie sie unwissentlich vdllig reaktiv handeln, unter dem Einfluss der Traume und ausseren Krafte, die ihren Verstand entstehen liessen, ihn steuern und mit seiner Hilfe sich ihrer, der Menschen, bedienen, ohne dass die Menschen es wissen und sich dessen bewusst sind. Sie leben unwissentlich im Schlaf und verstehen nicht, dass sie vor allem aufwachen miissen: um jeden Preis die Erweckung ihres Ichs erlangen mussen. Zahlreiche alten Lehren, und besonders die Evangelien, mahnen den Menschen, dass er erwache. Doch der wirkliche Sinn dieser Ideen ist selten verstanden, denn beim heutigen Menschen stosst die Einsicht in seine Lage auf sehr grosse Hindernisse. Die Qualitat des Alltagslebens, der Handlungen, der Bekundungen bleibt daher vdllig reaktiv, und die drei grossen grundlegen­ den Fahigkeiten, die ihm einen Sinn geben kdnnten, bestehen im Menschen nur als Widerschein: ein sich alle Augenblicke anderndes, bruchstiickhaftes Bewusstsein (in einem einzigen Zentrum oder von einem einzelnen Zentrum beherrscht); eine zerstreute, unbestandige oder im Gegenteil auf irgendeinen «leidenschaftlichen» Aspekt fixierte Aufmerksamkeit; und ein allemal schwacher Wille - oder Anwandlungen ohne Stetigkeit. Schliesslich fullt sich die Szene mit verschiedenen Rollen, die aus einer gewohnten Ansammlung von Eigenschaften und Funktionen bestehen und nach Anzahl und Proportion fiir jeden charakteristisch sind; es sind Rollen, die sich bald fortgesetzt verandern, bald von irgendeiner Idee, irgendeinem zwanghaften Gefiihl gefesselt sind und immer ohne direkte Beziehung bleiben zu dem, was ein bestandiges und dauerhaftes Ich sein konnte. Doch diesen Zustand sieht der Mensch nicht von selbst, und auch wenn man ihn darauf hinweist, ist es das letzte, was er zu glauben bereit ware. Wenn es durch die Tatsachen des Lebens offenkundig wird, findet er sofort eine Erklarung (eine gute Entschuldigung oder, besser noch, das, was man einen «Puffer» nennen

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konnte), mit deren Hilfe er weiterhin seinem Traum nachhangen und sich fur das halten kann, was er nicht ist. Nun ist aber ein solcher Zustand schlimmer als der Schlaf: der Mensch ist im Schlaf vdllig passiv, er handelt nicht; im Wachzustand dagegen kann der Mensch handeln, und die Ergebnisse seiner angeblich bewussten Handlungen wirken sich auf ihn und seine Umgebung aus. Hdchst bedenklich sind die Hindernisse, die eine Einsicht in diese Lage unmdglich machen. Das Haupthindernis, aus dem sich alle anderen ergeben, besteht zweifellos darin, dass fiir den Men­ schen weder der Schlaf noch das Vergessen des wahren Selbst im Wachzustand sichtbar sind. Er sieht dies nicht, selbst wenn man es ihm zeigt, weil er nicht ahnt, was das «Selbst» sein konnte: er kennt sich selbst nicht und gibt sich, so gut es geht, mit dem gegenwartigen Zustand zufrieden. Er hat sehr wenige verlassliche Informationen uber sich und als Ersatz dafiir Traume und Einbildungen. Die Traume und Einbildungen iiber das, was er selbst und was das Leben ist, sind zwei weitere Haupthindernisse: vor allem die Einbildungskraft halt den Menschen standig in einem echten Hypnosezustand, einem Zustand, in dem seine triigerischen Vorstellungen iiber sich und die Eigenliebe, mit der er sie verteidigt, ihm jede Aussicht nehmen, dass er sich jemals so sieht, wie er ist. Viele andere Merkmale des heutigen Lebens tragen dazu bei, dass der Mensch in dieser Lage bleibt. Und wenn ihn durch einen gliicklichen Zufall (der auch fiir immer ausbleiben kann) der Schock der Ereignisse zwingt, das absonderliche Gebilde, das er und sein Leben ist, auch nur einen Augenblick lang in Frage zu stellen, dann liefert ihm der automatische Mechanismus der Entschuldigungen und Puffer sofort, in Form von Kompensationen und Erklarungen, ein Mittel, durch das er sich selbst nicht in Frage stellt, sondern nur andere Menschen oder Umstande, die nicht von ihm abhangen. Schliesslich hat der Mensch in diesem Zustand keine jener Eigenschaften, die er sich so gern zuschreibt: Einheit in sich selber und in seinem Leben, klares Bewusstsein, Wille, Freiheit, die Fahigkeit zu echten Handlungen. In Wirklichkeit weiss der Mensch in diesem Zustand standiger Selbstvergessenheit nicht, was er ist. Er lasst sich vom Spiel fliichtiger Ereignisse blenden: sei es dass sie ihm zusagen und er dabei auf seine Kosten kommt, sich mit ihnen identifiziert und von ihnen fortgerissen 69

wird; oder aber dass sie ihm missfallen, er sich ihnen widersetzt und sich so im Widerstand verfangt. Selbstvergessenheit, Identifizierung, Widerstand gegen Personen und Ereignisse, von einer kleinlichen Eigenliebe verteidigte, triigerische und phantastische Einbildungen iiber sich selber: dies sind die Merkmale jenes Wachzustandes, in welchem das Menschenleben gewdhnlich verlauft, man findet darin nichts, was zum wahren Ich gehdrt. Der sich selbst iiberlassene Mensch hat nur fliichtige Einblicke in diese Lage, ein kurzes Aufleuchten der Wahrheit, das er vergisst oder verbirgt und dessen Bedeutung er nicht zu ermessen vermag. Er sieht nicht, dass entgegen dem, was er im Wachzustand glaubt, sein niederes Wesen nicht vollendet ist. Nur dessen organischer Trager und die bei dessen Entwicklung erworbene Persdnlichkeit haben ihr voiles Wachstum erreicht. Sie sind das Endergebnis einer - weit mehr ausserlichen als innerlichen - natiirlichen Entwicklung; und dass der Mensch uber diese Entwicklung hinausgeht, solches braucht die Natur nicht und hat daher fiir ihn nichts weiter vorgesehen. Damit sich diese Entwicklung fortsetzt, muss der Mensch zu andersgearteten Mdglichkeiten erwachen: zu denen der Entwicklung seines wahren Ichs, d. h. seines inneren Wesens. Aber ein derartiges Erwachen und die Entwicklung solcher Mdglichkeiten geschehen nicht von selbst und erfordern grosse, willentlich in diese Richtung gelenkte Anstrengungen. Die Individualitat eines Menschen, sein wahres «Ich», kann nur aus seinem Wesen erwachsen; man kann sagen: die Individualitat eines Men­ schen ist sein erwachsenes Wesen. Es ist nicht nur so, dass sich das Erwachen nicht von selbst vollzieht, auch das Wachstum trifft auf standig neue Hindernisse, und die Hindernisse fur das Wachstum des Wesens liegpn in der Persdn­ lichkeit. Dieses Wachstum braucht zu seinem' Fortgang ganz bestimmte Bedingungen: besondere Anstrengungen auf seiten des Menschen selbst und geeignete Hilfe derer, die vor ihm den Weg dieser Entwicklung gegangen sind: alles dies heisst mit anderen Worten, dass nur in einer Schule, wo der Mensch an der Erweckung und Entwicklung seines wahren Ichs arbeiten kann, solches Wachs­ tum Aussicht hat auf Erfolg. Sind diese Bedingungen nicht erfiillt, bleibt der Mensch sich selbst und seiner eigenen Initiative iiberlassen, so verblasst allmahlich das Aufleuchten der Wahrheit, und die Funken des wahren 70

Bewusstseins verschwinden; den gesamten Platz nimmt seine Persdnlichkeit ein, und schliesslich verliert er jede Hoffnung auf eine individuelle Weiterentwicklung: ungeachtet der andersgearteten Mdglichkeiten ist und bleibt er nur eine Spielart des hdheren Tierreichs; und wenn er den Zielen der grossen Natur gedient hat, braucht er bloss noch «wie ein Hund zu krepieren». Der gewdhnliche Mensch, der Maschinenmensch, ist nur Staub und wird wieder zu Staub. Der dritte Bewusstseinszustand ist der des Bewusstseins seiner selbst oder des Sichbewusstseins des eigenen Innern, ein Zustand, der sich gerade durch das Erwachen zu sich selbst entwickelt. Allgemein wird angenommen, wir besassen diesen Bewusst­ seinszustand oder kdnnten ihn auf Wunsch haben, samt all den Eigenschaften, die damit verbunden sind: innere Einheit, ein dauerhaftes Ich, Wille, Freiheit usw. Nun zeigt uns aber die Beobachtung, dass wir diesen Zustand in Wirklichkeit nicht haben und dass unser Wunsch, so stark er auch sein mag, ausserstande ist, ihn in uns hervorzurufen. Wir haben von ihm nur fliichtige Schimmer, die wir nicht richtig zu deuten vermdgen, und verfiigen in bezug auf diesen Zustand iiber keine (oder fast keine) theoretischen Informationen, weil die Menschen, in der Einbildung befangen, sie besassen ihn, seine Erforschung in der Regel fiir unniitz ansahen. Dieser dritte Bewusstseinszustand ist tatsachlich ein Naturrecht des Menschen, und wenn ihn der Mensch nicht besitzt, so einzig und allein deshalb, weil seine Lebensbedingungen anomal sind. Dieser Zustand ist das Ergebnis eines «Wachstums» - man konnte auch sagen einer schrittweisen Offenbarung -, und es ist unmdglich, ihn einigermassen dauerhaft zu machen, ohne lange Arbeit und eine besondere Ausbildung, die in Zusammenhang steht mit dem Arbeiten des hdheren Gefiihlszentrums sowie mit der Herstellung richtiger Beziehungen zwischen diesem Zentrum, den gewdhnlichen Zentren und deren Funktionen. Dieser Zustand ist mit der Entwicklung eines Tragers verbun­ den, den man den zweiten Kdrper nennt (die traditionellen Lehren geben ihm unterschiedliche Namen). Dieser Trager ermdglicht die besonderen Wahrnehmungen und Ausserungen dieser Lebensebene wie auch ihre charakteristischen Funktionen, deren wesentlichste eine echte gefiihlsmassige «Selbstempfindung» ist.

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Fiir diesen Zustand sind drei Eigenschaften kennzeichnend: bestandiges Selbstbewusstsein, freie Aufmerksamkeit und unabhangiger Wille. Aus ihrem Zusammenwirken ergibt sich ein dauerhaftes Beisichsein, das dem Menschen Individualitat verleiht, die er bislang nicht besass, und eigene Verantwortlichkeit, die er so lange nicht haben konnte, wie seine Individualitat nicht verwirklicht war. Freilich bleibt uns alles, was wir von solchem Zustand zu sagen vermdgen, irgendwie hypothetisch. Im Wachzustand haben wir zu ihm nur zwei Zugangsarten, zwei Arten besonders giinstiger Augenblicke, die das Leben zuweilen mit sich bringt und deren Wert wir im allgemeinen ahnen, ohne richtig zu verstehen, worin er beruht. Das eine sind jene Bewusstseinsschimmer hinsichtlich unseres Seins, die uns in ernsten Stunden - zum Beispiel in Lebensgefahr oder beim Verlust eines geliebten Menschen - zuteil werden und uns dann tief beeindrucken. Das andere sind Augenblicke innerer Gewissheit, eines uns eigentiimlichen Gewissens, das wir intuitiv finden, wenn wir vom Leben in Frage gestellt und gezwungen sind, in unser Innerstes hinabzusteigen, um «nach bestem Wissen und Gewissen» zu antworten, und nicht mehr gemass einer erlernten Moral und iibernommener Klischeevorstellungen. Derartige Augenblicke bedeuten das Herannahen eines Zustandes «objektiven Gewissens», der fiir alle, die den Zustand des Selbstbewusstseins erlangt haben, ein und derselbe ist und in dem der Mensch alles fiir ihn Fiihlbare unmittelbar und vollstandig fiihlt. Solches Gewissen ist fiir einen Menschen, der innere Einheit und Widerspruchslosigkeit in sich verwirklicht hat, gelassene Heiterkeit; es bedeutet Leiden fiir jemanden, bei dem Widerspriiche fortbestehen, denn das Gewissen lasst sie offen zutage treten und macht sie zu einem Quell «objektiver Gewissensbisse». Das objektive Gewissen ware unertraglich, wenn es dem Durchschnittsmenschen, der nur aus Widerspriichen besteht, unvermittelt zuteil wurde. Doch es bleibt vor ihm verborgen durch «Puffer» bildende psychologische Dampfungsmechanismen, und er hat, in einigen besonderen und seltenen Augenblicken, immer nur intuitiv Zugang zu ihm, und zwar in der Weise jenes Appells an die eigene, von iiberkommenen Vorstellungen unabhangige Gewissensinstanz. Wer die Moglichkeit, er selbst zu sein, erahnt, fiir den besteht die einzige Aussicht darin, dass er eine Schule sucht und entdeckt, in der er sich bemiihen kann, jenes wahre Ich wiederzufinden, dessen

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Wirklichkeit ihm durch die Gunst besonderer Augenblicke als kurzer Anblick vergdnnt war. Uber den vierten Zustand des Menschen, den des objektiven Bewusstseins, besitzen wir paradoxerweise sehr viel mehr theoretische Informationen, und das, obwohl wir iiberhaupt keine Erfah­ rung mit ihm haben, obwohl ihn der Normalmensch auf keinen Fall erreichen kann und obschon dieser Zustand nur nach langer Arbeit vom dritten Zustand, dem des Selbstbewusstseins, aus zuganglich ist. Es ist der Zustand, nach dem sich viele Menschen sehnen, da sie wissen, dass sie ihn nicht besitzen. Die Suche nach den «grossen Kraften», nach allumfassender Liebe, das Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Freiheit, Objektivitat und vielem anderen - auch nach dem «Ideal» - haben als tiefe Begriindung das Vorgefiihl und die im Menschen verwurzelte Ahnung, dass es einen solchen vierten Zustand gibt. Wir wissen nichts von ihm, und der einzige Zugang zu ihm ist wohl jene sogenannte «intellektuelle Intuition», die uns in gewissen Augenblicken gegeben ist; sie ist gleichsam «instinktiv», so wie der «Gewissens»impuls fiir uns der instinktive Zugang zum dritten Zustand ist. Fiir den gewdhnlichen Menschen ist Intuition eine Geistesverfassung, in der er unmittelbar und vollstandig fiihlt, wie wenig er weiss, wie viele Widerspriiche es in dem, was er weiss, gibt und in welcher Richtung sich die Annaherung an die «Wahrheit» vollzieht. Beim vdllig verwirklichten Menschen erreicht die Intuition das objektive Grosse Wissen, das fiir diesen vierten Zustand kennzeichnend ist. Was solcher Zustand in Wirklichkeit ist, kdnnen wir uns iiber­ haupt nicht vorstellen. Wir wissen, dass er mit dem Arbeiten des hdheren Denkzentrums in Zusammenhang steht und mit dem Wachsen eines dritten Kdrpers, des geistigen Leibes. Wir wissen, dass zu ihm ein Zustand universalen Daseins, das objektive Wissen, ein universales Seinsgefiihl und Ausserungsmdglichkeiten gehdren eine Stufe des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und des schdpferischen Willens - die sich der Mensch nicht unmittelbar vorstellen kann. Nur wer den Selbstbewusstseinszustand erreicht hat, kann kurze Augenblicke des objektiven Bewusstseinszustands haben, an die er sich erinnert. Ein Durchschnittsmensch, der kunstlich in diesen Zustand versetzt wird und dann in seine iiblichen Verhaltnisse 73

zuriickkehrt, erinnert sich an nichts und glaubt nur, er hatte eine Zeitlang «das Bewusstsein verloren». Gleichwohl mdchten viele Menschen diesen Zustand geradewegs erreichen, ohne den Weg iiber den Zustand des Selbstbewusstseins zu nehmen (den sie zu besitzen meinen oder fiir genauso illusorisch halten wie den gewdhnlichen Zustand); und so wurden dafiir gewisse asketische Regeln entwickelt. Selbst wenn man annimmt, dass einige Leute diesen Zustand erreichen, was «auf kiinstliche Weise» moglich ist, so stellt solche Verwirklichung dennoch eine Sackgasse dar, die, weil eine Ebene im Menschenwesen fehlt, das hochste Vollbringen unmoglich macht: das Hinausgehen iiber alles Individuelle und vor allem die Riickkehr zum gewohnlichen Leben mitsamt der vollen Wirklichkeit, die die Selbstverwirklichung mit sich bringt. Nun existiert uber den bisher betrachteten Zustanden noch ein «hdchster», den man nicht einmal mehr Zustand nennen kann. Die vier dem Menschen im Leben mbglichen Daseinszustande sind individuelle Zustande, so umfassend und formlos sie auch sein mdgen. Dieser letzte ist die hochste Verwirklichung (das buddhistische Paranirvana, der kosmische Geist im Zen, der Jahve der Kabbala, das Absolute der Metaphysik - jenseits aller Form und aller Individualitat). Er ist «Das», was man nicht benennen, wovon man nichts sagen, woriiber man nichts wissen kann, wovon man nur so zu reden vermag, dass man anfiihrt, was es nicht sei, und das man auch mit den Worten «Vernichtung», «Erldschen», «volle Leere», «Formlosigkeit» bezeichnet; doch es gibt darin kein Nichts, weder Schatten noch Licht, weder Leere noch Fiille, denn in ihm ist alle Unterscheidung oder Verschiedenheit aufgehoben. Er ist, als das Hochste und Letzte, fiir den Menschen das Aufgehen in der erhabensten Verwirklichung.

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Zentren und Funktionen

W™ wir uns

selbst erforschen und erkennen wollen, dann miissen wir wie bei der Untersuchung einer komplizierten Maschine vorgehen: es gilt, ihre Teile kennenzulernen sowie die Art, wie sie ineinandergreifen, danach die Energie, die sie antreibt, und die Weise, wie diese Energie die Maschine in Bewegung setzt: auch muss man die Bedingungen fiir ihre richtige Arbeit erkennen und die Ursachen falscher Arbeit. Unter den Teilen unserer Maschine sind die wesenhaften Zen­ tren oder Gehirne und die sie im Leben ausdruckenden Funktionen das Wichtigste. Nach einer Betrachtungsweise des menschlichen Aufbaus, die wir als die realste und fiir unsere Suche niitzlichste ansehen, enthalt die vollstandige menschliche Maschine sieben derartige Gebilde. Vier sorgen fiir das alltagliche Funktionieren, fur unsere elementare

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Teilnahme am Leben; die drei anderen sind, dariiber hinaus, in besonderer Weise Trager der eigentlichen Individualitat. Die vier gewohnlichen Gebilde, die unser normales Leben aufrechterhalten, umfassen: 1. den intellektuellen Bereich und dessen Funktion: Begriffsbildung und Denken, 2. den affektiven Bereich und dessen Funktion: die Gefiihle und Empfindungen, 3. den motorischen Bereich und dessen Funktion: die Bewegung im Raum und die gesamte aussere Arbeit des Organismus, 4. den instiktiven Bereich und dessen Funktion: die automatische Erhaltung des organischen Lebens: die gesamte innere Arbeit des Organismus. Ein fiinftes Gebilde nimmt einerseits an unserem gewohnlichen Leben teil (dieser Aspekt ist als einziger allgemein anerkannt) und andererseits an der Herausbildung der wahren Individualitat: es handelt sich um die Sexualitat als Funktion des mannlichen und des weiblichen Prinzips in alien ihren Erscheinungsformen, deren Ziel die Teilnahme an der «Schdpfung» ist: einer Schbpfung auf der Ebene, auf der das Geschlecht jeweils wirkt. Dariiber hinaus bestehen im Menschen zwei weitere Gebilde, doch von ihnen sind wir fast vollig abgeschnitten; der Durchschnittsmensch kennt sie nicht; sie erscheinen nur in den hoheren Daseinszustanden; die Alltagssprache hat fiir diese Gebilde kein Wort. Sie sind allein den «Schulen» bekannt: - das eine ist das hohere Gefuhlszentrum (und dessen Funk­ tion), das mit dem Zustand des Beisichseins in Zusammenhang steht. Hierbei, d. h. bei der Anwesenheit eines dauerhaften hoheren Ichs, das eine feste Individualitat bildet samt den dazugehbrigen Fahigkei­ ten: Selbstbewusstsein, Aufmerksamkeit und Wille, treten die wirkli­ chen Gefiihlsempfindungen auf: echte Selbstempfindung und damit verbundene Empfindungen hbherer Art; - das andere ist das hohere Denkzentrum (und dessen Funk­ tion), das im objektiven Denken zum Ausdruck kommt. Es ist verbunden mit dem Zustand universalen, wesenhaften Daseins, zu dem objektives Bewusstsein und Wesensempfindungen gehbren, von denen der gewohnliche Mensch nicht die geringste Ahnung hat. Der Normalmensch «besitzt» diese hoheren Bewusstseinszustande nicht, und wir kbnnen sie nicht wirklich erforschen und

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erfahren. Von ihrer Existenz horen wir indirekt durch diejenigen, die sie erreicht haben. In unserm gewohnlichen Zustand haben wir unter gewissen Umstanden schwache Schimmer des Selbstbewusstseins: es sind blitzartige Kontakte mit dem hoheren Gefiihlszentrum; doch ihre Bedeutung verstehen wir nicht ohne eine besondere Arbeit. Tief in uns vergraben und in der Regel erstickt durch die Entwicklung der Persdnlichkeit besteht noch ein intuitiver Zugangzu dem, was diese beiden Zustande sein kdnnten; ein Zugang zum ersten Zustand vermittels der «Gewissensimpulse» und einer zum zweiten Zustand durch das, was man «intellektuelle Intuition* nennen kann. In religidsen oder philosophischen Lehren und Schriften findet man mannigfaltige Abhandlungen oder Anspielungen auf diese hoheren Bewusstseinszustande und die damit verbundenen hoheren Funktionen. Diese Anspielungen sind fur uns um so schwerer zu begreifen, als wir nicht in der Lage sind, den Unterschied zwischen den beiden Zustanden zu erkennen. Was dort als Ekstase, Samadhi, kosmisches Bewusstsein, Erleuchtung usw. bezeichnet wird, kann sich entweder auf den einen oder auf den anderen Zustand beziehen: manchmal auf Erfahrungen mit dem Bewusstsein seiner selbst, zuweilen auf Erfahrungen mit dem objektiven Bewusstsein. Paradoxerweise erhalt der Mensch im allgemeinen iiber den objektiven Bewusstseinszustand, den hdchsten Zustand, von dem er doch vdllig abgeschnitten ist, die meisten Informationen. Dies liegt zum Teil daran, dass er sich einbildet, den Zwischenzustand, den des Bewusst­ seins seiner selbst, bereits zu kennen und zu besitzen; und obwohl der Zustand des objektiven Bewusstseins nur durch und nach demjenigen des Selbstbewusstseins erreicht werden kann, steht der Mensch diesem letzteren fast immer gleichgiiltig gegeniiber. Deshalb kann sich der Mensch nicht weiterentwickeln: die intellektuelle und ratio­ nale Kultur, so umfassend sie auch sein mag, kann nicht allein zum Zustand des objektiven Bewusstseins und zum grossen Wissen fiihren: die normale Weiterentwicklung des Menschen ist nur im Durchgang durch den Zustand des Selbstbewusstseins mbglich.

Die ersten vier Funktionen genugen, um das gewohnliche Leben sicherzustellen, und dieses verlauft in drei Daseinszustanden mit je einer eigenen Bewusstseinsebene, durch die man die Zustande in der

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Regel voneinander unterscheidet; es sind jene drei Lebensebenen, die uns naturlicherweise gegeben sind: der Schlaf, der Wachzustand und die Selbstbewusstseinsschimmer (die iibrigens noch kein eigentlicher Zustand sind). Alle vier Funktionen kdnnen in jedem der drei Zustande in Erscheinung treten, doch auf ganz unterschiedliche Weise. Im Schlaf geschehen ihre Ausserungen zusammenhanglos und ohne sichtbaren Grund; sie bekunden sich automatisch und entgehen uns fast vdllig; wir kdnnen ihnen hdchstens liickenhafte Informationen uber uns entnehmen; auf jeden Fall sind wir nicht in der Lage, sie fur niitzliche Zwecke einzusetzen. Im Zustand des Wachbewusstseins, d. h. einem Zustand relativen Bewusstseins, in dem zwischen dem Verstand und den anderen Funktionen eine mehr oder weniger koharente Verbindung zustande kommt, haben wir schon eine gewisse Macht iiber die Funktionen: ihr Arbeiten kann iiberwacht, ihre Ergebnisse kdnnen verglichen, iiberpriift, annahernd berichtigt werden, und obgleich die Funktionen noch zahlreiche Illusionen in uns wecken mdgen, kdnnen sie bis zu einem gewissen Grad zu unserer Orientierung dienen. Wir haben nur sie und miissen aus ihnen machen, was wir kdnnen. Wiissten wir um die Unzahl unvollstandiger und falscher Beobachtungen, falscher Theorien, falscher Ableitungen und Schlussfolgerungen, zu denen sie uns verleiten, so wiirden wir nicht langer an das glauben, was sie darstellen und wozu sie uns werden lassen. Aber die Menschen, so wie sie sind, vermdgen nicht zu sehen, wie triigerisch ihre Beobach­ tungen, Glaubensiiberzeugungen und Theorien sind: sie glauben unvermindert an all das und an «sich selbst». Gerade dieser Glaube halt die Menschen davon ab, jene seltenen Momente voll zu erfassen, in denen ihr dritter Bewusstseinszustand, der Selbstbewusstseinszustand, fiir kurze Augenblicke die Steuerung ihrer Funktionen iibernimmt, was in ihnen gewdhnlich einen unvergesslichen Eindruck von Lebendigkeit zuriicklasst. Alles dies bedeutet, dass Bewusstsein und Funktionen in enger Beziehung stehen zu den Daseinszustanden; gleichwohl handelt es sich um unterschiedliche Teile unserer Maschine. Die verschiedenen Funktionen kdnnen sich jederzeit aussern, und die Qualitat ihrer Ausserungen wie auch ihrer gegenseitigen Beziehungen wechselt je nach den Daseinszustanden oder -ebenen, in denen sie sich bekun­ den. Im Aussersten kdnnen die Funktionen ohne das Dasein und 78

kann das Dasein ohne die Funktionen existieren: Beispiele fiir die erste Situation lassen sich durch aufrichtige Beobachtung schon jetzt in uns entdecken. Was die zweite Situation anlangt, so kann ein Mensch von ihr nichts wissen, solange sich in ihm nicht ein geniigend starker Zustand des Beisichseins entwickelt hat. Die Funktionen sind im Leben Ausdruck der Zentren, sind deren Bekundung; als Gesamtheit geben sie jedem Menschenwesen den ihm eigenen Charakter. Die Funktionen sind uns leichter zuganglich als die Zentren, und nur mit ihnen kann die Selbsterforschung beginnen: sie sind unsere Erscheinungsweise in der Welt, und daher kdnnen wir sie beobachten.

Die Zentren hingegen sind als Grundlage des Inneren sehr viel «verborgener», sie gehdren zu unserm Wesen, und ihre besonderen Merkmale kennzeichnen unsere eigentliche Individualitat; aber es gibt nichts, was schwerer wahrzunehmen ware: tatsachlich gehdren sie in den Bereich des Unbewussten. In Wirklichkeit durchtrankt jedes Zentrum den ganzen Kdrper: es dringt sozusagen durch unsern gesamten Organismus. Und andererseits besitzt jedes einen Schwerpunkt. Die Schwerpunkte oder Gehirne bilden in uns unterschiedliche und unabhangige «wesenhafte» Ortlichkeiten. Diese Ortlichkeiten verwalten das Potential an urspriinglich undifferenzierter Lebenskraft, welches jedem Men­ schen bei der Geburt zur Verfugung gestellt oder im Laufe des Lebens von ihm assimiliert wird. Die Zahl der Zentren und die Zahl der Funktionen, die sie zum Ausdruck bringen, sind gleich: sagen wir, beim Menschen, sieben. Doch fiir eine erste Untersuchung sind uns die Zentren viel weniger zuganglich als die Funktionen. Wir bleiben nicht nur von unseren zwei hbheren Zentren abgeschnitten, von denen wir nichts unmittelbar wissen kdnnen, sondern kennen auch vom Geschlechtszentrum hdchstens die organische Stufe seines Wirkens. Schliesslich sind beim gewdhnlichen Menschen das instinktive und das Bewegungszentrum (das der inneren und das der ausseren Arbeit der Maschine) eng miteinander und auch mit der organischen Stufe des Geschlechtszentrums verbunden, mit der zusammen sie ein funktional ausgeglichenes Ganzes bilden. So kann man in einer Annaherung, die am Menschen nichts entstellt, diesen als ein Wesen

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betrachten, das nach drei Weisen lebt: der organischen, der affektiven sowie der intellektuellen, und das mit drei Gehirnen ausgestattet ist, die in ihm auf drei verschiedenen Stufen arbeiten. Dieser dreigehirnige Aufbau eroffnet dem Menschen im Gegensatz zu den zweigehirnigen oder eingehirnigen Lebewesen die Mdg­ lichkeit einer Beziehung zu den drei grundlegenden Schopfungskraften des Weltalls und somit die Mdglichkeit einer eigenstandigen Weiterentwicklung . Wir kdnnen uns fragen, was diese «unabhangigen wesenhaften Ortlichkeiten» oder Gehirne sind. Sie sind iibrigens funktionsmassig nicht unabhangig, denn durch ihre wechselseitigen Verkniipfungen bleibt nichts von dem, was das eine betrifft, ohne Auswirkungen auf die beiden anderen.

Das Gehirn, das den Umwandlungen (d. h. der Aufnahme, Konzentrierung und Ausgestaltung) der ersten grundlegenden Kraft (der bejahenden oder positiven oder aktiven Kraft) als Hauptstiitze dient, befindet sich als das Gehirn der intellektuellen Stufe im Kopf. Das Gehirn, das den Umwandlungen der zweiten grundlegen­ den Kraft (der negativen oder empfangenden oder passiven Kraft) als Haupttrager dient, befindet sich als dasjenige der organischen Stufe in der Wirbelsaule oder, genauer gesagt, im Zentralnervensystem Jenes Gehirn hingegen, das den Umwandlungen der dritten grundlegenden Kraft (der versbhnenden oder neutralisierenden oder der Beziehungskraft) als Hauptstiitze dient, ist in mehrere Teile geteilt, deren Ortlichkeiten entsprechend ihren besonderen Funktionsablaufen auseinandergehen, die jedoch eng miteinander verbunden sind, so dass sie wie ein Ganzes funktionieren; die wichtigsten Teile bilden das Sonnengeflecht, und als Gesamtheit kommen sie dem nahe, was wir unter dem Namen vegetatives Nervensystem oder neurohormonales System kennen, von dem der affektive oder gefiihlsmassige Zustand des Menschen abhangt.

Die durch die Nahrung in den Menschen eindringende urspriingliche Lebenskraft spaltet sich in ihm zum Zweck der Assimilierung in ihre Grundbestandteile: den aktiven, den negativen und den versohnenden. Waren die Lebensbedingungen des Menschen normal, so

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verteilten sich diese Bestandteile auf die drei entsprechenden Ebenen: die organische, die des hdheren Gefiihls und die des hdheren Denkens, um im Menschen die drei Quellen einer voll entwickelten Wesenheit zu verwirklichen. Doch auf Grund der anomalen Lebensbedingungen und vor allem durch das Fehlen einer direkten Verbindung der Zentren untereinander sowie durch das Fehlen einer Verbindung der organi­ schen Ebene zu den hdheren Zentren lebt der heutige Durchschnittsmensch hdchstens auf seiner organischen Stufe und mit einem schwachen Abglanz dessen, was sein wahres affektives und intellektuelles Leben sein kdnnte. In Ermangelung eines wirklichen, umfassenden Daseins ist nur der organische Teil des Menschen, der planetarische Kdrper (mit seiner physischen, seiner gefiihlsmassigen und seiner Verstandesstufe) in der Lage, fiir den Eigenbedarf und die Beteiligung an der Entwicklung einer Individualitat den ihm zustehenden Energieanteil aufzunehmen: dieser Anteil wird assimiliert von dem Bewegungszentrum, von dem instinktiven Zentrum und der unteren Stufe des Geschlechtszentrums. Alle iibrige Energie, die in der Hauptsache der bejahenden und der versbhnenden Kraft entspricht, ist fiir den Menschen verloren, es sei denn er unternimmt eine besondere Daseinsanstrengung, mit deren Hilfe er die ubrige Energie einigermassen aufnehmen und assimilieren kann, damit sie zur Bildung jener zwei hdheren Kdrper diene, ohne die seine Individualitat nicht zur vollen Entfaltung zu gelangen vermag. (Dies bezieht sich auf die «Alchimie» des ersten und des zweiten bewussten Schocks, den Gurdjieff in seinem und in Ouspenskys Buch eingehend erdrtert.) Das durch die vier unteren Zentren und Funktionen aufrechterhaltene Leben des heutigen Durchschnittsmenschen bleibt rein planetarischer Natur und ohne die Hoffnung, es kdnne ihn dariiber hinausfuhren. Der Mensch verharrt tatsachlich als hdheres Tier, solange seine Mdglichkeiten anderer Natur unentwickelt bleiben: das einzige, was ihn vom Tier unterscheidet, sind diese Mdglichkeiten in ihm, und auch nur insofern, als noch keine Verzdgerung bei ihrer Entfaltung sie hat verkiimmern lassen. Die Zentren verwenden eine Energie, die mehr oder weniger indirekt der universalen Lebenskraft entstammt und in Beziehung steht zur Beschaffenheit der «Substanz» der Zentren beziehungsweise zu deren Schwingungsfrequenz. 81

Doch die Zentren sind nicht unmittelbar an jene Energiequelle angeschlossen: vielmehr wird ihnen die Energie zugefiihrt durch verschiedene «Nahrungsarten» oder Elemente, die in den Organismus eindringen. Diese eindringenden Elemente von unterschiedlicher Substantialitat und Qualitat sind zwar nicht direkt verwendbar, konnen jedoch durch eine fiir jedes Element charakteristische Assimilationsarbeit absorbiert werden und nehmen so im Menschen an der Erhaltung und Herstellung der entsprechenden «Substanzen» teil; der Rest durchquert den Organismus, ohne zuriickgehalten zu werden, und wird also wieder ausgeschieden. Gurdjieffs Ideen zufolge sind diese «Nahrungen» von dreierlei Art: die unsbekannten Lebensmittel, die Atmosphare, die wir einatmen (von der die Luft nur das konkreteste Element ist), und die Eindriicke, die wir aufnehmen. Was jene Elemente anlangt, die der natiirlichen Entwicklungsstufe des Menschen entsprechen, so vollzieht sich gemass den Grundmechanismen des Organismus ihre Assimilierung teilweise von selbst; aber ein weiterer Teil dieser gleichen Elemente wird dariiber hinaus assimilierbar, wenn durch Arbeit an sich selbst passende substantielle Trager und diesen entsprechende «Ernahrungs»weisen entwickelt worden sind. Solche Betrachtungen mogen uns auf den ersten Blick merkwiirdig erscheinen. Doch wenn wir ihnen Beachtung schenken, so konnen wir erkennen, dass es in uns Ahnungen gibt, die geniigen sollten, um uns eine grundlichere Erforschung der Quellen unserer Lebenskraft und der Voraussetzungen fiir die Verfeinerung der Qualitaten unseres Lebens nahezulegen. So wissen wir durchaus, dass schwere und grobe Nahrung weder die Qualitat unserer Arbeit noch die Feinheit unserer psychischen Wahrnehmungen fdrdert; auch wissen wir, dass die Umwelt, in der wir leben, und die Verfeinerung, ja sogar Raffinesse unserer Umgebung ein wichtiger Faktor sind bei der Entwicklung entsprechender Verstandnisqualitaten in uns; schliesslich spielen die menschlichen Beziehungen, die wir herstellen, und die Einfliisse, die wir annehmen oder denen wir ausweichen, bei unserer inneren Weiterentwicklung eine wichtige Rolle. Die Erforschung der Bedingungen, unter denen sich die verschiedenen Nahrungen aufnehmen und assimilieren lassen, ist deshalb fiir jeden, der an seiner Umwandlung arbeiten mochte, eine «lebenswichtige» Notwendigkeit; sie ist eine Voraussetzung seiner Weiterentwicklung.

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Die spezifische Energie, iiber die jedes Zentrum zu einem bestimmten Zeitpunkt verfiigt, zum Beispiel fur eine ihm abverlangte Arbeit, ist freilich nicht unerschbpflich: sie stellt nur den Vorrat dar, den es zu speichern vermochte. Von dieser Kraftreserve und der Weise, wie man sie verwenden kann, gibt Gurdjieff in dem Buch Ouspenskys ein anschauliches Bild.1 Nach dieser Beschreibung spielt sich alles so ab, als existierten in der menschlichen Maschine nahe bei jedem Zentrum zwei kleine Akkumulatoren fiir die spezifische funktionale Energie, die das Zentrum verwendet. Diese kleinen Akkumulatoren sind miteinander und mit dem entsprechenden Zentrum verbunden. Ausserdem besteht im Organismus ein grosser Akkumulator der wesenhaften Lebenskraft, mit dem jedes kleine Akkumulatorenpaar verbunden ist; dieser grosse Akkumulator ist gewissermassen der Hauptspeicher nichtspezifischer Energie, welche er je nach Bedarf (sofern er selber richtig gespeist wird) in die jedem Zentrum eigentiimlichen Energien differenziert. Wenn ein Zentrum - das Denk-, das Gefiihls-, das Bewegungsoder das instinktive Zentrum - arbeitet, bezieht es die notwendige Energie aus einem der zwei kleinen Akkumulatoren. Muss diese Arbeit fortgesetzt werden, so geht die Energie dieses Akkumulators schliesslich zur Neige: die Arbeit wird langsamer und dann unmdglich. In diesem Augenblick bewirkt eine Unterbrechung, eine kurze Pause, zuweilen ein ausserer Schock oder eine weitere Anstrengung den Anschluss an den zweiten kleinen Akkumulator: mit neuer Energie und neuen Mdglichkeiten kommt die Arbeit wieder in Gang, und in der Zwischenzeit ladt sich der erste Akkumulator erneut auf. Falls die Arbeit sich langer hinzieht, wird auch der zweite Akkumula­ tor schwacher: eine weitere Ruhepause oder ein neuer ausserer Schock, und der Anschluss an den ersten Akkumulator ist wieder hergestellt. Alles hangt darum von der Intensitat der Arbeit und dem Tempo des Energieverbrauchs ab. Ist dieser massvoll und der Geschwindigkeit des Wiederaufladens durch den Hauptakkumulator angepasst, dann setzt, mit ahnlichen Mdglichkeiten, die Arbeit wieder ein. Wenn aber aus dem einen oder anderen Grund Umfang und Tempo des Verbrauchs das Mass des Wiederaufladens iibersteigt, dann tritt 1 Vergl. Auf der Suche nach dem Wunderbaren, S. 342 ff (von dort stammt das Wesentliche dieser Beschreibung).

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der erneute Anschluss vor Beendigung des Nachladens ein, und der Energievorrat schwindet Schneller. Nach wiederholter Erschdpfung kommt es schliesslich dazu, dass beide Akkumulatoren keine Ener­ gie mehr liefern und die Arbeit nicht weitergehen kann. Der Mensch fiihlt sich wirklich miide, und normalerweise muss die Arbeit zum Stillstand kommen. Wenn jedoch eine zwingende Notwendigkeit besteht und dem Menschen eine Arbeit sehr am Herzen liegt, dann kann er sich auch noch iiber diese Miidigkeit hinwegsetzen und neue Energie finden: dies bedeutet, dass das Zentrum jetzt mit dem grossen Akkumulator direkt in Verbindung steht. Der grosse Akkumulator enthalt eine ungeheure Energiemenge, und in Verbindung mit ihm ist ein Mensch zu anscheinend iibermenschlichen Anstrengungen imstande. Wenn allerdings der Energiebedarf sehr gross ist, schneller und grosser als die Wiederaufladung durch Nahrung, Luft und Eindriicke, so versiegt selbst der grosse Akkumulator, und der Organismus stirbt. Doch so etwas bleibt eine Ausnahme: damit ein Organis­ mus an Erschdpfung stirbt, bedarf es besonderer Umstande. Lange vor der wirklichen Gefahr reagiert der Organismus und hdrt, so oder so, zu funktionieren auf: der Mensch fallt in Ohnmacht, schlaft ein oder entwickelt eine Krankheit, die ihm zum Anhalten zwingt. Die kleinen Akkumulatoren haben keinen sehr grossen Energie­ vorrat. Sie geniigen fiir den taglichen Bedarf und die gewdhnliche Arbeit im Leben. Doch fiir jede wichtige Unternehmung und vor allem fur die Arbeit an sich selbst, fiir das innere Wachstum und die Anstrengungen, die von jedem gefordert werden, der sich auf einen Weg der Weiterentwicklung begibt, geniigt die Energie der kleinen Akkumulatoren nicht. Wer sich auf eine derartige Suche einlasst, muss daher lernen, wie man die Energie unmittelbar aus dem grossen Akkumulator bezieht und, falls notwendig, eine direkte Verbindung herstellt zwischen dem grossen Akkumulator und diesem oder jenem Zentrum; solange dieser dazu nicht in der Lage ist, scheitert er bei diesen Unternehmungen und «schlaft» ein, ehe seine Anstrengungen zum geringsten Ergebnis fiihren kdnnen. Diese direkte Verbindung ist nur mit Hilfe des Gefiihlszentrums moglich. Das Gefiihlszentrum ist sehr viel feiner als die drei anderen Zentren (- vor allem wenn man bedenkt, dass das Denkzentrum gewdhnlich nur mit seiner unteren Stufe, dem formgebenden Appa-

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rat, arbeitet -) und eignet sich von Natur aus weitaus besser fiir diesen direkten Anschluss. In Situationen, in denen das Gefiihlszentrum stark gefordert ist, beobachtet man am haufigsten, dass dieser Anschluss zustande kommt; und man kann ihn absichtlich herbeifiihren lernen. Gerade iiber das Gefiihlszentrum mag es dem Menschen gelingen, die fiir seine weitere Entwicklung erforderliche Energie zu mobilisieren, und kann er fahig werden, die notwendigen Uberanstrengungen auf sich zu nehmen, einschliesslich derjenigen, die die Entwicklung der hdheren Teile seines Denkzentrums ermdglichen, das hierzu allein nicht imstande ist.

So stellen die Zentren und ihre Funktionen ein vielschichtiges Ganzes dar, das zu kennen sich als iiberaus wichtig erweist. Die Zentren sind zugleich Energieempfangsgerate, Aufzeichner, Umwandler (oder vielmehr Wahler) und Sender. Jedes Zentrum ist als Energieempfangsgerat zur Aufnahme jener verschiedenen Elemente da, die die drei Nahrungsarten der Maschine darstellen. Damit aber diese Nahrungen dem Energiepotential des Organismus zugefuhrt werden kdnnen, miissen sie assimilierbar gemacht werden fiir den grossen Akkumulator, aus dem dann jedes Zentrum die ihm eigene Energiequalitat bezieht. Die Zentren selber kdnnen sich nicht dire kt ernahren. Die Energieaufnahme durch die menschliche Maschine und die Art, wie sich die Energien assimilieren lassen, deuten auf eine komplizierte innere Alchimie hin, die, will man sie verstehen, eine besondere und schwierige Untersuchung erfordert. Zum Beispiel sind einige von den Zentren empfangene Eindriicke oder Einfliisse, wie etwa die planetarischen, unsichtbaren oder weit entfernten Ursprungs. Andererseits erfahrt im Organismus jede Nahrungsart bestimmte Umwandlungen, die zur Assimilierung eines Teils ihrer Bestandstiicke und zur Ausstossung eines anderen Teils fiihren; dariiber hinaus hat jede Energieumwandlung ihre besonderen Kreislaufe. Jedes Zentrum ist auch ein Wahler- und, bis zu einem gewissen Grade, ein Umwandlungsgerat. Es entnimmt der zentralen Energiereserve (wo sich die Energie in Formen ansammelt, die von der Entwicklungsstufe des Menschenwesens abhangen) diejenige Ener­ gie, die seiner «wesenhaften» Natur und seiner Arbeitsstufe entspricht, und es verleiht der Energie, in jedem Menschen, die dem

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eigenen Aufbau innewohnenden, d. h. seinen Wesensmerkmalen gemassen Eigenschaften. Jedes Zentrum ist zudem ein Sendegerat auf Grund der Funktio­ nen, die ihm obliegen und deren Ausubung ihm im inneren und ausseren Leben des einzelnen zukommt. Schliesslich hat jedes Zentrum ein eigenes Gedachtnis: mit seinem Empfangs- und Sendeteil sind Aufzeichnungsgerate aus empfindlichem Material verbunden, die man heutzutage mit Computerspeichern vergleichen wiirde, die Gurdjieff hingegen mit unbenutzten Wachswalzen des Phonographen verglich. Alles, was uns zustosst, alles, was wir sehen, horen, machen, erfahren, wird auf diesen Walzen aufgezeichnet. Alle inneren und ausseren Ereignisse lassen auf ihnen Eindriicke zuriick. Es handelt sich dabei freilich um Eindriicke, Einpragungen, die tief oder oberflachlich sind, die auch fluchtig sein und sehr schnell spurlos verschwinden kdnnen. Dariiber hinaus werden im Bereich des Verstandes diese den Walzen der verschiedenen Zentren eingepragten Eintragungen oder Eindriicke durch Assoziationen miteinander in Beziehung gebracht. Diese Assoziationen sind fiir das Verstandnis der Arbeitsweise der Maschine von sehr grosser Bedeutung: die Maschine ist so gebaut, dass gewisse Aufzeichnungsbedingungen bei einigen Eindriicken eine automatische Tendenz zum Zusammenschluss bewirken, so dass die Erinnerung an einen Eindruck automatisch die Erinnerung an alle so mit ihm zusammengeschlossenen zur Folge hat. Solche Assoziationen entstehen vor allem zufolge zweier Umstande: einerseits wenn die in einem oder mehreren Zentren gemeinsam empfangenen Eindriicke sich den entsprechenden Walzen gleichzeitig einpragen, andererseits wenn Eindriicke ein und derselben Walze oder von Walzen verschiedener Zentren eine gewisse Ahnlichkeit besitzen (so dass sie sich durch eine mit der Resonanz verwandte Erscheinung gegenseitig wachrufen). Wer seine Maschine fiir die eigene Weiterentwicklung nutzen will, der muss diese beiden automatischen Assoziationsprozesse kennen; vor allem von dem ersten Prozess kann sehr schnell Gebrauch gemacht werden: die auf einer oder mehreren Walzen gleichzeitig empfangenen unterschiedlichen Eindriicke sind namlich auf Grund dieser Tatsache miteinander verbunden; sie bleiben nicht nur langer im Gedachtnis als die isolierten Eindriicke, sondern gleichzeitig lasst auch die Erinnerung an einen Eindruck unweigerlich

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die anderen aufsteigen. Wenn es einem Menschen gelingt, zumindest zeitweise in sich eine gewisse Einheit zu verwirklichen, so sind alle in solchem Augenblick von den verschiedenen Zentren gemeinsam empfangenen Eindriicke miteinander verbunden, und sie bleiben im Gedachtnis verbunden und tragen so dazu bei, diese Einheit zu festigen. Aber eine genauso wichtige Rolle spielt der zweite Prozess: die Eindriicke, die eine gewisse innere Ahnlichkeit aufweisen, rufen sich ebenfalls gegenseitig hervor und lassen eine tiefere Spur zuriick; diese Beziehung entsteht automatisch, wenn in ein und demselben Zentrum sich ahnliche Eindriicke wiederholen: auf ihr beruhen die Konditionierungen und Gewohnheiten, die die Mechanitat des gewohnlichen Lebens erhalten. Wenn aber der Mensch durch eine besondere Arbeit bewusster wird, so entstehen zwischen seinen verschiedenen Walzen subtilere und vollstandigere Ahnlichkeitsbeziehungen, die ihm eine Gesamtheit zur Verfiigung stellen, worin alle ahnlichen Eindriicke auf den verschiedenen Ebenen miteinander verkniipft sind. Im Zustand der Idenfikation hingegen bemerkt der von ausseren Funktionsablaufen in Anspruch genommene Mensch die Ereignisse, die auf seine Zentren einwirken kdnnen, iiberhaupt nicht, und wenn er sie bemerkt, so verschwinden ihre unbewusst festgehaltenen Spuren, noch ehe sie gewiirdigt oder assoziiert worden sind: in seinem Gedachtnis lassen sie daher nicht die geringste Spur zuriick. Jedes Zentrum, und der ganze Mensch als Summe der Zentren, hat also eine passive Seite, d. h. einen fiir die zu ihm gelangenden Energien mehr oder weniger offenen Empfangsapparat; es hat auch eine aktive, eine handelnde Seite, die mehr oder minder wirksam in die Formen des Lebens eingreift, und zwischen beiden gibt es einen Auswahlvorgang, der verantwortlich ist fiir die eigentiimliche Quali­ tat, die das Zentrum dieser seiner Energie aufpragt.

Unter alien diesen Begriffen, die auf den ersten Blick etwas willkiirlich erscheinen mdgen, bleibt uns das Einleuchtendste dies, dass jedes Zentrum spezifische Merkmale hat, deren Erfassung fiir die Suche nach Selbsterkenntnis von erheblicher Bedeutung ist: es ist eines der ersten Ziele der Selbstbeobachtung. Von jenen Teilen in uns, von denen wir gewdhnlich abgeschnitten sind (die beiden hoheren Funktionen und die hoheren Stufen der sexuellen Funk87

tion), kdnnen wir gegenwartig nichts oder nur sehr wenig wissen. Doch wir vermogen die vier Funktionen zu beobachten, mit denen wir normalerweise leben. Durch wiederholte Beobachtung derselben kdnnen wir uns nach und nach sicherlich der Merkmale bewusst werden, die fiir jede Funktion an ihrem Ursprung charakteristisch sind, d. h. in dem Augenblick, da sie mit einem Anfangsimpuls aus dem Zentrum hervorgeht; und vielleicht kdnnen wir hierdurch zur Erkenntnis der Zentren gelangen, das heisst zur Erkenntnis unseres eigenen Wesens, ohne die es keine Selbsterkenntnis gibt. Dazu sind wir jedoch nicht sofort in der Lage, und die Selbstbeobachtung kann, falls man einen grdsseren Irrtum vermeiden will, nur mit der Beob­ achtung unserer ersten vier Funktionen beginnen: der Denk-, der Gefuhls-, der Bewegungs- und der instinktiven Funktion. Diese Beobachtung umfasst zwei Phasen, zwei Stufen: zunachst gilt es, die Funktionen in alien ihren ausseren Bekundungen zu beobachten und kennenzulernen; danach kann man sie in einem selbst beobachten, indem man sich um Erkenntnis und Verstandnis ihrer inneren Grundtendenzen bemiiht, die ihnen jene aussere Form verleihen, in der wir in Erscheinung treten. Die Schwierigkeit dieser Beobachtung wird sogleich deutlich: unsere Funktionen sind namlich nicht nur vielfaltig und stets in alle Situationen gemeinsam verwickelt, wobei die eine oder andere Funktion iiberwiegt, aus Unwissenheit verwechseln wir sie auch fortwahrend. Vergrdssert wird dieses Durcheinander noch dadurch, dass unterschiedliche Funktionen ein recht ahnliches Aussehen anzunehmen vermogen und gleiche Ausserungen aus verschiedenen Quellen in uns stammen kdnnen. Unsere Beobachtungen gestalten sich auch insofern schwierig, als unsere Funktionen je nach dem (standig wechselnden) Zustand, in dem wir uns befinden, ein sehr unterschiedliches Aussehen haben. Daher gilt es, mit der Beobach­ tung einfacher Situationen zu beginnen, in denen uns eine leicht erkennbare und deutlich dominierende Funktion die Mdglichkeit bietet, ihre Quelle in uns direkt zu erleben. Spater haben wir dank der Erfahrungen weniger Miihe, zu erkennen, um welche Funktio­ nen es sich handelt, und auch weniger Miihe, zu gegebener Zeit in einem Aufleuchten des Daseins echte «Moment»aufnahmen von uns zu machen.

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Das Denken ist die Funktion des intellektuellen Zentrums. In ihm liegen alle verstandesmassigen Prozesse beschlossen: die Aufnahme intellektueller Daten; Analyse, Vergleich und Ausarbeitung von Ideen, Uberlegungen und Vorstellungen sowie deren Aufzeichnung im intellektuellen Gedachtnis. Das Denken ist freilich je nach der Ebene, auf der dieses Zentrum arbeitet, von unterschiedlicher Art (und Qualitat). Wie wir sehen werden, fiihrt die Selbstbeobachtung zu dem Schluss, dass die Vorstellungen, d. h. unsere gewdhnliche Denkweise, rein mechanischer Natur sind. Die Vorstellungen bilden in uns durch ihr automatisches Aufsteigen bei alien Eindriicken, die den Intellekt beriihren, durch ihren unaufhdrlichen Fluss, ihre standigen Assoziationen und systematisch reaktiven Vergleiche und Antworten das, was man den «formgebenden Apparat» oder «Verstand» nennen kann (der zu Unrecht bisweilen als formgebendes «Zentrum» bezeichnet wird, ist er doch kein Zentrum, sondern nur ein Verschiebebahnhof), mit dem wir auf nahezu alle Lebenslagen zu reagieren gewohnt sind. Selbst das sogenannte «Nachdenken» ist meistens ihm zuzuordnen. Eine solche Betrachtungsweise iiber das «Denken», mit dem wir gewdhnlich leben und durch das fast alle Leistungen des Menschen vollbracht wurden, ist auf den ersten Blick offenkundig schwer zu akzeptieren; und annehmbar wird si’e nur, wenn man eine andere Form des Denkens erfahren hat. Damit das intellektuelle Zentrum die Fahigkeit erlangt zu einem anderen Denken als der rein reaktionsartigen und automatischen Vorstellung, muss es allerdings auf einer anderen Ebene arbeiten: auf der eines Daseins und eines wirklich ausgebildeten, umfassenden, dauerhaften Ichs; dann werden eigenstandige Gedanken mdglich, samt Ausarbeitung, echter Uberlegung und einer Vorausdeutung gemass unserer Gesamtindividualitat, was kennzeichnend ist fiir das wirkliche «subjektive» Denken. Eine dritte Denkebene, deren Mbglichkeit man wohl vermutet und die wirkliches «objektives» Denken ware, kennt der Mensch nicht. Solches Denken vollzieht sich auf einer noch hdheren Stufe und gehdrt zum hdheren Denkzentrum. Auf alien Ebenen ist die Funktion des Intellekts Bejahung und Verneinung: das Ja oder das Nein. Der Intellekt empfangt Daten, vergleicht sie mit dem, was er kennt, koordiniert, stellt fest und sieht voraus. Auf der untersten Ebene handelt es sich um das automatische 89

kritische Urteil und die Einbildung; auf einem hdheren Niveau ist es logische Gegeniiberstellung und Vorhersage; vom objektiven Denken freilich kdnnen wir nichts wissen, jedoch vermuten, dass es mit dem Grossen Wissen iibereinstimmt und eine Vorausdeutung vermag gemass alien Gesetzen, die die Welt und alles in ihr lenken, sowie gemass der Ursache dieser Gesetze. Dies kdnnte nun der Anlass sein zu einem Hinweis auf die Ahnlichkeit mit dem Logos oder dem Wort der Schdpfungsgeschichte; doch wir sollten uns eingestehen, dass unser gewdhnliches Denken solche Begriffe nicht wirklich zu erfassen vermag.

Die Gefiihlsempfindung ist die Funktion des Gefiihlszentrums. In ihm sind alle Gefiihlsvorgange beschlossen: Freude, Leid, Kummer, Furcht, Uberraschung usw., aber die Beobachtung zeigt uns schnell, dass wir diese Vorgange oft nicht unterscheiden kdnnen und sie standig verwechseln mit Funktionsablaufen anderer Zentren; eine grosse Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass wir die instinktiven Schocks, die nur das organische Leben des Korpers betreffen (zum Beispiel gewisse Angste), auf recht ahnliche Weise verspiiren wie die gefiihlsmassigen Schocks und dass sie infolgedessen ganz allgemein als Gefiihle gelten. Das Gefiihlszentrum «empfindet»: jedesmal wenn ein Eindruck zu ihm gelangt, mag es ihn oder mag ihn nicht und empfindet fiir ihn persdnliche Zustimmung oder Missbilligung, die sich kundtut in Form eines Gefiihls. Sooft daher eine Sache den Menschen und seine Gefiihlsfunktion beriihrt, bringt diese sie ihm automatisch naher oder entriickt sie ihm, indem ein positives oder negatives Gefiihl zum Ausdruck kommt: das Zentrum empfindet diese Sache als wiinschenswert oder als unerwiinscht. Die Arbeit des Gefiihlszentrums hangt freilich ganz von der Daseinsstufe ab; im gewdhnlichen Zustand des Menschen ist nur eine Rolle vorhanden: datum entstehen ausschliesslich Emotionen (teilhafte Affekte, die einem einzelnen Aspekt von uns innewohnen), und nicht echte Gefiihlsempfin­ dung (ein Gesamtaffekt, der dem umfassenden Dasein eines wirklich ausgebildeten inneren Ichs innewohnt). Der Mensch hat in seinem gewdhnlichen Zustand keine echte Empfindung; er hat nur automatische, reaktionsartige Gefiihle, die vollig von der jeweiligen Rolle abhangen. Diese Rolle verandert sich je nach den Umstanden, und

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mit ihr verandern sich seine «Empfindungen», aber diese Veranderungen sieht der Mensch nicht, und er glaubt, er ware in seinem Gemiitsbereich mehr als iiberall sonst mit einer Bestandigkeit und Kontinuitat ausgestattet, die er nicht hat. Das Gefiihlszentrum ist nur dann zu wirklicher Empfindung fahig, wenn ein von den Umweltverhaltnissen relativ unabhangiges, bestandiges Dasein entstanden ist, im Umkreis einer Selbstempfindung, die das Dasein belebt und seinem Leben jederzeit einen Sinn verleiht gemass dem, was es ist. Vereinfachend kann man sagen, dass die Gefiihle zur Persdnlichkeit gehdren und die hdheren Empfindungen zum wahren wesenhaften Ich. Selbstempfindung ist als Begleiterscheinung des Erwachens zu sich selbst die erste wirkliche Empfin­ dung, deren der Mensch fahig ist; solche Entwicklung des Gefiihlszentrums gelangt durch fortschreitende Verfeinerung, und Hand in Hand mit der Verwirklichung eines Ichs, zur Stufe des hdheren Gefiihlszentrums und gelangt so zur Verbindung und dann zur Verschmelzung mit ihm. Nur auf dieser Stufe ist der Mensch zu den grossen «objektiven» Empfindungen: Glaube, Hoffnung und Liebe, imstande. Auf alien Ebenen ist die Gefiihlsfunktion persdnliche Beurteilung und Beziehung; auf alien Ebenen empfindet, beurteilt und willigt das Gefiihlszentrum mehr oder weniger ein. Echte Empfin­ dungen sind nicht negativ; sie haben nichts Negatives. Eine echte Empfindung kann mehr oder minder intensiv, grosser oder weniger gross sein; andernfalls existiert sie nicht: es herrscht nur Gleichgiiltigkeit; das hdhere Gefiihlszentrum hat nichts Negatives. Auf der gewdhnlichen Ebene, auf der Stufe der Gefiihle hingegen willigt das Gefiihlszentrum ein oder lehnt ab; und die Gefiihle, mit denen wir leben, kdnnen positiv, gleichgiiltig oder negativ sein, je nach dem, wie sie auf die Empfindsamkeit - d. h. die besondere Eigenliebe einwirken, die jede unserer Rollen belebt.

Die Bewegung ist die Funktion des motorischen Zentrums; es umfasst alle ausseren Bewegungen wie Gehen, Schreiben, Sprechen, Essen usw.: die Funktion des motorischen Zentrums ist Bewegung oder Ruhe, Tatigkeit oder Untatigkeit und die mehr oder weniger tiefe Entspannung. Unsere Gestalt und den Grad ihrer Tatigkeit nehmen wir durch die Kdrperempfindung wahr: die physische Selbst91

empfindung erlaubt uns jederzeit, unsere Haltung und unsere Tatigkeit zu erfassen und gegebenenfalls unter Kontrolle zu halten: daher die grundlegende Bedeutung der Kbrperempfindung bei der Suche nach Selbsterkenntnis. Das charakteristische Merkmal des Bewegungszentrums ist seine Passivitat: es hat keine eigene Initiative und bleibt seiner Natur nach trage; allerdings gehorcht es unverziiglich, wenn es um einen Dienst gebeten wird. Dies erklart, warum man vor allem bei den niederen Tatigkeitsebenen der Maschine oft Schwierigkeiten hat, das zum Bewegungszentrum Gehbrende von dem zu unterscheiden, was aus solchem stammt, das sich dieses Zentrums bedient. Das Bewegungs­ zentrum hat gleichwohl eine eigene, unabhangige Existenz; es hangt von keinem Zentrum in besonderer Weise ab. Wie die anderen Zentren (wir sehen dies weiter unten) besitzt es ein eigenes Denken (seine Bewegungsintelligenz), einen eigenen Instinkt, ein eigenes Gefuhlsvermbgen, und es ware zu eigener Tatigkeit fahig; doch auf Grund seiner iibermassigen Passivitat wird es nur ausnahmsweise tatig. Eine weitere Haupteigenart des Bewegungszentrums, die sich ebenfalls aus seiner Passivitat ergibt, ist sein Nachahmungsvermogen . Das Bewegungszentrum ahmt das, was es sieht, ohne zu iiberlegen nach: es ist in der Lage, sich an ein Modell zu halten und dessen Verhalten genau und unverandert wiederzugeben. Auch bei scheinbar komplizierten Verhaltensformen bedient sich die Nachahmung stets nur des Bewegungszentrums, wenn jedoch die Kompliziertheit einen gewissen Grad iibersteigt, so sind auch die anderen Zentren, zumindest mit ihrer jeweiligen motorischen Stufe, darin verwickelt. Ein anderes Merkmal des Bewegungszentrums ist, dass alle seine Verhaltensweisen erlernt werden miissen. Die Bewegungsfunktionen des Menschen miissen ebenso wie die der Tiere erlernt werden, und im allgemeinen ist das Bewegungszentrum mit einem bemerkenswerten Gedachtnis ausgestattet. Dieser Umstand ermbglicht die Unterscheidung der Bewegungsfunktionen von den instinktiven, die angeboren sind. Der Mensch hat recht wenig angeborene aussere Bewegungen; die Tiere haben mehr, je nach den Arten in unterschiedlichem Masse. Doch was man bei ihnen gemeinhin «Instinkt» nennt, betrifft in Wirklichkeit zumeist einen Komplex vielschichtiger motorischer Verhaltensweisen, den die jungen Tiere durch Nachahmung von den alten lernen. Wenn wir die Arbeitsweise des Bewegungszentrums in uns 92

beobachten, tritt sehr rasch ein wichtiger Begriff hervor. Das nor­ male Arbeiten dieses Zentrums (wie iibrigens das des instinktiven Zentrums, und im Gegensatz zum Arbeiten des Gefiihls- und des Denkzentrums, deren Niveau von der Daseinsstufe abhangt) ist relativ unabhangig. Das Bewegungszentrum vermag im Rahmen seiner Mdglichkeiten von sich aus die ihm abverlangte Arbeit zu gewahrleisten, ohne dass der Teil, der die Arbeit fordert, iiber die einfache, anfangliche Anweisung hinaus direkt eingreift, und ohne eine andere Kontrolle als die «Uberpriifung» (Beaufsichtigung und Anpassung) der vollbrachten Arbeit und des damit erzielten Ergebnisses. Und das Bewegungszentrum arbeitet normalerweise so, im gewdhnlichen Leben ebenso wie auf den hdheren Lebensebenen. Doch gibt es im gewdhnlichen Leben auf Grund der, wie wir sehen werden, falschen Arbeit der Zentren haufig Anomalien: anomale Beziehungen, Auftragsverwechslungen und iibermassige Eingriffe bringen, auch ohne die natiirliche Faulheit des Bewegungszentrums, dessen Arbeit fortwahrend in Unordnung, ersetzen und verfalschen sie. Solange nicht ein bestandiges und wohlgeordnetes Dasein begriindet worden ist, das die Arbeit des Bewegungszentrums zu leiten vermag, kann sie weder unter geregelten Umstanden vor sich gehen, noch an wahrem «Tun», an einem echten Vollbringen teilnehmen. Beim normalen Menschen dient das Bewegungszentrum, auch wenn es mit einer soliden, das Alltagsleben ermdglichenden Erziehung ausgestattet ist, gelegentlich vielfaltigen Interessen; es erfahrt unaufhbrlich Veranderungen, Rivalitaten, Einmischungen und Briiche: darum bleiben, vor einem Hintergrund blinder Gewohnheiten, seine Handlungen auf lange Sicht folgenlos und fiir den Augenblick haufig «misslungen». Das Schlimmste dabei ist, dass der auf diese Weise handelnde Mensch die Konsequenzen seiner Fehler tragen muss. Eine unbewusste und unheilvolle Handlung lasst sich spater oftmals (aber nicht immer) wieder gutmachen, um den Preis einer neuen, diesmal bewussten Arbeit, (von dem unternommen, der so handelte, oder von einem anderen), und zwar einer sehr viel harteren Arbeit, als sie es bei gerechtem Handeln gewesen ware; doch bleiben die Folgen jeder Handlung bestehen, und ihr Ergebnis lasst sich keinesfalls beseitigen. Dem besonders im Bewegungsbereich wahrnehmbaren Gesetz von der Verkettung der Ursachen und Wirkungen kann man nicht entrinnen; der Mensch tragt unausweichlich die Last seiner bewussten oder unbewussten Handlungen. 93

Die Funktion des instinktiven Zentrums ist die Uberwachung des inneren Lebens des Organismus; die Wahrnehmungen des Zentrums kommen dabei als Befriedigung oder als Bedurfnis zum Ausdruck. Es ist das Zentrum des «instinktiven» Hingezogen- und Abgestossenwerdens, das Zentrum der organischen Eindriicke von «Gut» oder «Bdse», die das Leben der Maschine lenken und deren Gesamtsumme zum organischen Wohlbefinden oder Unwohlsein fuhrt. Da diese Funktion in uns im verborgenen ablauft und nur in Augenblicken des Ubermasses in unser gewdhnliches Bewusstsein tritt, kommt es bei ihr zu zahlreichen Verwechslungen, und der Sprachgebrauch bezeichnet viele Vorkommnisse als instinktiv, die es nicht sind. Dieser Ausdruck passt nur zu den inneren Funktionen des Organismus: Atmung, Kreislauf, Verdauung, neurosensorische Wahrnehmung, Bewegungsfunktion und all die inneren Funktionen wie Warmeerzeugung, Assimilation, hormonale Reizung, Wachstum und Formenerhaltung, mit alien ihren inneren Regulationen, einschliesslich bestimmter Reflexe. Unsere instinktiven Funktionen bilden eine richtige innere Welt. Ein Kennzeichen, das ihre Identifizierung ermdglicht, ist, dass sie angeboren sind. Zahlreiche andere Handlungen laufen in uns ebenfalls im verborgenen ab, ohne dass wir uns ihrer bewusst werden, sie sind allerdings nicht angeboren, sondern erworben: so etwa alle unsere Automatismen. Automatismen kdnnen alien Zentren angehdren: so gibt es automatische Gedanken (unsere Begriffsbildung), automatische Empfindungen (unsere Gefiihle), und allgemeiner betrachtet, gibt es in jedem Zentrum einen automatischen - d. h. vdllig unbewussten - Teil; in uns besteht ein automatisches Leben, das zwar an gewissen Punkten auf unser instinktives Leben einwirkt, jedoch von ihm vdllig verschieden ist. Die Erkenntnis und Kontrolle dieses instinktiven Lebens ist moglich; bis zu einem gewissen Grade begleitet sie allemal die Selbsterkenntnis. Eine vertiefte Durchdringung und Beherrschung dieses Lebens kann man durch Ubungen besonderer Art erreichen, schwierige und gefahrvolle Ubungen, die in einigen Disziplinen befolgt werden und zu einem Entwicklungsweg gehdren kdnnen. Doch jenseits eines bestimmten (- fiir das harmonische Funktionieren des Organismus unerlasslichen -) Niveaus ist fiir die Entfaltung der hdheren Teile des Menschen diese Beherrschung nicht mehr notwendig. 94

Die sexuelle Funktion ist auf Grund des Aufbaus des Geschlechtszentrums diejenige, welche die feinste Energie verwendet und die hdchste Funktion erfiillt: die Teilnahme am Schopfungswerk auf der ihr entsprechenden Stufe. Man kdnnte sagen, das Geschlechtszentrum ist das Zentrum der Selbstaufopferung. Es farbt das gesamte Leben eines jeden von uns mit einer eigentiimlichen Polaritat, dem Mannlichen und Weiblichen, (die zwei grundlegende Krafte: die aktive und die rezeptive, auf der menschlichen Ebene widerspiegeln). Die Lebenskraft bekundet sich gemass dieser Polaritat. Gleichwohl ist diese Polaritat nur relativ; sie hangt von der Ebene ab, im Verhaltnis zu welcher man sie betrachtet; und jede Kraft ist (dies bleibt ein allgemeines Gesetz) auf einer bestimmten Ebene rezeptiv in bezug auf die dariiberliegende Ebene und aktiv in bezug auf die darunterliegende Ebene. Einige Schulen der modernen Psychologic und insbesondere die in vielen Punkten fragwiirdigen anfanglichen Zweige der Psychoana­ lyse haben die Entwicklung und das gesamte Verhalten des Men­ schen aus dem Bezug zur sexuellen Funktion erklaren wollen, die sie als primum movens, als die Entwicklungsachse und Hauptmotivation jedes Menschenlebens ansehen. Diese recht enge Sichtweise wurde hernach zum Gliick erweitert und der »Libido«-Begriff ausgedehnt auf das «Seinsverlangen» im allgemeinen. Es ist offenkundig, dass das Geschlechtszentrum, wenn es in Aktion tritt, durch die Feinheit der dabei verwendeten Energie den Sinneswahrnehmungen, Eindriicken und Funktionen grdsste Subtilitat, Scharfe und Geschwindigkeit verleiht. Auch steht fest, dass das auf Fortpflanzung des Lebens gerichtete sexuelle Ziel die Krdnung der gesamten organi­ schen Tatigkeit des Menschen darstellt und dass ohne solches Ziel diese Tatigkeit, vom organischen und natiirlichen Standpunkt aus betrachtet, sozusagen enthauptet ist. Doch dies schliesst, vom Gesichtspunkt der hoheren Entwicklung des Menschen gesehen, die Moglichkeit nicht aus, dass diese gleiche Energie als die feinste und aktivste, fiber die der Mensch verfiigt, gar nicht der Fortpflanzung des organischen Lebens dient, sondern der Verwirklichung einer hoheren Lebensart (einer neuen Geburt, der Entfaltung einer ande­ ren Lebensebene), die nur durch eine Energie von dieser Qualitat zustande kommen kann: durch das, was sich an «schdpferischer» Energie im Menschen findet. Im Hinblick hierauf erlegen einige traditionelle Schulen oder Wege ihren Anhangern geschlechtliche 95

Enthaltsamkeit auf, d. h. Nichtverwendung der Geschlechtsenergie im organischen Bereich. Wer sich mit dieser schwierigen Frage unvoreingenommen auseinandersetzt, der spurt, dass man sie nicht mit einer so dogmatischen Haltung beantworten kann, denn auch auf diesem Gebiet ist alles relativ und hangt vom einzelnen Menschenwesen ab und zugleich von seiner Entwicklungsphase. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann nur eine gewisse Menge Geschlechtsenergie umgewandelt werden, damit sie der Entwicklung einer hoheren Seinsebene dient; falls ein mehr oder weniger grosser Teil iibrigbleibt (und dies hangt von dem besonderen Funktionieren jedes Menschen ab), muss dieser Uberschuss auf natiirliche Weise verbraucht wer­ den, denn eine Anhaufung fiihrt zu anomaler Verwendung und zu absonderlichen Einmischungen dieser Energie in die anderen Funk­ tionen der Maschine (in Form falscher Arbeit der Zentren, bis hin zu Perversionen). Durch dabei sich einstellende Gewohnheiten und automatische Mechanismen kann solche abwegige Verwendung der Geschlechtsenergie ein Ubergewicht erlangen und einen so grossen Prozentsatz derselben an sich reissen, dass fiir den, der in diese Verirrungen verfallen ist, alle Hoffnung auf eine hohere Entwicklung unerfiillbar bleibt. Tatsachlich arbeitet im gewohnlichen Menschen das Geschlechtszentrum nahezu niemals mit seiner eigenen Energie und auf eigenstandige Weise; fast immer hangt es von einem anderen Zen­ trum ab, dem intellektuellen, dem Gefiihls-, dem Bewegungs- oder dem instinktiven Zentrum, das die spezifische Geschlechtsenergie mit ihrer hoheren Qualitat zu seinem eigenen Vorteil benutzt. Vielleicht hat gerade dies bestimmte Seiten der psychoanalytischen Theorie nachhaltig beeinflusst, einer Theorie iibrigens, die zu Beginn aus Feststellungen entwickelt wurde, die man bei der Erforschung hypnotischer oder pithiatischer Zustande gemacht hatte, sowie aus der Beobachtung pathologischer Individuen. Diese iibliche Abhangigkeit der sexuellen Funktion erklart sich grossenteils aus der Tatsache, dass sich beim Menschen diese schon bei der Geburt vorhandene Funktion erst recht spat im Leben entfaltet, nachdem die anderen vier Funktionen bereits in Erscheinung getreten sind. (Bei den Tieren ist das anders). Zwar ist von Geburt an das Geschlechtszentrum mit zeitweilig auftretenden und unbewussten, automatischen Ausserungen vorhanden. Aber in voller Entfaltung erscheint seine Funktion erst nach der fast vollstandigen Entwicklung der 96

anderen Funktionen, und so ist diese Entfaltung zum grossen Teil durch die anderen Funktionen bedingt. Daraus ergibt sich, dass man die Erforschung des Geschlechtszentrums erst dann richtig in Angriff nehmen kann, wenn die anderen Funktionen in alien ihren Erscheinungsweisen vdllig bekannt sind. Das Geschlechtszentrum unterscheidet sich von den unteren Zentren auch dadurch, dass es nicht auf deren Ebene beschrankt ist, sondern der gesamten menschlichen Individualitat eine besondere Farbung verleiht, gleichviel welches der Entwicklungsgrad des Men­ schen ist, solange in ihm etwas Individuelles weiterbesteht. Doch der Durchschnittsmensch lebt nur mit der unteren, organischen Stufe des Geschlechtszentrums. Auf dieser Stufe bilden das instinktiv.e, das Bewegungs- und das Geschlechtszentrum ein ausgeglichenes Gan­ zes, das auf ein und derselben Ebene arbeitet und von sich aus die entsprechenden Impulse der drei grundlegenden Krafte zu empfangen vermag: so kann das organische Leben der Maschine von selbst weitergehen und fortbestehen. Das Geschlechtszentrum wirkt dabei, im Verhaltnis zu dem Bewegungs- und dem instinktiven Zentrum, als das neutralisierende Prinzip; von diesen beiden ist je nach den Zustanden und Umstanden bald das eine und bald das andere aktiv oder passiv.

Der Aufbau der Zentren verdient ausfiihrlich betrachtet zu werden; da wir nur unzusammenhangende Fragmente derselben verwenden, fallt es uns schwer, diesen Aufbau zu erkennen und eine Gesamtansicht von ihm zu erhalten. Ein erstes Kennzeichen der vier unteren Zentren der menschli­ chen Maschine ist, dass sie empfanglich sein kdnnen fiir die positive oder negative Seite jedes Eindrucks, der zu ihnen gelangt. Das richtige Arbeiten der Zentren gegeniiber dem einen und dem ande­ ren Aspekt, den jeder Eindruck mit sich bringen kann, ist von sehr grosser Bedeutung, denn diese beiden Aspekte in alien Dingen, der positive und der negative, sind fur die richtige Orientierung im Leben notwendig. Meistens (und dies hangt von den Merkmalen des Wesens ab) sind die Zentren von Natur aus fiir den einen Aspekt empfanglicher als fiir den anderen und kdnnen nur nach langwierigen Bemiihungen in der Arbeit an sich selbst in ausgewogener Weise fiir beide Aspekte gleichzeitig empfanglich werden.

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Von diesem Standpunkt aus kdnnen die Zentren als in zwei Teile, einen positiven und einen negativen, geteilt angesehen wer­ den; doch je nachdem, um welches Zentrum es sich handelt, nimmt diese Zweiteilung ein etwas anderes Aussehen an. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Unterscheidung recht einleuchtend: hinsichtlich des Bewegungszentrums und des instinktiven Zentrums ist sie es in der Tat; sie ist weniger verstandlich beim Geftihls- und beim Denkzentrum. Im Denkzentrum, das an Hand der in den Walzen aufgezeichneten Daten feststellt, analysiert, vergleicht, assoziiert und koordiniert, fiihrt die Verstandestatigkeit zu einem bejahenden oder zu einem verneinenden Urteil: zum Ja oder Nein. Zumeist iiberwiegt eins von beiden, und eine solche Feststellung bildet den Ausgangspunkt fiir unsere Handlungen. Wir glauben, wir wiirden wahlen und entscheiden: doch es handelt sich nur um ein mechanisches Feststellen auf Grund aktueller oder aufgezeichneter ausserer Daten; es gibt keine freie Wahl und keine Entscheidung, die ganz die unsere ware und die getrofffen wiirde gemass einer hdheren individuellen Instanz: d. h. gemass einem selbstandigen und dauerhaften Ich, das eigenes Verstandnis und eigene Ziele im Leben hat. Im Hdchstfall bestehen kleine vorlaufige Ziele, je nach der Augenblicksrolle und den in die Walzen eingepragten Assoziationen, fiber die der Verstand verffigt. Und wenn in der Arbeit des Verstandes Positives und Negatives sich genau die Waage halten, verharren wir in der Entschlusslosigkeit. Weil es jedoch oberhalb des Verstandes eines Durchschnittsmenschen nichts gibt, was sich seiner automatischen Feststellungen annehmen und sie nutzen kann, so erlangen diese Feststellungen selber den Rang von Wahlakten und Entscheidungen. Der Verstand masst sich so eine Macht an, auf die er kein Recht hat und der allein entgegengesetzte Wfinsche des Geffihlszentrums und die Faulheit des Bewegungszentrums unter Umstanden entgegenwirken. Derjenige Mensch, den wir gemeinhin als willensstark bezeichnen, ist ein Mensch, dessen starker, aktiver, klar strukturierter Verstand gelernt hat, sich von den Wfinschen unterstfitzen und vom Bewegungszentrum bedienen zu lassen. Er hat jedoch keinen eigenen Willen, keine freie Wahl gemass einer wirklichen, kenntnisreichen Individualitat, die das ganze Leben hindurch Ziele verfolgt, welche objektiv die ihren sind: hier zeigt sich nur die Wirkung von Umstanden auf das automatische Arbeiten des Verstandes und einer gut strukturierten

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menschlichen Maschine; solch ein Mensch ist entgegen dem, was er in der Regel glaubt, nur das Ergebnis und der Spielball von Einfliissen, auf die er selber nicht einwirken kann. Beim instinktiven Zentrum ist die Zweiteilung sehr deutlich, oder zumindest ware sie es, wenn wir auf das innere Leben unseres Organismus achteten. Die positiven oder negativen, guten oder schlimmen Wahrnehmungen dieses Zentrums sind alle notwendig fur die Erhaltung, Leitung und den Schutz unseres Lebens. Die positiven, guten und angenehmen Wahrnehmungen (Sinneswahrnehmungen und korperlichen Wahrnehmungen des Geschmacks, des Geruchs, der Tastempfindung, der reinen Luft, der Nahrungsqualitaten, der Temperatur) zeugen, sofern sie unverfalscht geblieben sind, alle von heilsamen Verhaltnissen, heilsam fiir die Existenz. Die negativen Wahrnehmungen weisen auf schadliche Verhaltnisse hin. Hinzu kommen jene instinktiven Wahrnehmungen, die mit anderen Teilen der Maschine verbunden sind, zumeist gefiihlsmassige, mitunter auch intellektuelle; sie gehdren entweder den hdheren Stufen des instinktiven Zentrums an, deren Existenz wir wohl vermuten, aber nicht richtig kennen, oder haben ihren Ursprung im instinktiven Bereich des Gefiihls- und des Denkzentrums (wir werden darauf zuriickkommen). Die anomalen Lebensbedingungen und die Erziehung des heutigen Menschen bewirken jedoch, dass diese Wahrnehmungen stets mehr oder weniger stark gestdrt sind; auf jeden Fall vermag der Mensch heutzutage seinen verschiedenen Wahrnehmungen nicht mehr in angemessener Weise gerecht zu werden. Zum Gliick hat sein instinktives Zentrum, das auf der unteren Etage im dunklen Bereich der Maschine arbeitet, enge Verbindungen bewahrt zu den elementaren Lebenskraften, die es beseelen, und falls die'von aussen kommenden Stdrungen zu bedrohlich werden, stellt die instinktive Funk­ tion von sich aus das Gleichgewicht wieder her: der Mensch wird krank oder kann nicht weiter. Wenn er sich jedoch dariiber hinwegsetzt, kann das Ungleichgewicht letzlich zum Tod fiihren. Beim Bewegungszentrum ist die Zweiteilung in einen positiven und einen negativen Teil recht einfach: dieses Zentrum vermag tatig oder untatig zu sein: in ihm kann Bewegung oder Entspannung walten; es kann auch gleichgiiltig sein: dann herrscht Ruhe. Das Bewegungszentrum hat einen Hang zur Passivitat: es

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handelt wenig von sich aus und beschrankt sich darauf, dem zu gehorchen, der es zum Handeln auffordert, ganz gleich, woher die Forderung kommt. Diese von Natur passive Anlage bringt es mit sich, dass es mehr noch als die anderen Zentren zur Faulheit neigt: der Mensch muss sich oft zum Handeln «zwingen». Beim Durchschnittsmenschen, dessen Zentren und Rollen unverbunden funktionieren, kbnnen die Anforderungen aus verschiedenen Quellen kommen, bald aus iibereinstimmenden, bald aus einander widersprechenden, und seine Handlungen werden dann unordentlich, sofern sich das Bewegungszentrum, bei extremer Unordnung, nicht einfach in seine naturliche Faulheit fliichtet. Ein sehr gutes Beispiel, an dem wir die Unordnung der Bewegungstatigkeit ermessen kbnnen, gibt uns die gesprochene Sprache, die als zum Bewegungszentrum gehbrig von diesem den anderen Zentren, vor allem dem Denkzentrum, zur Verfiigung gestellt wird und die im Verbund mit ihnen nach und nach vervollkommnet wurde. Wiirde das Bewegungszentrum in Ruhe gelassen, so ware es tatsachlich verfiigbar: in einem Zustand nicht der Untatigkeit, sondern der Verfiigbarkeit, in welchem der hbhere Teil des Zentrums, der darauf bedacht ist zu dienen, iiberaus empfanglich bleibt und zur Antwort bereit. Solche innere Bereitschaft hat der Mensch freilich nicht in seinem gewbhnlichen Zustand. Sein Bewegungszentrum wird, auch ausserhalb des Bereichs wirklicher Geschaftigkeit, von der jeweiligen Augenblicksrolle unablassig beansprucht und nimmt fortgesetzt eine ihr entsprechende Haltung ein. Jeder von uns hat so ein ganzes Repertoire von Haltungen, die immer gleich sind und bezeichnend fiir die jeweilige Rolle; und durch Beobachtung der Haltungen kann man, wenn nbtig, die Rolle erkennen. Die kiinstliche Nachbildung einer bestimmten Haltung zielt darauf ab, durch wechselseitige automatische Assoziationen die dazugehbrige Rolle hervorzurufen: diese automatische gegenlaufige «Signalgebung» zwischen inneren Zustanden und ausseren Einstellungen vollzieht sich im gesamten sozialen Verhalten ohne Unterlass, auch ohne dass wir uns dessen recht bewusst sind: sie gehbrt zum maschinenhaften Menschen und seinen Konditionierungen. Die negative Seite des Bewegungszentrums, seine wirkliche Untatigkeit, ist Lockerung oder Entspannung. Diese lasst sich nicht auf naturliche Art erreichen, sondern verlangt einen aktiven und

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freiwilligen Verzicht der anderen Zentren auf jedwede Forderung an das Bewegungszentrum. Entsprechend den verschiedenen Arten der Abtrennung gibt es verschiedene Grade der Entspannung, und hierbei kdnnen mit unmittelbar praktischer Bedeutung drei Hauptstufen unterschieden werden, obgleich sie in Wirklichkeit zahlreicher sind. Es sind Grund-«Haltungen», in denen sich jene kdrperliche Ruhe einstellen kann, die notwendig ist fiir die innere Suche nach einer Beziehung zu den hdheren Teilen in uns. Als solche sind sie die Vorbereitungsphase fiir Kontemplations- und Meditationstibungen. Die erste dieser Stufen ist einfach eine vollstandige Beruhigung des Kdrpers in einer auf natiirliche Weise stabilen und zwanglosen Haltung. Uber all diese Zustande unseres Bewegungszentrums werden wir durch die Kdrperempfindung unterrichtet. Von alien Eindriikken, die wir innerlich von uns haben, ist uns diese Empfindung gewiss am unmittelbarsten zuganglich, sie ist die «konkreteste» und gibt am wenigsten Anlass zu triigerischen Einbildungen. Ihre Uberwachung ist einfach: die Selbstempfindung ist da oder ist nicht da, je nachdem unsere Aufmerksamkeit uns selbst zugewandt oder nach aussen gerichtet ist, und deshalb kann die Kdrperempfindung als einer der besten Tests gelten, um die Wirklichkeit der Ubungen des Sichseiner-selbst-Bewusstwerdens zu bestimmen. Wir verbringen unset alltagliches Leben unwissentlich mit einer steten Empfindung, die uns fortwahrend Auskunft gibt uber unsere Stellungen, Bewegungen und Ortsveranderungen, doch tritt sie nur dann ins Bewusstsein, wenn pldtzlich etwas Unvorhergesehenes auftaucht und sie stdrt: so wie wir uns selber fortgesetzt vergessen, so verlieren wir zugleich auch die kdrperliche Selbstempfindung, und ihre Wiederbelebung ist Teil jedes Versuchs, zu sich selbst zu erwachen.

Beim Gefiihlszentrum erscheint die Teilung in einen positiven und einen negativen Teil zunachst vielleicht einfach; in Wirklichkeit ist sie freilich recht kompliziert. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als hatten wir eine ganze Reihe «positiver Gefiihle»: Freude, Sympathie, Zuneigung, und «negativer Gefiihle»: Angst, Eifersucht, Uberdruss, Verargerung. In Wahrheit hat, wie wir gesehen haben, der iibliche Mensch entgegen dem, was er glaubt, nichts, was Gefiihlsempfindung

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genannt werden kann und als solches ihn auf etwas Dauerhaftes in seinem individuellen Leben hin anruft. Es gibt in ihm nur Emotionen, die in Zusammenhang stehen mit dem Ausdruck und der Bewahrung seiner unaufhdrlich sich verandernden Rollen, welche zu seiner wahren Individualitat keinerlei Beziehung haben. Im gewdhn­ lichen Wachzustand ist jede echte Gefiihlsempfindung abgetrennt von dem Fluss des Lebens und bleibt gleich dem hdheren Ich im Schlafzustand. Je nachdem der Eindruck innerer oder ausserer Ereignisse, im Hinblick auf die jeweils anwesende Rolle, als giinstig oder ungiinstig, als wiinschenswert oder unerwiinscht angesehen wird, entsteht ein angenehmes oder unangenehmes Gefiihl. Wenn sich die Rolle jedoch einen Augenblick spater verandert, so bestehen gute Aussichten, dass der gleiche Eindruck anders beurteilt wird. Deshalb ist beim gewdhnlichen Menschen die «Stimmung» stets wechselhaft, und je nach der momentanen Rolle werden positive Gefiihlsregungen zu negativen oder umgekehrt. Alle unsere angenehmen Gefiihle wie etwa Freude, Sympathie, Vertrauen konnen jederzeit zu Trauer, Abscheu, Eifersucht, Zweifel usw. ausarten; und das Ausdriicken dieser unangenehmen Gefiihle, dessen sich der Mensch gewdhnlich nicht zu enthalten vermag, verstarkt sie nur unndtigerweise und breitet ihre Negativitat in seiner Umgebung aus. Dies ist einer der Griinde, weshalb der Kampf gegen den ausseren Ausdruck negativer Gefiihle einer der Schwerpunkte ist, mit denen die Arbeit an sich selbst vorteilhaft beginnen kann. Sobaid solche Arbeit anfangen konnte, fangt auch die Situation an sich zu verandern. Der Mensch, der eine wirkliche Arbeit an sich selbst in Angriff genommen hat, beginnt in Augenblicken des Anwesendseins sich «objektiv» einzuschatzen und die Ereignisse in bezug auf sich selbst zu beurteilen, und nicht in bezug auf den Gebrauch, den seine Rollen von ihnen machen. Zum einen enthiillt sich ihm dabei nach und nach das Illusorische seiner gewdhnlichen positiven oder negativen Gefiihle, wobei ihm zugleich die Zufalligkeit seiner Rollen deutlich wird. Zum anderen erlangt er im Hinblick auf das erwachende Ich die Fahigkeit zu einer anderen Einschatzung seiner Eindriicke. Er vermag wirkliche, im Vergleich zu seinen Gefiihlen wirkliche, seelische Leiden wahrzunehmen, die zum Gefiihlszentrum gehdren und ebenso wie die kdrperlichen Leiden: Krankheit, Schmerz und Tod, Teil seines Lebens sind. Er hat 102

zahlreiche unvermeidbare Kiimmernisse, Befiirchtungen und Sorgen; und vor allem lassen die Schwachen und Unzulanglichkeiten, welche er durch die ihm nun zugangliche Selbstschau feststellt, nicht mehr Reue in ihm aufsteigen und Entschliisse oder Vorsatze, «sich zu bessern», sondern die echte, «subjektive» Empfindung der Gewissensbisse. Aus alien diesen Griinden bringt - durch das Erwachen der wahren gefiihlshaften Selbstempfindung und des inneren Gewissens - die Erweckung und Weiterentwicklung des Menschen nicht nur Eindriicke wirklicher Freude und Befriedigung mit sich, sondern, solange seine Entwicklung nicht vollendet ist, auch unablassig genauso wirkliche Leiden und Gewissensqualen.

Die Hoffnung auf einen echten Wandel kann sich nur erfiillen durch die Verwirklichung eines wahren Ichs, eines bestandigen, geeinten Daseins, worin der Schwerpunkt des Lebens dauerhaft beschlossen liegt. Die Schocks und wirklichen, positiven oder negativen Gefuhlsempfindungen des gewdhnlichen Lebens sind darum nicht beseitigt, doch sie beeinflussen das Dasein dessen, der solche Bestandigkeit verwirklicht hat, nicht mehr auf der gleichen Ebene. Dieses Dasein hat namlich im Umkreis des hdheren Gefiihlszentrums seine Vollendung gefunden und ist so verbunden mit den echten Empfindungen in diesem Zentrum; diese von aller Negativitat freien Empfindungen stellen jene - in der Regel emotionalen - Affekte, die das Leben unentwegt mit sich bringt, wieder in ihren objektiven Zusammenhang. Auf der Ebene des hdheren Gefiihlszentrums gibt es keine negative Empfindung, und wie wir gesehen haben, kennt dieses Zentrum genausowenig wie das hdhere Denkzentrum irgendeine Negativitat. Normalerweise ist auch das Geschlechtszentrum frei von Negati­ vitat. Und darin ahnelt es den beiden hdheren Zentren, mit denen seine hdheren Bereiche zusammenarbeiten. Die eigentlichen sexuellen Eindriicke sind ebenso wie die echten Empfindungen positiv (mehr oder weniger positiv), oder sie sind neutral. Das gilt fiir den Menschen, der die hdheren Ebenen in sich entwickelt hat und ein wirkliches Ich besitzt. Im Geschlechtszentrum gibt es entweder Anziehung samt einem angenehmen Eindruck, oder es gibt nichts, es herrscht Neutralitat. Auf der gewdhnlichen Ebene mag es anders erscheinen; doch zeigt die Beobachtung, dass diese vermeintliche

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Negativitat zuriickzufiihren ist auf die standigen Eingriffe der ande­ ren Zentren in die Arbeit der unteren Stufe des Geschlechtszentrums (nirgends ist die falsche Arbeit der Zentren so zur Gewohnheit geworden wie auf der Ebene des Geschlechtszentrums). Die den sexuellen Eindriicken zugeschriebene Negativitat riihrt in Wirklich­ keit ganz und gar von negativen Eindriicken her, die zu den anderen Zentren gehdren, aber auf das Geschlechtszentrum iibertragen wer­ den. Solche Eingriffe gehen vor allem vom negativen Teil des Gefiihlszentrums und des instinktiven Zentrums aus: bestimmte sexuelle Reize (Vorstellungen, Erinnerungen, Handlungen) kdnnen daher unangenehme Gefiihle oder Kdrperempfindungen hervorrufen; das Sichabkapseln oder Sichverweigern, das sie zur Folge haben, gilt iibrigens oft (und die «gute» Erziehung tragt dazu bei...) als Beweis fiir «Mut» oder «Tugend»: dabei sind es nur Verirrungen.

Der Aufbau der gewdhnlichen Zentren hat noch eine andere Besonderheit; namlich die, dass die Zentren aus drei Bereichen oder Aspekten bestehen, und dies sowohl auf ihrer positiven Seite wie auf ihrer negativen Seite. Diese drei Bereiche sind auf der Ebene der Zentren eine Widerspiegelung des grundsatzlich dreifaltigen Aufbaus jeder lebenden Einheit, welcher Aufbau selber ein ferner Widerschein ist der drei anfanglichen Krafte. So besteht jedes Zentrum aus einem auswahlenden (oder intelligenten), einem gefiihlsmassigen (oder motivierenden) und einem mechanischen (oder ausfiihrenden) Aspekt. Im allgemeinen kennen wir nur einen Aspekt unserer Zentren, und zwar sehr ungleich, je nach den Zentren, mit denen wir vorzugsweise zu leben oder nicht zu leben gewohnt sind: die anderen Aspekte sind mehr oder minder passiv, sie ruhen oder sind im Dunkeln verloren. Doch die Selbstbeobachtung gestattet es uns, nach und nach das in diesem Dunkeln Verbliebene zu sehen, und lasst uns alsbald ungeahnte Mdglichkeiten entdecken. Ubrigens ist die Angelegenheit noch komplizierter, denn jeder dieser Bereiche ist seinerseits in drei Aspekte teilbar und so weiter; aber eine derartige Analyse ist uns bei der Aufgabe, die wir unternommen haben, von keinerlei Nutzen. Jeder Bereich oder Aspekt der Zentren hat seine eigenen Merkmale, eine eigene Aufgabe und arbeitet mit einer fur ihn charakteristischen Art der Aufmerksamkeit. Der mechanische 104

Aspekt jedes Zentrums ist automatisch und reflexhaft: er reagiert durch Widerspruch oder Zustimmung mit einer reaktionsartigen, automatisierten Aufmerksamkeit, die ihren Gegenstand je nach den Umstanden alle Augenblicke wechselt. Der Gefiihlsaspekt der Zen­ tren ist personlich und differenziert; er arbeitet aus Zuneigung oder Abneigung gegen die jeweilige Tatigkeit des Zentrums (Handeln, Lieben, Wissen) mit einer gefesselten, ja sogar blockierten Aufmerk­ samkeit, die unter der Einwirkung, sei es einer Identifikation, eines Interesses oder eines uniiberwindlich erscheinenden Widerwillens von selbst weiterbesteht. Der auswahlende Aspekt der Zentren ist «intelligent»; er handelt durch Vergleich und Auslese auf Grund von Kenntnissen, die ihm eine gewisse logische Vorhersage erlauben; so schliesst er aus, koordiniert und fiihrt mdglicherweise Neuerungen ein; und diese Arbeit erfordert aktive Aufmerksamkeit, die nur bei einer gewissen Anstrengung fortbesteht. All dies bildet eine vielschichtige Gesamtheit, in der scheinbar sich ahnelnde Teile im Grunde ganz und gar verschieden sind; hingegen kdnnen vdllig gleiche Handlungen in unterschiedlichen Zentren ihren Ursprung haben. Wer sich selber zu beobachten versucht, kann dadurch in Verwirrung geraten: wie soil man zum Beispiel das, was vom Gefiihlsbereich des Denkzentrums herriihrt (wie etwa die Lernbefriedigung), von dem unterscheiden, was vom intellektuellen Bereich des Gefiihlszentrums kommt (wie etwa die Bewertung von Kenntnissen)? Hierfiir ist eine klare Selbstschau notwendig, wobei der erste Schritt darin besteht, dass man in sich entdeckt, welches im Augenblick die leitende Funktion ist: ich bin im Begriff zu ... (lernen oder zu denken, zu lieben oder zu schatzen, zu machen oder zu handeln): sie kennzeichnet das Zentrum, in dem ich mich befinde. Danach kommt der Versuch zu sehen, was fiir diese Funktion charakteristisch ist: eine intellektuelle, eine gefuhlsmassige oder eine instinktiv-bewegungshafte Weise; den Gesichtspunkt der Aufmerksamkeit einzunehmen, ist hierbei unter den verschiedenen moglichen Kriterien sicherlich das geeignetste. Ohne Aufmerksam­ keit oder bei zerstreuter, umherschweifender Aufmerksamkeit sind wir im mechanischen Bereich des Zentrums; bei gefesselter Auf­ merksamkeit, die ganz von dem beansprucht ist, was wir gerade machen (der Handlung, dem Gefuhl oder der Uberlegung), sind wir im Gefiihlsbereich; bei einer durch beharrliche Wahl kontrollierten und aufrechterhaltenen Aufmerksamkeit befinden wir uns im intel-

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lektuellen Bereich. Anfangs braucht man sich lediglich die recht typischen Situationen zu merken, die keinen Zweifel hinterlassen; alle bedenklichen Situationen gilt es zunachst auszuschliessen. Es wird dann mit zunehmender Erfahrung sehr schnell moglich, sich selbst klarer zu sehen und sich weniger Illusionen zu machen, uber das, was in einem vorgeht.

Ein anderer grundlegender Unterschied zwischen den Zentren ergibt sich aus der grossen Ungleichheit ihrer Geschwindigkeiten, das heisst der jeweiligen Geschwindigkeit ihrer Funktionen. An diese Erscheinung sind wir so sehr gewohnt, dass wir sie, wenn unsere Aufmerk­ samkeit nicht darauf gerichtet ist, gar nicht bemerken. Sobaid wir jedoch darauf aufmerksam geworden sind und uns zu beobachten beginnen, wird diese Tatsache deutlich sichtbar. Die einfachste Beobachtung ist die, welche die Geschwindigkeit der Bewegungsfunktion mit derjenigen der Denkfunktion zu vergleichen sucht. Unser Bewegungszentrum muss durch das Denkzentrum informiert werden: wenn es aber einmal erfahren hat, was es tun und wie es dies tun soli, entzieht sich die Intelligenz und Schnelligkeit seiner Arbeit jeder intellektuellen Uberwachung. Wenn es sich um eine etwas komplizierte Arbeit handelt, etwa darum, einen Wagen zu steuern, Werkzeugmaschinen zu gebrauchen, auf einem unebenen Weg zu laufen, erweist sich die andauernde Beobachtung durch den Intellekt als unmoglich: der Intellekt kann bei derartigem Tempo nicht mithalten. Damit eine Beobachtung moglich wird, miissen wir entweder hinnehmen, dass uns ein Grossteil entgeht (andernfalls riskieren wir einen Unfall), oder aber wir miissen die Arbeit des Bewegungszentrums ausserordentlich verlangsamen oder sogar anhalten. Bei den anderen Funktionen lassen sich ahnliche vergleichende Beobachtungen anstellen; allgemein bekannt ist insbesondere, dass die Arbeit des instinktiven Zentrums mit erstaunlicher Schnelligkeit ablauft und dass die Geschwindigkeit der Eindriicke, die es uns liefert, oder der Arbeit, die es ausfiihrt (zum Beispiel bei Hunger, Durst oder Assimilation), fast an ein Wunder grenzt, wenn man sie zu analysieren versucht. Das langsamste Zentrum ist tatsachlich das Denkzentrum. Dann kommt, und zwar als ein bereits viel schnelleres, das Bewegungszen­ trum; das instinktive Zentrum, das zum Bewegungszentrum in enger 106

Beziehung steht, ist noch schneller. Das allerschnellste ist das Gefiihlszentrum, dessen Eindriicke, wenn es normal arbeitet, uns von Augenblicksdauer zu sein scheinen; im gewohnlichen Zustand des Menschen arbeitet es freilich zumeist nur mit niedrigeren Geschwindigkeiten: mit denen des instinktiven und des Bewegungszentrums. Uberlegungen hinsichtlich der jeweiligen Zeit analoger Perioden in verschiedenen Lebensebenen (etwa der Atmung oder des Tagundnachtzyklus) lassen erkennen, dass zwischen zwei benachbarten Ebenen das offenbare zeitliche Verhaltnis ungefahr 1 zu 30 000 ist.1 Auf die Funktionsgeschwindigkeiten der Zentren angewandt, wiirde dieses Verhaltnis zeigen, dass zum Beispiel das Bewegungs­ zentrum 30000mal schneller arbeitet als das Denkzentrum. Gewohnlich halten wir die langsamste Zeit, die des Denkzentrums, fur etwas Absolutes und fiihren alles auf dieses Urmass zuriick; dies ist iibrigens recht bedeutsam, denn die Erfahrung der Zeit hangt als «ideal subjektive» Erscheinung ganz und gar von jeder einzelnen Lebensform ab. Wenn man sagt, die Zeit des Bewegungszentrums sei 30000mal schneller als die des Denkzentrums, so kann man genauso gut sagen: in der gleichen Denkzeit-Spanne konne das Bewegungszentrum 30000mal mehr Verrichtungen ausfiihren, oder man kann auch sagen: die Zeit des Bewegungszentrums sei30000mal langer als die des Denkzentrums. Die Zeit des instinktiven Zentrums ist 300002mal schneller und die des Gefiihlszentrums (zumindest bei normalem Arbeiten) 300003mal schneller. Es ist schwer zu glauben, dass in ein und demselben Organismus zwischen den verschiedenen Funktionen solche Geschwindigkeitsunterschiede bestehen; dies erklart allerdings zahlreiche Erscheinungen. So wird die grosse Anzahl der Informationen, Umwandlungen und Reaktionen verstandlich, die das instinktive Zentrum in einer Sekunde bewirkt, wenn man unter Berucksichtigung der Tatsache, dass es 300002mal schneller arbeitet, sich ausrechnet, dass dieser Sekunde mehr als zwanzig Jahre Denkzeit entsprechen. Es zeigt sich sogar, dass die schnellen Zentren alles andere als voll ausgelastet sind, vielmehr die meiste Zeit ruhen (oder schlafen), so dass der Mensch auch so gesehen weit mehr Reserven hat, als er gemeinhin glaubt. 1 Vergl. P. D. Ouspensky, Auf der Suche nach dem Wunderbaren, S. 487.

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Das fiihrt uns zu einem letzten wichtigen Punkt, den wir durch Beobachtung in uns entdecken kdnnen: der falschen Arbeit der Zentren; diese nimmt einen betrachtlichen Umfang an und behindert jede Weiterentwicklung. Diese falsche Arbeit zeigt sich in dreierlei Formen, die, nebenbei bemerkt, sich iiberlagern und Auswirkungen aufeinander haben. Einerseits gibt es beim Durchschnittsmenschen eine Verlangsamung der unteren Zentren, vor allem des Gefiihlszentrums, so dass sie weit unter ihrer normalen Geschwindigkeit arbeiten. Andererseits treiben unsere Funktionen bei jeder Arbeit, die sie auszufiihren haben, einen iibermassigen Aufwand; und daraus ergibt sich eine bedeutsame Energieverschwendung. Schliesslich ereignen sich in uns standig Ersetzungen (doch dies zu bemerken, ist schwierig): es ist ein wechselseitiges Sichersetzen der Zentren, das dazu fiihrt, dass einige Zentren die Arbeit, die ihnen obliegt, nicht selber verrichten, sondern von anderen ausfiihren lassen; Ersetzungen auch bei den Funktionen: einige Zentrenfangen (vor allem infolge ihrer Verlangsamung) an, die Energie anderer Zentren zu verwenden, eine Energie, die fiir sie nicht geeignet ist und mit der sie die ihnen iibertragene Funktion schlecht erfiillen, oder sie beginnen eine unniitze, ja sogar schadliche Arbeit auszufiihren. Durch Beobachtung unserer Funktionen und mithin der Arbeit der Zentren in uns kann es uns gelingen, nach und nach die richtige Arbeit von der falschen zu unterscheiden. In einem normalen, normal entwickelten und gesunden Men­ schen erledigt jedes Zentrum seine eigene Arbeit: diejenige, fur die es normalerweise bestimmt und bestens befahigt ist. Jede Einmischung eines anderen Zentrums in diese Arbeit und jede Verwendung einer anderen Funktion fiihrt zu einer Einbusse an Wirksamkeit oder Qualitat. Es gibt im Leben sogar Situationen, denensich der Mensch nur mit Hilfe des geeigneten Zentrums zu entziehen vermag; wenn in einem solchem Augenblick ein anderes Zentrum dessen Platz einnimmt, so ergeben sich daraus Einmischungen, Anpassungsschwachen und haufig die unangenehmsten Konsequenzen: Durcheinander, Irrtum, Verwirrung, Fehlleistung, Unfall, Zerstdrung; der Ausgang ist unvorhersehbar. Gleichwohl geschehen diese Ersetzun­ gen in nahezu alien Menschen, und zwar deshalb, weil die menschliche Entwicklung fast immer unausgeglichen ist; mitunter sind Erset­ zungen sogar unerlasslich, wenn man Mangein abhelfen, bestimmte 108

Situationen meistern und den Fortbestand des Lebens sicherstellen will. Werden sie allerdings zur Gewohnheit (und das ist nur allzu oft der Fall), so sind sie schadlich: durch ihre Eingriffe in die richtige Arbeit verschleiern sie nicht nur deren Mangel (- verhindern also, daB mairsie sieht und zu beheben versucht -), sondern geben auch jedem Zentrum die Mbglichkeit, sich seinen eigenen unmittelbaren Pflichten zu entziehen und nicht das zu tun, was es zu tun hat, sondern das, was ihm im Augenblick mehr gefallt. Nun sind aber alle Zentren mehr oder weniger faul, vertraumt und voll opportunistischer oder unsteter Neigungen, die sie von jeder Bereitschaft abbringen, die ihnen zukommenden Aufgaben freiwillig zu iibernehmen. So kann jeder normale Mensch ohne weiteres die Gefiihlsversuche (oder, genauer gesagt, die Gefiihlsdiinkel) des Denkzentrums, die Denkversuche des Gefuhlszentrums, die Denk- und Gefuhlsversuche des Bewegungszentrums in sich beobachten. Bei einem unausgeglichenen Menschen geschieht die Ersetzung eines oder mehrerer Zentren durch die anderen beinahe fortwahrend und fuhrt genau zu dem, was man «seelische Stdrung» oder «Neurose» nennt: jedes Zentrum versucht gewissermassen, seine Arbeit einem anderen Zentrum zuzuschieben und gleichzeitig eine fremde Arbeit zu verrichten, fiir die es sich nicht eignet. Es ist wichtig, dass man die charakteristischen Zeichen fiir dieses wechselseitige Sichersetzen der Zentren in sich erkennen lernt. Hierbei handelt es sich um eine schwierige und langwierige Beobach­ tung, denn es gibt in uns nichts, was besser verschleiert ware. Jedes Zentrum, das auf diese Weise ein anderes ersetzt, verlegt nun aber die ihm eigenen Funktionsmerkmale, die seine Wiedererkennung ermoglichen, in einen Bereich, der normalerweise nicht der seine ist. Wenn das Gefiihlszentrum fiir ein anderes Zentrum arbeitet, bringt es seine Empfindsamkeit mit, seine Schnelligkeit, seine Intensitat und vor allem eine egozentrische Eigenart, durch die es sich mehr verrat als durch jedes andere Zeichen. Wenn es anstelle des Denkzentrums arbeitet, verursacht es Nervositat, Fieberhaftigkeit und unnbtige Hast dort, wo im Gegenteil ruhige Beurteilung und Uberlegung vonnbten waren. An der Stelle des Bewegungszentrums ruft es, statt der richtigen Bewegung, Impulsivitat und Heftigkeit hervor. An der Stelle des instinktiven Zentrums erzeugt es Masslosigkeit und Ausschweifung im Zuviel wie im Zuwenig. Wenn das Denkzentrum fiir ein anderes Zentrum arbeitet,

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verursacht es Diskussionen, Ausfliichte und Verlangsamung. Auch bringt es seine Vorliebe fiir Traumerei und Einbildung mit. Schliesslich bewirkt es eine gewisse Starrheit: einerseits ist es das langsamste aller Zentren, andererseits nicht feinsinnig genug, um die Besonderheiten und heiklen Punkte einer Situation zu erkennen, und noch weniger ihre schrittweisen Veranderungen; sein Eingreifen fiihrt so zu ungeeigneten oder falschen Reaktionen und zu starren, allzu allgemeinen und oft ein fiir allemal festgelegten Haltungen. Es ist in der Tat ausserstande, die Nuancen und Feinheiten der meisten Situationen zu verstehen; Situationen, die dem Bewegungs- oder dem Gefiihlszentrum ganz verschieden vorkommen, sind fur das Denkzentrum vollig gleich, und seine Entscheidungen sind nicht die, welche die anderen Zentren getroffen hatten. Das Denken kann die Feinheiten des Gefiihls nicht verstehen, bei ihm tritt kalte Berechnung an die Stelle lebensvoller Gemiitsbewegung. Ein Mensch, der sich darauf beschrankt, uber die Gefiihle eines anderen nachzudenken, fiihlt daher, auch wenn er sich die Gefiihle vorzustellen versucht, selber nichts, und was der andere fuhlt, bleibt ihm ein toter Buchstabe. Das gleiche gilt fiir den instinktiven Bereich: der satte Mensch versteht nicht den hungrigen; fiir diesen jedoch ist der Hunger sehr real, und die Argumente oder Entscheidungen des anderen, das heisst dessen Denken, erscheinen ihm meist unverstandlich. Das Denkzentrum kann ebensowenig das Bewegungszentrum vertreten oder die Bewegungen kontrollieren; fiir das Denkzentrum existiert die Kdrperempfindung nicht: sie ist etwas Totes, was es durch Vorstellungen ersetzt. Es ist leicht, hierfiir Beispiele zu finden: wenn ein Mensch Gebarden willentlich auszufiihren versucht, indem er sie bedenkt und jede Bewegung iiber das Denken anordnet, so sieht er, wie sich Tempo und Qualitat seiner Arbeit sofort verandern. Ob er maschineschreibt oder Auto fahrt, er bewegt sich (wie einst, als er lernte) langsam und macht Fehler iiber Fehler: das Denken kann dem normalen Tempo des Bewegungszentrums nicht folgen. Auf einem anderen Gebiet ist Sport als Spektakel, und nicht als sportliche Betatigung, ebenfalls ein Beispiel fiir die Ersetzung des instinktiven und des Bewegungszentrums durch das Denkzentrum (und dariiber hinaus ein Beispiel fiir dessen Neigung zur Traumerei). Wenn das Bewegungszentrum die Arbeit eines anderen Zen­ trums zu ubernehmen versucht, bringt es seine Regelmassigkeit mit, 110

seine Kraft, seine Fiigsamkeit, sein Nachahmungsvermogen, aber auch seine Faulheit, seine Passivitat und seine Neigung zu Gewohn­ heit und automatischem Arbeiten. Haufig verrichtet es die Arbeit des Denkzentrums, und noch bfters fuhrt es (aus Beharrungsvermdgen) die Arbeit fort, mit der das Denkzentrum begonnen hatte; das Denkzentrum lasst sich namlich wahrend der Arbeit haufig durch etwas seine Aufmerksamkeit Fesselndes ablenken: bisweilen durch eine andere niitzliche Arbeit, haufiger durch Traumerei oder Einbildung; an seiner Stelle ubernimmt dann das Bewegungszentrum die Arbeit oder setzt die gemeinsam begonnene Arbeit allein fort. Dies hat zum Beispiel mechanisches Lesen oder Horen zur Folge, wobei man Worter oder Satze (manchmal mit lauter Stimme) best oder hbrt, ohne deren Sinn zu verstehen: der Mensch ist sich dessen nicht bewusst und erinnert sich nicht einmal daran. Die Gefiihlsversuche des Bewegungszentrums sind vielleicht weniger offensichtlich, dennoch spielen sie eine genauso wichtige Rolle; gerade sie fiihren z. B. die Mechanitat und Gewohnheit mit alien ihren Konsequenzen in die menschlichen Beziehungen ein. Aber nirgends ist die falsche Arbeit der Zentren so zur Gewohn­ heit geworden und zu einem so schwerwiegenden Hindernis wie im Bereich des Geschlechtszentrums. Dieses arbeitet mit der feinsten Energie des menschlichen Organismus; es besitzt die grosste Feinheit, Intensitat und Geschwindigkeit. Unter normalen Umstanden unterhalt es harmonische Beziehungen zu alien anderen Zentren und lasst sie mitwirken an seiner schopferischen Tatigkeit, der hochsten, die jeder Individualitat normalerweise iibertragen ist auf der oder den Ebenen, auf denen sie lebt. Aus diesem Grund spiegelt das Geschlechtszentrum alle Qualitaten und Mangel derselben wider. Doch unter den gewdhnlichen Lebensumstanden des Menschen verhalt sich die Sache ganz anders; durch die falsche Arbeit der Zentren und vor allem dadurch, dass die meisten Zentren - besonders das Gefiihlszentrum - nur in ihrem mechanischen Bereich arbeiten (mit einer Geschwindigkeit und Qualitat, die weit unter der ihrer normalen Arbeit liegt), kommt die Beziehung des Geschlechts­ zentrums zu den anderen Zentren entweder gar nicht zustande oder nur sehr schlecht. Von aussergewdhnlichen Augenblicken abgesehen, in denen das Geschlechtszentrum zuweilen einen annahernd normalen Rhythmus und eine fast normale Beziehung voriibergehend wiederherzustellen vermag, arbeitet es nicht mehr selbstandig,

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es gelingt ihm alienfalls, die Verbindung zu dem einen oder anderen Zentrum herzustellen, und dann driickt es sich durch dessen Funktion aus; Zumeist bleibt es vbllig passiv, wobei die anderen Zentren seine Energie zu ihrem Vorteil gebrauchen. Diese Energie verleiht dann der Arbeit jener Zentren ganz ungewdhnliche Intensitat und Unmassigkeit, die gefarbt ist von der fiir den einzelnen typischen Polaritat; dem Eindruck intensiven Lebens, der sich daraus ergibt, jagt man oftmals in «sexuellen Verirrungen» nach, als da sind Erotik, Romantik, Sadomasochismus und alle ihre kleineren Derivate. In der Regel arbeitet das Geschlechtszentrum nur in seinem unteren, mechanischen Bereich, in enger Verbindung mit den je drei Bereichen des instinktiven und des Bewegungszentrums; diese bilden zusammen (mit dem Geschlechtszentrum als neutralisierendem Element) ein Ganzes, das zur Sicherung des alltaglichen Lebens hinreichend ausgeglichen ist; hin und wieder schliesst sich ihm auch der untere «affektive» Bereich des Gefuhlszentrums an. Dass aber ein solcher Zusammenschluss die voile Ausiibung der schbpferischen Funktionen gewahrleist, die diesem Zentrum auf den verschiedenen Lebensebenen des Menschen iibertragen sind, das ist - ausser auf der organischen Ebene - vbllig ausgeschlossen. Wenn sich ein Mensch einlasst auf eine Arbeit an sich selbst, die eine Entfaltung seiner hdheren Teile anstrebt, ist es fast immer notwendig, der Geschlechtsfunktion wieder ihren eigentlichen Platz einzuraumen; fiir solche Arbeit ist die Geschlechtsenergie - als die feinste - und ein einwandfreies Arbeiten dieses Zentrums unabdingbar; und falls sich aber dieses: ihr wieder jenen Platz einzuraumen, als unmdglich erweist, steht jeglichem Fortschritt ein unuberwindliches Hindernis entgegen. Alles in allem stellen bei den meisten Menschen das falsche Arbeiten der Zentren und ihre zur Gewohnheit gewordenen Einmischungen solche Energieverschwendung und solchen Qualitatsverlust dar, dass im allgemeinen eine umfangreiche Vorarbeit im Sinne eines Wiederinordnungbringens ndtig ist, ehe eine wirkliche Arbeit an sich selbst einsetzen kann: Mit der Energie unseres Organismus sparsam umzugehen und die Arbeit der Zentren, deren Funktionen unser Leben ausmachen, ins Gleichgewicht zu bringen und zu regulieren, dies ist der erste Schritt zur Wiederherstellung eines richtigen Arbeitsrhythmus und einer Verbindung zu den hdheren Zentren und somit die Grundlage fiir jede Weiterentwicklung des Menschen. 112

Das falsche Arbeiten der menschlichen Maschine und der Bruch zwischen jenen Zentren, die dem gewdhnlichen Leben zugeordnet sind, und den beiden hdheren Zentren beruhen auf der ungeniigenden Entwicklung der unteren Zentren. Gerade diese unzulangliche Entwicklung der unteren Zentren oder ihr unvollkommenes Arbei­ ten verwehrt dem Menschen den Gebrauch seiner hdheren Zentren, weil namlich verhindert wird, dass die Verbindungen zu ihnen zustande kommen. Gelingt es einem Menschen jedoch, durch seine persdnliche Arbeit und angemessene Anstrengungen (die nur in einer Schule mdglich sind) seine unteren Zentren zu entwickeln und ins Gleichgewicht zu bringen, so kann das Gefiihlszentrum sein normales Arbeitsniveau wiederfinden; und insoweit es sich lautert und entfaltet, kommt ein Kontakt mit dem hdheren Gefuhlszentrum zustande. Durch dieses kann sich spater ein weiterer Kontakt ergeben, und zwar mit dem hdheren Denkzentrum. Eine direkte Verbindung zwischen dem unteren und dem hdheren Denkzentrum ist im Gegensatz zu dem, was einige moderne Disziplinen versuchen, nicht mdglich. Die Entwicklungsachse des Menschenwesens beruht auf einer gefiihlsmassigen Entfaltung, auf einer Weiterentwicklung der Selbstempfindung: auf deren Erweckung, Entfaltung und Ubersteigung.

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Wesen und Personlichkeit

JE/iner der wichtigsten Punkte bei der Selbsterforschung ist im Hinblick auf unsere Motivationen und Funktionsweisen die Unterscheidung zwischen dem, was wir zu eigen haben, was von uns kommt und zu unserer Natur gehdrt, und dem, was uns fremd ist, von der Umwelt herriihrt und nur eine Anleihe darstellt. Wir sind unter diesem Gesichtspunkt in zwei Teile geteilt. Der eine ist das, womit wir geboren wurden; er enthalt den Keim unserer eigentlichen Qualitaten: unsere Fahigkeiten, unsere Unfahigkeiten und, allgemeiner betrachtet, alles, was uns zu eigen gegeben wurde. Wir werden diesen Teil unser «Wesen» nennen: ein Ausdruck, der unter den gegenwarigen Umstanden unweigerlich Diskussionen auslost, hier jedoch seine urspriingliche Bedeutung wiederfindet und derjenige ist, den Gurdjieff gebrauchte. Das bei der Geburt fast vdllig potentiale Wesen entwickelt sich in der Folge mehr oder 115

weniger weit und bildet das, was wir auch als das «Innere» des Menschen bezeichnen werden: sein inneres Wesen, den Kern seiner «Individualitat». Diese Entwicklung ist, insofern sie sich vollzieht, diejenige unseres wirklichen Inneren; dieses entspricht dem Wirklichkeitsgrad, der in der Welt, in der wir leben, der unsere ist, und daher ist das Innere nahezu vdllig wirklich (die Einschrankung hat ihren Grund unter anderem darin, dass es noch ein nicht verwirklichtes Potential enthalt). Der andere Teil ist das, was wir erworben haben: alle unsere Kenntnisse und das meiste von dem, wozu wir uns hingezogenfiihlen, sowie die Mehrzahl unserer Verhaltensweisen. Sie sind bei der Geburt nicht vorhanden und setzen sich erst allmahlich fest als Folge all dessen, was die Umgebung zu uns hinzufiigt. Gurdjieff gebraucht deshalb fiir diesen Teil den Ausdruck «Persdnlichkeit» (aus lateinisch persona: Maske). Ihre Entwicklung - unsere Person - hat (je nach dem, was man uns zutragt) nur mehr oder weniger feme Beziehungen zur Wirklichkeit der Umwelt, und in einigen Fallen kann diese Entwicklung sogar fast vdllig aus eingebildeten Gebilden bestehen. Diese beiden Teile sind im gewohnlichen Menschen beinahe immer so grundlich vermischt, dass man sie nicht zu unterscheiden vermag. Gleichwohl sind sie beide da mit je einem eigenen Leben und eigener «Bedeutung». Der eine wie der andere ist fiir das Leben notwendig; und wenn der Mensch sich erkennen, «sein Leben» erkennen will, so muss er als erstes die Fahigkeit erlangen, beide in sich wahrzunehmen.

Die Persdnlichkeit ist im Menschen «das, was ihm nicht gehdrt», d. h. was er von aussen erhielt, was er gelernt hat oder widerspiegelt: die Bewegungen, die Wdrter und die Sprache, die ihm beigebracht wurden, all die im Gedachtnis seiner verschiedenen Zentren aufgezeichneten Spuren ausserer Eindriicke, Kdrperempfindungen, erlernte Gefiihle, durch Nachahmung oder Suggestion erworbene Vorstellungen: all das ist Persdnlichkeit. Man kann auch sagen, die Persdnlichkeit bestehe aus dem Inhalt der Zentren, d. h. aus den jedem Zentrum beigefiigten Walzen und den darin eingepragten Aufzeichnungen sowie aus den Mechanismen, die diese miteinander verbinden: Assoziationsmechanismen zwischen den verschiedenen Aufzeichnungen ein und derselben

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Walze oder zwischen Aufzeichnungen verschiedener Walzen, und Puffermechanismen, die dazu bestimmt sind, zu verhindern, dass einander widersprechende Aufzeichnungen zur gleichen Zeit gemacht oder wieder aufgefunden werden. Die Persdnlichkeit entwickelt sich unter dem Einfluss ausserer Umstande (Ort, Zeit und Milieu), von denen sie fast vdllig abhangt. Obgleich die Konditionierungen, aus denen sie besteht, sehr stark sind, lasst sich die Persdnlichkeit durch Veranderung dieser Umstande mehr oder minder griindlich umgestalten; sie kann nahezu ganzlich verandert werden, und mitunter sehr rasch; sie kann zugrunde gerichtet, beschadigt, verbessert oder gestarkt werden. Das Wesen ist etwas Angeborenes, z. B. die fiir jeden Menschen eigentiimlichen Talente und Kennzeichen. Es ist als Anfangsvermdgen im Leben das, was zum «Gedeihen» zu bringen dem Menschen aufgegeben ist. Der eine Mensch ist musikalisch begabt, der andere nicht; der eine hat Sprachbegabung, nicht so der andere; der eine liebt das Reisen und die Flucht aus dem Alltag, der andere istsesshaft und in sich gekehrt; der eine ist freimiitig und aufrichtig, der andere gerissen und argwdhnisch; der eine vereinfacht alles, der andere macht alles kompliziert: die Gesamtheit dieser eigentiimlichen Merkmale ist das Wesen. Ihre Entwicklung kann im Laufe des Lebens einsetzen oder auch nicht und kann, wenn sie einsetzt, die Merkmale verstarken oder abmildern. Diese Entwicklung des Wesens, sein Wachstum, stellt das «Innere» des Menschen dar. Wesen und Inneres sind im Menschen «das, was ihm tatsachlich gehdrt»: was er zu eigen hat und was ihm iiberallhin folgt. Im Gegensatz zur Persdnlichkeit kann das Wesen nicht zugrunde gerichtet und ohne eine zumindest stillschweigende Einwilligung des Menschen auch nicht verandert werden. Bei einem schwachen Menschen, der sich «gehenlasst» in der Umgebung, in der er gefangen ist, kann, fast ohne dass er es merkt, das Wesen erstickt und sogar ausgeldscht oder im Gegenteil befreit und wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Ohne bewusste und beharrliche Beteiligung des Menschen lasst sich das Wesen allerdings nicht entwickeln und verandern. Veranderungen im Wesen dauern lange und erfordern sehr viel mehr Arbeit, Zeit und Tiefe als Veranderungen in der Persdnlichkeit. Wesen und Persdnlichkeit haben als sie Tragendes einen dritten Bestandteil des Menschen: seinen organischen Kdrper. Dieser ist das Instrument, wodurch alle Austauschvorgange zustande kommen, die

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das Leben ermdglichen. Es sind dies die drei anfanglichen Elemente, die dem Menschen bei der Geburt gegeben werden. Jedes hat als seinen Schwerpunkt ein Hauptzentrum des Menschen. Der Schwerpunkt des Kdrpers ist das Bewegungszentrum; derjenige des Wesens ist das Gefiihlszentrum; der Schwerpunkt der Persdnlichkeit ist das Denkzentrum. Diese drei Teile haben in der natiirlichen Ordnung des Menschenlebens eine unabhangige Entwicklung; sie iiberlagern sich nur zufallig und haben bloss gelegentlich Verbindung zueinander; eine wirkliche Verbindung kommt zwischen ihnen nicht zustande. Wirkliche Verbindungen kdnnen nur entstehen als Ergebnis einer auf besondere Weise geleiteten Arbeit des Menschen an sich selbst; und die Durchfiihrung solcher Arbeit ist die Etappe, die der Verwirklichung von Einheit und Individualitat im Menschen vorausgeht. Die dreifaltige Verfassung des Menschen ermdglicht ihm diese Indivualitat samt der Daseinsqualitat, die sie mit sich bringt, denn diese Verfassung lasst ihn auf seiner Ebene voll und ganz teilnehmen an den grundlegenden Wechselwirkungen der schdpferischen Lebenskrafte; doch wegen der natiirlichen Unabhangigkeit seiner drei Teile wird dem Menschen die Individualitat nicht bei der Geburt gegeben: sie kann nur das Ergebnis einer Arbeit an sich selbst sein. Fiir diese Arbeit ist die Kenntnis von Kbrper, Wesen und Persdnlichkeit notwendig. Zu Beginn des Lebens ist der Mensch Kbrper und Wesen; die Persdnlichkeit ist nur der Mbglichkeit nach vorhanden und hat sich noch nicht gebildet: ein kleines Kind verhalt sich so, wie es wirklich ist; seine Wiinsche, seine Neigungen, was es liebt, was es nicht liebt, driicken sein Inneres aus, so wie es ist. Doch in dem Masse, wie die Notwendigkeit, mit dem Leben fertigzuwerden, hinzukommt, fangt die Persdnlichkeit zu wachsen an. Sie entwickelt sich teils unter absichtlichen ausseren Einfliissen (was man Erziehung nennt), teils infolge der unwillkiirlichen Nachahmung der Erwachsenen durch das Kind, zum Teil auch unter dem «Widerstand» des Kindes gegen seine Umgebung und durch seine Anstrengungen, das zu behiiten (und ndtigenfalls zu verbergen), was es nach seinem Empfinden ist und was ihm gehdrt: was in ihm «wirklich» ist, sein Wesen. Auf die eine oder andere Weise, «bewusst» oder «unbewusst», wohl oder iibel erwirbt der Mensch nach und nach viele Neigungen,

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Empfindungen, Vorstellungen und Urteile, die fiir ihn kiinstlich sind, d. h. ohne Beziehung zu denen, die ihm natiirlich waren und sein eigenes Wesen zum Ausdruck brachten. Alle diese durch Erziehung, Nachahmung, Widerstand und Einbildung erworbenen Merkmale nehmen einen immer breiteren Raum ein; und je mehr diese kunstliche Persdnlichkeit wachst, um so seltener, indirekter und schwacher tut sich das Wesen kund. Am Anfang spielt das Wesen noch eine wichtige Rolle; die von aussen kommenden Dinge treten zu ihm in direkte Wechselbeziehung; was ihre Annahme oder Ablehnung anlangt, so gehen sie, gewissermassen «zu gleichen Teilen», mit dem Wesen Kompromisse ein oder widersetzen sich ihm. Und am Ende stehen sie, ohne wirklich zu verschmelzen, nebeneinander und verwirklichen einen noch von der Wesensnatur durchtrankten Komplex. So hinterlassen beim Kind (und beim Erwachsenen) die in friihester Kindheit erworbenen Zuge unausldschliche Spuren und bilden das, was man in der Tat seine zweite Natur nennen kann. Aus dem gleichen Grund ist es fur einen Menschen, der sich selbst zu erkennen sucht, von grosser Bedeutung, seine Kindheitserinnerungen so weit wie mdglich zuriickzuverfolgen und in ihnen eventuelle Neigungen und Empfin­ dungen wiederzuentdecken, an denen Kennzeichen seines Wesens miiheloser sichtbar werden. Die spater aufkommenden Gebilde iibernehmen vom Wesen immer weniger; sie entstehen aus erworbenen Merkmalen, in denen das Wesen eine zunehmend geringere Rolle spielt, und bald verleiht es den meisten Menschen nur noch eine allgemeine Farbung (einen Lebensstil oder eine generelle Tendenz), die bewirkt, dass Persdn­ lichkeit und Lebensweise davon durchdrungen sind; sofern nicht beim erwachsenen Menschen auch diese eigentiimliche Farbung verschwindet: vom Wesen bleibt dann nichts mehr iibrig, und ein derartiger Mensch ist nur noch aussere Persdnlichkeit und Liige. Denn das Wesen ist fiir den Menschen Wahrheit und die Persdnlich­ keit Liige.

Das Sichbewusstsein seines Inneren und seines Wesens: dasSelbstbewusstsein besitzt der erwachsene Mensch von Natur aus ebensowenig wie das Kind. Allerdings reagiert das ganz kleine Kind, das noch keine anderen Empfindungs- und Ausdrucksweisen gelernt hat,

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seiner Natur, d. h. seinem Wesen gemass auf das Leben. Das Kind ist noch einfach. Der Erwachsene dagegen verfiigt iiber ein umfangreiches Gebilde, eine Oberflachenpersdnlichkeit, die das Innere von alien Seiten verdeckt und nur noch lose Beziehungen zu ihm hat; er hat sich verdoppelt. Auf das Leben reagiert er gewdhnlich gemass dieser Oberflachenpersdnlichkeit, ohne dass sein Wesen in die Reaktionen einzugreifen braucht. Selbst wenn er das Eingreifen seines Wesens wiinschte, - ohne eine jedesmal erneuerte, besondere Anstrengung vermag er dies nicht mehr. Die Persdnlichkeit hat den gesamten Platz eingenommen und reagiert im taglichen Leben von sich aus auf alle Anforderungen; zu guter Letzt hat sie sich vollig an die Stelle des Wesens gesetzt. Diese Ersetzung des Wesens durch die Persdnlichkeit ist die Hauptursache fiir den mechanischen Zustand des Menschen und der Grund, weshalb er sich nicht daraus zu befreien vermag; auch stellt sie die naturliche Entwicklung dar, diejenige gemass dem Gesetz des geringsten Widerstandes, dem Gesetz, das alles lenkt, was in dem Involutionsstrom, dem Strom der Abwartsentwicklung lebt. Diese Ersetzung vollzieht sich unbewusst wahrend des Heranwachsens des Menschen, auf Grund seiner natiirlichen Tragheit und mangelnden Aufrichtigkeit gegen sich selbst, d. h. einer Selbstgefalligkeit, die durch die iibliche Erziehung dauernd bestarkt wird. Die Funktionen miissen fortwahrend auf das Leben reagieren, doch es ist leichter, zu reagieren, wie es die Aussenwelt verlangt, als eigene Erfahrungen zu machen und «nach bestem Wissen und Gewissen» zu antworten; sodann ist es leichter, erneut so zu antworten, wie man es gelernt hat, als seine Antwort jedesmal in Frage zu stellen und sie jeweils, wie beim ersten Mal, dem anzupassen, was man zuinnerst als richtig empfindet. Das Entstehen der Gewohnheiten begiinstigt diese leichtfertige Ldsung. So bilden sich in uns «unter dem Zwang der Verhaltnisse» verschiedene Rollen, die es gewohnt sind, mit jeder alltaglichen Situation, vor die wir uns gestellt sehen, fertig zu werden. Weil die Vorstellung leichter ist als das Handeln und das Vermuten leichter als das Uberpriifen, fiillen sich diese Rollen nach und nach an mit Illusionen, die miihsam eingeschrankt werden durch immer lockerere Kontakte zur Wirklichkeit; und weil die Kontakte der Rollen untereinander und zur Wirklichkeit so widerspruchsvoll sind, dass sie zerstdrerische Schocks hervorbringen kdnnen, schutzt ein System von «Puffern» das ganze Gebilde. Dieses Gebilde tragt 120

unsern Namen: «Herr Sowieso», Peter, Paul, Hans oder Jakob, welchen Namen wir in unserer Umgebung vorzeigen und unter dem uns die, mit denen wir zusammen sind, kennen, wobei sie sich freilich kaum daran stossen, dass dieses Gebilde dem, was wir wirklich sind, in nichts entspricht. Es ist die Form, in der wir ihnen erscheinen und fiir sie von Nutzen sind; im allgemeinen verlangen sie nichts anderes. Diese Form, d. h. unsere Persdnlichkeit, wird ubrigens eifersiichtig beschiitzt von einer «Empfindung», die unsere Mitmenschen ebensosehr bestarken, wie wir es selber tun: einer kleinlichen Eigenliebe, die sich, als Gewahr fiir dieses Gebilde und seine Funktionsablaufe, durch alle unsere Rollen hindurch mit ganz festen Meinungen und Bildern bekundet. So gehdrt dem Menschen von dem, was man an ihm sieht, in Wirklichkeit in den allermeisten Fallen nichts. Er ist, ohne es zu wissen, eine lebende Liige; seine Persdnlichkeit gibt vor, alles iiber ihn zu wissen, wie auch iiber das Leben, iiber Gott, iiber das Weltall, iiber alles und jedes, wahrend er in sich, in seinem Wesen, in seinem Inneren von all dem nichts weiss und nichts iiberpriift hat. Es ist nicht wahr, dass er irgendeine jener Kenntnisse, die er sich zuschreibt, wirklich besitzt: er hat sie nur aufgegriffen in seiner Umgebung; es ist nicht wahr, dass er iiber irgendeine der Qualitaten verfiigt, die er zu haben glaubt: er hat sie sich nur eingebildet, ohne sich die Miihe zu machen, sie nachzupriifen.

Infolge dieser Entwicklung der Persdnlichkeit und der zunehmenden Ersetzung des Wesens empfangt dieses die fiir sein Wachstum erforderlichen Elemente in immer geringeren Masse, und in der Regel hdrt es schon in friihester Jugend auf zu wachsen. Das Innere eines volljahrigen, sogar eines intellektuellen und iiberaus gebildeten Menschen ist haufig im Alter zwischen sechs und zwdlf Jahren stehengeblieben: ein solcher Mensch mag zwar Biicher schreiben, ein Vermdgen erwerben, einen Staat regieren, aber er ist fast ausschliesslich Persdnlichkeit; sein Wesen bekundet sich nur noch im instinkti­ ven Leben und hin und wieder in einfachsten Gefiihlen. Man kann iibrigens zu einer experimentellen Bestatigung dieses Verhaltnisses zwischen Persdnlichkeit und Wesen gelangen. Bestimmte Mittel wie etwa Hypnose oder gewisse Drogen erlauben uns, eines der beiden einzuschlafern oder sie eine Zeitlang voneinander zu trennen: so

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lassen diese Mittel das eine (gewdhnlich das Wesen) wach bleiben, wahrend das andere schlaft, oder aber sie lassen zwei verschiedenartige «Wesen» mit unterschiedlichen Interessen, Neigungen und Zielen sowie ungleicher Entwicklung zum Vorschein kommen und nebeneinander existieren. Von diesen Verfahren wurde in einigen orientalischen Schulen Gebrauch gemacht, und mit Hilfe der modernen Neurochemie sind ahnliche Wirkungen mdglich. Dass sich das Innere und die Persdnlichkeit harmonisch entwikkeln, ist etwas Aussergewdhnliches. Ihre Entwicklung ist in der Praxis fast allemal ungleich. Bei gebildeten Menschen entfaltet sich vornehmlich die Persdnlichkeit: alles, was sich als Zivilisation, Wissenschaft, Kunst, Philosophic, Politik zeigt, ist nur Ausdruck der Persdnlichkeit, und bei solchen Menschen bleibt das Innere kindisch oder dumm. Bei Menschen, die in Kontakt mit der Natur leben, hat das Innere mehr Gelegenheit zu wachsen; freilich bleibt dann in der Regel die Persdnlichkeit unterentwickelt: sie haben keine Erziehung, keine Ausbildung, keine Kultur und keine Kenntnisse. Fiir die Arbeit an sich selbst, fiir die richtige Entfaltung einer echten Individualitat, eines dauerhaften Ichs und fiir das spatere Hinauswachsen iiber dieses Ich ist eine harmonische Entwicklung von Wesen und Persdnlichkeit unabdingbar: eine gewisse Entwicklungsstufe der Persdnlichkeit ist ebenso notwendig wie ein bestimmtes Wachstum des Wesens. Ohne eine zulangliche Menge erworbener und «ihm nicht gehdrender» Informationen und Kenntnisse vermag ein Mensch auf dem Weg des Verstehens eine wirkliche Arbeit an sich selbst nicht in Angriff zu nehmen. Fiir ihn bleiben andere Wege gangbar: zum Beispiel der des «Fakirs» oder der des Mdnchs, die keine verstandesmassige Entwicklung erfordern. Ebenso ist ohne hinreichende Entfaltung des Wesens wirkliche Arbeit an sich selbst unmdglich: falls sich das Wesen als zu unterentwickelt erweist, ist eine mehr oder weniger lange Vorarbeit unerlasslich, um es auf das erforderliche Niveau zu bringen; und diese Arbeit bleibt nutzlos, sofern das Wesen innerlich verfault ist oder sich irgendein nicht wiedergutzumachendes Gebrechen zugezogen hat. Derartige Faile sind recht haufig; eine anomale Entwicklung der Persdnlichkeit halt oftmals die Entwicklung des Wesens auf einer so niedrigen Stufe an, dass dieses zu etwas Kleinem, Unfdrmigem wird, von dem man nichts erwarten kann. Es kommt sogar haufig vor, dass das Wesen eines Menschen stirbt, wahrend sein Leib und seine Persdnlichkeit am

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Leben bleiben: so sind die Leute, die man in einer Grossstadt auf der Strasse sieht, fast alle innerlich leer: in Wirklichkeit sind sie bereits tot. Zum Gliick konnen die Menschen das nicht sehen und wissen nichts davon, denn solches Schauspiel samt seinen Konsequenzen ware ihnen unertraglich. Die die Fahigkeit erlangen, es zu sehen, haben zumeist eine ausreichende Vorbereitung erworben, um auch diesen Anblick auszuhalten. So besteht in unserer Zivilisation die gewdhnliche Tragddie des Menschen darin, dass in ihm die Persdnlichkeit den Platz des Wesens eingenommen hat. Sie bildet einen Panzer, der das Wesen isoliert und der verhindert, dass noch irgend etwas zu ihm gelangt. Alle Anforderungen, alle Eindriicke und Schocks empfangt die Persdn­ lichkeit; sie antwortet in ihrer Weise darauf und lenkt alles nach ihren Regeln und zum eigenen Vorteil. Sie antwortet auf Grund ihrer Struktur reflexartig, oberflachlich und unmittelbar: die Persdnlich­ keit reagiert. Sie lebt und ernahrt sich von diesen Reaktionen, deren jede den Aufbau der Persdnlichkeit verstarkt, ihre Konditionierungen bestatigt und deren Gesamtheit erhalten wird durch eine hochempfindliche gefiihlsmassige Apparatur: die Eigenliebe. Das Innere vermag nicht zu reagieren: wenn ein Eindruck zu ihm gelangt, vergleicht es ihn sofort mit friiher gemachten Erfahrungen, es «versteht» ihn und antwortet gemass diesem Verstandnis. Das Innere lebt und ernahrt sich von diesem Vorgang des Verstehens und Antwortens, in dessen Verlauf es sich den Inhalt der neuen Erfahrung aneignet: auf diese Weise wachst das Wesen. Freilich ist der Vorgang des Antwortens sehr viel langsamer als die Reaktion der Persdnlichkeit. Im gewdhnlichen Zustand des Men­ schen nimmt, kaum dass ein Eindruck empfangen ist, die Persdnlich­ keit von ihm Besitz; sie reagiert sofort; nichts hat Zeit, zum Wesen vorzudringen; und dieses wird gleichsam bestohlen, «iibergangen»: jedesmal nimmt, mag es auch noch so wenig sein, die Persdnlichkeit zu, und das Wesen verkiimmert. Zum Schluss bildet die Persdnlich­ keit eine den gesamten Platz einnehmende Schale, in deren Mitte das Wesen schlaft und verfallt. In der Tiefe des Menschen kann, wenn es nicht schon zu spat ist, noch von Zeit zu Zeit ein Gefiihl auftauchen und ihn von dieser Lage unterrichten: falls er sich zu sich selbst wendet, spiirt er, dass die innerlichen Antworten, die seines Wesens, durchaus die seinen sind und aufrichtig, wohingegen ihm seine gewdhnlichen Reaktionen,

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diejenigen seiner Persdnlichkeit, als die einer fremden Aussenwelt erscheinen, den Regeln oder Gesetzen dieser Aussenwelt gehorchend, die nicht die seinen sind. Diese Reaktionen haben keinen Bezug zu dem, was er selbst seinem Empfinden nach ist, und kdnnen sich sowohl als annehmbar herausstellen wie auch als ein Verrat erscheinen. Sie sind, was sie sind, aber auf alle Faile haben sie in Beziehung zu ihm keinerlei Echtheit. Dem Gewissen Raum zu geben, jenes Bediirfnis zu fiihlen nach Aufrichtigkeit gegen sich selbst, dies ist die erste jener Eigenschaften, die der aufweisen muss, der eine Arbeit an der Selbsterkenntnis beginnen mdchte. Diese Eigenschaft ist das, was Erziehung einem Kind als erstes beibringen sollte; und wer zu sich selbst finden will, dem ist sie im Anfang der beste Fuhrer: zumindest sofern er noch in der Lage ist, sie zu vernehmen, und in der Lage, sich uber sich selbst zu beugen mit wahrer Liebe, einer Liebe zu seinem Wesen: sofern er zur Selbstliebe fahig ist. Selbstliebe, der «gute» Egoismus, ist fiir das Wesen und das Innere die Entsprechung zur Eigenliebe der Persdnlichkeit. Im allgemeinen ist der Mensch sich dieser Lage nicht bewusst, und falls sein Leben halbwegs reibungslos verlauft, ist es durchaus moglich, dass er sich nie ihrer bewusst wird. Damit sich etwas andert, muss ihn sein Leben so tief enttauscht haben, dass er seine Persdn­ lichkeit und das gesamte Gebilde, das sie reprasentiert, in Frage stellt. Zwar wiirde geniigen, dass er sich so sieht, wie er ist: dass er, ohne Ausfluchtmdglichkeit, sich reagieren sieht, so wie er auf die verschiedenen Umstande reagiert, mit einander widersprechenden Rollen, von denen jede egoistisch fiir sich lebt, wie es ihr gerade passt, ohne sich um die anderen zu kiimmern, geschweige denn um die Wirklichkeit. Solche Beobachtung wiirde ihn zu der Einsicht zwingen, dass in seiner Lebensweise etwas falsch ist und in ihr die Werte auf dem Kopf stehen. Aber ein ganzes Dampfungssystem: in seiner Persdnlichkeit fest eingewurzelte Entschuldigungen und Puf­ fer, hindert ihn daran, dessen gewahr zu werden. Die Entschuldigun­ gen unterscheiden sich insofern von den Puffern, als sie ein standig sich wandelnder, jedesmal anderer und von der jeweiligen Zweckmassigkeit abhangender kiinstlicher Vorgang sind. Sie mdgen wohl dazu dienen, Puffer zum Ausdruck zu bringen, aber an sich wurzeln sie in nichts anderem als dem unmittelbaren Bediirfnis jeder Rolle, angesichts ihrer Unzulanglichkeiten und Widerspriiche dennoch allemal recht zu haben; es bedarf, nebenbei gesagt, einer gewissen

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Intelligenz, um jederzeit «gute» Entschuldigungen zu finden. Die Puffer hingegen sind als tiefe innere Vorrichtungen, als Konditionierungen im Aufbau der Persdnlichkeit begriindet und zusammen mit ihr gewachsen, um die Widerspriiche im Alltagsleben des Menschen zu dampfen, zu verbergen oder zu verhindern: und zwar nicht nur die Widerspriiche zwischen den verschiedenen Rollen, sondern vor allem die auf dem anomalen Ubergewicht der Rollen beruhenden Widerspriiche zwischen diesen und dem Wesen. Die Puffer sind als standiger automatischer Vorgang im Aufbau der Persdnlichkeit beschlossen, bei deren Entwicklung sie mit entstanden. Sie haben die Entfaltung der Persdnlichkeit ermdglicht und erhalten in der Folge deren Vorherrschaft. Hin und wieder freilich wird durch das Leben und seine Zufalle diese Vorrichtung in ihre Schranken gewiesen: bei starken Schocks (einem Unfall, dem Tod eines teuren Menschen) oder bei grossen Enttauschungen oder neuen und unvorhergesehenen Situationen. Wenn sich der Mensch die Fahigkeit bewahrt hat zu einer gewissen Aufrichtigkeit, so ist er da gezwungen, seine ubliche Lebensweise in Frage zu stellen, und einen Augenblick lang fiihlt er das Verlangen nach «Verstandnis». In ihm erwacht ein besonderes Interesse, die Ursachen seiner Lage zu verstehen, und fiir einen Moment findet er all das in sich wieder, was in ihm aufgeschlossen ist fiir das Verstand­ nis seines Inneren und das Verstandnis des Lebens.

In jedem Menschen gibt es namlich eine mehr oder weniger verborgene, mehr oder minder in Schlaf versunkene Seite, durch die er sich interessiert fiir das Verstandnis seiner selbst, seines Lebens und, dariiber hinaus, des Lebens im allgemeinen. Wegen dieser ihrer besonderen Ausrichtung auf einen grundlegenden Interessenschwerpunkt, wie das Verstandnis des Lebens einer ist, kann sie «magnetisches Zentrum» genannt werden. Es ist kein «Zentrum» im strengen Sinne des Wortes, sondern nur ein Interessenzentrum, und mit dem «magnetischen Apparat», der ihm entspricht, gehort es zur Persdnlichkeit, nicht zum Inneren: es handelt sich um ein Interesse des Menschen fur sich selbst, fiir das Verstandnis seiner selbst, wahrend normalerweise alle seine Interessen nach aussen gerichtet sind. Es ist ein Interesse der Persdnlichkeit fiir jene verborgene Forderung des Inneren, das durch die Persdnlichkeit verdeckt ist: ein auf sichselber

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gerichtetes Interesse, das freilich ein Interesse bleibt wie andere auch; und der Mensch hat in seiner Personlichkeit gewdhnlich mehrere dieser Art. Solches zur Personlichkeit gehdrendes Interesse fiir sich selbst ist grundverschieden vom Bewusstsein seiner selbst, das sich im erwachten Menschen entfaltet und zum Inneren gehdrt. Dennoch kann das richtig angeleitete Interesse fiir sich selbst zum Bewusstsein seiner selbst fiihren. Dieser magnetische Apparat entwickelt sich, wenn die Erziehung nicht allzu absonderlich ist, wahrend des Heranwachsens, und zwar aus gefiihlsmassigen oder intellektuellen Teilen der Persdnlichkeit, die empfanglich sind fiir das Bedurfnis des Wesens wie auch fiir bestimmte aussere Einflusse, die den Menschen zum «Verstandnis» aufrufen. Wie alles, was zur Personlichkeit gehdrt, ist dieser Apparat nicht von sich aus aktiv, er reagiert nur auf die Einfliisse, die ihn erreichen. Wahrend aber die sonstige Personlichkeit auf Einfliisse einer ersten Art reagiert, die im Leben selbst und durch das Leben entstehen, reagiert der magnetische Apparat auf Einfliisse einer anderen Art, die ausserhalb dieses Lebens von bewussten Menschen zu genau festgelegten Zwecken hervorgebracht werden. Diese Ein­ fliisse entstammen dem inneren, esoterischen Kreis der Menschheit; sie nehmen gewdhnlich die Gestalt von Doktrinen an, von religidsen Unterweisungen, philosophischen Systemen, Kunstwerken und so weiter. Diese Einflusse werden zu einem bestimmten Zweck bewusst in das Leben eingefiihrt und vermischen sich dort mit den Einfliissen der ersten Art, denen des Lebens. Bewusst sind diese Einfliisse allerdings nur in ihrem Ursprung. Wenn sie in den grossen Strudel des Lebens geraten, fallen sie unter das allgemeine Gesetz des Zufalls und beginnen auf mechanische Weise zu wirken; mit anderen Worten, sie sind nicht mehr anpassungsfahig: sie kdnnen auf diesen oder jenen Menschen einwirken oder auch nicht: sie mdgen ihn erreichen oder nicht: dies hangt nur noch von ihm ab. Da zudem diese Einfliisse der zweiten Art im Leben infolge von Ubermittlung und Auslegung allerlei Wandlungen und Veranderungen erleiden, werden sie nach und nach zu Einflussen der ersten Art, d. h. sie verschmelzen praktisch mit ihnen. Damm hangt beim Einzelmenschen alles von seiner Fahigkeit ab, diese zwei Arten von Einfliissen zu empfangen und auseinanderzuhalten. Ihre Verteilung ist auf seinem Niveau ungleichmassig.

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Ausserdem ist die Empfanglichkeit der Menschen jeweils verschieden: der eine Mensch ist besser eingestimmt auf Einflusse von ausserhalb des Lebens, und er empfangt viele solche Einflusse; ein anderer empfangt weniger; ein dritter ist fur sie nahezu unempfanglich. Dies ist unvermeidbar: es hangt vom Aufbau des Wesens ab und gehdrt bereits zum Schicksal. Betrachtet man jedoch die Gesamtheit, die allgemeine Regel, den in normalen Verhaltnissen lebenden normalen Menschen, dann sind die Bedingungen fiir alle annahernd die gleichen, und man kann sagen: fiir alle ist die Schwierigkeit ungefahr gleich gross. Sie besteht darin, die zwei Arten von Einfliis­ sen zu trennen. Falls sie ein Mensch beim Empfang nicht auseinanderhalt, ihren Unterschied nicht sieht oder nicht spiirt, wird auch ihre Wirkung auf ihn nicht unterschieden, d. h. sie beeinflussen ihn auf derselben Ebene in der gleichen Weise, bringen die gleichen Ergebnisse hervor und kdnnen ihn zu keinem Wandel fiihren. Wenn hingegen ein Mensch in dem Augenblick, da er diese Einfliisse aufnimmt, die notwendigen Unterscheidungen vornehmen und die nicht im Leben entstandenen Einfliisse aussondern kann, dann fallt es ihm allmahlich leichter, sie auseinanderzuhalten: nach einer bestimmten Zeit kann er sie nicht mehr mit gewdhnlichen Einfliissen verwechseln, und sie beginnen dann, in ihm andere Ergebnisse zu zeitigen. Daher ist es sehr wichtig, dass man trotz der verschiedenen Formen, die diese Einflusse annehmen mdgen, zu erkennen vermag, was die im Leben entstandenen Einfliisse von jenen unterscheidet, deren Quelle sich ausserhalb des Lebens befindet. Die Besonderheit der letzteren besteht darin, dass sie ein Ruf sind, der uns zur Hinwendung zu uns selbst und zum «Verstehen» aufruft. So hangt fiir jeden von uns alles von unserem Verlangen nach Verstandnis ab sowie von der Fahigkeit, unter den mannigfaltigen Einfliissen, die zu uns gelangen, diejenigen zu erkennen, die unser Verstandnis zu erweitern vermdgen. Dies ist die Rolle, die der magnetische Apparat bei uns spielt. Viele Menschen, die zu Beginn ihres Lebens die Bedeutung einer derartigen Unterscheidung vielleicht ahnten, neh­ men den Unterschied spater nicht einmal mehr wahr. Sofern aber ein Mensch noch zu hinreichender Aufrichtigkeit imstande ist oder ein unvorhergesehener Schock diese Aufrichtigkeit wachruft, gewinnen fiir ihn die Einfliisse der zweiten Art, wenn sie ihn beriihren, neues Interesse: sie verweisen ihn einen Augenblick lang auf das Wesen,

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auf das Innere und das Verstandnis seines Seins: fiir einen Moment hebt der magnetische Apparat in ihm zu arbeiten an. Der fiir diese Einfliisse empfangliche Mensch sammelt die Ergebnisse, zu denen sie fiihren, in den verschiedenen Teilen seiner Persdnlichkeit an; er zeichnet sie auf, assoziiert sie, erinnert sich an sie, und nach jedem neuen Schock fuhlt er sie alle zusammen. Er ist sich selber nicht im klaren daruber, worum es geht: er sieht weder das Weshalb noch das Wie; und wenn er es sich zu erklaren sucht, so misslingt ihm das. Anfangs nennt er es «besonderes Interesse», «Ideal», «Ideen» usw., doch wichtig dabei ist, dass es sich hier tatsachlich um die erste Regung eines Interesses fiir die Selbstentwicklung handelt. Die Ergebnisse dieser so in ihm angehauften Einfliisse erweitern und verstarken allmahlich das magnetische Zen­ trum. Zugleich zieht dieses alle verwandten Einfliisse an; auf diese Weise wird es grosser und nimmt nach und nach einen besonderen Platz ein. Diesen Platz im Menschen kann das magnetische Zentrum nur auf Kosten anderer Teile der Persdnlichkeit einnehmen, denn es ist, als dem Innen zugewandt, unvereinbar mit denen, die auf das Aussen gerichtet bleiben: entweder gilt das eine oder das andere. Zwischen diesen beiden Aspekten der Persdnlichkeit entspinnt sich ein Kampf, der allemal ein schwieriger Augenblick ist und fiir immer unentschieden bleiben kann. Wenn jedoch das magnetische Zentrum eines Menschen geniigend Eindriicke erhalt, wenn die anderen Seiten der Persdnlichkeit, d. h. die Ergebnisse der im Leben entstandenen Einfliisse, keinen iibermassigen Widerstand leisten und der Wunsch zu sein - statt zu scheinen - in ihm zutage treten kann, dann fangt der magnetische Apparat an, auf die Orientierung des Menschen Einfluss auszutiben; er kann zu dessen Hauptinteresse werden, kann ihn zu einer Wende ndtigen und ihn sogar dazu bewegen, sich in der entsprechenden Richtung auf den Weg zu machen. Das Wesen und das Innere spielen bei all dem noch immer nur insofern eine Rolle, als sie mit der Persdnlichkeit verquickt sind: der Mensch verfiigt von sich aus noch uber kein Mittel, sie zu unterscheiden und an ihnen zu arbeiten. Sobaid jedoch sein magnetisches Zentrum hinreichende Kraft und Entfaltung erlangt hat, fangt der Mensch an, die Vorstellung von einem Weg zur Entwicklung seines Inneren zu verstehen, und er macht sich auf die Suche.

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Die Suche nach dem Weg kann sehr lange dauern und zu nichts fiihren. Das hangt von den Bedingungen ab, von den Umstanden, der Kraft des magnetischen Zentrums, der Kraft und Richtung anderer Neigungen, fiir die solche Suche in keiner Weise wichtig ist und die einen Menschen genau in dem Augenblick von seinem Ziel abbringen kdnnen, da die Mdglichkeit, es zu erreichen, d. h. den Weg zu finden, in Erscheinung tritt. Sofern das magnetische Zentrum richtig arbeitet und der Mensch wirklich sucht oder auch dann, wenn er, ausserhalb jeder aktiven Suche, auf richtige Weise empfindet, kann er einem anderen Menschen begegnen, der den Weg kennt und direkt oder durch Mittelsmanner mit einem Zentrum verbunden ist, dessen Existenz sich dem Gesetz des Zufalls entzieht und dem die Ideen entstammen, die das magnetische Zentrum gebildet haben. Hier gibt es noch immer zahlreiche Mdglichkeiten, die alles in Frage stellen kdnnen. Gleichwohl ist der Mensch in diesem Augen­ blick - sofern die Begegnung echt war - auf Einfliisse einer dritten Art gestossen, die direkt und bewusst sind und die durch eigene Erfahrungen und miindliche Ubermittlung ausschliesslich von Mensch zu Mensch wirken. Von diesem Moment an kann fiir den Menschen das einsetzen, was er suchte: eine auf Selbstentwicklung und Verwirklichung seines wahren Inneren ausgerichtete Arbeit. Das magnetische Zentrum kann freilich wahrend seiner Entstehung falsch gebildet worden sein. Es mag Widerspruche enthalten und geteilt sein. Aus dem Leben stammende Einfliisse kdnnen in Gestalt andersartiger Einfliisse in das magnetische Zentrum eingedrungen sein, oder die hdheren Einfliisse mdgen derart entstellt gewesen sein, dass sie zum genauen Gegenteil dessen wurden, was sie waren. Ein Mensch, dessen magnetisches Zentrum sich so gebildet hat, kann sich ebenfalls auf der Suche nach einem Weg der Selbstent­ wicklung befinden. Falls er einem echten Fiihrer begegnet, ist zur Neutralisierung der Missbildungen des magnetischen Zentrums eine erhebliche Vorarbeit ndtig, ehe er ihm folgen kann, und haufig lauft dieser Mensch Gefahr, diese Vorarbeit nicht anzunehmen. Ja mehr noch: ein solcher Mensch ist mehr als jeder andere imstande, sich auf Wege zu begeben und sich Fiihrern anzuschliessen, die ihn aus Versehen oder Einbildung in eine ganz andere Richtung fiihren als die, die er suchte; so kann er unversehens vom rechten Weg weit abgebracht werden und zu Ergebnissen gelangen, die denen entge-

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gengesetzt sind, die er hatte erreichen kdnnen. Zum Gliick kommt das nur selten vor; denn die falschen Wege sind zwar zahlreich, doch in den allermeisten Fallen fiihren sie nirgendwo hin. Der Mensch dreht sich einfach auf der Stelle im Kreise, wenngleich er meint, er folge einem Weg. Zu erkennen, ob ein Weg richtig ist oder falsch, ist immer iiberaus schwierig. Den falschen kann man nicht erkennen, wenn man nicht den rechten kennt. Wohl mdchten die Suchenden sichergehen, dass der Fuhrer, den sie gefunden haben, sich auf dem rechten Weg befindet; jedoch vermag niemand uber sein eigenes Niveau hinauszublicken, und ein Schuler kann niemals das wirkliche Niveau seines Meister sehen: dies ist ein Gesetz; nur kennen es die meisten Menschen nicht: jeder mbchte sich von dem grdssten Meister unterweisen lassen. Im Anfang besteht die einzige Hoffnung, nicht in eine falsche Richtung gezogen zu werden, keineswegs in einer (allemal triigerischen) Beurteilung des Meisters, sondern darin, dass man seine Zuflucht nimmt zu dem unverfalscht gebliebenen Gewissen und der ehrlichen Gegeniiberstellung des uns Vorgeschlagenen mit dem Gewissen. Wenn ein Mensch nicht von Anfang an zu dieser Ehrlichkeit in der Lage ist, so hat er gute Aussichten, fehlzugehen, denn der rechte Weg ist selten, und die falschen sind zahlreich. Auch hier braucht man Gold, um Gold zu machen.

Der rechte Weg, der den Menschen zu befreien sucht aus dem Gefangnis der Persdnlichkeit, muss ihn zugleich auch von den Gesetzen befreien, die im Alltagsleben waken: alles, was zur Persdn­ lichkeit gehdrt, wird namlich von den gleichen Gesetzen gelenkt, die auch das gewdhnliche Leben regeln: von denen der Quantitat, der Wechselfalle und des Zufalls. In diesem Bereich gibt es kein wahres «Schicksal»: es gibt nur unvorhergesehene Umstande und zufallige Begegnungen. Das Gesetz des Zufalls beherrscht das alltagliche Leben des Menschen und macht es weitgehend unvorhersehbar. Wer ein Ziel verfolgen oder eine bestimmte Richtung einhalten will, fiir den besteht die einzige Hoffnung darin, diesem Gesetz zu entkommen, sich ihm zu entziehen. Das setzt zunachst voraus, dass er sich desselben bewusst geworden ist. Es setzt des weiteren voraus, dass er verstanden hat, auf welche Weise er sich ihm entziehen kann. Der Mensch ist nicht nur dem individuellen Zufall unterworfen, sondern

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auch dem von allgemeinen Gesetzen gelenkten kollektiven. Nicht alle allgemeinen Gesetze sind fiir den Menschen bindend; von vielen kann er sich befreien, sofern es ihm gelingt, sich von Einbildung und Puffern zu befreien. Und hierfur ist die Grundbedingung: die Befreiung von der Persdnlichkeit. Die Persdnlichkeit findet Nahrung durch Einbildung und Liige. Wenn die Liige, in der der Mensch lebt, nachlasst und die Einbildung schwacher wird, wird die Persdnlichkeit in kurzer Zeit abnehmen und von ihrer Einflussnahme ablassen. Das Innere ist dann befreit, und der Mensch kann unter die Leitung sei es seines «Geschicks» oder einer ihrerseits vom Willen eines anderen Menschen gelenkten Arbeitslinie kommen; auf diese Weise kann er bis zu dem Punkt gefiihrt werden, wo sich in ihm ein Wille zu bilden vermag, der in der Lage ist, sich sowohl dem Zufall wie auch, wenn ndtig, dem «Schicksal» zu stellen. «Schicksal» ist ein Wort, dessen wahre Bedeutung verlorengegangen ist. Das Schicksal steht in der Tat mit dem Wesen und dessen Entfaltung in Zusammenhang. Das Wesen jedes Menschen hat eigentumliche, mit urspriinglichen (haufig als planetarisch oder astral angesehenen) Einfliissen zusammenhangende Merkmale, die seinen «Typus» ausmachen und seine Grundneigungen festlegen. Verschiedene Verbindungen bilden auf diese Weise unterschiedliche Wesen. Sie bestimmen auch die eigentumliche Empfanglichkeit fiir die gegenwartigen Umwelteinfliisse; diese verandern sich nach ganz bestimmten Gesetzen, die man empfinden und erkennen kann. Die Neigungen andern sich ebenfalls: einige entwickeln sich mechanisch von selbst; andere hingegen werden, nachdem sie einmal erschienen sind, schwacher und verkiimmern, wenn sie nicht regelmassig angeregt werden. Der relative Teil der verschiedenen moglichen Neigun­ gen, die besondere Empfanglichkeit fur alle Einflussarten und die sich daraus ergebende eigene Entwicklungsweise jeder Neigung machen in jedem Menschen das «Schicksal» aus: sein individuelles Schicksal und zugleich sein kollektives, das der Gesamtheit, zu der er gehdrt. Im allgemeinen vollendet sich das «Schicksal» des Menschen deshalb nicht, weil sein Inneres sich nicht entwickelt; dessen Platz hat die Persdnlichkeit eingenommen, und die stellt den Menschen unter das Gesetz des Zufalls. Zum Inneren gelangen die planetarischen Einflusse nur, wenn es sich von der Persdnlichkeit befreit; solche Befreiung kann mechanisch eintreten: dies geschieht in Gemein131

schaften, Menschenmengen und -massen, bei denen Umwelteinfliisse, vor allem planetarische, iiberwiegen und wo der einzelne naturgemass dazu neigt, alle persdnlichen Merkmale zu verlieren. Damit aber die planetarischen Einfliisse eine individuelle Wirkung auf einen,bestimmten Menschen haben, muss sich dieser Mensch von der Macht seiner Persdnlichkeit frei gemacht haben, wozu er in der Regel nur durch die Arbeit einer Schule imstande ist. Von den Beziehungen zwischen Persdnlichkeit und Wesen des Menschen hangt in der Tat die Rolle ab, die (abgesehen von seiner Geburt und oft - aber nicht immer - seinem Tod) das Gesetz des Zufalls oder das des Schicksals fiir ihn spielt. Vollstandig oder fast vollstandig dem Gesetz des Zufalls unterworfen sind diejenigen, bei denen die Persdnlichkeit sehr stark ist; planetarische Einfliisse erreichen sie nur in aussergewdhnlichen Augenblicken oder indirekt, durch ihre Zugehdrigkeit zur Masse. Einige Menschen leben allerdings allein auf Grund ihrer Existenzweise (und ohne dass der Einfluss einer Schule hinzukommt) viel mehr in ihrem Wesen und haben nur eine schwache Persdnlichkeit: diese Menschen empfangen die planetarischen Einfliisse ungleich direkter und leben weitaus mehr unter dem Gesetz ihres Geschicks. Ob es ratsam sei, lieber unter dem Gesetz des Schicksals zu leben als unter dem des Zufalls, ist eine andere Frage. Das hangt zunachst von dem Standpunkt ab, von dem aus man ein solches Urteil abgibt. Vom Standpunkt des alltaglichen Lebens aus kann dies in gewissen Fallen besser sein, in anderen schlechter, je nach den jeweiligen praktischen Eigenschaften des Wesens, das einem gegeben wurde, und der Persdnlichkeit, die sich gebildet hat. Meistens ist es besser. Vom Standpunkt des Inneren und seiner Entwicklung aus besteht die gleiche Alternative, doch aus ganz anderen Griinden. Fiir einen nach Selbstverwirklichung strebenden Menschen ist es unumganglich, dass er sich dem Gesetz des Zufalls entzieht, um zum Gesetz des Schicksals zuriickzukehren; allerdings gibt es «Geschicke», die man besser nicht erfiillt; wenn der Mensch sich dessen bewusst zu werden vermag, erscheint sogleich die zwingende Notwendigkeit, sein «Geschick» zu verandern und sich ihm zu entziehen; dies ist nicht unmdglich, erfordert freilich eine sehr harte, bewusste Arbeit unter Bedingungen, die nicht immer gegeben sind oder nicht lange genug gegeben sind, damit er das Ziel erreicht: fiir solche Menschen, die letzten Endes scheitern und dies wissen, ware es besser gewesen, 132

unter dem Gesetz des Zufalls zu bleiben. Dies ist die wahre «Hdlle». Zum Gluck sind derartige Situationen selten, denn fiir diese Men­ schen sind die inneren und ausseren Hindernisse so stark, dass sie so gut wie nie eine wirkliche Arbeit an sich selber weit genug voranbringen konnen.

Die Entwicklung der Individualitat und mithin das Erscheinen eines dauerhaften Ichs geht als erste Phase der normalen Entwicklung des Menschen aus dem Wachstum des Wesens und aus der harmonischen Entwicklung des Inneren und der Persdnlichkeit hervor. Fiir Erzieher, die sich der ihnen zukommenden Rolle bewusst sind, sollte dies das Ziel einer richtig vollzogenen Erziehung sein; doch in der heutigen Gesellschaft verhalt es sich praktisch nie so. Der Mensch erreicht das, wie es heisst, Erwachsenenalter mit solcher Unausgeglichenheit in der Entfaltung seiner wesentlichen Teile, dass er, vor jeder wirklichen Arbeit an seiner Weiterentwicklung, zunachst «wieder mit sich in Einklang gebracht» werden muss. Solche Arbeit ist nur mit einem Fuhrer mdglich, in einer Schule der Arbeit an sich selbst, wo der Mensch, gleichviel nach welcher Ordnung und Weise, zur Einsicht in seine Lage, zur Erkenntnis seines Seins und zur inneren Arbeit der Selbstentwicklung kommen muss. Der Mensch muss dazu gebracht werden, dass er versteht: er ist doppelt (Wesen und Persdnlichkeit); er muss sehen, dass seine auf Eigenliebe beruhende Persdnlichkeit sich eine ungerechtfertigte Allmacht anmasst und, zum eigenen Nutzen, die Funktionen total beherrscht; er muss erkennen, dass sein Wesen, der echte Teil von ihm, unentwickelt geblieben ist; und er muss es sich zur Aufgabe machen, das richtige Gleichgewicht in sich wiederherzustellen. Dies erfordert eine Schwachung der Persdnlichkeit, wodurch sie auf ihr richtiges Mass zuriickgefiihrt wird, sowie das Hinauswachsen iiber die eng persdnliche Eigenliebe hin zur Entwicklung einer Selbstempfindung, die harmonisch verbunden ist mit dem Ganzen des Lebens. Und dies erfordert zugleich die Entwicklung des Inneren, sowohl durch Schocks, die es wecken, wie auch durch eine nur unter der Leitung eines hdheren Bewusstseins mdgliche Arbeit an der Erweiterung des Verstandnisses, und zwar um den Preis bewusster Erfahrungen. Im gewdhnlichen Leben liegt der Schwerpunkt bei der Persdnlichkeit, und das Innere schlaft. In einem Augenblick der Bewusstheit kehrt sich das innere 133

Gleichgewicht um: die Persdnlichkeit zieht sich zuriick, der Schwerpunkt liegt beim Wesen, das erwacht und zum Ausdruck im Leben einen funktionalen Bereich dienstbereit vorfindet, der um so umfassender ist, .je vollstandiger die Persdnlichkeit aufgibt. In einem Augenblick’der Bewusstheit ist fur eine auch noch so kurze Zeit die Harmonie wiederhergestellt zwischen dem Wesen und den Funktio­ nen, zwischen den Zentren und ihrem Inhalt, zwischen der tiefen Individualitat und ihrer Erscheinungsform im Leben.

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Erwachen zu sich selbst und Hindernisse zum Erwachen

kJo verlauft das gewohnliche Leben des Menschen im Schlaf, im

Schlaf des wahren Ichs, und das erste Hindernis fiir das Erwachen dieses Ichs, welches Erwachen der Anfang einer mbglichen Weiterentwicklung ware, ist, dass der Mensch diesen Schlaf nicht sieht. Gleichwie ein schlafender Mensch nicht ermessen kann, was der Wachzustand ist, so hat der Mensch im Wachzustand von Natur aus nichts in sich, was ihm erlaubt, den Wachzustand des Ichs: den Zustand des Beisichseins und des Bewusstseins seiner selbst, zu ermessen. Der schlafende Mensch kann sein gewbhnliches Leben nur leben, wenn er aufwacht. Daher hat er einen Instinkt, der ihn - wenn der Schlaf seine Rolle erfiillt hat - veranlasst, durch sein eigenes Lebensbediirfnis zu erwachen; und das Leben, das ihn braucht, sorgt gleichfalls dafiir, dass er aus diesem Schlaf geriittelt wird. 135

Beim zweiten Erwachen ist alles anders. Zwar hat der Mensch im Wachzustand bisweilen eine Vorahnung von dem, was er sein sollte, doch dieses Vorgefiihl wird seiten so stark, dass er das Verlangen verspiirt, «wahrhaft» er selbst zu sein, und noch seltener gewinnt dieses «Seinsverlangen» eine hinreichende Heftigkeit, damit der Mensch, ware es auch nur fiir einen Augenblick, zu dieser zweiten Stufe erwacht. Zudem braucht der Mensch fiir das Alltagsleben (sein eigenes Leben und das Leben ringsumher, das ihn zur Teilnahme aufruft) dieses zweite Erwachen nicht, und nichts ist im gewohnlichen Leben dazu angetan, es hervorzurufen. Organisch, wenn man so sagen kann: quantitativ, ist fiir ihn dieses zweite Erwachen nicht notwendig, und die gesamte ubliche Tatigkeit kann ohne es ausgefiihrt werden. Der Mensch bendtigt es fiir sich selbst nur in qualitativer Hinsicht; und nur besondere Einfliisse ausserhalb von ihm kdnnen ihn dies erkennen lassen. Denn dieses zweite Erwachen (alte Texte sprechen von der «zweiten Geburt») betrifft ausschliesslich sein eigenes Leben, das Leben seines «inneren Wesens» und seine Teilnahme an einer anderen Welt als der alltagli­ chen. Wenn es im Menschen selber weder die «innere Forderung» nach einer anderen Lebensqualitat noch ein hinreichend intensives «Seinsverlangen» gibt (und dieser Mangel kann auf das Wesen zuriickzufiihren sein oder auf die Geburtsumstande oder auf die Erziehung), dann besteht keine Aussicht, dass er fiir jene Einfliisse empfanglich ist, die ihm helfen kdnnten, aus dem Schlaf des Ichs zu erwachen, oder dass er jemals die erforderlichen Anstrengungen auf sich nimmt. Sind jedoch diese besonderen Einflusse nicht vorhanden, so besteht auch keine Chance, dass er aus dem Schlaf erwacht. Selbst fiir Menschen, die dieses «Seinsverlangen», diese «innere Forderung» in sich bewahrt haben (es sind ziemlich viele, zumindest wahrend der ersten Lebenshalfte) und die diesen besonderen Ein­ fliissen begegnen (es sind bereits viel weniger), sind die Hindernisse, die sich dem zweiten, dem wahren Erwachen entgegenstellen, so erheblich, dass die grosse Mehrheit von ihnen es nicht erreicht. Der wichtigste Umstand, von dem direkt oder indirekt alle Schwierigkeiten herriihren, ist der, dass der Mensch, so wie er gewbhnlich ist, seinen wahren Zustand praktisch nicht zu sehen vermag. Auch wenn er dieses «Seinsverlangen» und diese «innere Forderung» nach einem Leben von anderer Qualitat als der des Alltagslebens bis zu einem gewissen Grade besitzt, hat er sehr

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geringe Moglichkeiten, die giinstigen Augenblicke, die Schocks zu erkennen, in denen er wahrend eines Aufleuchtens der Wahrheit vorubergehend in einen besseren Daseinszustand gelangt; und er hat genauso wenig Moglichkeiten, unter den verschiedenen Einfliissen, die ihn umgeben und seine Aufmerksamkeit fesseln, diejenigen wahrzunehmen, die jener inneren Forderung wirklich entsprechen. Zu erkennen, was ihm in dieser Richtung helfen konnte, wiirde eine besondere innere Haltung der Ehrlichkeit erfordern, frei von erlernten Konventionen und Regeln, welche Haltung ihn in aller «Objektivitat» und gemass seinem eigenen Gewissen sehen liesse, was er ist und was die Welt rings um ihn ist. Eine ehrliche Sicht der Dinge, so wie sie sind, ware tatsachlich die beste Chance. Aber das vermag der Mensch nicht. Alle Vorstellungen, die er sich gemacht hat, seine gesamte Erziehung, alle Konditionierungen stehen dem entgegen. Da er iiberdies vom Leben fortgerissen wird und von den unaufhorlichen Anforderungen, denen zu geniigen es ihn zwingt, weigert er sich zu sehen, dass er mechanisch ist und im Schlaf befangen; ihm bleibt keine Zeit, der inneren Forderung oder dem Seinsverlangen Raum zu geben. Was von dem jedermann zugedachten «objektiven Gewissen», d.h. seinem eigenen inneren Gewissen, dem wesenhaften Gewissen, das ihm eine ihm gemasse Orientierung erlauben sollte, was ihm davon zuganglich bleibt, liegt unter all den erlernten fremden Begriffen verschiittet; und in der Welt um ihn herum erkennt er nicht mehr, was ihm wirklich helfen konnte.

Den Menschen sperrt ein bedeutsames Hindernis in diese Situation ein: namlich die fest in ihm verwurzelte Uberzeugung, er besitze, so wie er ist, tatsachlich echte Individualitat mit den damit verbundenen Grundeigenschaften (wie standiges Dasein und Freiheit oder die freie Wahl) und den daraus sich ergebenden Fahigkeiten: dem Selbstbewusstseinszustand, dem Aufmerksamkeitsvermdgen sowie der Moglichkeit zu wollen und zu tun. Der Mensch fiihlt sich im grossen und ganzen so, wie er ist, wohl; er meint, seine Unzulanglichkeiten und sein etwaiges Unbehagen kamen nur von ausserlichen Unvollkommenheiten, und die dabei vorzunehmenden Veranderungen betrafen nur Gleichgewichtskorrekturen, das Beseitigen einiger Mangel oder die Verstarkung bestimmter Qualitaten.

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Auch wenn man ihm versichert, von alledem besitze er nichts, warum solite er es glauben? Und warum sollte er, unter diesen Umstanden, die harte Arbeit an sich selbst auf sich nehmen, die man ihm als notwendig hinstellt, damit er einen Zustand erreiche, den er schon zu besitzen wahnt? Welche Griinde hatte er, den Schriften oder Stimmen Glauben zu schenken, die ihm sagen, die Sache verhalte sich nicht so; und weshalb sollte er seine Lage iiberprufen, auf die Gefahr hin, sie zu beeintrachtigen, solange es auf diese Weise gut geht? Wenn ein Mensch nicht begabt ist mit einem besonders feinfiihligen Gewissen, mit einer inneren Forderung, die keine Kompromisse kennt, und einem Verlangen, er selbst zu sein, das sich durch nichts ersticken lasst, dann hat er, solange ihn das Leben noch nicht so geschlagen und enttauscht hat, dass er dessen Wert und Sinn in Frage stellt, keinerlei Grund, eine Erforschung dieser Art in Angriff zu nehmen. Durch den tief eingewurzelten Glauben an eine triigerische Persdnlichkeit und durch die anomalen Bedingungen, die dieser Glaube entstehen lasst, ist der Mensch gezwungen, in immer tieferer Vergessenheit gegen sein Inneres und sein wahres Ich zu leben. Die Anzeichen fiir das Unvermdgen, seiner selbst eingedenk zu bleiben, fiir das Unvermdgen, sich des Wertvollsten in ihm zu erinnern, offenbaren sich zwar auf tausenderlei Arten; aber der Mensch «sieht» sie nicht und «hdrt» sie nicht. Dennoch ist sein Leben mit bedeutungsvollen Vorfallen und Widerspriichen durchsetzt: er erinnert sich nicht an seine Entscheidungen, er erinnert sich nicht an das Wort, das er sich selbst gab, und haufig auch nicht an das, das er anderen gab; er entsinnt sich nicht dessen, was er vor einigen Stunden oder vor einigen Tagen gesagt oder empfunden hat; er beginnt eine Arbeit, und bald langweilt sie ihn: warum er sie iibernahm, weiss er nicht mehr. Sein Interesse verandert und verlagert sich fortwahrend; ihm entfallt, wie er gedacht, wie er gesprochen hatte. Und diese Erscheinungen ereignen sich mit besonderer Haufigkeit bei allem, was ihn selbst angeht und mit dem Versuch einer Arbeit an sich selbst in Zusammenhang steht. Diese «Selbstvergessenheit», dieses Unver­ mdgen, dessen, was er selbst wirklich ist, eingedenk zu bleiben, ist in der Tat sein charakteristischster Zug und wahrscheinlich die wahre Ursache seines gesamten Verhaltens. Da seine Theorien, Meinungen und Verhaltensweisen keine stabile Grundlage in ihm haben, wan138

deln sie sich fortgesetzt und ermangeln so jeder Festigkeit und Prazision. Er erlangt nur tine kiinstliche Festigkeit mit Hilfe ihm anerzogener Assoziationen, fester Gewohnheiten und begrifflicher Konditionierungen, die - wie etwa «Ehre», «Anstand», «Pflicht», «Gesetz» - kiinstlich von der Umwelt geschaffen werden, jedoch, ausser durch Zufall, nichts mit dem zu tun haben, was sein wahrer Anstand und seine wahre Ehre sein konnten, ware er sich seiner selbst bewusst. Diese standige Selbstvergessenheit und das sich daraus ergebende Fehlen jedes authentischen Festpunkts in ihm erklart das allgemeine Verhalten des Menschen gegen sich selbst und gegen seine Umgebung: sie erklart, warum er wissentlich oder unwissent­ lich von allem, was ihn umgibt, eingenommen ist, das heisst sein dauerndes «Sichidentifizieren» mit dem, was ihn anzieht, und seine unaufhdrliche Einbildung, der er sich bei jeder Gelegenheit hingibt. So bringt die Selbstvergessenheit unmittelbar Identifizierung und Einbildung mit sich, zwei andere charakteristische Ziige des Men­ schen, so wie er ist.

Infolge der Identifizierung vergisst der Mensch sich selbst und verliert sich in all den grossen oder kleinen Problemen, die er auf seinem Wege findet. Sein Interesse, seine Aufmerksamkeit wird nacheinander von jedem dieser Probleme eingenommen, und er vergisst dariiber vdllig die eigentlichen Ziele, die er sich gesetzt hatte. Sobaid irgend etwas vorbeizieht und sein Interesse gewinnt, «identifiziert» er sich damit, setzt eine Zeitlang fiir diese Sache alle Hebei in Bewegung - und ware es auch nur fiir die Dauer eines Augenblicks -, bis etwas anderes daherkommt, seine Aufmerksamkeit fesselt und sein Interesse verandert: nun befasst er sich mit diesem anderen, und das vorhergehende wird auf Eis gelegt oder fallt dem Vergessen anheim. Schliesslich befindet sich der Mensch standig im Zustand des Sichidentifizierens mit der einen oder anderen Sache: dabei andern sich nur die aufeinanderfolgenden Gegenstande dieser Identifizie­ rung. Der Grad der Identifizierung, d. h. ihre Wandelbarkeit oder im Gegenteil die Starke ihrer Fixierung, hangt direkt ab von der Art der Aufmerksamkeit - man konnte auch sagen von dem Grad des Interesses, das die Ereignisse erregen. Bald ist es eine zerstreute, unbestandige Aufmerksamkeit, deren Identifikationsgegenstande

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unentwegt wechseln (dies nennt man iiblicherweise «iiber Spontaneitat verfugen»); bald ist es eine gefesselte, fixierte Aufmerksamkeit, die das gesamte Interesse sowie alle Krafte des Menschen so konzentriert, dass er nur noch diesen speziellen Punkt sieht, alles iibrige aus den Augen verliert und ihm gleichgiiltig gegeniibersteht (dies heisst gewohnlich: «Konzentrations»vermdgen besitzen). Das Ergebnis ist auf alle Faile das gleiche: der Mensch ist vdllig eingenommen von ausseren Vorkommnissen, er verliert das Ganze aus den Augen, und insbesondere verliert er in diesem Ganzen sich selbst aus den Augen. Seine Aufmerksamkeit ist eine einbahnige Aufmerksamkeit, ganz nach aussen gerichtet, wohingegen er, um im Lebensvollzug sich selbst nicht zu vergessen, einer zwiegerichteten, in sich gegenlaufigen Aufmerksamkeit bediirfte, die zugleich auf ihn selbst und nach aussen gerichtet ist, einer Aufmerksamkeit anderer Art, die er nicht kennt, nicht entwickelt hat und zu der er iiblicherweise nicht imstande ist. Auch wenn er diese Aufmerksamkeit zu entdecken beginnt, wird sie sogleich wieder vdllig von den ausseren Beanspruchungen gefangengenommen, und er verfallt erneut der Identifizierung. Daher ist in den subtilsten und gefahrlichsten Formen diese Identifizierung iiberall und jederzeit in uns. Und die Schwierigkeit, sich von ihr zu befreien,wird noch dadurch vergrdssert, dass im gewohnlichen Leben Identifizierung als vortreffliche Eigenschaft gilt: Spontaneitat, Eifer, Begeisterung, Ideal, Eingebung, Konzentration, sogar Leidenschaft sind anerkannte gesellschaftliche Werte, und man ist in eigentlich alien Bereichen der Meinung, dass sich ohne solche «Eigenschaften» keine gute Arbeit verrichten lasst. In der Tat kann der Mensch in solchen Fallen oft eine gute, «ertragreiche», automatische Arbeit ausfiihren; doch vermag er nichts zu verrichten, was ihm und «seinem» Leben wirklich gemass ist. Er ist womdglich ein guter sozialer Roboter, aber kein Mensch, er ist keine menschliche «Individualitat». Die Identifizierung ist fiir den Menschen, der er selbst zu sein versucht, wirklich einer der schlimmsten Feinde. Sogar in dem Augenblick, da er glaubt, er kampfe gegen sie, fallt er noch auf sie herein. Je mehr er sich fur die Dinge interessiert und vor allem fiir die Arbeit an sich selbst, je mehr er ihnen Zeit, Interesse und Aufmerk­ samkeit entgegenbringt, um so grosser ist die Gefahr, dass er sich mit ihnen identifiziert; darum muss der Mensch, der sich davon befreien 140

mochte, standig auf der Hut sein. Wer sich bemiihen will, er selbstzu sein, muss sich zunachst seiner selbst erinnern und aufhoren, sich zu identifizieren. Solange er sich identifiziert oder zur Identifizierung in der Lage ist, bleibt er der Sklave dessen, was ihn umgibt, und ihm kann alles oder fast alles zustossen.

Die machtvollste, unmittelbarste und zudem am wenigsten sichtbare Identifizierung des Menschen ist die Identifizierung mit dem Bild, das er sich von sich selbst, von seinen Rollen und seinen verschiede­ nen Ichs gemacht hat. Da der Mensch gewohnlich von sich selbst abgeschnitten ist, ersetzt bei ihm ein im Laufe seiner «Ausbildung» entstandenes umfangliches Phantasiegebilde das Bewusstsein seiner selbst und tritt an dessen Stelle. Dieses Phantasiegebilde, das er von sich hat, macht zusammen mit der Identifizierung und der Selbstvergessenheit das Dreigespann der Verirrungen aus, in denen er lebt, sowie das Dreigespann der Haupthindernisse, auf die der nach Befreiung Strebende stdsst. Damit ein wirkungsvolles Handeln den Menschen zum Erwa­ chen fuhren kann, muss man die Natur der Krafte kennen, die ihn an den Schlaf fesseln. Vor allem gilt es zu verstehen, dass der Schlaf, in dem der Mensch existiert, kein normaler Schlaf ist, sondern ein hypnotischer. Der Mensch ist gleichsam in Hypnose versetzt, und dieser hypnotische Zustand wird in ihm sein ganzes Leben hindurch immerfort aufrechterhalten und verstarkt. Es ist so, als gabe es eine Gruppe von «Kraften», fiir die es von Nutzen und Vorteil ist, den Menschen in einem hypnotischen Zustand zu halten, um so zu verhindern, dass er die Wahrheit sieht und sich seiner Lage bewusst wird. Es sind dies die Krafte des «Lebens auf der Erde», die den Menschen brauchen, damit er es »ernahrt», fiir es aufkommt und ihm gegeniiber nicht gleichgiiltig wird, wozu er sich veranlasst sahe, wenn er sich dessen, was er in Wirklichkeit ist, gewahr wiirde. «Es gibt eine ostliche Erzahlung», so berichtet Gurdjieff, «die von einem sehr reichen Magier handelt, der sehr viele Schafe hatte. Nun war dieser Magier sehr geizig. Er wollte keinen Schafer einstellen, noch wollte er die Weide, auf der seine Schafe grasten, mit einem Zaun umgeben. Infolgedessen liefen die Schafe oft in den Wald, fielen in Abgriinde, und vor allem liefen sie fort, weil sie wussten, 141

dass der Magier ihr Fleisch und ihr Fell wollte, und ihnen dies nicht lieb war. Schliesslich fand der Magier ein Mittel dagegen. Er hypnotisierte seine Schafe und suggerierte ihnen zuallererst, sie seien unsterblich, und es geschehe ihnen kein Leid dadurch, dass ihnen die Haut abgezogen wiirde, sondern es sei im Gegenteil sehr gut und sogar angenehm fiir sie. Zweitens suggerierte er ihnen, dass er, der Magier, ein guter Herr sei, der seine Herde so liebe, dass er bereit sei, alles in der Welt fiir sie zu tun; und drittens suggerierte er ihnen, dass, wenn ihnen irgend etwas geschehen sollte, es nicht gerade jetzt geschehen werde, jedenfalls nicht am gleichen Tag, und dass sie darum keinen Grund hatten, dariiber nachzudenken. Ferner sugge­ rierte der Magier seinen Schafen, dass sie iiberhaupt keine Schafe seien, einigen von ihnen suggerierte er, sie waren Lowen, anderen, sie waren Adler, wieder anderen, sie waren Menschen, und wieder anderen, sie waren Magier. Und danach hatten alle seine Sorgen um die Schafe ein Ende. Sie liefen nie wieder weg, sondern warteten ruhig auf den Tag, an dem der Magier ihr Fleisch und ihre Felle bendtigen wiirde.»‘ Dieses Marchen veranschaulicht eindringlich die Lage des Men­ schen. Die Lebenskraft, die ihn das ganze Leben hindurch beseelt, gibt durch eine hypnotische Sicht, die das Aussehen der Dinge verfalscht, dem Einbildungsvermdgen Nahrung, statt durch richtige Sicht das Verstandnisvermogen zu nahren. Der Mensch sieht statt der Wirklichkeit, in der er an einem ihm zukommenden Ort Teil eines Ganzen ist, sich selbst als unabhangiges Wesen, das gemass dem Lauf der eigenen Phantasie iiber dieses Ganze herrscht; und diese seine Phantasie masst sich den Platz des wahren Bewusstseins an. Die Macht der Einbildung und der Phantasie war in der Menschheit vielleicht unentbehrlich und ist es zum Teil noch immer, weil die «Natur» die «Arbeit» des Menschen (seine Fahigkeit zur Energieumwandlung) in der gegenwartigen Form braucht. Wahrscheinlich steht diese Kraft in irgendeiner Beziehung zur Geschlechtsenergie und dem «Magnetismus», der sich daraus entwickelt; auf jeden Fall fiihrt sie dazu, dass das Menschenleben, so wie es ist, erhalten wird. Sooft Traume die Stelle der Wirklichkeit einnehmen, wann immer der Mensch sich fiir einen Lowen, einen Adler oder einen Magier halt, ist 1 P. D. Ouspensky, Auf der Suche nach dem Wunderbaren, S. 320-321

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die Einbildungskraft am Werk. In einigen Lehren nennt man sie Kundalini. Kundalini ist in ihrer urspriinglichen Bedeutung die uranfangliche kosmische Lebenskraft, vielleicht eine Entsprechung zur «Libido» gewisser psychoanalytischer Schulen; doch ist diese urspriingliche Bedeutung haufig verlorengegangen, und in vielen Schulen bezeichnet Kundalini nicht etwa die Bewusstseinskraft, sondern, auch wenn man es anders darstellt, nur noch das Einbildungsvermogen. Diese gefahrliche Kraft kann in alien Zentren wirken: jedes hat eine besondere Form derselben, und mit ihrer Hilfe vermdgen alle Zentren, statt im Wirklichen, im Eingebildeten Befriedigung zu finden. Unter ihrem Einfluss haben die Menschen kein Gefiihl mehr fiir das eigene Sein und kdnnen sich bald - wie bei einer «Droge» - nicht mehr von ihr frei machen: sie glauben, sie ware fiir ihre Entwicklung niitzlich, ja sogar notwendig, wohingegen sie in Wirklichkeit diese Entwicklung unterbindet. Kdnnten die Menschen ihre Lage wahrhaft sehen und sich dessen, was sie ist, bewusst werden, so ware ihnen diese Einsicht vollig unertraglich; sie wurden sofort nach einem Ausweg suchen und ihn auch finden, denn es gibt einen Ausweg. Aber die Kraft und Verlockung der Einbildung, die sie in diesem Hypnosezustand halt, hindert die Menschen daran, das zu sehen, was Gurdjieff den «Schrecken ihrer Situation» nennt. Sie verhindert zugleich, dass sie den Ausweg gewahren und so auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht des Lebens zu stdren, massenweise «entfliehen». So bedeutet fiir einen Menschen Erwachen zunachst: enthypnotisiert werden, der Einbildungskraft entrinnen und die Dinge - sowie sich selbst - von neuem so sehen, wie sie sind. Hierin liegt die Hauptschwierigkeit; aber auch die Gewissheit, dass solches Erwa­ chen moglich ist, denn dieser Hypnosezustand geht aus einer kunstlichen, nachtraglichen Verirrung hervor: Fiir einen derartigen hypnotischen Schlaf gibt es keine organische Rechtfertigung, und ein Mensch kann erwachen, ohne sich den Notwendigkeiten bei der Erhaltung des organisch-planetarischen Lebens zu entziehen, welchem er mit einer seiner Seiten angehdrt. Theoretisch vermag er wohl zu erwachen, aber praktisch ist es fast unmoglich, denn sobaid ein Mensch die Augen offnet und erwacht, wirken all die Krafte, die ihn im Schlaf halten, mit verzehnfachter Energie erneut auf ihn ein: er sinkt sofort wieder in Schlaf, wobei er sehr haufig traumt, er ware wach, oder er erwache.

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Beim gewdhnlichen Schlaf verfiigt ein Mensch, der Schwierigkeiten mit dem Aufwachen hat - das kommt vor -, hinsichtlich des Erwachens iiber genaue Tests: er kommt in einen anderen Zustand und kann sich kneifen, um sicher zu sein, dass er nicht mehr schlaft. Beim hypnotischen Schlaf ist das anders: es gibt kein objektives Zeichen, wenigstens nicht, wenn ein Mensch zu erwachen beginnt (spater gibt es solche Zeichen; wer sie jedoch im Anfang kennen wollte, der wiirde sie sogleich in Einbildung und Traumerei verwandeln). Ihn muss jemand anders, ein bereits erwachter Mensch, so lange aus diesem Schlaf reissen, wie er diese Fahigkeit nicht von sich aus erlangt hat.

Die Einbildungskraft, die den Menschen daran hindert, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, mischt sich, wie die Beobachtung zeigt, jederzeit, allenthalben und auf vielschichtige Weise ein: das Leben des Menschen und besonders des «modernen» Menschen ist von ihr erfullt. Um sie versuchsweise zu verstehen, kann man es sich so vorstellen, dass sie sich auf zwei Ebenen auswirkt und zur gleichen Zeit zwei unterschiedliche Filme herstellt. Der erste Film ist deutender Natur; er entsteht, wenn der Mensch, auf die Aussenwelt achtend, versucht, sich auf ihre Anforderungen und Schwankungen einzustellen: er konstruiert sich dabei aus den zwangslaufig relativen Wahrnehmungen, die er von ihr hat, und aus den im grossen und ganzen passenden Antworten, die er gibt, einen deutenden Film, der der wirklichen Welt mehr oder weniger nachgebildet ist; besser gesagt: der dieser wirklichen Welt mehr oder minder fernsteht. Der zweite Film ist einbildungshafter Natur; er bildet sich, wenn der Mensch auf seine innere, psychische Welt achtet: der Filmbesteht vollig aus Stoffen dieser psychischen Welt, die selber aus Elementen der Wirklichkeit empfangen und aufgezeichnet wurden, freilich in ihr recht fernstehenden Formen: der Film steht daher in keiner direkten Beziehung zur ausseren Wirklichkeit und erfahrt somit auch nicht spontan, durch einen Vergleich mit ihr, irgendeine Kontrolle; er kann von der Wirklichkeit vbllig abgetrennt sein und nach eigenem Gutdiinken umherschweifen. Diese beiden Filme, der deutende und der einbildungshafte, werden durch die psychische Tatigkeit des Menschen fortwahrend zu 144

den realen Wahrnehmungen hinzugefiigt: die Filme, die unaufhorlich durch das Einwirken der Wahrnehmungen auf das schon vorhandene Material entstehen, werden gemeinsam in den verschiedenen Walzen aufgezeichnet. Tatsachlich sind im Menschen, ohne dass er es weiss, einfache Wahrnehmung, Deutung und Einbildung immer gleichzeitig vorhanden; er lebt mit diesen drei Sehweisen, und in keiner der drei geschieht irgend etwas, was nicht in den beiden anderen einen Widerhall hervorriefe. Das Wichtigste allerdings ist die Bedeutung und der Zweck dieser Filme. Wenn der Mensch ein vollendetes Wesen ware und sich so kennte, wie er ist, und fahig ware, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und ihr, hinsichtlich seiner selbst, voll und harmonisch zu antworten, dann verliefe sein Leben in der Zufriedenheit mit der voll iibernommenen Aufgabe und reibungslos. Er hatte eine bestandige Sicht der Dinge, so wie sie sind, ein bestandiges Wissen um die Relativitat von allem; und diese Filme besassen keine Existenzberechtigung. Weil jedoch der Mensch ein unvollstandig entwickeltes Wesen ist, das in der Unfahigkeit, sich den Wirklichkeiten des Lebens zu stellen, auf diese nur teilweise oder chaotisch antwortet, so wurde er im Zwiespalt leben, in der Sorge und mit dem Schuldgefuhl, nicht das zu sein, was er sein sollte, wenn seine Einbildungskraft nicht fortgesetzt diesen doppelten Film dazwischenschdbe. Dank dieser Filme rechtfertigt der Mensch sein Sosein vor sich selber, er hdrt auf, alle seine Unzulanglichkeiten wahrzunehmen, oder findet sie zumindest «normal» und leidet nicht langer an ihnen. Andererseits aber hat der Mensch, der sich auf dieses Spiel der Einbildung einlasst, keine Aussicht mehr, von selbst daraus zu entkommen. Die Aufmerksamkeit, iiber die er von Natur aus verfiigt, ist schwach: gemeinhin vermag er mit ihr jeweils nur eine einzige Sache im Blickfeld zu halten: bald wird die Aufmerksamkeit von Wahrnehmungen der Wirklichkeit angezogen, bald vom Deutungsablauf, bald von dem Einbildungsgebilde; unentwegt wechselt sie von dem einen zum anderen, so dass sich im Menschen entweder das eine oder das andere findet, zumeist ohne dass er den Ubergang bemerkte. Er weiss nie ganz genau, in welchem der drei Bereiche er sich aufhalt: und dies bringt ihn vollends um jede Chance, mit sich ins klare zu kommen und seine Lage zu verstehen. Das Durcheinander zwischen diesen drei Bereichen - der realen Wahrnehmung, dem Gedeuteten und dem Einbildungshaften - ist im 145

Menschen, wie er gewdhnlich ist, so gross, dass er nicht einmal mehr ein Gefiihl hat fiir ihre Bezogenheit. Vor allem verwechselt, vertauscht oder identifiziert er das Wirkliche fortwahrend mit dem Gedeuteten und bedient sich unterschiedslos des einen oder des anderen, je nach dem, was ihm am zweckmassigsten erscheint. Andererseits sondert er das Einbildungshafte fast immer von den beiden anderen ab oder stellt es ihnen sogar gegeniiber, ohne zu bemerken, dass es (ganz wie der Traum) auf Elementen beruht, die mehr oder weniger indirekt, mehr oder minder unbewusst von den beiden anderen bereitgestellt wurden. Das Einbildungshafte ist sogar einer der Wege, auf denen der gespeicherte und haufig vergessene Inhalt der zwei anderen Bereiche zutage treten kann. Uberdies ist der innere Aufbau der Menschen «wesensmassig» nicht bei alien der gleiche, und nicht alle Menschen neigen in der gleichen Weise dazu, in sich nur die reale Wahrnehmung zu bevorzugen oder - im Ausgang von der realen Wahrnehmung und spater unabhangig davon - den Ablauf des einen oder des anderen Films. Dies beriihrt den gesamten psychosomatischen Bereich und die besondere Beziehung, die in jedem Menschen zwischen diesen beiden Aspekten besteht: der Mensch kann von Natur aus stets den einen oder den anderen - den psychischen oder den somatischen begiinstigen und vorzugsweise so oder so reagieren auf jeden Eindruck, gleich welcher Herkunft, auf jede Forderung oder Belastung durch das aussere wie das innere Leben; da aber diese Filme gemeinsam aus einer realen Wahrnehmung entstanden sind, kann bei ihnen nichts vollkommen unabhangig sein. Dies beriihrt zudem die vier Hauptverhaltensweisen des Menschen (man konnte auch sagen: die vier automatischen Arbeitsweisen seiner Maschine), die in enger Beziehung stehen zu seinem Grundtypus und zu dem Ubergewicht der organischen oder der gefiihlsmassigen oder der intellektuellen Stufe in ihm beziehungsweise zu dem Gleichgewicht, das die Stufen vereint und vielleicht iibersteigt: je nachdem ein Mensch sich veranlasst sieht, die reale Wahrnehmung, den deutenden Film oder den einbildftngshaften in sich zu begiinstigen, befindet sich sein Leben in einem anderen Gleichgewicht; und falls er das eine oder das andere in extremer Weise bevorzugt, gerat er in die «Welt» des Positivismus, in die der Neurose oder die der Psychose. Auf die Spitze getrieben, entwickelt sich die Psychose (- der einbildungshafte Film ist dabei auf ein mehr oder weniger enges Thema fixiert und von jeder

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Verbindung zur Wirklichkeit abgeschnitten -) zur Zwangsvorstellung, zum Wahn oder zum Irrsinn. Jedenfalls ist auf irgendeine dieser drei Arten und in eben dem Masse, wie sie Ausschliesslichkeit erlangt, der Mensch das Opfer seiner Einbildung. Die einzige Art, in der die Einbildung nicht allmachtig ist, sondern einigermassen in Schach gehalten wird, ist die vierte, die ausgeglichene: fiir eine «Arbeit an sich selbst» stellt sie die beste Grundlage dar; freilich ist sie seiten, und die Umstande der heutigen Erziehung erlauben ihre Bildung nur in Ausnahmefallen.

Der Mensch kann von Natur aus, und zwar weil er lebt, nicht umhin, reale Wahrnehmungen, Deutungen und «einbildungshafte» Gebilde zu haben; vielleicht sind sogar die Moglichkeiten, die eine solche Versammlung mit sich bringt, einer seiner tiefsten Daseinsgriinde. Doch durch seine anomale Erziehung und seine anomalen Lebensumstande ist die Weise, wie diese verschiedenen Elemente in ihm entstehen, vollkommen verfalscht und unausgeglichen: sie beruhen beinahe vollstandig auf «subjektiven» Gegebenheiten und haben jede wirkliche Objektivitat verloren. Die Vorzugsstellung, die nach Ansicht der modernen Erziehung und der gesamten modernen Gesellschaft dem deutenden oder dem einbildungshaften Film zukommt, und die bevorzugte Reaktionsweise, die jeder Mensch seinem psychischen oder seinem somatischen Aspekt gewdhnlich zugesteht, beherrschen seine iiblichen Verhaltensweisen und gehd­ ren zum natiirlichen, automatischen Funktionieren nahezu aller menschlichen Maschinen. All diese Funktionsweisen sind gleichwohl unniitz und im allgemeinen schadlich. Sie sind nur eine unter dem Einfluss der Einbildung entwickelte kiinstliche Uberlagerung. Das einzige, was fiir den Menschen von Nutzen ist, ist die genaue Wahrnehmung der Eindriicke und die rechte «Sicht» der Dinge, so wie sie sind. Die normale Selbstbestatigung, zu der diese beiden Fahigkeiten fiihren, kann nicht eine der Wirklichkeit mehr oder minder fernstehende einbildungshafte Reaktion eines eingebildeten und wechselhaften Ichs sein; sie muss die wahre «Antwort» eines authentischen Daseins sein, eine Antwort gemass den Gege­ benheiten der Wirklichkeit und gemass den Gesetzen, die deren Entwicklung lenken. Diese «Antwort» erfordert auch keine «Einbildung», keinesfalls jene triigerische Einbildung, in die sich die Men147

schen gewohnlich verirren, sondern erfordert - auf der Grundlage einer genauen Deutung der Wahrnehmung und einer dem wahren Wissen gemassen Vorausdeutung - eine objektive Bildsetzung. In der heutigen Welt hdrt man allenthalben das Lob des Reichtums und der Vorziige der imaginaren Welt oder der «schopferischen Einbildung»; und das Einbildungsvermogen gilt als ein grosser Wert unserer Zeit. Diese Wertschatzung hat ihre Ursache einerseits in dem Umstand, dass in der Einbildung der Mensch sich selber - und die Menschen einander - jene Befriedigung gewahren, deren sie bediirfen, wohingegen ihnen das Leben - das anomale Leben - diese Befriedigung weitgehend vorenthalt: sich sein Leben einzubilden, ist leichter, als es zu andern. Die Wertschatzung entspringt andererseits der Ahnung, dass ein Mensch, wiirdig dieses Namens und mit Wissen begabt, sein Leben in der Tat vorausbedenken und organisieren sollte; und der Durchschnittsmensch, der hierzu ausserstande ist, nimmt sogleich diese Eigenschaft wie auch viele andere eingebildetermassen fiir sich in Anspruch. In Wirklichkeit ist Einbildung in alien ihren Gestalten einer der schlimmsten Feinde des Menschen, ein Haupthindernis zu seinem Erwachen und seiner Weiterentwicklung. Ein Mensch kann nichts unternehmen, solange er sich nicht anschickt, die Dinge einfach so zu sehen, wie sie sind: danach kann er Wissen erlangen, und erst dann ist er zu echter «Einbildung» imstande, d.h. zu jener den Gesetzen gemassen «Vorausdeutung», die in der Tat eine der wichtigsten Fahigkeiten eines Menschen ist, der diesen Namen verdient.

Diese drei grundlegenden Gegebenheiten: das Vergessen des wirklichen Ichs durch den Menschen, die automatische Entwicklung einbildungshafter Gebilde, die an die Stelle des Ichs treten, sowie das standige Sichidentifizieren des Menschen mit allem, was ihm widerfahrt, erklaren zum grossen Teil seine gewbhnliche Lebensweise. Anstelle des wirklichen Ichs, das abwesend ist (es schlaft), entfaltet sich eine Oberflachenpersbnlichkeit mit vielfaltigen, untereinander mehr oder weniger verbundenen, haufig einander widersprechenden oder in gegensatzliche Richtungen blickenden Facetten: den verschiedenen kleinen «Ichs», deren jedes dem Menschen die Moglichkeit bietet, nach erlernten Regeln eine typische Lebenssituationzu meistern,undan deren jedeser einen Moment langglaubt. 148

Dieses durch das Spiel des Lebens, durch Erziehung, Nachahmung, den Erwerb von Gewohnheiten und «Puffern» (auf die wir zuriickkommen werden) kiinstlich angelegte Ganze schreibt sich eine Vielzahl von Eigenschaften zu, die nur Schein sind und nichts Wirklichem entsprechen: Einheit, Bestandigkeit und verschiedene Vermogen wie etwa diese: zu wissen, vorauszusehen, zu wahlen, zu entscheiden, zu organisieren und zu tun. In Wirklichkeit sind fiir solche Menschen all diese Vermogen nur illusorisch. Was dem Menschen Einheit oder Vollstandigkeit vortauscht, ist zum einen die Empfindung seines physischen Leibes, einer anscheinend bestandigen Form; zum anderen sein Name, unter dem man ihn «kennt» und der ungeachtet der Aufeinanderfolge verschiedener Rollen sich im allgemeinen nicht andert; zudem eine gewisse Anzahl durch Erziehung in ihm verwurzelter oder durch Nachahmung erworbener Mechanismen und Gewohnheiten, und schliesslich das System der «Puffer», die in ihm jeden Widerspruch neutralisieren. Da der Mensch immer die gleichen Kdrperempfindungen hat, allemal mit demselben Namen angeredet wird, in sich Gewohnhei­ ten und Neigungen wiederfindet, die er seit eh und je kennt, da er von den Widerspriichen, die er in sich tragt, nichts verspiirt und nie irgend etwas in Frage stellt, bildet er sich ein, er bliebe der gleiche. In Wirklichkeit gibt es in ihm, von der ausseren Erscheinung abgesehen, nichts Dauerhaftes, alles andert sich unaufhdrlich; es gibt weder eine alleinige Schaltzentrale noch ein dauerhaftes Ich, und die Rolle, die den Menschen im Leben vertritt, ist nur ein kiinstliches Gebilde.

Doch das ist nicht alles: samtliche personliche Deutungen und all die Illusionen, welche die Rolle oder die Rollen ausmachen, in denenein Mensch im Leben erscheint, werden sowohl in ihren ausseren Bekundungen wie auch in ihren inneren eifersiichtig verteidigt durch das Gefiihl einer notwendigen Integritat des so entstandenen Bildes, dessen geringste Beeintrachtigung als Bedrangnis oder Amputation empfunden wird. Dieses Gefiihl, das den gesamten Bereich vollends kiinstlich zementiert, ist die Eigenliebe. Der Mensch ist schwach; er ist schwach wie ein Kind, und in seinem Inneren, in seinem Wesen ist er in der Tat nur ein Kind; in

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Augenblicken der Aufrichtigkeit weiss er das; und die Ereignisse des Lebens sorgen dafur, dass er es fuhlt. Doch statt es anzuerkennen, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen (- allerdings weiss er nicht welche, und er ist faul -) und statt um Hilfe zu bitten, deren er bedarf ( - nur weiss er nicht, wo und wie er darum bitten soil, auch hat er nicht mehr die notige Einfachheit -), verteidigt der Mensch alien Widerstanden zum Trotz lieber jenes Bild, das er von sich hat, und seine «Idealvorstellung» von dem, «was er sein sollte». Sooft dieses Bild, an das er glaubt, bedroht ist, fuhlt er sich bedroht, als ware er selber das Bild: er reagiert sofort, um es zu verteidigen, genau wie ein Kind seine Puppe verteidigt. Dieses unsinnige Verhaftetsein einem doch grdsstenteils triigerischen Bild, dessentwegen alle seine Reaktionen entstehen, ist der eigentliche Grund seiner.Eigenliebe und eines der grdssten Hindernisse, die der Schau dessen, was er wirklich ist, sowie dem Erwachen seines hdheres Ichs (d. h. dem Wachstum seines Wesens) entgegenstehen.

Eigenliebe und die Verteidigung des Bildes, das er von sich hat, liegen auch den gewohnlichen Beziehungen des Menschen zu seinesgleichen zugrunde. In diesen Beziehungen waltet im allgemeinen etwas, was man «inneres Sichrichten» nennen kann: der Mensch sorgt sich dabei vor allem um das, was man von ihm denkt, und um das, was er zu tun hat, damit er gemass dem Bild, das er von sich geben will, anerkannt und geschatzt wird. Da dieses Bild zumeist «idealistisch» ist und etwas iiberbewertet, glaubt er standig, man schatze ihn nicht hinreichend, gestehe ihm nicht den ihm zukommenden Platz zu, sei zu ihm nicht hoflich genug, beurteilte ihn nicht nach seinem wahren Wert. Wie man ihn angeschaut hat, was man von ihm halt, gewinnt in seinen Augen enorme Bedeutung. All dies beunruhigt ihn, erfiillt ihn mit Sorge; seine Zeit und Energie vergeudet er mit Mutmassungen und Annahmen; sofern er sich auch nur im geringsten verkannt fiihlt, wird er argwohnisch, misstrauisch, ja sogar feindlich gegen die anderen, und so entwickelt er eine negative Haltung, die seine Lage nur noch verschlimmert. Doch die Sache kann noch weiter gehen: der Mensch kann sich von der Umgebung, in der er lebt, von der Gesellschaft, den Umstanden und selbst dem Wetter herausgefordert fiihlen: alles, was ihm missfallt, erscheint ihm als Beeintrachtigung seiner selbst und kommt ihm 150

ungerecht, unrechtmassig oder falsch vor: alle haben unrecht, das schlechte Wetter ist im Unrecht; er allein hat recht. Dies will nicht heissen, dass der Mensch im Laufe seines Lebens nichts zu verteidigen habe. Doch was er wahrhaftig zu verteidigen hatte (- die Bekundung seiner eigenen Natur, seines Inneren in einer Form, die nur ihm gehort und der sich eine wirkliche «Selbstliebe» annimmt -), tritt nur mit dem Erwachen und der Entwicklung seines hoheren Ichs zutage und hat weder mit seinen vielfaltigen «Ichs» noch mit seinem Selbst-Bild irgend etwas zu tun. In diesem ganzen Gebilde, dem Inbegriff dessen, was ein Mensch zu sein glaubt, verdient ein Punkt noch besondere Aufmerk­ samkeit. Selbst wenn die Ereignisse einen Menschen mit der unleugbaren Tatsache seiner Illusionen fiber sich selbst konfrontieren, erlaubt ihm noch immer ein ganzer Komplex kiinstlicher Vorrichtungen: die «Puffer», sich zu rechtfertigen, und nimmt ihm somit jede Chance, die Dinge endlich so zu sehen, wie sie sind. ' ist ein Ausdruck, der eine besondere Erklarung erfordert. Wir kennen die Bedeutung der Puffer an den Eisenbahnwagen. Sie sind Einrichtungen, die die Stosswirkung verringern, wenn Wagen aufeinanderfahren. Wenn es keine Puffer gabe, wiirde der Stoss eines Wagens gegen einen anderen sehr unangenehm und gefahrlich sein. Die Puffer verringern die Wirkung dieser Stosse und machen sie unbemerkbar. Genau die gleichen Einrichtungen kdnnen im Menschen gefunden werden. Sie sind nicht durch die Natur, sondern durch den Menschen, wenn auch unwillkiirlich, geschaffen. Der Grund ihres Vorhandenseins ist das Bestehen vieler Widerspriiche im Menschen; widersprechender Meinungen, Gefiihle, Sympathien, Worte und Handlungen. Wenn ein Mensch sein ganzes Leben hindurch alle die Widerspriiche fiihlen wiirde, die in ihm sind, so kdnnte er nicht so ruhig leben und handeln, wie er jetzt lebt und handelt. Er wiirde eine dauernde Reibung, eine dauernde Unruhe spiiren. Wir sehen nicht, wie widersprechend und feindlich die verschiedenen Ichs unserer Persdnlichkeit zueinander stehen. Wenn ein Mensch alle diese Widerspriiche fuhlte, dann wiirde er fiihlen, was er wirklich ist. Er wiirde fiihlen, dass er verriickt ist. Es ist fiir niemanden angenehm, zu fiihlen, dass er verriickt ist. Dariiber hinaus raubt so ein Gedanke dem Menschen sein Selbstvertrauen, 1 P. D. Ouspensky: Auf der Suche nach dem Wunderbaren, S. 225

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schwacht seine Energie und nimmt ihm seine Selbstachtung. Auf irgendeine Weise muss er diesen Gedanken meistern oder bannen. Er muss entweder die Widerspriiche zerstdren oder aufhoren, sie zu sehen und zu fiihlen. Der Mensch kann diese Widerspriiche nicht zerstdren. Aber wenn in ihm Puffer erzeugt werden, kann er aufhoren, sie zu fiihlen, und er wird nicht die ganze Wucht des Aufeinanderpralls von widersprechenden Ansichten, widersprechenden Gefiihlen und widersprechenden Worten spiiren. bilden sich langsam und allmahlich. Sehr viele Puffer werden kiinstlich durch geschaffen. Andere entstehen unter dem hypnotischen Einfluss des gesamten uns umgebenden Lebens. Ein jeder ist von Menschen umgeben, die mittels leben, sprechen, denken und fiihlen. Indem er sie und ihre Meinungen, Handlungen und Worte nachahmt, schafft er unwillkurlich ahnliche in sich selbst. Die Puffer machen dem Menschen sein Leben leichter. Es ist sehr schwer, ohne zu leben. Aber sie verhindern im Menschen die Mdglichkeit innerer Entwicklung, weil die Puffer zu dem Zweck geschaffen werden, die Stdsse, die Schocks zu vermindern, und weil es nur die Schocks sind, die einen Menschen aus dem Zustand, in dem er lebt, herausfiihren, das heisst ihn aufwecken kdnnen. Die Puffer wiegen den Menschen in Schlaf, geben ihm die angenehme und friedliche Empfindung, es sei alles gut, es bestiinden keine Widerspriiche, und er kdnne in Frieden schlafen. sind Einrichtungen, mit deren Hilfe ein Mensch immer im Recht sein kann. Die helfen dem Menschen, sein Gewissen nicht zu spiiren», und beschwichtigen seine Eigenliebe. Wenn ein Mensch seiner wirklichen Lage gewahr wird in einem Aufleuchten der Wahrheit oder unter der Wirkung eines unvorhergesehenen Schocks, der seine Schutzmechanismen versagen lasst, wie etwa bei einem schweren Fehlschlag oder in ernster Gefahr, hat er einen Augenblick lang die Chance, zweierlei zu verstehen: erstens, dass er durchaus nicht die Eigenschaften besitzt, mit denen er sich briistet; und zweitens, dass er doppelt ist und zwei Naturen hat und dass hinter dem gewdhnlichen Menschen ein wirkliches Ich schlummert, welches uber jene Eigenschaften und Mdglichkeiten verfiigt und das der Schock voriibergehend geweckt hat: Einen Moment lang sieht er, dass gewdhnlich eine Oberflachenpersdnlichkeit, eine «kiinstliche» Rolle, den Platz innehat und, geschmiickt mit illusorischen Kraften, statt seiner auf alles im Leben reagiert. In diesen

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blitzartigen Erhellungen kann er verstehen, dass er wirklich er selbst werden muss und dass, wenn er dies wirklich werden «will», fortan nur eines zahlt: aufzuwachen, das Erwachen zu sich selbst zu erreichen, Erweckung und Wachstum des Inneren; und er kann einsehen, dass jene Persdnlichkeit, jene Rolle, an die er so fest glaubt, die den gesamten Platz einnimmt und als deren Erscheinungsform er lebt, das Haupthindernis ist zu diesem Erwachen des Ichs. In alien diesen Augenblicken, in denen der Mensch sieht, dasser schlaft und dass er, um er selbst zu werden, unter alien Umstanden erwachen muss, findet er, sofern er ehrlich ist, in sich das Bediirfnis, diese fiir ihn hinderliche Persdnlichkeit auszuschalten, und er macht es sich zur Aufgabe, sie zu bekampfen. Von da an tritt fiir ihn eine neue Wertskala in Erscheinung: alles, was ihm beim Erwachen helfen kann, wird fiir ihn zum Guten, alles, was ihn daran hindert, ist das Bose. Fiir solchen Menschen erweist sich das, was sein inneres Wesen vom Erwachen abhalt, als die einzige wirkliche «Siinde». Freilich hat der Mensch iiber die Augenblicke des Bewusstseins seiner selbst keine Macht. Sie erscheinen und verschwinden infolge ausserer Umstande, zufalliger Assoziationen, Schocks, Erinnerungen oder Gefiihle, die nicht von ihm abhangen. Zwar kdnnte er durch richtige Methoden und gut geleitete Anstrengungen die Kontrolle uber sie erlangen und sich seiner bewusst werden. Er ware imstande, die Oberhand zu gewinnen iiber diese fliichtigen Augenblicke der Bewusstheit und sie haufiger hervorzurufen, langer zu bewahren und sogar dauerhaft zu machen. Doch das kann er nicht von selbst: eine derartige Entwicklung setzt ein Wissen voraus und die Verwendung von Mitteln, iiber die der Mensch, so wie er ist, nicht verfiigt und die er selber nicht einzusetzen vermag. Nach dem Verlust der Illusion, er ware mit Eigenschaften und Kraften ausgestattet, die ihm gewiss zustehen, die er aber nicht hat, muss der Mensch eine zweite Illusion aufgeben: die Illusion, er konne in diesem Bereich irgend etwas von sich aus erreichen. Sobaid der Mensch zu erwachen versucht, merkt er, dass das Verlangen danach nicht ausreicht: sich selbst iiberlassen, schlaft er wieder ein und wacht nicht mehr auf. Solange der Mensch das nicht erlebt, daran nicht gelitten und die Schwierigkeit des Erwachens nicht voll erfahren hat, vermag er nicht zu begreifen, dass fiir dieses Ziel eine harte, langwierige und unmoglich allein zu vollbringende Arbeit erforderlich ist. 153

Was ist in der Regel notig, um einen schlafenden Menschen aufzuwecken? Ein ordentlicher Stoss. Wenn jedoch ein Mensch im Tiefschlaf ist, reicht ein einziger Stoss nicht aus. Fortgesetzte Stdsse sind einen langeren Zeitraum hindurch vonndten, und diese Stdsse oder Schocks konnen nur von aussen kommen; der Mensch muss sich in Verhaltnisse begeben, in denen jemand anders oder aussere Umstande ihm diese Schocks versetzen und sie so oft wiederholen, wie es notig ist, damit er erwacht, Sich deswegen an irgend jemanden zu wenden, kann schwerlich sehr hilfreich sein; der ihm helfen sollte, fallt wie jedermann sehr rasch in den Schlaf, wird von etwas anderem gefesselt und hdrt auf, ihn zu wecken. Es bediirfte eines Menschen, der wirklich in der Lage ware, wach zu bleiben; doch ein solcher Mensch muss seine eigene Arbeit, seine eigenen Aufgaben erfullen, und im allgemeinen hat er anderes zu tun, als seine Zeit damit zu verlieren, dass er andere aufweckt: zumeist hat er keinen Grund, dergleichen zu iibernehmen. Es besteht auch die Mbglichkeit, dass man sich an aussere Umstande halt und durch mechanische Mittel zu erwachen versucht. Dabei gilt es eine Weckuhr zu beniitzen. Leider Gottes gewohnt man sich zu schnell an sie: man hdrt sie ganz einfach nicht mehr. Folglich sind zahlreiche Wecker mit unterschiedlichem Lautwerk notwendig. Der Mensch muss sich buchstablich mit Weckuhren umgeben, die ihn am Schlafen hindern. Und auch hier tauchen noch immer Schwierigkeiten auf. Die Wecker wollen aufgezogen werden; um sie aufzuziehen, ist es unumganglich, dass man sich daran erinnert; um sich dessen zu erinnern, muss man haufig erwachen. Doch was noch schlimmer ist: ein Mensch gewohnt sich rasch an jede Art von Wecker, und nach einiger Zeit schlaft er nur um so besser. Datum miissen die Wecker fortwahrend ausgetauscht werden; es gilt standig neue zu erfinden. Mit der Zeit mag ein solches Mittel einem Menschen beim Erwachen helfen; allerdings bestehen sehr geringe Aussichten, dass er die gesamte Arbeit des Erfindens, Aufziehens und Auswechselns all dieser Wecker ohne aussere Hilfe von sich aus verrichtet; sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er bald nach Beginn dieser Arbeit einschlaft und im Schlafe traumt, er erfinde Weck­ uhren, ziehe sie auf und wechsle sie aus - und schliesslich wird er nur noch besser schlafen. Deshalb bedarf es zum Erwachen vereinter Anstrengungen. Es ist unerlasslich, dass sich jemand findet, der den Schlafer weckt; es ist

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unerlasslich, dass jemand da ist, der auf den Weckenden ein wachsames Auge hat; es bedarf der Weckuhren, und man muss auch fortgesetzt neue Uhren erfinden. Das einzige Mittel, solches Unternehmen zum Erfolg zu fiihren und Ergebnisse zu erzielen, besteht letztlich darin, dass sich eine gewisse Anzahl von Menschen in ihren Anstrengungen vereinen. Ein einzelner kann nichts tun. Ein einzelner kann sich iiber sein Erwachen durchaus tauschen und das fiir ein Erwachen halten, was nur ein neuer Traum ist. Wenn mehrere Menschen entschlossen sind, gemeinsam gegen den Schlaf zu arbeiten, so werden sie sich gegenseitig aufwecken, und auch wenn die meisten wieder einschlafen, mag es geniigen, dass einer wach wird, damit er die anderen zu wecken beginnt. Ebenso werden sie ihre verschiedenen Aufweckmittel zusammenlegen. Alle diese Men­ schen konnen einander eine grosse Hilfe sein, wohingegen jeder fiir sich allein ohne diese wechselseitige Hilfe zu nichts gelangen wiirde. Ein zu erwachen bereiter Mensch muss andere Menschen suchen, die ebenfalls erwachen wollen, damit er mit ihnen zusammen arbeitet. Freilich geniigt das immer noch nicht, denn solche Arbeit erfordert ein Wissen, das der Durchschnittsmensch nicht besitzt. Sie muss entsprechend diesem Wissen organisiert und geleitet werden. Ohne diese Voraussetzungen bestehen gute Aussichten, dass die dabei unternommenen Anstrengungen fruchtlos bleiben oder fehlschlagen: die Leute konnen alle moglichen Mittel und Weisen erfinden, sie konnen sich sogar «Askesen» unterziehen und sich martern; all diese Anstrengungen bleiben vergeblich, sofern sie nicht in «einer gewissen Weise» unternommen werden, in genau derjenigen, die allein eine Umwandlung herbeifiihren kann. Fiir viele ist dies schwer zu verstehen: nicht jedwede Anstrengung fiihrt zum Erwa­ chen; es bedarf Anstrengungen besonderer Art, und diese sind je nach den Umstanden und dem Zeitpunkt verschieden. Allein es wird noch schwieriger - vor allem fiir Intellektuelle: die Menschen konnen von selbst, aus eigenem Antrieb und nach dem, was sie meinen oder fiir sich als gut ansehen, zu grossen Anstrengun­ gen und Opfern fahig sein. Doch sie vermogen nicht zu verstehen, dass alle diese von ihnen gewollten und ihren persdnlichen Vorstellungen entsprechenden Opfer wahrscheinlich nichts mit dem zu tun haben, was fiir das von ihnen erstrebte Erwachen notwendig ist, und 155

sei es auch nur, weil sie uberhaupt nichts wissen von diesem Erwachen. Dass in einem solchem Fall alle ihre Opfer mdglicherweise nichts niitzen, vermdgen sie nicht einzugestehen. Und sie kdnnen nicht begreifen, dass ihre erste Anstrengung, ihr erstes Opfer darin bestehen muss: auf persdnliche Vorstellungen und Uberzeugungen zu verzichten, um jemandem anderes zu gehorchen. Eine derartige Arbeit muss organisiert werden. Und organisiert werden kann sie nur von jemandem, der ihre Probleme und Ziele kennt, um ihre Regeln und Mittel weiss und selber Erfahrungen im Umgang mit ihr hat, da er zu seiner Zeit selbst eine so organisierte Arbeit durchlaufen hat. Die zur Organisation und Forderung solcher Arbeit Fahigen haben auch eigene Aufgaben und Ziele. Sie wissen, wie wertvoll die Zeit ist und dass sie gezahlt ist, und sie schatzen ihre Zeit sehr hoch ein. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb ein einzelner nur wenig Aussichten hat, Hilfe zu empfangen: abgesehen von dem Umstand, dass diese Vereinzelung eine ungiinstige Bedingung darstellt, hilft der Mensch, der eine Erweckungsarbeit iibernimmt, lieber zwanzig oder dreissig aufzuwachen bereiten Personen gleichzeitig als einer einzelnen. Daher hat der, der allein bleiben will, gute Chancen, sich selbst auszuschliessen. Das erste Ziel des Menschen, der zu erwachen sich bemiiht und mit der Selbsterforschung beginnt, muss es sein, sich einer Gruppe anzuschliessen: Selbsterforschung lasst sich nur in gut organisierten Gruppen erfolgreich durchfiihren.

Die Arbeit selber wird lange Zeit nur eine Vorarbeit sein: in der menschlichen Maschine sind so viele Dinge verbogen oder verrostet, dass sie erst wieder in Ordnung gebracht werden miissen. Eine wirkliche Arbeit im Hinblick auf das Erwachen kann nur begonnen werden, wenn sie auf festen, ausgeglichenen Fundamenten ruht. Auch diese vorbereitende Arbeit ist einzig in einer Gruppe moglich - wenn man von ernsten Mangelfallen absieht, die eine persdnliche Einzelarbeit erfordern. Ein einzelner Mensch kann sich selbst nicht sehen. Mehrere zu diesem Zweck versammelte Personen hingegen werden, auch ohne es zu wollen, sich gegenseitig Hilfe leisten. Ein charakteristisches Merkmal des Menschen ist dieses, dass er die Fehler anderer stets leichter merkt als seine eigenen: das

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geschieht ganz «spontan». Nun erfahrt aber der Mensch auf dem Weg der Selbsterforschung bald, dass er selber all die Merkmale und Fehler besitzt, die er bei den anderen gewahrt: nur die Dosierung ist irgendwie anders. Es gibt vieles, was er in sich nicht sieht, wahrend es ihm an anderen auffallt. Wenn er wirklich verstanden hat, dass diese Ziige in unterschiedlichen Starkegraden auch in ihm sind, dann beginnt er darauf zu achten, er kann sie in sich sehen, sie wiederfinden und auch erleben: die anderen Gruppenmitglieder dienen ihm gleichsam als ein Spiegel, worin er sich zu erblicken vermag. Damit er aber in den Merkmalen, in den Mangein und Fehlern seiner Gefahrten sich selbst sieht, und nicht nur deren Ziige und Fehler, muss er zu einer inneren Haltung, zu einer Wachsamkeit und Aufmerksamkeit von besonderer Richtung und Qualitat imstande sein, die sehr grosse Ehrlichkeit erfordern und vor allem sehr grosse Aufrichtigkeit gegeniiber sich selbst. Nur von dem, was man selbst erlebt hat, kann man ehrlich sprechen. Wenn nicht alle Gruppenmitglieder die vollige Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, sich selber jedesmal in Frage zu stellen, respektieren, so ist solche Arbeit nicht moglich; und das Versagen eines einzigen geniigt, um «die Atmosphare zu verpesten». So fangt in der Arbeit der Selbsterforschung jeder an, Material zusammenzutragen, das sich aus den Beobachtungen ergibt, die er in sich selbst macht. Auch hier ist eine Gruppenarbeit unersetzlich: zwanzig Personen bekommen zwanzigmal mehr Material, das jeder grosstenteils verwenden kann: der Beobachtungsaustausch und spater der Verstandnisaustausch ist eines der Ziele der Arbeitsgruppen. Vor allem aber muss sich jeder daran erinnern, dass er nicht eins ist: ein Teil von ihm ist der Mensch, der erwachen will, der andere Teil hingegen, die Personlichkeit, verspiirt nicht den geringsten Wunsch nach einem Erwachen und muss gegen ihren Willen mit Gewalt und List dazu gebracht werden. Eine Gruppe ist gemeinhin ein zwischen den wirklichen Ichs mehrerer Personen geschlossener Pakt mit dem Ziel, gemeinsam den Kampf gegen ihre falschen Persdnlichkeiten aufzunehmen. Das wirkliche Ich eines jeden von ihnen ist gegen die Personlichkeit machtlos, oder es schlaft, und die Personlichkeit beherrscht die Situation. Wenn aber zwanzig Ichs sich zum Kampf gegen jede ihrer Persdnlichkeiten verbiinden, dann kdnnen sie starker werden als diese; auf alle Faile kdnnen sie deren Vorherrschaft beeintrachtigen und verhindern, dass die anderen Ichs so ruhig schlafen. 157

Die Selbstbeobachtung allein reicht iibrigens nicht, um zu erwachen. Sie ist nur eine Vorstufe, die zwar ein gewisses Wachwerden erfordert, doch bleibt dieses sozusagen passiv: der Mensch taucht dabei kaum aus dem Schlaf auf und fallt sofort wieder in ihn zuriick. Erst wenn der Mensch anhebt, «sich seiner selbst zu erinnern,» wenn er versucht, das hinter seinen Rollen wiederzufinden, zu sammeln und zu leben, was er selbst seinem Empfinden nach wahrhaft ist, beginnt er wirklich zu erwachen. Ein solcher Versuch verschafft einen «Eindruck von einem selbst», der einen besonderen «Geschmack» besitzt und zweifelsfrei zu erkennen ist: wer diesen Eindruck kennengelernt hat, lasst sich danach nicht mehr von der Persdnlichkeit tauschen. Was ein derartiger Versuch tatsachlich umfasst, ist mit Worten nicht zu beschreiben: es handelt sich um eine individuelle Erfahrung, die wie jede Bewusstseinserfahrung nur dann einen Sinn hat, wenn sie erlebt wird, und zwar in dem Augenblick, da sie erlebt wird, und allein fiir den einzelnen, der sie erlebt. Solange ein Mensch sich nicht seiner selbst zu erinnern vermag, geschehen die Dinge in ihm oder durch ihn, aber sie geschehen ohne sein Beisein und nicht ihm gemass. Nur die Maschine arbeitet; er selbst ist nicht da; ohne eine gewisse Selbsterinnerung ist sogar einfache Selbstbeobachtung nicht mdglich. Und solange ein Mensch nicht durch Selbsterinnerung und die damit verbundene relative Selbsterkenntnis in zulanglich umfassender Weise zu wirklichem «Beisichsein» gelangt, werden die Dinge weder von ihm noch unter seiner Mitwirkung getan. Nur wenn der Mensch sich anschickt, «sich seiner zu erinnern», vermag er wirklich zu erwachen. Im wirklichen und hinreichend dauerhaften Erwachen ist der Mensch bei sich. Und allein mit dem «Beisichsein» beginnt er als Mensch zu leben.

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Erste Schritte in der Selbsterforschung: Beruhigung, Entspannung, Selbstempfindung und Selbsterinnerungsversuch

V ielleicht haben uns die bisher betrachteten Ideen gezeigt, wie oberflachlich unsere «Kenntnisse» iiber uns selbst und iiber das Leben sind; wir spiiren jetzt vielleicht, dass, wenn wir unser Leben wirklich leben wollen, ein vertieftes Verstandnis desselben vonndten ist. Wir stehen vor einer fiir uns neuen Notwendigkeit: vor etwas, was wir bislang niemals in dieser Weise in Betracht gezogen hatten; die genauen Griinde, warum wir uns zu einer derartigen Erforschung gedrangt fiihlen, sind wahrscheinlich fiir jeden ein wenig verschieden. Das Ziel, das wir im Auge haben, ist moglicherweise nicht fiir alle das gleiche, und wir formulieren es unterschiedlich; gleichwohl bezieht sich jeder dieser besonderen Gesichtspunkte letztlich auf dieselbe innere Forderung: unserm Leben einen Sinn und eine Bedeutung zu verleihen, die wir in aller Aufrichtigkeit noch nicht oder, auf jeden Fall, nur unvollstandig gefunden haben. 159

Fast alles, was wir bisher taten, war nach aussen gerichtet: die aussere Existenz hat beinahe unser gesamtes Leben in Anspruch genommen. Die Zeit, in der wjr uns wirklich uns selber und unserm inneren Leben zuneigen, ist vergleichsweise verschwindend klein. Wahrend unserer Ausbildung, unserer Studien, unserer Tatigkeit im Leben war nahezu alles nach aussen gerichtet. Wir haben uns einem Wissen ausserhalb von uns zugewandt, haben unsere Umgebung betrachten oder beobachten und auf Leute, Dinge und aussere Umstande einwirken gelernt. Sogar unsere «Gebete» erwiesen sich zumeist als nach aussen, an einen ausserlichen Gott gerichtet. Uns unserem Innerlichen zuzuwenden, haben wir kaum gelernt: nur in gewissen Augenblicken und voriibergehend. Wenn wir jedoch unsere eigenen Ziele im Leben verwirklichen wollen und uns ein Leben wiinschen, reich an Werken und Qualitaten, die wir zu bewahren uns berufen fiihlen, ein Leben, dessen Werke den Stempel der von uns anerkannten Wahrheiten tragen, so kann dies ganz bestimmt so lange nicht geschehen, wie uns das aussere Leben alle Augenblicke fortreisst. Wir miissen in uns ein starkes, klares, festes Dasein entwikkeln, das in der Lage ist, seine Ziele durchzusetzen, sich der hilfreichen Krafte zu bedienen und den Gegenkraften des Lebens zu widerstehen: zunachst aber miissen wir gegeniiber dem Leben und mitten in ihm ganz wir selbst sein. Zwar haben wir alle, mehr oder minder, Versuche in dieser Richtung unternommen, doch sehen wir durchaus, dass sie fast immer zusammenhanglos, unkoordiniert, folgenlos und vdllig ungenugend geblieben sind; bestenfalls hat sich, um den Preis eines Kampfes und einer inneren Spaltung, die zur Unterwerfung oder Verdrangung der gegensatzlichen Teile in uns fiihrten, eine gewisse Selbstbeherrschung und ein gewisser «Wille» entwickelt. Doch auch diese Selbstbeherrschung ist unsicher und fortgesetzt in Frage gestellt. Wir kdnnen nicht behaupten, sie habe uns dazu gebracht, dass wir ganz wir selbst seien und in uns (oder zwischen uns und dem Leben) Synthese und Harmonie erlangt hatten: was man als die erste Stufe der Selbstverwirklichung bezeichnen kdnnte, oder dass wir die Verwirklichung jenes klaren und festen Daseins erreicht hatten, dessen wir nach unserm Verstandnis bediirfen. Wenn wir in dieser Rich tung zu etwas wirklich Brauchbarem gelangen wollen, dann miissen wir, das fiihlen wir jetzt, eine andersgeartete Arbeit: eine viel strukturiertere Arbeit, in Angriff nehmen.

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Eines ist heute gewiss: wir kdnnen bei der Suche nach einem besseren Dasein im Leben nicht weiterkommen, wenn wir uns nicht zuerst uns selber zuwenden, wenn wir nicht zunachst zu besserer Erfahrung und besserem Verstandnis unseres Seins gelangen und in uns Eigenschaften entwickeln, die uns noch fehlen; denn alles, was unserm Leben einen Sinn zu geben vermag, wird in uns und durch uns wahrgenommen und vollzogen. Allein diese Hinwendung zu uns selbst haben wir nicht gelernt; was innere Arbeit auf das Erwachen zu sich selbst und auf die Selbstentfaltung hin sein kann, davon wissen wir iiberhaupt nichts. Uns wird somit klar: gleichwie wir fiir die aussere Arbeit handeln gelernt haben, so miissen wir auch lernen, was innere Arbeit ist und aus welcher Art von Handlung oder Tatigkeit sie besteht. Vor die Notwendigkeit gestellt, zuerst die Selbsterkenntnis zu vertiefen, bemerken wir sofort, dass es sich um eine gewaltige Unternehmung handelt, eine genauso grosse und vielleicht grdssere als die Lehrzeit im ausseren Leben. Auch hier handelt es sich um einen langen, leidigen, oftmals sogar abstossenden Weg; und von Anfang an tauchen Schwierigkeiten auf: wo soil man beginnen? Dass wir einer viel intensiveren und langwierigeren Arbeit bedurfen, als es alle unsere Versuche in dieser Richtung je waren, sehen wir deutlich; auch bediirfte es bestimmter Mittel, die wir nicht kennen: wenn wir hierbei etwas erreichen wollen, so bendtigen wir eine viel organisiertere Arbeit. Eine derartige Struktur kann nicht von uns kommen, denn wir verfiigen iiber keine ausreichenden Kenntnisse: wir brauchen jemanden, der sie besitzt. Auch kdnnen wir einen solchen Arbeitsplan nicht allein durchfiihren: allein werden wir niemals all die Zeit, die vielen verschiedenen Eigenschaften und wohl auch nicht den Mut aufbringen. Die erste, zwingend notwendige Bedingung ist daher die, dass wir eine Gruppe an dieser Arbeit interessierter Sucher finden, denen als Gruppe die unerlasslichen Grundlagen zuteil werden. Schon dies ist iiberaus selten und hdchst schwierig. Doch angenommen, diese Bedingungen waren wie durch ein Wunder erfullt, wir kdnnten uns einer Gruppe anschliessen, die eine derartige Arbeit unternimmt, selbst dann werden wir das fiir den Beginn der Arbeit erforderliche Interesse nie aufbringen, sofern wir nicht eine klare Vorstellung haben von der dabei einzuschlagenden Rich­ tung und falls wir den Sinn der ersten Anstrengungen nicht verstehen.

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Wir haben festgestellt, dass man in uns drei sehr verschiedene Tatigkeitsebenen oder Tatigkeitsweisen unterscheiden kann: eine instinktiv-bewegungshafte, eine gefiihlsmassige und eine intellektuelle Ebene. Mit jedem dieser Bereiche haben wir einige Erfahrungen und kdnnten daher mit der Erforschung irgendeines Bereichs beginnen. So kdnnten wir etwa mit der gefiihlsmassigen Ebene anfangen, d. h. mit all dem, was in uns Gefiihl oder Empfindung ist. Allerdings wissen diejenigen unter uns, die das versucht haben (- und die anderen kdnnen es sich sehr schnell klarmachen -), dass unsere Gefiihle und Empfindungen wahrscheinlich das Gebiet darstellen, in welchem wir am ohnmachtigsten sind. Sie tauchen auf, verschwinden, verblenden uns oder reissen uns fort, ohne dass wir etwas dagegen zu tun vermdgen. Fiir den Beginn der Selbsterforschung sind sie gewiss weder ein besonders festes noch ein sehr giinstiges Gelande. Wir kdnnten auch mit der intellektuellen Ebene anfangen. Aber wir wissen alle, wie sehr unsere Gedanken ineinandergreifen, miteinander verbunden sind, gegen unsern Willen umherschweifen und sich uns entziehen; auch wissen wir, welche Miihe es uns macht, sie «festzuhalten» und unsere Aufmerksamkeit auf eine gedankliche Arbeit zu konzentrieren. Und es scheint, als sei fiir den Beginn der Selbsterforschung auch dies keine leichte Arbeit. So bleibt die organische Ebene: unser Leib. Er ist fest und konkret, von anscheinend bestandiger Form, auf die wir uns, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, verlassen kdnnen; er ist das Werkzeug, womit wir wahrnehmen und handeln; da er gerne in Ruhestellung bleibt, ist es uns moglich, ihn besser zu beobachten als alles iibrige. Er ist verhaltnismassig gehorsam, und wir haben eine gewisse Macht iiber ihn (auf jeden Fall viel mehr als uber unsere anderen Teile). Dariiber hinaus ist er in uns die festeste stoffliche Grundlage, und nach einer allgemeinen Regel muss sich jede irdische Unternehmung, sei es eine menschliche oder nicht-menschliche, zunachst auf ein festes und konkretes Fundament stiitzen. Und schliesslich vollziehen sich im Kdrper alle Austauschprozesse des Lebens, und durch ihn erreichen uns alle Energien, die wirbrauchen. Aus alien diesen Griinden ist es vielleicht klug, unsere Arbeit mit ihm zu beginnen; und es gilt klug zu sein, denn unsere Unternehmung ist schwierig: wenn wir hierbei nicht intelligent und listenreich vorge162

hen, laufen wir Gefahr, aus Dummheit auf viele Enttauschungen zuzusteuern. Wenn wir unseren Kdrper oder zumindest, am Anfang, seinen motorischen Teil, die Bewegung, erforschen wollen, so heisst es vor allem anderen mit ihm in Verbindung sein. Was uns mit ihm verbindet, ist die «Empfindung», die wir von ihm haben: die innere Wahrnehmung unseres kdrperlichen Ichs, die physische Selbst­ empfindung. Aber die Kdrperempfindung hat eine noch grdssere Bedeutung, denn wenn es unser Ziel ist, eines Tages in uns ein festes Dasein zu entwickeln, dann ist die Empfindung unseres kdrperlichen Ichs ein zu diesem Dasein gehdriger Teil; sie ist dessen konkretester und am leichtesten nachpriifbarer Teil. Wir haben standig eine Kdrperempfindung; andernfalls wurden unsere Haltungen nicht fortbestehen, und unsere Bewegungen kamen irgendwie oder gar nicht zustande. Freilich sind wir uns dieser Empfindung nicht bewusst, wir wissen nichts von ihr, ausser in extremen Augenblicken, in denen eine ungewdhnliche Anstrengung ndtig ist oder eine Sache schlecht steht, ja misslingt. Die iibrige Zeit vergessen wir sie. Damit wir uns erkennen und beobachten, unsern Kdrper erforschen und spater unsere Arbeit unterstiitzen, miissen wir uber diese Empfindung verfiigen. Dies setzt voraus, dass in uns eine neue Beziehung entsteht: ich (im Bewusstsein) meiner Kdrper­ empfindung. Tatsachlich handelt es sich um viel mehr als nur eine neue Beziehung; in Wirklichkeit geht es um eine neue Situation, die bei diesem Versuch in uns sichtbar wird. Dies ist wahrscheinlich das Wichtigste, doch wir haben noch nicht geniigend Erfahrungsmaterial, um davon sprechen zu kdnnen. Im Augenblick brauchen wir eine bestandige Empfindung, d. h. wir miissen die Fahigkeit erlangen, uns bestandiger und dauerhafter unseres Kdrpers und seiner Situation bewusst zu bleiben. Als erstes kommt uns natiirlich der Gedanke, wir sollten versuchen, in den Bewegungen und Tatigkeiten des Lebens diese Wahrnehmung unse­ res Kdrpers aufmerksam zu verfolgen. Versuchen kdnnen wir es; doch wir merken schnell, dass wir uns einerseits nie zweimal auf die gleiche Weise antreffen, so dass es recht schwer ist, sich zurechtzufinden, und dass uns andererseits unsere Tatigkeit fortreisst und um jede Mdglichkeit bringt, unsere Situation im Auge zu behalten. In der Tat, wenn wir die Selbstempfindung kennenlernen wollen und die Mdglichkeit, uns ihrer bewusst zu bleiben, in uns entwickeln 163

mdchten, miissen wir unter viel leichteren Bedingungen arbeiten. Wir miissen uns in besonders giinstige Umstande begeben, die auf das uns Mdgliche zugeschnitten sind; und was uns zu Beginn mdglich ist in einem Bereich, den wir noch nicht kennen und wo kaum etwas so entwickelt ist, wie es dies sein sollte, das ist nahezu nichts. Ubrigens wird es in unserer Arbeit an uns selbst stets so sein. Solche Arbeit hat nur dann einen Sinn, wenn sie uns eines Tages erlaubt, ins Leben hinauszugehen, um dort voll und ganz zu bekunden, was wir als unser Sein erkannt haben, und um dort das zu vollbringen, was von uns abhangt. In der Arbeit an uns selbst wird es immer zwei Linien geben: zum einen die innere Arbeit in der Ruhe und unter Bedingungen, die fiir die Entwicklung gewisser Mdglich­ keiten geeignet sind, zum anderen die Bewahrung im Leben, in einem Masse, das der jeweils erreichten inneren Entwicklung entspricht. Freilich ist das Leben ein Sturm, bei dem man innerlich sehr stark sein muss, um nicht das Opfer entgegengesetzter Elemente zu werden. Und ehe wir uns der Bewahrungsprobe aussetzen oder uns ins Wagnis begeben, mussen wir an geschiitztem Ort unter giinstigen Bedingungen geduldig die Krafte und Fahigkeiten (Vermdgen) ent­ wickelt haben, die uns vor dem Versinken bewahren. Bevor wir, in der Bewegung und im Leben, der Selbstempfindung mit alien ihren Schwankungen folgen konnen, mussen wir sie in einem Grundzustand kennenlernen, d. h. dort, wo wir sie als eine sich gleichbleibende jederzeit sofort wiederfinden konnen, wann immer sie fiir unsere innere Arbeit notwendig ist. Gleichwie jede Messung einen Nullpunkt oder eine Norm braucht, so bendtigen wir zur Selbsteinschatzung einen Bezugspunkt, den Massstab einer stets gleichen Situation. Und fiir die kdrperliche Selbstempfindung kdnnen wir diesen Bezugspunkt nur in der volligen Entspannung finden. Folglich gilt es, sich in Bedingungen zu begeben, in denen diese Entspannung mdglich ist. Da wir diesen Versuch als notwendig erkannt haben, sollten wir uns gegeniiber uns selbst verpflichten, im Rahmen unserer Mdglichkeiten mindestens einmal, wenn nicht zweimal oder sogar mehrmals am Tag diesen Versuch zu wagen. Wir werden uns also in Verhaltnisse begeben, in denen wirsicher sein konnen, dass wir nicht gestdrt werden und auf keinen Ruf des ausseren Lebens zu antworten haben. Als erstes mussen wir die fiir eine derartige Arbeit geeignete Kdrperhaltung einnehmen. Diese muss in sich fest, bequem und zwanglos sein. Die fiir uns wahrschein-

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lich beste Haltung ist das einfache Sitzen auf einem Stuhl oder allenfalls in einem Sessel, der untere Teil des Riickens angelehnt oder auch nicht, jedoch das Becken im Gleichgewicht, der Korper aufrecht, der Kopf gerade: weder gesenkt (dies ist ein Zeichen von Tragheit, ja sogar des Schlafs) noch zu angehoben (es ist ein Zeichen fiir die Flucht in den Intellekt, in Vorstellungen und Einbildungen). Die Augen konnen geschlossen oder geoffnet sein: bei offenen Augen kann das Schauen in uns die Ideen-Assoziation fbrdern, die die Aufmerksamkeit fesselt und uns von unserm Versuch abbringt: darum ist es wiinschenswert, den Blick auf einen festen Punkt einige Meter vor uns zu richten und ihn dort zu belassen. Bei geschlossenen Augen bringt das fehlende Schauen grossere Ruhe mit sich, aber es begiinstigt auch die Tragheit und das Sichhingeben an den Schlaf. Die Knie sollen einen rechten Winkel bilden und die Fusse nebeneinander oder leicht voneinander entfernt sein, flach aufliegend. Arme und Schultern sollen frei herabhangen, die Unterarme angewinkelt, damit die Hande flach auf den Knien ruhen; unter diesen Bedingun­ gen bleibt der Energiekreis, der durch die Hande lauft, unterbrochen. Die Hande konnen auch vor einem liegen, die rechte Hand in der linken; auf diese Weise ist der Energiekreis in seiner natiirlichen Richtung (bei Linkshandern umgekehrt) in sich geschlossen. In unserm Organismus gibt es verschiedene Energiekreise, von denen wir einige gut kennen, wie etwa den des Blutkreislaufs oder den der Nervenleitung, wohingegen uns andere, wie z. B. die Kreise des autonomen Nervensystems, viel weniger gut bekannt oder sogar, wie die subtileren Energiekreise, praktisch unbekannt sind; im besten Faile haben wir gehort, dass sie moglicherweise existieren. Ein Zweck der Korperhaltung, die es fiir jede tiefe innere Arbeit einzunehmen gilt, ist der, alien diesen Energiekreisen uberall in uns freien Lauf zu lassen; ein anderer Grund ist, dass diese Haltung vollkommene Ruhe ermoglicht, d. h. einerseits, dass sie nirgends mechanische Beschwerden mit sich bringt, dass es an keiner Stelle lastigen Druck auf unsere Organe gibt, und andererseits dass sie die Losung aller Spannungen erlaubt: in erster Linie derjenigen des physischen Korpers. Im Menschen ist alles miteinander verkniipft; die mechanischen Druckerscheinungen und vor allem die Muskelspannungen, die lauter Beeintrachtigungen des freien Kreislaufs unserer Energien sind, haben in unsern anderen Teilen ihre Entsprechung; und sie verhindern die Arbeit an einem selbst oder leiten sie 165

fehl. Kdnnen die Spannungen aus irgendeinem Grund (z.B. wegen einer Missbildung des Skeletts) nicht geldst werden, dann miissen wir uns dessen bewusst sein, um auf den verschiedenen Ebenen in uns soweit wie moglich den notwendigen Ausgleich vorzunehmen. Eine fiir die tiefe Arbeit an sich selbst geeignete Kdrperhaltung muss also vollkommen ausgeglichen sein und sich auf natiirliche Weise von selbst halten, wobei iiber der vdllig stabilen Beckenflache Wirbelsaule und Kopf gerade sind, ohne jede Spannung, ausser der sehr leichten Muskelspannung im Nacken, die das Nachvornfallen des Kopfes verhindert: sie bildet ein Mindestmass an notwendiger Gespanntheit und unterstutzt damit das Aufrechterhalten der Wachsamkeit. Die Kdrperhaltung, die seit altesten Zeiten als die giinstigste gilt, vor allem in den orientalischen Landern, wo die Menschen grosse praktische Erfahrung mit diesen Ubungen haben, ist der «Lotossitz». Bei leichter Erhdhung des Beckens, deren Ausmass von jedem einzelnen abhangt, sorgt dieser Sitz fiir die stabilste Flache, die breiteste Beruhrung mit dem Boden und die ausgeglichenste Statik im Wirbelsaulenbereich. Allerdings sind die Abendlander durch fehlende Ubung von klein auf und wegen eines von dem der Orientalen etwas verschiedenen Skelettbaus im allgemeinen zu die­ ser Haltung nicht in der Lage. Gleichwohl kdnnen wir einen halben Lotossitz einnehmen oder, noch einfacher, den Schneidersitz mit gekreuzten Beinen. Aber selbst diese Zwischenhaltungen fallen uns am Anfang oft schwer und verlangen von uns eine gewisse «Ubung». Sie sind nicht unerlasslich, und in der ersten Zeit ermdglicht das einfache Sitzen, das wir zunachst in Betracht gezogen haben, die Arbeit an sich selbst voll und ganz; doch fiir eine tiefe innere Arbeit sind jene anderen Haltungen die besten: sie gewahren bei geringster Spannung und minimaler Belastung fiir den gesamten Organismus die grdsste Freiheit. Ubrigens hat jeder von uns eigentumliche Besonderheiten, die es mit sich bringen, dass man an sich selbst herausfinden muss, welche Haltung fiir einen die ausgeglichenste ist. Nun gibt es eine andere Kdrperhaltung, die man, wie es scheint, zur Ldsung aller Spannungen als erstes in Betracht ziehen sollte: das Liegen. Doch diese Haltung, abgesehen davon, dass sie jede muskelbezogene Wachsamkeit beseitigt und so das Abgleiten in innere Passivitat und danach in den Schlaf erleichtert, begiinstigt auch die Zirkulation und Entfaltung der instinktiven Krafte, so dass das

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allgemeine Gleichgewicht gestort und schwerfallig wird; darum erscheint sie nicht wiinschenswert. Trotzdem mag in einigen beson­ deren Fallen oder zu gewissen Zeiten das Liegen die einzige Haltung sein, die eine hinlangliche Entspannung verschafft: Vorausgesetzt, dass in jenen Fallen das Ungleichgewicht tatsachlich erkannt und aufgehoben wird, kann auch sie die tiefe Arbeit an einem selbst moglich machen. Da wir uns jetzt also in Verhaltnissen befinden, in denen wir sicher sind, dass wir vom ausseren Leben nicht gestort werden, wollen wir jene Sitzhaltung wahlen, die fiir die beabsichtigte Arbeit sicherlich ausreicht und im Anfang fiir uns die einfachste ist. Zunachst miissen wir in uns Ruhe einkehren lassen und uns nach und nach Ibsen von all den ausseren Sorgen des Alltagslebens: von seinen Spannungen, seinen Beanspruchungen und deren innerer Nachwirkung, von der Unruhe, die sie in uns hervorrufen. Dies erfordert ein Mehr oder Weniger an Zeit, je nach unserem persbnlichen Zustand, je nachdem, wie gut wir es vermdgen, und auch je nach dem Druck, den die ausseren Umstande auf uns ausiibten. Doch dann gibt es eine Anfangsphase, die immer notwendig bleibt, gleichviel welche Ubung man in der Arbeit an sich selbst versucht: diese Phase besteht darin, dass wir uns stets daran erinnern, warum man diesen Versuch unternimmt, und dass wir das in uns wiederfinden, was dieses Versuches bedarf, sowie das Interessengebiet, mit dem er zusammenhangt. Einen Sinn hat eine Ubung dieser Art nur, wenn sie verbunden ist mit unserm Bedurfnis, jedesmal etwas mehr wir selbst zu werden. Wenn wir dies fuhlen, sehen wir, dass wir standig geteilt sind: ein Teil von uns braucht diesen Versuch und nimmt die Anstrengung gem auf sich; ein anderer, mehr oder weniger grosser Teil (und das wechselt je nach der Zeit oder den Augenblicken) braucht ihn keineswegs und will davon iiberhaupt nichts wissen: er interessiert sich ganz und gar nicht dafiir und gibt allem anderen den Vorzug: Musik zu hbren, ins Theater oder ins Kino zu gehen, zu studieren, zu tanzen usw. Diesen unseren anderen Teil gilt es durch Uberzeugung dazu zu bringen, dass er uns eine Zeitlang hilft oder uns zumindest tun lasst, auch wenn wir ihm spater die Befriedigungen gewahren miissen, deren er bedarf. Zu diesem Einvernehmen zu gelangen, ist hochst wichtig, weil wir damit die Unstimmigkeiten in uns auf ein Minimum 167

beschranken: eine so geartete Arbeit benbtigt eine harmonische «Atmosphare». Man sollte nie etwas erzwingen. Bisweilen allerdings, wenn man nicht Gefahr laufen will, nichts mehr zu versuchen und jenen Teil von uns verkiimmern zu sehen, der gleichwohl mehr als jeder andere Existenzberechtigung hat, miissen wir den anderen Teil, der diesen erstickt und ihm keinen Platz lasst, ndtigen, das zu gestatten, was wir versuchen wollen. Man muss dies, wenn es notwendig erscheint, tun kdnnen und muss sich selber Disziplin abverlangen, ohne unndtige Reibung, geschickt, aber bestimmt, und in dem Wissen, dass man, sooft man etwas in sich erzwingt, zugleich einen gleichstarken Widerstand entstehen lasst. Auch wenn der durch Zwang verursachte Widerstand sich nicht sofort zeigt, er bleibt vorhanden, sammelt sich an und wachst durch wiederholte Zusatze, bis er eines Tages mit verheerenden Wirkungen explodiert. Dies zu wissen, in sich darauf zu achten und sich dementsprechend zu verhalten, ist notwendig. Wenn man diesen Widerstand provoziert oder wenn er in uns Verbiindete findet, so kann er eine Zeitlang jede wirkliche Arbeit unmdglich machen: dies muss man erkennen kdnnen, denn nichts ist schlimmer, als eine derartige Ubung ohne echte Motivation zu beginnen, einfach weil man es gesagt hat, und um sich dessen zu entledigen. Sicherlich ist es klug, einen besseren Augenblick abzuwarten; zugleich aber ist dieses: auf spater zu verschieben, was man nicht sofort in Angriff nehmen kann, eine offenkundige Faile: eine abgemilderte Form des Aufgebens, um es dem Teil annehmbarer zu machen, der davon nichts hdren will. Aber eine im voraus (bis zu einem genau bestimmten Falligkeitstermin) festgelegte Zeit abzuwarten und zu dem Zeitpunkt dann, ganz gleich, welches die Umstande sein mdgen, seinen Versuch unerbittlich fortzusetzen, dies ist ein bisweilen gerechtfertigter, wenn auch nicht risikofreier Ausweg. Machen wir nicht im Alltagsleben, fur viel weniger wichtige Ziele, von ihm Gebrauch? Nur wenn wir entschlossen sind, diese Hauptbedingungen zu erfiillen, und wenn uns dies gelingt, kdnnen wir die ersten Anstrengungen der Arbeit an sich selbst ins Auge fassen. Denn derartige Versuche bringen von selbst nichts: sie sind nur die Vorbereitung auf ein langes, schwieriges, manchmal miihseliges, mit Fallen und Sackgassen iibersates inneres Arbeitsfeld, wo die Gefahr, sich zu verirren, genauso gross ist wie im ausseren Leben und wo die Menge der zu 168

leistenden Arbeit viel grosser ist und subtiler als bei jeder anderen Art von Verrichtung. Die Arbeit zielt zunachst meistens auf Entspannung und Korperempfindung, spater auf die Selbsterinnerung, gemass genauer Modalitaten und unter der Kontrolle dessen, was sich ereignet. Sich bei diesem Beginn zu verirren kann jede Chance auf eine kiinftige Entwicklung gefahrden, und von diesem Punkt an miissen wir alle abstrakten Vorstellungen aufgeben: nur die unmittelbare Beziehung von Mensch zu Mensch, des Alteren zum Jiingeren, des Lehrers zum Schuler kann uns fortan weiterbringen. Ein sehr lebendiger innerer Sinn und eine Entschlossenheit, die nichts entmutigt, sind unerlasslich, um hier dem Weg, dem eigenen Weg, zu folgen. Freilich bleibt alles relativ, denn die Menschen haben in sich nicht die gleichen Entwicklungsmdglichkeiten; hingegen haben alle einen Weg, den sie gehen kdnnen (und sollten) und der fiir sie das Wesentliche ist. Dieser Weg verlauft etappenweise, wobei freilich die Reihenfolge dieser Etappen und die Mittel, die man beim Durchlaufen derselben verwendet, von jedem Weg und sogar von jeder Schule eigens bestimmt werden; auch ist auf den verschiedenen Wegen die Endstufe des so Erreichen nicht dieselbe. Doch was in diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen dem Menschen gemeinhin mdglich ist, das gehorcht, wie auch die Art und Weise seineretwaigen Weiterentwicklung, uberall denselben Gesetzen und denselben Regeln. Alles dies gehdrt mit zu den Griinden, warum die schulmassigen Ubungen fiir die Arbeit an sich selbst nicht schriftlich festgehalten sind; oder, falls sie es sind, warum diese Schriften nur denen zuganglich gemacht werden, die bereits iiber hinlangliche Erfahrung mit den Ubungen verfiigen und diese unter der Anleitung ihrer Vorganger zureichend praktiziert haben, so dass sie verstehen, was die Ubungen innerhalb der Linie der betreffenden Schule eroffnen. Ubrigens gibt es hierbei kein Geheimnis. Es gibt nur dies: niemand kann ohne eigenes Erleben derartige Erfahrungen verste­ hen, und ein schlechtes, ungeniigendes, teilhaftes oder fehlerhaftes Verstandnis ist das Schlimmste, was dem einzelnen wie auch der Schule zustossen kann: darum ist alles so eingerichtet, dass dies vermieden wird.

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Das Gewissen ruft zum Selbstsein.

Das Selbstsein hebt an mit der Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis beginnt mit der Arbeit an sich selbst. Die Arbeit an sich selbst griindet in der Selbstempfindung.

.Der Stand des zum Bediirfnis nach Selbstsein erwachten Men­ schen ist auf alien Ebenen schwierig und erfordert standig drei Grundlinien der Anstrengung:

- Anerkennung1 - Bewusste Arbeit - Freiwilliges Leiden2 Die genaue Form der Anstrengungen nimmt auf jeder Entwicklungsstufe einen besonderen Aspekt an. Auf der Stufe des Erwachens zu sich selbst umfasst der erste Aspekt: - die Unterwerfung unter ein hoheres Bewusstsein; - die Bemiihung, durch Selbsterinnerung und Selbstbewusstseinsanstrengungen man selbst zu werden; - die bejahte Opferung des gewohnlichen Lebens, in einem Masse, das notwendig ist, damit man sich von diesem Leben freimacht und es in den Dienst der Arbeit an sich selbst zu stellen versucht.

1 Anerkennung im vollem Sinn des Wortes (und nicht nur im Sinne der Dankbarkeit). 2 Freiwillig auf sich genommenes Leiden (man kdnnte auch Opfer sagen) als ein unvermeidlicher Teil der inneren Umwandlungsbemiihungen im Kampf zwischen Ja und Nein, nicht jedoch: willkiirlich erstrebtes Leiden fiir ein sog. «asketisches» Ziel: solche freiwilligen Askesen und «Kasteiungen» kehren die Faktoren um und sind (von einigen bestimmten Augenblicken abgesehen) fast immer nutzlos, wenn nicht schadlich.

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