Begegnung mit Nietzsche

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BEGEGNUNG MIT NIETZSCHE

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Heinrich Scholz o. Professor der mathematischen Logik und Grundlagenforschung an der Universität Münster 1. W.

FURCHE-VERLAG/

TOBINGEN

G. M. Z. F. O. Visa No. 3998/L de Ja Direction de l'Education Publique Autorisation No. 4311 de Ja Direction de !'Information Alle Rechte vorbehalten Furche-Verlag Dr. Katzmann KG. Tübingen 1948 Druck: Banholzer & Co., Rottweil a. N.

Vorrede Wer aus irgendeinem Grunde mit Nietzsche zusammenstößt, muß gefaßt sein auf einen zweiten Zusammenstoß. Auf einen Zusammenstoß mit denen, die ihn noch immer für eine Gestalt von der Unantastbarkeit eines Heiligen halten. Es ist nicht einmal notwendig, daß sie berauscht sind von ihm. Der Unantastbarkeitsglaube meldet sich auch in Verbindung mit einer Stellung zu Nietzsche, die von einer kritiklosen Bewunderung in jedem Falle verschieden sein will. In einer Fragmentenfolge «Zwischen den Zeiten», die nach unserem Zusammenbruch der Selbstbesinnung hat dienen sollen, bin ich mit Nietzsche zusammengestoßen. Ich habe ihn und erst recht seine unüberwachten Nachläufer mitverantwortlich gemacht für das Antichristentum, das sich in den Hitlerjahren hat austoben dürfen, und für die Niederlagen des deutschen Geistes, die wir in diesem Feldzug erlitten haben. Ich habe ihn auch mitverantwortlich gemacht für eine Heroisierung des Krieges, die zu allem fähig ist, auch zu einer heillosen Diffamierung der Gesinnungen und der Werke des Friedens. Es scheint mir auch jetzt noch, daß ich mich so ausgedrückt habe, daß ich von meiner Kritik nichts zurücknehmen kann. In meinen Fragmenten ist folgendes gesagt: «Wie man auch zum Kriege stehe, es sollte nicht bestritten werden, daß auch der Krieg, wenn er einmal entfesselt ist, große Dinge hervorrufen kann. Heldentum ist Heldentum. Heldenmut ist Heldenmut. Jedes Volk, ob siegreich oder 3

besiegt, ist es seinen Tapferen schuldig, daß ihnen nichts von der Ehre entzogen wird, deren der Tapfere würdig ist, es sei denn, daß er sich selbst entehrt hat durch schändliche Dinge, denen er nicht widerstanden hat. Aber nie wieder sollte es möglich sein, daß jemand unter uns sich ungestraft erdreistet, mit Nietzsche zu sagen, daß der Krieg mehr große Dinge getan hat als die Gottes-, die Menschen- und Nächstenliebe». Man braucht nicht ein Nietzschekenner zu sein, um den Text zu erraten, an den ich mich in den letzten Worten angelehnt habe. «Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.» Auf diese Offenbarung folgt unmittelbar ein ungewöhnlicher Angriff auf die Nächstenliebe mit dem Rüstzeug des Krieges. «Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verungückten.» Wie ist es verwirrend ausgedrückt! Wie kann man die Nächstenliebe so diffamieren, daß man sie, um sie erschlagen zu können, einem Mitleiden gleichstellt, das so eingeführt ist, daß niemand daran zweifeln kann, daß seine Aktivität sich darauf beschränkt, daß es die Tränendrüsen in Funktion setzt! Diese Art von Rhetorik ist ein Gedankengift. Als ob es nicht eine Tapferkeit gäbe, und eine Tapferkeit von der entschiedensten Art, auf dem Grunde der Nächstenliebe! Und nur auf diesem festen Grunde. Dies soll kein Nietzsche uns ausreden dürfen. Daß er es dennoch versucht hat, ist eine Herausforderung, für die er zur Rede gestellt werden soll. Wer es nicht weiß, dem sei es gesagt, daß diese Sprüche im «Zarathustra» stehen, im ersten Buch, in dem Teilstück «Vom Krieg und Kriegsvolke». Es ist dasselbe Stück, in dem ein paar Zeilen zuvor gesagt ist: «Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.» Es ist dasselbe Stück, in dem ein 4

paar Zeilen später zu lesen ist: «Auflehnungdas ist die Vornehmheit am Sklaven. Eure Vornehmheit sei Gehorsam!» Es.liegt nicht an mir, wenn jemand die Stimme des Dritten Reiches zu hören glaubt. Aber ich habe zur Nächstenliebe die Gottes- und Menschenliebe hinzugefügt. Also ist Nietzsche entstellt worden? Im deutschen Raum gibt es immer noch Stimmen, die eine solche Frage für angezeigt halten. Es wird mir erlaubt sein, die Gegenfrage zu stellen: Darf man die Gottes- und Menschenliebe übergehen, wenn man Nietzsche nicht nur zitieren, sondern ihn so zeigen will, daß er mit seiner Botschaft vor uns steht? Wie muß diese Botschaft verwirrend sein, wenn man seinen heillosen Kampf gegen die Gottes- und Menschenliebe jetzt um jeden Preis aus ihr herausnehmen will! Es stehe jeder zur Gottesfrage, wie er es vor sich selber verantworten kann. Ich habe niemandem etwas vorzuschreiben, am wenigsten in diesem Falle. Aber die Art, in der Zarathustra mit seiner Gottlosigkeit kokettiert, ist ein Hohn auf die Gottesliebe, gegen den man sich auflehnen darf, und erst recht nach den Greueln, in denen dieser Hohn sich unter dem Hitlertum ausgetobt hat. Es stehe jeder zur Menschenliebe, wie sein Herz es ihm vorschreibt oder sein Egoismus es ihm erlaubt. Aber Nietzsches Rezepte sind ein Hohn auf die Menschenliebe, der durch nichts zu entschuldigen ist. Es beklage sich niemand darüber, daß er zur Verantwortung gezogen wird, wenn er von diesen Rezepten Gebrauch macht. Und es rechne niemand damit, daß er gelinder beurteilt wird, als er beurteilt zu werden verdient. Was Nietzsche gegen die Menschenliebe gesagt hat, soll ihm nicht verziehen werden, und erst recht nicht, nachdem wir mit seinen Rezepten in die Abgründe des Hitlertums geraten sind. Man prüfe Nietzsches Ärzte-Moral, von der in die folgenden Fragmente ein Probestück eingeschaltet ist. Es ist nicht das einzige 5

Probestück. Zu dieser Moral hat er mehr als einmal die unverantwortlichsten Dinge gesagt. Also darf Nietzsche zur Rede gestellt werden? Es scheint mir, daß der Zeitpunkt gekommen ist, der uns dies abfordert. Es scheint mir, daß es auf gar keine Art zu verantworten ist, daß Nietzsche im deutschen Raum noch länger so hingenommen wird, wie er im allgemeinen Falle hingenommen worden ist, und bis zum Ende aller Dinge, die von ihm oder in seinem Namen hochgezüchtet worden sind. Nietzsche hat vor niemandem Halt gemacht. Nun wohl! Dann kann es nicht unerlaubt sein, daß auch vor ihm nicht Halt gemacht wird. Nietzsche hat den Mut auf den Leuchter gestellt. Nun wohl! Aber dann muß dieser Mut sich auch zeigen dürfen in einer Haltung und Art, die sich gegen ihn wendet, und mit der Entschiedenheit, die von jedem gefordert wird, der als furchtlos gelten soll. Wie man auch zu Nietzsche stehe, in jedem Falle ist er ein Mensch gewesen, den man nicht über sich ergehen lassen kann, oder man ist eine Null, also von denen, die sich nicht beklagen dürfen, wenn sie nicht mitgezählt werden. Es ist von dem Stärksten an Nietzsche, daß er dies erzwingt. H~rdurch ist er in jedem Falle in einem denkwürdigen Sinne hervorgehoben und ausgezeichnet auf eine Art, die niemand antasten sollte. In den folgenden Blättern ist angedeutet, wie Nietzscl1e zur Rede gestellt werden kann. Es wird erreicht sein, was erreicht werden sollte, wenn anerkannt wird, daß es der Mühe wert ist, daß Nietzsche auf dieser Stufe zur Rede gestellt wird. Es soll niemand berechtigt sein, aus der Kritik des Nietzscheschen Antichristentums zu schließen, daß der Verfasser der Fragmente «Zwischen den Zeiten» kritiklos zu unseren Kirchen steht. Was unsere Kirchen, mit allen Vorbehalten, unter den schwersten Bedingungen im Wi6

derstehen geleistet haben, sollte in gar keinem Falle vergessen werden, am wenigsten von denen, deren Anteil a.n diesen Kirchen sich in der Anteilslosigkeit oder in der Entdeckung von Schönheitsfehlern erschöpft. Aber die Frage in Bezug auf der deutschen Kollektiv-Verantwortlichkeit die Hitlerjahre! Man erlaube mir, daß ich hier wenigstens hindeute auf das, was ich zu diesem Problemknoten gesagt habe in .einer Betrachtung «Zur deutschen Kollektiv-Verantwortlichkeit», die in den «Frankfurter Heften» (2, 194.7, 357-373) erschienen ist; denn diese Frage ist schon das erste Thema meiner zwischenzeitlichen Fragmente gewesen. Es scheint mir, daß meine Auffassung in dieser neuen Gestalt auf eine Form gebracht worden ist, von der man Kenntnis nehmen sollte auch dann, wenn man mir nicht folgen kann. Ich habe nicht hindern können, daß in dieser Betrachtung auch über die Haltung unserer Kirchen einiges gesagt ist, was auf eine erkennbare Art von einer kritiklosen Bewunderung verschieden ist. Es ist mir schwer genug geworden; aber wir sind nicht gefragt, wie schwer es uns wird, wenn wir vor Wahrheitsfragen gestellt sind. Ich werde noch etwas hinzufügen dürfen, was nicht ungesagt bleiben soll. In einem ehrlich gemeinten erbaulichen Schrüttum stößt man immer wieder einmal auf den Satz, daß wir nur zu den Kirchenvätern zurückzukehren brauchen, um uns zu integrieren, und ein für allemal. Man Roll niemandem seinen Glauben nehmen, wenn es ein kindlicher Glaube ist. Man scheue sich nicht, sich ehrlich zu fragen, ob man, mit der Gesinnung, die sich in diesem Glauben ausdrückt, nicht immer noch etwas besser beraten ist als mit den Dionysos-Phantasien des späten Nietzsche. Wer zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu wählen hat, sollte sich vor niemandem entschuldigen müssen, wenn er sich für die Kirchenväter entscheidet. Es ist viel mehr aus ihnen herauszuholen, als denen bekannt ist, die sie nie in den Händen gehabt, folglich erst recht nie gelesen haben. 7

Aber das Kindliche soll man «kindlich» nennen, und niemandem zu Liebe sollte man zulassen, daß es das Maß aller Dinge wird. Wir werden überhaupt nicht an eine Weltleitung glauben oder an eine Weltleitung, die in gar keinem Falle ihre Hand nur bei den Kindern und den Kirchenvätern im Spiel gehabt hat. Das vorausgesetzte Dilemma ist ein Phantom. Was uns abgefordert wird, ist ein «Neues Leben», also etwas, was sich gar nicht vergleichen läßt mit irgend einem Resultat, das durch irgend eine Rückkehr oder Heimkehr erzielt werden kann. Aber in gar keinem Falle werden die dionysischen Zustände des späten Nietzsche - und an ihnen entscheidet sich alles - in dieses neue Leben eingehen dürfen in irgend einer Gestalt, sondern dieses Leben wird uns versagt sein, oder es wird erkämpft werden in einer Kampfstellung gegen diesen Nietzsche, die sich durch niemanden einschüchtern und durch nichts verwirren läßt. · Es ist noch niemand dadurch zu Schaden gekommen, daß er seine Existenz unter den Schutz des heiligen Geistes gestellt hat. Nun wohl! Aber was ist der heilige Geist? Karl Barth, der theologische Führer, der bei weitem nicht nur den Theologen etwas zu sagen hat, ist nicht müde geworden, uns einzuschärfen, daß der heilige Geist ein Geist der unverdrossenen Nüchternheit ist, also ein Todfeind jeder unüberwachten Romantik, und ein Geist, der überall da gegenwärtig ist, wo man, ohne an sich selbst zu ersticken, bereit ist, Irrwege als Irrwege anzuerkennen und umzukehren, bevor es zu spät ist. Es scheint mir, daß man nicht einmal wissen muß, was der standfeste Mann auf der Lehrkanzel in Basel Gutes getan hat für uns, um ihn für einen von unsern besten Freunden zu halten. An seiner Auslegung des heiligen Geistes sollte es für jeden erkennbar sein. Der Glaube an diesen heiligen Geist, mit allem, was er uns auferlegt, sollte das Rüstzeug sein, das uns verbindet mit allen, die guten Willens sind. 8

Die folgenden Blätter sind schon im Frühjahr dieses Jahres eingereicht worden. Es ist eine Folge der Bedingungen, mit denen wir zu rechnen haben, daß sie erst jetzt erscheinen können. Münster i. W., im Dezember 1947. Der Verfasser.

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I Es ist niemand genötigt, sich als ein Führer geltend zu machen. Aber jeder, der glaubt, daß er hierzu berechtigt ist, muß es sich gefallen lassen, daß er an diesem Anspruch geprüft wird. Niemand ist ausgeschlossen. Auch Nietzsche nicht. Und Nietzsche weniger als irgendein anderer, der als ein Heilbringer gelten will; denn mit einem Selbstgefühl ohnegleichen hat Nietzsche sich selbst zu einem Heilbringer ernannt.

" In den zwölf Jahren der Diktatur, der das deutsche Volk sich gebeugt hat, ist das Heil dieses Heilbringers ein Dogma gewesen, das niemand hat antasten dürfen, oder er mußte damit rechnen, daß er selbst angetastet wurde, und auf eine Art, die für ihn sehr fatal werden konnte.

" Es hat sich noch Schlimmeres zugetragen im Raum der Urteilsbildung um Nietzsche. Die Kniefälligkeit, mit der ihm gehuldigt worden ist, ist nirgends aufdringlicher gewesen als dort, wo man in gar keinem Falle sich darüber täuschen konnte, wie er mißbraucht worden war. Die Charaktere, die dies nicht mitgemacht, und erst recht die Charaktere, die protestiert haben, auf eine beispielhafte entschiedene Art, haben dagegen nicht aufkommen können. 11

Unentschuldbares ist geschehen; aber auch gegen das Unentschuldbare soll man nicht ungerecht sein. Es sollte nicht vergessen werden, wieviel die zuständige Nietzschekritik schon vor 1933 versäumt hat. Wer hat überhaupt den Mut gehabt, diesen Nietzsche einmal beim Wort zu nehmen und uns ehrlich zu sagen, was man in diesem Falle riskiert! Man hat es nicht für rentabel gehalten. Nietzsche war an der Tagesordnung. Man hat nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Man hat es für angemessener gehalten, sich hemmungslos in ihn zu vertiefen, ihn zu idealisieren, zu heroisieren und ihn schließlich sogar auf den Götterberg der mythischen Gestalten emporzuheben .

• Es hat nicht an denkwürdigen Ausnahmen gefehlt. Aber aus Ursachen, die noch nicht aufgeklärt sind, sind diese Ausnahmen nicht wirksam geworden. In anderen Fällen und in der Normalform konnten sie deshalb nicht wirksam werden, weil Standort und Horizont für die erstrebte Wirkung nicht ausreichten. Mit Katechismen ist Nietzsche nicht umzuwerfen, und wenn sie noch so erprobt sind. Und Schreckpistolen sind eben so ungeeignet für eine Gegenwirkung von einer merklichen Art.

" Der heillose Erdrutsch des Hitlertums, mit dem Grauen, das sich durch keine Rhetorik hat aufhalten lassen, hat auch den Mythenstein um Nietzsche in die Tiefe gerissen. Es sollte der Zeitpunkt gekommen sein, in dem auch die unzugänglichsten Fanatiker solcher Mythensteine bereit sind anzuerkennen, daß die Frage nicht länger zurückgestaut werden kann, wie nach einer Katastrophe von dieser 12

Größenordnung über Nietzsches Anspruch auf den Rang eines Heilbringers zu urteilen ist.

II Nietzsche ist 1844 geboren worden. Fast genau ein Jahrhundert nach seiner Geburt ist das mit seinen Kampfmitteln planmäßig aufgehetzte deutsche Volk auf eine heillose Art zerschlagen worden. Für diese Kampfmittel ist er verantwortlich. Er ist es auch dann, wenn diese Kampfmittel schändlich mißbraucht worden sind. Er ist es auch dann, wenn er turmhoch über denen gestanden hat, die diese Kampfmittel mißbraucht haben.

* Und haben sie sie wirklich in jedem Falle mißbraucht? Man prüfe Nietzsches «Moral für Ärzte». Man wird im höchsten Grade ersch.üttert sein.

" In Nietzsches medizinischer Dunkelkammer stößt man auf Rezepte, die nur liquidiert werden durften, und es mußte genau so kommen, wie es gekommen ist. Die grauenvollsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten nicht ausbleiben.

" Im «Antichrist» stößt man auf zwei Maximen, die für eine Euthanasiezentrale verfaßt sein könnten. «Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz 13

unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen». «Das Mitleiden ... erhält, was zum Untergang reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens ... Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen - das gehört zu uns, das ist unsere Art Menschenliebe.»

* Es darf in keinem Fall unterdrückt werden, daß diese Forderungen zu einer Zeit formuliert worden sind, die durch die Schatten eines unaufhaltsam heranrückenden geistigen Zusammenbruchs abgeschirmt ist gegen den Verantwortlichkeitsgrad, der sich in jedem andern Falle ergeben würde. Aber auch durch diese Schatten werden sie nicht zum Verschwinden gebracht; denn sie sind vorbereitet durch das, was seit dem «Zarathustra» zu Nietzsches Kampfmitteln gehört, und sie stehen nicht isoliert, sondern in einem Zusammenhange, der von Geistesblitzen in Nietzsches Art noch so unwidersprechlich erhellt ist, daß man die Zerrüttung schon voraussetzen muß, um sie zu seiner Entlastung heranziehen zu können.

III Im Rausch des Größenwahns hat Nietzsche von sich selbst gesagt: «Ich bin Dynamit». Es trifft zu. Er hat das Pulver erfunden, das, in fremden, nicht in seinen Händen, uns alle in die Luft gesprengt hat.

* Er hat sich wie ein Seher des Hitlerkrieges begeistert für Kriege, die für Weltanschauungen geführt werden. 14

Man wird noch etwas genauer sein müssen. Er hat sich für Kriege begeistert, die für die Weltanschauung des Nietzscheschen Herrenmenschentums geführt werden. Man höre ihn selbst. Schon in der «Fröhlichen Wissenschaft» läßt er sich also vernehmen: «Ich begrüße alle Anzeichen dafür, daß ein männlicheres, kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird. Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nötig haben wird - jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen . . ., Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, in einem wie im anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, furchtbarere Menschen, glücklichere Menschen.» Es wird erlaubt sein, zu sagen, daß es gemütsbewegend ist, mit welchem Genauigkeitsgrade die Grundzüge der Hitlerform des deutschen Menschen in dieser Vision vorausgesehen sind. Es wird erlaubt sein, zu sagen, daß es gemütsbewegend ist, mit welchem Genauigkeitsgrade das Hitlertum diese Vision realisiert hat. Die «Fröhliche Wissenschaft» liegt unmittelbar vor dem «Zarathustra». Sie führt an den «Zarathustra» heran.

IV Es ist bekannt, wie Nietzsche von diesem Zeitpunkt an mit dem Kriege gespielt hat. Es ist eben so bekannt, wie er von da an die Menschlic}Jkeit mißhandelt hat. Er hat sie so an die Schwächlichkeit oder, in seiner eigenen Sprache, an das Regiment der Mißratenen herangerückt, daß man 15

sich über die heillosesten Verwirrungen in den Köpfen von Unberufenen nicht wundern darf. Und er hat noch anderes auf dem Gewissen. Er hat das Große mit dem Grausamen, das Vornehme mit dem Harten, das Starke mit dem Raubtierhaften immer wieder einmal so verkettet, daß niemand berechtigt ist zu sagen, daß nur ein unentschuldbarer böser Wille das aus ihm herausgeholt hat, was in den Hitlerjahren aus ihm herausgeholt worden ist: das Grausame, das Harte, das Raubtierhafte nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinreichende Bedingung für das Große, das Vornehme, das Starke und Kraftvolle .

• Es stehe fest, daß alles Heillose, alles Irreparable, was unter seinen Schutz gestellt worden ist, auch ohne ihn geschehen sein würde. Es genügt, daß es überhaupt unter diesen Schutz hat gestellt werden können, um ihn so zu belasten, daß seine Stichworte, seine Maximen sich zu einer schweren Anklage gegen ihn verdichten .

• Herren und Knechte, Befehlende und Gehorchende, Göttersöhne und Kreaturen: auf diese Kategorien zieht sich alles bei Nietzsche zusammen, was unter den Begriff des Menschlichen fällt, und mit der Befugnis zu allem für die Herrenmenschen, für die Befehlenden, für die geborenen Göttersöhne. Es braucht nicht mehr diskutiert zu werden, was zu erwarten ist, wenn eine solche Befugnis in Kraft gesetzt wird. Das Experiment liegt hinter uns. Es hat uns nicht nur die politische Existenz, sondern auch die Ehre des deutschen Geistes gekostet. 16

V Es stehe fest, daß es einen Verfall der Instinkte gibt, der als ein Kennzeichen von Entartung angesehen werden darf. Es stehe eben so fest, daß Nietzsche berechtigt gewesen ist, dem Selbstgefühl seines Zeitalters das Gespenst dieser Instinktlosigkeit vorzurücken. Es sei unbestritten, daß er mit einer ehrlichen Sorge um die Zukunft des abendländischen Menschentums diesem Gespenst zu Leibe gerückt ist. Aber das Exzentrische in seinem Kampf gegen dieses Gespenst belastet ihn auf eine unentschuldbare Art.

* Schlimmer als jede Instinktlosigkeit ist Nietzsches kompakte Verherrlichung alles Animalischen, alles Triebhaften, aller ungebändigten Tendenzen, mit der wiederkehrenden Unterstreichung der boshaften und bösartigen. Schlimmer als jede Erschöpfung im Bereich des Vitalen sind die GleichNietzscheschen Reaktionen: die herausfordernde setzung des Unkontrollierten mit dem Unschuldigen, der Tamtam um die großen Frevler, um die notorischen Schurken und Schandflecke der Menschheit, das unverantwortliche Kokettieren mit dem Bilde von der prachtvollen, lüstern schweifenden blonden Bestie, und nicht zuletzt der heillose Mißbrauch des Wortes «Dekadenz». «Dekadent» heißt schließlich alles, was nicht nur von Nietzsche verder schieden ist, sondern auch von einem Raubrittertum brutalsten Prägung, die je verherrlicht worden ist.

VI Es stehe fest, daß Nietzsche in einem Zeitalter, in welchem der Sinn für das Kraftvolle durch mächtige Gegen-

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wirkungen erschüttert war, das Kraftvolle mit neuen Augen gesehen hat. Aber auch in diesem Falle hat er einen Defekt, wenn man ihm diese Voraussetzung zugibt, durch etwas Schlimmeres ersetzt. Er hat das Kraftvolle mit dem Verheerenden, mit dem Wahl- und Gewissenlosen, mit dem Unbarmherzigen und hemmungslos auf sich selbst Konzentrierten immer wieder einmal so identifiziert, daß es nur noch am Heillosen gespiegelt werden kann.

* Es stehe fest, daß alles, was uns nicht umbringt, uns stärker macht. Es stehe eben so fest, daß eine gewisse Härte gegen sich selbst und gegen andere eine notwendige Bedingung dafür ist, daß das Ungemeine aus der Welt nicht verschwindet; und nicht nur für diesen besonderen Fall, sondern auch dafür, daß das Normale nicht auf eine unerträgliche Art mit dem Mittelmäßigen zusammenfällt. Aber Nietzsches «Härte» ist so definiert, daß sie sich immer wieder einmal mit Selbstgefühl in die Nähe der Grausamkeit stellt oder mit der Grausamkeit spielt. Es ist eine Härte, die erst im Rausch des Vernichtens sich ihrer selbst so bewußt wird, wie Nietzsche es fordert.

" Nietzsche kommentiert sich selbst. Wenn er sagt: «Gelobt sei, was hart macht!», so meint er dasselbe, wie wenn er dekretiert, daß man nachstoßen soll, wo man gewahr wird, daß etwas fallen will. Nun wohl! Zwölf Jahre hindurch ist das deutsche Volk nach dieser Methode regiert worden. Es ist so lange auf diesem Exerzierplatz «geschult» worden, bis die apokalyptischen Reiter alles überrannt haben, was in Äonen nicht untergehen sollte. 18

Der Unverantwortliche an der Spitze des deutschen Volkes hat es gewagt, die letzten Szenen unseres grauenvollen Unterganges vor seinem Rüstungsminister zu rechtfertigen mit der Begründung: «Das deutsche Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampfe übrig bleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen; denn die Guten sind gefallen.» Niemand wird sich unterstehen, Nietzsche für die Verworfenheit dieses Menschen verantwortlich zu machen. Aber Nietzsche hätte ebenso urteilen oder sich selber aufgeben müssen. Hierüber darf man sich nicht täuschen, oder man weiß nicht, wo Nietzsche zu finden ist

VII Nietzsche ist so gefeiert worden, daß es längst überzählig geworden ist, ihn noch einmal zu feiern. Man ist ihm, wer weiß wie oft, nachgeklettert, und um so verwegener, je weniger man dabei zu riskieren hatte; denn auf dem Papier ist vieles möglich, was sich als undiskutierbar enthüllt, sobald es im Ernst auf die Probe gestellt wird. Aber die Gerechtigkeit ist das Fundament jeder standfesten Kritik. Die Gerechtigkeit fordert, daß in gar keinem Fall übersehen oder verdunkelt wird, was wir ihm schuldig geworden sind.

Im Kampf gegen das Philistertum und gegen die Sattheit ist Nietzsche ein Schild- und Weggenosse, auf den man sich immer wieder einmal besinnen soll. Und nicht nur in diesen beiden Fällen, sondern auch im Kampf gegen den 19

Sicherheitsbedarf, der zur Folge hat, daß man sich durch jede Drohung einschüchtern läßt, vor jeder persönlichen Gefährdung zurückweicht und höchstens auf dem Aktienmarkt etwas riskiert.

* Es sollte unbestritten sein, daß an diesen Zügen ein Bürgertum erkennbar ist, das mit allen seinen Tugenden in gar keinem Falle als musterhaft gelten sollte. Nietzsche hat dem Bürgertum seines Zeitalters die Wahrheiten gesagt, für die es reif geworden war; und er hat diese Wahrheiten so formuliert, daß sie auch heute noch nicht übers holt sind.

* Es sollte auch nicht vergessen werden, wie er sich, mit dem ungewöhnlichen Mut, den keine Kritik ihm absprechen kann, den Massen entgegengestellt hat, die sich zu einem mächtigen Komplement dieses Bürgertums emporgearbeitet haben. Nietzsche ist der erste gewesen, der das Gespenst gesehen hat, das diese Massen begleitet. Es ist das Gespenst des Massenmenschen. Es ist das Versinken im Massenmenschentum. Auf dieses Gespenst hat er hingezeigt, vor diesem Versinken hat er gewarnt. Er hat den Mut gehabt, dieses Versinken bei seinem Namen zu nennen. Er hat es gleichgesetzt mit dem Untergang jeder höheren Kultur. Dies ist nun zwar sehr unpopulär; aber denkwürdig ist es in jedem Falle, und man wundere sich über nichts, wenn es überhört, übersehen oder vergessen wird.

Aber indem man dies sagt, sollte man nicht unterlassen hinzuzufügen, was nicht ungesagt bleiben darf. Man sollte 20

klar und deutlich sagen, daß Nietzsche sich übernommen hat. Es stehe fest, daß im Volk auch die Masse steckt. Identifiziert werden darf es in keinem Falle · mit ihr. Nietzsche hat sich zu dieser Identifizierung hinreißen lassen. Er spricht von den Vielzuvielen, er spricht von den überflüssigen, er spricht in unüberwachten Augenblicken sogar auf eine unentschuldbare Art vom Gesindel, wenn er vom Volke spricht. Hiergegen wehre man sich, solange es Tag ist, und mit der Substanz eines Volksgefühls, das sich durch keinen Nietzsche verwirren läßt.

" Ein Menschentum, dessen höchste Ausstrahlung ein hochmütiger Bildungsdünkel ist, ist eben so reif für die schärfste Kritik wie irgendein Massenmenschentum, in welchem alles zugrunde geht, was sich um eine höhere Stufe bemüht und an große Menschen und Dinge glaubt. Es sollte nicht vergessen werden, wie Nietzsche sich gegen den Bildungsdünkel gestellt hat. Es ist immer wieder einmal erfrischend, sich daran zu erinnern, wie er dem Bildungsdünkel begegnet ist. Er hat ihn enthüllt als das, was er ist: als eine Protuberanz, durch die man sich von den Ziegenhirten unterscheidet.

* Nietzsches Kritik des deutschen Wesens ist nicht frei von Härten und von heillosen Unbilligkeiten; aber man kann von der Meinung sein, daß sie noch nicht ausgeschöpft ist. Die Konstitutionsfehler des deutschen Volkscharakters werden unter der scharfen Lupe, unter die sie von Nietzsche genommen worden sind, immer wieder einmal so sichtbar, daß man in gar keinem Falle den Vorhang vor ihnen sollte fallen lassen.

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Wie man auch zu Nietzsche stehe, es gibt eine Haltung, die niemand ihm absprechen kann: Er hat nichts billiger haben wollen, als es auf eine ehrliche Art zu haben ist. Mit dieser Haltung rückt er an Lessing heran.

* Und wie von Lessing lernt man von ihm, oder man sollte es von ihm lernen, daß die Tapferkeit eine Qualität ist in jeder möglichen Welt.

* Unzertrennlich von einer echten Begegnung mit Nietzsche ist sein erhellender Blick in die Fundamente jeder geistigen Kultur. Nichts wird deutlicher an Nietzsche, als daß diese Fundamente nicht Denknotwendigkeiten sind, sondern Denkgewöhnungen. Wer es besser wissen will, irrt. Es gibt wenige Punkte, an denen hartnäckiger geirrt wird.

* Es ist sehr unbequem, daß es so ist; aber man denke an Nietzsches Umwertungsversuch. Er ist überhaupt erst dadurch möglich geworden, daß die Grundlagen jeder geistigen Kultur im Bereich der Denkgewöhnungen zu suchen sind und nicht im Bereich der Denknotwendigkeiten. Jede Kritik dieses Versuches hat dies zu beherzigen, oder sie wird nicht ehrlich sein.

Um sich auf eine ehrliche Art gegen Nietzsche zu stellen, muß man den Mut haben, ein anderer Mensch zu sein als er. 22

Man muß den Mut haben, andere Ziele zu wollen: Ziele, die nicht wie die seinigen im Abgründigen liegen oder auf steilsten Höhen am Rande des Abgründigen. Hierzu kann niemand gezwungen werden. Aber man kann sie wollen, und unter Einsetzung seiner Person, wenn man das Talent dazu hat. Ob man das Rechte gewollt hat oder nicht, entscheidet kein irdisches Schiedsgericht. Die Entscheidung liegt in den Händen der Weltleitung. Am Jüngsten Tage wird es entschieden werden. Bis dahin liegt alles im Bereich des Vorläufigen, folglich des Umkämpften, folglich des niemals zur Ruhe Kommenden.

* Wer dies nicht ertragen kann, flüchte sich zu den Dogmatikern und suche bei ihnen den Halt, den er braucht, um existieren zu können, oder den Schutz, den sie ihm gegen Nietzsche gewähren. Aber von Nietzsche lasse er seine Hand. Er wird ihn in gar keinem Falle bezwingen.

VIII Auch Nietzsche hat eine Sonnenseite, der man nichts schuldig bleiben soll. Aber niemand befreit uns von dem, was wir uns selber schuldig sind. Es ist die Kritik, zu der wir aufgerufen sind. Aufgerufen durch eine Katastrophe, die auf eine unabweisliche Art zu einer heillosen Katastrophe für seine eigene Verkündigung geworden ist.

* Es ist unantastbar, daß Nietzsche ein Mensch gewesen ist, der alles, was er geschrieben hat, mit seinem Blut ge23

schrieben hat. Aber mit welch einem Blut! Man täusche sich nicht. Es ist das Blut eines Ekstatikers. Es ist das Blut eines heillos exzentrischen Menschen, von dem Augenblick an, in dem er sich als reif zum Bildner des Menschengeschlechts empfunden hat. Es ist das Blut eines Menschen, der von diesem Augenblick an die Herrschaft über sich selber verloren hat.

• Es ist unwidersprechlich, daß Nietzsche die Welt hat erhellen wollen. Aber das Licht, das er aussendet, ist so grell wie das Licht der unabgeblendeten Scheinwerfer, die auf einer sonst unerleuchteten Bahn im scharfen oder im schärfsten Tempo eines motorisierten Fahrzeugs gegen den schutzlosen Fußgänger heranrollen. Wer täglich mit solchen Begegnungen zu rechnen hat, weiß, wie fatal er geblendet wird und wie er sich anstrengen muß, um zu verhüten, daß ihm ein Unheil zustößt .

• Nichts ist greifbarer an Nietzsche als das Faszinierende. Es ist von der Größenordnung, daß es alles erklärt, was sonst als rätselhaft gelten müßte. Es erstreckt sich nicht nur auf seine Exaltationen, sondern auch auf seine Ekstasen und überhaupt auf die Supraleitfähigkeit seiner Sensibilität für alles überschwengliche. Es erstreckt sich zuletzt auch auf seine schlimmsten Exzesse .

• Um so besser für ihn? Es kommt darauf an. Es wird mindestens eben so zulässig sein, daß man sagt: Um so 24

schlimmer für die, die dem Faszinierenden nicht widerstehen können, und um so besser für die, die gegen das Faszinierende ein für allemal abgeschirmt sind! Es werden dieselben Menschen sein, die sich nicht hypnotisieren lassen. Durch niemanden. Auch durch Nietzsche nicht.

" Wenn man, um als groß zu gelten, nicht mehr sein muß als ein Mensch, der eine ungewöhnliche Spur hinterläßt, so ist Nietzsche in jedem Falle ein Mensch von einer ungewöhnlichen Größenordnung gewesen. Wenn man dagegen - von einem großen Menschen fordert, daß er eine Spur hinterläßt, der man sich anvertrauen kann, so schrumpft seine Größe so zusammen, daß es erlaubt ist, von ihrem Verschwinden zu sprechen.

IX Kann Nietzsche noch ein Erzieher sein für ein Geschlecht, das sich unter unsäglichen Mühen emporarbeiten muß aus den heillosen Trümmern, in denen alles versunken ist, was er in seinen Dithyramben verherrlicht hat? Es kommt darauf an, was man von einem Erzieher fordert.

" Wenn man von einem Erzieher nicht mehr verlangt, als von einem Menschen zu fordern ist, von dem man etwas lernen kann, so wird Nietzsche als Erzieher erhalten bleiben; denn man kann in jedem Fall etwas lernen von ihm, und wesentlich mehr, als man von dem ersten, dem Besten wird lernen können.

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Mit seinem Kampf gegen alles, was billig zu haben ist, wird Nietzsche ein Vorbild sein, das wir zu ehren haben.

Mit seinem Gefühl für die Tapferkeit wird Nietzsche auch in Zukunft zu denen gehören, die bei jeder Begegnung etwas zu sagen haben.

* Auf einer der vielen einsamen Höhen, die Nietzsche erklettert hat, stößt man auf eine Tafel, die uns erhalten bleiben soll. Auf dieser Tafel stehen die Worte: «Ihr sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein wächst der Mensch in die Höhe.» Dies ist auch jetzt noch verbindlich, und jetzt erst recht. Es darf unserer Jugend ans Herz gelegt, es darf ihr ins Herz geschrieben werden.

* In seinen letzten Jahren hat Nietzsche immer wieder einmal die Gestalt des vornehmen Menschen umkreist. Nicht alles, was er zu diesem Menschen gesagt hat, ist von der Art der verbindlichen Dinge. Bei weitem nicht! Aber einiges ist ihm so gelungen, daß es jedem vor Augen stehen sollte.

* Das Schönste, was Nietzsche zur Vornehmheit gesagt hat, ist ausgedrückt in der Forderung, daß der vornehme Mensch nie daran denken sollte, seine Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen, daß er die eigene Verantwortlichkeit an niemanden abtreten und mit niemandem 26

teilen, daß er die Ausübung dessen, wodurch er vor andern hervorgehoben ist, zu seinen Pflichten rechnen sollte.

* An einem ungewöhnlichen Menschen sind auch die Fehler der Mühe wert, die an ihm zu erkennen sind. Es sollte unbestritten sein, daß Nietzsche ein ungewöhnlicher Mensch gewesen ist. Was er durch seine Fehler verschuldet oder mitverschuldet hat, ist von demselben Gewicht wie er selbst. Man lernt an ihm auf eine exemplarische Art oder man sollte es lernen von ihm, was man in gar keinem Falle sein oder wollen darf, wenn man die apokalyptischen «Greuel der Verwüstung» nicht will.

X Aber von einem Erzieher kann mehr gefordert werden als von einem Menschen, von dem etwas Wesentliches zu lernen ist. In jedem Falle von einem guten Erzieher. Wenn man auf diesen Forderungen besteht, so wird Nietzsche als Erzieher verschwinden müssen.

Das erste, was von einem guten Erzieher zu fordern ist, ist dies, daß er selbst erzogen ist. Dies scheint auch Nietzsche gewußt zu haben. Zu Herzen genommen hat er es nicht. Man kann nicht unüberwachter sein als Nietzsche in allen affektvollen Augenblicken. Und was bleibt, seit dem «Zarathustra», von Nietzsche zurück, wenn man die affektvollen Augenblicke streicht? Es ist ehrlich zu sagen, daß der Rest auf ein Nichts zusammenschrumpft. 27

Viele seiner Kernsätze sind so formuliert, daß sie auf eine unvermeidliche Art auf Menschen, die nicht sehr sattelfest sind, wie Rauschgifte wirken. Darf ein guter Erzieher so reden? Er darf es nicht. Dies sollte jedem Erzieher verwehrt sein und dem guten Erzieher erst recht.

Und wie hat Nietzsche sich gehen lassen! Hat er nicht selbst von höchsten Einsichten gesprochen, die unter Umständen wie Verbrechen klingen müssen und sogar wie Verbrechen klingen sollen, wenn sie denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind? Es trifft zu; aber darf ein Erzieher so sprechen? Und erst recht ein guter Erzieher? Darf er sich eine solche Sprache erlauben? Es sollte in gar keinem Falle geduldet werden.

* Und wer sind denn die Vorbestimmten, an welche Nietzsches «Moral für Ärzte» sich wendet? Man sage uns, wo sie zu suchen sind, wenn man sie nicht soll finden dürfen in den nichtswürdigen Vorder- und Hintermännern der heillosen Euthanasiezentralen. Man wird uns die Antwort schuldig bleiben, oder man wird zu Nietzsches Rettung das Fatalste sagen müssen, was zur Rettung eines Erziehers gesagt werden kann. Man wird sagen müssen, daß alles nur literarisch gemeint ist. Dann sind wir im Raum des Artistentums. Er soll den Artisten vorbehalten sein.

* Ein guter Erzieher muß das Gleichgewicht hochhalten. Er muß alles aus den ihm Anvertrauten herausholen, was 28

der Erhaltung des Gleichgewichts dient. Nietzsche ist nie im Gleichgewicht, wo er sich als Erzieher gebärdet. Er verachtet alles, was im Gleichgewicht ist.

" Ein guter Erzieher muß einen festen Standort haben. Nietzsche ist unstet bis an die Grenzen des Tragischen. Er ist immer im Aufbruch. Er hat es selber gesagt, daß er heimatlos ist. Er hat schwer unter diesem Zustand gelitten; aber auch dadurch, daß er an ihm gelitten hat, wird dieser Zustand nicht zum Verschwinden gebracht .

• Von einem guten Erzieher sollte man fordern, daß er von Verkrampfungen frei ist. So frei, daß er es nicht einmal nötig hat, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Hiervon ist Nietzsche weit entfernt. Wieviel Verkrampftes ist in ihm! Selbst sein Lachen ist unnatürlich! Es ist niemals ein herzliches Lachen. Es ist niemals ein Lachen, das einen Menschen entlastet. Es ist ein verkrampftes, ein gnadenloses und immer wieder einmal ein boshaftes, ja ein satanisches Lachen.

• Und was wäre ein guter Erzieher ohne die Art von Besonnenheit, die von einem gerechten Menschen zu fordern ist! Man braucht nicht einmal bis zum guten Erzieher emporzusteigen, um auf dieser Besonnenheit zu bestehen. Man soll sie von jedem Erzieher verlangen.

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Nietzsche ist maßlos in Liebe und Haß. Im Haß noch maßloser als in der Liebe. Man kann nicht weiter als Nietzsche entfernt sein von der Besonnenheit eines gerechten Menschen.

Es stehe jeder zum Christentum, wie er es vor sich verantworten kann; aber in seinem Kampf gegen das Christentum ist Nietzsche über alles hinausgegangen, was in irgendeinem Sinne entschuldbar ist.

Und wie hat er in der Erregung, in unüberwachten Augenblicken von Sokrates, von Platon, von Leibniz, von Kant und selbst von Schopenhauer gesprochen! Es ist unentschuldbar. Es ist unentschuldbar auch dann, wenn man beiläufig von Nietzsche erfährt, daß nicht die Personen getroffen werden sollen, sondern die Geisteshaltungen, die in ihnen repräsentiert sind.

* Ein guter Erzieher ist verantwortlich dafür, daß die großen Menschen und Dinge in seiner Gegenwart auf den Gipfeln erhalten bleiben, von denen niemand sie ungestraft herunterzerrt, auch dann nicht, wenn er darauf besteht, daß auch das Große in gar keinem Falle der gründlichsten Kritik entzogen werden darf. Nietzsche hat alles heruntergezerrt, was er geglaubt hat kritisieren zu müssen.

* Es ist Goethe gewesen, der gesagt hat: «Was fruchtbar ist, allein ist wahr.» Es ist ein Beitrag zur Erhellung des Wahren, der immer wieder einmal zu beherzigen ist. Aber es geht weit hinaus über das, was einer genauen Prüfung 30

standhält. Nietzsche ist für eine Variante dieses Satzes verantwortlich, die also formuliert werden kann: «Was furchtbar ist, allein ist wahr.» Es ist von dem Abwegigsten, was über das Wahre gesagt werden kann. Es sollte niemandem zustoßen, daß er es wagt, einen Menschen mit einer solchen Maxime einen guten Erzieher oder auch nur einen Erzieher zu nennen.

* Von einem guten Erzieher erwarte man, daß er dem Geist in keinem Falle das vorenthält, was des Geistes ist. Nietzsche steht auf der Gegenseite. Er hat in seiner letzten Periode jede Gelegenheit wahrgenommen, um den Geist und die geistigen Dinge so herunterzuzerren, daß er nicht einmal vor dem Schamlosen Halt gemacht hat.

XI Alles Unbegrenzte, und wenn es noch so mächtig ist, ruft früher oder später eine Grundlagenkrisis hervor. Seit dem «Zarathustra» hat Nietzsche überhaupt nur noch das Unbegrenzte gelten lassen. Er hat alles Gemäßigte an die Mittelmäßigkeit abgetreten. Mit sich selbst und der Welt im Frieden zu leben, ist etwas,. was tief unter ihm liegt. Die Fähigkeit, sich mit allem zu verfeinden, ist in seiner letzten Periode für ihn ein Kennzeichen von Vitalität.

* Es wird niemand, auf den es ankommt, im Ernst daran zweifeln, daß die ungefährdete Existenz eines wohlüber• wachten Kindes nicht das Maß aller Dinge ist. Aber die 31

Aufforderung, gefährlich zu leben, ist in jeder Gestalt eine Maxime für Abenteurer und nicht ein Aufruf an einen Menschen, der von einem Abenteurer verschieden sein will. Dies wird auch durch Nietzsche nicht umgestoßen.

Wer wirklich ein gefährdetes Leben zu führen hat, spricht in gar keinem Falle die Sprache, die Nietzsche gesprochen hat. Er führt dieses Leben; aber er prunkt nicht mit ihm, sondern er trägt es wie eine schwere Last; und wenn er noch etwas höher steht, so bittet er den Herrn aller Dinge, daß er ihn an dieser Last nicht zugrunde gehen lasse

* Es ist in gar keinem Falle ein Beweis gegen Nietzsche, daß er mit seinem 'Obermenschentum und mit seinen dionysischen Ekstasen auf der Höhe des Lebens in den Abgrund einer unheilbaren geistigen Umnachtung gestürzt ist. Aber es sollte auch nicht verschleiert werden, was dieser Absturz in jedem Falle bewirkt hat. Niemand kann sagen, daß Nietzsche wenigstens für sich selber gezeigt hat, daß man mit seinen Maximen und Imperativen sich auch in einem Leben, das nicht so zugrunde geht, bis zuletzt auf der Höhe halten kann, auf der es der Mühe wert ist, ein Mensch zu sein.

XII Ein Fall für sich ist der «Zarathustra». Er gilt als das Haupt- und Meisterwerk. Nietzsche selbst hat sein Bestes in ihm gesehen. Hunderttausende haben es nachgesprochen.

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Es sollte niemand daran gehindert werden zu fragen, was der «Zarathustra» eigentlich ist. Ein Lehrbuch ist er in keinem Falle. Die Sprache des «Zarathustra» ist die Sprache der Lyrik, oder sie will es wenigstens sein. Ein Lehrbuch kann nicht in der Sprache der Lyrik verfaßt sein.

* Es kann aber auch nicht ein Probestück und erst recht nicht ein Meisterwerk einer neuen Lyrik sein. Dazu ist er bei weitem zu doktrinär.

* Der «Zarathustra» steht in der Mitte zwischen einem Lehrbuch und einer Dichtung. Er ist eine Art von Lehrgedicht.

* Und ein Lehrgedicht von welchem Gehalt? Drei Punkte genügen, um diesen Gehalt zu erfassen. Als erstes die Predigt vom Übermenschen. Sie tritt an die Stelle des Gottesglaubens. Als zweites die Predigt vom Sinn der Erde. Es bleibt unerhellt, was das ist. Diese Predigt tritt an die Stelle des Jenseitsglaubens. Als drittes die Predigt von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie soll so erschütternd sein, daß man schon an der Schwelle des Übermenschen stehen muß, um sie ertragen zu können. Sie soll mit dieser Anforderung an das Gemüt die höchste Bejahung des Lebens sein. Es bleibt dunkel und ungeklärt, wie sich die ewige Wiederkehr des Gleichen mit den Nietzscheschen Höherpflanzungen bis hinauf zum Übermenschen verträgt. Die Frage wird nicht einmal aufgeworfen, und der Problem33

knoten wird erst recht nicht gelöst. «Zarathustra» gebärdet sich wie ein Hysteriker, indem er die ewige Wiederkehr ausruft.

* Alles übrige ist episodenhaft. Es könnte gestrichen werden, und der Gehalt würde dennoch derselbe sein. Es könnte im umgekehrten Sinne beliebig aus- oder fortgesponnen werden, ohne den Gehalt zu vermehren. Das ganze vierte Buch ist ein solches Gespinst. Es ist ein Nach trag, der in der ursprünglichen Planung gar nicht vorgesehen gewesen ist. Ein Abschluß in irgendeinem erkennbaren Sinne ist auch dieser Nach trag nicht.

* Auf eine unaufhaltsame Art schrumpft der «Zarathustra» zusammen, wenn er auf seinen Gehalt geprüft wird. Wenn man die Vorrede ergänzt durch die Dithyramben über die ewige Wiederkunft des Gleichen, so ist nichts Wichtiges ausgelassen. Es sollte jedem erlaubt sein, sich dazu zu bekennen, daß die Vorrede das Beste vom Ganzen ist. Sie ist in jedem Falle das Stück, in welchem der angeschlagene dichterische Ton am reinsten durchgehalten ist. Es sollte erlaubt sein auszusprechen, daß fast alle übrigen Stücke immer wieder einmal durch Mißtöne entstellt sind.

XIII Es darf zu den rätselhaften Dingen gerechnet werden, daß der «Zarathustra» auch als Kunstwerk bewundert wird. Von einem Kunstwerk, das der Bewunderung würdig 34

ist, sollte man seit Goethe im deutschen Höheres fordern.

Raum etwas

* Ist Zarathustra eine Gestalt? Zarathustra ist ein umständlicher Name für Nietzsche. Und man erfährt nicht einmal, warum.

Bleibt von den Erdentagen dieses Zarathustra irgendeine Spur zurück, die verfolgt werden kann? Es fehlen alle Voraussetzungen dafür. Wenn Zarathustra seine Höhle verläßt, so geht er nicht nur unter die Menschen, sondern er fährt immer wieder einmal über weite Meere; aber nicht ein einziges Mal wird gesagt, wohin, und erst recht nicht, was sich auf diesen Fahrten zugetragen hat. Nichts tritt aus dem Nebelhaften heraus.

* Und was geschieht? Die Frage muß gestellt werden dürfen, und in diesem Falle mit einer besonderen Eindringlichkeit; denn immer wieder ist vom schaffenden Menschen die Rede, immer wieder wird der schaffende Mensch in den höchsten Tönen gepriesen. Aber es geschieht überhaupt nichts, sondern es wird immerfort nur gepredigt. Und wie zusammenhanglos auf weite Strecken! Es ist ausgeschlossen, daß man von einem Gedankengang spricht. Auf weite Strecken ändert sich nichts, wenn die Stücke, aus denen der «Zarathustra» besteht, beliebig permutiert werden. 35

Der «Zarathustra» besteht aus vier Büchern. Nichts ist zufälliger als dies, es sei denn, daß eine Konkurrenz mit den vier Evangelien dahinter steht. Um so fataler für das gefeierte Werk; denn man bemerkt die Absicht, und man ist berechtigt, verstimmt zu sein.

" Aber die dichterische Höhe der Sprache! Es sei unbestritten, daß einiges herrlich schön gelungen ist. Aber wenn man sich ehrlich auf das Meisterliche beschränkt, so kommt man mit wenigen Blättern aus. Was dazwischen liegt, ist schwülstig, barock oder in einem anderen Sinne mißraten. In gar keinem Falle ist es ein Geschenk von der Größenordnung, daß ·man nur noch bewundern darf.

* Und wie fatal ist die Rechtwinkligkeit an Leib und Seele, zu der sich Nietzsche im «Zarathustra» verstiegen hat! Man sollte nicht erst ein Mathematiker sein müssen, um an diesem Nietzsche irre zu werden .

.. Oder ist der «Zarathustra» ein Werk, zu dem überhaupt nichts gesagt werden darf, was von Ja und Amen verschieden ist? Dann stehen wir unter einer Zensur, der nicht einmal ein Kindergarten sich fügen sollte.

XIV

Eine gründliche Überprüfung Nietzsches, nach der deutschen Katastrophe, in die er tief verwickelt ist, ist eine 36

Anforderung, der wir uns nicht entziehen können, oder wir werden mitverantwortlich sein für die Verwirrungen, die ein unüberprüfter Nietzsche immer wieder hervorrufen wird.

Die deutsche Jugend fordert uns an. Sie ist führerlos. Sie ist auf eine abgründige Art um das Heil ihrer Seele betrogen worden. Das Gefühl dieser Jugend für Gut und Böse ist heillos verwirrt, und nicht nur durch den inkomparablen Zusammenbruch der Rassen- und Heldentheologie, die ihr mit Nietzscheschen Eisenhämmern eingestampft worden ist, sondern auch durch den Kampf und die Konkurrenz der weltanschaulichen Tendenzen eines ungeklärten Vierzonensystems. Die Maxime von 1648: «Ouius regio, eius religio» spinnt zum zweiten Mal die verderblichen Netze, welche die freie Selbstbesinnung einfangen. Gesinnungen sind zu Ortsfunktionen geworden: das Schlimmste, was ihnen zustoßen kann. Wir sind es dieser Jugend schuldig, daß wir sie nicht sich selbst überlassen. Wir müssen ihr zu Hilfe kommen, in den Grenzen, die uns gezogen sind. Wir werden sie in jedem Fall über Nietzsche aufklären müssen.

Man dulde nicht länger, daß Nietzsche immer wieder gefeiert wird wie ein Übermensch. Man habe endlich den Mut zu einer entschiedenen Abkehr von ihm. Man fasse endlich einmal zusammen, was in jedem Falle zurückzuweisen ist: die hemmungslose Verherrlichung des Willens zur Macht, das herausfordernde mutwillige Spiel mit dem Bösen, die sinnverwirrende Maxime, gefährlich zu leben, 37

die vulkanischen Explosionen im Kampf gegen alles, was dem Ausgleich oder der Befriedung zu dienen bestimmt ist, die ungezügelte Diffamierung aller geistigen oder politischen Mächte, die sich dem Herrenmenschentum in den Weg stellen, der Demokratie, der Humanität, des Sozialismus, und als Letztes in dieser fatalen Reihe die Ausbrüche gegen das Christentum, die von dem Turbulentesten sind, was man von einem unüberwachten Fanatiker im schlimmsten Falle erwarten darf. Man schütze die Toleranz und das Mitgefühl gegen das Hohngelächter, dem Nietzsche sie preisgegeben hat. Man wehre sich gegen die Methode der dionysischen Exaltationen mit den in ihnen auf gespeicherten Rausch- und Gedankengiften. Man lasse nicht zu, daß die Tugenden des Maßes der Selbstkontrolle, der Einordnung und des Gemeinsinns mit Berufung auf Nietzsche immer wieder einmal zu Verfallssymptomen herabgewürdigt werden. Man schreibe alles Glitzernde ab, und wenn es sich noch so blendend zeigt. Man widerstehe ihm mit der Besonnenheit, die unter dem Schutz der apollinischen Klarheit steht.

XV

Auch Nietzsches Ewigkeitsenthusiasmus sollte niemanden nach sich ziehen. Er ist seltsam verkrampft und unnatürlich. Wer das Verkrampfte oder das Unnatürliche nicht will, sollte sich nicht bestechen lassen. Er sollte sich diesem Enthusiasmus entgegenstellen.

* Nietzsche will die Ewigkeit siebenmal geliebt haben: Man prüfe diese Ewigkeit. Auch die Dithyramben, in denen sie 38

von Nietzsche umworben wird, ändern nicht das geringste daran, daß diese Ewigkeit ein steinernes Herz hat; denn das einzige, was sich zuträgt in ihr, ist die Wiederkehr des Gleichen, mit dem Ton auf der Wiederkehr aller leidvollen, aller trostlosen, aller abgründigen Dinge.

* Man höre stattdessen Kierkegaard. Es ist der Mühe wert, seine Stimme zu hören zu dem, was er über die Ewigkeit sagt. Es lautet so: «Die Ewigkeit hält unerschütterlich daran fest, daß die Barmherzigkeit das Wichtigste ist. Und kein Denker ist so ruhig, so ungestört wie die Ewigkeit.»

* Kierkegaard hat der Ewigkeit ein Denkmal gesetzt, das in gar keinem Falle vergessen werden sollte neben der Ewigkeit mit dem steinernen Herzen, für die sich Nietzsche begeistert hat. Sehe jeder, wo er bleibe! Aber man mute niemandem zu, daß er sich dieser Ewigkeit unterwirft oder daß er sich einschüchtern läßt von denen, die sie gepachtet haben. Die Barmherzigkeit ist wie das Christentum eine mächtige Erscheinung für sich. Sie hat mehr große Dinge getan als alle Nietzscheschen Härten und Grausamkeiten. Dies soll man sich durch niemanden ausreden lassen.

* Und kein Denker so ruhig und ungestört wie die Kierkegaardsche Ewigkeit! So ruhig und so ungestört! Man halte Nietzsche dagegen. Er ist wer weiß wie aufgeregt. Er ist wie ein Wirbelwind, der alles, was er erfaßt, auf eine heillose Art im Kreise herumführt. Man hüte sich vor dem 39

Hochmut, der es riskiert, irgend jemanden anzutasten, der sich auf eine entschiedene Art gegen diesen Wirbelwind wehrt.

* Es gibt eine astronomische Spiegelung, in der sich auf eine bildhafte Art ausdrücken läßt, was von NietzsGhe zu sagen ist. Nietzsche ist ein Komet gewesen. Ein Komet von einer ungewöhnlichen Helligkeit. Ein Komet mit einem ungewöhnlichen Schweif. Aber ein Komet. Man soll ihn in gar keinem Falle mit einem Fixstern und erst recht nicht mit einem Zirkumpolarstern verwechseln.

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