Untersuchungen zur Unschuldsvermutung [Reprint 2012 ed.]
 9783110906349, 9783110157246

Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
ERSTER TEIL. Das Bild der Unschuldsvermutung – Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme –
A. Das Verständnis der Unschuldsvermutung in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen
I. Historische Einführung
II. Die Unschuldsvermutung im Recht der Bundesrepublik Deutschland
III. Schweiz
IV. Österreich
V. Frankreich
VI. Italien
VII. Spanien
VIII. Portugal
B. Die Unschuldsvermutung in den Rechtsordnungen des Common Law
I. England
II. Australien und Neuseeland
III. Irland
IV. Kanada
V. U.S.A
VI. Anmerkung zur Unschuldsvermutung als Beweislastregel im Parteiprozeß des Common Law
C. Die Unschuldsvermutung im Recht der sozialistischen Staaten
I. UdSSR
II. DDR
III. Volksrepublik China
IV. Andere (vormals) sozialistische Staaten
D. Die Unschuldsvermutung in der Judikatur der Rechtsprechungsorgane internationaler Verträge
I. Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EuMRK in der Judikatur der Europäischen Menschenrechtskommission und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
II. Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen
E. Religiöse Rechte
I. Kanonisches Recht
II. Jüdisches Recht
III. Muslimisches Recht
ZWEITER TEIL. Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze
A. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung
I. Zur Semantik der Unschuldsvermutung
II. Zur Logik der Verneinungen
III. „Vermutung“
B. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung
I. Begründungen aus metaphysischen oder empirischen Prämissen
II. Andere moderne Ansätze
DRITTER TEIL. Versuch einer funktionalen Rekonstruktion
I. Modell der normativen Funktionen der Unschuldsvermutung
1. Verfahrensabhängigkeit der Unschuldsvermutung
2. „Schutz der Unschuld“
3. Exkurs: Beweislast und Beweiswürdigung
4. Die Unschuldsvermutung als Verbot der Desavouierung des Verfahrens
5. Die Unschuldsvermutung als Menschenrecht?
6. Instrumentaler Gebrauch der Formel der Unschuldsvermutung
II. Folgerungen für das deutsche Recht
1. Verfassungsrang?
2. Anwendungsbereich
3. Einzelheiten
Zusammenfassung der Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Entscheidungsregister der Judikate aus Common Law-Staaten
Register

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Carl-Friedrich Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung

Carl-Friedrich Stuckenberg

Untersuchungen zur Unschuldsvermutung

w DE

G 1998 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Etnheitsaufnahme Stuckenberg, Carl-Friedrich: Untersuchungen zur Unschuldsvermutung / Carl-Friedrich Stuckenberg. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-015724-1

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., 73079 Göttingen

(JMeinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1996/97 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Juli 1996 abgeschlossen. An dieser Stelle habe ich manchen Dank abzustatten. Er gilt besonders meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. HANS-ULLRICH PAEFFGEN, für die Anregung des Themas und die langjährige großzügige Förderung. Herrn Professor Dr. URS KINDHÄUSER danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Professor Dr. GÜNTHER JAKOBS danke ich für alles, was ich während der Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl lernen durfte. Für die Einführung in Semiotics of Law und Hinweise zum jüdischen Recht danke ich Herrn Professor BERNARD S. JACKSON, Queen Victoria Professor of Law, University of Liverpool, England, seinerzeit Joseph S. Gruss Visiting Professor in Talmudic Civil Law, Harvard Law School. Dank gebührt schließlich den Bibliothekaren der Abteilung Special Colleäions der Harvard Law Library, Langdell Hall, ohne deren Findigkeit und stete Hilfsbereitschaft manche entlegenere Quelle unerreichbar geblieben wäre. Frau Dr. WALTHER vom Verlag Walter de Gruyter & Co. danke ich für die freundliche Bereitschaft, das Buch in das Verlagsprogramm aufzunehmen.

Bonn, im Juli 1997

CARL-FRIEDRICH

STUCKENBERG

Inhaltsübersicht

Abkürzungsverzeichnis

XXIII

Einleitung

3

ERSTER

TEIL

Das Bild der Unschuldsvermutung - Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme A. Das Verständnis der Unschuldsvermutung in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen . . I. II.

Historische Einführung D i e Unschuldsvermutung im Recht der Bundesrepublik Deutschland

11 11 46

III.

Schweiz

154

IV.

Osterreich

160

V.

Frankreich

171

Italien

187

VI. VII.

Spanien

230

VIII.

Portugal

248

B. D i e Unschuldsvermutung in den Rechtsordnungen des C o m m o n Law I.

England

II. Australien und Neuseeland

251 253 289

III.

Irland

293

IV.

Kanada

297

U.S.A

318

V. VI.

A n m e r k u n g zur Unschuldsvermutung als Beweislastregel im Parteiprozeß des C o m m o n Law

C . Die Unschuldsvermutung im Recht der sozialistischen Staaten I. II. III.

374

DDR

407

Volksrepublik China

D . Die Unschuldsvermutung in der Judikatur der Rechtsprechungsorgane internationaler Verträge.

II.

374

UdSSR

IV. Andere (vormals) sozialistische Staaten

I.

372

413 414 415

Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 E u M R K in der Judikatur der Europäischen Menschenrechtskommission und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

415

Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen

426

X

Inhaltsübersicht

Ε. Religiöse Rechte I.

430

Kanonisches Recht

430

II. Jüdisches Recht III.

436

Muslimisches Recht

437

ZWEITER

TEIL

Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze A. Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung I. II. III.

438

Z u r Semantik der Unschuldsvermutung

438

Z u r Logik der Verneinungen

442

„Vermutung"

447

B. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung I.

494

Begründungen aus metaphysischen oder empirischen Prämissen

II. Andere moderne Ansätze

494 505

DRITTER

TEIL

Versuch einer funktionalen Rekonstruktion I.

Modell der normativen Funktionen der Unschuldsvermutung

519

1. Verfahrensabhängigkeit der Unschuldsvermutung

519

2.

„Schutz der Unschuld"

3. Exkurs: Beweislast und Beweiswürdigung 4.

D i e Unschuldsvermutung als Verbot der Desavouierung des Verfahrens

5. D i e Unschuldsvermutung als Menschenrecht? 6. II.

Instrumentaler Gebrauch der Formel der Unschuldsvermutung

521 522 530 542 543

Folgerungen für das deutsche Recht

544

1. Verfassungsrang?

544

2. Anwendungsbereich

557

3.

562

Einzelheiten

Zusammenfassung der Ergebnisse

573

Literaturverzeichnis

581

Entscheidungsregister der Judikate aus C o m m o n Law-Staaten

637

Register

645

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

XXIII

Einleitung

3

1. Themenaufriß

3

2. Vorüberlegungen

6

a) Rechtsvergleichung

6

b) Ansatz und methodische Vorbemerkung

7

3. Gang der Untersuchung

9

ERSTER

TEIL

Das Bild der Unschuldsvermutung — Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme — A. Das Verständnis der Unschuldsvermutung in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen . . I. Historische Einführung II.

Die Unschuldsvermutung im Recht der Bundesrepublik Deutschland 1.

11 11 46

Konzeptionen der Unschuldsvermutung

48

a) Herleitungen und Einordnungen der verfassungsrechtlichen Unschuldsvermutung . .

48

aa) Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 G G

48

bb) Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. I Abs. I, 2 Abs. 1 G G

50

cc) Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 G G

50

dd) Allgemeine Regel des Völkerrechts gem. Art. 25 G G

51

ee) Verhältnismäßigkeitsprinzip

51

ff)

52

Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 G G

gg) Schuldprinzip hh) Unausgesprochenes Prinzip der StPO b) Struktur der Unschuldsvermutung aa) Psychologischer Sachverhalt

52 53 53 53

bb) Vermutung im technischen Sinne

55

cc) Verfassungsdirektive

58

c) Anwendungsregeln

59

aa) Einschränkbarkeit, Abwägungsfestigkeit

59

bb) Verzichtbarkeit

60

cc) Zeitlicher Anwendungsbereich

61

dd) Sachlicher Anwendungsbereich

63

ee) Adressaten

66

2. Prinzipale Rechtsfolgen der Unschuldsvermutung a) Die Unschuldsvermutung als Schranke für Eingriffe in Rechte des Beschuldigten . . . aa) Verbot der Schuldantezipation

67 67 67

Inhaltsverzeichnis bb) Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung

68

cc) Verbot der Verfolgung von Strafzwecken vor Verurteilung

69

dd) Verbot „strafähnlicher" Eingriffe

70

ee) Verbot der Verwertung des Tatverdachts?

74

ff)

Verbot von Prognosen über den Verfahrensausgang u n d inzidenter Feststellung strafbarer H a n d l u n g e n vor rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilung

75

gg) Gebot der Gleichbehandlung von Verdächtigen und Nichtverdächtigen

78

hh) Gebot der Gleichbehandlung aller Verdächtigen

80

ii)

Absolute Eingriffsgrenzen

81

jj)

Garantie der Einhaltung sämtlicher oder bestimmter Verfahrensgarantien zugunsten des Beschuldigten?

84

kk) Teilhabefunktion der Unschuldsvermutung

85

11)

86

Zweiteilung der Hauptverhandlung in Tat- und Schuldinterlokut

b) Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die gerichtliche Entscheidungsfindung . aa)

E i n f ü h r u n g des Parteiprozesses — Beibehaltung des Amtsprozesses

bb) Unschuldsvermutung als Beweislastregel cc)

favor defensionis

dd) Ausgestaltung des Beweisrechts ee) Verbot materiell-rechtlicher Schuldvermutungen (1) Explizite Schuldvermutungen

ff)

86 86 87 88 89 91 91

(α) § i86 StGB

93

(ß) § 259 a.F. StGB

94

(γ) Weitere Vorschriften

94

(2) Verschleierte Schuldvermutungen

95

(3) A n k n ü p f u n g an außerstrafrechtliche Vermutungen

97

(4) Induktive Schlüsse

97

Unschuldsvermutung u n d in dubio pro reo

gg) Verbot der Verdachtsstrafe und Instanzentbindung hh) Verhandlungsstil u n d Befangenheit

98 100 101

Einzelprobleme u n d sonstige der Unschuldsvermutung beigelegte Wirkungen

102

a) Vermögensstrafe, § 43 a StGB, u n d Erweiterter Verfall, § 73 d StGB

102

aa)

§ 43 a StGB

102

bb) § 73 d StGB

103

cc)

Geplante Änderung des Art. 14 G G und Entwurf eines Vermögenseinziehungsgesetzes

b) Unterlassen der Strafaussetzung nach Anrechnung der Untersuchungshaft

104 105

c) Sicherungsmaßregeln

105

d) Untersuchungshaft

106

aa)

Generelle Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung

108

cc)

109

H a f t g r u n d der Tatschwere, § 112 Abs. 3 StPO

dd) H a f t g r u n d der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 S t P O

110

ee)

H a f t g r u n d der Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 S t P O

110

ff)

Ausgestaltung des Haftregimes

e) Vorzeitiger Strafantritt f)

106

bb) H a f t g r u n d der Wiederholungsgefahr, § 112 a Abs. ι S t P O

Iii 112

Informationserhebung und-Verarbeitung im Vorfeld und im Ermittlungsverfahren. . 112

g) Körperliche Untersuchung u n d körperlicher Eingriff nach § § 81 a, 81 c S t P O

113

Inhaltsverzeichnis

XIII

h) Durchsuchung nach §§ 102 f. StPO

113

i)

Postbeschlagnahme und Telefonüberwachung nach §§ 99, 100a StPO

113

j)

Ermittlung von rechtsfolgenrelevanten Umständen, § 160 Abs. 3 StPO

113

k) Absprachen im Strafprozeß

113

1)

114

Summarisches und beschleunigtes Verfahren, Strafbefehlsverfahren

m) Verfahrensdauer

115

n) Diversion und Täter-Opfer-Ausgleich, §§ 45, 47 J G G

115

o) Einstellungen

116

aa) Recht auf ein Verfahren, auf ein Urteil, auf Freispruch und Anspruch auf Rechtsmittel gegen belastende Einstellungen und Freisprüche?

116

bb) §153 StPO

118

cc) § 153 a StPO

119

dd) §§ 154, 154a StPO

122

ee) § 383 Abs. 2 StPO

123

p) „Freispruch zweiter Klasse"

123

q) Ausschluß von Rechtsmitteln gegen freisprechende Urteile

125

r) Kosten- und Auslagenlast bei Einstellung, Freispruch und Tod des Beschuldigten,

s)

Versagung der Entschädigung für Untersuchungshaft

125

aa) § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO

127

bb) § 467 Abs. 4 StPO

130

cc) § 471 Abs. 3 Nr. 2 StPO

132

dd) Tod des Beschuldigten oder Angeklagten vor Rechtskraft

132

ee) Entschädigung nach StrEG

133

ff)

Anrechnung der Untersuchungshaft

134

Inzidentfeststellungen strafbarer Handlungen

135

aa) Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Vor- und Nachtaten bei der Beweiswürdigung

135

bb) Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Vor- und Nachtaten bei der Strafzumessung und Reststrafenaussetzung

135

cc) Aussetzungswiderruf bei Bewährungsstrafe und Maßregelvollzug

137

dd) Inzidentfeststellung einer Steuerstraftat im Besteuerungsverfahren

142

t) Anklageschrift, Eröffnungsbeschluß und Aktenkenntnis

142

u) Stellung des Vorsitzenden im Amtsprozeß

144

v) Orientierung der Öffentlichkeit vor rechtskräftigem Urteil

145

w) Sicherheitsleistung

147

x) Wiederaufnahmeverfahren, Wiederaufnahme zugunsten des vor Rechtskraft verstorbenen Angeklagten y) Drittwirkung 4. Kritiken

147 147 152

III. Schweiz

154

1.

154

Rechtsgrundlagen

2. Anwendungsbereich

154

3. Prinzipale Wirkungen

155

4. Freispruch mit Kosten

156

5. Untersuchungshaft und vorläufiger Strafvollzug

159

6. Pressemitteilungen und Kriminalberichterstattung

159

7.

160

Sonstiges

XIV

Inhaltsverzeichnis

IV. Österreich ι. Rechtsgrundlagen 2. Prinzipale Wirkungen 3. Zeitlicher Anwendungsbereich 4. Sachlicher Anwendungsbereich 5. Primat des Strafverfahrens 6. Beweisrecht, Schuldvermutungen 7. Diversion a) § 42 öStGB b) Außergerichtlicher Tatausgleich 8. Verwertung anderer Straftaten bei der Strafzumessung 9. Freispruch mangels Beweises und Entschädigung 10. Kriminalberichterstattung in den Medien 11. Sonstiges V. Frankreich 1. Rechtsgrundlagen 2. Prinzipale Wirkungen, zeitlicher und sachlicher Anwendungsbereich 3. Beweisrecht a) Beweislast, in dubio pro reo, Schuldvermutungen b) Beweisverfahren, freie Beweiswürdigung, Beweismittel 4. Allgemeiner favor rei 5. Definitive Verfahrensbeendigung 6. Verfahrenskosten, Entschädigung und Rufreparation 7. Untersuchungshaft a) Uberwiegende Meinung b) Carbonnier c) Essaid 8. Rechtsnatur und Legitimation der Unschuldsvermutung a) Vermutungsstruktur b) Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung c) Relativierbarkeit der Unschuldsvermutung d) Die Realität der Unschuldsvermutung VI. Italien 1. Der Streit um die Unschuldsvermutung in der Gesetzgebung a) Der Codice di procedura penale von 1913 b) Der Codice di procedura penale von 1930 c) Die Verfassung von 1947 und internationale Verträge d) Der Codice di procedura penale von 1988 2. Konzeptionen der Unschuldsvermutung unter der Verfassung von 1947 a) Art. 27 Abs. 2 Cost, als Verbot von Schuldvermutungen b) Vermittelnde Ansichten c) Art. 27 Abs. 2 Cost, als Unschuldsvermutung d) Art. 27 Abs. 2 Cost, als Garantie der „ipoteticith"des Prozesses e) Verhältnis zu Art. 6 Abs. 2 EuMRK f) Synopse der Ansichten zum Vermutungscharakter der Unschuldsvermutung 3. Auswirkungen auf einzelne Institute des Strafprozesses a) Allgemeines aa) Adressaten

160 160 161 162 162 163 164 166 166 167 168 168 169 170 171 171 172 173 173 175 177 178 178 179 179 180 181 182 182 183 185 187 187 188 188 193 196 196 197 197 199 200 205 205 206 207 209 209

Inhaltsverzeichnis

XV

bb) Zeitlicher Anwendungsbereich 209 cc) Sachlicher Anwendungsbereich 210 (1) Situationsbedingte Ausnahmen 210 (2) Nicht verfahrensabhängige Präventivmaßnahmen (misure di prevenzione). . . 210 (3) Sonstiges 212 b) Die Unschuldsvermutung als „regola di giudizio" 212 aa) Prozeßstruktur 212 bb) Beweislast 214 cc) Beweiswürdigung 216 dd) Schuldvermutungen und Verdachtsdelikte (reati di sospetto) 217 ee) Freispruch wegen ungenügenden Beweises 218 ff) Die Wahl der Verfahrensart (scelta del rito) 220 gg) Recht auf Verteidigung, Waffengleichheit und Schweigerecht 220 c) Die Unschuldsvermutung als „regola di trattamento dell'imputato" 221 aa) Untersuchungshaft (carcerazione preventiva) 222 bb) Obligatorischer Haftbefehl 227 cc) Haftbedingungen 227 dd) Andere strafverfahrensabhängige Zwangsmaßnahmen 228 (ι) Vorläufige Anwendung von Sicherungsmaßnahmen und Nebenstrafen (applicazione provvisoria di misure di sicurezza e di pene accessorie) 228 (2) Sonstige Maßnahmen 229 d) Beschränkung der Prozeßberichterstattung 229 VII. Spanien 230 ι. Rechtsgrundlagen 230 2. Sachlicher Anwendungsbereich 231 3. Zeitlicher Anwendungsbereich 233 4. Adressaten der Unschuldsvermutung 234 5. Verzichtbarkeit 234 6. Beweisrecht 235 a) Beweislast, Schuldvermutungen 235 b) Anforderungen an den Schuldbeweis 236 c) Art der Beweiswürdigung 239 7. Folgen ungenügenden Schuldbeweises 239 8. Prozeßstruktur 240 9. Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, Untersuchungshaft 240 10. Legitimation und Rechtsnatur der Unschuldsvermutung 241 a) Begründung der Unschuldsvermutung 241 b) Subjektives Recht 243 c) Normstruktur und Inhomogeneität der Unschuldsvermutung 243 d) Vermutungscharakter 244 e) Verhältnis zu anderen Prinzipien 246 aa) in dubio pro reo 246 bb) favor rei 247 cc) ne bis in idem 248 VIII. Portugal 248

XVI

Inhaltsverzeichnis

Β. Die Unschuldsvermutung in den Rechtsordnungen des Common Law I. England

251 253

ι. Geschichtliche Entwicklung

253

2. Heutige Rechtslage

261

a) Positives Recht

261

b) Die Unschuldsvermutung im Law of Evidence: Woolmington's case

261

c) Die Ausnahmen von Woolmington

265

aa) Terminologie

265

bb) Insanity und andere defences

266

cc) Express statutory exceptions

268

dd) Implied statutory reversal of the burden of proof

270

ee) Weitere Vermutungen

275

ff)

277

Gründe für die Beweisbelastung des Angeklagten

d) Reichweite der Unschuldsvermutung 3. Zur Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung a) Struktur der Unschuldsvermutung: Vermutungscharakter

280 281 281

b) Die Unschuldsvermutung als allgemeines Prinzip?

283

c) Berechtigung und Stellenwert der Unschuldsvermutung

285

4. Fazit

289

II. Australien und Neuseeland

289

III. Irland

293

1.

293

Rechtsgrundlagen

2. Reichweite der Unschuldsvermutung a) Die Unschuldsvermutung als allgemeiner Prozeßgrundsatz

293 293

b) Mitwirkungspflichten des Beschuldigten

294

c) Preventive Detention

294

d) Untersuchungshaftbedingungen

296

e) Law of Evidence

296

f) Tatbestandsformulierung

296

IV. Kanada

297

1.

297

Rechtsgrundlagen a) Rechtslage bis 1982

297

b) Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Charter

299

aa) Section 11(d)

299

bb) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unschuldsvermutung cc) Section 7

300 300

2. Bedeutung und Begründung der Unschuldsvermutung

301

3. Reichweite der Unschuldsvermutung

303

a) Drittwirkung

303

b) Beschränkung auf den Strafprozeß?

303

4. Beweislastumkehr und Schuldvermutungen

304

a) Reverse onus clauses: important elements of the offence

304

b) Persuasive und evidential burden

305

c) Reverse onus clauses: defences

306

aa) Begrifflichkeit

306

Inhaltsverzeichnis

XVII

bb) Ausgangslage

307

dd) Die Rechtsprechung seit R. v. Whyte

309

d) Verzicht auf Tatbestandselemente statt Beweislastumkehr

310

e) Mandatory presumptions und "substituted elements".

311

f)

312

Permissive presumptions

g) Resultate der Judikatur zu section 11(d) 5. Strict liability

V

307

cc) Kritik der Unterscheidung von "elements of the offence" und "defences"

312 314

6. Untersuchungshaft

315

7. Unschuldsvermutung und Nemo tenetur

316

8. Sonstiges

317

U.S.A

318

1. Geschichtliche Entwicklung

319

2. Rechtsgrundlagen

319

3. Geltung der Unschuldsvermutung im Prozeß a) Beweislast, Beweismaß und Schuldvermutungen aa)

Conclusive presumptions

bb) Mandatory presumptions

321 321 325 325

(ι) Persuasive burden

326

(2) Evidential burden

326

cc) Permissive inferences

327

dd) Defenses

329

ee) Anwendungsbeispiele b) Sonstige Fragen des Beweisrechts

337 337

c) Jury instruction

338

d) Nach dem Schuldspruch

339

aa) Strafzumessung

339

bb) Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen neuer Taten

340

e) Sonstiges 4. Geltung der Unschuldsvermutung vor Prozeßbeginn

341 342

a) Pretrial liberty, bail und Untersuchungshaft

342

b) Preventive detention und Right to Bail

347

c) Restraining orders—Forfeiture

358

d) Andere Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten vor Prozeßbeginn

359

5. Zur Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung

360

a) Normstruktur: Vermutung?

360

b) Reichweite der Unschuldsvermutung

362

c) Funktion der Unschuldsvermutung im Strafprozeß

362

aa) Gewährleistung rationaler und unvoreingenommener Wahrheitsfindung

362

bb) Ausgleich für Ubergewicht des Staates

364

cc) Nur-rhetorische Funktion der Unschuldsvermutung

364

dd) Packers Due Process Model und concept of legal guilt

365

d) Die Unschuldsvermutung als allgemeines Freiheitsrecht

367

e) Begründung und Stellenwert der Unschuldsvermutung

369

VI. Anmerkung zur Unschuldsvermutung als Beweislastregel im Parteiprozeß des Common Law

372

XVIII

Inhaltsverzeichnis

C . Die Unschuldsvermutung im Recht der sozialistischen Staaten I.

374

1. Vorgeschichte

374

2.

D i e Unschuldsvermutung in der sowjetischen Diskussion bis zu den 1960er Jahren

375

a) Anfängliche Ablehnung der Unschuldsvermutung als bourgeoises Prinzip

375

b) Strogovic und die Debatte im Schrifttum bis 1958

376

c)

Die „Grundsätze des Strafverfahrens der U d S S R und der Unionsrepubliken" v o m 25.12.1958

3.

Deutungen der sowjetischen Debatte a)

II.

III.

387 393

Bilinsky

393

b) Berman

394

c)

396

Fletcher

d) Gorgone

398

e) Anmerkung

400

4.

Weitere Entwicklung bis 1991

400

5.

Die Unschuldsvermutung in der Praxis der U d S S R

404

6.

Russische Föderation

405

DDR

407

1.

Geschichtliche Entwicklung und ideologische Fundierung

407

2.

D e r Rechtszustand im einzelnen

410

Volksrepublik China

IV. Andere (vormals) sozialistische Staaten D . D i e Unschuldsvermutung in der Judikatur der Rechtsprechungsorgane internationaler Verträge. I.

374

UdSSR

413 414 415

D i e Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 E u M R K in der Judikatur der Europäischen Menschenrechtskommission und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

415

1.

Travaux préparatoires

415

2.

Sachlicher Geltungsbereich

416

3. Adressaten und Drittwirkung

417

4.

Zeitlicher Geltungsbereich

417

5. Unparteiische Prozeßführung

419

6. Ausgestaltung des Beweisverfahrens: Beweislastverteilung und Zweifelssatz

419

7.

420

Verletzungen von Verfahrensrecht

8. Öffentliche Äußerungen von Behörden

421

9.

421

Untersuchungshaft, Sicherungshaft

10. Verfahrensbeendigung ohne Sachurteil

422

11. Verlesung von Vorstrafen

422

12. Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Taten bei der Strafzumessung und beim Aussetzungswiderruf

423

13.

Kosten- und Auslagenentscheidungen bei Einstellung und Freispruch

423

14.

Entschädigung für Untersuchungshaft und andere Verfolgungsmaßnahmen

425

15. Sonstiges II.

425

Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen

426

1.

Travaux préparatoires

426

2.

Unmittelbare Anwendbarkeit und self-executing character des I P B P R

426

3. A n w e n d u n g des Art. 14 Abs. 2 I P B P R a) Auslegung in der Literatur

427 427

Inhaltsverzeichnis

XIX

b) Art. 14 Abs. 2 I P B P R in der Praxis der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen

428

E. Religiöse Rechte I.

430

Kanonisches Recht

430

II. Jüdisches Recht III.

436

Muslimisches Recht

437

ZWEITER

TEIL

Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze A. Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung I.

438

1.

„Bonität" und „Unschuld"

438

2.

Reale Unschuld, noch nicht festgestellte Schuld, festgestellte Unschuld und nicht festgestellte Schuld

II. III.

438

Z u r Semantik der Unschuldsvermutung

440

Z u r Logik der Verneinungen

442

„Vermutung"?

447

ι.

448

D i e sogenannten Vermutungslehren als Deutungsmuster gesetzlicher Vermutungen . . . . a) Legalbeweistheorie

448

b) Vermutungstheorie

449

c)

Lehre von der gesetzlichen Sicherheit

450

2.

Kritik der Vermutungslehren

450

3.

D i e Rechtssatzstruktur gesetzlicher Vermutungen

453

a) Wróblewski

453

b) Konstruktionsmöglichkeiten des Vermutungsschlusses

456

c) Anwendungsbereich der Vermutungen 4. Vermutung und Beweislast

467 469

a) Materielle und formelle Beweislast

469

b) „Beweislastumkehr"

474

c) Ableitung des Beweiserfordernisses aus einer Vermutung - Vermutung als Kehrseite jeglicher notwendiger Bedingung zur Änderung eines Rechtszustandes? 5. Folgerungen für die Unschulds,,Vermutung" als gesetzliche Vermutung a) D i e Komponenten der Vermutung aa)

Vermutungsbasis

479 480

cc)

Vermutungsobjekt: reale Unschuld

480

(1) A n w e n d u n g im Prozeß bei der Sachentscheidung

481

(α) Konstruktionsmöglichkeiten

481

(ß) Ausschluß von Schuldvermutungen?

482

(2) A n w e n d u n g außerhalb der prozessualen Endentscheidung

483

(3) Zwischenergebnis

488

Fazit zum Vermutungscharakter

B. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung I.

478 478

bb) Gegenbeweis

dd) Vermutungsobjekt: formelle Unschuld 6.

474

489 494 494

Begründungen aus metaphysischen oder empirischen Prämissen

494

I.

494

Kategorisches Argument aus der conditio humana

XX

Inhaltsverzeichnis 2. Statistisches Argument 3. Grundsätzliche Normbefolgungsbereitschaft als Grundannahme jeder normativen Ordnung II. Andere moderne Ansätze ι. Verhältnis Bürger-Staat, Rechtsstaatlichkeit, in dubio pro libértate 2. Sicherung des materiell-rechtlichen Schuldprinzips a) Grundsätzliches b) Frister

DRITTER

500 502 505 505 510 510 513

TEIL

Versuch einer funktionalen Rekonstruktion I. Modell der normativen Funktionen der Unschuldsvermutung 1. Verfahrensabhängigkeit der Unschuldsvermutung 2. „Schutz der Unschuld"? 3. Exkurs: Beweislast und Beweiswürdigung a) Begründungsdefizit der materiellen Eingriffsnorm b) Übergreifende materielle Kriterien der Beweislastlozierung c) Definition abweichenden Verhaltens als Ausnahme d) Reduktion des Zufallselementes e) Relativität der Bedeutung von Beweislastregeln 4. Die Unschuldsvermutung als Verbot der Desavouierung des Verfahrens a) Grundsatz b) Einwände und Abgrenzung zur Ausgestaltung des Prozeßrechtsverhältnisses c) Prinzipale Folgerungen 5. Die Unschuldsvermutung als Menschenrecht? 6. Instrumentaler Gebrauch der Formel der Unschuldsvermutung II. Folgerungen für das deutsche Recht 1. Verfassungsrang? a) Verbot der Desavouierung des Verfahrens aa) Art. 1 Abs. 1 G G bb) Rechtsstaatsprinzip cc) Umfang und Dichte der Implementierung b) Exkurs: Verbot belastender Beweis- und Beweislastregeln 2. Anwendungsbereich a) Funktionale Begrenzung und Abschichtungen b) Sachlicher Anwendungsbereich: Beschränkung auf das Strafrecht? c) Zeitlicher Anwendungsbereich d) Abwägungsfestigkeit, Verzichtbarkeit e) Adressaten: Drittwirkung? 3. Einzelheiten a) Untersuchungshaft aa) Präventivhaft bb) Haftgrund der Tatschwere cc) Verdunkelungsgefahr b) Verfahrensabschluß ohne Urteil: Einstellungen und Diversion aa) Grundsatz

519 519 521 522 523 525 526 527 528 530 530 534 537 542 543 544 544 544 544 546 549 552 557 557 557 558 559 560 562 562 562 563 564 564 564

Inhaltsverzeichnis

XXI

bb) § 153 a StPO

565

cc)

567

Diversion, Täter-Opfer-Ausgleich, Absprachen im Strafprozeß

c) Kosten

568

d) Inzidentfeststellung strafbarer Handlungen

570

aa) Im Rahmen des § 46 StGB

571

bb) Aussetzungswiderruf, §§ 56 f, 67 g StGB

572

Zusammenfassung der Ergebnisse

573

Literaturverzeichnis

581

Entscheidungsregister der Judikate aus Common Law-Staaten

637

Register

645

Abkürzungsverzeichnis Für die gebräuchlichen deutschen Abkürzungen wird verwiesen auf KIRCHNER, HILDEBERT, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. Berlin 1993. Abkürzungen ausländischer Literatur und Rechtsprechung folgen den Gepflogenheiten des jeweiligen Ursprungslands. Die Zitatform von Materialien aus den Vereinigten Staaten entspricht, soweit praktisch, den Empfehlungen von HARVARD LAW REVIEW ET AL., A Uniform System of Citation, 15th edition Cambridge, Mass. (1991).

A. (id) A. & E. A.C. Ac. AcTC AfkKR AG A.-G. Alb.L.Rev. All E.R. A.L.R. A.L.R. Alta.C.A. Am.Crim.L.Rev. Am.J.Comp.L. Am.U.L.Rev. AR ArchCrimR (N.F.) Arch.pen. Ark. L. Rev. B. & Aid. B. & C. BA BB1. B.C. B.C.C.A. B.C.L.R. BewHi BG BGE Bing. BJC BM] Β. O.E. Brook.L.Rev.

Atlantic Reporter (second series) Adolphus and Ellis's Reports, King's Bench and Queen's Bench (1832-1842) Law Reports: Appeal Cases Acórdáo Acórdáo do Tribunal Constitucional (Portugal) Archiv für katholisches Kirchenrecht Aargau Attorney-General Albany Law Review All England Law Reports American Law Reports Australian Law Reports Alberta Court of Appeals American Criminal Law Review American Journal of Comparative Law American University Law Review Appenzell Ausserrhoden Archiv des Criminalrechts (Neue Folge) Archivio penale Arkansas Law Review Barnewall and Alderson's Reports, King's Bench (1817—22) Barnewall and Cresswell's Reports, King's Bench (1822—30) Blutalkohol Bundesblatt (Schweiz) British Columbia Court of Appeals of British Columbia British Columbia Law Reports Bewährungshilfe Bundesgericht (Schweiz) Entscheidungssammlung des Bundesgerichts Bingham's Reports, Common Pleas (1822—1834) Boletín de Jurisprudencia Constitucional (Spanien) Boletim do Ministerio da Justiça (Portugal) Boletín Oficiel del Estado (Spanien) Brooklyn Law Review

XXIV Buff. L. Rev. Bull.crim. B.U.L.Rev. c. C. & P . Cal. (2d) Cal.Rptr. can. Can.Bar Rev. Can.Bus.L.J. C.A.N.W.T. cap. Case & Com. Cass. Cass.crim. C.A. C.C.A. CCC C . C . C . (2d/ 3 d) CCPR C.C.R. C.cost. CD cert. den. CE. ch. CIC (ist...) Cir. C.J. C.J.C. C.L.J. C.L.R. Cl. & Fin. Clev.St.L.Rev. Cm. Cmnd. Co. Rep. Colum.L.Rev. Conn. Conn.L.Rev. Cost. Cox C . C . C.P. CPP C.p.p. C.pr.pén. C.R. ( 3 d) Cr.App.C. Cr.App.Rep. Crim.L.Q.

Abkürzungsverzeichnis Buffalo Law Review Bulletin de la Cour de cassation, chambre criminelle Boston University Law Review canon Carrington and Payne's Reports, Nisi Prius (1823—41) California Reports (second series) West's California Reporter canon Canadian Bar Review = La Revue du Barreau canadien Canadian Business Law Journal Court of Appeals for the Northwest Territories capitulum, capitulo Case & Comment Corte di cassazione Cour de cassation, chambre criminelle Court of Appeal (Criminal Division) Court of Criminal Appeal (1907—1966) Constitutio Criminalis Carolina Canadian Criminal Cases (second/third series) Covenant on Civil and Political Rights Court of Crown Cases Reserved (1865—1907) Corte costituzionale European Commission of Human Rights: Collection of Decisions (EuKMR, bis 1974) certiorari denied Constitución Española chapitre, chapter Codex Iuris Canonici Federal Court of Appeals for the (ist...) Circuit Chief Justice, Chief Judge Chief Justice of Canada Cambridge Law Journal Commonwealth Law Reports (Australien) Clark and Finnelly's Reports, House of Lords (1831—46) Cleveland State Law Review Command Papers, 6th series (ab 1986) (England) Command Papers, 5th series (1956-1986) (England) Coke's Reports (1572-1616) Columbia Law Review Connecticut Reports Connecticut Law Review Costituzione (Italien) Cox's Criminal Cases Código Penal Código de Processo Penal (Portugal) Codice di procedura penale (Italien) Code de procédure pénale Criminal Reports (third series) (Kanada) Criminal Appeal Cases Criminal Appeal Reports The Criminal Law Quarterly

Abkürzungsverzeichnis Crim.L.R. CRP C.R.R. Cush. Cth D. DAR D.C.Code Ann. D.L.R. (4th) Denv.L.J. Dick.L.Rev. Doctr. D.P.P. D.P.R. DR DR DRZ D.S.L. DStZ D.V.I. East E.R. ESVGH

EuGHMR

EuKMR EuMRK Eur.L.Rev. EvBl. E (2d/3d) F. & F. fase. FJ. Fn. Foro pen. F.Supp. Fußn. GA, G.A. G.A.Res. Gaz.Pal. GBl. Geo. Geo.L.J. Geo.Wash.L.Rev. Giur.compl.cass.pen. Giur.cost.

XXV The Criminal Law Review (England) Constituiçâo da República Portuguesa Canadian Rights Reporter Cushing (Massachusetts Reports) Commonwealth Recueil Dalloz Deutsches Autorecht District of Columbia Code Annotated Dominion Law Reports (fourth series) (Kanada) Denver Law Journal Dickinson Law Review Doctrine Director of Public Prosecutions Decreto del Presidente della Repubblica (Italien) European Commission of Human Rights: Decisions and Reports (ab 1975) Deutsches Recht Deutsche Rechts-Zeitschrift Recueil Dalloz Sirey Législation Deutsche Steuerzeitschrift District Court of the Virgin Islands East's Reports, King's Bench (1800-1812) English Reports—Full Reprint (1220-1867) Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe beider Länder Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte; Entscheidungssammlung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Serie A oder Β Europäische Menschenrechtskommission Europäische Menschenrechtskonvention European Law Review Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen (Beilage zur Ö J Z ) Federal Reporter (second/third series) Foster and Finlason's Reports, Nisi prius (1856-1867) fascicule Fundamento Jurídico Fußnote (in einer zitierten Literaturstelle) Il Foro penale Federai Supplement Fußnote (in dieser Arbeit) General Assembly (United Nations) General Assembly Resolution Gazette du Palais Gesetzblatt (DDR) George (Yearbooks) Georgetown Law Journal George Washington Law Review Giurisprudenza completa della Corte suprema di cassazione, sezioni penali Giurisprudenza costituzionale

XXVI Giur.it. Giust.pen. Harv.C.R.-C.L. L.Rev. Harv.L.Rev. Hen. H.L. How.L.J. How.St.Tr. Hum.Rts.L.J. ibid. I.L.R.M. Int'l Leg. Mat. Iowa L.Rev. IPBPR I.R. Ir.Jur. Israel L. Rev. J· J.-cl.proc.pen. J.Crim.L. & Criminology JO. J.P. J.S.P.T.L. K.B. KrimJ KritV Ky. Ky.LJ. Law & Contemp. Probs. Law & Soc. Inquiry Ld.Raym. L e . & Ca. LECrim. Lew.C.C. L.Ed. (2nd) lib. liv. LJKB LOPJ LOTC L.Q.R. L.R.-Q.B. L.Rev. L.T. Mass. M . & S. M. & W . Md.L.Rev. Mich.

Abkürzungsverzeichnis Giurisprudenza italiana La Giustizia penale Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review Harvard Law Review Henry (Yearbooks) House of Lords Howard Law Journal Howell's State Trials Human Rights Law Journal ebenda (an gerade zuvor, in gleicher Fußnote, zitierter Stelle) Irish Law Reports Monthly International Legal Materials Iowa Law Review Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte The Irish Reports The Irish Jurist Israel Law Review Judge, Justice Juris-classeur de procédure pénale Journal of Criminal Law and Criminology Journal officiel de la République française Justice of the Peace Reports Journal of the Society of Public Teachers of Law (England) Law Reports: King's Bench (1901-1951) Kriminologisches Journal Kritische Viertelsjahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kentucky Kentucky Law Journal Law and Contemporary Problems Law and Social Inquiry Lord Raymonds Reports, King's Bench and Common Pleas (1694-1732) Leigh and Cave's Crown Cases Reserved (1861—1865) Ley de Enjuiciamiento Criminal (Spanien) Lewis's Crown Cases of the Northern Circuit (1822—1838) Lawyers' Edition (second series) liber livre Law Journal King's Bench Ley Orgánica del Poder Judicial Ley Orgánica del Tribunal Constitucional The Law Quarterly Review (England) Law Reports Queen's Bench (1865-1875) Law Review Law Times Reports (1859-1947) Massachusetts Reports Maule and Selwyn's Reports, King's Bench (1813—1817) Meeson and Welsby's Reports, Exchequer (1836—1847) Maryland Law Review Michigan Reports

Abkürzungsverzeichnis Mich. L. Rev. Minn.L.Rev. Miss. Mod.L.Rev. NArchCrimR N.C. N.C.L.Rev. NdsRPfl. N.E. Neb.L.Bull. Nev. Nfld. & P.E.I.R. N.H. N.I.L.Q. NJ N.J. N.J.L. N.J.Super. N.L.J. N.R. N.S.W.S.C.R. N.S.W.W.N. N.W. (2d) N.W.T.R. Nw.U.L.Rev. N.Y. (2d) N.Y.L.F. N.Y.L.J. N.Y.S. (2d) N.Z.C.A. N.Z.L.R. OGH OGSt Ohio St.L.J. Ont.C.A. Or. Osgoode Hall L.J. OW ÖAKR ÖJZ P. P. (id) P.C. P.E.I.C.A. PerRMCL P.P. P.R.R. Pick. Pub.L. No. Q.B. Q.B.D.

XXVII Michigan Law Review Minnesota Law Review Mississippi Reports Modern Law Review (England) Neues Archiv des Criminalrechts North Carolina North Carolina Law Review Niedersächsische Rechtspflege North Eastern Reporter Nebraska Law Bulletin Nevada Reports Newfoundland and Prince Edward Island Reporter New Hampshire Reports Northern Ireland Legal Quarterly Neue Justiz New Jersey Reports New Jersey Law Reports New Jersey Superior Court Reports New Law Journal (England) National Reports (Kanada) New South Wales Supreme Court Reports New South Wales Weekly Notes North Western Reporter (second series) Northwest Territories Reports Northwestern University Law Review New York Reports (second series) New York Law Forum New York Law Journal West's New York Supplement (second series) New Zealand Court of Appeals New Zealand Law Reports Oberster Gerichtshof (Österreich) Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR in Strafsachen Ohio State Law Journal Ontario Court of Appeals Oregon Reports Osgoode Hall Law Journal Obwalden Österreichisches Archiv für Kirchenrecht Österreichische Juristen-Zeitung Probate, Divorce, and Admiralty Division (1875-1971) Pacific Reporter (second series) Judicial Committee of the Privy Council Prince Edward Island Court of Appeals Periodica de re morali canonica liturgica Public Prosecutor Puerto Rico Reports Pickering (Massachusetts Reports) Public Law Number Law Reports: Queen's Bench (1891-1900; ab 1952) Law Reports: Queen's Bench Division (1875-1890)

XXVIII qu. Qué.C.A. R. R.D.P.C. Rec.Ass'n.B. City N.Y. reg. iur. reh. den. Rev.int.dr.pén. Rev.sc.crim. RID Riv.dir.proc. Riv.it.dir.pen. Riv.it. dir.proc. pen. Ri v.pen. ROA ROW R.S.C. RuP Sask.R. Sbg. LGB1. S.C. S.Cal.L.Rev. S.C.C. SchlHA S.C.R. S.Ct. S.D.N.Y. S.E. sent. Sez. un. SJZ So. (2d) Sp. SR SR. Stan.L.Rev. Stat. State Tr. S T C , SSTC. STJ STS., SSTS. StuR StuW Temp. L. Rev. Tex.L.Rev. Tex.Tech L.Rev. tit. Tul. L.Rev. U C L A L.Rev.

Abkürzungsverzeichnis quaestio Québec Court of Appeals = C o u r d'appel d u Q u é b e c Regina, Rex Revue de Droit Pénal et de Criminologie (Belgien) Record of the Association of the Bar of the City of N e w York Regulae iuris (im Liber Sextus Bonifaz' Vili.) rehearsal denied Revue internationale de droit pénal Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Rechtswissenschaftlicher Informationsdienst ( D D R ) Rivista di diritto processuale Rivista italiana di diritto penale Rivista italiana di diritto e processo penale Rivista penale Revista da Ordern dos Advogados (Portugal) Recht in Ost und West Revised Statutes of Canada Recht und Politik Saskatchewan Reports Salzburger Landesgesetzblatt Statutes of Canada Southern California Law Review Supreme C o u r t of Canada Schleswig-Holsteinische Anzeigen Supreme C o u r t Reports (Kanada) Supreme C o u r t Reporter District C o u r t of the Southern District of N e w York South Eastern Reporter sentenza Sezione unite Schweizerische Juristen-Zeitung (Revue Suisse de Jurisprudence) Southern Reporter (second series) Spai te Sammlung Schweizer Recht Summary Records Stanford Law Review United States Statutes at Large Howell's State Trials Sentencia(s) del Tribunal Constitucional (Spanien) Supremo Tribunal de Justiça (Portugal) Sentencia(s) del Tribunal Supremo (Spanien) Staat und Recht Steuern u n d Wirtschaft Temple Law Review Texas Law Review Texas Tech Law Review titulus Tulane Law Review University of California at Los Angeles Law Review

Abkürzungsverzeichnis UFITA U.III.L.F. U.N.Doc. U.N.T.S. U.N.Y.B. U.Pa.L.Rev. Υ Π Κ PC3>CP/UPK R S F S R

U.S. U.S.App.D.C. U.S.C. U.S.C.A. U.S.C.C.A.N. Utah U.W.Ont.L.Rev. V.

Va. L. Rev. VfGH VfSlg. V.L.R. V.R. VN vol. Vt.L.Rev. VwGH Wake Forest L.Rev. Wash. Wash.App. Wash. L. Rev. W.B1. wistra W.L.R. Wm. & Mary Bill o f R t s . J . W. & W . X Yale L.J. Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. Y.B.Hum.Rts.Comm. ZAkDR ZBJV ZSchwR ZStrR

XXIX

Archiv für Urheber-, Film- und Theaterrecht University of Illinois Law Forum United Nations Document United Nations Treaty Series United Nations Yearbook = Annuaire des Nations Unies University of Pennsylvania Law Review y r o j i O B H O - n p o u e c c y a j i h H t i ô K o n e i c c POCCHHCKOH

CoBeTCKOH Φβ/iepajibHOH CoijHajiHCTHMecKOH PecnyÖJiHKH/ Ugolovno-Processual'nyj Kodeks Rossijskoj Sovetskoj Federal'noj Socialisticeskoj Respubliki (Strafprozeßgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) United States Reports United States Court of Appeals for the District of Columbia Reports United States Code United States Code Annotated United States Code Congressional and Administrative News Utah Reports University of Western Ontario Law Review versus Virginia Law Review Verfasssungsgerichtshof (Österreich) Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes (Osterreich) Victorian Law Reports (Australien, 1875—1956) Victorian Reports (Australien) Vereinte Nationen (Zeitschrift) volume Vermont Law Review Verwaltungsgerichtshof (Österreich) Wake Forest Law Review Washington Reports Washington Appellate Reports Washington Law Review Sir William Blackstone's King's Bench Reports (1746—1780) Zeitschrift für Wirtschaft · Steuer · Strafrecht Weekly Law Reports William and Mary Bill of Rights Journal Wyatt and Webb's Victorian Reports (Law) (Australien) Liber extra (Dekretalen Gregors IX.) Yale Law Journal Yearbook of the European Convention on Human Rights = Annuaire de la Convention européenne des droits de l'homme Yearbook of the Human Rights Committee (United Nations) Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins = Revue de la société des juristes bernois Zeitschrift für Schweizer Recht Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht = Revue pénale suisse

"The history of liberty has largely been the history of observance of procedural safeguards." Justice FRANKFURTER in McNabb v. United States, 318 U.S. 332, 347; 63 S.Ct. 608; 87 L.Ed. 819 (1943)

Einleitung Good men everywhere praise the presumption of innocence. F L E T C H E R , 7 7 Yale L.J. 880, 880 (1968)

... aber wenn doch einmal eine rechtliche Vermuthung als solche für das Pflichtmäßige angenommen wird, so wird man auch die rechtlichen Folgen derselben nicht verkennen dürfen, und es ist daher wenigstens eine billige Forderung an die Rechtstheorie, daß man uns Gründe angebe, um der Schwierigkeit, die sich hier zeigt, entgehen zu können. [...] Allein mit einer Rechtsvermuthung, die man uns da, wo wir sie eigentlich als solche, wenn sie gegründet wäre, anzuwenden hätten, versagt, und nur da gestatten will, wo wir zu unserm Zwecke gar keiner praesumtio iuris bedürfen, mit einer solchen Rechtsvermuthung muß es doch eine ganz eigene Bewandniß haben. A . D . W E B E R , Ueber die Verbindlichkeit der Beweisfiihrung im Civilprozeß^, § 9 S . 7 6 Se si presume l'innocenza dell'imputato, chiede il buon senso, perchè dunque si procede contro di lui? 6 M A N Z I N I , Trattato di diritto processuale penale , vol. I , S. 2 2 6 ... the presumption of innocence is impervious to positive definition and incapable of prescriptive formulation or consistent application. As a reason of policy or principle, it is indeterminate in scope and, theoretically, could be invoked as a reason for any decision or rule that seeks to control the jeopardy of the accused by minimising the risks of prejudice, unfairness, error or miscarriage of justice. H E A L Y , [ 1 9 8 7 ] C r i m . L . R . 355, 365

Con sólo un poco de caricatura, diríase que se trata de una regla áurea, que como el bálsamo de Fierabrás para las más diversas enfermedades, sirve para regularlo casi todo en el proceso penal, y también en el procedimiento administrativo sancionador y, en ocasiones, hasta en el proceso civil. [...] Demasiadas cosas, todas ellas trascendentales, para incluirlas de modo informe bajo un único rótulo, que, por lo demás, es inexacto o erróneo en el plano de la técnica jurídica. [...] Hacía falta, explicar el porqué de esa expresión y discernir sus diversos elementos, significados y efectos. D E LA O L I V A S A N T O S , V o r w o r t z u V E G A S

TORRES,

Presunción de inocencia y prueba en el proceso penal, S. ι f.

ι.

Themenaufriß

All jene Grundsätze des Strafprozesses, die Form gewährleisten sollen, sind immer dann in Gefahr, mißachtet oder eingeschränkt zu werden, wenn die Furcht vor wachsender Kriminalität die Einbuße an Effektivität der Strafverfolgung besonders schmerzlich empfinden und den G e w i n n an Rechtsstaatlichkeit dahinter zurücktreten läßt. 1 Z u den vielfach als not-

1 Vgl. V O N H E N T I G , Wiederaufnahmerecht, 1. Aufl. Heidelberg 1 9 3 0 , S. 3 f. Zu dem „altehrwürdigen Postulat" „schützender Formen" s. E B . S C H M I D T , Lehrkommentar; Teil I 2 , Rn. 2 2 f.; M Ü L L E R - D I E T Z , ZStW 93 (1981), 1177,1203. Zur Unentbehrlichkeit der Form im Strafverfahren als Garantie demokratischen

4

Einleitung

wendig betrachteten Formalisierungselementen des Strafverfahrens zählt die Unschuldsvermutung, die jüngst wieder Opfer von Gesetzgebungsprojekten zu werden droht, die die Kriminalitätsbekämpfung per Strafrecht effektuieren möchten, und dadurch zusätzliche Aktualität gewinnt. Diese Arbeit will aber nicht das Schicksal der Unschuldsvermutung in diesem oder jenem Regelungsbereich beleuchten, sondern grundsätzlicher ihre normative Aussage untersuchen. Denn von einem Rechtssatz, der seit zwei Jahrhunderten immer wieder in Menschenrechtserklärungen und Verfassungen aufgenommen wurde,2 sollte man erwarten, daß über seinen Regelungsgehalt im wesentlichen Einigkeit besteht. Die Unschuldsvermutung weist hingegen ein bemerkenswertes Spektrum an gegenläufigen Deutungen auf.3 Es reicht, allein in der Bundesrepublik, von Teilaspekt der Menschenwürdegarantie und Fundamentalnorm des Strafprozesses bis hin zu einem überflüssigen Überbleibsel veralteter Rechtssatzmethodik,4 von Grundlage eines verfassungsrechtlichen Strafrechtssystems5 bis hin zur bloßen Mahnung an den Strafrichter zur „vornehmen Verhandlungsführung"6. Ihr verfassungsrechtlicher Rang ist heute weithin unbestritten, nicht aber, ob es sich um ein striktes und abwägungsfestes Prinzip oder um einen einschränkbaren Satz handelt. Welche Wirkung diese Vermutung, so es sich denn um eine solche wirklich handelt, auf die Zulässigkeit von präventiv-polizeilichen und Strafverfolgungsmaßnahmen ausübt, ob sie die Umgestaltung des deutschen Strafverfahrens nach dem Muster des anglo-amerikanischen Strafprozesses erfordert oder verbietet,7 die Untersuchungshaft erlaubt oder ausschließt, ist ebenso umstritten wie ihre Beschränkung auf das Strafrecht und ihr Zusammenhang mit dem Schuldprinzip oder dem Zweifelssatz in dubio pro reo. Zieht man in die Betrachtung ausländische Prozeßrechte mit ein, so findet man ebenfalls diese extreme Spannweite von Naturrechtssatz,8

und menschenwürdegerechten Umgangs mit sozialer Abweichung sowie dem Konflikt mit den Erfordernissen effektiver Verbrechensbekämpfung cf. H A S S E M E R / L Ü D E R S S E N , Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. III, S. 59 ff. Zust. J U N G , Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, S. 6 ff., 8 und Fn. 25. So wird von Autoren für verschiedene Rechtsordnungen konstatiert, daß die Unschuldsvermutung im Bewußtsein der Bevölkerung nicht sonderlich präsent sei. Dies gilt insbesondere für die jeweils die öffentliche Meinung heftig bewegenden Einzelfälle, bei denen jedes Hemmnis auf dem Weg zur Verwirklichung einer als Ausdruck materialer Gerechtigkeit geforderten Verurteilung auf Unverständnis stößt. Exemplarisch sei nur die Äußerung des Journalisten JOHANNES GROSS angeführt: „In jeder zivilisierten Gesellschaft gilt die Unschuldsvermutung. Ihre seelische Basis ist die Uberzeugung, daß die Untat die Ausnahme, das redliche Verhalten das Normale sei. Doch wenn man sich dem kriminellen Morast des Naziregimes oder der D D R zuwendet, kann die Unschuldsvermutung für Funktionäre und Helfer der Regime ganz leicht zum Freispruch werden. Die Entnazifizierung in der amerikanischen Besatzungszone hatte die Beweislast umgedreht: das war als Prinzip richtig, doch war die Praxis unzulänglich und dumm.", Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 782 vom 24. Februar 1995, S. 12, sub VI. 2 Vgl. LR24-GOLLWITZER, Art. 6 M R K RN. 103: ,Altsubstanz der Menschenrechte". 3 Vgl. die Aufeählung bei FRISTER, Jura 1988, 356, 357 Fn. 14. 4 M O N T E N B R U C K , In dubio pro reo, S. 73 f. 5 M A R X E N , Straftatsystem und Strafprozeß, S . 343 ff., 369. 6 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 990. 7 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 989. 8 Im kanonischen Recht, s. L E G A / B A R T O C C E T T I , Commentarius in iudicia ecclesiastica, vol. II, S . 818; M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 288, 323.

Einleitung

5

Grundlage des gesamten Strafprozeßrechts9 und altehrwürdiger Fundamentalnorm 10 bis zur „Absurdität"11. Auffällig ist insbesondere, daß die Unschuldsvermutung häufig eingeschränkt wird zugunsten allerlei Strafverfolgungsinteressen,12 als Programmsatz, aber nicht Beschreibung der Realität des Strafverfahrens,13 ja sogar als der Grundsatz bezeichnet wird, der am häufigsten Verstößen ausgesetzt sei14. Dies wird erklärt mit den „außerordentlich hohen Anforderungen, die ihre Respektierung an eine Rechtskultur stellt",15 oder mit dem Hinweis, daß ihre strikte Anwendung zu den absurdesten Einschränkungen führen müßte 16 . Ein Prinzip jedoch, das keine strikte Anwendung verträgt, ohne sich selbst ad absurdum zu führen, könnte falsch formuliert oder konzipiert sein. Die eingangs wiedergegebene „Forderung" A . D . W E B E R S „an die Rechtstheorie" scheint trotz zunehmender Bemühungen in letzter Zeit noch immer nicht erfüllt zu sein. Dies zeigt sich daran, daß die seit der elften Auflage seines Lehrbuchs17 unveränderte Bemerkung R O X I N S , der sachliche Gehalt der Unschuldsvermutung sei „ - von dem „Kernbestand" des in-dubio-Satzes abgesehen - bis heute ungeklärt", zu einem Gemeinplatz geworden ist.18 Diese Arbeit wagt den Versuch einer gleichsam frontalen Begriffsklärung. Sie will daher weniger zur Erhellung von Einzelfragen als der dafür notwendigen Prämisse19 einer Bestimmung des zentralen Aussagegehaltes dieser Formel beitragen und auch den „Kernbestand" einer Revision unterziehen.

' Coffin υ. United States, 156 U.S. 432, 453; 15 S.Ct. 394; 39 L.Ed. 481 (1895); AziBERT,/.-f/. proc. pen., App. art. 567 à 621, fase. 3, C E D H , Nr. 43. 10

BOSWORTH, 4 7 O h i o S t . L J . 2 7 7 , 2 7 7 (1986).

11

MANZINI, Manuale di procedura penale italiana6, S. 53 f. 12 REIFENRATH, Festschrift Wassermann, S. 489, 490. 13 SCHÜLER-SPRINGORUM, Festschrift Lekschas, S. 17, 28 und weiter: „Bis heute dient die Denkfigur ersichtlich dazu, Freiheitsbeeinträchtigungen des Beschuldigten in den Verfahrensstadien vor einer Verurteilung einzudämmen, sie bestenfalls zu kanalisieren, ohne solche Eingriffe indessen auszuschließen. Davon, unangreifbare Bastion zu sein, ist sie noch weit entfernt." 14

F R A N K E , Die Bildberichterstattung,

15

KUHLEN, Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 32, 52. VASSOGNE, Rev.sc.crim. 1957, 847, 848; zust. ESSAID, La présomption d'innocence, Nr. 264 S. 170,

16

S. 1 1 6 .

Nr. 4 1 2 S. 250. 17

K E R N / R O X I N , Strafverfahrensrecht11

(1972), § 11 S. 52.

Siehe unten S. 47 Fußn. 7. 15 LR24-GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. m meint, es werde der verfahrensbezogenen Funktion der Unschuldsvermutung nicht gerecht, „ihren Anwendungsbereich und Inhalt abstrakt und losgelöst" von spezifischen Aufgabenstellungen zu bestimmen. Wie aber weiß man dann, zu welchen „Einzelanforderungen an die Staatsorgane" sie führen wird? 18

Einleitung

6 2.

Vorüberlegungen

a)

Rechtsvergleichung

Der Satz der Unschuldsvermutung ist das gemeinsame Erbe vieler Rechtsordnungen. 20 Er hat zum einen in anderen Prozeßrechten eine lange Tradition, so im anglo-amerikanischen Raum, in Frankreich und Italien, und war dort sowie im sozialistischen Rechtskreis mehrfach Gegenstand monographischer Bearbeitung, 21 und hat zum anderen in den Signatarstaaten der E u M R K durch Art. 6 Abs. 2 eine einheitliche Positivierung erfahren, in die diese Traditionen einfließen. Ein Versuch der Klärung der Bedeutung des Satzes ohne rechtsvergleichende Bezüge wäre daher inadäquat. Die rechtsvergleichende Betrachtung zielt indessen nicht primär auf die Übernahme fremder Modelle, sondern auf die Erweiterung des „Raums, der rationaler Diskussion zugängig ist" 22 . Sie kann zudem die Isolierung der Problemlösungszusammenhänge und der Funktion, die dem Satz in ihnen zukommt, erleichtern. Die nötigen Darstellungen ausländischer Rechtsordnungen sind nicht um Vollständigkeit bemüht und können es angesichts der Fülle und partiellen Unzugänglichkeit des Materials nicht sein. Angestrebt wurde aber eine möglichst authentische Abbildung des Rechtszustandes und wissenschaftlichen Diskussionsstandes, um eine sichere Erfassung der Funktionen der Unschuldsvermutung zu gewährleisten. Schwerpunktmäßig erschien daher eine größere Detaillierung der Darstellung zur Wiedergabe des Regelungskontextes angemessen, um Fehleinschätzungen und oberflächliche Schlüsse zu vermeiden, die nur zu leicht entstehen, wenn man der idealisierenden Rhetorik, die unseren Satz oft umrankt, voreilig vertraut. Zugleich bietet sich die Gelegenheit, immer wieder anzutreffende Fehlvorstellungen über den Ursprung, die Funktion und den Stellenwert der Unschuldsvermutung in anderen Rechtsordnungen, häufig entstanden durch Unkenntnis oder unvollständige Kenntnis der Primärquellen, zu korrigieren.

20 Einen ersten Überblick geben P R A D E L , Rev.int.dr.pén. 6 3 ( 1 9 9 2 ) , 1 3 , 1 4 ff.; C H E V A L L I E R , Rev.int. dr.pén. 6 3 ( 1 9 9 2 ) , 4 3 , 4 7 ff.; S C H U L H O F E R , G R E E N B E R G & G R E E N B E R G , Rev.int.dr.pén. 6 3 ( 1 9 9 2 ) , 3 3 , 3 7 f. Zu den hier nicht näher betrachteten Rechten s. die Darstellung in Band 6 3 ( 1 9 9 2 ) der Rev.dr.int.pén., z . B . B E H N A M zum ägyptischen Recht, ibid. S. 1 6 3 , 1 6 3 f.; V A N D E N W Y N G A E R T / B O S L Y zum belgischen Recht, ibid. S. 1 0 5 , 1 0 6 f.; S H I R A T O R I zum japanischen Recht, ibid., S. 2 3 7 , 2 3 8 f.; A Y A T zum marokkanischen Recht, ibid. S. 2 5 1 , 2 5 3 f.; C O R S T E N S zum niederländischen Recht, ibid. S. 2 7 2 , 2 7 4 f.; zum chilenischen Recht s. O R T U Z A R L A T A P I A T , Rev.int.dr.pén. 3 7 ( 1 9 6 6 ) , 59, 6 0 f., 6 2 f. 21 Vgl. nur in Frankreich durch E S S A I D , La présomption d'innocence, Rabat 1 9 7 1 , in Italien durch I L L U M I N A T I , La presunzione d'innocenza dell'imputato, Bologna Ι979> ' η Spanien durch V Á Z Q U E Z S O T E L O , «Presunción de inocencia» del imputado e «convicción intima» del tribunal, Barcelona 1 9 8 4 , R O M E R O A R I A S , La presunción de inocencia, Pamplona 1 9 8 5 , V E G A S T O R R E S , Presunción de inocencia y prueba en el proceso penal, Madrid 1 9 9 3 , in England durch A L L E N , The Presumption of Innocence, Oxford 1 9 3 1 , in Kanada durch M O R T O N & H U T C H I S O N , The Presumption of Innocence, Toronto etc. 1 9 8 7 , in den USA durch T H A Y E R , The Presumption of Innocence in Criminal Cases, Boston 1898, und in der ehemaligen Sowjetunion durch KacyMOB, Πρβ3γΜημιΐΗ HeeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, Baku 1984, JlapHH, FTpesyMnuun Heeu-

Hoenocmu,

Moskau

1982, J I n 6 y c ,

Tlpe3yMnu,ua

T a s c h k e n t 1 9 8 1 u n d C T p o r o B H H , Πραβο

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e coeemcKOM u npe3yMnu,un

yzonoenoM ueeuHoeHocmu,

1984. 22

M Ö S S N E R , A ö R 99 (1974), 193, 242;

zust.

MAHRENHOLZ,

Festschrift Hesse, S.

53, 6 0 .

npou,ecce, Mos-

7

Einleitung

b) Ansatz und methodische

Vorbemerkung

Herkömmliche Auslegungsmethoden allein versprechen wenig Erfolg bei einem zumeist erst jüngst auf supranationaler Ebene positivierten Rechtssatz, der eine lange ungeschriebene Tradition in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen hat. Deduktionen aus allgemeineren oder höherrangigen Prinzipien haben bislang ebensowenig erkennbaren Fortschritt an Präzision erbracht. Der Meinungsstand ist diffus, weil eine wechselseitige Diskussion in weiten Teilen fehlt, so daß die bisherigen Deutungsversuche oft beziehungslos nebeneinander stehen. Diese Umstände lassen die Bildung einer Bedeutungshypothese, die sodann einer Analyse unterworfen wird, als Ausgangspunkt einer Arbeit, die auch Erklärung des Vorhandenen leisten will, wenig ratsam erscheinen. Zudem ist nicht einmal gesichert, ob es sich bei der Unschuldsvermutung nur um eine Norm handelt: Zu berücksichtigen sind Deutungen, daß es verschiedene Unschuldsvermutungen gebe, deren Inhalt sich je nach den Traditionen einer nationalen Rechtsordnung unterscheide, oder daß drei nach Entstehung und Inhalt klar geschiedene Normen koexistierten, welche nur die sprachliche Fassung und den Bezug auf den Strafprozeß gemein hätten. Diese Arbeit versucht daher zunächst durch Betrachtung des Verständnisses der Unschuldsvermutung in positivem Recht, Judikatur und Doktrin mehrerer Länder, beginnend mit einem geschichtlichen Abriß, mithin induktiv durch Betrachtung des „Gebrauchs"23 dieses Satzes, Vorstellungen über seine Inhalte, die ihm zugeschriebenen Funktionen und die mit ihm verbundenen Regelungsabsichten zu ermitteln. Anschließend soll untersucht werden, ob und inwieweit daraus ein konsistenter Norminhalt für die Unschuldsvermutung synthetisiert werden kann. Dabei soll auch die Frage verfolgt werden, die SAX für in dubio pro reo gestellt und verneint hat,24 ob unser Satz Rechtsgrund oder nicht nur Umschreibung einer schon anderweitig begründeten Rechtsfolge ist. Nun muß jedoch jeder Versuch einer historischen Nachzeichnung oder rechtsvergleichenden Betrachtung der Unschuldsvermutung zwangsläufig von einer bestimmten Vorstellung dessen, wonach zu suchen ist, ausgehen. Nimmt man als Suchobjekt die sprachliche Formel einer „Unschuldsvermutung", so sieht man sich dem Einwand ausgesetzt, daß mit dem Sprachzeichen noch kein Begriff verbunden sein muß25 sowie daß andere Sprachen vielleicht dafür keine adäquate Ubersetzung kennen26 und folglich Rechtsordnungen vernachlässigt würden, die keine ähnliche sprachliche Fassung, durchaus aber funktionale Äquivalente kennen. Einer geschichtlichen oder rechtsvergleichenden Darstellung müßte folglich die Bestimmung der Bedeutung oder Funktion des zu suchenden Objekts vorausge-

23 In loser Anlehnung an W I T T G E N S T E I N S „Gebrauchstheorie", siehe D E R S . , Philosophische Untersuchungen, §§ 85, 87, für Sätze: § 20; S C H R O T H , Philosophische und juristische Hermeneutik, S . 312 ff. Zur Rechtfertigung dieser Art des Vorgehens vgl. auch P E I N E , Systemgerechtigkeit, S. 21 ff. (bezogen auf den von ihm untersuchten Topos „Systemgerechtigkeit"). 24 SAX, Festschrift Stock, S. 143 ff., 161. 25 Vgl. V O L L M E R , Auslegung und ,Auslegungsregeln", S . 256, gegen H E D E M A N N , Die Vermutung, S. 219 ff, der die Normenklasse der gesetzlichen Vermutungen auf diejenigen positiven Rechtssätze beschränkt, in denen das Wort „Vermutung" vorkommt. 26 So B E R M A N , Soviet Criminal Law and Procedure • The RSFSR Codes1, S. 59 ff., 62 für die russische Sprache; dagegen FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203,1206 ff. (1968).

8

Einleitung

hen.17 Begönne eine Untersuchung hingegen mit diesen Darstellungen ohne eine solche vorherige Klärung einer Hypothese über die Bedeutung der Unschuldsvermutung, wäre sie der Gefahr ausgesetzt, einem bestimmten unausgesprochenen (Vor-)Verständnis der Maxime allein nachzuspüren oder bestimmte Vorstellungen über die Strukturen des Strafverfahrens, die sich in der älteren und ausländischen Literatur finden, mit einem Bekenntnis zur Unschuldsvermutung zu identifizieren. Andererseits lassen sich Bedeutung und Funktion eines Satzes im juristischen Diskurs schwerlich ohne Betrachtung seines Gebrauchs in diesem Diskurs feststellen. Jegliche Interpretation setzt bekanntlich ihrerseits eine Interpretation dessen, was nun das Interpretationsobjekt sei, seiner Interpretationsbedürftigkeit etc., voraus. Dieser zirkulären Bewegung ist nicht zu entgehen, doch lassen sich verschiedene Ansatzpunkte je nach Erkenntnisinteresse wählen: Da der Bedeutung unseres Satzes vielfach eine beträchtliche Unklarheit bescheinigt wird, geht es dieser Arbeit primär weder um eine rechtsvergleichende noch historische Untersuchung der Geltung „der" Unschuldsvermutung, um Vergleich und Bewertung, sondern um den Versuch einer Klärung dieser Bedeutung und der Gründe der behaupteten Unklarheit und Unscharfe. Schon eine kursorische Betrachtung des Materials legt den Verdacht nahe, daß eine Reihe verschiedener Regelungsfunktionen dem Namen Unschuldsvermutung zugeordnet wird, so daß die freihändige Formulierung einer Arbeitshypothese eine unnötige und unter Umständen irreführende Festlegung wäre. Ansatzpunkt soll die Betrachtung des Gebrauchs des Namens „Unschuldsvermutung" und seiner offensichtlich äquivalenten Umschreibungen sein, denn dieser Name ist zunächst das einzig Einende und Gewisse: Die Gründe hierfür sind die weite Verbreitung und Homogeneität der sprachlichen Fassung des Satzes, vor allem durch Bezug auf Art. 9 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 und seit dem Zweiten Weltkrieg durch Aufnahme in nahezu universelle völkerrechtliche Verträge. Sodann läßt er sich auch in Quellen vor 1789 zahlreich genug finden. Der Satz existiert in allen nachher herangezogenen Rechtsordnungen, womit sich eine weitgehend einheitliche Basis bietet. Schließlich ist die Gefahr von Ubersetzungsschwierigkeiten oder des Vernachlässigens wesentlicher Aspekte durch die Betrachtung des Satzes als Gruppe von Sprachzeichen wegen seiner Universalität gering. Keinesfalls soll und kann behauptet werden, daß sich der normative Gehalt der Unschuldsvermutung nur mit den Sprachzeichen, die den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden, ausdrücken lasse. Eine rechtsvergleichende Studie oder eine Ideengeschichte „der" Unschuldsvermutung mit Blick auf eine bestimmte normative Funktion müßte freilich nach dem Abschluß der Analyse des Gebrauchs neu geschrieben werden. Daher soll sich der Überblick des Ersten Teils auf solche Quellen, die von einer Unschuldsvermutung explizit sprechen, und auf solche Aussagen beschränken, die mit ihr deutlich verbunden werden.

27

So FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203,1212 (1968) für die rechtsvergleichende Betrachtung. ESSAID, La présomption d'innocence. Nr. 12 S. 25, macht deutlich, daß er für die Zeit vor ^ 8 9 auf den „materiellen Aspekt" der Unschuldsvermutung abstellt, welchen er in dem Freiheitsschutz strafverfolgter Bürger und deren weitgehender Gleichbehandlung mit Unschuldigen erblickt.

Einleitung

9

3. Gang der Untersuchung Die Aufgabe des Ersten Teiles ist es, die Grundlagen für eine Analyse zu schaffen mit einer Darstellung des Diskussionsstandes im deutschen Recht und einigen anderen Rechtsordnungen. Er beginnt mit einer historischen Einführung, die als Grundlage und Erklärungshilfe für die heutigen Rechtszustände und Positionen in der Wissenschaft unerläßlich erscheint. 28 Sodann wird der heutige Rechtszustand in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen sowie in einigen Ländern des Common Law-Kreises und der nun schon historische Rechtszustand im ehemaligen sozialistischen Rechtskreis dargestellt. Da sich zeigen wird, daß die wichtigste supranationale Positivierung der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 E u M R K in den nationalen Rechtsordnungen im wesentlichen im jeweils überkommenen Verständnis der Unschuldsvermutung aufgeht, 29 dieses verstärkt oder doch zu voneinander beträchtlich abweichenden Interpretationen führt, ist der Judikatur der Straßburger Organe der E u M R K ein eigenes Kapitel gewidmet. Sodann wird die Gelegenheit genutzt, um die oft ignorierte Interpretationstätigkeit der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen unter dem I P B P R zur Kenntnis zu bringen. Abschließend werden drei religiöse Rechte betrachtet, denen zugeschrieben wird, Ursprung der Idee unseres Satzes zu sein. Im Zweiten Teil werden die vorhandenen Begründungsansätze der Unschuldsvermutung einer kritischen Betrachtung unterzogen. Geprüft werden soll, ob die Vermutungsform Rückschlüsse auf den Inhalt erlaubt und wie weit die Ableitung aus metaphysischen, empirischen oder staatsrechtlichen Prämissen trägt. Dabei wird der Betrachtung der „technischen" Seite von Sprachgebrauch, Logik und Vermutungsform viel Raum gegeben, weil darauf bezogene Argumente regelmäßig begegnen und aufgrund mangelnder Klärung der verwendeten Prämissen die Diskussion blockieren. Im übrigen ersetzen auch allseitige emotionale Bekenntnisse zur Unschuldsvermutung keinen dogmatischen Unterbau. Substanz und Nutzen bloßer „Ideologiejurisprudenz" 30 sind gering. Der Dritte Teil versucht, die unter der Bezeichnung „Unschuldsvermutung" verfolgten Funktionen zu isolieren. Mit „Funktion" ist hier die Regelungsaufgabe eines Rechtssatzes, eines Begriffs in einem bestimmten juristischen Problemlösungszusammenhang gemeint, nicht der weitere soziologische Funktionsbegriff der Systemtheorie im Sinne des Instruments der funktionalen Analyse. 31 Anschließend wird untersucht, in welchem Umfang sich das funktionale Regelungsmodell im deutschen Recht belegen läßt.

28

Vgl. MAHRENHOLZ, Festschrift Hesse, S. 53, 58: „Das historische Element in der Grundrechtsauslegung ist also nicht die Entstehungsgeschichte des Textes, sondern des Grundrechts. Als solches ist es wichtig, weil es die geschichtliche Erfahrung, die das Grundrecht geboren hat, und damit auch seine eigentümliche Mächtigkeit widerspiegelt." (Hervorh. im Original). Der Geltungsgrund der Grundrechte müsse mehr in der abendländischen Kultur als im Text des G G gefunden werden, ibid. S. 59. 29 Zumal die vertragsschließenden Staaten von der Ubereinstimmung ihrer Rechtsordnung mit der Konvention ausgegangen sein sollen, vgl. VON WEBER, ZStW 65 (1953), 336, 346; HERZOG, A ö R 86 (1961), 194,199; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 85. 30 Begriff nach BETTERMANN, 46. DJT., S. E 26, E 39. 31 Dazu siehe nur LUHMANN, Soziale Systeme, S. 83 ff.

E R S T E R

T E I L

Das Bild der Unschuldsvermutung Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme A . Das Verständnis der Unschuldsvermutung in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen

I. Historische Einfuhrung 1 Die Bibel kennt keine ausdrückliche Bonitätsvermutung, doch wurde, wie noch zu beschreiben sein wird, in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Güte der Schöpfung im Mittelalter eine Grundlage für eine allgemeine Bonitätsvermutung gesehen. Einige Stellen, die vor der Bestrafung Unschuldiger warnen, wurden später zur Stützung der Trajansentenz herangezogen. 2 Ein römisch-rechtlicher Ursprung der Unschuldsvermutung kann trotz der häufigen lateinischen Formulierung nicht ausgemacht werden, wenn man nach einer „Vermutung" sucht. 3 D a der römische Strafprozeß kein Prinzip der formellen Wahrheit kannte und der Nachweis dem Kläger oblag, wird bestritten, daß eine Unschuldsvermutung nötig gewesen sei.4 Sofern unter der Unschuldsvermutung lediglich das Prinzip in dubio pro reo verstanden wird, wurden immer wieder einzelne Digestenstellen, vor allem das berühmte Trajan-

1 Eine materialreiche Untersuchung über die Ursprünge der Unschuldsvermutung liegt mit KÖSTERS Monographie, Die Rechtsvermutung der Unschuld • Historische und dogmatische Grundlagen, Diss. Bonn 1979, bereits vor, auf die vielfach verwiesen werden kann, so daß hier genügt, die wesentlichen Momente in Erinnerung zu rufen sowie Abweichungen und Ergänzungen aufzuführen. 2 THOMASIUS, Dissertano de tortura, Teil II, § II, bezieht sich auf 1. Mose 18, 23 und Matth. 13, 29; s.a. dort § 3 mit Verweis auf Offenbarung 6,10; Sprüche 6,16 und 17; Jeremía 7, 6. GREENLEAF, A Treatise on the Law of Evidence, vol. Ill, § 29 S. 31 Fn. 1 verweist auf die Mahnungen des sicheren Beweises in 5. Mose 17, 4 ff. DOUCETTE, 93 Case & Com. 24, 25, 29 (1988 No. 5) behauptet den Ursprung im Deuteronomium und stützt sich auf WHITE J. in Coffin ν. United States, 156 U.S. 432, 454; 39 L.Ed. 432 (1895), der seinerseits aber nur GREENLEAF zitiert. HORWATT, I Wm. & Mary Bill of Rts.J. 145, 173 (1992) sieht in den Regeln von 2. Mose 21, 1 bis 23, 9 eine Grundlage für die Unschuldsvermutung, weil die Richter gemahnt würden, beide Parteien eines Disputs gleich zu behandeln. 3 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 1 ff., 4. 4 MEYER, 60 Geo.L.J. 1381, 1440 f. (1971-72): Sie versteht Vermutungen als Ausnahmen von der Regel, daß jede Partei die von ihr behaupteten Tatsachen beweisen müsse, die stattdessen der leugnenden Partei die Beweislast auferlegen. Wenn aber die Anklage ohnehin den Nachweis einer Straftat führen müsse und Zweifel dem Angeklagten zugute kommen, gebe es für eine Unschuldsvermutung keine Verwendung.

12

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

reskript, 5 zur Stützung eines behaupteten römischen Ursprungs angeführt, die den Zweifelssatz ausdrücken oder in Strafsachen eine mildere Gesetzesauslegung vorzuziehen anraten6 oder aufklare Beweise als Grundlage einer Verurteilung insistieren 7 . Erstreckt man die Unschuldsvermutung wie im Common Law 8 auch auf den Zivilprozeß, so stört auch die zivilrechtliche Einbettung der Stellen nicht 9 . Unsicher erscheint die Behauptung, daß erst der

Verwiesen wird auf MOMMSEN, Römisches Straßrecht, S. 4 0 0 , 4 3 6 , jedoch ohne Quellenangaben; G E I B , Geschichte des römischen Criminalprocesses, S. 323 (richtiger: S. 328). Vgl. auch ESSAI D, La présomption cence, Nr. 15 S. 26; HÉLIE, Traité de l'instruction criminelle, tome IV, S. 331 f. m.w.Nachw.

d'inno-

5 D . 4 8 , 1 9 , 5, pr. „Absentem in criminibus damnari non debet divus Traianus Iulio Fontoni rescripsit. sed nec de suspicionibus debere aliquem damnari divus Traianus Adsidio Severo rescripsit: satius enim esse impunitum relinqui facinus nocentis quam innocentem damnari." — WENG, „In dubio pro reo", S. 21, zufolge hat die Unschuldsvermutung diesen favor rei geschaffen. 6 So z.B. Justice WHITE in Coffin ν. United States, 156 U.S. 432,454 f. (1895): Neben der Trajansentenz noch D . 5 0 , 1 7 , 5 6 : „Semper in dubiis benigniora praeferenda sunt.", D . 5 0 , 1 7 , 1 5 5 , 2: „In poenalibus causis benignius interpretandum est." und D . 5 0 , 1 7 , 1 9 2 , 1 : „In re dubia benigniorem interpretationem sequi non minus iustius est quam tutius." Gleiches findet sich in D . 48, 19, 42: „Interpretatione legum poenae molliendae sunt potius quam asperandae.", ähnlich D . 34, 5 , 1 0 , 1 : „ . . . i n ambiguis rebus humaniorem sententiam sequi oportet...". A u f diese Stellen verweisen auch ALLEN, The Presumption of Innocence, S. 258 Fn. 1; GREENLEAF, A Treatise on the Law of Evidence, vol. III, § 29 S. 31 Fn. ι. Die meisten Behauptungen des römischen Ursprungs der Unschuldsvermutung fallen durch Quellenferne auf: Ohne Nachweise WENING, N A r c h C r i m R 2 (1818), 194, 199; H . A . ZACHARIAE, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. II, § 110 S. 275; ALTAVILLA, Forensische Psychologie, Bd. II, S. 372 f.; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht,

S . 91; W E N G , „In dubio pro reo", S . 1 7 , 2 1 , 7 7 ; G L A S E R , Handbuch

des Strafprozesses,

B d . I, S . 65; E L I B O L ,

Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 35; SPITTA, Kommentar zur Bremischen Verfassung, Erl. zu Art. 6 Abs. 3. Die meisten amerikanischen Autoren stützen sich auf Cofßn, so M C G U I R E , 96 D i c k . L . R e v . 95, M

( 1 9 9 1 - 9 2 ) ; P E R N E L L , 37 C l e v . S t . L . R e v . 393, 39$ (1989); C . E . A L L E N ,

II Hamline L.Rev. 331, 337 (1988); DOUCETTE, 93 Case & C o m . 24, 24 f. (1988 N o . 5); BOSWORTH, 47 Ohio St.L.J. 277, 277 f. (1986); MILLER, 16 How.L.J. 1 , 1 6 f. (1970-71). Mehrfach angeführt wird die von AMMIANUS MARCELLINUS, Rerum gestarum libri, lib. X V I I I , cap. ι, 4 berichtete Sentenz JULIANS, der in einem Prozeß auf die Frage des von Beweisnot enervierten Redners DELPHIDIUS „Ecquis, florentissime Caesar, nocens esse poterit usquam, si negare sufficiet?" geantwortet haben soll „Ecquis innocens esse poterit, si accusare sufficiet?". Mehr als das, daß die Anklage noch keinen genügenden Schuldbeweis darstellt, ist daraus nicht zu entnehmen. In den Zusammenhang gehört auch der sog. CalculusMinervae, D . 4 2 , 1 , 38 pr. und 1: „Inter pares numero iudices si dissonae sententiae proferantur, in liberalibus quidem causis, secundum quod a divo Pio constitutum est, pro libertate statutum optinet, in aliis autem causis pro reo. quod et in iudiciis publicis optinere oportet." Dazu HOCHULI, S J Z 50 (1954), 249, 250, 251, 258. Eine entsprechende Regel schreibt GREENLEAF, A Treatise on the Law of Evidence, vol. I l l , § 29 S. 31 Fn. 1, unter Berufung auf MASCARDUS dem spartanischen König AGESILAOS und dem antiken Athener Recht zu. 7 C o d . 4 , 1 9 , 25: „Sciant enim accusatores eam se rem deferre in publicam notionem, quae munita sit testibus idoneis vel instructa apertissimis documentis vel indiciis ad probationem indubitatis et luce clarioribus expedita." 8 Siehe unten S. 280 f., 362 f. 9 Bei D . 34, 5 , 1 0 , i, D . 5 0 , 1 7 , 9, D . 5 0 , 1 7 , 56 und D . 5 0 , 1 7 , 1 2 5 . Daß diese Stellen für den Ursprung der Unschuldsvermutung deshalb nichts hergeben, so KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 7 Fn. I, ist ebenso eine teleologische Quelleninterpretation wie die gegenteilige Behauptung. STROGOVIÖ sieht die Ursprünge der strafprozessualen Unschuldsvermutung gerade in den Bonitäts- und Wirksamkeitsvermutungen des römischen Zivilrechts, Ynenue o MamepuaAbHoü ucmuue β yzoAoenoM npou,ecce, S . 228.

A . I . Historische Einführung

13

Einfluß christlicher Werte, Milde und Barmherzigkeit, in spätklassischer Zeit zu einer dem Angeklagten günstigen Lösung der Zweifelssituation geführt habe. 10 Warnungen, jemanden nicht als Schuldigen zu bezeichnen, bevor er überführt sei, lassen sich ebenso in karolingischer Zeit 1 1 und im 11. Jahrhundert nachweisen 12 . Eine Bonitätstwmutung findet sich wohl zuerst gegen 1234 in der Glossa Ordinaria des A C C U R S I U S 1 3 (F ca. 1260) zu der Stelle D. 49,16, 5, 6, die das militärische Disziplinarverfahren betraf 14 . Auf das Strafverfahren bezogen wird die Bonitätsvermutung sodann durch den Postglossator GAN15 D I N U S in seinem ca. 1287 entstandenen Tractatus de maleficiis. G A N D I N U S führt unter der Rubrik der indicia dubitata zweifach eine Bonitätsvermutung an, einmal als praesumptio facti auf der Grundlage vorherigen und Nachtatverhaltens, 16 zum anderen als praesumptio

10 So DE DOMINICIS, Arch.pen. X V I I I (1962), Parte I, 411, 411 ff., 414, auf der Grundlage einer Stelle aus den PAULI libri quinqué Sententiarum in der Lex Romana Visigothorum (Breviarium ALARICI) des Jahres 506, Brev. P. Sent. IV, 12, § 5: „Communem servum unus ex sociis vinciendo futurae libertati non nocebit [...] inter pares enim sententia clementior severiori praefertur: et certae humanae rationis est favere miserioribus, prope et innocentes dicere, quos absolute nocentes pronuntiare non possunt". In klassischer Zeit sei die manumissio eines gemeinsamen Sklaven durch einen Eigentümer noch nicht möglich gewesen. Der von SENECA in Epistulae morales adLucilium, lib. X , ep. 81, S. 270 („Quemadmodum reus sententiis paribus absolvitur et semper quidquid dubium est humanitas inclinât in melius,..."), wiedergegebene calculus Minervae habe nicht in klassischer Zeit gegolten — womit SENECAS Erwähnung nicht erklärt ist. Eine christliche Färbung der humanitas und humana ratio in nachklassischer Zeit ist durchaus plausibel, doch auf diese Weise kaum belegt.

Die später häufig genannten Stellen c. 3 X. II, 19, c. 6 X . II, 22, c. 2 X . V, 41, c. 14 X. II, 28 und reg. iur. 49 in VI O , und infra Fußn. 26, vgl. nur MOSER, »In dubio pro reo«, S. 19 f., gehen über die zuvor angeführten Digestenstellen nicht hinaus und sind teilweise sogar gleichlautend. "

S o i m C A P I T U L A R I U M K A R O L I M A G N I ET LUDOVICI P I I , lib. V I I , cap. C C L I X , Sp. 1 6 7 4 : „ O m -

nia primo diligenter cunctos oportere inquirere et cum iustitia definiantur. Nullus quemquam ante iustum iudicium damnet, nullum suspicionis arbitrio iudicet. Prius quidem probet; & sic iudicet. Non enim qui accusatur, sed qui convincitur, reus est. Pessimum namque & periculosum est quemquam de suspicione iudicare. In ambiguis Dei iudicio reservetur sententia. Quod certe agnoscunt, suo; quod nesciunt, divino reservent iudicio.", ähnl. cap. C C C C L X I V , Sp. 1735. 12 Dekret des Bischofs BURCHARD VON WORMS („Decretum Burchardi", um 1010), lib. X V I . De accusatoribus et testibus, cap. 6: „Ut nullus describatur reus, priusquam convincatur. (Exdecr.; Adrianipapae, cap. 2.) Judex crimino sum discutiens, non ante sententiam proférât finitivam quam aut reus ipse confiteatur, aut per testes idoneos convincatur.", Patrologia latina, Bd. 140, Sp. 910, durchaus im strafrechtlichen Kontext, vgl. cap. 4; Auszug auch bei KROESCHELL, Deutsche Rechtsgeschichte1, Band 1, S. 128 (s.a. S. 125) und WAIDER, Z S t W 89 (1977), 1 0 0 6 , 1 0 0 8 („Vorform der Unschuldsvermutung"). 13 ACCURSIUS, Glossa in Digestum Novum, (b) ad D. 4 9 , 1 6 , 5, 6 (S. 263): „si bonus fuit, et bonus praesumitur, sic etiam si malus: qd fa.s.de pba." Vgl. auch die Glosse zu D. 48, 2, 7, 3. Z u beiden KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 9 ff. 14 D. 49, 16, 5, 6 lautet: „A barbaris remissos milites ita restituí oportere Hadrianus rescripsit, si probabunt se captos evasisse, non transfugisse. sed hoc licet liquido constare non possit, argumentis tarnen cognoscendum est. et si bonus miles antea aestimatus fuit, prope est, ut adfirmationi eius credatur: si remansor aut neglegens suorum aut segnis aut extra contubernium agens, non credetur ei." Dazu KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 5, 9. 15 Siehe KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 11 ff. 16 GANDINUS, Tractatus de maleficiis. De presumptionibus..., § 2, S. 75, 77: „Et hec facti presumptio aliquando trahitur de preterito tempore ad presens... [...] Sicut enim, qui olim fuit malus, hodie malus presumitur [...] sie etiam presumitur pro aliquo, si olim fuit bonus, quod hodie sit bonus, ut dicto § a barbaris."

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

14

naturae auf der Grundlage der Abstammung des Betroffenen 1 7 . Andere zeitgenössische A u toren gingen über diese Aussagen nicht hinaus. 18 In dem Bestreben des Mittelalters, dem Prozeß durch eingehende Regelung und strenge Förmlichkeit gerade des Beweisrechts berechenbare Gestalt zu geben, wurde auch dem zufälligen Tatsachenmaterial und dem ungeordneten Schlußfolgern des Indizienbeweises durch Aufstellen zahlreicher Vermutungen Regularität verliehen. 19 Durch Abstraktion von etwa in den Digesten genannten Fällen und Erhebung eines jeglichen Schlusses zur Vermutung formierten sich Regeln, die nun allein die Funktion des Indizienbeweises übernahmen und folgerichtig als Beweis betrachtet wurden („Legalbeweistheorie") 20 ; Raum für freiere Beweiswürdigung fand sich aber in späteren Generalklauseln 21 und der Generalinquisition 22 . Eine dieser Beweisregeln 23 war die Bonitätsvermutung, die auf Nachweis guten Leumunds oder guter Abstammung eingriff. Ihre Wirkung als ein Beweis unter vielen war begrenzt, ein das Beweisrecht prägendes Prinzip war sie keinesfalls 24 . Daneben entwickelte sich die Bonitätsvermutung im kanonischen Recht mit dem Einsetzen der Verfahrensreform INNOZENZ' III. 2 5 In einem Sendschreiben des Papstes gab dieser die Anweisung, einen Priesteramtskandidaten, dessen Amtswürdigkeit zweifelhaft erschien, bis zum Beweis des Gegenteils zu den Benefizien zuzulassen, da seine Würdigkeit zu vermuten sei. 26 Die Glossa Ordinaria zu den Dekretalen GREGORS IX. verallgemeinert

17

GANDINUS, Tractatus de maleficiis, De presumptionibus..., § 5, S. 79: „Presumptio nature est, ut, si aliquis sit natus ex bona progenie vel bonos habuerit parentes, presumitur esse bonus [...] Sic et si natus fuerit ex mala progenie vel malis parentibus, presumitur esse malus..." mit Verweis auf C. 9, 8, 5 und D. 12, 58, 12, D. 2 1 , 1 , 31, 21. 18 W. Nachw. bei KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 14. " So noch aus späterer Sicht (1715) zur Legalbeweistheorie L. G . W[AKTltil,Jurisprudentia Civilis ac Criminaliis, Lib. IV, Tit. V I § 2, Nr. 41, S. 776: .Argumenta probabilia sumuntur ex circumstantiis facti, qua: infinita sunt, & his fere regulis substitunt." Folgerichtig ist die Aussage VON GROLMANS, Theorie des gerichtlichen Verfahrens5,1826, § 81 a) und b), S. 109,108 bei Fn. 4, zit. bei HEDEMANN, Die Vermutung, S. 90 f. in Fn. 3, daß es soviele Vermutungen geben müsse als Tatsachen gedacht werden können. Zur Verurteilung zu ordentlicher Strafe reichten diese indicia,praesumptiones oder argumenta nicht aus, Zeugen und/oder Geständnis waren unentbehrlich. Zu einzelnen Autoren, die Indizien zur ordentlichen Strafe genügen lassen wollten, s. ALLMANN, Außerordentliche Strafe und Instanzentbindung im Inquisitionsprozesse, S. 17 ff., 35 fF. 20

K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung

der Unschuld,

S. 1 4 ff; L E O N H A R D , Die Beweislast2,

S. 29 (Von den

Glossatoren stammten daher die vielen Regeln — wie quivis praesumitur bonus —, die durch fortwährende Wiederholung durch Jahrhunderte nicht richtiger geworden seien). 21 Nach MEURER, Festschrift Oehler, S. 357, 374, war jedenfalls im 19. Jahrhundert kein Richter derart an Beweisregeln gebunden, daß seiner Überzeugung kein angemessener Raum mehr verblieben sei. 22 Vgl. später Art. 58 und 7 C C C . Dazu JEROUSCHEK, GA1992, 493, 500 f. 23 Kritisch zum Begriff der „Beweisregel" MEURER, Festschrift Oehler, S. 357, 363 f. Der Begriff soll hier gleichwohl als bloßer Sammelbegriff für Beweismaßregeln, Beweiswertregeln und rechtlich zulässige Vermutungen dienen. 24 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 17 ff. 25 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 21 ff. Zur Entstehung des Inquisitionsprozesses knapp ALLMANN, Außerordentliche Strafe und Instanzentbindung im Inquisitionsprozesse, S. 6 ff. 26

DECRETALIUM

PAPAE G R E G O R I I

N O N I , lib. II tit. X X I I I c a p . X V I i n

fine.

(C. 1 6 X I I , 2 3 = Χ ,

2,

23,16). Es werden öfters noch weitere Stellen als Beleg dieses favor rei benannt: c. 3 X de prob. II, 19: „quum promptiora sint iura ad absolvendum quam ad condemnandum"; die häufig für den Satz „actore non pro-

Α. I. Historische Einführung

15

diese Entscheidung zu der Fassung „quemlibet praesumitur bonus" 2 7 und bezieht dies auf jedwedes Delikt. Nachfolgende Autoren folgen der Glosse und bezeichnen die Vermutung als praesumptio iuris et naturae.28 Bereits in dem Hauptwerk des kanonischen Prozesses der Zeit, dem Speculum Iuris des DURANDUS, begegnet sie in allgemeiner Formulierung. 2 9 Weltliche Juristen beziehen sich auf diesen kanonischen Rechtssatz. 30 Im Unterschied zu der Bonitätsvermutung der Legisten ist die kanonische Version allgemeiner gefaßt, sie kommt jedem kraft seines Menschseins zu 31 und gilt für jeden als Individuum 3 2 . THOMAS VON AQUIN kennt die Bonitätsvermutung, erwähnt sie aber nur beiläufig und einschränkend. 33 Die ausführlichste Behandlung der Bonitätsvermutung findet sich später bei M E N O C H I U S

bante reus absolvitur, etsi nihil praestiterit" genannten Stellen c. 3 X de prob. II, 19 und c. 26 X. de sent. II, 27 bevorzugen den Beklagten nur bei gleichwertigem Beweis („et si pariter probant, reus absolvitur"). 27 Allerdings in der mir zugänglichen Ausgabe (Paris 1505) nicht in der Glosse/zu der soeben genannten Stelle, sondern erst in c. 30 X III, 38 (üb. III tit. XXXVIII cap. XXX), fol. C C C L X V col. I, Glosse/(„quilibet praesumitur bonus nisi probetur malus"). Dazu KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 23 f. 28 SCHMIER, Iurisprudentia canonico-civilis, Bd. II, lib. II. tractatus III. caput VIII. § I V N r . 20, S. 248 (abstellend auf die „qualitas, quae naturaüter inest homini"); ZOESIUS, Commentarius in lus Canonicum universum, Comment, in lib. II. Decretal. Tit. XXIII. De Praesumptionibus Nr. 5, S. 146, unter Bezug auf MENOCHIUS; ähnl. KÖNIG, Principia Iuris Canonici, Üb. II. Tit. XXIII. § VI. Nr. 9, S. 194 f. (Beispiel für einen andere „natürliche" Vermutung: „Nemo prasumitur vivere 100 annos", ibid.). In diesem Jahrhundert s. MEILE, Die Beweislehre des kanonischen Prozesses, S. 79. Zum unterschiedlichen Begriff der praesumptio naturae bei den Legisten (natürliche Eigenschaft oder Folge der Ausgangstatsache) und Dekretisten (naturrechtüche Vermutung) s. KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 13, 25 Fn. 5. 25 Bischof DURANDUS (DURANTIS) beruft sich in seinem Speculum Iuris (entstanden ca. 1271, nach anderen zwischen 1289 und 1291), Üb. I, partie. IV, 8. § pr. und 1, S. 272 Ü., zur Begründung des Zweifelssatzes auf die Bonitätsvermutung: „Et tutius est condemnandum absoluere, quam absoluendum condamnare. [...] non dico hoc, vt aliquem contra conscientiam iuuet: sed cum quilibet praesumatur esse bonus. Nec praesumatur esse immemor suae salutis. Secure laboret, quod reus absoluatur, donec contra eum fuerit probatum. [...] quia non statim qui accusatur, reus est, sed qui conuincitur. Saepe enim falso crimina imponuntur." 30 BALDUS, In Decretalium Commentarla, De praesumptionibus, caput XV, S. 246 re.; TANCREDUS, Ordo Iudiciarius, S. 260, Fn. 40 f. Weitere Nachweise bei KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 24 Fn. 3. 31 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 25; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 46 Fn. 157. 32 Nicht hingegen für ganze Völker: MENOCHIUS, De Prxsumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 39, S. 646. 33 Summa Theologica II, 2, Qu. 70, Art. 3. Die Stelle zur Glaubwürdigkeit von Zeugen führt die Bonitätsvermutung sub 2. an, die Stellungnahme THOMAS' mahnt zur Vorsicht: ,¿id secundum dicendum, quòd de quolibet praesumendum est bonum, nisi appareat contrarium; dummodo non vergat in periculum alterius; quia tunc est adhibenda cautela ut non de facili unicuique credatur, secundum illud (I. loan. IV, 1): Nolite credere omni spiritui." (Hervorh. im Original) Diese Einschränkung findet sich bei allen späteren Autoren, vgl. nur MENOCHIUS, De Prxsumptionibus, Über V, praesumptio I, Nr. 19, S. 645; ALCIATUS, Tractatus de Pr&sumptionibus, Regula tertia, praesumptio II, Sp. 675 (differenzierend, da die Vermutung nicht jemanden begünstigen solle, sondern aus der Natur folge), prasumptio IV, Sp. 678; MASCARDUS, Conclusionesprobationum, conclusio CCXXII, Nr. 5—6, S. 386 f. BARBOSA, Tractatus Varii, Axioma 142, bezieht sich auf Summa Theologica II, 2, Qu. 60, Art. 3., worin THOMAS das auf Verdacht gestützte Urteil {judicium ex suspicione procedens) zur Todsünde erklärt. In Qu. 60, Art. 4 dekretiert THOMAS: „dubia judicia de malitia alterius, semper sunt in meliorem partem in-

ι6

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

(1532—1607), der erstmals deutlich zwischen Bonitäts- und Unschuldsvermutung trennt. 34 Begründet wird der Satz mit dem Gutsein der Schöpfung 3 5 und der natürlichen Neigung der menschlichen ratio zum Guten, 3 6 wenn auch nicht mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen 3 7 . Andere ziehen häufig eine Vermutung gegen die Heilsvergessenheit jedes einzelnen heran. 38 Die Erbsünde stehe dieser Vermutung nicht entgegen, da sie die gute Natur des Menschen nicht auslösche, sondern eher ein impedimentum

(ihrer Verwirklichung) sei;

schließlich sei durch den Tod Christi und die Taufe der ursprüngliche status innocentia et bonitatis wiederhergestellt. 39 MENOCHIUS führt zahlreiche Ableitungen für alle Rechtsge-

terpretanda." and Ad secundum·. „Et ideo ad hoc potius tendere debemus in tali judicio, quòd hominem judicemus bonum, nisi manifesta ratio in contrarium appareat." 34 MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 16, S. 645 Ii.: „Ex hac praesumtione fluit & ilia, qua dicimus quemlibet praesumi innocentem, ..., qui subiungit quemlibet sine vitio." Die Unschuldsvermutung ist eine der vielen Konkretisierungen der zugrundeliegenden Bonitätsvermutung, s.a. praesumptio II, Nr. 1, S. 647: „...ex superiore praesumptione fluit haec notabilis & egregia, qua dicimus neminem delinquisse presumi: cum delinquere & peccare viri boni non sit, sed mali, & nequam. Hanc praesumptionem nostram probant iura multa..." 35 MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 9, S. 644, bezogen auf ι. Mose 1, 31: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut." (Text nach der „Elberfelder Bibel", 60. Aufl. Wuppertal 1979). 36 MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 14, S. 645, im Gegensatz zu materia seu sensus, die zum Bösen tendierten, siehe 1. Mose 8, 21: „...denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an;..." Der Vers beziehe sich nur auf sensus, der nicht die wahre Natur des Menschen sei („qui est impropriè naturas hominis"), diese ist vielmehr die ratio, MENOCHIUS, ibid. Ahnlich in Römer 7. Zuvor wurde ebenso die aristotelische Ethik insoweit zurückgewiesen (der zugeschrieben wird, den Menschen von Natur für weder gut noch schlecht zu halten), MENOCHIUS, ibid., Nr. 2, 6 ff., unter Berufung auf THOMAS VON AQUIN, Summa Theologica II, 1, Qu. 94, Art. 2. Indes ist für die aristotelische und thomistische Naturrechtslehre das Sein im Sinne einer teleologischen Metaphysik werthaft, d.h. nur das Gute ist das vollkommene, naturgemäße Sein. Der lex aeterna gemäß neigt jedes Ding, auch der Mensch zum Guten. Vgl. ARISTOTELES, Politik, I 2 (1252b), S. 13; I 5 (1254a), S . 1 7 ; T H O M A S VON A Q U I N , Summa

Theologica

I I , 1 , Q u . 93, A r t . 6, Q u . 7 1 , A r t . 2. D a z u s. W E L Z E L ,

Na-

turrecht und materiale Gerechrìgkeit, S. 29 ff., 58 f. Zur Naturrechtslehre RUFINS, der MENOCHIUS folgte, s. WEIGAND, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, S. 144 ff., 362 f. Eingehend dazu und mit weiteren Nachweisen KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 26. 37 So aber KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 26; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 46. Ausdrückliche Verweise auf 1. Mose 1, 27 („Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn.") ließen sich jedoch nicht feststellen. Auch bei MENOCHIUS fehlt dieser Hinweis, er sagt nur: „natura est ab ipso Deo, qui est natura naturans" usw., De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 10, S. 644; zum Begriff „natura naturans" s. WEIGAND, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, S. 63 f., 148 f. Zur Gottesebenbildlichkeit, die vollkommen nur im Urständ und nach der Erlösung ist, s. PRENTER, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart3, Band I, Art. .Anthropologie" IV., Sp. 422 f. In säkularer Form spricht später (1846) ROEDER, Grundzüge des Naturrechts, S. 134, von der „Gottähnlichkeit des endlichen Vernunftwesens" und leitet daraus ein „Recht auf Ehre oder auf volle Geltung der Menschenwürde" ab, zu dem die Bonitätsvermutung gehört. 38 So schon BALDUS, In Decretalium Commentarla, De praesumptionibus, caput XV, S. 246 re.: „... quare nemo praesumitur delinquere. S. quia nemo praesumitur immemor suae salutis." und DURANDUS, Speculum Iuris, o. Fußn. 18. Siehe auch unten Fußn. 45 und MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio V, S. 661. 35 MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 9, S. 644: peccatum originale non esse in essentia animae, sed in potentia sola: cum essentia ipsa anima iusta bonáque sit. Nam cuncta quae

A . I . Historische Einführung

17

biete an, kennt auch spezielle B o n i t ä t s v e r m u t u n g e n , die an Indizien g e k n ü p f t sind, 4 0 u n d A b s t u f u n g e n je nach S t a n d des B e t r o f f e n e n 4 1 . H e r v o r z u h e b e n ist seine A b l e h n u n g einer allgemeinen dolus-Vermutung

als unvereinbar mit d e m G r u n d s a t z der B o n i t ä t 4 2 . Allerdings

kann die B o n i t ä t s - u n d U n s c h u l d s v e r m u t u n g durchaus d u r c h gegenläufige, speziellere V e r b r e c h e n s v e r m u t u n g e n ü b e r w u n d e n 4 3 oder außer K r a f t gesetzt w e r d e n d u r c h v o r a n g e g a n g e nes Verhalten: semel malus,

semper

malusi

A n d e r e A u t o r e n des 15. bis z u m b e g i n n e n d e n 1 7 . J a h r h u n d e r t w i e namentlich A L C I A T U S (1492-1553), BARBOSA (1589-1649), BASSANUS, BOSSIUS ( t 1546), C L A R U S ( t 1575), FARIN A C I U S ( 1 5 4 4 - 1 6 1 8 ) , G H I R L A N D U S u n d M A S C A R D U S ( t ca. 1 6 3 0 ) präzisieren, o f t i m A n schluß an M E N O C H I U S , die B o n i t ä t s v e r m u t u n g ebenfalls unter anderem zur strafrechtlichen U n s c h u l d s v e r m u t u n g u n d gründen sie auf die N a t u r des M e n s c h e n , seinen U r s p r u n g im u n d seiner N e i g u n g z u m G u t e n 4 5 . G l e i c h w o h l w i r d die U n s c h u l d s v e r m u t u n g nach d e m

creauit Deus erant valde bona...", und Nr. 12, S. 645: „ N o n enim obstet ea, qua: pro secunda opinione considerauimus. N a m illud Genes, cap. 8 procedit ob peccatum primi parentis, quod non effecit, quin ab ipsa natura homo creatus sit bonus, sed illi bonitate aliquod attulit impedimentum, quod quidem (si Christianè loquimur) fuit ita sublatum per mortem Seruatoris nostri, & ex sacri Baptismatis lavacro, vt restituì verè dicamur primaeuo statui innocenti^ & bonitatis." Siehe auch BARBOSA, Tractatus Varii, Axioma 142 (Malus), Nr. 2, S. 98: „Quamvis in dubio quilibet regulariter praesumitur bonus, & non malus. & nemo praesumitur delinquere... quia licet per primum peccatum natura humana prona sit ad malum, vnde & fomes peccati ortum habet...tarnen quia inclinado ille ex se peccatum non est,...non tollit quo minus homo, qui bonus à Deo creatus est. ... & qui potentiam & aptitudinem habet ad bonum... ius habeat à natura, vt apud alios in dubio in bona sit opinione." 40

MENOCHIUS, De Prxsumptionibus, MENOCHIUS, De Pr&sumptionibus, multo magis haec praesumptio in nobili & mendum est [mit Verweis auf LUCAS DE ignobili." 41

liber V, praesumptio X L V I I I , S. 731 ff. liber V, praesumptio IV, S. 660 re.: „Rursus procedit quoque divite: quia de his quibus sunt integra; facultates bene praesuPENNA]...Hinc dicimus magis praesumi pro nobili quam pro

42

MENOCHIUS, De Prœsumptionibus, liber V, praesumptio III, Nr. 1 4 - 1 6 , S. 653: „...pro regula constituimus, dolum non praesumi. Et huius sententias ratio est, quia si quilibet à natura bonus praesumitur cessât praesumptio doli, cum bonus non sit, qui alterum dolo circumvenit. ... si etiam dicimus, fraudem non p r e sumi." 43

MENOCHIUS, De Prœsumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 33, S. 646: „Et accedit, quod tunc demum quilibet praesumitur bonus, quando non extat praesumptio in contrarium: secus, si extat." Zust. FARINACIUS, Praxis et Theorica criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio X L V I I , Nr. 285 S. 743, der die gegenteilige Ansicht ebenfalls ablehnt: „ N a m tunc absurdum est dicere, quod bonitatis pra:sumtio non tollatur per illam specialem praesumtionem [sceleris], & certum sit generi per speciem deroga"·" Vgl. auch MENOCHIUS, De Prœsumptionibus, liber V, praesumptio IV, Nr. 3, S. 66o: „prsesumitur innocens, quem nullus accusavit" (innocens hier als sündenfrei, Kontext ist adulterium). 44

Die Regel findet sich schon 1298 in reg. iur. 8 in VI O : MENOCHIUS, De Prœsumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 32, S. 646, praesumptio II, Nr. 50, S. 650. 45 ALCIATUS, Tractatus de Prœsumptionibus, Regula tertia (principalis regula est, quod semper sit praesumptio in meliorem partem), praesumptio IV, Sp. 677: „Nemo priesumitur immemor salutis ¡eterna. ... Et quilibet priesumitur innocens à peccato ... sicut quilibet praesumitur esse alieno à dolo... & culpa." (Hervorh. hinzugefügt). Er führt die Bonitätsvermutung ein als „praesumptio naturae", die „procedit generaliter ex natura", ibid. praesumptio II, Sp. 675. Vgl. KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 27 ff. G H I R LANDUS, De relaxatione carceratorum, fol. 353, col. 2 Nr. 2: „Innocens praesumitur, cuius nocentia non probatur. [...] ...quia potius praesumendum est pro eius innocentia, quàm pro culpa, quia de bono viro bonum

ι8

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Stand des Betroffenen abgestuft:.46 Spezielle Bonitätsvermutungen knüpfen an sein Verhalten, auch das Aussageverhalten47 an, zahlreiche gegenteilige Vermutungen sind nicht ausgeschlossen48 und lassen nur geringen Raum für ein Eingreifen der allgemeinen Bonitätsvermutung. Sie soll zwar im Zweifelsfall den Ausschlag geben,49 aber in einem Verfahren gesetzlich geregelter Beweiswürdigung kommen Zweifel als Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor, sondern allenfalls beim Zusammentreffen mehrerer indicia dubitata bei der Frage, ob zur Folter geschritten werden soll50. Ergeben die Beweise keinen vollen Beweis, so durfte eben nicht verurteilt werden; der mangelnde Schuldbeweis ist aber nicht identisch mit der

prassumendum est." mit Bezug auf die Glosse zu A barbari; remissos. MASCARDUS, Conclusiones num, conclusio C C X X I I , Nr. 1 - 4 mit Belegen antiker Autoren, S. 386 [Der v o n KÖSTER, Die

probatio-

Rechtsvermu-

tung der Unschuld, S. 28 Fn. 7 behauptete Bezug auf antike Philosophen kann nicht nachvollzogen werden. MASCARDUS spricht aber v o n „praesumptio naturae", die er in conclusio M C C X X V , Nr. 2, S. 614 re., mit der üblichen Formulierung so definiert: „ N a t u r a autem praesumptio ilia est, qua: ex his, quae naturaliter nobis insunt, résultat, & emanat..." Anders aber auch ALCIATUS in den soeben zitierten Stellen.]. FARINACIUS, Praxis et Theories criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio X L V I I , S. 742: „Regvia Sit, quod in dubio praesumitur bonus bonseque conditionis, & fama:, non autem malus, vel mala: conditionis. [...] Et est ratio secundum Philosophum [...], quia Deus, & natura semper faciunt meliora nec deficiunt in necessariis" (mit Verweisen auf MASCARDUS und MENOCHIUS). S.a. Nr. 283, S. 743 mit Zitat von BALDUS: „bonitas propagata est ex origine, & procliuita natura: scelus autem nequaquam". 46

ALCIATUS, Tractatus de Pnesumptionibus,

Regula tertia, praesumptio IV, Sp. 677: „Idem si sit diUi-

gens agricola, quia talis praesumitur innocens & quietus. Idem etiam in nobili & divite, quia bene praesumitur de his quibus sunt integra: facultates, & maiorum suorum haereditates incólumes." (Hervorh. hinzugefügt); ähnlich MASCARDUS, Conclusionesprobationum, FARINACIUS, Praxis et TheorieΛ criminalis,

conclusio C C X X I I , Nr. 3 f., S. 386 re.; genauso

lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio X L V I I ,

N r n . 278 ff., S. 742 ff. (vgl. nur Nr. 280: „Bonus non praesumitur, qui est uilis, & pauper."); sowie BARBOSA, Tractatus Varii, A x i o m a 37 (Bona, Bonus), Nr. 4, S. 23: „ubi quòd bonus praesumitur, qui de bono genere natus est." und DAMHOUDER (1507—1581), Praxis Rerum Criminalium,

cap. X , Nr. 10, S. 21: „ N a m

de vnoquoque, bonus, vel malus presumimus, consideratis primae aetatis sua: moribus [mit Verweis auf die Glosse zu A barbaris remisses]". 47

Siehe nur FARINACIUS, Praxis et Theorien criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio

LH, Nr. 44: „innocentia praesumitur in reo, qui alacriter & sine trepidatione respondet". A h n l . B o s s i u s , Tractatus varii, D e Responsionibus à reo faciendis Nr. 9, S. 141. 48

MASCARDUS, Conclusiones probationum,

conclusio C C X X I I , Nr. 18 f. und natürlich: semel malus,

Nr. 20 (jedenfalls in den drei Jahren nach der letzten Tat). S.a. ALCIATUS, Tractatus de

Prxsumptionibus,

Regula tertia, praesumptio II, Sp. 675; praesumptio I, Nr. 1—3, Sp. 673 ( „ Q u i n t o limitatur vbi ex necessitate vitae praecedentis aliud induceretur. ... quando ex actibus praecedentibus oriretur coniectura doli, talis praeponderaret."); BARBOSA, Tractatus Varii, A x i o m a 142, Nr. 1, 5, S. 98 (semel malus)·, beide m . w . N a c h w . ; FARINACIUS, Praxis et Theorica criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio X L V I I , Nr. 278 ff., 298, S. 742 ff. Vgl. auch BASSANUS, Theoretico-Praxis Criminalis, Liber V, cap. I, Nr. 80, S. 339 f.: „lex praesumit u n u m q u e m q u e b o n u m [...] hoc est verum, donec concludenter probetur malus." 49

Im Zweifelsfall: MASCARDUS, Conclusiones probationum,

conclusio M C C X X V , Nr. 9, S. 614 („quod

in dubio magis semper creditur testibus de bonitate, quam aliter afferentibus"); MENOCHIUS, De Pnesumptionibus, liber V, praesumptio X L I X Nr. 3, S. 735; FARINACIUS, Praxis et Theorien criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio X L V I I , Nr. 277, S. 742. D o c h oft dürfte es zum dubium nicht gekommen sein, und selbst dann hieß die Folge regelmäßig nur absolutio ab instantia oder mindere Strafe, s. M E N O CHIUS, ibid.; KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 33. 50

HOLZHAUER, in dubio pro reo, Sp. 352 f.; SAX, Festschrift Stock, S. 143,146 ff.

A.I. Historische Einführung

19

Annahme der Unschuld und führt auch nicht zur vollständigen Freisprechung. 51 Für die Rechtsfolge wird ohnehin zwischen innocens (crimen non commissum) und non repertus culpabilis (crimen non probatum) unterschieden. 52 M i t der schon von ALCIATUS 5 3 vertretenen „Vermutungstheorie", 5 4 die Vermutungen nicht mehr als Beweis, sondern als Wahrscheinlichkeitsaussagen betrachtet, die aber die Beweislast verschieben können, wurde die U n schuldsvermutung zunehmend als Beweislastverteilung zugunsten des Angeklagten gesehen 55 . Jedoch bedeutete dies, wie KÖSTER 5 6 hervorhebt, nur eine Neubegründung der geltenden Verfahrensgestaltung, 57 insbesondere hatte dies keinen Einfluß auf die entscheidende Frage nach dem erforderlichen Beweiswz 295, 305 f. (einschränkend); S E E B O D E , Der Vollzugder Untersuchungshaft, S . 83 f.; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 475 f., 498. Ähnl. LR24-GOLLWITZER, Art. 6 MRK Rn. 110. 1 0 6 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 94. 107

T R E C H S E L , S J Z 7 7 ( 1 9 8 1 ) , 335, 3 3 6 ; ä h n l . L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K R n . 1 1 0 .

M A R X E N , GA1980, 365,374; P A E F F G E N , Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S . 113,127 Fn. 64 (auch gegen die Mißachtung der Unschuldsvermutung bei Geständnissen in der Prozeßberichterstattung); VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 439. 109 OSTENDORF, StV 1992, 288, 289. A.A. STREE, JR1993, 39, 40: „reine Unterstellung", denn der Täter gestehe seine Schuld kaum mit dem Willen, ζ. B. den Widerruf einer Strafaussetzung zu ermöglichen. 108

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

6l

cc) Zeitlicher Anwendungsbereich N a c h allgemeiner M e i n u n g gilt die U n s c h u l d s v e r m u t u n g nicht erst m i t der E r h e b u n g der A n k l a g e , 1 1 0 sondern v o m B e g i n n der E r m i t t l u n g e n 1 1 1 an bzw. mit Entstehen des Tatverd a c h t s 1 1 2 bis z u m rechtskräftigen 1 1 3 Verfahrensabschluß, in w e l c h e m sie entweder widerlegt oder bestätigt w e r d e . A P P L begründet das Erfordernis der Rechtskraft d a m i t , daß die „ p r o zeßordnungsgemäße

Feststellung", die das Bundesverfassungsgericht g e n ü g e n läßt, ein

deutliches M i n u s an Wahrscheinlichkeit der T a t b e g e h u n g gegenüber einem rechtskräftigen Urteil bedeute: wäre die für „ e r w i e s e n " erachtete Tat zweifelsfrei erwiesen, so stände einer rechtskräftigen Verurteilung nichts i m W e g e . 1 1 4 A n d e r e halten den S c h u l d n a c h w e i s mit d e m E n d e des V e r f a h r e n s , 1 1 5 das mit der Rechtskraft nicht gleichzusetzen sei, für erbracht, oder w e n n der Richter v o n der S c h u l d des A n -

110

O L G Köln N J W 1 9 8 7 , 2682, 2684: denn das Schutzbedürfnis des Betroffenen bestehe schon vorher. Die Begründung beruht zumeist auf dem Argument a maiore ad minus, wenn schon der Richter die Unschuld zu vermuten habe, dann dürften alle anderen staatlichen Organe den Beschuldigten erst recht nicht als schuldig behandeln, KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 175; KONDZIELA, MschrKrim 1989, 177, 180 f.; DALBKERMEYER, Der Schutz des Beschuldigten, S. 24 (arg. a fortiori). Nach SCHROEDER, 140 Jahre Goltdammer's Archiv, S. 205, 209, wäre „es geradezu grotesk", wenn die Unschuldsvermutung erst von einem bestimmten Verfahrensabschnitt an gölte. Z u r anfänglich abweichenden Judikatur der E u K M R siehe unten S. 417 f. 111

112 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 165 ff.; PAEFFGEN, Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S. 113, 133 Fn. 90; SK-SÍPO/PAEFFGEN, Vor § 112 Rn. 26. 113 Siehe die oben Fußn. 1 zitierten Länderverfassungen und B V e r f G E 19, 342, 347; 35, 202, 232; 35, 311, 320; 71, 206, 216 f.; 74, 358, 371; AMENDT, Die Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Sicherheitsleistungsvorschriften, S. 19 f.; APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 166 f., 1 7 0 f.; BORNKAMM, Pressefreiheit und Fairneßdes Strafverfahrens, S. 267; DERS., N S t Z 1983, 102, 107; ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 57; FRISTER, SchulAprinzip, S. 92, 105; HÖH, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 11 Fn. 3; KK 3 -PFEIFFER, Einl. Rn. 29f, 32a; KK 3 -BOUJONG, Vor § 112 Rn. 8; KER-

SCHER,

Gerichtsberichterstattung,

S. 306;

KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42,

Art. 6

MRK

R n . 15;

K M R 7 - P A U L U S , § 2 4 4 R n . 304; K R E Y , J A 1983, 638, 638; K Ü H L , Festschrift H u b m a n n , S. 2 4 1 , 250 ff.; D E R S . , J R 1 9 7 8 , 9 4 , 9 9 ; K Ü H N E , Strafverfahrensrecht

als Kommunikationsproblem,

S. 61; L R 2 4 - G O L L W I T -

ZER, Art. 6 M R K Rn. 137, 139; MARXEN, G A 1980, 365, 365, 374; DERS., Straftatsystem und Strafprozeß, S. 345; NEBINGER, Kommentar zur Verfassung von Württemberg-Baden, Art. 4 A n m . 2; OSTENDORF, G A 1980, 445, 466; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 51; PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten, S. 161 [395]; EB. SCHMIDT, Justiz und Publizistik, S. 56 Fn. 21; SK-StPO/RuDOLPHi, Vor § 94 Rn. 9; SK-StPO/ PAEFFGEN, Vor § 112 Rn. 26; SK-StPO/RoGALL, Vor § 133 Rn. 75; SIOLEK, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 121; VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 439; WACKE, J A 1 9 8 7 , 1 9 1 , 1 9 3 . Allerdings differieren die Formulierungen in den Landesverfassungen, die z.T. nur auf die Verurteilung abstellen, siehe oben S. 46 in Fußn. 1. 114 APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 170 f., im Zusammenhang mit der strafschärfenden Verwertung von Nebentaten und im Anschluß an HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 292. Angemerkt sei, daß dies allgemein betrachtet nicht schlüssig ist: stellte man etwa auf den Zeitpunkt der abgeschlossenen Beweiswürdigung der Tatsacheninstanz ab, so ist dieses „Minus" nicht zu ersehen. Im übrigen mag es noch andere Gründe geben, die trotz Überzeugung später eine rechtskräftige Verurteilung hindern, z.B. im Rechtsmittelverfahren eintretende dauernde Prozeßhindernisse. Schließlich ist die Überzeugung von der Tat nicht an eine Verurteilung als Rechtsfolge zwangsläufig gekoppelt, da gerade die §§ 153 ff. StPO andere Erledigungsmöglichkeiten eröffnen. 115

I n t K o m m / V o G L E R , A r t . 6 R n . 395.

62

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

geklagten „überzeugt" sei, 116 was als normative Frage auch bei hinreichendem Verdacht bejaht werden könne, 117 oder wenn die Verwirklichung strafrechtlichen Unrechts gerichtlich festgestellt sei in den Gründen jedweder Entscheidung 118 . So formuliert SCHÄTZLER, die Unschuldsvermutung sei eine Maxime für die Behandlung des Angeklagten im Strafverfahren, solange es offen sei. Vor einem Geständnis oder einer Verurteilung in erster Instanz dürfe man nicht die Augen verschließen. 119 B R U N S und T R E C H S E L lassen jeden in einem gesetzlich geregelten Verfahren erbrachten Beweis genügen. 120 Auch G R O P P hält eine vorläufige Verhängung von Strafen bereits vor Rechtskraft für zulässig als Folge einer Abwägung von Unschuldsvermutung und Unmittelbarkeitsgrundsatz. Die rechtskräftige Verurteilung schaffe nur eine überlagernde Schuldvermutung, die nicht endgültig sei, da sie im Wiederaufnahmeverfahren beseitigt werden könne. 121 Das Bundesverfassungsgericht differenziert neuerdings nach der Art der nachfolgenden Eingriffe: So dürfen zum einen im konkreten Strafverfahren Maßnahmen gegen den Beschuldigten, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen und ihn verfahrensbezogen als schuldig behandeln, erst nach gesetzlichem, prozeßordnungsgemäßem, 122 aber nicht notwendigerweise rechtskräftigem Schuldnachweis verhängt werden. Zum anderen dürfe dem Betroffenen im Rechtsverkehr allgemein seine Schuld erst nach rechtskräftigem Nachweis vorgehalten werden. 123 Folglich hält es richterliche Schuldfeststellungen bereits nach einem bis zur Schuldspruchreife - nach dem letzten Wort des Angeklagten 124 - durchgeführten Verfahren für zulässig, auch wenn es danach nicht zur Verurteilung, sondern zur Einstellung kommt. 1 2 5 Offen bleibt bei dieser Formulierung aber, ob die Unschuldsvermutung im Berufungs- und Revisionsverfahren nicht mehr gelten soll. 126 Bei Einstellungen au-

116

vention,

Die Europäische Konvention, Art. 6 Nr. 7; G U R A D Z E , Die Europäische MenschenrechtskonArt. 6 Nr. 25 (von Rechtskraft sage Art. 6 Abs. 2 E u M R K nichts); abl. HÖH, Strafrechtlicher An-

SCHORN,

onymitätsschutz, 117

KÜHL,

S. II Fn. 3 (zu unbestimmt).

Wahrheit und materielles Recht, S . 10; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 26 Fn. 87.

VOLK,

S.

73. Zust.

118 K M R S - S A X , Vor § 296 R N . 4b, S . 946; K M R 7 - P A U L U S , Vor § 296 R N . 55 a.E.: also nicht bis zur Bestrafung oder Verurteilung, folglich seien Art. 65 Abs. 2 Berliner Verf. und Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Bremische Verf. „unrichtig". 2 S C H Ä T Z L E R , StrEG , § 3 Rn. 17. 120 B R U N S , StV 1982, 18, 19; T R E C H S E L , S J Z 77 (1981), 317, 324 m. Fn. 64. Dagegen V O G L E R , NStZ 1987, 127, 129 mit Fn. 20. 121

122

G R O P P , J Z 1 9 9 1 , 8 0 4 , 8 1 2 f.

Krit. zum Begriff der „prozeßordnungsgemäßen" Feststellung H A B E R S T R O H , N S t Z 1984, 289, 291 f., da eine vollständige Beweisaufnahme und Schuldfeststellung nach §§ 244 Abs. 2, 261 StPO offensichtlich nicht gemeint sei. 123 BVerfGE 74, 358, 371. 124 BVerfGE 82, 106, 117; 74, 358, 374. Dagegen S C H Ü N E M A N N , Gutachten Β für den 58. DJT, Bd. I , Β 98: Schuldspruchreife trete vor Gewährung des letzten Wortes des Angeklagten ein, das nur noch die Gewährung rechtlichen Gehörs darstelle, während die Beweisaufnahme abgeschlossen sei. 125 BVerfGE 82, 106, 117; BVerfG N S t Z 1992, 289, 290; BVerfG N J W 1992, 1612 f.; BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1992, 2011; ähnl. OLG Hamm N J W 1986, 734, 735; zust. L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K R n . 139. A.A. M A H R E N H O L Z (Sondervotum), BVerfGE 82,122,123; K Ü H L , N J W 1988, 3233, 3238 f.; K U S C H , N S t Z 1987, 426, 427 f.; S K - S t P O / P A E F F G E N , Vor § 112 Rn. 27. 126 So die Kritik von P A U L U S , N S t Z 1990, 600, 600 re.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

63

ßerhalb des Hauptverfahrens sind gem. § 76 G V G überdies die Richter nicht dieselben, die an der Beweisaufnahme teilgenommen haben. 1 2 7 SiOLEK deutet die Judikatur des Bundesverfassungsgericht so, daß der tatrichterliche Schuldspruch die Fortdauer der Unschuldsvermutung nicht berühre. Innerhalb einer Instanz ende sie aber mit der Verurteilung durch das erkennende Gericht; Wirkung habe sie danach nur noch für die nachfolgenden Instanzen. Der maßgebliche Zeitpunkt dieser Zäsur innerhalb einer Instanz sei erreicht, wenn eine erschöpfende Beweisaufnahme stattgefunden habe, die zur gerichtlichen Uberzeugungsbildung geführt habe. Dies könne auch bei einer „Zwischenbilanz" im Stadium der Beweisaufnahme der Fall sein. Kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liege daher in dem Verzicht auf Zeugenvernehmungen, wenn es unwahrscheinlich ist, daß sich noch vernünftige Zweifel an dem bisherigen Beweisergebnis ergeben könnten. 1 2 8

dd) Sachlicher Anwendungsbereich Neben ihrem hauptsächlichen Regelungsgebiet, dem Straf- und Strafverfahrensrecht, wird die Geltung der Unschuldsvermutung heute 129 erstreckt auf das Ordnungswidrigkeitenrecht, 130 zuweilen auch auf ehrengerichtliche 131 und Disziplinarverfahren 1 3 2 . Darin wird zugleich auch eine Begrenzung gesehen. 133 Uneinigkeit herrscht über die Geltung für die Maßregeln der Sicherung und Besserung und vorläufigen Maßregeln, die bisweilen mit der Begründung ausgeklammert werden, es handele sich um bloße Präventivmaßnahmen 1 3 4

K U S C H , NStZ 1987, 426, 428; zust. T E S K E , wistra 1989,131,132. SiOLEK, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 127 ff. 125 Nach Z I N N / S T E I N , Die Verfassung des Landes Hessen, Art. 20 Nr. 4, bezieht sich die Unschuldsvermutung nach Entstehungsgeschichte und Sinn nur auf das Verfahren zum Zwecke der Bestrafung nach materiellem Strafrecht, also nicht auf zivil- und verwaltungsgerichtliches Verfahren, Disziplinar- und Ordnungsstrafverfahren o.a. 130 BVerfG NStZ 1992, 238 u f.; G Ö H L E R , OWiG", § 46 Rn. 10b; § 47 Rn. 45; IntKomm/VoGLER, 127

128

A r t . 6 R n . 3 8 5 ; K K - O W Ì G / W A C H E , V o r § 53 R n . 6 6 ; K K - O W Ì G / L A M P E , § 4 6 R n . 7 ; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R ,

Art. 6 MRK Rn. 131; P A U L U S , NStZ 1990, 600, 601; R O S E N K Ö T T E R , Das Recht der Ordnungswidrigkeiten0, Rn. 248; SK-StPO/PAEFFGEN, Vor §112 Rn. 26. A.A. BReg, EuGRZ 1987, 399, 401. S.a. EuGHMR Serie A Nr. 73, S. 17 ff. = NJW 1985, 1273 ff. (Öztürk)·, EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 22 ff. §§ 51 ff. (Lutz) = EuGRZ 1987, 399 ff. Die Geltung der Unschuldsvermutung im Bußgeldverfahren ist umstritten s. G Ö H L E R , OWiGn, § 46 Rn. 10 b (verneinend zur Geltung von Art. 6 Abs. 2 EuMRK, bejahend zur Unschuldsvermutung via Rechtsstaatsprinzip). 131 BGHSt 20, 68, 70 f.; G U R A D Z E , Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 22; einschr. L R M - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K R n . 131. 132

IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 385; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 MRK Rn. 131. Nach SK-StPO/PAEFFGEN, Vor § 112 Rn. 26, folgt diese Beschränkung aus der Positivierung in den Landesverfassungen und aus Art. 6 Abs. 2 EuMRK. M E Y E R , Festschrift Tröndle, S. 61, 62 f.: die Unschuldsvermutung sei ihrem Wesen nach nur für das Strafrecht erforderlich. IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 383 ff., 388: nur auf Sanktionen anwendbar, die das der Kriminalstrafe eigentümliche sozialethische Unwerturteil ausdrücken; M R O Z Y N S K I , J Z 1978, 255, da außerstrafrechtliche Normen, die an Straftaten anknüpfen, nicht stets eine rechtskräftige Verurteilung verlangen, so z.B. § 1611 Abs. 1 BGB. 134 So wohl F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 102, 36 f.; M Ö L L E R , Vorläufige Maßregeln, S. 216 ff.; SK-StPO/ 133

R U D O L P H I , V o r § 9 4 R n . 8.

64

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

bzw. daß es keine Vermutung der Ungefährlichkeit 135 gebe. 136 Dagegen wird betont, daß es sich bei der Unschuldsvermutung auch um eine „Nicht-Unrechts-Vermutung" handele. 137 Nach K Ö S T E R ist der Satz auf jede Sanktion, die um der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen willen angedroht wird, anwendbar, also auch im Militär-, Disziplinar-, Finanz-138 und Ordnungswidrigkeitensektor, nicht hingegen im nur auf Interessenausgleich zielenden Zivilrecht 139 . F R I S T E R hält eine Beschränkung der Unschuldsvermutung auf einen bestimmten Regelungsbereich bei einem Verständnis als „gesetzliche Sicherheit" der Normtreue nicht für möglich. 140 So versteht M A R X E N die Unschuldsvermutung als gesellschaftliches Organisationsprinzip, ein Rechtsprinzip, das „für die neuzeitliche Form gesellschaftlichen Zusammenlebens" konstitutiv sei, da eine friedliche Koexistenz von Individuen nur denkbar sei, wenn ein allgemeinverbindliches Verfahren, das jede voreilige Annahme über die Schuld des Verdächtigen vermeide, die Reaktion auf Abweichung kanalisiere. Ein strafrechtsinternes Prinzip könne das nicht leisten, folglich gelte die Unschuldsvermutung generell in allen Rechtsgebieten, z.B. auch im Arbeitsrecht bei Verdachtskündigungen. 141 In der Tat wird im Arbeitsrecht die Zulässigkeit der Figur der Kündigung wegen Verdachts einer Straftat von manchen mit Blick auf die Unschuldsvermutung erörtert und teilweise verworfen. 142 Wohl überwiegend wird die Unschuldsvermutung jedoch für unanwendbar oder nur eingeschränkt anwendbar gehalten, weil die Unschuldsvermutung nur den Richter binde, 143 die Kündigung nicht strafgleich, weil nach Voraussetzungen, Zweck, Funktion und Verfahren von der Strafe „grundverschieden" 144 sei. Zum einen sei im Vertragsrecht eine Beweislastumkehr mehrfach anerkannt, zum anderen treffe beide Vertragspartner in gewissem Umfang eine Erfüllungsgarantie, so sei die Kündigung ein nicht an Verschulden gebundenes Gestaltungsrecht und keine Sanktion. 145 Fände die Unschuldsver-

135 WOLTER, ZStW 93 (1981), 452, 488; DERS., Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 102 Fn. 57; SK-StPO/RuDOLPHi, Vor § 94 RN. 8; MÖLLER, Vorläufige Maßregeln, S. 216. 136 Kritisch hingegen SEELMANN, NJW 1979,1128,1132 (zu §§ m a , 126a, 132a StPO). 137

PAEFFGEN, Haftgründe,

Haftdauer und Haftprüfung,

S. 113, 130 Fn. 90; SK-SÍPO/PAEFFGEN, Vor

§ 112 Rn. 25; zust. WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 95 Fn. 24 (auf S. 96); MÖLLER, Vorlaufige Maßregeln, S. 217. 138 So auch TESKE, wistra 1989, 131 ff., 134. 135 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 172. 140

FRISTER, Jura 1988, 356, 359.

141

M A R X E N , G A 1 9 8 0 , 3 6 5 , 3 7 3 f.

142

M O R I T Z , N J W 1978, 402, 406; DÄUBLER, Das soziale Ideal, S. 411, 489; SCHWERDTNER, Arbeits-

recht I, S. 196 Rn. 210; SCHÜTTE, NZA Beil. 2/1991, S. 17, 19, 22; zust. KERSCHER, Gerichtsberichterstattung, S. 307; MAEFFERT, Wochenpost Nr. 30 v. 22. 7. 1993, S. 40; s.a. LANSNICKER/SCHWIRTZEK,

DtZ 1994, 162, 163; MÜKO2-SCHWERDTNER, § 626 Rn. 149 (Unschuldsvermutung „darf nicht vergessen werden"). Krit. schon KLEINSCHROD, ArchCrimR 1 (1798), 1. Stück, 1,13 f. ABI. B A G J W 1995, π ι ο , i m ; BELLING, Festschrift Kissel, S. π , 13 ff. m.w.Nachw.;

DÖRNER,

N Z A 1992, 865, 866; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 62 f.; R G R K 1 2 - C O R T S , § 626 R n . 164; H O F M A N N , Z £ A 1 9 7 5 , ι , 35. 143 144 145

BAG NJW 1995, πιο, i m ; BELLING, Festschrift Kissel, S. π, 25. BELLING, Festschrift Kissel, S. 11, 14 f. BELLING, Festschrift Kissel S. 11,15.

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

65

mutung auch im Privatrecht Anwendung, so wäre eine Verdachtskündigung nicht mehr möglich, sondern nur eine Suspendierung des Arbeitnehmers, mithin eine bezahlte Freistellung bis zum Abschluß des Strafverfahrens. Schließlich müßte konsequenterweise einer Klage des Arbeitnehmers auf Feststellung der Unwirksamkeit der auf bloßen Verdacht gestützten Kündigung selbst dann stattgegeben werden, wenn im Strafprozeß die Begehung einer Straftat festgestellt worden sei. 146 Auch im Verwaltungsrecht wird die Unschuldsvermutung reklamiert, so z.B. bei Ausweisung von wegen einer Straftat verurteilten Ausländern, die nicht vor Rechtskraft des Strafurteils zulässig sei. 147 Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts und der überwiegenden Meinung im Schrifttum bezieht sich die Unschuldsvermutung jedoch nur auf den subjektiven Schuldvorwurf im Strafverfahren, nicht auf die objektiven gesetzlichen Konkretisierungen derjenigen Sachverhalte durch § 10 Abs. 1 a.F. AuslG, jetzt § 45 n.F. AuslG, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Anlaß für die Entfernung von Ausländern aus dem Bundesgebiet böten. Das Fehlerrisiko bei Abstellen auf eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung sei im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. 148 Für das allgemeine Polizeirecht hat das Bundesverwaltungsgericht die Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung ebenfalls ausgeschlossen: Z u m einen setze polizeiliches Einschreiten kein schuldhaftes Verhalten des Betroffenen voraus, zum anderen beziehe sich die Unschuldsvermutung auf den Vorwurf vergangenen strafbaren Verhaltens und sei daher im Zuge einer Gefahrenprognose nicht einschlägig. 149 Ebensowenig gelte die Unschuldsvermutung im Recht des öffentlichen Dienstes als Vermutung für verfassungskonformen Gebrauch der Grundrechte, da sie auf Prognosen unanwendbar sei. 150 Auf das Auslieferungsverfahren der Rechtshilfe sei die Unschuldsvermutung ebenfalls nicht anwendbar. 151 Im übrigen stellen mehrere Judikate fest, daß Verwaltungsbehörden ihre Entscheidungen auf (vermutete) Tatsachen stützen dürfen, die Gegenstand des Vorwurfs eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens sind, ohne gegen die Unschuldsvermutung zu verstoßen. 152

146

BAG NJW1995, ino, i m .

147

O V G Münster D V B 1 . 1965, 487, 488; GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 22. Abi. B V e r w G E 78, 285, 288 f. = N J W 1988, 660; D Ö V 1969, 467 = D V B 1 . 1969, 590 f. = J R 1969, 474; B a y O b L G BayVBl. 1976, 88, 89; GK-AUSIR-VORMEIER, § 46 Rn. 64; HAILBRONNER, Ausländerrecht1·, Rn. 548, 613 m.w.Nachw.; KANEIN/RENNER, Ausländerrechf, § 46 AuslG Rn. 11; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 388; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 63; BERG, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 92 Fn. 62. 148

B V e r w G E 78, 285, 288 f.; BVerwG J R 1969, 474, 475. B V e r w G E 45, 51, 61. Auch hier scheint es, daß das Gericht unter „Schuld" die engere strafrechtliche Systemkategorie („Vorwerfbarkeit") versteht und nicht die Erfüllung aller Strafbarkeitsvoraussetzungen. 149

150

B V e r w G E 47, 330, 339. O V G Münster N J W 1989, 2209, 2212; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 384 (kein Akt der Rechtspflege, sondern der Rechtshilfe), 388; LR 24 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 132; allg. SCHULTZ, Auslieferungsrecht, S. 12 ff. 152 V G H Kassel N V w Z 1 9 8 8 , 1 1 4 9 , 1 1 5 0 (Versagung der Erlaubnis, eine Gaststätte zu betreiben, wegen Unzuverlässigkeit aufgrund mutmaßlich begangener Straftaten.). 151

66

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

ee) Adressaten Als Adressaten soll die Unschuldsvermutung sowohl den Strafrichter 153 als auch alle anderen staatlichen Organe, 154 als Verfassungssatz insbesondere auch den Gesetzgeber, 155 binden. Manche sehen den Richter als hauptsächlichen Adressaten, da er die Art und Weise seiner Aufgabenerfüllung an ihr zu orientieren habe, 156 während anderer Ansicht nach der Richter wie schon erwähnt nicht durch die Unschuldsvermutung verpflichtet sei 157 . Mit der Beschränkung der Unschuldsvermutung auf das Strafrecht nimmt MEYER auch eine Beschränkung ihrer Geltung nur für die mit der Strafrechtspflege befaßten Staatsorgane an. 158 Eine unmittelbare Drittwirkung wird wie die Drittwirkung von Grundrechten allgemein überwiegend abgelehnt, 159 zum Teil auch mit der Begründung, daß die Unschuldsvermutung nur „prozeßgegenstandsbezogen" sei und das soziale Leben nicht betreffe. 160 Lediglich eine mittelbare Verpflichtung Privater im üblichen Rahmen der §§ 185 ff. StGB, 823 ff. B G B wird bejaht. 161 Andererseits wird eine unmittelbare Drittwirkung vor allem von denjenigen gefordert, die in der Unschuldsvermutung die Garantie der Exklusivität verfahrensmäßiger Schuldfeststellung sehen 162 und auch eine Anwendbarkeit der Drittwirkungslehre ablehnen, da es sich jedenfalls im Verhältnis von Massenmedien zum einzelnen nicht um ein herkömmliches privatrechtliches Verhältnis der Gleichrangigkeit der Beteiligten handele, sondern hier ein krasses Machtgefälle bestehe 163 bzw. es dem Sinn des Prinzips widerspräche, seine Gel153

SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 991; S K - S t P O / R o G A L L , Vor § 133 RN. 75; kritisch KRAUSS,

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, 154

KÖSTER, Die Rechtsvermutung

S. 156 ff. der Unschuld, S. 174; KÜHL, Festschrift H u b m a n n , S. 241, 2 4 7 ;

PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 50 f., 52; SK-SÎPO/PAEFFGEN, Vor § 112 R n . 26; PAUNOVIC, Die Verfahrensgarantien des Art. 6, S. i n ; S K - S t P O / R o G A L L , Vor § 133 R n . 75. 155

PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 68; ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türki-

schen Strafverfahren, S. 4 7 f. 156

SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 991; GURADZE, Die Europäische

Menschenrechtskonvention,

Art. 6 Nr. 22; ROGALL, Der Beschuldigte, S. 110 f.; S K - S t P O / R o G A L L , Vor § 133 R n . 75. 157

Siehe oben Fußn. 72.

158

M E Y E R , Festschrift Tröndle, S. 61, 63.

159

O L G Düsseldorf O L G Z 1990, 202, 204; O L G Köln N J W 1987, 2682, 2683; O L G Frankfurt N J W

1980, 597, 599; BORNKAMM, N S t Z 1 9 8 3 , 1 0 2 , 1 0 4 ; FROWEIN, Festschrift Huber, S. 556; HASSEMER, N J W 1985, 1921, 1923; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER 4 2 , Art. 6 M R K Rn. 13; KOCH, Z R P 1989, 401, 402; KÜHLE, A f P 1973, 356; KÜHNE, Strafprozeßlehre*, Rn. 136.2; LAUBENTHAL, G A 1989, 20, 25 f.; L R 2 4 GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 108; REISS, Störung der Strafrechtspflege, S. 20, 22; ROXIN, N S t Z 1 9 9 1 , 1 5 3 , 156; S K - S t P O / R o G A L L , Vor § 133 R n . 75; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 63; TRECHSEL, S J Z 7 7 (1981), 335, 335; W E N Z E L , Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung'',

Nr. 10.148. Vgl. a. ECHTERHÖLTER,

J Z 1 9 5 6 , 1 4 2 , 1 4 3 ; ULSAMER, Festschrift Zeidler, Band II, S. 1 7 9 9 , 1 8 0 2 f. Näheres siehe unten S. 1 4 7 ff. 160

PAULUS, N S t Z 1990, 600, 601.

161

BORNKAMM, N S t Z 1983, 102, 104; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 52 Fn. 190. Ähnl. K L E I N -

KNECHT/MEYER-GOSSNER 4 2 , Art. 6 M R K Rn. 13: mittelbare Drittwirkung als Beurteilungsmaßstab für Berichterstattung über Strafverfahren. 162

päische

M A R X E N , G A 1980, 365, 373. K G N J W 1968, 1969, 1970. Im Ergebnis ebenso APPELL, Die Konvention,

S. 62; PAUNOVIC, Die

Verfahrensgarantien des Art. 6, S. HI. M E Y E R ,

Euro-

Festschrift

Tröndle, S. 61, 69, formuliert zwar ebenso, bezieht aber diese Exklusivität nur auf die in dem Hauptverfahren zu verhängende Strafe. 163

M A R X E N , G A 1980, 365, 374. A . A . BERKA, Medienfreiheit

und Persönlichkeitsschutz, S. 352.

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

67

tung auf die Justiz zu beschränken 164 . Aus Sinn und Zweck der Unschuldsvermutung folgert STAPPER die G e l t u n g des Art. 6 Abs. 2 E u M R K f ü r die Presse. 165 E B . SCHMIDT hält die

Geltung des Art. 6 Abs. 2 E u M R K im Verhältnis der Bürger untereinander nach Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte für „nicht im geringsten zweifelhaft", zumal wegen § 449 StPO von staatlicher Seite keine schuldgegründeten Sanktionen vor Rechtskraft zu befürchten seien. 166 KÜHL hält die Drittwirkungsdiskussion f ü r überflüssig, wenn die Unschuldsvermutung

in das im Zivilrecht zu beachtende Persönlichkeitsrecht einbezogen werde. 167

2. Prinzipale Rechtsfolgen der Unschuldsvermutung a)

Die Unschuldsvermutung als Schranke für Eingriffe in Rechte des Verdächtigen

Motiv für die Beschränkung strafprozessualer Eingriffe in die Rechtssphäre des Beschuldigten ist in erster Linie der Individualschutz. HABERSTROH und HASSEMER betonen ergän-

zend, daß die Unschuldsvermutung damit auch eine übergeordnete Funktion erfülle, indem eine Mißachtung oder Entwertung der späteren Hauptverhandlung vermieden werde. 168 aa) Verbot der Schuldantezipation Mehrheitlich wird die Unschuldsvermutung als Verbot angesehen, vor rechtskräftiger Feststellung der Schuld diese als eingrifFsbegründend heranzuziehen,169 exemplifiziert am Verbot der Vollstreckung nicht rechtskräftiger Urteile gem. § 449 StPO, 1 7 0 daher Verbot aller schuldantezipierenden, i.e. den (vollen) Schuldnachweis voraussetzenden 171 Maßnahmen und jedweder vorweggenommenen Schuldfeststellungen, z.B. den Bürger als schuldig zu behandeln 172 oder ihm die Schuld im Rechtsverkehr vorzuhalten. 173 Wieweit dieses Verbot

164 165

REIFENRATH, Festschrift Wassermann, S. 489, 491. STAPPER, Namensnennung in der Presse, S. 64 ff., 67 ff.

166

EB. SCHMIDT, Justiz und Publizistik,

167

KÜHL, Festschrift Hubmann, S. 241, 252. HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 290; HASSEMER, StV 1984, 38, 40, 41 = AnwBl. 1984, 64, 67.

168 169

P A E F F G E N , Vorüberlegungen,

S. 56 m. Fn. 20.

S . 53 ff.; S K - S t P O / P A E F F G E N , V o r § 1 1 2 R N . 2 6 ; R O G A L L , Der

Be-

schuldigte, S. i n ; SK-StPO/RoGALL, Vor § 133 Rn. 76. Siehe auch die Nachweise nachfolgend sub dd). 170 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988; ähnl. RÜPING, Rev.int.dr.pén. 49 (1978), 323, 329. 171 B G H N J W 1 9 7 5 , 1 8 2 9 , 1 8 3 1 ; KK 3 -PFEIFFER, Einl. Rn. 32 a. Diese Formulierung erklärt freilich nicht viel, da sich nun die Frage anschließt, welche Maßnahmen denn den vollen Schuldnachweis voraussetzen, ebenso NOTHHELFER, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 39. 172

B V e r f G E 22, 254, 265; KK 3 -PFEIFFER, Einl. Rn. 19; APPL, Die strafichärfende Verwertung, S. 173; KoNDZiELA, MschrKrim 1989, 177, 181; MARXEN, Straftatsystem und Strafprozeß, S. 345; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 69, 71; SIEGERT, Grundlinien des Völkerstrafprozeßrechts, S. 53 (außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Freiheitsbeschränkungen). 173

BVerfG N J W 1988, 1 7 1 5 , 1 7 1 6 = N S t Z 1988, 21; 84; MARXEN, Straftatsystem undStrafprozeß, S. 345; M . ERNST, Verarbeitung und Zweckbindung, S. 115; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 69, 71; TESKE, wistra 1 9 8 9 , 1 3 1 , 1 3 4 ; WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 93; SK-StPO/WoLTER, Vor § 151 Rn. 108; ZIELEMANN, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 84. Ahnl. RÜPING, Z S t W 91 (1979), 351, 358.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

68

der Schuldantezipation genau reicht, ist alles andere als klar. Die nachfolgenden Punkte fassen die verschiedenen Präzisierungsversuche zusammen: bb) Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen

Schuldfeststellung

Die umfassendste Wirkung erhält das Verbot der Schuldantezipation von der Ansicht, die in der Unschuldsvermutung die Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung sieht. Nach M A R X E N fordert die Unschuldsvermutung mithin — „unter dem Blickwinkel der Praktizierung der Strafgewalt"174 - einen konstitutiven Straftatbegriff („nullum crimen sine processu"), nach dem eine Straftat erst mit Abschluß des ordnungsgemäß geführten Prozesses zur Entstehung gelangt und nicht ein an sich feststehendes Ereignis ist, das vor dem und unabhängig vom Prozeß existiert und von diesem lediglich nachgezeichnet wird.175 Von strafrechtlicher Schuld eines Bürgers darf demzufolge nur dann ausgegangen werden, wenn diese rechtskräftig festgestellt ist, da der Prozeß Entstehensbedingung der Straftat ist. Diese Beschränkung soll sowohl für den gesamten rechtlichen als auch gesellschaftlichen Bereich gelten: Die Verhinderung außerjustizieller Schuldzuschreibungen wird als originäre Aufgabe der Unschuldsvermutung bezeichnet.176 M R O Z Y N S K I sieht in der Unschuldsvermutung ebenfalls ein rein formales Prinzip, das lediglich die Durchführung eines Verfahrens garantieren will, nicht dessen Ausgang in irgendeiner Weise prägen. Es gehe nur um die Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens während des Verfahrens und weràas Schuldurteil fällt, nicht, wie es ausfällt.177 Auf den Verdacht gestützte Maßnahmen, die auf die Durchführung eines Verfahrens abzielen, können folglich nicht mit der Unschuldsvermutung in Konflikt geraten; ihre Zulässigkeit bestimme sich vor allem nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.178 Er beschränkt ihre Anwendbarkeit im Gegensatz zu M A R X E N aber auf das Strafrecht.179 Ähnlich formulieren V O G L E R und H A B E R S T R O H , daß die Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung — d.h. einer auf Anklage und Eröffnungsbeschluß beruhenden Hauptverhandlung180—stets gelte, wenn es um die Verhängung von Strafen und strafähnlichen Sanktionen gehe, die an strafbare Handlungen anknüpfen.181

174

MARXEN,

175

MARXEN,

Straftatsystem Straftatsystem

und Strafprozeß, undStrafprozeß,

S. S.

345. 344 f., 364 f.

176

M A R X E N , G A 1 9 8 0 , 365, 373 f.

177

M R O Z Y N S K I , J Z 1 9 7 8 , 255, 2 5 6 f. Ä h n l i c h O S T E N D O R F , S t V 1 9 9 0 , 2 3 0 , 232; V O G L E R , F e s t s c h r i f t

Kleinknecht, S. 429, 436. 178

M R O Z Y N S K I , J Z 1 9 7 9 , 255, 256.

A.A. P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S . 49 Fn. 174: Die Unschuldsvermutung sei „eminent materiell", und wolle nicht das Verfahren, sondern das Individuum im Verfahren schützen; schließlich seien auch Schnell- und Standgerichte „Verfahren". Ähnl. B U R M A N N , Die Sicherungshaft gemäß § 45} c StPO, S. 20: die Unschuldsvermutung müsse auch, um wirksam zu werden, einen materialen Gehalt haben, sonst wäre eine Auslegung des § 112 Abs. 3 S t P O möglich, die einen völligen Verzicht auf einen Haftgrund zuließe. 179

M R O Z Y N S K I , J Z 1 9 7 8 , 255, 255.

N S t Z 1987, 127, 129; ebenso A P P L , Die strafschärfende Verwertung, S. 171 f. Daß dies der einzige Weg zur Widerlegung der Unschuldsvermutung sei, ist allerdings e i n e p e t i t i o p r i n c i p i i . 181 VOGLER, Festschrift Tröndle, S. 423, 433, 437 f.; DERS., Festschrift Kleinknecht, S. 429, 436 ff.; 180

VOGLER,

DERS., N S t Z 1987, 1 2 7 , 129; H A B E R S T R O H , N S t Z 1984, 289, 292; I n t K o m m / V o G L E R , A r t . 6 R n . 4 0 1 ff.

Ebenso

APPL,

Die strafschärfende

SAAGE/GÖPPINGER/WAGNER,

Verwertung, S. 167 ff., 171 f.; B L U M E N S T E I N , N S t Z 1992, 132, 133; auch Freiheitsentziehung und Unterbringung, Kap. 4.3 Rn. 107 f., S. 229 f.

69

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

Ebenso wie der B G H 1 8 2 hält STREE diese Auffassung für eine Überdehnung der Unschuldsvermutung, der, solle ihr ein vernünftiger Sinn zukommen, nicht die Aufgabe zufallen könne, „bis zur rechtskräftigen Aufklärung in einem Strafverfahren alles zu blockieren, was sich mit der Feststellung eines strafbaren Verhaltens für den Täter negativ auswirkt". Schließlich könne ein Verdacht nicht nur zur Gewißheit in einem Verfahren werden, das die Unschuldsvermutung in einer Hauptverhandlung mit allen Garantien überwinde. 183 Nach GOLLWITZER müßte das Postulat der Exklusivität des Erkenntnisverfahrens zu einer verfahrensübergreifenden Sperrwirkung führen, die für jegliches Gerichtsverfahren gelte. Dies würde nicht nur in den Fällen, in denen es nicht zu einem Strafverfahren kommen kann, zur Rechtsverweigerung etwa im Zivilverfahren nach § 823 B G B führen. Vor allem würde dies regelmäßig zu einer Bindung aller anderen Verfahren, auch anderer Strafverfahren, an das Strafverfahren in der Hauptsache führen. 184 Jedoch habe der Gesetzgeber für den Regelfall aus gutem Grund kein solches Kognitionsmonopol des Strafrichters geschaffen; aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 E u M R K , der die Ausgestaltung des „gesetzlichen Nachweises" dem nationalen Recht überlasse, lasse sich nichts Entgegenstehendes entnehmen. 183 Weder das verfassungsrechtliche Erfordernis effektiven Grundrechtsschutzes noch die Gewährleistung eines fairen Verfahrens oder die Garantie des gesetzlichen Richters verlange ein Widerlegungsmonopol des Strafrichters. 186 Weder aus der Verfassung noch aus Art. 6 Abs. 2 E u M R K ließe sich ein umfassender Schutz vor Zuweisung unbewiesener strafrechtlicher Schuld durch Träger öffentlicher Gewalt ableiten. 187

cc) Verbot der Verfolgung von Straßwecken vor Verurteilung Aus dem Verbot der Schuldantezipation ergibt sich, daß die Verfolgung von Strafzwecken vor rechtskräftiger Verurteilung ausgeschlossen ist, 188 insbesondere eine Instrumentalisierung des Strafverfahrens („Sozialisationsaufgabe des Strafverfahrens" 189 ), so daß z.B. auf den Beschuldigten im Prozeß nicht therapeutisch oder erzieherisch eingewirkt werden darf, bevor nicht rechtskräftig feststeht, daß er die ihm vorgeworfene Tat überhaupt begangen hat 190 . Bedeutsam ist dies zum einen in stark spezialpräventiv ausgerichteten Regelungsbe-

Die

182

B G H S t 34, 209, zio f.

183

S T R E E , N S t Z 1 9 9 2 , 153, 155.

184

G O L L W I T Z E R , J R 1988, 341, 343; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K RN. 118 ff, 1 2 3 - 1 3 1 , insb. 128 f.

185

G O L L W I T Z E R , J R 1988, 341, 343 f.; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K R n . 1 2 1 , 1 2 4 f.

186

G O L L W I T Z E R , J R 1988, 341, 344; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K

187

LR24-GOLLWITZER, Art. 6 M R K

188

B V e r f G E 19, 342, 347 ff, 350 f.; M . ERNST, Verarbeitung und Zweckbindung,

Bildberichterstattung,

J E H L E , Untersuchungshaft,

R n . 1 1 8 ff., 1 2 2

Rn.

123-131.

ff.

S . 65, 1 1 8 f.; F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. 115; D . FRANKE,

S . 93 ff; G R O P P , J Z 1 9 9 1 , 8 0 4 , 809 f.;

S. 11; K O N D Z I E L A , M s c h r K r i m 1 9 8 9 , 1 7 7 , 1 8 2 f.; K Ö S T E R , Die

Rechtsvermutung

der Unschuld, S. 174 f.; KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 161; MÜLLER-DIETZ, Z S t W 93 (1981), 1 1 7 7 , 1 2 6 8 ; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 159 mit Fn. 661; RÜPING, Der Grundsatz rechtlichen Gehörs, S. 132 Fn. 128; E B . SCHMIDT, Z R P 1964, 254, 255; SK-StPO/WoLTER, Vor § 151 Rn. 108; ZIELEMANN, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 86. 189

Umfangreiche Nachweise dazu bei SEEBODE, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 184 Fn. 423. HASSEMER, Festschrift Klug, Band II, S. 217, 231 („Die Unschuldsvermutung darf nicht therapeutischem Interesse geopfert werden, auch nicht in Bagatellfällen..."); zust. E. MÜLLER, D R i Z 1987, 469, 471; IFFERT-SCHMÜCKER, Mängel und Opfer des Opferschutzgesetzes, S. 36; ebenso ENGELS/FRISTER, 190

70

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

reichen wie dem Jugendstrafrecht, da spezialpräventive Maßnahmen im Interesse des Betroffenen auf sofortige Verwirklichung drängen. 1 9 1 Z u m anderen werden Formen der Diversion und informellen Konfliktregelung, die ein Erkenntnis in der Sache bereichsweise ablösen könnten, problematisch. 1 9 2 Weniger klar ist, was als Verfolgung von Strafzwecken zählt: F R I S T E R beschränkt etwa die Strafe auf generalpräventive Ziele, so daß spezialpräventive Eingriffe wie § 112 a S t P O von der Unschuldsvermutung unberührt blieben. 1 9 3 Ausgeschlossen ist nach F R I S T E R aber auch die der Rechtfertigung mittelbar generalpräventiver Eingriffe - wie der Durchführung des Strafverfahrens und der Sicherung späterer Strafvollstreckung — mit Zurechnungserwägungen. 1 9 4 Ahnlich sieht K R A U S S die Sicherung eventueller späterer Strafvollstreckung als unzulässig an, weil sie über das Verfahrensziel hinausgehe, womit §§ 132, 116 Abs. 1 Ziff. 4 und 127 a S t P O unvereinbar seien. 195 dd) Verbot „strafdhnlicher " Eingriffe Unausgesprochen abgelehnt wird ein konstitutiver Straftatbegriff von der Mehrheit der Stimmen, die versucht, Klassen von Eingriffen zu definieren, denen das Erfordernis vorheriger gerichtlicher Schuldfeststellung allein eignet. Neben den gesetzlich definierten Strafund Nebenfolgen werden stets auch „strafähnliche" Sanktionen und Maßnahmen ausgeschlossen, 196 offenbar in dem Bestreben, durch ein materielles Kriterium zu verhindern, daß Eingriffe auf begrifflichem Wege, z.B per legislativer Definition, dem Anwendungsbereich der Unschuldsvermutung entzogen werden. Umstritten ist, nach welchen Kriterien diese Eingriffe zu bestimmen sind: (1) So formuliert das Bundesverfassungsgericht, die Unschuldsvermutung schütze den Bürger insbesondere vor Nachteilen, die in ihrer Wirkung Schuldspruch oder (Freiheits-)Strafe gleichkommen, 1 9 7 etwa Schuldfeststellungen ohne vorheriges prozeßordnungs-

i n , 116; K o N D Z i E L A , MschrKrim 1 9 8 9 , 1 7 7 , 1 8 2 f.; K U H L E N , Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 52 f.; LENCKNER, JUS 1983, 340, 341; MÜLLER-DIETZ, Z S t W 93 (1981), 1177, 1266; MROZYNSKI,

ZRP 1981,

JZ 1978, 255, 262; SEEBODE, Der Vollzugder Untersuchungshaft, S. 184 Fn. 423 (auf S. 185). Auch OLG Koblenz NStZ 1991, 253. 1,1 BÖHM, Einfuhrung in das Jugendstrafrecht, S. 4; D. FRANKE, Die Bildberichterstattung, S. 119 f. Gegen die Durchsetzung spezialpräventiver Zwecke auf Kosten der Unschuldsvermutung auch MROZYNSKI, JZ 1978, 255, 258, 259 f. 192 Dazu s.u. S. 113 f., 115 f. 193 FRISTER, Schuldprinzip, S. 101 ff., s.a. S. 35 ff. 194 FRISTER, Schuldprinzip, S. 97 ff. 195 KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 161 ff. Abi. MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 65. Zur Sicherheitsleistung auch unten S. 147. 1,0 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 53 f.; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Gruntisatzes der Unschuldsvermutung, S. 28 f. Ausfiihrl. zum Begriff der Strafe und „Strafähnlichkeit" VOLK, ZStW 83 (1971), 405 ff. 197 BVerfGE 9,137,144 (noch offenlassend, ob die Unschuldsvermutung Verfassungsrang hat); 19, 342, 347; 35> 311. 3 2 °; 74. 358, 371; 82,106,117; BVerfG (2. Kammer/2. Senat) NJW1992,1612 f.; BVerfG Beschl. v. 1.12.1986 (3. Kammer/2. Senat) - 1029/86, S. 3; zust. AMENDT, Die Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Sicherheitsleistungsvorschriften, S. 141 f.; GRABITZ, Handbuch des StaatsrechtsYl, § 130 Rn. 39, S. 129; KK 3 -BOUJONG, Vor § 112 R n . 8; KMR 7 -PAULUS, § 244 R n . 304; RÜPING, Z S t W 91 (1979), 351, 358; VOG-

LER, Festschrift Tröndle, S. 423, 424; SK-StPO/WOLTER, Vor § 151 Rn. 108. Ebenso TRECHSEL, SJZ 77 (1981), 335, 335 f.

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

71

gemäßes Verfahren198 - genauer: vor Abschluß der Hauptverhandlung. Strafbefehlsverfahren werden dabei außer Acht gelassen199. P A E F F G E N präzisiert dies dahin, daß die Strafähnlichkeit staatlicher Reaktionen dabei weder durch Wesensschau noch allein über die faktischen Wirkungen bestimmt werden könne, vielmehr müsse, wegen der Kontextabhängigkeit, phänomenologisch verfahren werden, wobei Rechtsgutseinbuße, stigmatisierende Wirkung, tendenzielle Irreversibilität und Sachzusammenhang mit Straf- und Strafverfahrensrecht als Gesichtspunkte in Betracht kämen200, beispielsweise das Verbot der Folter, Verdachtsstrafe,201 absolutio ab instantia,202 von Wahrheitspflicht und Lügenstrafen203. H A B E R 204 S T R O H fordert daher „größtmögliche qualitative und quantitative Folgen-Neutralität". KoNDZiELA sieht von der Unschuldsvermutung alle Straftatfolgen erfaßt, d.h. alle Rechtsfolgen, die gewöhnlich nur an tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten geknüpft werden und somit den Eindruck hervorrufen, der Beschuldigte sei schuldig,205 bzw. gezielte Reaktionen auf eine (angenommene) Straftat sind und sich beim Betroffenen als Übel auswirken206. Dem wird entgegengehalten, daß es beispielsweise im Gefahrenabwehrrecht weitgehende Eingriffsbefugnisse gegen den Störer gebe, ohne daß es auf einen Schuldnachweis ankäme.207 F. M Ü L L E R und P I E R O T H halten die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für eine vorschnelle Abstraktion: Denn sollte es richtig sein, daß keine Maßnahmen verhängt werden dürften, die der Freiheitsstrafe in ihrer Wirkung gleichkommen, so wäre das Institut der Untersuchungshaft im ganzen verfassungswidrig.208 (2) Andere stellen auf Sinn, Zweck und Funktion der Eingriffe ab, die der Strafe nicht entsprechen dürften.209 Denn strafähnliche Wirkung habe die gesamte Untersuchungshaft, 210 maßgeblich sei daher, ob die Maßnahmen dem legitimen Prozeßzweck der Klärung des Tatverdachts dienten oder nicht. 211 Dies ist die Kehrseite des Verbots der Verfolgung von Strafzwecken während des Verfahrens (cc). Andererseits wird aus der Unschuldsvermutung erst gefolgert, daß das Verfahren sich auf die Verdachtsklärung beschränken müsse. 212 Der Bundesgerichtshof hält hingegen auch jede ausdehnende Auslegung prozessualer

1,8

B V e r f G E 74, 358, 371; 8 2 , 1 0 6 , 1 0 6 , 1 1 4 ; BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1 9 9 2 , 1 6 1 2 f.; 2011 f. Kritisch daher PAULUS, N S t Z 1990, 600, 600. 200 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 53 Fn. 194. Vgl. SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28: Intensität und Dauer. 199

201

S C H Ü N E M A N N , G u t a c h t e n Β f ü r d e n 58. D J T , B d . I , B 9 4 ; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . É M R K R N .

202

So schon VARGHA, Strafprozessrechf·, S. 41 f.

203

P A E F F G E N , Vorüberlegungen,

144.

S . 53 f .

204

HABERSTROH, N S t Z 1984, 289,290. 205 KONDZIELA, MschrKrim 1989, 177, 181 f.: Es komme weder auf Schulderwägungen im Urteil an noch ändere die Zustimmung des Beschuldigten etwas am Charakter der Maßnahme. 206 KONDZIELA, MschrKrim 1 9 8 9 , 1 7 7 , 1 8 3 . 207

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. 91 i.V.m. 29; WESSLAU, S t V 1 9 9 1 , 2 2 6 , 231.

208

F. MÜLLER/PIEROTH, Verfassungsmäßigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, S. 228, 236. 209 SK-StPO/RuDOLPHi, Vor § 94 Rn. 8 210 KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 162. 211 KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 162 f.; SK-StPO/RuDOLPHi, Vor § 94 Rn. 9; ULSAMER, Festschrift Zeidler, Band II, S. 1799,1806. 212

A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die

Untersuchungshaft,

S. 31.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

72

Zwangsmaßnahmen wegen der Unschuldsvermutung für bedenklich,213 nach S C H O R N und U L S A M E R müssen sich prozessuale Zwangsmaßnahmen wegen der Unschuldsvermutung auf das unumgänglich Notwendige beschränken.214 (3) K Ü H L geht davon aus, daß der Geltungsbereich der Unschuldsvermutung nur Strafen und strafähnliche Reaktionen umfassen soll. Er versteht die Unschuldsvermutung nicht als Verbot von Maßnahmen, die strafähnliche Wirkung haben, da damit keine Abgrenzung zu Geldbußen nach dem OWiG oder Auflagen nach § 153 a StPO möglich sei, auch müßte sonst die Untersuchungshaft mit einbezogen werden. Maßgebend für die Kennzeichung der Strafe sei nicht der „Übelscharakter", sondern wegen ihrer Zweckrichtung der sozialethischen Mißbilligung ihre Natur als „sozialethisches Unwerturteil".215 Damit sei auch das Abgrenzungskriterium für den Geltungsbereich der Unschuldsvermutung gefunden. Ob eine staatliche Reaktion mißbilligend sei und eine diskriminierende Wirkung habe, unterliege nicht der Definitionsmacht des Gesetzgebers, sondern sei ein soziales Phänomen.216 Sozialethisch deklassierende Wirkung haben sowohl der Schuldspruch selbst als auch bereits Verdachtsäußerungen des Gerichts,217 angefangen mit dem Ermittlungsverfahren,218 doch seien diese Wirkungen unvermeidlicher Prozeßhandlungen hinzunehmen.219 Nicht erfaßt von

213 214

B G H S t 19, ι, 4. SCHORN, Der Schutz der Menschenwürde, S. 24; ULSAMER, Festschrift Zeidler, Band II, S. 1799,

1 8 0 6 . S o s c h o n V A R G H A , Strafprozessrechf·, 215

K Ü H L , Unschuldsvermutung,

S. 40.

Freispruch

und

Einstellung,

S . 13 f.; D E R S . , N S t Z 1 9 8 1 , 1 1 4 , 1 1 5 ; D E R S . ,

N J W 1 9 8 4 , 1 2 6 4 , 1 2 6 8 ; D E R S . , F e s t s c h r i f t H u b m a n n , S . 2 4 1 , 2 4 7 . Z u s t . P F L Ü G E R , Der

Tod des

Beschuldig-

ten, S. 133 f. Abi. KoNDZiELA, MschrKrim 1989,177,181 Fn. 20, da dann auch die sozial deklassierend wirkende Untersuchungshaft unzulässig sein müßte. Ganz anders KOTULLA, J A 1992, 57, 58: Nicht jedes Unwerturteil, insbesondere nicht das von ihm in § 153 Abs. 2 StPO gesehene, werde mit dem der strafrechtlichen Schuldzuweisung identifiziert. Aus Sinn und Zweck der Unschuldsvermutung ergebe sich vielmehr, daß nicht jede sozial relevante negative gerichtliche Bewertung als Schuldzuweisung aufgefaßt werden dürfe. 216 KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 14 f., 18 f., 33 FF. Man könne aber nicht der Gesellschaft, die ja diese belastenden Reaktionen vornehme, die Schuld zuschieben, da die richterlichen Verdachtsäußerungen der Auslöser für diese Fehlreaktionen seien, die, weil die Unschuldsvermutung im allgemeinen Rechtsbewußtsein wenig verankert sei, vorhersehbar seien. Außerdem judiziere ein Gericht nicht allein im Justizbereich, sondern notwendigerweise in der Öffentlichkeit, um seine gesellschaftspolitische Funktion zu erfüllen. Ebensowenig ließe sich auf die kontrafaktische Wirkung der Unschuldsvermutung setzen, die als Vermutung von Verdachtsäußerungen nicht berührt werde bzw. diese gleich entkräfte, da wegen des fehlenden gesellschaftlichen Bewußtseins dieses Schutzrechts sie ihre Wirkung insoweit faktisch nicht entfalten könne, ibid. S. 33 f. A h n l i c h P F L Ü G E R , Der

Tod des Beschuldigten,

S . 1 3 4 f . , D E R S . , G A 1 9 9 2 , 2 0 , 3 1 fF., i m A n s c h l u ß

an

TRIFFTERER, O J Z 1 9 8 2 , 617, 634 Fn. 122: für eine „faktische" Verletzung der Unschuldsvermutung komme es darauf an, ob sich einem objektiven Laienbeobachter der Eindruck ergibt, es werde Schuld festgestellt. 217 KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 25 fF., 29 fF. Ebenso APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 175. 218 KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 16, 21 fF, 24 (unter Bezug auf EB. SCHMIDT, Lehrkommentar, Nachtragsband I, §§ 169a—169c Rn. 4), 27, 29 fF. Auch kann schon die bloße Tatsache polizeilicher oder staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen Stigmatisierungswirkungen haben, die bis zur Zerstörung der bürgerlichen Existenz reichen, s. KÜHNE, N J W 1979, 617, 617. 219 KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 25. KÜHL unterscheidet diese „unvermeidlichen Diskriminierungswirkungen" von Verdachtsäußerungen in verfahrensbeendenden Entschei-

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

73

diesem Ansatz ist allerdings die Maßregelanordnung. 2 2 0 Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Ansicht insoweit gefolgt, daß es Schuldfeststellungen in Einstellungs-, Kosten- u n d Auslagenentscheidungen als Verletzung der Unschuldsvermutung ansieht, denn ein derartiger richterlicher Spruch zur Schuldfrage „habe Gewicht", auch w e n n er dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht vorgehalten werden dürfe - , nicht aber Beschreibungen von Verdachtslagen, die etwas substantiell anderes seien. 221 ( 4 ) M E Y E R verlangt für die Strafähnlichkeit zum einen, d a ß die M a ß n a h m e ein Strafübel darstelle, also entweder eine Einbuße an körperlicher Bewegungsfreiheit m i t sich bringt wie die Freiheitsstrafe oder eine finanzielle Belastung w i e die Geldstrafe. Z u m anderen sei ein sozialethisches Unwerturteil erforderlich. Des Umwegs über Schuldfeststellungen bedürfe es nicht, da Schuldzuweisungen stets nur durch rechtskräftiges Urteil erfolgen dürften. 2 2 2 ( 5 ) Das Kriterium der Strafähnlichkeit der abzuwehrenden Eingriffe lehnt F R I S T E R ab, da G r u n d für die Geltung des Schulderfordernisses nicht eine besondere Eigenart der Strafeingriffe sei, insbesondere nicht ein sozialethisches Unwerturteil, 2 2 3 sondern ihre Zielsetzung als Schutz der Rechtsnormen selbst, d.h. als Bestätigung der N o r m g e l t u n g . Die N o t w e n d i g k e i t dieser besonderen Begründung der mit der Strafe verbundenen G r u n d rechtseingriffe sei historisch überkommen. 2 2 4 Entsprechend bedeute die Unschuldsvermutung das Verbot strafähnlicher Rechtfertigung von Eingriffen vor rechtskräftiger Schuldfeststellung, etwa m i t der Erwägung, d a ß der Betroffene eine Straftat begangen habe oder dessen verdächtig sei. 225 Ebenso dürfe die Verhältnismäßigkeit dieser Eingriffe nicht m i t Z u rechnungserwägungen begründet werden. 2 2 6 Alle Ansichten, die auf die Strafähnlichkeit der Eingriffe abstellten, seien zu Relativierungen gezwungen, der die U n s c h u l d s v e r m u t u n g aber nicht unterworfen sei. 227 ( 6 ) P A U L U S verwirft die Konzeption der „strafähnlichen" Eingriffe gänzlich, weil der Rechtsordnung f r e m d u n d nicht notwendig. Schuldfeststellungen seien nach verfahrensabschließenden Entscheidungen zulässig, sonst nicht, w ä h r e n d Tatverdacht allein Anfangsoder Zwischenentscheidungen tragen könne. 2 2 8

düngen, etwa dem Freispruch, zweifach: zum einen seien letztere „strafähnlicher" als erstere und zum anderen eben nicht unvermeidlich, ibid. 220 221

Kritisch daher P A E F F G E N ,

Vorüberlegungen,

S. 53 Fn. 194; S K - S t P O / P A E F F G E N , Vor § 112 Rn. 24.

B V e r f G E 74, 358, 371 ff.; 82, 106, 116 f. (zu Verdachtslagen: S. 117, 119 f.); BVerfG N S t Z 1988, 84; 1992, 238. 222 MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 69 ff. 223 Dazu F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 24 ff. Krit. G Ö S S E L , G A 1990, 369, 370. 2 2 4 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 91 m i t S . 29 ff; D E R S . , Jura 1988, 356, 360. Krit. V O L K , ZStWic>4 (1992), 834, 841. 2 2 5 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 92; D E R S . , Jura 1988, 356, 360; ähnlich A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft, S . 31; H A B E R S T R O H , N S t Z 1984, 289, 290. 22I F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 1 0 3 , 1 0 7 ff. 2 2 7 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 91. 228 PAULOS, N S t Z 1990, 600, 601, dort auch: „Strafe ist Strafe und Auslagen sind Auslagen, tertium non datur."

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

74

ee) Verbot der Verwertung des Tatverdachts? Die Unschuldsvermutung verbietet aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts den Strafverfolgungsorganen nicht, den Grad des Tatverdachts verfahrensbezogen zu beurteilen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen; 229 ebenso die überwiegende Meinung, denn sonst könnte ein Strafverfahren nicht stattfinden. 230 Damit stimmen Äußerungen wie die des Bundesgerichtshofes überein, daß die Unschuldsvermutung nicht zu der Unterstellung zwinge, daß der Sachverhalt einer strafbaren Handlung sich nicht zugetragen habe, bevor er rechtskräftig festgestellt sei 231 und den Verdacht nicht ausschließe, sondern vielmehr durch ihn bedingt sei 232 . A n den Tatverdacht anknüpfende Zwangsmaßnahmen, verfahrenssichernde und präventive, werden stets für zulässig gehalten. 233 Nach VOGLER soll die Unschuldsvermutung aber willkürliche Untersuchungsmaßnahmen verbieten und einen vernünftigen Anknüpfungspunkt wie den Tatverdacht des § 152 Abs. 2 S t P O voraussetzen. 234 Darüberhinaus enthalte sie kein Maßprinzip für strafprozessuale Verfolgungsmaßnahmen, sofern sie nicht qualitativ oder quantitativ in Strafe umschlügen. 2 3 5 MARXEN folgert zwar - im Gegensatz zum B G H - aus der Unschuldsvermutung, daß die wirkliche Existenz einer Straftat vor Verfahrensabschluß nicht angenommen werden dürfe, gleichwohl schließe die Unschuldsvermutung nicht aus, einen Verdacht zu bilden, wie zum einen schon der Regelungszusammenhang in Art. 5 Abs. 1 lit. c, Art. 6 Abs. 1 E u M R K zeige, zum anderen aus ihrer Funktion, die Strafverfolgung zu kontrollieren, nicht zu verhindern. 2 3 6 Interpretationen der Unschuldsvermutung, die die Strafverfolgung läh-

225

BVerfGE 74, 358, 372; 82,106, 115 f. 2 H A S S E M E R , Einführung in die Grundlagen des Strafrechts , S. 160; D R E H E R , NJW 1964, 1581,1582; G R O P P , J Z 1991, 804, 805 ff., 813; H O E F E R M A N N , Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S . 97; H O L Z L Ö H N E R , Die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, S . 99 f.; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 MRK Rn.134, 137; S A X , Grundsätze der Strafrechtspflege, S . 971, 987. Ahnlich V O N H I N D T E , Die Verdachtsgrade im Strafverfahren, S. 12: Der Begriff des Verdachts sei mit der Unschuldsvermutung vereinbar, da das Strafverfahren gerade der Verdachtsklärung diene; S C H Ä T Z L E R , StrEG2, § 3 Rn. 17: Wahrscheinlichkeitsurteile seien durch die Unschuldsvermutung nicht ausgeschlossen, da jeder Haftbefehl, jede Anklageschrift und jeder Eröffnungsbeschluß Wahrscheinlichkeitsurteile enthielten. 231 BGHSt 34, 209, 210 = NJW 1987, 660 = NStZ 1987,127 m. abl. Anm. V O G L E R = Jura 1988, 356 m. Anm. F R I S T E R ; zust. Anm. G O L L W I T Z E R , JR 1988, 341; ebenso K K 3 - H Ü R X T H A L , § 261 Rn. 28; LR24230

GOLLWITZER, Art. 6 M R K

Rn. 76;

R n . 1 2 8 f.; P F E I F F E R / F I S C H E R ,

§ 261 R n . 7; S K - S Î P O / R O G A L L ,

V o r § 133

Festschrift Tröndle, S. 61, 73; S T R E E , NStZ 1992,153,155. 232 S A X , Grundsätze der Strafrechtspflege, S . 987; zust. B I S C H O F B E R G E R , Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention, S . 125; H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S . 48; S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 2 Fn. 2; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 427. 233 BVerfGE 82,106,115; BGHSt 20, 68, 71 (zur Untersuchungshaft, vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis sowie Verhängung eines Vertretungs- und Berufsverbots); C O R T S / H E G E , JA 1976, 303, 308; F E Z E R , Strafprozeßrecht I , Tz 3/13; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 391, 431; K K 3 - P F E I F F E R , Einl. Rn. 32a; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , Art. 6 MRK Rn. 14; K Ü H L , JR 1978, 94, 97 (obzwar jede strafprozessuale Zwangsmaßnahme wegen der Unschuldsvermutung Bedenken unterliege); S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 121; V O G L E R , ZStW 82 (1970), 743, 773. MEYER,

234

IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 392.

235

IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 429.

236 M A R X E N , Strafiatsystem und Strafprozeß, Band II, S. 1799, 1806.

S.

345 f. bei Fn. 5, 351; ähnl. U L S A M E R , Festschrift Zeidler,

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

75

men würden, seien daher abzulehnen, z.B. daß die Existenz eines jeden möglichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes vermutet werden müsse. Insoweit dürfe das Untersuchungsziel der Strafverfolgungsorgane sich am regelmäßigen Fehlen von Rechtfertigungsgründen und dem Vorliegen der „Regelschuld" orientieren, müsse aber jeden Anlaß zur Annahme solcher Ausnahmen verfolgen und bei Beschuldigtenvernehmungen auf die Entstehung eines solchen Anlasses hinwirken.237 F R I S T E R verwirft die von ihm als „Verbot der Verwertung des Tatverdachts" bezeichnete Konzeption, die die Formulierung der Unschuldsvermutung „gilt als unschuldig" wörtlich nimmt, und folgert, alle staatlichen Stellen müßten von der realen Unschuld des Betroffenen ausgehen. Dies treffe namentlich die Ansicht K Ö S T E R S , da es nicht um den Ausschluß des Tatverdachts als empirische Begebenheit, sondern um den Ausschluß seiner rechtlichen Verwertung gehe, was ohne Widerspruch möglich sei.238 In der Tat haben nach K Ö S T E R als Sekundärfolge der Unschuldsvermutung alle staatlichen Organe vom NichtVorliegen eines Konfliktes auszugehen.239 Der Tatverdacht als Vermutungsbasis sei aber nicht ausgeschlossen, wohl aber eine Abstufung der Eingriffsmöglichkeiten nach dem Grade des Tatverdachts240 und Prognosen über die zu erwartende Strafe241. Gleichermaßen betont P A E F F GEN, daß das kontrafaktische Element der Unschuldsvermutung die Verwertung des Tatverdachts nicht verhindere, etwa im Bereich der Gefahrenabwehr,242 da der Tatverdacht überhaupt erst die Vermutungsgrundlage sei, sondern nur, diesen anders als zur justizförmigen Klärung des Verdachtsgegenstandes zu gebrauchen.243 Ob diese gegenteiligen Beteuerungen F R I S T E R S Kritik zum Trotz Bestand haben, ist im Zweiten Teil zu untersuchen. Auf der anderen Seite wird das Erfordernis hinreichend konkreten Verdachts für strafprozessuale Eingriffe, etwa bei der Einrichtung von Kontrollstellen nach § m StPO, mit der Unschuldsvermutung begründet, da für die Inanspruchnahme zwecks Nachweises strafbaren Verhaltens die jeden Bürger streitende Ausgangsvermutung erschüttert sein müsse, wozu ein „Pauschalverdacht" nicht genüge.244 ff)

Verbot von Prognosen über den Verfahrensausgang und inzidenter Handlungen vor rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilung

Feststellung

strafbarer

Der Konzeption M A R X E N S und M R O Z Y N S K I S , der in der Unschuldsvermutung eine Kompetenzordnung für die Schuldfeststellung sieht, entsprechen in Einzelfragen diejenigen Positionen, die eine indizielle Verwertung einer noch nicht rechtskräftig festgestellten Straftat in anderen Zusammenhängen ablehnen:

Strafiatsystem und Strafprozeß, S . 350 ff., 355; ähnl. T R E C H S E L , S J Z 77 (1981), 335, 338. Schuldprinzip, S . 87 ff., insb. 88. Ähnl. SK-StPO/RoGALL, Vor § 133 Rn. 76; M Ö L L E R , Vorläufige Maßregeln, S. 217. 239 K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S . 174 ff. 240 K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S . 178 f. Ähnl. wohl S C H Ü T Z , Der Grundsatz der Ver237

MARXEN,

238

FRISTER,

hältnismäßigkeit, mutung).

S. 81 f. (Abstufung der Eingriffe nach Grad des Tatverdachts relativiere die Unschuldsver-

Die Rechtsvermutung

der Unschuld,

180.

241

KÖSTER,

242

SK-StPO/PAEFFGEN, Vor § 112 Rn. 26, gegen den Vorwurf von F R I S T E R , Schuldprinzip, P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S . 55. SANGENSTEDT, StV 1 9 8 5 , 1 1 7 , 1 2 2 .

243

244

S.

S. 88.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

76

(ι) So werden Prognosen über den Verfahrensausgang als problematisch angesehen, etwa über die Schwere der zu erwartenden Strafe im Hinblick auf die Dauer der Untersuchungshaft: Jede Prognose über den Verfahrensausgang (im Sinne einer Verurteilung) enthalte das Urteil, daß der Beschuldigte der Tat schuldig und strafbar sei. Knüpfe an die Prognose die Entscheidung über das Ob und Wie eines Grundrechtseingriffs an, so sei dies mit der Unschuldsvermutung unvereinbar, da der Eingriff auf der antezipierten Strafe beruhe.245 Daß solche Prognosen und Begrenzungen begünstigend wirkten für die nicht davon Betroffenen, sei keine durchschlagende Replik, da bis zu dieser Grenze eben eine Belastung legitimiert und konstituiert werde.246 Unvermeidlich und als Eingriffslegitimation für das Verfahren als ganzes unverzichtbar sei aber die allgemeine Prognose, daß es zu einer Verurteilung kommen könne,247 welche „als bloße Potentialität" den Verdächtigen „nicht diskriminiere".248 Jegliche konkretere Prognose (wie in §§ 112a Abs. 1 Satz 1, 120 Abs. 1 Satz 1, 127a Abs. ι Nr. ι, 132 Abs. 1 Nr. 1, 232, 233 StPO) berge ein höheres Irrtumsrisiko, gehe von im Rechtssinne nicht erwiesenen Faktoren aus und verletze folglich die Unschuldsvermutung.249 Begrenzungen der Haftdauer müßten daher aus dem Bereich vor Urteilsfällung gewonnen werden, etwa aus dem Deliktsstrafrahmen.250 Dem hält W O L T E R entgegen, daß die Orientierung an der zu erwartenden Strafe keine Behandlung des Verdächtigen als Schuldigen darstelle, d.h. den Schuldnachweis vorwegnehme, Strafe oder strafgleiche Maßnahmen verhänge oder vorhalte. Im übrigen bedeute

245 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 55 f.; AMENDT, Die Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Sicherheitsleistungsvorschriften, S. 12; KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 180. Für unbedenklich halten dies CORDIER, NJW1968,1710,1711; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommen-

tar, A r t . 6 RN. 1 1 7 ; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 1 1 2 RN. 1 1 , 23 ff.; K M R 7 - M Ü L L E R , § 1 1 2 RN. 22; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K R n . 134; H E N K E L , Strafverfahrensrecht, S . 358; K L E I N K N E C H T , N J W 1 9 6 6 , 1 5 3 8 f.; T S C H E R W I N K A , Absprachen

S. 275; P E T E R S , im Strafprozeß,

Strafprozeß4,

S . 1 0 3 ff; VOGLER,

Z S t W 82 ( 1 9 7 0 ) , 7 4 3 , 7 7 3 ; A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft,

S . 43.

Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich sowohl an der Tatschwere und als auch — nicht nur beiläufig — an der zu erwartenden Strafe: BVerfGE 17,108,117,; 20, 45, 49 (Untersuchungshaft darf vor allem nicht außer Verhältnis zur Dauer der zu erwartenden Strafe stehen); 144,148 (ebenso); 162,187; 53,152,158. Vgl. BVerfGE 10, 271, 274; s.a. LG Köln NJW 1964, 1816 f.; dazu PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 56 Fn. 205. 246 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 56; DERS., Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S. 113, 132 Fn. 85 (auf S. 133), 133 Fn. 92. Zust. nun WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 95 Fn. 2 4 (auf S. 96). 247 Ohne diese Prognose wird der Staatsanwalt keine Anklage erheben dürfen, CORTS/HEGE, JA 1976, 303, 305 f.; OLG Karlsruhe NJW 1974, 806, 807; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42, § 203 Rn. 2; KAISER, N J W 1965, 2 3 8 0 , 2382. 248

PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 56. AMENDT, Die Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Sicherheitsleistungsvorschriften, S. 12; KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 180; KRAUSS, Der Grundsatzder Unschuldsvermutung, S. 174 f., 249

zust. TRECHSEL, S J Z 77 (1981), 335, 336; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 56 ff.; DERS., Haftgründe,

Haft-

dauer und Haftprüfung, S. 131 ff. mit Fn. 85 (auf S. 132); SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28 f. 250 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 57. Zur Bedeutung der Deliktsschwere s. CORTS/HEGE, JA 1976,

379. 384 (•

Unklar bleibt, warum die allgemeine Prognose, auf die der Tatverdacht gestützt ist und die ebenso das Urteil, der Verdächtige sei schuldig, enthält, zulässig sein soll: Die „bloße Potentialität" ist Definitionsele-

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

77

die vorgeschlagene Orientierung am Deliktsstrafrahmen eine unzulässige Relativierung der Unschuldsvermutung, die auch „Nicht-Unrechts-Vermutung" sei. 251 (2) Entsprechend werden auch Inzidentfeststellung strafbarer Handlungen als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gewertet, so hauptsächlich die Berücksichtigung von Vor- oder Nachtaten bei der Strafzumessung oder der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung oder des Maßregelvollzugs wegen zwischenzeitlich begangener rechtswidriger Taten, wenn diese Inzidenttaten noch nicht rechtskräftig festgestellt sind. A m deutlichsten ist dies bei der Konzeption M A R X E N S : „Eine Straftat ohne Prozeß ist undenkbar." 252 Nach V O G L E R unterscheidet die Unschuldsvermutung nicht nach indizieller und „gesonderter" Verwertung, sondern verlangt für jeden Fall der Anknüpfung an strafbare Handlungen den vorherigen Nachweis in Form einer Verurteilung. 253 Inzidente Feststellungen von Straftaten anderer, etwa der Haupttat in einem gesonderten Verfahren gegen den Teilnehmer, berühre die Unschuldsvermutung nicht, da der andere ja nicht in diesem Verfahren verurteilt werde. 254 (3) Nach P A U L U S ' Konzeption der Unschuldsvermutung als prozeßgegenstandsbezogener Fiktion sind Inzidentfeststellungen strafbarer Handlungen nicht gehindert, sei es im Strafrecht als nicht verfahrensgegenständliche Taten (im Rahmen der §§ 261 StPO; 46 Abs. 2 Satz 2, 56 Abs. 1, 56 f Abs. 1 Satz 1, 57 Abs. 3, 67, 67g StGB, oder auch bei §§ 25-27, 30 Abs. 2 StGB), sei es in anderen Rechtsgebieten (§§ 123, 134, 626, 823, 2339 B G B , 44 Abs. 2 Satz 5 V w V f G ; 2 ff. I R G , 10 AuslG), sofern nur die Inzidenttat für die befaßte Instanz überzeugungssicher erwiesen sei. 255 Ahnlich sieht F R I S T E R die indizielle Verwertung einer möglicherweise begangenen Straftat, etwa im Rahmen einer Gefährlichkeitsprognose, ebenso wie die Berücksichtigung des Grades des Tatverdachts und der Schwere des Schuldvorwurfs im Rahmen der Zulässigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen nicht als Verletzung der Unschuldsvermutung an. 256 Die gegenteilige Auffassung beruhe auf der verfehlten Konzeption der Unschuldsvermutung als strafrechtliche Variante der „Ausgangsvermutung für den Menschen". 257 Nach der Judikatur der Bundesverfassungsgerichts schützt die Unschuldsvermutung nicht davor, daß ein strafbares Verhalten - auch ohne daß es deswegen schon zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen wäre — in einem anderen Verfahren festgestellt wird und hieraus für dieses Verfahren bestimmte Folgerungen gezogen werden. 258

ment jedweder Prognose. Gleichermaßen müßte sich auch die Orientierung am Deliktsstrafrahmen verbieten, die ja nur aufgrund des Urteils, ein bestimmtes Delikt sei begangen worden, sinnvoll ist. In der Konsequenz dieser Auffassung müßte daher die Zuständigkeitsordnung des G V G , insbesondere §§ 24 Abs. ι Nr. 2, 25 Nr. 2, 74 Abs. 1 G V G , unzulässig sein. 251

WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen

und Verfahrenssicherung, S. 89, 95 Fn. 24 (auf S. 96) mit S. 93.

252

MARXEN, Straftatsystem undStrajprozeß, S. 345. 253 VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 439. 254 IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 383 a.E. 255 PAULUS, N S t Z 1990, 600, 601; so schon DREHER, N J W 1 9 6 4 , 1 5 8 1 , 1 5 8 2 ; ähnl. MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 73. BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1988,1715 f. 256

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S . 87 f f . , 1 0 1 f f . , 1 1 0 bei F n . 36; DERS., J u r a 1988, 356, 3 6 1 .

257

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. n o F n . 36.

258

B V e r f G N J W 1 9 8 8 , 1 7 1 5 , 1 7 1 6 ; 1994, 377.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

78

gg) Gebot der Gleichbehandlung von Verdächtigen und Nichtverdächtigen? Wenn der Verdacht Eingriffsvoraussetzung in die Rechte des Beschuldigten ist, so scheint darin dasselbe Dilemma zu liegen, dem G R A F Z U D O H N A S Diktum 259 über die Untersuchungshaft zugrundeliegt: Schutz der Unschuldsvermutung durch Verfahren, aber Eingriff in die Unschuldsvermutung zum Zwecke der Verfahrensdurchführung? 260 Einige Autoren sehen die Anknüpfung an den Tatverdacht in der Weise, daß dem Verdächtigen schwerere Eingriffe, von den mit der Einleitung des Strafverfahrens notwendig verbundenen abgesehen, zugemutet würden als dem Nichtverdächtigen ohne sachlich gerechtfertigten Grund wie in § 8ia StPO, als unzulässig a n . 2 6 1 F R I S T E R formuliert, daß zwischen Verdächtigen und Nichtverdächtigen nicht nach Zurechnungsgesichtspunkten differenziert werden dürfe. 262 Nach G R O P P gebietet die Unschuldsvermutung vor allem die Beschränkung auf solche Maßnahmen, welche die Unschuld des Verdächtigen wenigstens als Möglichkeit offenlassen, was dem Verbot der Gleichbehandlung von Verdächtigem und Schuldigem entspricht, sodann verbiete sie die willkürliche Ungleichbehandlung von Verdächtigem und Nichtverdächtigem, insofern der Tatverdacht allein zwar Anlaß zur Wahrheitserforschung sei, aber nicht Legitimation besonderer Belastungen. 263 Mit der wohl überwiegenden Ansicht, 264 die dem Verdächtigen eine erhöhte Duldungspflicht auferlegt, lehnt K R A U S S 2 6 5 eine Gleichbehandlung von Beschuldigtem und Nichtbeschuldigtem, als Verbot der Berücksichtigung des Tatverdachts, ab, da gerade der Tatverdacht Grundlage und Rechtfertigung hoheitlicher Inanspruchnahme des einzelnen zur Durchführung des Strafverfahrens sei. Sähe man die Berücksichtigung des Tatverdachts als Differenzierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 G G , so wäre damit auch jegliche Besserstellung, etwa zur Aussagepflicht des Zeugen, ausgeschlossen.266 Ebenso wie im Polizeirecht bereits der Anschein einer Gefahr als „Störung" gelte und zu Eingiffen, nämlich aufklärenden, berech-

259 „ U m also den Verdächtigen vor unverdienter Strafhaft zu schützen, wird das Strafverfahren gegen ihn betrieben; um dieses durchführen zu können, wird der Verdächtige eingesperrt.", GRAF ZU DOHNA, Strafprozeßrech?, S. 126 f. 260 Dazu SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 27 u. ff. 261 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 986; ARBEITSKREIS STRAFPROZESSREFORM, Die Untersuchungshaft, S. 31. SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28 Fn. 131, weist auf den Widerspruch zu SAX' eigener Auffassung hin, daß die Unschuldsvermutung in reziprokem Verhältnis zur Intensität des Tatverdachts stehe. 262 FRISTER, Schuldprinzip, S. 1 0 3 , 1 0 9 ff.; DERS., Jura 1988, 356, 360. 263

G R O P P , J Z 1 9 9 1 , 8 0 4 , 807; ähnl. P I E R O T H / S C H L I N K , Grundrechte",

R n . 466

264

Siehe nur B V e r f G E 1 6 , 1 9 4 , 200: „ D a ß die besondere Stellung des Beschuldigten ihm gegenüber besondere Eingriffe erlaubt, fordern die elementaren Bedürfnisse des Strafrechts."; BURMANN, Die Sicherungshaft gemäß § 453c StPO, S. 21 f.; MROZYNSKI, J Z 1978, 255, 256; E . MÜLLER, N J W 1 9 7 6 , 1 0 6 3 , 1 0 6 6 ; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28; MÖLLER, Vorläufige Maßregeln, S. 217 f.; WELP, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, S. 71; ZIELEMANN, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 82; HASSEMER, StV 1984, 38, 40. Wohl auch DEGENER, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 67. 265

K R A U S S , Der

Grundsatz

der

Unschuldsvermutung,

S. 165 ff., 1 6 7 ff. I h m f o l g e n d K O N D Z I E L A ,

MschrKrim 1 9 8 9 , 1 7 7 , 1 8 2 ; SK-StPO/RuDOLPHi, Vor § 94 Rn. 10; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28; WOLTER, Z S t W 93 (1981), 452, 472; DERS., Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 94 f. 266 KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 166.

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

79

tige, so sei im Strafrecht bereits der Tatverdacht eine „Störung", nämlich Anzeichen einer Gefährdung des Rechtsfriedens durch eine noch ungesühnte Tat, ein Konflikt, der dem Verdächtigen zugerechnet werde und der zu „Entstörung" gleich Verdachtsklärung durch das Strafverfahren nötige, da er nur so beseitigt werden könne. Folglich treffe den Verdächtigen die Pflicht, alle zur Sachverhaltsaufklärung und zur Durchführung des Verfahrens nötigen Maßnahmen zu dulden. 267 Hingegen seien alle Verdächtigen gleichzubehandeln, insofern die Rechtsstellung des Beschuldigten und alle Maßnahmen zur Wahrheitserforschung bis zur Rechtskraft stets an der Möglichkeit der Unschuld zu orientieren seien. 268 Namentlich der Wahrheitserforschung setze die Unschuldsvermutung enge Grenzen. 269 Gegen das KRAUsssche Störermodell wendet BURMANN ein, daß der Verdacht nicht als störendes Ereignis betrachtet werden könne, da er objektiv zu Unrecht bestehen könne. Daher dürfe auch der Verdächtige nicht als Störer angesehen werden, weil nicht feststehe, ob er es sei, der die mögliche Gefährdung des Rechtsfriedens verursacht habe. Folglich könne der Verdächtige nur als Nichtstörer in Anspruch genommen werden. 270 Weitergehend bringt FRISTER vor, daß die Befürchtung, ein neues Differenzierungsverbot im Sinne des Art. 3 G G einzuführen, unbegründet sei, da die Unschuldsvermutung nur die Schlechterstellung des Beschuldigten unter Zurechnungsgesichtspunkten verbiete. Sofern sich aus dem Tatverdacht ein sachlicher Grund für eine Differenzierung ergibt, darf daran angeknüpft werden, 271 so etwa an die größere Bedeutung des Beschuldigten für die Durchführung des Verfahrens im Gegensatz zu der geringeren des Zeugen bei Eingriffen zur Sicherung der Strafvollstreckung, zur Feststellung der Identität des Beschuldigten, seiner Anwesenheit im Verfahren etc. Hingegen kämen Beschuldigter und Nichtverdächtige prinzipiell in gleicher Weise als Beweismittel in Betracht. 272 Gegen KRAUSS' Argumentation spreche, daß die Rechtfertigungsmodelle im Polizei- und Strafrecht gerade nicht übereinstimmten, da im Polizeirecht kein Schuldprinzip gelte und der einzelne nicht die Möglichkeit habe, durch Steuerung seines Verhaltens eine Inanspruchnahme zu verhindern. 273 Die Parallelisierung beider Rechtsgebiete scheitere weiterhin daran, daß wegen des prognosti-

267

KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 1 7 0 f. KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 172 f.; DERS., Festschrift Schaffstein, S. 411, 428; RÜPING, Theorie und Praxis, Rn. 195; DERS., Rev.int.dr.pén. 49 (1978), 323, 329; D . MEYER, Straf rechtsentschädigun£, Einl Rn. 20 (Mißverständlich aber die Formulierung, der Staat müsse auch mittelbar alles vermeiden, was auf einen Schuldmakel hinweisen könne, denn den Makel bringt bereits die Betreibung eines Verfahrens mit sich.). 268

269

KRAUSS, Festschrift Schaffstein, S. 411, 411.

270

BURMANN, Die Sicherungshaft gemäß § 453 c St PO, S. 27 ff. 271 FRISTER, Schuldprinzip, S. 110 f. So auch ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 27. VOLKS Kritik in Z S t W 104 (1992), 834, 841 f., in der er FRISTER vorwirft, daß dessen Ansatz nur geringen Fortschritt erbringe, da zwar nicht an den Tatverdacht angeknüpft werden dürfe, aber an das überwiegende öffentliche Interesse, das aber just bei Tatverdacht überwiege, verkennt den Kern der FRisTERschen Aussage, die in dem Erfordernis eines sachlichen Grundes für den konkreten aufklärenden Eingriff besteht und eine pauschale Rechtfertigung über den Tatverdacht, der natürlich die Grundlage für jeglichen verfahrensfördernden Eingriff darstellt, verbietet. In diesem zusätzlichen Rechtfertigungserfordernis liegt in der Tat ein Gewinn, nämlich an Rationalität und Uberprüfbarkeit, wenn auch nicht unbedingt, das ist VOLK zuzugeben, an Schonung der Rechtssphäre des Beschuldigten. 272

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. I I I f.

273

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. 99.

8o

I. Teil: Rechtsverglcichende Bestandsaufnahme

sehen Charakters des polizeirechtlichen Gefahrenurteils und der Offenheit der Klasse gefahrbegründender Tatsachen eine begriffliche Trennung zwischen gefahrbegründenden Tatsachen und Gefahrprognose und somit zwischen Gefahr und Gefahrenverdacht nicht möglich sei, so daß die Inanspruchnahme des nur möglichen Störers ebenso legitimiert sei wie die des Störers. Demnach müßten auch im Strafrecht bei unaufklärbaren Sachverhalten Verdachtsstrafen zulässig sein. Im Strafrecht hingegen bedürfe es zur Feststellung der Verantwortlichkeit keiner Prognose, sei eine begriffliche Unterscheidung zwischen Gefahr (für die Normakzeptanz) und Gefahrenverdacht möglich, da der Kreis der gefahrbegründenden Tatsachen durch die strafrechtlichen Tatbestände klar begrenzt sei. Folglich seien Personen, die nur möglicherweise „Störer" sind, als Nichtstörer in Anspruch zu nehmen.274 Fraglich ist, ob die von K R A U S S gemeinte Duldungspflicht überhaupt mit einer „Zurechnung" im Sinne F R I S T E R S legitimiert wird und nicht vielmehr mit auf den Tatverdacht gestützten sachlichen Gründen. Unklar erscheint weiterhin, warum der Kreis der Tatsachen, also Lebenssachverhalte, die Strafgesetzen unterfallen können und daher Gegenstand des Ermittlungsverfahrens sind, deshalb nicht prinzipiell offen sei, weil die gesetzlichen Tatbestände klar definiert sind. Im übrigen geht es gar nicht um einen Vergleich der Zeitpunkte der Feststellung der jeweiligen Verantwortlichkeit: die Relevanz des Tatverdachts besteht zu einer Zeit, wenn über die strafrechtliche Verantwortlichkeit eben noch keine Gewißheit besteht,275 weil oft Gewißheit über das Vorliegen der zugrundeliegenden Tatsachen fehlt. Insofern handelt es sich bei allen strafprozessualen Eingriffen vor dem rechtskräftigen Urteil durchaus um Eingriffe, die auf eine Prognose gestützt werden, der der späteren Verurteilung wegen einer bestimmten Tat. Zudem gibt es durchaus künftige unsichere Elemente in dieser Prognose, z.B. die durchgängige Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten. Nur nach dem endgültigen Urteil kann auch entschieden werden, ob eine „Gefahr für die Normakzeptanz" bestanden hat oder nicht. Schließlich trägt die von F R I S T E R aufgestellte ontologische Differenz nicht so weit wie es scheint: selbst wenn man die Begehung oder Nichtbegehung einer Straftat als objektiven, realen vergangenen Vorgang begreift, folgt daraus nicht, daß die für den Strafeingriff erforderliche Kenntnis davon hergestellt werden kann. Die Vergangenheit ist nicht stets zugänglicher als die Zukunft. Mit dem Tatverdacht ist notwendig eine „Zurechnung" verbunden, nicht aber notwendigerweise im FRisTERschen Sinne des Begriffs. Unterschiede bestehen zum Polizeirecht aber in der Weise, daß die strafprozessualen Eingriffe stets nur der Klärung des Verdachts, nicht der Beseitigung einer Gefahr dienen, diese ist, wenn man mit F R I S T E R in der festgestellten Tat eine „Gefahr für die Normakzeptanz" sehen will, dem Strafurteil vorbehalten. hh) Gebot der Gleichbehandlung

aller

Verdächtigen

Da die Unschuldsvermutung gebiete, die Rechtsstellung aller Beschuldigten so auszugestalten, daß sich ihre Unschuld in jeder Prozeßlage noch herausstellen könne,276 folgt aus ihr

274

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. 1 0 0 f. u n t e r B e z u g a u f O . S C H N E I D E R , D V B 1 . 1 9 8 0 , 4 0 6 ff. E b e n s o

G R Ü N W A L D , S T V I 9 8 7 , 453, 4 5 7 . 275

S o a u c h d i e K r i t i k v o n V O L K , Z S t W 1 0 4 (1992), 834, 841, a n F R I S T E R . E b e n s o K Ü H N E , N J W 1 9 7 9 ,

6 1 7 , 618. 276

E b e n s o L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , N J W 1980, 371, 374.

A.II. Bundesrepublik Deutschland

8l

nach K R A U S S das Verbot, im Verfahren zwischen „wohl Schuldigen" und „wohl Nichtschuldigen" zu differenzieren. 277 K Ü H N E sieht bereits das Staatsinteresse am Strafverfahren gleichermaßen auf die Ermittlung des wahren Sachverhaltes und den Schutz des Individuums gerichtet, so daß „Überführung des Schuldigen" und „Schutz des Unschuldigen" gegenüberzustellen 278 irreführend sei. Die StPO habe stets nur Unschuldige in Verdachtssituationen bei der Inanspruchnahme zu Ermittlungszwecken gekannt. 279 Daraus folge aber nicht, daß Eingriffe nicht an unterschiedliche Verdachtsstufen anknüpfen dürften, wiewohl dies zu der Berücksichtigung möglicher Schuld als Eingriffsgrundlage verführe. 280 Zumeist wird die Orientierung an Verdachtsgraden, 281 die das Maß für das Strafverfolgungsinteresse abgeben, für zulässig gehalten. 282 ii) Absolute Eingriffsgrenzen Sofern die Unschuldsvermutung nicht als bloße Direktive an den Gesetzgeber betrachtet wird, 283 wird ihretwegen vielfach die Einhaltung einer absoluten Opfergrenze bei strafprozessualen Eingriffen verlangt. 284 Die Begründungen lauten, daß der Gesetzgeber alle Maßnahmen an der möglichen Unschuld des Betroffenen orientieren müsse,285 so daß eine Grenze in dem einem Unschuldigen gerade noch zumutbaren Sonderopfer liege286 bzw. dem Tatverdächtigen nie ein Sonderopfer auferlegt werden dürfe 287 und keine irreparablen Ver-

277 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 172. Zust. T R E C H S E L , S J Z 77 (1981), 335, 336; M o o s , Das Geständnis im Strafverfahren., S. 217. 278 So E B . S C H M I D T , Lehrkommentar, Teil I 2 , Rn. 21 („Doppelziel"). 275 K Ü H N E , Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 60 f. 280 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S . 172 Fn. 49. 281 Krit. zur gesetzlichen Unterscheidung von Verdachtsgraden, die letztlich Leerformeln seien,

K Ü H N E , N J W 1979, 617, 618 282

ff.

BVerfGE 27, 211, 219; 17,108,119; 16,194, 200 f.; 20,162, 201 ff.; 34, 293, 301; 74, 358, 372; 82, 106, 115; C O R T S / H E G E , JA 1976, 379 u. ff; F R I S T E R , SchuMprinzip, S . no f.; K Ü H L , JR1978, 94, 97 f.; S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S . 121; Z I E L E M A N N , Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 83 f. A . A . H A B E R S T R O H , NStZ 1984, 289, 290; K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 178 f. 283 D E G E N E R , Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 215, hält übergeordnete Maximen für selten geeignet, absolute Limitierungen abzugeben. 284 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 103 ff; G R Ü N W A L D , StVi987,453, 457; H A B E R S T R O H , NStZ 1984, 289, 290; K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S . 181; K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S . 173 f., 175 f.; K Ü H N E , N J W 1979, 617, 617; S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S . 29; D E R S . , AnwBl. 1984, 69, 71. 285 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 176; zust. H A B E R S T R O H , NStZ 1984, 289, 290; R Ü P I N G , ZStW 91 (1979), 351, 358. 286 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 176; I F F E R T - S C H M Ü C K E R , Mängel und Opfer des Opferschutzgesetzes, S . 36; E. M Ü L L E R , NJW 1976,1063,1066; M Ü L L E R - D I E T Z , ZStW 93 (1981), 1177, 1206 f., 1261; R I E S S , Festschrift Karl Schäfer, S . 155,180,194; S C H Ü N E M A N N , Gutachten Β für den 58. DJT, Bd. I, B95; Z I E L E M A N N , Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 87. Vgl. die EuKMR im Wemhoff-ΐ M in EuGHMR Serie Β "Wemhoff" Case, S. 9 ff, 66 § 68 Nr. 2 zur Dauer der Untersuchungshaft. Zust. M A H L E R , NJW 1969, 353. 287 G R Ü N W A L D , StV 1987, 453, 457; K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 176 f.; K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 181; R O G A L L , Der Beschuldigte, S. I N ; R O X I N , StrafverfahrensrechP, § I I Rn. 4, S . 68; R U D O L P H I , ZRP 1976, 165, 170; S K - S I P O / R U D O L P H I , Vor § 94 Rn. 9; S K StPO/RoGALL, Vor § 133 Rn. 76; auch B O T T K E , Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit, S. 57.

82

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

luste eintreten dürften 2 8 8 . Für die Untersuchungshaft wird formuliert, daß sie mit zunehmender Dauer i m m e r strafähnlicher werde und daher zu begrenzen sei. 289 Für F R I S T E R ergibt sich der Zwang zur Einhaltung einer Opfergrenze bereits daraus, daß Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten nicht mit Zurechnungserwägungen gerechtfertigt werden dürfen 2 9 0 und das verbleibende Rechtfertigungsmodell des überwiegenden öffentlichen Interesses wegen A r t . ι Abs. ι G G die Einhaltung einer Opfergrenze bedinge, die aber bei langjähriger Untersuchungshaft überschritten sei. 291 Ebenso sei die Inanspruchnahme des Beschuldigten auch prinzipiell als entschädigungspflichtiges Sonderopfer zu betrachten. 2 9 2

288

HABERSTROH,

285

ARBEITSKREIS

NStZ 1984, 2 8 9 , 2 9 0 . STRAFPROZESSREFORM, Die

Untersuchungshaft,

S . 31 f., G e s e t z e s v o r s c h l a g

auf

S. 113; GROPP, JZ 1991, 804, 808 f.; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 428 fF., 430 („qualitativer Umschlag" möglich); S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28 f.; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 455, 458 f. (anders aber später DERS., Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 9 2 ff.); S C H U B A R T H , AnwBl. 1984, 69, 7 1 ; R Ü P I N G , Theorie und Praxis, Rn. 195; ähnl. B O T T K E , Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit, S. 57. 290 Ähnl. KÜHNE, N J W 1979, 617, 617. 291

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S . 31 ff., 1 0 3 fF., 105.

292

F R I S T E R , Schuldprinzip,

S. 1 0 3 , 1 2 0 fF. A h n l i c h S C H U B A R T H , Zur

Tragweite des Grundsatzes

der

Un-

schuldsvermutung, S. 32 f. Zum Sonderopfercharakter strafprozessualer Eingriffe s.a. BVerfGE 68, 237, 252 = N J W 1 9 8 5 , 7 2 7 , 728; BGHZ 7 2 , 302, 305 = N J W 1 9 7 9 , 425 = M D R 1 9 7 9 , 2 1 0 = JZ 1 9 7 9 , 1 4 4 ; OLG Nürnberg M D R 1 9 7 5 , 7 7 9 , 7 8 0 f. („zweifellos Aufopferung"); OLG Stuttgart, AnwBl. 1 9 7 2 , 330; A R B E I T S K R E I S STRAFPROZESSREFORM, Die Untersuchungshaft, S. 30; dazu HASSEMER, StV 1984, 38, 4 0 = AnwBl. 1984, 64, 66 f.; H E R R E T , Verfahrensbeendigung,

Kostentragung

und Entschädigung,

S. 104; HOEFERMANN,

Die

Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 47 ff.; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42, Vor § 1 StrEG, Rn. 1; K Ö H L E R , ZStW 1 0 7 (1995), 1 0 , 21 u. ff.; D . M E Y E R , StrEG2, Einl. Rn. 1 2 a.E.; M Ü L L E R 1 D I E T Z , ZStW 93 (1981), 1 1 7 7 , 1 2 0 6 ; PFLÜGER, GA 1 9 9 2 , 2 0 , 28; S C H Ä T Z L E R , StrEG , Einl. Rn. 23; S E E BODE, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 113 f., 138 f.; S T E I N , ZStW 97 (1985), 303, 303 Fn. 2; T I E D E MANN, M D R 1 9 6 4 , 9 7 1 ff. S . a . L R 2 3 - S C H Ä F E R , V o r § 4 6 4 R n . 22 f.

Gegen die Klassifizierung der Untersuchungshaft als Sonderopfer s. PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 211 ff.: die Inanspruchnahme des Beschuldigten falle nicht aus der gesetzlichen Zwangstypik heraus. (Dagegen wiederum F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 1 2 0 Fn. 59: die Zwangstypik sei kein verallgemeinerungsfähiges Kriterium. Dies erscheint angesichts der Judikatur, infra, unverständlich. Zum Sonderopferbegriff der Aufopferung s. O S S E N B Ü H L , Staatshaftungsrecht4, S. 1 1 4 ff.) Gegen Sonderopfer ebenfalls T I E D E MANN, M D R 1964, 971, 974, da die Nachteile durch ein Strafverfahren nicht über das hinausgingen, was ein Bürger nach dem Willen des Gesetzes hinnehmen müsse, ebenso P L Ö T T N E R , Die Beschwer des Angeklagten im Rechtsmittelverfahren, S. 147 Fn. 2; auch LR23-SCHÄFER, Vor § 464 Rn. 23; s.a. BGHZ 60, 302, 304 ff. = N J W 1973, 1322 f. (kein Sonderopfer bei zurechenbarer Herbeiführung der Untersuchungshaft durch Straftat; die Unschuldsvermutung sei hierfür ohne Bedeutung. Gegen die geläufige Unterscheidung der Entschädigungslage nach „schuldigen" und „unschuldigen" Untersuchungshäftlingen s. B U R M A N N , Die Sicherungshaft gemäß § 453 c StPO, S. 17 f., 34 ff. m.w.Nachw.). Vgl. allg. BGHZ 9, 83, 86 f., 92; 17, 172, 173 ff; 20, 61, 64; 25, 238, 240; BGH N J W 1962, 1500, 1504 und 1505: alle vom Gesetz geforderten und gewollten Opfer sind keine Sonderopfer. Siehe andererseits BGHZ 45, 58, 76 ff., wo ein Aufopferungsanspruch wegen der Vollstreckung eines unrichtigen rechtskräftigen Strafurteils erwogen, letztlich aber aus Subsidiaritätsgründen offengelassen wird; gleichwohl soll die Billigkeit in Grenzfällen bei späterer Aufhebung des Urteils eine Entschädigung gebieten, ibid. S. 78. Gegen Sonderopfercharakter der Verwicklung in ein Ermittlungsverfahren auch: GÖLLER, ZRP 1981, 56, 58. Für Freispruch mangels Beweises cf. GÜNTHER, Verurteilungen im Strafprozeß, S. 228.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

83

Die Vorschläge für solche Grenzziehungen, die zumeist an der Dauer der Untersuchungshaft exemplifiziert werden, 2 9 3 schwanken. 294 Absolute Limitierungen prozessualer Eingriffe aus der Unschuldsvermutung zu deduzieren hält KRAU ss für zweifelhaft, da oberste Verfassungssätze selten exakte Maßstäbe lieferten. 295 Daher müßten die gesamten Eingriffsmöglichkeiten der StPO neu überdacht werden, die so bemessen seien, daß ihre volle Ausschöpfung nur dem Schuldigen gegenüber gerechtfertigt sei. Eine zwei Jahre dauernde Untersuchungshaft, wie sie noch möglich sei, liege jenseits dieser Sonderopfergrenze. 2 9 6 Ähnlich meint FRISTER, daß sich eine bestimmte Obergrenze der Haftdauer nicht aus der Verfassung ableiten lasse und daher im Ermessensspielraum des Gesetzgebers liege. Nach seiner Einschätzung liegt bei vier Jahren Haftdauer bis zur rechtskräftigen Entscheidung die äußerste Grenze. 2 9 7 Dementgegen sieht MEYER für eine Begrenzung strafprozessualer Maßnahmen durch die Unschuldsvermutung keinen Raum: insbesondere könne ein prozessualer Eingriff niemals durch Intensität oder Dauer den Charakter einer Strafe annehmen - Untersuchungshaft bleibe Untersuchungshaft, gleichviel wie lange sie dauere. Vor übermäßigen Eingriffen schütze den Beschuldigten allein der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, denn aus der Unschuldsvermutung ließen sich zudem keinerlei Maßstäbe gewinnen: Es sei völlig ungewiß, wann eine Maßnahme in Strafe umschlage. 298 Auch WOLTER hält es für problematisch, einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung schon dann anzunehmen, wenn die Untersuchungshaft als unzumutbares Sonderopfer eines im Ergebnis unschuldigen Bürgers erscheine, weil angesichts der gravierenden Folgen der Haft sonst fast jede dieser Zwangsmaßnahmen verfassungswidrig wäre. 299

Für die Untersuchungshaft folgert DENCKER, M D R 1 9 7 1 , 627, 627, die Entschädigungspflicht aus der für den Inhaftierten geltenden Unschuldsvermutung, die auch nach der Verurteilung nicht rückwirkend entfalle. Dazu F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 127 f. 2.3 K R E Y , J A 1983, 638; D E R S . , Strafverfahrensrecht, Band I , Rn. 127, sieht sogar die Hauptbedeutung der Unschuldsvermutung darin, daß ihr für die Bestimmung der Angemessenheit der Dauer der Untersuchungshaft entscheidendes Gewicht zukomme. Dagegen MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 67 f. Genau entgegensetzt V Ö C K I N G , Die oberlandesgerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft, S . 246, der eine absolute Befristung der Untersuchungshaft für nicht geboten hält, weil sie wegen der Unschuldsvermutung keinen Strafcharakter annehmen dürfe. A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft, S . 113 f., in § 22 Abs. 2, 3: zwei Jahre bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung (dazu SCHUBARTH, AnwBl. 1984, 69 fF.); GROPP, J Z 1991, 804, 809: ein bis zwei Jahre; P A E F F G E N , Vorüberlegungem S . 57 Fn. 208: drei Jahre bei zeitiger Freiheitsstrafe, weniger sei diskutabel, mehr nicht. Die K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S . 174 f. oder 177 bisweilen (so von F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 106 Fn. 12) zugeschriebene 6-Monats-Grenze wird von diesem tatsächlich nirgends festgelegt. 2.5 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 173 f., 175. 2.6 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 176 f. 257 F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 106, rechtspolitisch sei eine kürzere Frist wünschenswert, ebda. Fn 15. 258 MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 68. 2,9 W O L T E R , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S . 89, 94. Ähnl. S C H Ü N E M A N N , Gutachten Β für den 58. D J T , Bd. I, B95 Fn. 261 (auf Β 96): das Verhältnismäßigkeitsprinzip, nicht aber die Unschuldsvermutung sei betroffen. 2.4

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

84

jj)

Garantie der Einhaltung sämtlicher oder bestimmter Verfahrensgarantien zugunsten des Beschuldigten?

Bisweilen w i r d die U n s c h u l d s v e r m u t u n g als F u n d a m e n t a l n o r m des gesamten Verfahrens u n d „oberstes Verfahrensregulativ" 3 0 0 in der W e i s e aufgefaßt, daß sie die Legalität des V e r fahrens insgesamt oder jedenfalls aller grundrechtsbezogenen Einzelgarantien der Rechtsstellung des Beschuldigten 3 0 1 umschließt, beispielhaft die möglichst frühzeitige u n d vollständige M ö g l i c h k e i t der E n t l a s t u n g in allen Verfahrensstadien, 3 0 2 Freiheit der Verteidig u n g , 3 0 3 die G e w ä h r l e i s t u n g des Schweigerechts 3 0 4 bzw. des Rechts, aktiv zu l e u g n e n , 3 0 5 oder die E i n h a l t u n g zulässiger V e r n e h m u n g s m e t h o d e n 3 0 6 . A u c h w i r d das B e s c h l e u n i g u n g s g e b o t g e m . A r t . 5 A b s . 3 S a t z 2 u n d A r t . 6 A b s . 1 E u M R K als A u s f l u ß der U n s c h u l d s v e r m u t u n g gesehen, da es der V e r m e i d u n g langer Haftzeiten diene, die w i e d e r u m eine v o r w e g g e n o m m e n e Strafe darstellten. 3 0 7

300 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 987; MARXEN, G A 1980, 365, 373; IntKomm/VoGLER, Art. 6 R n . 404 u. ff; L G Göttingen NdsRpfl. 1987, 261, 262: „der zentrale Grundsatz des Straf- und Bußgeldverfahrens". 301 302 303

SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 971; ähnl. KMR 7 -PAULUS, § 244 Rn. 310. Z I P F , Kriminalpolitik1, S. 152, auch 192. K M R 7 - P A U L U S , § 244 R n . 308.

304

GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 23; DERS., Festschrift Loewenstein, S. 151, 160; ARNDT, N J W 1966, 869, 870 f.; G . BAUER, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 51; BOTTKE, D A R 1980, 238, 240 bei Fn. 25; ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 51; ESER, Z S t W 79 (1967), 565, 567 f.; HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 293; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 466 (problemat. daher auch §§ 77, 101 Abs. 2 KO); KMR7-PAULUS,

§ 2 4 4 R n . 3 0 8 ; I N G O M Ü L L E R , Rechtsstaat

und

Strafverfahren,

S. 63;

MÜLLER-DIETZ,

Z S t W 93 ( 1 9 8 1 ) , 1 1 7 7 , 1 2 6 3 ; P U P P E , G A 1 9 7 8 , 289, 2 9 9 F n . 4 2 ; R Ü P I N G , J R 1 9 7 4 , 135, 138; S C H M I D T -

LEICHNER, N J W 1966, 189, 190 f.; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 8 ff.; WESSELS, J u S 1 9 6 6 , 1 6 9 , 1 7 3 . Ähnl. B G H S t 14, 358, 364; 20, 281, 283. Auch schon LEUE, Der mündliche Anklageprozeß, S. 128 ff; VARGHA, Strafprozessrecht1, S. 40 f. Gegen die Ableitung des nemo tenetur-Sarz.es ROGALL, Der Beschuldigte, S. 109 ff. (Art. 6 Abs. 2 E u M R K sei nach völkerrechtlichen Prinzipien auszulegen und richte sich daher vornehmlich an den Richter; außerdem seien Schuldvermutungen und nemo tenetur durchaus zu vereinbaren. Dagegen SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 8 Fn. 38: Die E u M R K begrenze die Unschuldsvermutung nicht, die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auszulegen sei. Dann aber ergäbe sich zwingend das Schweigerecht. Daß dieses auch ohne Unschuldsvermutung bestehen könne, widerlege die Ableitung nicht.); SK-StPO/RoGALL, Vor § 133 Rn. 76; zust. MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 67 Fn. 47; NOTHHELFER, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 39 f. (Nemo tenetur und die Unschuldsvermutung ergänzen einander, bestehen aber selbständig. So habe das Schweigerecht nur Sinn, wenn die Unschuldsvermutung und der Zweifelssatz gölten.); SCHROEDER, Fälle und Lösungen Strafprozeßrecht1, S. 52. Dennoch liegt es nahe, das ist WESSELS, J u S 1 9 6 6 , 1 6 9 , 1 7 3 re., zuzugeben, daß Begründungen einer Aussagepflicht wie die HENKELS, Strafverfahrensrecht, S. 225 f. (die Sühnepflicht des Angeklagten beginne nicht erst mit der Bestrafung, sondern schon im Strafverfahren und erfordere ein wahrheitsgemäßes Schuldbekenntnis) wohl gegen die Unschuldsvermutung verstieße. Doch ist dies nicht zwingend, wie P U P P E , G A 1 9 7 8 , 289, 299 F n . 4 2 , zeigt. 305

306

H A B E R S T R O H , N S t Z 1 9 8 4 , 289, 293.

SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988; ELIBOL, Die Vermutungder Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 52; H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 49. Ähnl. B G H S t 14, 358, 364. 307 KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 174; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 29.

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

85

Am weitesten geht MARXEN, der die Unschuldsvermutung zur Grundlage einer verfassungsrechtlichen Straftatlehre macht, die alle Verurteilungsvoraussetzungen des materiellen und formellen Strafrechts umfaßt. 308 Denn die Unschuldsvermutung verbinde Straftat und Strafprozeß zu einer Einheit, indem sie die Erfassung der Straftat von einer ersten Ebene, der des geschichtlichen Vorgangs, auf eine zweite hebe, da sie verlange, daß nur im Verfahren und erst nach gesetzlichem Schuldnachweis, ein Tatverdächtiger als Täter bezeichnet werden dürfe. 309 Sie sei allgemeines Legitimationsprinzip, das die individuelle Freiheit als „legitimatorische Hürde" für die staatliche Strafverfolgung herausstelle. Folglich stünden alle Vorschriften des spezifischen Freiheitsschutzes im Verfahren in einem Ableitungsverhältnis zur Unschuldsvermutung. 310 Geht man davon aus, daß nicht jede rechtskräftige Verurteilung die Unschuldsvermutung widerlegt, sondern nur die prozeßordnungsgemäß ergangene, 3 " so käme jede Verletzung des Verfahrensrechts einem Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gleich. 312 Anderer Auffassung zufolge kann dies weder der Verfassung noch dem Art. 6 Abs. 2 EuMRK entnommen werden. 313 Nach P A E F F G E N folgt aus der Unschuldsvermutung das Gebot größtmöglicher Schonung und gesteigerter Sorgfalt bei Eingriffen in rechtlich geschützte Bereiche des Individuums. Die Unschuldsvermutung stelle somit ein Receptaculum weiterer Pflichten dar, die der normativen Gegensteuerung der durch den Tatverdacht entfesselten Antriebskräfte im Verfahren dienen. 314 kk) Teilhabefunktion der Unschuldsvermutung Neben der Abwehrfunktion behauptet E G O N M Ü L L E R auch eine Teilhabefunktion der Unschuldsvermutung, die den Beschuldigten als handelndes Prozeßsubjekt begreife und ihm das Recht verleihe, aktiv an der Klärung des Verdachts mitzuwirken. Es gehe dabei nicht um Waffengleichheit in einem formellen Sinne, sondern um die Ausbalancierung der Einzelrechte der beiden Verfahrensbeteiligten. Aus der Teilhabefunktion der Unschuldsvermutung folge die Pflicht, den Beschuldigten von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis zu setzen, ihm eigene Ermittlungen zu ermöglichen, ein erweitertes Beweisantragsrecht, die Möglichkeit der Auswahl und Beauftragung Sachverständiger sowie freie Verteidigerwahl und uneingeschränkte Kommunikation mit dem Verteidiger. 315

308 309 310 311

MARXEN, Straftatsystem MARXEN, Straftatsystem MARXEN, Straftatsystem

und Strafprozeß, und Strafprozeß, und Strafprozeß,

S. 343 ff, Schema auf S. 369. S. 344 f. S. 346.

B V e r f G E 74, 358, 371; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 398. Aus einigen Äußerungen der E u K M R , vor allem 788/60 (Österreich./. Italien), Y.B.Eur.Conv.Hum. Rts. 6 (1963), 740, 784, zur Verletzung der Unschuldsvermutung durch Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise, s.a. PEUKERT, E U G R Z 1980, 247, 261, wird geschlossen, daß „gesetzlicher Nachweis der Schuld" nur der rechtmäßige Nachweis sei, dazu IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 393, 398. 313 LR 2 4 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 135,149; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 66. 314 PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 55. 315 E . MÜLLER, N J W 1976, 1063, 1066 f. Abi. TRECHSEL, S J Z 77 (1981), 335, 336 (Überdehnung der Unschuldsvermutung). 312

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

86

II) Zweiteilung der Hauptverhandlung in Tat- und Schuldinterlokut Um eine belastende Erforschung der persönlichen Verhältnisse des Betroffenen nicht vor Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, mithin der Feststellung der Erforderlichkeit dieser Eingriffe, zuzulassen, und Voreingenommenheit des Gerichts, besonders von Laienrichtern, zu vermeiden, wird aus der Unschuldsvermutung die Zweiteilung des Hauptverfahrens in Tat- und Schuldinterlokut gefolgert. Erst aufgrund eines Zwischenurteils, daß der Angeklagte die Tat begangen habe, könnten seine persönlichen Verhältnisse zur Festlegung der Sanktion erörtert werden. 316 b) Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die gerichtliche Entscheidungsfindung Nicht ganz voneinander zu trennen sind jene Forderungen an die Verfahrensgestaltung, die zum einen der Vermeidung von Fehlurteilen dienen, zum anderen primär oder ausschließlich ein faires Verfahren garantieren wollen. Mitunter wird, unter Berufung auf ihre Geschichte, die Unschuldsvermutung als „primär formelles Prinzip" verstanden, das ein vorurteilsfreies Verfahren garantieren wolle,317 während von anderen der Schwerpunkt auf die Begrenzung der strafprozessualen Maßnahmen gelegt wird. Mitunter wird ihr keine Bedeutung für die sachliche Richtigkeit eines Urteils zuerkannt, 318 andere sehen hierin ihr Hauptanliegen 319 . Im allumfassenden Konzept M A R X E N S gebietet die Unschuldsvermutung Rationalität in der Entscheidungsvorbereitung, Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung. 320 Hier seien zunächst die behaupteten Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die Verfahrensgestaltung vorgestellt: aa) Einführung des Parteiprozesses — Beibehaltung des Amtsprozesses Die von SAX geschilderte „psychologische Überforderung" des Richters hat ihm zufolge zur Auflösung der im Inquisitionsprozeß bestehenden Vereinigung der verdachtsermittelnden und urteilenden Funktion mit der Ausgliederung einer vom Gericht unabhängigen Anklagebehörde geführt, so daß nun das Gericht ohne „psychologischen Salto mortale" von der Unschuldsvermutung ausgehen könne. Folglich setze die volle Auswirkung der Unschulds-

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S . 163 ff.; G R O P P , J Z 1991, 804, 812 f.; S C H U Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 20 f.; T R E C H S E L , S J Z 77 (1981), 317, 323. Vgl. auch E B . S C H M I D T , N J W 1969, 1137, 1145 f.; R O X I N , Die Reform der Hauptverhandlung, S. 52, 62 f. Ähnlich M A R X E N , Straftatsystem und Strafprozeß, S. 356, 398 ff.; L Ü D E M A N N , Die Vermutungen im Strafrecht, S. 94 (Zweiteilung des anglo-amerikanischen Prozesses als Folge der Unschuldsvermutung); wohl auch Z I P F , Kriminalpolitilp·, S. 149 f. Kritisch M R O Z Y N S K I , J Z 1978, 255, 260. Abi. L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K RN. 112 a.E.; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 64 f ohne nähere Begründung. Zu den Interlokutmodellen LENCKNER, JUS 1983, 340, 342 ff.; HEINITZ, Festgabe von Lübtow, S. 835, 837 ff. 317 R O G A L L , Der Beschuldigte, S. I I I , jedoch ohne Belege für seine historische Deutung. Vgl. L E U E , Der mündliche Anklageprozeß, S. 128 ff., 130 (Grundsatz, daß die Schuld des Angeklagten während des Prozesses noch problematisch sei). 318 M R O Z Y N S K I , J Z 1978, 255, 256 f.; zust. M o o s , Das Geständnis im Strafverfahren, S. 220. 319 VON STACKELBERG, Gedenkschrift Cüppers, S. 122,129. 320 M A R X E N , Straftatsystem und Strafprozeß, S . 346. 316

BARTH,

KRAUSS,

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

87

Vermutung den Parteiprozeß nach anglo-amerikanischem Muster voraus, 321 so daß die Umgestaltung des deutschen Strafprozesses verfassungsrechtlich geboten sein könnte. Da aber die materielle Wahrheitserforschung, die der Amtsprozeß besser gewährleiste als der Parteiprozeß, ebenso eine Bewährung des materiellen Schuldprinzips wie dessen prozessuale Kehrseite, die Unschuldsvermutung, darstelle, handele es sich letztlich um eine im Schuldprinzip selbst begründete Antinomie. Ein Kompromiß sei unvermeidlich und als solcher seien beide Prozeßformen gleichermaßen geeignet, es spreche sogar mehr für den deutschen Amtsprozeß, der somit mit Art. 1 Abs. 1 G G vereinbar sei. 322 Ähnlich sieht I N G O M Ü L L E R in der Prozeßkonstruktion der StPO, vor allem in Eröffnungsbeschluß des Gerichts, Aktenkenntnis und Verhandlungsleitung des Richters, bereits einen Grund für Befangenheit zu Lasten des Angeklagten und somit eine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung. 323 Andere folgern die richterliche Aufklärungspflicht aus der Unschuldsvermutung 324 oder umgekehrt die Unschuldsvermutung aus der Instruktionsmaxime 325 . Im Spannungsverhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Verdachtsbildung verlangt erstere nach M A R X E N von allen Strafverfolgungsbehörden das größtmögliche Maß an Kontrolle des Verdachts an möglichen Gegengründen, z.B. erfahrungsgemäß naheliegenden Rechtfertigungsgründen, also „das größte mögliche Maß an Skepsis gegenüber dem eigenen Verdacht". 326 bb) Unschuldsvermutung als Beweislastregel Sofern überhaupt der Gebrauch des Begriffs „Beweislast" im Strafprozeß als Amtsprozeß für zulässig oder sinnvoll gehalten wird, 327 wird die Beweislastverteilung zu Lasten des Staates

321 Ebenso GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 21 (die vorbehaltlose Aufnahme des Satzes in einige Länderverfassungen sei daher bedenklich). 322 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 989; KMR 6 -SAX, Einl. I Rn. 5; zust. IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 399; i. Erg. ähnl. GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 21. Dagegen weist KRAUSS, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 154 ff., diese Folgerung zurück, weil Verfassungsgrundsätze ihren Gehalt nicht in isolierter Interpretation, sondern nur in Bezug auf das existierende einfache Recht erhielten und nur darin bereits enthaltene Grundsätze oder Tendenzen hervorhöben. Anwendungsmöglichkeiten der Unschuldsvermutung auf den bestehenden Amtsprozeß gäbe es genug. Abi. auch

T R E C H S E L , S J Z 7 7 ( 1 9 8 1 ) , 3 1 7 , 3 2 3 F n . 58; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K R n . 1 1 2 a . E .

Kritisch zur Übernahme angelsächsischer Modelle STOCK, Festschrift Rittler, S. 305 ff; EB. SCHMIDT, N J W 1963,1081, 1087 f., jew. m.w. Nachw. 323 INGO MÜLLER, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 61 ff. Z u weiteren Kritiken am bestehenden Hauptverhandlungsmodell s. HERRMANN, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 134 f. 324

K Ü H N E , Strafprozeßlehre*,

325

K Ü H N E , Strafverfahrensrecht

326

M A R X E N , Straftatsystem

R n . 1 3 6 . 1 ; v g l . a . P A U N O V I C , Die als Kommunikationsproblem, und

Strafprozeß,

Verfahrensgarantien

des Art.

6, S . i n , 1 1 8 .

S. 65.

S . 352 f.

327

Die begriffliche Wirrnis um die „Beweislast" ist beträchtlich, s. dazu u. S. 469 ff. Ablehnend DURSTEWITZ, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 3 ff, 5 f. m.w.Nw.; ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 20 ff, 22 f., 55; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 95; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 15 ff; Η . PETERS, „In dubio pro reo", S. 63 ff; SAX, Festschrift Stock, S. 143,164; EB. SCHMIDT, Lehrkommentar, Teil I 2 , Rn. 366 u . ff; S U L A N K E , Die

Entscheidung

bei Zweifeln,

S. 70.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

88

und Verbot von Beweislastumkehrungen zu Lasten des Beschuldigten oder Verdächtigten vielfach als Folge der Unschuldsvermutung bezeichnet.328 Zugleich wird betont, daß sich die Unschuldsvermutung nicht auf eine Beweislastregel beschränke, ja dies nicht einmal nicht hauptsächliche Wirkung sei, zumal sich die Beweislastverteilung im Strafprozeß auch mit dem Pauluszitat „Ei incumbit probatio qui dicit, non qui negat"329 begründen lasse.330 cc) favor defensionis Ausgehend von einem Prinzip der Waffengleichheit formulierte bereits VARGHA, daß exklusive Rechte wie das des letzten Wortes stets der Verteidigung zukommen müßten aufgrund des durch die Unschuldsvermutung bedingten favor defensionis. Schließlich sei die Verteidigung der Natur der Sache nach schon aus psychologischen Gründen im Nachteil gegenüber

Befürwortend PLÓSZ, Der Beweis im ungarischen Zivilprozeß, S. 31 fF.; ROSENBERG, Die Beweislasf, S. 28 f., 36 f., 39 f.; LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 127 ff.; BETTERMANN, 46. D J T . S. E 26, E 27 (deutlicher als in „in dubio pro reo" könne eine Beweislastregel nicht formuliert sein); FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 28 ff; VON HIPPEL, Der deutsche Strafprozeß\ S. 384 f.; KERN, Strafverfahrensrechf, § 15 D.2.a), S. 62 ff; MOSER, »In dubio pro reo«, S. 65 ff; SCHÖN, In dubio pro reo, S. 25; VOLK, N S t Z 1983, 423 f.; WENG, „In dubio pro reo"·, S. 7. W. Nachw. für beide Ansichten bei GRAUL, Abstrakte Grfahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 265 Fn. 184. Knapp und zutr. dazu PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 36 ff.; auch G . KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 21 ff, und H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 25-31; die ausführlichste neuere Darstellung mit umfangreichen Nachweisen findet sich bei GRAUL, Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 266-287. Angestoßen wurde die Diskussion von GLASER, Beiträge zur Lehre vom Beweise, S. 85 ff, der in dubio pro reo für die materielle Beweislastnorm des Strafverfahrens hielt, ibid. S. 88, und die Beweislast für „Einreden" dem Angeklagten aufbürdete, S. 90. 328 BACH, M D R 1 9 7 6 , 1 9 , 20; H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 52; GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 24 (Beweisregel); GRAUL, Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 324; LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 130; LR 2 4 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K RN. 147; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 66 f.; MONTENBRUCK, In dubio pro reo, S. 71 f.;

O S K E , M D R 1 9 6 9 , 7 1 2 , 7 1 2 ; P A E F F G E N , Vorüberlegungen,

S . 4 4 f., 54 f.; P A R T S C H , Die Rechte und

Freihei-

ten, S. 159 [393]; PAUNOVIC, Die Verfahrensgarantien des Art. 6, S. 110; ROGALL, Der Beschuldigte, S. 110; PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 38 (Beweislastregel in dubio pro reo mittelbar in Unschuldsvermutung und Rechtsstaatsprinzip enthalten); RÜPING, Theorie und Praxis, Rn. 424; SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 270; SCHORN, Der Schutz der Menschenwürde, S. 24; J . M . STEINER, Die Reform der Schuldprüfung im künftigen Verkehrsstrafrecht, S. 100; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 414; Bericht des Rechtsausschusses, Anlage zu BTDrs. V / 2 6 0 0 , 2601, S. 19. APPELL, Die Europäische Konvention, S. 61, meint wohl dasselbe mit der Formulierung, es könne im Strafprozeß keine Verteilung der Beweislast geben, unterstellt, die Betonung liegt auf Verteilung, so daß die Staatsanwaltschaft die gesamte Beweislast trägt. Umgekehrt folgert BIRKMEYER, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 85, aus der Beweislastverteilung eine Vermutung, daß bei mißlungenem Beweis seitens der beweispflichtigen Partei die von ihr vorgetragenen Tatsachen unwahr seien. Dagegen ROSENBERG, Die Beweislast', S. 14 Fn. 2. Abi. zur Heranziehung einer allgemeinen Unschuldsvermutung zur Erklärung der Beweislast MOSER, »In dubio pro reo«, S. 76 f.; MROZYNSKI, J Z 1978, 255, 256. 329 D . 22, 3, 2. Vgl. auch can. 1748 C I C 1983: „§ I Onus probandi incumbit eo, qui asserit. § 2 Actore non probante reus absolvitur." 330

PAEFFGEN, Vorüberlegungen,

S. 4 4 f. S o K E R N , StrafverfahrensrechP,

§ 15 D . 2 . a ) , S. 64.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

89

der Anklage, weil sich die theoretische praesumtio boni in der Praxis zumeist in eine praesumtio mali verkehre. 3 3 1 Nach PAULUS ist die Unschuldsvermutung als prozessuale Verteidigungsgarantie bestimmt durch die Traj ansentenz, die den grundsätzlichen favor defensionis begründet, mithin daß der Freispruch Schuldiger besser sei als die Verurteilung Unschuldiger. 3 3 2 SCHNEIDER versteht dies vielmehr als „Grundnorm der Freiheit", die erst als „interpositio normativa" zur Tatsachenvermutung der Unschuld hinzukommen müsse, um eine Privilegierung des Beschuldigten zu ermöglichen. 3 3 3 dd) Ausgestaltung des Beweisrechts JACOB Ι sah im 19. Jahrhundert die Annahme der Nichtschuld als Ausgangspunkt der richterlichen Entscheidungsfindung als notwendig an, um die Bestrafung Unschuldiger zu vermeiden. 3 3 4 Z u widerlegen sei diese Voraussetzung der Unschuld nur durch sicheren, überzeugenden Beweis, so daß irreführende oder sonst bedenkliche Beweismittel auszuschließen, die Beweisführung selbst zu protokollieren und zu begründen seien. 335 Heute wird aus dem Rechtsstaatsgebot und der Unschuldsvermutung gefordert, die freie Beweiswürdigung rechtsstaatlich abzusichern. 336 Erst der volle Schuldbeweis nach richterlicher Uberzeugung in freier Beweiswürdigung 3 3 7 bei zweifelsfreier Sachverhaltsklärung aufgrund „logischer Schlußfolgerungen aus gewissenhaft festgestellten Tatsachen" 3 3 8 widerlege die Unschuldsvermutung. Sie enthalte eine Beweiswürdigungsregel 3 3 9 sowie ein Beweisantezipationsverbot 340 (§ 244 Abs. 3 StPO) und binde den Richter an die Denkgesetze und allgemeinen Erfahrungssätze. 3 4 1 Beispielsweise wird in der Überschätzung des tatsächlich nunmehr als zweifelhaft angesehenen Beweiswertes der von der GAUCK-Behörde verwalteten Stasi-Unterlagen in Arbeitsgerichtsprozessen über die fristlose Kündigung von Beschäftigten im öffentlichen Dienst wegen frü-

331

V A R G H A , Strafprozessrecht,

332

K M R 7 - P A U L U S , § 2 4 4 R n . 306.

333

269

S. 4 4 mit F n . 1.

SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263,

f.

334

JACOBI, Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, S. 9, 34 f., 88. JACOBI, Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, S. 63, 88 ff. Für das Erfordernis zweifelsfreien Beweises zur Uberwindung der Unschuldsvermutung auch VARGHA, Strafprozessrecht, S. 39 f.; DERS., Die Vertheidigung in Strafsachen, S. 462 f. 335

336

K K 3 - P F E I F F E R , E i n l . R n . 1 7 ; P E T E R S , StrafprozeJ?4,

§ 37 X I 1 b) S. 299; ahn. T R E C H S E L , S J Z 7 7

(1981), 3 1 7 , 324. 337

ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 103; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42, § 261 Rn. 2; SCHORN, Die Europäische Konvention, Art. 6 Nr. 6, 7. Auch L G H e i d e l b e r g N J W 1 9 5 9 , 1932. 338

B a y O b L G J R 1 9 7 2 , 30, 31 m . krit. A n m . P E T E R S , S. 32; LÖFFELER, J A 1 9 8 7 , 7 7 .

335

R O G A L L , Der Beschuldigte,

340

S. 1 1 0 .

SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 100. 341 TRECHSEL, SJZ 77 (1981), 317, 320 Fn. 27. Ähnl. HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 100.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme



herer Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit 342 eine der Unschuldsvermutung widerstreitende Schuldvermutung gesehen. 343 Zudem soll die Unschuldsvermutung das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Angeklagten verbieten 344 ebenso wie die Berücksichtigung von außerhalb des Ergebnisses des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens liegender Umstände sowie Vorurteile Außenstehender oder der Tatsache, daß gegen den Angeklagten prozessuale Zwangsmaßnahmen angeordnet wurden. 345 Auch wird ein Verbot der Einbeziehung des Vorlebens und der Vorstrafen des Angeklagten in die Uberzeugungsbildung gefordert, da die Unschuldsvermutung für alle Angeklagten gleichermaßen gelte. 346 Schließlich gewähre sie dem Angeklagten ein Beweisantragsrecht. 347 Dem wird entgegnet, die verschärften Anforderungen an die Beweisdignität, d.h. vollständiger, zweifelsfreier, gesetzlicher Beweis, ließen sich weder aus einer festgelegten Beweiswürdigungsregel noch aus der Beweislastverteilung erklären: was „gesetzlicher Nachweis der Schuld" etwa i. S. d. Art. 6 Abs. 2 E u M R K - ebenso für die im Rechtsstaatsprinzip begründete verfassungsrechtliche Unschuldsvermutung 348 - sei, sei dem innerstaatlichen Recht überlassen, z.B. § 261 StPO. 349 Die Konkretisierung der Passage erfordere eine eigenständige, materiell begründete Pflicht. 350 A P P E L L und E L I B O L folgern zwar aus der Unschuldsvermutung die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt auszuschöpfen und darauf hinzuwirken, daß keine Tat-, Schuld- und Straffrage ungeklärt bleibe. 351 Im übrigen habe die Unschuldsvermutung im Beweisrecht

342

Gemäß Anlage I, Kap. X I X , Sachgebiet A , Abschn. III, Abs. 5 Nr. 2 Einigungsvertrag.

343

L A N S N I C K E R / S C H W I R T Z E K , D t Z 1994, 162, 163.

344

A R N D T , N J W 1 9 6 6 , 8 6 9 , 8 7 0 f.; I N G O M Ü L L E R , Rechtsstaat

und Strafverfahren,

Ahnl. G U R A D Z E , Festschrift Loewenstein, S. 1 5 1 , 1 6 4 f.; DERS., Die Europäische

S. 63 m . w . N a c h w .

Menschenrechtskonvention,

Art. 6 Nr. 23. Vgl. aus der Rspr. nur B G H S t 1 , 1 0 3 , 1 0 5 ; 20, 298, 300. A.A.

S K - S t P O / R o G A L L , Vor § 133 R n . 7 6 a.E.; FROWEIN/PEUKERT,

EMRK-Kommentar,

Art. 6

R n . 118 (mit der Unschuldsvermutung vereinbare Beweisregel, die nur Mißbrauchskontrolle unterliege); PEUKERT, E U G R Z 1980, 2 4 7 , 261; SCHROEDER, Fälle und Lösungen Strafprozeßrecht1, S. 52 (Verbot durch Unschuldsvermutung sei einepetitioprincipii)·, L R 2 3 - M E Y E R , § 136 R n . 28 (die Unschuldsvermutung sage nichts über die A r t des „gesetzlichen Nachweises"); ebenso GÜNTHER, J R 1978, 89, 92. 345

KMR7-PAULUS, § 244 Rn. 307.

346

ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 54 f.

347

ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 55.

348

G R A U L , Abstrakte Gefahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 323 f.

349

B G H S t 21, 306, 308; K G N S t Z 1 9 8 6 , 5 6 0 f.; GRAUL, Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und

Präsumtionen,

S. 323 mit Fn. 459; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 95, 100; H O Y E R , Z S t W i o j ( 1 9 9 3 ) , 5 2 3 , 538; P E T E R S , J R 1 9 7 2 , 3 1 , 3 2 ; S C H R Ö D E R , N J W 1 9 5 9 , 1 9 0 3 , 1 9 0 5 ; S T R E E , In

dubio pro reo, S. 7 Fn. 24; WOESNER, N J W 1961, 1381, 1384; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 45; inzident auch WOLTER, Alternative und eindeutige Verurteilung, S. 43. Dagegen WESSLAU, S t V i 9 9 i , 226, 231 Fn. 67. Nach KÜHL, J R 1978, 94, 96, setzt Art. 6 Abs. 2 E u M R K aber eine rechtsstaatliche Gestaltung voraus, wenn er nicht willkürliche Verfahren legitimieren wolle; ähnl. T R E C H S E L , S J Z 7 7 ( 1 9 8 1 ) , 3 1 7 , 3 2 4 m . F n . 65; I n t K o m m / V o G L E R , A r t . 6 R n . 4 0 2 F n . 1. 350

Diese Pflicht sieht PAEFFGEN aber dann ebenfalls in der Unschuldsvermutung begründet, Vorüber-

legungen, S. 51. 351

APPELL, Die Europäische Konvention, S. 61; ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und

türkischen Strafverfahren, S. 55.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

91

keine Bedeutung, da es stets auf die volle subjektive Überzeugung des Richters ankomme, Zweifel lösten sich nach dem in dubio-Sixz als Beweiswürdigungsregel.352 ee) Verbot materiell-rechtlicher Schuldvermutungen (1) Explizite Schuldvermutungen Eine grundsätzliche Schuldvermutung353 sowie einzelne gesetzliche Vorsatz- und Schuldvermutungen werden von vielen wegen der Unschuldsvermutung ebenso wie zwingende Beweisregeln354 für unzulässig gehalten.355 Folglich werden materiell-rechtliche Regelungen, deren Wirkung einer Schuldvermutung gleichkommt, indem sie nicht sicher bewiesene Tatumstände zur Verurteilung hinreichen lassen, unter der Unschuldsvermutung problematisiert.356 F R I S T E R behandelt diese Frage unter dem Topos des Verbots der Verdachtsstrafe.337 Vereinzelt wird jedoch — etwa für eine Vorsatzvermutung — keine Verletzung prozessualer Grundsätze, sondern des materiellen Schuldprinzips angenommen, weil eben materiellrechtlich die Verurteilung ohne Schuld angeordnet sei.358 Traditionell wird in nachteiligen Vermutungen ein Verstoß gegen das Schuldprinzip359 und/oder gegen in dubio pro reo360 so-

352 353 354

ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 49. ESER, Festschrift Stree/Wessels, S. 833, 846.

S. 71.

355

L G Heidelberg N J W 1959, 1932 (zu § 245a a.F. StGB); IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 414 f.; KMR 7 -PAULUS, § 244 Rn. 307; LR 24 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 148 (nur unwiderlegbare Schuldvermutungen); CHR. JUNG, Die Vermögensstrafe, S. 96 f. (nicht aber „bloße Beweisvermutungen"); J . M . STEINER, Die Reform der Schuldprüfung im künftigen Verkehrsstrafrecht, S. 99; WAIDER, JuS 1972, 305, 309. Z u älteren Schuldvermutungen siehe BINDING, Normen2, Bd. 2,2, S. 1189 ff, 1206-1232, insb. 1209, der sie als Beweislastumkehr (S. 1208) und „moderne Verdachtsstrafe" (S. 1188) für rechtsstaatswidrig hält. Auch BIRKMEYER, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 91 ff. Ganz anders DURSTEWITZ, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 161: aus den Schuldvermutungen folge der Umkehrschluß, daß in allen anderen Fällen der Zweifelssatz - den er mit der Unschuldsvermutung identifiziert — gelte; ähnl. H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 53 ff, 56. Unklar ELIBOL, Die Vermutungder Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 48 f., einschränkend und gegenteilig aber in S. 22, 28 f., 81 u. ff. (Die Unschuldsvermutung hindert nur die den Schuldvermutungen zugeschriebene Einschränkung der freien Beweiswürdigung). Eine umfassende Darstellung und Analyse strafrechtlicher Schuldvermutungen leistet GRAUL, Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 287—320. 356 SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 3 ff, 31. Für zulässig hält PAUNOVIC, Die Verfahrensgarantien des Art. 6, S. 116 f., die Schuldvermutungen des deutschen und englischen Rechts, weil sie auf Gesetz beruhten und keine Freiheitseinschränkung bezweckten. 357 FRISTER, Schuldprinzip, S. 69 ff, 82 ff. 358 BINDING, Normen2, Band 2,2, S. 1178 ff, 1189 ff, 1205 ff; SCHÜNEMANN, Die Funktion des Schuldprinzips, S. 1 5 3 , 1 7 6 Fn. 41; STREE, In dubio pro reo, S. 16. Anders BENNECKE/BELING, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrechts1, S. 324 m.w. Nachw. d. alt. Lit. 359

Gegen ein Schulderfordernis für Strafe aber noch A . WOLFF, Strafe ohne Schuld in deutschen Abgabengesetzen, S. ι ff, 3. 360 GERLAND, Der deutsche Strafprozess, S. 190; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 26; L ü DERSSEN, Z S t W 85 (1973), 288, 301; MOSER, »In dubio pro reo«, S. 84 ff, 92 ff. (Nachteilige Vermutungen als Beweislastregeln sind Ausnahmen vom Zweifelssatz); OETKER, G S 100 (1931), 29 ff. (Vermutungen als Durchbrechungen des Schuldprinzips); H . PETERS, „In dubio pro reo", S. 17 ff. (Ausnahmen vom Zweifelssatz); H . ROEDER, Schuld und Irrtum im Justiz- und Verwaltungsstrafrecht, S. 149 ff. (Ausnahmen vom

92

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

wie das Prinzip der materiellen Wahrheit 3 6 1 wegen der Gefahr der Verurteilung Unschuldiger 362 oder der freien Beweiswürdigung 3 6 3 gesehen. Dagegen wird eingewandt, jedenfalls Art. 6 Abs. 2 E u M R K verbiete Schuldvermutungen nicht, da in der Konvention nicht festgelegt sei, was „gesetzlicher Nachweis der Schuld" sei, so daß dies in das Ermessen der nationalen Gesetzgeber gestellt sei. 364 SCHUBARTH will diesen Einwand nicht gelten lassen, da das prozessuale Gebot der Unschuldsvermutung nicht durch materiell-rechtlich fragwürdige Bestimmungen zur Farce gemacht werden dürfe. 3 6 5 Für im Prinzip unzulässig, weil dem Schuldprinzip widersprechend, befand das Bundesverfassungsgericht strafrechtliche Schuldvermutungen, dennoch komme es auf die Gestaltung des gesetzlichen Tatbestandes im Einzelfall an. 366 In derselben frühen Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht den § 23 W i S t G 1949 3 6 7 gebilligt, demzufolge bei Z u w i derhandlungen aus Betrieben heraus vermutet wurde, daß die Handlung mit Wissen und Billigung des Betriebsinhabers geschehen ist. 368 Spätere Entscheidungen betonen, daß nicht jede Schuldvermutung rechtsstaatlichen Grundsätzen und der Unschuldsvermutung zuwiderlaufe. 369

Schuldgrundsatz); SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 36 ff. (Ausnahmen vom Zweifelssatz); STREE, In dubio pro reo, S. 6; WENG, „In dubio pro reo", S. 61 f.; WIMMER, S J Z 1947, Sp. 594, 59$; THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 90 ff. 361 BENNECKE/BELING, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrechtp·, S. 322; BIRKMEYER, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 84 f., 91 ff.; THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 93. 362 LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 112 ff. 363 BENNECKE/BELING, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrecht?, S. 378; H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 57. 364 Siehe oben Fußn. 349. STREE, In dubio pro reo, S. 7 Fn. 24; SCHRÖDER, N J W 1 9 5 9 , 1903 ff., 1905; zust. APPELL, Die Europäische Konvention, S. 64 (mit Hinweis darauf, daß die Erklärung von Neu-Delhi von 1959, Leitsatz II, Satz 2, Schuldvermutungen ausdrücklich als mit der Unschuldsvermutung vereinbar bezeichnet). Folglich sieht GRAUL , Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, S. 324, auch § 186 StGB und andere Anknüpfungen an die Nichterweislichkeit nicht als von der Unschuldsvermutung verboten an. Ebenso HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 96 Fn. 1; LR 24 -GOLLW I T Z E R , A r t . 6 M R K RN. 1 4 6 , 1 4 8 . 365 SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 6 Fn. 25. Mit anderer Begründung auch ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 29 (der gesetzliche Nachweis verlange freie Beweiswürdigung). 366 BVerfGE 9, 167,169. 367 Wirtschaftsstrafgesetz vom 26.7.1949, WiGBl. 193, aufgehoben durch WiStG vom 9.7.1954, BGBl. 1,175. 368 BVerfGE 9, 167, 169 ff. Das Gericht stellte darauf ab, daß zum einen eine tatsächliche Vermutung für das konkrete ordnungswidrige Verhalten bestand, daß es dem Betriebsinhaber leichter nachzuweisen sei, was in diesem Betrieb erforderlich wäre als der Verwaltungsbehörde, daß es sich um eine ethisch indifferente - und daher weder Menschenwürde noch Schuldprinzip tangierende - Ordnungswidrigkeit handelte, die Verhängung einer Geldbuße im Ermessen der Behörde liege, die folglich in dubio pro reo berücksichtigen könne, schließlich die Vorschrift zur Zeit des Erlasses als unentbehrlich angesehen worden wäre. Daß der Gesetzgeber 1954 auf die Vermutung verzichtete, sei als Ergebnis fortschreitender rechtsstaatlicher Ordnung zu werten, lasse aber nicht den Schluß zu, der vorherige Zustand sei daher rechtsstaatswidrig gewesen. 369 BVerfG N S t Z 1987, 118; 1988, 21 = N J W 1988, 1715, 1716; 1994, 377; BVerfG Beschl. (2. Kammer/ 2. Senat) v. 1.12.1986 - 2 BvR 1029/86, S. 3; zust. KG N S t Z 1986, 560 f.

A.II. Bundesrepublik Deutschland (α)

93

Vor allem bei dem Ehrdelikt der üblen Nachrede in § 186 S t G B , 3 7 0 sofern man

darin nicht ein Risikodelikt sieht, sei eine Entscheidungsregel in dubio contra reum verwirklicht, 371 die gegen die Unschuldsvermutung verstoße, 372 die aber mitunter mit der U n schuldsvermutung für das Opfer der Nachrede, 3 7 3 der Schwierigkeit des Negativbeweises 374 und dem Grundrecht auf persönliche Ehre des Opfers aus Art. 5 Abs. 2 G G 3 7 5 gerechtfertigt wird. Bedenken bleiben in den Fällen, in denen der Täter seiner Beweise bis zur Verhandlung verlustig geht; die von

SCHUBARTH

befürwortete Reduktion des Strafrahmens 3 7 6 hebt

dann die Verletzung der Unschuldsvermutung nicht auf.

370 Allerdings kann man in § 190 StGB einen konstitutiven Straftatbegriff verwirklicht sehen. LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, sieht in der Norm eine unwiderlegliche Vermutung, S. 41 ff. 371 B G H M D R (D) 1954, 335; SCHMID, Die Präsumtionen im deutschen Reichsstrafrecht, S. 66 ff; BELING, Wesen, Strafbarkeit und Beweis der üblen Nachrede, S. 8 f. (BELING sah wie SCHMID, soeben S. 68 f., zwei nachteilige Präsumtionen in der Vorschrift: der Unwahrheit der behaupteten Tatsache und des entsprechenden dolus)·, BERG, JUS 1984, 521, 522 (Beweislastumkehr); BOCKELMANN, NJW1954,1745, 1747, der darin eine Regelung der materiellen Beweislast sieht; PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 38; ebenso SARSTEDT/HAMM, Die Revision5, Rn. 394 S. 303; SCHÖNKE/SCHRÖDER10, § 186 Anm. III; EB. SCHMIDT, Lehrkommentar, Teil I 2 , Rn. 372 (aber gegen eine Einordnung als Vermutung oder Beweislastregel, s. ibid. Fn. 76); KOKOTT, Beweislastverteilung, S. 15; NEWMAN, Das englisch-amerikanische Beweisrecht, S. 12. LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 38 ff., 40, sieht in § 186 StGB eine Ausnahme von in dubio pro reo, die dem Angeklagten das Risiko der Unaufgeklärtheit aufbürde, aber keine Vermutung oder Beweislastregel; SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 36 f. (Prozeßpräsumtion); WENG, „In dubio pro reo", S. 61 (Schuldvermutung); THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 93. S.a. GRAF ZU DOHNA, Strafprozeßrechf, S. 99 (Umkehr der objektiven Beweislast); KOHLRAUSCH/LANGE43, § 186 Anm. VIII (Umkehr der objektiven Beweislast); BEMMANN, M D R 1956, 387, 388 (Ausnahme von in dubio, aber keine Umkehrung der Beweislast); SAUER, ZStW 46 (1925), 349, 353.

A . A . H E D E M A N N , Die Vermutung,

S. 1 9 2 f.; H E N K E L , Festschrift E b . S c h m i d t , S. 5 7 8 , 5 9 4 f.; H Ü N E R -

FELD, Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 57, 59; Η. PETERS, „In dubio pro reo", S. 18. 372 ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 81 ff., 84. ELIBOL sieht aber in § 186 StGB keine Schuldvermutung, ibid., S. 82. Als Verstoß gegen das Verbot der Verdachtsstrafe verwirft FRISTER, Schuldprinzip, S. 83, die Norm, der er zuvor schon Unvereinbarkeit mit dem Schuldprinzip attestiert, ibid., S. 64 ff. A.A. (kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung) IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 416: objektive Strafbarkeitsbedingung, keine Schuldvermutung. 373 ARZT/WEBER, Strafrecht Besonderer Teil, LH 1 2 , S. 163 Rn. 447; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 8. Dazu LINGEMANN, Der Wahrheitsbeweis, S. 77 ff. m.w.Nachw. auf S. 77 Fn. 2; zust. S. 81. Dagegen schon BELING, Wesen, Strafbarkeit und Beweis der üblen Nachrede, S. 21 f., der darauf verweist, daß die Unschuldsvermutung auch für den Täter gelten müsse und außerdem mit der Präsumtion, wer ehrenrührige Tatsachen behaupte, tue dies contra veritatem, nicht identisch sei. Die Bonitätsvermutung solle zudem nur davor verwehren, unbewiesenen Verdacht über ehrenrühriges Verhalten anderer für festgestellt zu erachten, ibid. S. 22. Im übrigen sei der Strafprozeß kein „reipersekutorisches Verfahren zur Rufreparation", ibid. S. 19 f. Ebenfalls ablehnend HIRSCH, Ehre und Beleidigung, S. 163. 374 STERN, Festschrift Oehler, S. 473, 475 f. 375 STERN , Festschrift Oehler, S. 473, 476 ff, vorwiegend aber für den zivilrechtlichen Ehrenschutz via § 823 Abs. 2 B G B i.V.m. § 186 StGB. 376 SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 8 (nur Geldstrafe).

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

94 (β)

Sodann wurde beim 1975 beseitigten § 259 a.F. S t G B , der Strafe gestattete, wenn

der Täter „nach den Umständen annehmen mußte", die gehehlte Sache sei vom Vortäter durch eine strafbare Handlung erlangt, von einer Ansicht eine Verdachtsstrafe gesehen. 377 (γ)

Z u nennen sind ferner § § 69 Abs. 1 Satz i 3 7 8 und 323a 3 7 9 S t G B sowie die mittler-

weile aufgehobenen § § 245 a, 380 361 Nr. 8 3 8 1 S t G B , der Entwurf des § 125 S t G B von 1983, 3 8 2

377 ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 85 ff., 86; HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 868; MAURACH, Strafrecht II, Besonderer Teil5, § 42 II A 2. a),

S . 3 7 4 ; M E Z G E R , Strafrecht

II, S . 159; H E I M A N N - T R O S I E N , N J W 1 9 5 2 , 3 6 6 u f.; L Ü D E R S S E N , Z S t W 85

(1973), 288, 301; NEWMAN, Das englisch-amerikanische Beweisrecht, S. 12; H. PETERS, „In dubio pro reo", S. 20 ff.; SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 38 (Vermutung); SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 5 f. (Beweisregel und Vorsatzvermutung); THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo",

S . 91 f.; W E N G , „In

dubio

pro

reo",

S. 61 ( S c h u l d v e r m u t u n g ) ; W I M M E R , S J Z 1 9 4 7 , S p . 594, 595

(Schuldvermutung); ENGELHARD, J W 1930, 2965, 2966 m.w.Nachw. zur alt. Lit. S.a. ESER, Festschrift Stree/Wessels, S. 833, 846. Dagegen BOCKELMANN, N J W 1954, 1745, 1747 f.; ähnl. HENKEL, Strajverfahrensrecht1, § 91 III 4, S. 353.; DERS., Festschrift Eb. Schmidt, S. 578, 586 ff.; ähnl. STREE, In dubio pro reo, S. 46 (bloße Richtlinie für den Indizienbeweis); DERS., JUS 1976, 137, 144; SCHMID, Die Präsumtionen im deutschen Reichsstrafrecht, S. 62 ff.; EB. SCHMIDT, Lehrkommentar, Teil II, Vor §§ 244-246, Rn. 15; WELZEL, Deutsches Strafrecht", S. 398. LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 4 ff, 51, hält die Präsumtion des § 259 a.F. StGB bei vorsichtiger Anwendung wegen des geringen Fehlerrisikos für noch tolerabel. Offenlassend SCHÖNKE/SCHRÖDER10, § 259 Anm. VII 2 (jedenfalls keine Verdachtsstrafe). Zusammenfassend GRAUL, Abstrakte Gefahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 299 ff. Die Rechtsprechung sah in § 259 a.F. StGB eine Beweisregel und widerlegliche gesetzliche Vermutung, RGSt 7, 85, 87; 55, 204, 206; 75, 95, 96 f.; BGHSt 2, 146,147 f. S.a. BT-Drs. 7/550, S. 253. 378 PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 38,134. 379 PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 38,134. 380 § 245 a StGB bestrafte den wegen schweren Diebstahls etc. Vorbestraften, der Diebeswerkzeug in Besitz oder Gewahrsam hatte oder von anderen für sich verwahren ließ, sofern sich nicht aus den Umständen ergab, daß das Werkzeug nicht zur Verwendung bei strafbaren Handlungen bestimmt war. Umstritten war, was in der durch das Gewohnheitsverbrechergesetz v. 24.11.1933, RGBl. I, 995 eingefügten Vorschrift unter Strafe gestellt war, Besitz oder Gebrauchsabsicht, d.h., ob es sich um ein abstraktes oder konkretes Gefährdungsdelikt handelte. Die amtliche Begründung sieht in der Norm die Schließung einer Strafbarkeitslücke, die bestanden habe, wenn vorbestrafte Einbrecher mit Diebeswerkzeug betroffen würden, aber ohne Nachweis neuer Diebstähle nicht belangt werden konnten, DRAnz. 1933 Nr. 277, S. 3. Dazu ELIBOL, Die Vermutungder Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 88 ff; H. PETERS, „In dubio pro reo", S. 18 ff; PRÜTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 39 (Beweislastregel); SCHRÖDER, N J W 1959,1903,1904 f. (prima-facie-Beweis), jeweils m.w.Nachw.; SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 37 (Vorsatzvermutung); THÖNE, Der Grundsätzen dubio pro reo", S. 93 (Schuldvermutung). Manche hielten die Zweckbestimmung des Werkzeugs für eine negative Strafbarkeitsbedingung, STREE, In dubio pro reo, S. 46 Fn. 96, 49; HENKEL, Festschrift Eb. Schmidt, S. 578, 593 f. Das LG Heidelberg erklärte die Vorschrift für unvereinbar mit der Unschuldsvermutung und dem Zweifelssatz, N J W 1959,1932; zust. SCHORN, Die Europäische Konvention, Art. 6 Nr. 10; ähnl. PONCET, La protection de l'accusé, S. 78 Nr. 91 Fn. 239 (irrtümlich als § 247 StGB bezeichnet). Einschränkend zust. ELIBOL, Die Vermutungder Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 91 f.; abl. SCHRÖDER, N J W 1959,1903 ff. BGHSt 21, 306, 308 stellte keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 E u M R K fest, da die Ausgestaltung des „gesetzlichen Nachweises der Schuld" dem innerstaatlichen Recht überlassen sei. FRISTER konstatiert der Norm einen Verstoß gegen das Verbot der Verdachtsstrafe, Schuldprinzip, S. 82. LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 43 f., sieht in der Vermutung der Zweckbestimmung nur eine Ausnahme vom Zweifelssatz, keine Beweislastregel; ähnl. LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 301.

A.II. Bundesrepublik Deutschland

95

§ § 69 Abs. ι und 323 a Abs. 1 S t G B , 3 8 3 und Vermutungstatbestände im Nebenstrafrecht, vor allem im Zoll- und Steuerstrafrecht. 384

(2) Verschleierte Schuldvermutungen Nicht nur explizite Schuldvermutungen oder Beweiserleichterungen reagieren auf wirkliche oder vermeintliche Beweisnot in einer Weise, die die Unschuldsvermutung tangiert. So führe auch ansonsten die Starrheit des Beweismaßstabs zu einem besonderen Druck auf das materielle Recht, 3 8 5 denn ein in allen Konsequenzen ernstgenommener

in-dubio-Satz

könnte „die Strafrechtspflege in weiten Teilen in ähnlicher Weise leerlaufen lassen [...] wie einst die Abschaffung der Folter" 3 8 6 . Viele heutige Lösungen seien nicht besser als die frühere Verdachtsstrafe, sondern lediglich eine Verlagerung derselben in das materielle Recht. 3 8 7 In die Formulierung der Straftatbestände flössen Überlegungen zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten mit ein, z.B. durch Herabsenken der Strafbarkeitsanforderun581 Die Vorschrift bestrafte denjenigen, der sich binnen behördlich gesetzter Frist kein Unterkommen beschafft hat und auch nicht nachweisen konnte, daß er dies trotz der von ihm angewandten Bemühungen nicht vermocht hatte. Eine Schuldvermutung sahen darin SCHÖNKE/SCHRÖDER10, § 361 Anm. VIII (Beweisvermutung); MAURACH, Strafrecht II, Besonderer Teil5, § 58 II E, S. 551 (materiell-rechtliche Umkehr der Beweislast); DALCKE/FUHRMANN/SCHÄFER, Strafrecht und Strafverfahren37, § 361 StGB Anm. 25; HEDEMANN, Die Vermutung, S. 192; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 51 ff. (aber wegen geringen Fehlerrisikos tolerabel, ibid. S. 54); H. PETERS, „In dubio pro reo", S. 24 f.; PRUTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 39 (Beweislastregel); SCHMID, Die Präsumtionen im deutschen Reichsstrafrecht, S. 72 ff., 78 f.; SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 38 f.; THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 93. A.A. HENKEL, Festschrift Eb. Schmidt, S. 578, 595 f. Kritisch ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 92 ff. 382 BR-Drs. 323/83, S. Ι ff., 8. Dagegen STARKE/STEIN, J R 1984, 97, 102; FRISTER, Schuldprinzip, S . 82 f. 383 KOKOTT, Beweislastverteilung, S. 15 m. Fn. 35 (Tatbestände, die an ein non liquet anknüpfen, sind Beweislastregeln, hier zu Lasten des Angeklagten). 384 § 148 Abs. I GenossenschaftsG, §§ 8, 9 a.F. SprengstoffG, § 20 Abs. 2 Satz 2 a.F. PresseG (zum heutigen Pressestrafrecht s. GROSS, N S t Z 1994, 312, 314), §§ 395 Abs. 2 Nr. 2 A O a.F., 371 Abs. 2 Nr. 2 A O Η.F. Siehe EB. SCHMIDT, Lehrkommentar, Teil I 2 , RN. 372 Fn. 76 m. Nachw. der älteren Lit.; Η. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 55; SCHMID, Die Präsumtionen im deutschen Reichsstrafrecht, S. 80 ff.; GRAUL, Abstrakte Gefahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 299 ff.; SCHÖNE, In dubio pro reo, S. 39 ff. S.a. HENKEL, Festschrift Eb. Schmidt, S. 578, 597 f.; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 54 ff. (zu § 42m StGB a.F., abstrakten Gefährdungsdelikten und erfolgsqualifizierten Delikten, zur Adäquanztheorie, § 176 Abs. I Ziff. 3 StGB, Vermutung der Normenkenntnis, der Zurechnungsfähigkeit usf.); OETKER, GS 100 (1931), 29 ff.; H.PETERS, „In dubio pro reo", S. 27 ff. Umfassend zum ält. Recht A . WOLFF, Strafe ohne Schuld in deutschen Abgabengesetzen. 385 ARZT, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten, S. 77 f. Zum Einfluß des Beweisrechts auf das materielle Recht s. allg. VON OVERBECK, ZStrR 33 (1920), 234 ff.; PETERS, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses·, LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288 ff.;

H I L L E N K A M P , Festschrift W a s s e r m a n n , S. 861 ff.; H E I N E , J Z 1995, 651, 652 f f . S o a u c h

DAMASKA,

121 U.Pa.L.Rev. 506, 548 mit Fn. 92 (1972-73): Es sei terra incognita, wieviele Beweisprobleme im kontinentalen Recht ihre Lösung im materiellen Strafrecht gefunden hätten. Zu den vielfältigen Einflüssen des Prozeßrechts auf das materielle Recht s. MICHAEL, Der Grundsatz in dubio pro reo, S. 115, 120 ff. 386 HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 863. 387 HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 863.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

96

gen (vgl. die Leichtfertigkeitsalternativen in § 2 6 4 Abs. 3 S t G B 3 8 8 und § 261 S t G B 3 8 9 ) oder Anknüpfen an zweifelhafte Sachverhalte, wodurch eine Verdachtsstrafe ermöglicht wird. 3 9 0 Denn jede Beweiserleichterung, die das Beweismaß herabsetze und statt der Uberzeugung vom Vorliegen einer Tatsache die Überzeugung ihrer Wahrscheinlichkeit genügen lasse, somit das non liquet umgehe, habe den gleichen Effekt wie eine Verschiebung der Beweislast. 391 U m eine Überdehnung („Ausleierung") des materiellen Rechts zu verhindern, schlägt

A R Z T

sogar eine Spaltung des in dubio-Satzes dergestalt vor, daß bei subjektiven Tat-

bestandsmerkmalen die Beweislast dem Täter aufgebürdet werden dürfe. 3 9 2 Insbesondere im Bereich der Wirtschaftskriminalität wird z.T. sogar offen über Verschiebungen der Beweislast auf den Beschuldigten befürwortet. 3 9 3 Ebenso reagiert der Gesetzgeber bei der Schaffung von Vorfeldtatbeständen materiell auf Verdachtssituationen. 394 Unzulässig gemessen an Schuldgrundsatz und Unschuldsvermutung sei die Verwertung nicht bewiesenen Verdachts als verschwiegene Strafschärfung bei Auffangtatbeständen ebenso wie bei der abstrakten gesetzgeberischen Strafrahmenbestimmung die Abdeckung von Verdachtsfällen im Strafrahmen des Auffangtatbestandes. 395 In letzterem Fall würden ja

388

Zur Funktion der Leichtfertigkeitsalternative als Verdachtsstrafe: HILLENKAMP, Festschrift Was-

s e r m a n n , S . 8 6 1 , 868 f.; D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 2 6 4 R N . 2 4 ; S K - S A M S O N , § 2 6 4 R N . 1 3 - 2 0 ; S C H U B A R T H ,

ZStW 92 (1980), 80,100 ff. (modernepoena extraordinaria)·, DERS., Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 4 F. 15; HACK, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, § 264 StGB, S. 122 ff., 134 m.w.Nachw. Krit. LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 302 f.; KOKOTT, Beweislastverteilung, S. 15. 389

A R Z T , J Z 1 9 9 3 , 913, 9 1 7 F n . 25 (Verdachtsstrafe).

390

Dazu ausf. ARZT, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten, S. 77 ff., 82 ff.; HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 863 ff.; LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 299 ff.; VOLK, Wahrheit und materielles Recht, S. 27 ff.; GRÜNWALD, in: Verhandlungen des 49. DJT, Bd. II, M 113 f., nennt drei Arten, eine Verdachtsstrafe zu schaffen: I. offen durch Beweislastumkehr, 2. „scheinbar eleganter", indem für das Unrecht wesentliche Elemente aus dem Tatbestand ausgeklammert werden, also etwas anderes unter Strafe gestellt wird als das wirkliche Unrecht, 3. durch Poenalisierung der Leichtfertigkeit als Auffangtatbestand für nicht erwiesenen Vorsatz. A.A. TIEDEMANN, ebda. M 114 f. 391

W E S S L A U , S t V 1991, 226, 232.

392

ARZT, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten, S. 94 f. Beweisschwierigkeiten waren schon im 19. Jahrhundert das hauptsächliche Argument für die namentlich von FEUERBACH, Lehrbuch'', § 60, S. 62 f., vorgeschlagene Vorsatzvermutung, dazu ausf. GLASER, Beiträge zur Lehre vom Beweis, S. 46 ff. m. zahlr. N a c h w . , insb. 48 F n . 12; H E N K E L , Festschrift E b . S c h m i d t , S. 578 ff.; W A I D E R , J u S 1 9 7 2 , 305 ff.; S C H M I D ,

Die Präsumtionen im deutschen Reichsstrafrecht, S. 6, 47 ff.; auch HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 867; LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 301 ff.; HRUSCHKA, Festschrift Kleinknecht, S. 191 ff. (Vorsatz wird i.Erg. zugeschrieben, da es sich um keine Tatsache handele), dort auch zur Unvereinbarkeit einer Vorsatzvermutung mit der Unschuldsvermutung, S. 198 f. Nach JUNG, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, S. 18, lebt diepraesumtio doli ohnehin als Vorurteil im Rahmen der freien Beweiswürdigung faktisch fort. Zu Versuchen, den Schwierigkeiten des Beweises fremdpsychischer Fakten Herr zu werden, s. L o o s , Grenzen der Umsetzung der Strafrechtsdogmatik, S. 261, 267 ff. Zur Auffangfunktion von Fahrlässigkeit und dolus eventualis s. LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 303 Fn. 49; OSTERMEYER, Strafunrecht, S. 72; DERS., Strafrecht und Psychoanalyse, S. 25; SCHRÖDER, N J W 1 9 5 9 , 1 9 0 3 , 1 9 0 4 . 393 TIEDEMANN, ZStW 87 (1975), 253, 275 ff., 280. S.a. LEIGH, Report on Policy and Punitive Measures in Respect of Economic Crime, S. 87 f. Abi. JUNG, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, S. 17; LÜDERSSEN, ZStW 85 (1973), 288, 302 ff. S. die Diskussion in: Verhandlungen des 49. DJT. München 1972, Band II (Sitzungsberichte), Teil M, S. 113 ff. Zum Ganzen jüngst HEINE, J Z 1995, 651 ff. 394

V O L K , Z S t W 1 0 4 (1992), 834, 840; H E I N E , J Z 1995, 651, 652.

395

HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 872 f.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

97

auch alle die Fälle mit erfaßt, in denen kein Verdacht bestehe.396 Problematisch seien schließlich sowohl erfolgsqualifizierte Delikte, die als Relikte einer Vorsatzvermutung angesehen werden könnten, wenn sich ihr Mindeststrafrahmen nicht mit ihrem Unrechtsgehalt begründen lasse, als auch verbliebene Fälle der Geschäftsherrenhaftung.397 (3) Anknüpfung an außerstrafrechtliche Vermutungen Verweisen Tatbestandsmerkmale einer Strafnorm auf präjudizielle Regelungen anderer Rechtsbereiche, so fragt sich, ob eventuelle dortige Vermutungen oder nachteilige Beweislastregeln vom Strafrichter anzuwenden sind, wenn sich dies im Ergebnis auch für die Strafbarkeit des Betreffenden nachteilig auswirkt. Beispiele sind die Unterhaltspflicht in § 170 b StGB, für die die Vaterschaftsvermutung des § 16000 B G B erheblich werden kann, oder die Steuerverkürzung des § 370 AO, welcher als Blankett die gesamten Steuerschuldtatbestände mit etwaigen Nachweispflichten inkorporiert.398 Für § 170 b StGB ist der herrschenden Meinung zufolge z.B. die Vermutung der §§ 1591 Abs. 2, 16000 Abs. 2 B G B zu beachten,399 in einem Steuerstrafverfahren übernahm der B G H eine steuerrechtliche Beweisbelastung des Angeklagten.400 Die grundsätzlichen Positionen in der Literatur sind gegensätzlich: Während L E I P O L D annimmt, daß in dubio pro reo als Beweislastnorm des Strafverfahrens die Anwendung anderer, abweichender Beweislastregelungen verbiete,401 will K L E I N die Tatbestandsmerkmale einer Vorfrage ihren eigenen Beweislastnormen unterwerfen, weil es jedenfalls im Steuerrecht dem Sinn einer Verweisung qua Blankettatbestand entspreche, an den gesamten Regelungszusammenhang der verwiesenen Materie anzuknüpfen.402 (4) Induktive Schlüsse Induktive Schlüsse des Richters im Rahmen der freien Beweiswürdigung werden bisweilen als praesumtiones facti bzw. „richterliche Beweisvermutungen" bezeichnet.403 Solche „Vermutungen" zu Lasten des Angeklagten aufgrund Erfahrungswissens bei der richterlichen Entscheidungsfindung, wie z.B. die „natürliche Vermutung" der Zurechnungsfähigkeit404 396 ARZT, DerEinflußvon Beweisschwierigkeiten, S. 79 F., 91, 94 f.; HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 873; TLEDEMANN, ZStW 87 (1975), 253, 275 f. 397 SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 4 Fn. 15. 3.8 Weitere Beispiele bei G. KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 33 ff., 41 ff. m.w. Nachw. 3.9

19;

D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 1 7 0 b R N . 3 a ; L A C K N E R 2 0 , § 1 7 0 b R n . 3; L K ' ° - D I P P E L , § 1 7 0 b R n . 18

SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER24,

§i7ob

R n . 8; S K - S A M S O N ,

§ 170b

R n . 3;

ff.,

KMR7-PAULUS,

§ 244 Rn. 282. A.A. LR24-GOLLWITZER, § 261 Rn. 68. W. Nachweise auch zu abw. Meinungen bei G. KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 43 f. S.a. § 262 Abs. ι a.E. StPO. 400 B G H N J W 1986, 1696, 1698 = NStZ 1986, 271, 272 (insoweit nicht in BGHSt 33, 383), dazu G. KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 47 ff. 401 LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 129 ff., 134 f. 402 G. KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 68 ff., 70, gegen LEIPOLD: S. 53 ff. 403 LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 3 f.; THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 45 ff. Dagegen ROSENBERG, Die Beweis last', S. 210 f. 404 VON KRIES, Lehrbuch des Deutschen Strafprozeßrechts, § 67 S. 337; HOCHULI, SJZ 50 (1954), 249, 257; BACH, M D R 1 9 7 6 , 1 9 , 20.

9

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

8

o d e r V e r b o t s k e n n t n i s , 4 0 5 o d e r a u c h als d o g m a t i s c h e F i g u r d e r E r f o l g s z u r e c h n u n g 4 0 6 o d e r als Basis einer f ü r die M a ß r e g e l v e r h ä n g u n g n ö t i g e n Prognose407 sollen d u r c h d i e U n s c h u l d s v e r m u t u n g b z w . in dubio

pro reo n i c h t a u s g e s c h l o s s e n s e i n . 4 0 8 A l l e r d i n g s w i r d i n s b e s o n d e r e b e i

d e r B e u r t e i l u n g s u b j e k t i v e r T a t b e s t a n d s - u n d S c h u l d e l e m e n t e , d i e , w e n n sie als p s y c h i s c h e Fakten verstanden werden, nur schwer u n d unter Zeitdruck überhaupt nicht

feststellbar

sind,409 die V e r w e n d u n g v o n V e r m u t u n g e n u n d Pauschalurteilen beklagt.410 ff)

Unschuldsvermutung

und in dubio

pro

reo

V o r a l l e m f r ü h e r e S t e l l u n g n a h m e n b e h a n d e l n d i e U n s c h u l d s v e r m u t u n g als m i t d e m Z w e i f e l s s a t z i d e n t i s c h e B e w e i s ( l a s t ) r e g e l . 4 1 1 H e u t e w i r d d e r Z w e i f e l s s a t z z u m e i s t als e i n e F o l g e o d e r s o g a r als „ K e r n g e h a l t " d e r U n s c h u l d s v e r m u t u n g u n t e r a n d e r e n a n g e s e h e n , 4 1 2

dabei

405

BACH, M D R 1 9 7 6 , 1 9 , 20.

406

So deutet LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 61 ff., die Adäquanztheorie als V e r m u -

tung, d a ß das allgemein Vorhersehbare auch das individuell Vorhersehbare sei. 407

So für die Gefahrprognose des § 4 2 m S t G B a.F. (Entzug der Fahrerlaubnis) LÜDEMANN, Die Ver-

mutungen im Strafrecht, S. 54 ff. 408

SCHORN,

Die

Europäische

Konvention,

Art. 6 Nr. 9;

HOFMANN,

GA

75 (1931), 367, 369;

H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 53 f. Fn. 8; H O C H U L I , S J Z 50 (1954), 249, 257; VON KRIES, Lehrbuch des Deutschen Strafprozefrechts,

S. 337 f. Ä h n l . LR 2 4 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K RN. 148 a.E.

409 P e t e r s , Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 39. 410

LÜDERSSEN, Z S t W 85 (1973), 288, 301, 306, 309; OSTERMEYER, Strafunrecht, S. 64 ff.; DERS., Straf-

recht und Psychoanalyse, S. 24 ff.; PETERS, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 39. 411

H E N K E L , Strafverfahrensrech?,

K E R N , Strafverfahrensrechf,

§ 91 III 1, S. 352 Fn. 12; H O C H U L I , SJZ 50 (1954), 249, 252, 256;

§ 15 D.2.a), S. 64 (die Unschuldsvermutung gehe aber über in dubio n o c h hin-

aus); SEIBERT, D R Z 1 9 4 9 , 557,558; WOESNER, NJW1961,1381,1384. S.a. VARGHA, Strafprozessrech ?, S. 40 (weniger deutlich DERS., Die Verteidigung in Strafsachen, S. 463); Z I N N / S T E I N , Die Verfassung des Landes Hessen, Art. 20 Nr. 4. W o h l auch W E N G , „In dubio pro reo", S. 7 , 1 7 , 74, 7 7 . A b e r auch n o c h K Ü H N E , Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem,

S. 65 (anders später DERS., Strafprozeßlehrei,

Rn. 571.1 Fn. 2).

D a z u Η . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 21 f.; KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 20; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 42 Fn. 143, 44 f. Abi. M O S E R , »In dubio pro reo«, S. 47, vielmehr sei allein in dubio pro reo A u s d r u c k der gewohnheitsrechtlichen Beweislastregelung, ibid. S. 76 f. 78 f., 96. Für in dubio pro reo als Beweislastregel des Strafprozesses E N G I S C H , Einführung

in das juristische

Den-

ken, S. 61; D E U B N E R , JuS 1962, 21; DERS., N J W 1 9 6 9 , 1 4 7 ; LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 129; G . K L E I N , Die Auswirkungen KOTT, Beweislastverteilung,

der unterschiedlichen

Beweislast, S. 21 ff. und passim; K O -

S. 14; PFLÜGER, Der Tod des Beschuldigten, S. 129,131; DERS., G A 1992, 20, 29;

R E I N E C K E , Die Beweislastverteilung

im Bürgerlichen Recht, S. 66; S C H Ö N E , In dubio pro reo, S. 16, 20 ff.,

26; VOLK, N S t Z 1983, 422; WESSLAU, S t V 1991, 226, 232. 412

L G Heidelberg, N J W 1959, 1932 li.; SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 990; APPELL, Die Eu-

ropäische Konvention,

S. 61, 63; A R N D T , N J W i960,1191,1192; G R O P P , J Z 1991, 804, 806; B A U M A N N / W E -

BER, Strafrecht AT*, § 14 11, S. 164; B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien Fn. 651; ELIBOL, Die

im Strafverfahren der DDR,

Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen

M . E R N S T , Verarbeitung und Zweckbindung, H O E F E R M A N N , Die Auslagenerstattung

Strafverfahren,

S. 160

S. 30 f., 55;

S. 115; HILLENKAMP, Festschrift Wassermann, S. 861, 862;

beim Freispruch mangels Beweises, S. 94 ff; LR 2 4 -GOLLWITZER,

Art. 6 M R K Rn. 144, 147 mit Fn. 399; LÖFFELER, J A 1987, 77; LÜDEMANN, Die Vermutungen im Strafrecht, S. 24; INGO MÜLLER, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 61; O S T E N D O R F , N J W 1978, 1345, 1347; DERS., G A 1980, 445, 456; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 44 Fn. 148; PAUNOVIC, Die

Verfahrensgarantien

des Art. 6, S. 114 f., 118; PETERS, in: Staatslexikon 6 , Bd. 7, Art. „Strafgerichtsbarkeit", Sp. 736, 738; DERS.,

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

99

teilweise auch als identisch mit oder als Folge der Beweislastverteilung gesetzt.413 Beide Sätze seien zumindest wirkungsähnlich,414 unterschieden sich aber hinsichtlich ihrer Funktionen und ihres Anwendungsbereiches.415 Nach M O N T E N B R U C K geht es dem Grundsatz der Unschuldsvermutung vorrangig um Persönlichkeitsschutz bis hin zum Urteil, also um eine andere Prozeßlage als der Entscheidung über eine zweifelhafte Beweislage. Auch wäre es zuwenig, in der Prozeßlage des Zweifelssatzes die Unschuld nur zu vermuten anstelle der Anordnung eines Freispruchs, denn eine Vermutung impliziere unnötigerweise eine Verdachtsbelastung.416 Weiter geht MROZYNSKI, der der Unschuldsvermutung Geltung für die Zeit bis zum Abschluß der Rekonstruktion des Tathergangs und dem Zweifelssatz nur nach dem Rekonstruktionsversuch zuspricht.417 Nach K Ü H N E ist die Unschuldsvermutung für den Zweifelssatz nicht einschlägig, da sie auf den gesetzlichen Nachweis der Schuld abstelle, ohne diesen selbst zu beschreiben, darum gehe es aber gerade beim in dubio-Satz.418 Bisweilen wird angenommen, nur der Zweifelssatz, nicht aber die Unschuldsvermutung spreche den Strafrichter überhaupt an.419 Nach anderer Ansicht hat die Unschuldsvermutung bestenfalls Berührungspunkte mit in dubio pro reo und unterscheidet sich wesentlich von dem Satz.420 Nach M E Y E R haben beide Sätze zwar eine gemeinsame rechtsgeschichtliche Wurzel, den Kampf gegen die Ver-

Strafyrozeß*, § 37 III 1 g), S. 291; PROTIÓ, Die Verfahrensgarantien, S. 75; ROGALL, Der Beschuldigte, S. i n F n . 30; R O X I N , Strafverfahrensrech^,

§ 11 RN. 4, S . 68, § 15 RN. 31, S . 97; S C H L Ü C H T E R ,

RN. 389, 582; S C H Ö N E B O R N , M D R 1 9 7 5 , 4 4 1 , 444; S C H O R N , Die Europäische

Konvention,

Strafverfahren1,

A r t . 6 N r . 8;

SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 3; SCHÜNEMANN, Z S t W 84 (1972), 870, 873 Fn. 17; SK-StPO/WoLTER, Vor § 151 Rn. 108; J . M . STEINER, Die Reform der Schuldprüfung im künftigen Verkehrsstrafrecht, S. 100; TESKE, wistra 1989, 131, 134; WASSERBURG, Z S t W 94 (1982), 914, 924; ZINN/STEIN, Die Verfassung des Landes Hessen, Art. 20 Nr. 4. Für DURSTEWITZ, Die Rechtsvermutung der Unschuld (in dubio pro reo), S. 6 f., ist der Zweifelssatz die wesentliche Folge der Unschuldsvermutung. Einschränkend STREE, In dubio pro reo, S. 7 Fn. 24. 413

BOHNE, Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, S. 30; HOCHULI, S J Z 50 (1954), 249, 257; SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 3; nach SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 264, 269 f., ist der Zweifelssatz Folge der Beweislastverteilung, die ihrerseits auf der Tatsachenvermutung für den Menschen beruht; ebenso H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 51 f. Genau anders LEIPOLD, Beweislastregeln, S. 130 u. Fn. 31: Die Unschuldsvermutung ist bloß eine sprachliche Form des in dubio-Sztzes. Einer ausführlichen Kritik unterzieht MONTENBRUCK, In dubio pro reo, S. 67 ff., die Verbindung beider Sätze. 414 ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 72, 75. S.a. K K 3 PFEIFFER, Einl. Rn. 19 (beide Sätze seien ähnlich); LR 24 -GOLLWITZER, § 261 Rn. 103 (die Sätze seien „verwandt"). 415 ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 78 ff.: so gelte der Zweifelssatz erst bei der Beweiswürdigung, während die Unschuldsvermutung vom Beginn der Ermittlungen an, etc. Z.T. komme es zu Doppelzuständigkeiten. Ahnl. GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 24. 416

M O N T E N B R U C K , In dubio pro reo, S . 73.

417

M R O Z Y N S K I , J Z 1 9 7 8 , 2 5 5 , 2 5 6 . Ä h n l i c h P F L Ü G E R , Der

G A 1992, 20, 29. 418

K Ü H N E , StrafprozeßlehreA,

415

Siehe oben Fußn. 72. IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 418.

420

R n . 571.1 F n . 2.

Tod

des Beschuldigten,

S. 129, 131;

DERS.,

ΙΟΟ

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

dachtsstrafe, 421 doch sei der Zweifelssatz inzwischen eine Entscheidungsregel, die dem sachlichen Strafrecht angehöre und nicht mehr aus der Unschuldsvermutung abzuleiten sei.422 S C H N E I D E R folgert die Beweislastverteilung im Strafprozeß, auf der der Zweifelssatz beruhe, aus der „Grundnorm der Freiheit", wonach es besser sei, daß ein Schuldiger freigesprochen, als daß ein Unschuldiger verurteilt werde. 423 Dieser Grundnorm sei als lex generalis der Vorzug zu geben, wenn nicht eine lex specialis (z.B. ein Strafgesetz) zweifelsfrei anwendbar sei.424 Andersherum wird auch der Zweifelssatz als Grund und die Unschuldsvermutung als Folge eines einheitlichen Freiheits- und Rechtsprinzips bezeichnet. 425 Auf die Problematik einer Entscheidungsbegründung mit dem Zweifelssatz weist MONTENBRUCK hin, da darin zugleich die fortbestehende Konstatierung einer Verdachtslage liege, die die Unschuldsvermutung verletze und „contra reum" wirke. 426 gg) Verbot der Verdachtsstrafe und

Instanzentbindung

Wenn die Unschuldsvermutung nur durch vollständig geführten Schuldbeweis widerlegt werde, so wird gefolgert, daß sie bei nicht geführtem Schuldbeweis Freispruch gebiete und daher Verdachtsstrafen und Instanzentbindung ausschließe. 427 FRISTER trennt ein Verbot der Verdachtsstrafe von der Unschuldsvermutung, leitet es aber ebenso als prozessuale Kehrseite des Schuldprinzips ab. Wie in einer Zweifelssituation zu entscheiden sei, lasse sich zwar nicht aus materiellen Normen deduzieren, doch folge aus der ratio des Schuldgrundsatzes dessen Vorrang in der Zweifelssituation vor dem öffentlichen Interesse einer möglichst umfassenden Bestrafung aller Schuldigen. 428 Der Verdacht der Schuld sei kein Zurechnungskriterium von Gefahren für die Normakzeptanz, weil dem die ratio des Schuldprinzips entgegenstehe, auch sei es für den einzelnen unkalkulierbar, ob er in Verdacht gerate, noch verdiene dies Strafe. 429 Für die Legislative bedeute dies, daß Verdachtsmerkmale keine gefahrbegründende (i.S. von „Gefahren für die Normakzeptanz") Funktion haben dürften. 430 Die praktisch erheblichen Probleme, warum und wann nun trotz prinzipieller Unmöglichkeit vollen Beweises i.S. verbürgten Erfassens der „materiellen Wahrheit", also trotz

421 Diese verkürzende Behauptung ist schon bezogen auf den „Kampf gegen die Verdachtsstrafe" der liberalen Strafrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zweifelhaft angesichts der eher untergeordneten Rolle der Unschuldsvermutung, siehe oben S. 35 ff Falsch wird die Aussage dadurch, daß sie darüber hinausgehenden Verzweigungen der diffusen Historie beider Sätze ignoriert. 422 MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 67. 423 SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 269. 424 SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 270. 425 P F L Ü G E R , Der Tod des Beschuldigten, S . 129,131; D E R S . , G A 1992, 20, 29. 426 M O N T E N B R U C K , In dubio pro reo, S. 61 f., 73. 427

H I L L E N K A M P , Festschrift Wassermann, S. 861, 862; K M R 7 - P A U L U S , § 244 R n . 309;

WITZER,

Art. 6

Rn. 144; S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, Schuldprinzip, S. 77 f. Schuldprinzip, S . 78. Schuldprinzip, S . 81 f. i.V.m. 47 ff., 49.

M R K

428

FRISTER,

429

FRISTER,

430

FRISTER,

S.

122,124.

LR24-GOLL-

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

ΙΟΙ

Fehlurteilsrisikos verurteilt werden darf, werden durch diese Prinzipien nicht gelöst.431 Dazu, ob es wirklich einen sinnvoll zu behauptenden kategorialen Unterschied zwischen Schuldbeweis und Verdachtsstrafe geben kann, siehe den Zweiten Teil.''32 Ebensowenig helfen solche Ausführungen zur Beurteilung der gesetzgeberischen Ausdehnung der Tatbestände auf materielle Verdachtssituationen.433 hh) Verhandlungsstil, Befangenheit So wie SAX eine „vornehme Verhandlungsführung" aus der Unschuldsvermutung deduzierte,434 folgern andere die Verpflichtung des Gerichts zu einer unparteilichen, unvoreingenommenen,435 weder präjudizierenden noch moralisierenden Verhandlungsleitung436. Diese Forderung kann nach I N G O M Ü L L E R aber nur durch den institutionellen Rahmen einer geeigneten Verfahrensordnung abgesichert werden.437 Der Richter dürfe den Angeklagten nicht mit der Drohung, durch Leugnen könne er seine Lage nur verschlechtern, zur Wahrheit anhalten.438 Auch sollte der Angeklagte nicht mit diesem Terminus, sondern mit „Herr" angesprochen werden.439 Der Staatsanwaltschaft sollte keine bevorzugte Stellung zukommen und daher, um die zu fordernde Waffengleichheit auch symbolisch deutlich zu machen, der Anklagevertreter auf gleicher Höhe mit dem Angeklagten und außerhalb der „Schranken des Gerichts" im Verhandlungsraum piaziert sein.440 H A S S E M E R sieht in den Regeln über den Ausschluß befangener Richter eine Absicherung der Unschuldsvermutung.441 S T A P P E R erklärt die Unvoreingenommenheit der zur Urteilsfindung berufenen Personen zum Schutzgut der Unschuldsvermutung.442

431

Z u m ganzen FREUND, Normative

N E U M A N N , G A 1989, 278

Probleme der „Tatsachenfeststellung",

insb. S. 58 ff.; krit. dazu

ff.

432

Siehe unten S. 509, 522, 528 f. VOLK, Z S t W 104 (1992), 834, 840 zu FEISTER, der aber die Frage, welche Merkmale als „gefahrbegründend" ausgewählt werden dürfen, anderen Verfassungsnormen zuordnet, Schuldprinzip, S. 40 f. 434 SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 991; auch WIMMER, Einfìihrung in das englische Strafverfah433

ren, S . 25; H O C H U L I , S J Z 50 (1954), 249, 258; S E I B E R T , D R Z 1 9 4 9 , 557, 558 ( z u m in dubio-Sa\z,

d e n er mit

der Unschuldsvermutung identifiziert); H . FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 50; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 98. 435 O L G Celle N J W 1971, 1665, 1666; IntKomm/VoGLER, Art. 6 RN. 405 ff; KK 3 -PFEIFFER, Einl. RN. 32a; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K

R n . 1 4 2 f. A b i . M R O Z Y N S K I , J Z

1 9 7 8 , 255, 256;

TRECHSEL,

S J Z 77 (1981), 317, 323. Ähnl. THÖNE, Der Grundsatz „in dubio pro reo", S. 17. 436 APPELL, Die Europäische Konvention, S. 61. 437

I N G O M Ü L L E R , Rechtsstaat

438

Ebenso ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 52. APPELL, Die Europäische Konvention, S. 61. APPELL, Die Europäische Konvention, S. 61 f. HASSEMER, Einfuhrung in die Grundlagen des Strafrechts2, S. 161; ähnl. KLEINKNECHT/MEYER-

435 440 441

GOSSNER42, Art. 6 M R K 442

und Strafverfahren,

S . 61 f.

R n . 12.

STAPPER, Namensnennung

in der Presse, S. 80 ff.

I02

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

3.

Einzelprobleme und sonstige der Unschuldsvermutung beigelegte Wirkungen

a)

Vermögensstrafe, $ 43 a StGB, und Erweiterter Verfall, $ 73 d StGB

aa) § 43 a StGB Die 1992 eingeführte Vermögensstrafe des § 43 a StGB 443 soll der Effektuierung der Gewinnabschöpfung dienen und erlaubt den Zugriff auf das gesamte Vermögen des Täters, ohne den Nachweis zu erfordern, daß das Vermögen wenigstens zum Teil durch strafbare Handlungen erworben wurde. Unter den vielfältigen Kritikpunkten, die im Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift vorgebracht werden,444 befindet sich auch die Unvereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung,445 da § 43 a StGB Zugriff auch auf rechtmäßig erworbenes Vermögen ermögliche aufgrund bloßer Herkunftsvermutung über den Zusammenhang der Vermögensteile mit der abzuurteilenden Tat. Somit gehe die Norm über die intendierte Ausgleichsfunktion hinaus und sei daher „Verdachtsstrafe mit Charakter einer Sicherungsmaßnahme"446. Ansatzpunkt der Kritik ist also die Legitimation der Zahlung eines nur durch die Höhe des Vermögens - und nicht durch die Tatschuld - begrenzten Geldbetrages als Gewinnabschöpfung. Der Schutzanspruch aus Art. 14 G G soll nur durch Mißbrauch, d.h. hier wohl, durch den rechtswidrigen Erwerb, verwirkt werden können,447 woraus folgen soll, daß die makelfreien Teile des Vermögens nicht betroffen werden dürften448. Erforderlich zur Eingriffsbegründung ist demnach der Nachweis der illegalen bzw. strafrechtswidrigen Herkunft des Vermögens. Motiv der Vermögensstrafe ist demnach eine zweifache Vermutung: die der Begehung früherer Straftaten sowie diejenige, daß das gegenwärtige Vermögen aus jenen früheren Taten herrührt.449 Nur über diese Zweckkonstruktion ist die Berührung der Unschuldsvermutung verständlich, denn der Wortlaut des § 43 a StGB weiß nichts von einem Herkunftsnachweis und daher auch nicht von einer Straftat- und Herkunftsvermutung. Es soll jedoch unerheblich sein, daß das gesetzgeberische Motiv450 nicht in einer Vermutung

443 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 O r g K G v. 15.7.1992, B G B l . 1 , 1 3 0 2 . Z u r Entstehungsgeschichte s. DREHER/TRÖNDLE 47 , § 43a RN. 2 und das dort in RN. 1 nachgewiesene Schrifttum; auch WESSLAU, StV 1991, 226, 226 f. 444

A u s f i i h r l . d a z u D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 4 3 a R n . 3; L A C K N E R 2 0 , § 4 3 a R n . 1. S . n u r K R E Y / D I E R -

LAMM, J R 1 9 9 2 , 353, 354 f.; P E R R O N , J Z 1 9 9 3 , 918, 9 1 9 , 9 2 0 , 925 (im E r g . n i c h t a u f d i e U n s c h u l d s v e r m u -

tung abstellend); ausfiihrl. CHR. JUNG, Die Vermögensstrafe. 445

D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 4 3 a R n . 3 ; C H R . J U N G , Die

Vermögensstrafe,

446

S . 8 7 ff., 9 8 ff., 9 9 , 1 0 0 .

DREHER/TRÖNDLE 4 7 , § 43a Rn. 3. Grundlegend ESER, Die strafrechtlichen Sanktionengegen gentum, S. 173 ff., 191 f. 447

das Ei-

S o D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 4 3 a R n . 3.

448

DREHER/TRÖNDLE 4 7 , § 43a Rn. 3: „Die abzuurteilende Tat wird somit als Anlaß für den umfassenden Zugriff auf das Vermögen benutzt." Dazu auch WESSLAU, StV 1991, 226, 229 f. CHR. JUNG, Die Vermögensstrafe, S. 99 sieht darin einen Verstoß gegen den Grundgedanken der Unschuldsvermutung. Nach STREE, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 90 ff., 98; GÜNTERT, Gewinnabschöpfung als strafrechtliche Sanktion, S. 22 Fn. 48, soll hingegen Art. 14 G G einer Vermögenseinziehung aufgrund „vermuteter" Verwirkung nicht entgegenstehen. 449

C H R . J U N G , Die

450

Dazu s. CHR. JUNG, Die Vermögensstrafe, S. 90 m. Nachw.

Vermögensstrafe,

S . 98.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

103

im Wortlaut der N o r m explizit geworden ist. 451 Unerheblich sei ferner, daß diese vermuteten Umstände reine „Sanktionsmerkmale" jenseits von Unrecht und Schuld der Anlaßtat seien; würde die Unschuldsvermutung für solche Sanktionvoraussetzungen nicht gelten, könnte dies zu Umgehungen führen. 4 5 2 Der Bundesgerichtshof teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. 453

bb) § 73 d StGB Die ebenfalls durch das O r g K G eingefügte Vorschrift läßt den Verfall von Gegenständen des Täters oder Teilnehmers dann zu, wenn „Umstände die Annahme rechtfertigen, daß diese Gegenstände für rechtswidrige Taten oder aus ihnen erlangt worden sind". Motiv des Gesetzgebers war die Ermöglichung des Verfalls auch schon bei „ganz hoher Wahrscheinlichkeit", wenn sich die Herkunft der Gegenstände aus rechtswidrigen Quellen „geradezu aufdrängt". 4 5 4 Der Regierungsentwurf begründete die Vereinbarkeit der Maßnahme mit der Unschuldsvermutung damit, daß sie keine Schuldfeststellung voraussetze. 455 H E C K M A N N zufolge ist eine Beweislastumkehr bei präventiv-polizeilichen Gefahrenabwehrmaßnahmen verfassungsrechtlich zulässig, so daß bei dieser Maßnahme kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vorliege. 456 Wenn auch der U m f a n g des Eingriffs geringer ist als in § 43 a S t G B , so ist die N o r m doch ähnlichen Einwänden ausgesetzt wie jene. 457 In ihr wird eine Beweisregel 458 bzw. widerlegliche gesetzliche Vermutung 4 5 9 zu Lasten des Angeklagten über die Herkunft von Vermögensteilen gesehen, die gegen die Unschuldsvermutung verstoße. 460 Ebenso wie bei § 43 a S t G B wird in dem Z u g r i f f auf Eigentum aufgrund nur vermuteter Verwirkung des Eigentumsschutzes eine Verletzung der Unschuldsvermutung gesehen. 461 Zwar würden keine Schuldfeststellungen getroffen werden, doch verfolge die Vorschrift die spezialpräventiven Zwecke einer Sicherungsmaßregel und zeige durch Übergang vom Netto- zum Bruttoprinzip Strafcharakter. 462

Die Vermögensstrafe, S . 100. Die Vermögensstrafe, S . 92 f. 453 BGH NStZ 1994, 429; ebenso unveröff. Beschl. v. 10.5.1994 - 5 StR 159/94, ohne auf die Nachweisfrage einzugehen. 454 BT-Drs. 11/6623, S. 5, 7. 455 BR-Drs. 16/90, S. 8. Zu dieser Argumentation s.u. Fußn. 606, abl. auch E S E R , Festschrift Stree/ Wessels, S. 833, 845 Fn. 90. 456 H E C K M A N N , ZRP 1995,1, 2, 3. 457 Nachw. bei L A C K N E R 2 0 , § 73d Rn. 1.

S.

451

CHR. JUNG,

452

CHR. JUNG,

458

L A C K N E R 2 0 , § 7 3 d R n . 8.

459

L A C K N E R 2 0 , § 7 3 d R n . 8.

460

ALBRECHT,

25, 59 f.; 461

ESER,

in: M E Y E R / D E S S E C K E R / S M E T T A N , Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten, Festschrift Stree/Wessels, S . 833, 845 f.; W E S S L A U , StVi99J, 226, 230 ff., 232.

D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 7 3 d R n . 4; a . A . K R E Y / D I E R L A M M J R 1 9 9 2 , 353, 358.

§ 73d Rn. 4 a . E . ; E S E R , Festschrift Stree/Wessels, S . 833, 845; W E S S L A U , StV 1991, 226, 231 f. Zweifelhaft ist aber der Verweis auf F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 34 ff., in Fn. 86, da F R I S T E R Sicherungsmaßregeln gerade nicht unter den Strafbegriff faßt und folglich keine Schuld voraussetzt, ibid., so daß W E S S L A U S Behauptung, die Inanspruchnahme einer Person zur Abwehr weiterer Tatbegehung ohne gesonderte Gefährlichkeitsprognose - allerdings könnte hier die Verurteilung als pauschale 462

DREHER/TRÖNDLE47,

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

I04

Die Rechtsprechung hat sich dieser Kritik angeschlossen. Der B G H sieht in der Verhängung einer „sachlich endgültigen strafrechtlichen Maßnahme" aufgrund einer Verdachtslage auch bei noch so dringendem Verdacht eine Grundrechtsverletzung in Gestalt des Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung und die Eigentumsgarantie des Art. 14 G G . Deshalb sei es geboten, die Voraussetzung des § 73 d Abs. 1 Satz 1 StGB „wenn Umstände die Annahme rechtfertigen" verfassungskonform einengend so auszulegen, daß eine Anordnung des Verfalls nur in Betracht komme, wenn der Tatrichter „aufgrund erschöpfender Beweiserhebung und -Würdigung [...] die uneingeschränkte Uberzeugung gewonnen hat, daß der Angeklagte die von der Anordnung erfaßten Gegenstände aus rechtswidrigen Taten erlangt hat, ohne daß diese selbst im einzelnen festgestellt werden müßten". Gründe, die Anlaß zu „vernünftigen Zweifeln" an der deliktischen Herkunft der Gegenstände gäben, stünden daher der Verfallsanordnung entgegen.463 cc) Geplante Änderung des Art. 14 GG und Entwurf eines Vermögenseinziehungsgesetzes Nach dem Entwurf der S P D für ein 2. OrgKG 464 sollte Art. 14 G G derart geändert werden, daß Vermögen (über D M 15.000,-), das mit der Vermutung behaftet ist, es könnte aus schweren Straftaten stammen oder zu deren Begehung verwendet werden, sichergestellt werden und eingezogen werden könnte. Die Einziehung sollte bis zu 30 Jahre nach der Tat und auch gegenüber einem Rechtsnachfolger möglich sein. Dagegen soll der betroffene Bürger vor der Zivilkammer des Landgerichts klagen und Beweis antreten können, daß die Vermutung nicht zutreffe. Die Verfassungsänderung sollte der Absicherung der Beweislastumkehr dienen, wiewohl der zugehörige Entwurf eines Vermögenseinziehungsgesetzes die Einziehung nicht als Strafe, sondern als Maßnahme ausgestalten sollte, so daß die Unschuldsvermutung nicht berührt wäre.465 Dies wird als Restauration der Verdachtsstrafe466 und Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und gegen den elementaren Grundgedanken des Rechtsstaats kritisiert, demzufolge der Staat die Voraussetzungen für Eingriffe in die Rechte des Bürgers zu beweisen habe und nicht umgekehrt. 467

Gefahrprognose gesehen werden — lasse sich nur mit dem Schuldprinzip rechtfertigen, nicht überzeugt. Krit. unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung, aber Strafcharakter letztlich abl. PERRON, J Z 1993, 918, 919, 920, 925; a.A. KREY/DIERLAMM, J R 1992, 353, 358: nur Maßregel, daher Unschuldsvermutung nicht verletzt. 463

B G H N J W 1 9 9 5 , 470.

464 B T - D r s . 12/6784, S. 3, Art. 1 Nr. 2 mit Art. 2 § ι des Gesetzentwurfs; ein künftiger Abs. 4 des Art. 1 4 G G sollte lauten: „Vermögen, bei dem die auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Vermutung nicht widerlegt wird, daß es aus schweren Straftaten herrührt oder dafür verwendet werden soll, kann wegen der von ihm drohenden Beeinträchtigung der rechtsstaatlichen Ordnung entschädigungslos eingezogen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." Das Bundesgesetz des Satzes 2 sollte das Vermögenseinziehungsgesetz in Art. 2 des Entwurfs sein. Zust. BUND

DEUTSCHER

K R I M I N A L B E A M T E R , der kriminalist 1994, 193, 207;

PFANNENSCHMIDT,

Kriminalistik 1994, 398, 402. 465

BT-Drs. 12/6784, S. H f.; ebenso HETZER, wistra 1 9 9 4 , 1 7 6 , 1 8 2 .

466

WELP, S t V 1 9 9 4 , 1 6 1 , 165 f., 166.

467

H U N D , Z R P 1996, 1, 2 F n . 13; Pressemitteilung des Deutschen Anwaltvereins N r . 5/94 v o m

8 . 4 . 1 9 9 4 , abgedruckt in N J W H e f t 19/1994, S. X I , X I I .

105

A.II. Bundesrepublik Deutschland

Die §§ ι Abs. 1 und 4 Abs. 1 des vorgeschlagenen Vermögenseinziehungsgesetzes, das durch die Grundgesetzänderung abgesichert werden soll, sehen die Sicherstellung sowie die entschädigungslose Einziehung von Vermögen vor, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte die Vermutung oder hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß es aus schweren Straftaten herrühre oder dafür verwendet werden soll.468 H E C K M A N N unterscheidet die jeweiligen beiden Tatbestandsalternativen der illegalen Herkunft und illegalen Verwendung und verwirft die erstere als verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung. Denn um eine Präventivmaßnahme könne es sich nicht handeln, da die Verhinderung künftiger Verwendung des Vermögens als Tatmittel allein durch die zweite Alternative erfaßt werde. 469 Bei dieser zweiten Alternative handele es sich hingegen um eine reine Gefahrenabwehrmaßnahme, bei der dem Bürger in Ubereinstimmung mit der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts470 Mitwirkungs- und Beweispflichten auferlegt werden dürften, so daß eine Beweislastumkehr zu seinen Lasten nicht mit der Unschuldsvermutung kollidiere. 471 b)

Unterlassen der Strafaussetzung nach Anrechnung der Untersuchungshaft

Wenn nach Anrechnung der Untersuchungshaft die Freiheitsstrafe bereits voll verbüßt ist, so nimmt die Rechtsprechung an, daß für eine Strafaussetzung zur Bewährung kein Raum mehr sei, da nichts auszusetzen472 bzw. nichts mehr da sei, was die Drohung sofortigen Vollzugs bei Fehlverhalten des Verurteilten tragen könne. 473 H A B E R S T R O H sieht darin einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, weil die gebotene „Folgen-Neutralität" durch die Anrechnung der Untersuchungshaft verletzt sei, was zudem dem Verurteilten noch Nachteile einbringe, da er nun erst später ein eintragungsfreies Führungszeugnis gem. § 32 Abs. 1 B Z R G erhalte.474 c)

Sicherungsmaßregeln

§ 126a StPO, der die Unterbringung als gefährlich eingestufter Verdächtiger im Blick auf eine künftige Maßregelanordnung nach §§ 63, 64 StGB erlaubt, wird als Einschränkung der Unschuldsvermutung verstanden. 475 S C H U B A R T H hält die Möglichkeit der Sicherungsver-

468

BT-Drs. 12/6784, S. 3 f., Entwurf eines 2. OrgKG, Art. 2 (VermEinzG): § ι (1) Sicherstellung Vermögen einer natürlichen oder juristischen Person oder ein Vermögensgegenstand, der einer natürlichen oder juristischen Person nicht zugeordnet werden kann, kann sichergestellt werden, wenn auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte die Vermutung besteht, daß Vermögenswerte, deren Wert mindestens 15 000 Deutsche Mark übersteigt, aus schweren Straftaten herrühren oder dafür verwendet werden sollen. § 4 (1) Vermögenseinziehung Sichergestelltes Vermögen, das einen Wert von mindestens 15 000 Deutsche Mark hat und bei dem auf Grund hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß es aus schweren Straftaten herrührt oder dafür verwendet werden soll, kann entschädigungslos eingezogen werden. 469

H E C K M A N N , Z R P 199s, 1 , 1 ff., 4.

470

Vgl. BVerfG N J W 1 9 9 0 , 1 2 2 9 sowie die Nachw. bei HECKMANN, Z R P 1995,1, 2 Fn. 13.

471

H E C K M A N N , Z R P 1 9 9 5 , 1 , 2 ff., 4 .

472

B G H N J W 1 9 6 1 , 1 2 2 1 ; D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 56 R n . 2.

473

B G H S t 3 1 , 2 5 f f . , 2 8 = N S t Z 1 9 8 2 , 3 2 6 , 3 2 7 . A . A . S K - H O R N , § 5 6 R n . 8;

SCHÖNKE/SCHRÖDER/

S T R E E 2 4 , § 5 6 R n . 1 3 ; S T R E E , N S t Z 1 9 8 2 , 3 2 7 f. 474

H A B E R S T R O H , N S t Z 1 9 8 4 , 2 8 9 , 2 9 3 f.

475

B Ö C K E N H A U E R , Der

Widerruf

der Aussetzung,

S . 91 f.; R U D O L P H I , Z R P

1976,165,170.

io6

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Währung schon bei Ersttätern für bedenklich m i t Blick auf die U n s c h u l d s v e r m u t u n g , insbesondere k ä m e der Vorschlag, 4 7 6 bei § 129 a S t G B Sicherungsverwahrung z u e r m ö g l i c h e n , der A n o r d n u n g einer Verdachtsstrafe nahe. 4 7 7 Z u w e i l e n wird darauf hingewiesen, daß die V e r m u t u n g der U n s c h u l d keine V e r m u t u n g der Ungefährlichkeit i m H i n b l i c k a u f Sicherungsmaßregeln enthalte. 4 7 8 d)

Untersuchungshaft

aa) Generelle Vereinbarkeit

mit der

Unschuldsvermutung

D i e U n t e r s u c h u n g s h a f t erweist sich als Prüfstein für viele K o n z e p t i o n e n der Unschuldsverm u t u n g , da sie p h ä n o m e n o l o g i s c h v o n der Freiheitsstrafe k a u m z u scheiden ist. 479 Funktionsunterschiede der H a f t änderten auch an ihrer Eingriffsintensität, 4 8 0 u n d z u ergänzen, an d e m R e c h t f e r t i g u n g s d r u c k , nichts. Folglich heißt es vielfach, sie beeinträchtige die U n schuldsvermutung 4 8 1 oder stehe i m „krassen W i d e r s p r u c h " z u ihr 482 bzw. die Vereinbarkeit der U n t e r s u c h u n g s h a f t mit der U n s c h u l d s v e r m u t u n g sei „schleierhaft" 4 8 3 . B e f ü r c h t e t wird a u c h eine verzerrende W i r k u n g der Untersuchungshaft a u f die richterliche

Entschei-

d u n g s f i n d u n g , da fast alle Untersuchungshäftlinge, d a v o n signifikant m e h r z u Freiheitsstrafe als N i c h t g e f a n g e n e , verurteilt würden. 4 8 4 Bei über einem Drittel aller U n t e r s u c h u n g s häftlinge w ü r d e z u d e m die Freiheitsstrafe zur B e w ä h r u n g ausgesetzt, so d a ß sie ihre Freiheit ausschließlich in einer Situation verloren hätten, in der sie v o n Rechts w e g e n als u n s c h u l d i g

476 477 478

BT-Drs. 8/322, S. 3, Gesetzentwurf der CDU/CSU. SCHUBARTH, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 31 f. WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 102 Fn. 57; DERS., ZStW 93

(1981), 452, 481; S K - S t P O / R u D O L P H i , V o r § 9 4 R n . 8. 479 Siehe nur HABERSTROH, NStZ 1984, 289,290: „...selbst bei sorgfältigster theoretischer Abgrenzung zum Freiheitsstrafvollzug kann sie [die Untersuchungshaft] einer faktischen Bedeutung als .Strafe ohne Urteil' nicht entgehen." HASSEMER, StV 1984, 38, 40 = AnwBl. 1984, 64, 66: „Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen." Nach KONDZIELA, MschrKrim 1989,177,181 Fn. 20, eignet faktisch auch der Untersuchungshaft eine sozial-diskriminierende Wirkung. S.a. VÖCKING, Die oberlandesgerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft, S. 246 m.w.Nachw. Ahnl. DAHS JUN., NJW1995, 553, 555. Als antezipierte Strafe sahen GLASER, Handbuch des Strafprozesses, Bd. II, S. 298 und der Anonymus in

G S 34 (1883), 561, 565 d i e U n t e r s u c h u n g s h a f t an.

Nach F. MÜLLER/PIEROTH, Verfassungsmäßigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, S. 228, 236, wäre die Untersuchungshaft verfassungswidrig, wenn die Unschuldsvermutung Maßnahmen verböte, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen — so aber die Formulierung in BVerfGE 19, 342, 347. 480

A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft,

S. 61 ff.; H A S S E M E R , S t V 1984, 38,

41 = AnwBl. 1984, 64, 67, von ihm bezogen allerdings nur auf das Übermaßverbot; JEHLE, Untersuchungshaft, S. 15; SEEBODE, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 3 ff. 481 BÖCKENHAUER, Der Widerrufder Aussetzung, S. 91. 482 GRABITZ, Handbuch des Staatsrechts VI, § 130 Rn. 39, S. 129. 483 REIFENRATH, Festschrift Wassermann, S. 489, 490. 484 Siehe dazu HASSEMER, StV 1984, 38, 39 = AnwBl. 1984, 64, 65; SCHWENN, StV 1984,132,133. Schon J ACOBI, Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, S. 88, zählte 1883 die Untersuchungshaft zu den Umständen, „welche erfahrungsgemäß den Uebelstand herbeiführen, daß als Grundlage der Verurtheilung unbewußt die Voraussetzung oder Vermuthung der Schuld untergeschoben wird."

A.II. Bundesrepublik Deutschland zu gelten hatten. 485 Im übrigen werden der Untersuchungshaft oftmals general- und spezialpräventive Wirkungen zugeschrieben und sie dementsprechend eingesetzt. 486 Folglich dürfe die Untersuchungshaft wegen der Unschuldsvermutung keinen Strafcharakter haben 4 8 7 und sei von allen Strafzwecken freizuhalten. 488 Insbesondere die vor allem im Jugendrecht verbreitete Praxis, die Untersuchungshaft zu Erziehungszwecken als Kriseninterventionsmittel oder Einstieg in spätere spezialpräventive Behandlung zu betrachten, verbiete sich daher. 489 Die Untersuchungshaft dürfe die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten nicht wesentlich beeinträchtigen, die auch von der Unschuldsvermutung garantiert seien, noch dürfe sie verhängt werden, um das Verfahren zu erleichtern oder den Beschuldigten als präsentes Beweismittel dienstbar zu machen. 490 Uberwiegend wird aber die Untersuchungshaft fur zulässig gehalten, 491 schon weil Art. 5 Abs. ι lit. c E u M R K sie vorsieht. 492 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts steht die Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsrecht des einzelnen und den unabweisbaren Bedürfnissen der Strafrechtspflege, die ebenfalls v o m Rechtsstaatsprinzip umfaßt werde, und sei daher als notwendiger Kompromiß zulässig, wo unerläßlich, wobei auch ihre Ausgestaltung stets am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen sei. 493 Anderer Ansicht nach berührt die Untersuchungshaft die Unschuldsvermutung gar nicht, denn das „Gleichartigkeitsargument", das überdies bei Untersuchungshaft wegen Verdachts einer mit der Geldstrafe bedrohten Straftat versage, genüge nicht, den behaupteten Vorgriff auf die Strafe darzutun. Sie sei reine Sicherungsmaßnahme zwecks Erreichung des Verfahrensziels. D a ß sie den noch nicht Verurteilten bereits als schuldig behandele, lasse sich nicht dartun, sonst wäre sie zur Gänze unzulässig, eine Konsequenz, die anzeige, daß schon die Prämisse nicht stimme. 494 Wenn sie auf eine spätere Freiheitsstrafe anzurechnen

StV 1984, 38, 39 = AnwBl. 1984, 64, 65. Krit. dazu S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S . 168 f. m.w.Nachw. in Fn. 308,185 f. 487 BVerfGE 19, 34z, 348; V Ö C K I N G , Die oberlandesgerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft, S. 246 m.w.Nachw. S.a. RGSt 29, 75, 76 (keine antezipierte Strafe); OLG Düsseldorf NJW 1969, 439 (keine Ordnungsstrafe). 488 H A S S E M E R , StV 1984, 38, 39, 40 f. = AnwBl. 1984, 64, 65, 67 f.; S P R E N G E R , NJW 1976, 663, 664; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 453 f.; D E R S . , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 95. 485 Dazu H A S S E M E R , StV 1984, 38, 39 = AnwBl. 1984, 64, 65 f.; s.a. W A L T E R , MSchrKrim 1978, 337, 340 f., zu den erzieherischen Absichten der Untersuchungshaft: S. 342 f. m.w.Nw.; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 468 f., 478; J E H L E , Untersuchungshaft, S. 9 ff., 13. Zum generalpräventiven Gebrauch der Untersuchungshaft in der Praxis s. K R Ü M P E L M A N N , Aktuelle Probleme des Haftrechts, S. 44 f., 48. 4,0 A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft, S . 32. 491 V O G L E R , ZStW 82 (1970), 743, 773; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 427 f. 24 492 F R O W E I N / P E U K E R T , EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 117; P E U K E R T , EuGRZ 1980, 247, 261; LR 485

HASSEMER,

486

G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K R n . 134. 453

BVerfGE 19, 342, 347; NStZ 1987,118; Beschl. v. 1.12.1986 (2. Kammer/2. Senat) - 2 BvR 1029/86. Zust. G R A B I T Z , Handbuch des Staatsrechts VI, § 130 Rn. 39 f., S. 129; K K 3 - B O U J O N G , Vor § 112 Rn. 8. Nach BGHSt 20, 68, 71 beeinflußt die Unschuldsvermutung die Zulässigkeit der Untersuchungshaft nicht. 454 N I E M Ö L L E R / S C H U P P E R T , A Ö R 107 (1982), 387, 471. Ebenso M E Y E R , Festschrift Tröndle, S . 61, 68; P A U L U S , NStZ 1990, 600, 601.

ιο8

I. Teil: RecKtsvergleichende Bestandsaufnahme

ist, so folge daraus nicht, daß sie der Strafe funktional äquivalent sei, sondern nur, daß Zwangsmaßnahmen gleicher Identität im Urteil zu berücksichtigen seien.495 W O L T E R hält nunmehr auch überlange Dauer der Untersuchungshaft nicht mehr für eine die Unschuldsvermutung, sondern nur noch Gesichtspunkte des fair trial und der unzumutbaren Beschränkungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 G G berührende Frage, da darin allein noch keine Behandlung des Betroffenen als schuldig liege, zumal die sozialethische Mißbilligung fehle.496 Auch ein Mißbrauch der Untersuchungshaft zur Ausforschung des Gefangenen durch V-Leute sei kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, sondern gegen Art. 1 Abs. ι G G i.V.m. § 136a StPO. 497 bb) Hafigrund der Wiederholungsgefahr, § 112 a Abs. 1 StPO Wohl überwiegend wird der Haftgrund nach § 112 a Abs. 1 Satz 1 StPO als mit der Unschuldsvermutung vereinbar angesehen,498 zumal er in Art. 5 Abs. 1 lit. c E u M R K vorgesehen sei.499 Gleichwohl gestehen selbst Befürworter der Regelung zu, daß eine nur wegen Wiederholungsgefahr verhängte Untersuchungshaft ein Urteil „in gewissem Umfange" vorwegnehme.500 Der Gegenansicht erscheint dieser Haftgrund rechtsstaatswidrig, weil er nicht der Sicherung des Strafverfahrens diene, sondern, insbesondere als Mittel der Krisenintervention501 und Spezialprävention, die Funktion einer Verdachtsstrafe erfülle,502 mithin der Verfolgung von Strafzwecken diene. Da dies vor rechtskräftiger Feststellung der Schuld geschehe, sei der Haftgrund mit der Unschuldsvermutung unvereinbar503. Als präventive Maßnahme der Gefahrenabwehr wird die Verwahrung möglicherweise gefährlicher Bürger als Fremdkörper im

Die Untersuchungshaft, S . 31. Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S . 89, 92 ff.; S K - S Í P O / W O L T E R , Vor § 151 Rn. 124; anders noch DERS., ZStW 93 (1981), 452, 455, 458 f. Einschränkend auch IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 430. 457 W O L T E R , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S . 89,105; S K - S Í P O / W O L T E R , V o r § 151 495

ARBEITSKREIS STRAFPROZESSREFORM,

4%

WOLTER,

R n . 1 2 4 ; S K - S t P O / R o G A L L , V o r § 133 R n . 7 6 ; a.A. I n t K o m m / V o G L E R , Art. 6, R n . 398. 458

BAUMANN,

J Z 1969, 134, 136 m.w.Nw.;

KK3-BOUJONG, §

112a Rn. 3;

KÜHNE,

Strafp rozeßlehrei,

R n . 193; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 1 1 2 a R n . 1; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , A r t . 6 M R K R n . 134; E B . SCHMIDT,

J R 1970, 204, 208;

499 K K 3 - B O U J O N G ,

GNAM,

§ 112a

Wiederholungsgefahr, S. 247 f.

R n . 3;

KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42,

§ 112a

R n . 1;

DREHER,

M D R 1970, 965, 967; S C H M I T T , J Z 1965, 193, 194; F. M Ü L L E R / P I E R O T H , Verfassungsmäßigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, S. 228, 237; D I E T R I C H , Die Wiederholungsgefahr, S. 77 f. Im Erg. auch K Ü H N E , Strafprozeßlehre", Rn. 193. Nach B A U M A N N , J Z 1969, 134, 136, bedarf es des Verweises auf Art. 5 Abs. ι lit. c EuMRK gar nicht, weil es sich um eine präventive Maßregel handele. Krit. P A E F F G E N , Vorüberlegungen, 500

S . 1 6 0 F n . 6 6 5 ; S K - S t P O / P A E F F G E N , § 1 1 2 a R n . 5.

S C H M I T T , J Z 1965,193, 196.

StV 1984, 38, 40, 41 f. = AnwBl. 1984, 64, 66, 68.

501

HASSEMER,

502

K L U G , Z R P 1 9 6 9 , 1 , 2.

503

A K - S t P O - D E C K E R S , § 112a Rn. 6; K L U G , Z R P 1969, 1 , 2; K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 175; P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S. 159 ff., 162 Fn. 669; D E R S . , Haftgründe, Haftdauer undHaftprüjung, S. 113, 130; S K - S t P O / P A E F F G E N , § 112a Rn. 5; R U D O L P H I , Z R P 1976, 165, 170; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 485 (zugleich mit Nr. 1 Abs. 1, 2 UVollzO); D E R S . , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S . 89,102 Fn. 58. Ahnl. S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 10 („äußerst problematisch"). Krit. auch B E C H T H O L D , Deutschland-Archiv 1 9 7 0 , 1 , 12.

A.II. Bundesrepublik Deutschland

System der Verfahrenssicherungen betrachtet, die auch nicht der Aufgabe der Strafjustiz anheimfalle.504 Reformbestrebungen verzichten auf diesen Haftgrund wegen seiner Nähe zur präventiv vollzogenen Freiheitsstrafe, die mit der Unschuldsvermutung unvereinbar wäre, den Unsicherheiten der Prognose505 und der Abkehr vom Tatstrafrecht.506 Überdies sei schon die Formulierung des § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO mißlich unter der Unschuldsvermutung, weil die „Gefahr weiterer Straftaten" sowie die Bezeichnung „Wiederholungsgefahr" den Eindruck erwecke, als sei der der Anlaßtat bloß Verdächtige bereits überführt.507 F R I S T E R hingegen erblickt in § 112a StPO keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, da spezialpräventive Maßnahmen von der Unschuldsvermutung nicht berührt würden, eben weil diese kein Verbot der Verwertung des Tatverdachts beinhalte. Die möglicherweise begangene Straftat sei nicht Grund des Eingriffs, sondern diene nur als Indiz für die Gefährlichkeit des Täters, für die die Begehung von Straftaten - ob rechtskräftig festgestellt oder nicht — ohnehin kein Zurechnungskriterium sei. Sofern die Gegenansicht sich auf die Befürchtung einer Zweckentfremdung der Haft wegen Wiederholungsgefahr zur Verdachtsstrafe gründet, bestünde Übereinstimmung, da eine solche Praxis schon wegen des von ihm postulierten Verbots der Verdachtsstrafe und der Verwendung einer Tat als Zurechnungskriterium vor rechtskräftiger Verurteilung auch nach F R I S T E R S Auffassung ohne weiteres verfassungswidrig wäre.508 cc) Haftgrund der Tatschwere, $ 112 Abs. 3 StPO Der Verdacht bestimmter schwerer Straftaten, den § 112 Abs. 3 StPO zur Inhaftierung genügen läßt, ist nach Ansicht der Bundesverfassungsgerichts allein keine ausreichende Legitimation der Inhaftierung ebensowenig wie das Motiv der Beruhigung der Öffentlichkeit. Hinzutreten müsse die Vermutung eines regulären Haftgrundes der Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr.509 In dieser Gestalt wird der Haftgrund überwiegend für verfassungsrechtlich unproblematisch gehalten.510 Zahlreiche Stimmen halten den Widerspruch zur Unschuldsvermutung auch in der einschränkenden Auslegung für unüberwindlich. 511 Die Unvereinbarkeit wird darauf gestützt,

504 D A H S J U N . NJW 1995, 553, 555; K L U G , ZRP 1969,1 2; O P P E , NJW 1966, 93, 94; P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S . 138, 141 ff.; S K - S I P O / P A E F F G E N , Vor § 112 Rn. 4 (wegen Kompetenzwidrigkeit verfassungswidrig); S E E B O D E , ZRP 1969, 25 ff. Krit. auch K Ü H N E , Strafprozeflehre4, Rn. 193. 505 Zu den Problemen der Prognose erneuter Straftaten s. P A E F F G E N , Fußn. 503; E N D E R , N J W 1969, 867 ff. Schon M I T T E R M A I E R , Theorie des Beweises, § 182, S. 465, hielt die erwiesene Tat für keine zureichende Grundlage zur Voraussage künftiger Taten. Zweifelnd auch F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 103; M R O -

Z Y N S K I , J Z 1 9 7 8 , 255, 259.

Die Untersuchungshaft, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S . 115 Fn. 26. F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 101 f. BVerfGE 19, 342, 350 f.

506

ARBEITSKREIS STRAFPROZESSREFORM,

507

SEEBODE,

508

509 510

KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42,

S.

44 ff.

§ 1 1 2 R n . 3 6 ff; K K 3 - B O U J O N G , § 1 1 2 R n . 4 0 ;

LR24-GOLL-

Art. 6 M R K Rn. 134; krit. L R 2 4 - R I E S S , § 112 Rn. 52. 511 P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S . 134 ff, 136, 138; D E R S . , Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S. 113, 126; SK-StPO/PAEFFGEN, § 112 Rn. 43; schon SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 976 Fn. 192. Kritisch auch A R B E I T S K R E I S S T R A F P R O Z E S S R E F O R M , Die Untersuchungshaft, S . 43.

WITZER,

no

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

daß es sich um eine vorweggenommene Sühnemaßnahme512 zum Zwecke der Krisenintervention 513 handele. Mit der offenen Verfolgung der Strafzwecke Normintegration, Abschreckung, Generalprävention,514 sei die Grenze zur Verdachtsstrafe überschritten515. dd) Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO Als weithin unproblematisch in unserem Kontext erscheint der Haftgrund der Fluchtgefahr. Sofern ein Haftbefehl wegen Fluchtgefahr jedoch pauschal auf die Straferwartung gestützt werde und somit zu einem Instrument vorläufiger Strafvollstreckung degeneriere, verstoße dies gegen die Unschuldsvermutung.516 ee) Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, $ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO Nach F R I S T E R ist der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr seitens des Verdächtigen mit der Unschuldsvermutung nicht zu vereinbaren. Aus der Zweckrichtung des Zwangsmittels lasse sich die unterschiedliche Behandlung von Verdächtigem und Nichtverdächtigem nicht erklären, denn auch Nichtverdächtige könnten Verdunkelungshandlungen vornehmen. Die Beschuldigteneigenschaft sei auch — anders als bei §§ 99,100 a, 102, 103 StPO — kein geeignetes Prognoseindiz, da auf zuverlässigere Indizien zurückgegriffen werden könne, denn die zuverlässigste Verdunkelungsprognose ergebe sich aus der Vornahme oder Vorbereitung konkreter Verdunkelungshandlungen.517 Dies sei aber nicht an die Beschuldigteneigenschaft geknüpft, auch nicht bei § 112 Abs. 2 Nr. 3 c) StPO. Folglich müsse der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr abgeschafft oder auf Nichtverdächtige ausgedehnt werden. 518 Fraglich erscheint diese Ansicht aus zumindest drei Gründen: Zum einen beruht FRIS T E R S Argumentation darauf, daß die zuverlässigste Prognose über ein zukünftiges Ereignis der Beweis des Eintritts dieses Ereignisses sei. Für die Frage der Zuverlässigkeit ist dies unbezweifelbar, allein handelt es sich dann nicht mehr um eine Prognose im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsaussage über den Eintritt eines zukünftigen, derzeit unbekannten Ereignisses. Auf diese Weise ließen sich daher sämtliche Prognosen für unzureichend erklären, da das Abwarten des Ereignisses größere Sicherheit verspräche. Im gleichen Sinne ließe sich FRI519 S T E R S Argumentation zur Zulässigkeit von Durchsuchungen etc. entgegnen, die Auffindungsprognose hinsichtlich eines noch unbekannten Beweismittels trage die Eingriffe nicht, da das Bekanntwerden eines Beweismittels größere Zuverlässigkeit bei der Mutma-

1966, 93, 94; D E N Z E L , Übermaßverbot, S . 125 Fn. 2. StV 1984, 38, 40, 41 f. = AnwBl. 1984, 64, 66, 68. 514 W O L T E R , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S . 89,103. 515 KRÜMPELMANN, in: J E S C H E C K / K R Ü M P E L M A N N , Die Untersuchungshaft, S . 946; W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 483; D E R S . , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89,103. A.A. ohne Begründung M E Y E R , Festschrift Tröndle, S . 61, 65. 516 S C H W E N N , StV 1984,132,134. 517 Genauso schon V O N L I L I E N T H A L , Z S T W 2 9 (1909), 737, 747 f., wenn auch ohne Bezug auf die Unschuldsvermutung. Die Zweckmäßigkeit der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr war vor und nach der Strafprozeßnovelle vom 27.12.1926 lebhaft umstritten, s. A S C H R O T T , Reform des Strafprozesses, S. 45, 101; dazu P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S. 100 ff. (mit der Unschuldsvermutung vereinbar, S . 101). 518 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 117-120. 519 Siehe unten S. 113. Gleiches gilt für F R I S T E R S Argumentation zu §§ 81a, 81 c, 99,100a StPO, s. ebda. 512

OPPE, N J W

513

HASSEMER,

A.II. Bundesrepublik Deutschland

III

ßung seines möglichen Verbleibs zulasse; da ein Beweismittel prinzipiell sowohl in der O b hut eines Verdächtigen als auch eines Nichtverdächtigen stehen könnte, müßte die Differenzierung etwa der §§ 1 0 2 , 1 0 3 S t P O ebenfalls unzulässig sein. Z u m zweiten ist d a r a u f h i n zuweisen, daß Verdunkelungshandlungen in praxi offenbar schwer nachweisbar sind, 5 2 0 so daß das Abwarten von Kollusionshandlungen wenig erfolgversprechend wäre. Schließlich könnte die Differenzierung deshalb als sachgerecht erscheinen, da regelmäßig der Beschuldigte als möglicher Täter das umfangreichste Wissen über mögliche Beweismittel und daher auch über deren Beseitigungsmöglichkeiten hätte, das auch Verwandten oder Freunden wegen ihrer regelmäßigen Unkenntnis über den Stand des Ermittlungsverfahrens nicht in gleichem Maße eignete. 521 ff

Ausgestaltung des Haftregimes

Die Haftbedingungen der Untersuchungshäftlinge sollen sich wegen der Unschuldsvermutung von denen der Strafgefangenen im positiven Sinne unterscheiden, 522 von denen sie deshalb auch zu trennen sind (§ 119 Abs. 1 StPO), 5 2 3 nur der ausdrückliche Wunsch des Inhaftierten, wie ein Strafgefangener behandelt zu werden, rechtfertige gleichartigen Vollzug vor der Unschuldsvermutung 5 2 4 . Insbesondere ist jede von den legitimen Haftgründen nicht erforderte Erschwerung, die nur als Sanktion gedeutet werden könnte, unzulässig, 525 vgl. § 119 Abs. 3 S t P O . Einschränkenden Maßnahmen nach § 119 Abs. 3 S t P O stehe sie aber nicht entgegen, sofern diese sich im Rahmen des strikt Erforderlichen halten. 526 Kriminalpräventive Einwirkung während der Untersuchungshaft schließt die Unschuldsvermutung folglich aus bzw. schränkt ihre Möglichkeiten ein. 5 2 7 Die in §§ 93 Abs. 2, 110 J G G vorgeschriebene erzieherische Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs ist nach wohl überwiegender Ansicht wegen Verfolgung von Strafewecken und Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung verfassungswidrig. 528 Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, S . 239. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, S. 240 f. Ähnlich G R Ü N H U T , zit. nach K L E I N K N E C H T , J Z 1965, 113,115. 522 B G H Z 62, 302, 306; S A X , Grundsätze der Strafrechtspflege, S . 991, 971; D R E H E R , M D R 1970, 965, 968; E L I B O L , Die Vermutungder Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 52 f.; H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S. 50. 523 K K 3 - B O U J O N G , § 119 R N . 5; P F E I F F E R / F I S C H E R , § 119 R N . 2; S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 83, 85, 168 f.; W A C K E , J A 1987, 191,193 Fn. 15. 524 S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S . 83. 525 V O N M A N G O L D T / K L E I N / S T A R C K 3 , Art. 3 I Rn. 87; H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S . 50; R Ü P I N G , ZStW 91 (1979), 351, 358; D E R S . , Rev.int.dr.pén. 49 (1978), 323, 329 (§ 119 Abs.3 StPO als Ausdruck der Unschuldsvermutung); S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 143 ff., 152 ff. Krit. zur UVollzO, die der Unschuldsvermutung nicht gerecht werde, J E H L E , Untersuchungshaft, S. 6 ff, 22 ff, 24, 26; S E E B O D E , ibid., S . 160,162,168. 526 BVerfGE 35, 5, 9 f.; 307, 310; 311, 319 f.; 45, 95, 100 f.; K K 3 - B O U J O N G , Vor § 112 Rn. 8; K L E I N 520

HERMES,

521

Dazu

HERMES,

KNECHT/MEYER-GOSSNER42, Art. 6 M R K

14.

1970, 965, 968; S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S . 211 ff, Behand\\ingsangebote sollen zulässig sein, ibid. 215 ff., 218. Ebenso T R E C H S E L , S J Z 77 (1981), 335, 336. 528 S E E B O D E , Der Vollzug der Untersuchungshaft, S . 83, s. aber S . 218, 226, 229; D E R S . , JA 1979, 613; 5 W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 454 f., 495 f.; E I S E N B E R G , / G G , § 93 Rn. 11 ff, § 110 Rn. 7 m.w.Nachw.; W A L T E R , MschrKrim 1978, 337, 340 f.; S P R E N G E R , NJW1976, 663 f. 527

DREHER, M D R

112

e)

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Vorzeitiger Strafantritt

Einen vorzeitigen Strafantritt nach dem Vorbild des schweizerischen vorläufigen Strafvollzuges hält P A E F F G E N für mit der Unschuldsvermutung vereinbar, 529 da der Betroffene nicht auf deren Schutz insgesamt, sondern bloß auf Teile der Schutzwirkung verzichte und das im Vergleich zum Verwahrungsvollzug der Untersuchungshaft geringere Übel wähle. D a die freiwillige Entscheidung des Bürgers die alleinige Rechtfertigungsbasis für diese Statusänderung sei, müsse aber auch ihre jederzeitige Rücknahme möglich sein. 530 Eine konkretisierende Prognose über die möglicherweise verwirkte Strafe als Voraussetzung verstoße hingegen gegen die Unschuldsvermutung. 5 3 1 F R I S T E R hält den vorläufigen Strafvollzug nur dann für zulässig, wenn er direkt durch die Zustimmung des Betroffenen legitimiert werden kann, da auf die Unschuldsvermutung nicht verzichtet werden könne. Ein Grundrechtsverzicht sei aber nur in engen Grenzen möglich, ein vollständiger Verzicht auf das Grundrecht der Freiheit der Person scheide daher aus. Vorläufiger Strafvollzug sei daher nur dann mit der Unschuldsvermutung vereinbar, wenn bei Widerruf der Zustimmung die sofortige Entlassung erfolge, was aber das Institut seines Sinnes beraube. 532

f

Informationserhebung und -Verarbeitung im Vorfeld und im Ermittlungsverfahren

D a die Unschuldsvermutung nicht vor Maßnahmen zur Verdachtsklärung schützen kann und will, werden Informationserhebung und -Verarbeitung im Ermittlungsverfahren durch die Strafverfolgungsbehörden insoweit als zulässig angesehen 533 ebenso wie erkennungsdienstliche Identifizierungsmaßnahmen 5 3 4 . Der Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen, die durch § 8ib, 2. Alt. S t P O gedeckt sei, stehe die Unschuldsvermutung ebenfalls nicht entgegen, da diese die polizeiliche Ermittlungstätigkeit bei konkreten Verdachtsmomenten nicht hindere. 5 3 5 Hingegen werden Befugnisse zur Erhebung personenbezogener Daten im Vorfeld eines Verdachts, wie sie insbesondere zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität diskutiert und teilweise eingeführt worden sind, 536 als Eingriff in den ,„polizeifesten' Grundrechtsbereich des Unverdächtigen" 5 3 7 und als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung angesehen 538 . Vorüberlegungen, S. 268 ff., 270 f.; ebenso W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 476 f., 498. Vorüberlegungen, S. 271 Fn. 241; ähnl. W O L T E R , ZStW 93 (1981), 452, 476 f. (nur unter Wahrung der Verfahrensrechte und dem Zwang der Verfahrenssicherung). 531 P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S. 270 f. 532 F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 94 f. Unverständlich bleibt, warum F R I S T E R an dieser Stelle nicht auf die von P A E F F G E N hervorgehobene eingtißsmildernde Funktion der Zustimmung eingeht, die er sodann bei § 153 a StPO als mögliche Rechtfertigung diskutiert, ibid., S. 95 f. 533 M. E R N S T , Verarbeitung und Zweckbindung, S. 115; SK-StPO/WoLTER, Vor § 151 Rn. 108, 124; W O L T E R , Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 105. 534 BVerwG NJW 1961, 571, 572. 535 BVerwG NJW 1967,1192 f.; OVG Münster NJW 1972, 2147, 2148 (nur Abwägung des öffentlichen Interesses gegen Grundrechte, auch Unschuldsvermutung); VGH Mannheim, NJW 1987, 2763 f.; 2764, 2765; ESVGH 24, 72, 75. Dazu F E Z E R , Strafprozeßrecht I, Tz. 7/63 ff., 66, S. 119. 536 Ausführl. dazu W E S S L A U , Vorfeldermittlungen, S . 105 ff.; L I S K E N , Z R P 1994, 264, 265 ff. jeweils m.w.Nachw.; D E R S . , Z R P 1994, 49, 50; D E R S . , Z R P 1993,121, 121 Fn. 2. 537 Ausdruck von L I S K E N , Z R P 1994, 264, 268. 538 L I S K E N , ZRP 1994, 264, 268 (auch würde die sich aus Art. 1 Abs. 1 G G ergebende „Redlichkeitsvermutung abgeschafft" - die Differenzierung zur Unschuldsvermutung bleibt unerläutert). 529

PAEFFGEN,

530

PAEFFGEN,

A.II. Bundesrepublik Deutschland

113

g) Körperliche Untersuchung und körperlicher Eingriff nach §§ 81 a, 81 c StPO Die erweiterte Zulässigkeit körperlicher Untersuchungen bei Beschuldigten im Gegensatz zu Nichtverdächtigen hält FRISTER für sachlich gerechtfertigt. Die Differenzierung bei der Z u lässigkeit körperlicher Eingriffe, die beim Beschuldigten zur Feststellung aller verfahrenserheblichen Tatsachen möglich ist, gemäß § 81 c Abs. 2 Satz 1 S t P O bei Nichtverdächtigen aber nur dann, wenn sie „zur Wahrheitsfindung unerläßlich" sind, lasse sich hingegen nur mit Z u rechnungserwägungen erklären und sei daher mit der Unschuldsvermutung unvereinbar. 539

h) Durchsuchung nach §§ 102 f . StPO Die Unterscheidung bei der Zulässigkeit von Durchsuchungen beim Verdächtigen und anderen Personen in §§ 102, 103 S t P O hält FRISTER für sachlich gerechtfertigt aufgrund der Bedeutung des Tatverdachts als Prognoseindiz für die Auffindungswahrscheinlichkeit des ja noch unbekannten Beweismittels. Denn es bleibe nur der Rückgriff auf eine allgemeinere Beziehung zwischen der Straftat und den durchsuchten Räumen, die hier mit der Person des Verdächtigen hergestellt wird. 5 4 0

i)

Postbeschlagnahme und Telefonüberwachung nach §§ pp, 100 a StPO

Gleiches gilt nach FRISTER für die Postbeschlagnahme nach § 99 Satz 1 S t P O und die Telefonüberwachung nach § 100 a StPO: Die Differenzierung zwischen Verdächtigem und Nichtverdächtigem rechtfertige sich aus der unterschiedlichen Auffindungswahrscheinlichkeit bzw. Untersuchungsrelevanz, die aus der Beziehung zu der untersuchten Straftat folge. 5 4 1

j)

Ermittlung von rechtsfolgenrelevanten Umständen, $ 160 Abs. 3 StPO

EB. SCHMIDT hält die in § 160 Abs. 3 S t P O vorgesehene Ermittlung von rechtsfolgenerheblichen Umständen für gefährlich, weil ein kriminologisch ungünstiges Persönlichkeitsbild die Verdachtslage trotz aller Unschuldsvermutung unsachlich beeinflussen und zu unnötigen Anklagen führen könne. 5 4 2

k) Absprachen im Strafprozeß Eine Verurteilung, die aufgrund eines abgesprochenen Geständnisses im Rahmen eines „deals" zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ergeht, wird neben zahlreichen anderen Bedenken auch als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung betrachtet, da die Beteiligten davon ausgehen müssen, daß der Beschuldigte die ihm vorgeworfenen Taten begangen hat 543 - andernfalls wäre jegliche Vergleichsverhandlung eine „schlechthin sittenwidrige Z u 539

FRISTER, Schuldprinzip,

S. 113 f.; ebenso SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 986. Abi. MEYER,

Festschrift Tröndle, S. 61, 65. 540 FRISTER, Schuldprinzip, S. 114 f. Anders WELP, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, der auf eine erhöhte Duldungspflicht des Verdächtigen abstellt, S. 71. 541 FRISTER, Schuldprinzip, S. 116 f. Anders wieder WELP, Die strafprozessuale Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, S. 71 ff. 542

E B . S C H M I D T , N J W 1 9 6 9 , 1 1 3 7 , 1145.

543

D E N C K E R / H A M M , Der

Vergleich

im Strafprozeß,

S . 53; K K 3 - P F E I F F E R , E i n l . RN. 29 f; S C H Ü N E -

MANN, G u t a c h t e n Β f ü r d e n 58. D J T , B d . I, Β 93 ff., 95 f. (kurzer A b d r u c k a u c h in N J W 1 9 9 0 , 2985, 2987);

Π4

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

mutung" 544 . Auch der Zweck der Absprache, die Abkürzung der Hauptverhandlung, stelle einen weiteren Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar, weil eine Beweiswürdigung erst nach umfassender Sachaufklärung erfolgen dürfe. 545 Die Verletzung der Unschuldsvermutung liegt nach S C H Ü N E M A N N dabei schon in der „Aufnahme einer Absprachekommunikation" seitens des Richters, da diese nur für einen Schuldigen Sinn ergebe, so daß der Richter damit zu erkennen gebe, daß er den Angeklagten für schuldig halte und dies zur Richtschnur seines prozessualen Verhaltens mache. 546 Unbedenklich seien hingegen vom Angeklagten oder seinem Verteidiger initiierte Gespräche. 547 S C H Ü N E M A N N und S I O L E K knüpfen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, 548 derzufolge Schuldzuweisungen im erstinstanzlichen Verfahren bereits bei „Schuldspruchreife" zulässig sind, und beurteilen Absprachen je nach ihrem Zeitpunkt im Prozeß: Zu einem frühen Verständigungszeitpunkt, d.h. regelmäßig vor der Beweisaufnahme, seien sie unzulässig wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung. Denn solange eine ausreichende Beweisgrundlage fehle, gebe das Gericht durch seine Mitwirkung an einer Absprache, z.B. dem Angebot einer Strafmilderung für den Fall eines Geständnisses, seine Voreingenommenheit zu erkennen. 549 Sobald hingegen Schuldspruchreife eingetreten sei, beispielsweise ein glaubhaftes Geständnis vorliege, könne die Unschuldsvermutung nicht mehr verletzt werden. 550 Andere verneinen einen Widerspruch zur Unschuldsvermutung, weil Absprachen keine Schuldannahme voraussetzten, da sie unter zahlreichen Vorbehalten stünden, und Strafzumessungserwägungen in sehr frühen Verfahrensstadien üblich und sowohl Verdächtigen als auch wirklich Unschuldigen zuzumuten seien, so bei Haftbefehl und EröfFnungsbeschluß.551 I)

Summarisches und beschleunigtes Verfahren, Strafbefehlsverfahren

Den Umstand, daß Rechtskraft auf Stillschweigen des Beschuldigten, d.h. Unterlassen eines Rechtsmittels, folgt, konstruiert eine Ansicht 552 als Fiktion der Schuld, mithin als poena cons . a . DERS., F e s t s c h r i f t B a u m a n n , S. 361, 372; DERS., N J W 1 9 8 9 , 1 8 9 5 , 1 8 9 8 ; DERS., J Z 1989, 984, 989; H A S -

SEMER, JuS 1989, 890, 892; NESTLER-TREMEL, D R i Z 1988, 288, 294; RÖNNAU, Die Absprache im zeß, S. 173,175 ff.; SIOLEK, Verständigung

in der Hauptverhandlung,

321, 327; WEIGEND, JZ 1990, 774, 777. Kritisch auch VÖCKING, Die oberlandesgerichtliche Untersuchungshaft,

Strafpro-

S. 121 f., 125 ff., 131; DERS., D R i Z 1989, Kontrolle

der

S. 247.

544

DENCKER/HAMM, Der Vergleich im Strafprozeß,

545

RÖNNAU, Die Absprache im Strafprozeß,

546

SCHÜNEMANN, Gutachten Β für den 58. DJT, Bd. I, B95 f.

547

SCHÜNEMANN, Gutachten Β für den 58. DJT, Bd. I, B98; RÖNNAU, Die Absprache im

S. 53.

S. 177,172. Strafprozeß

S. 1 7 7 . 548

S C H Ü N E M A N N , G u t a c h t e n Β f ü r d e n 58. D J T , B d . I, B98; DERS., J Z 1989, 984, 989; SIOLEK,

ständigung

in der Hauptverhandlung,

545

SIOLEK, Verständigung

in der Hauptverhandlung,

550

SIOLEK, Verständigung

in der Hauptverhandlung,

Vergleich im Strafprozeß,

Ver-

S. 127 ff.; abl. WEIGEND, JZ 1990, 774, 777. S. 121 f., 125 ff., 131. S. 127 ff. Etwas anders DENCKER/HAMM, Der

S. 83 f.: Absprachen seien nur dann zulässig, wenn die Schuld unabhängig von

einem Geständnis feststehe. 551

TSCHERWINKA, Absprachen

552

BIRKMEYER, Deutsches Strafprozeßrecht,

im Strafprozeß,

S. 102,103 ff., 107.

S. 95; kritisch auch BINDING, Normen2,

Bd. 2,2, S. 1188 f.,

der das summarische Verfahren als Beispiel „moderner Verdachtsstrafe" aufführt. Z u den Fiktionstheorien des Strafbefehls s. LR 24 -GÖSSEL, Vor § 407 RN. 18 f. m . w . N a c h w .

A.II. Bundesrepublik Deutschland

US

fessi. Gegen die summarische Schuldprüfung des Strafbefehlsverfahrens werden heute kaum Bedenken erhoben, es soll auch mit der Unschuldsvermutung verträglich sein.553 Einwände entfielen auch deshalb, weil von einer Schuldfeststellung durch Staatsanwaltschaft und Gericht nach Aktenlage auszugehen sei, somit keine Verdachtsstrafe vorliege;554 diese Beurteilungsgrundlage genüge bei dem Gewicht der Tatvorwürfe rechtsstaatlichen Anforderungen durchaus — denn weniger gravierende Tatvorwürfe rechtfertigten auch geringeren Verfahrensaufwand.555 Das in den Entwürfen eines Verbrechensbekämpfungsgesetzes und eines Zweiten OrgKG vorgesehene beschleunigte Verfahren556 mit der Möglichkeit der Anordnung von Hauptverhandlungshaft, ohne Beweisantragsrecht des Beschuldigten etc., das teilweise in den §§ 417 ff. StPO Gesetz geworden ist, wird u.a. als unvereinbar mit der Unschuldsvermutung angesehen.557 m) Verfahrensdauer Gegen eine überlange Dauer des Strafverfahrens wird auch die Unschuldsvermutung angeführt, da hierin ein Grund für einem Unschuldigen nicht mehr zumutbare Eingriffe wie zu lange Untersuchungshaft liegt.558 n) Diversion und Täter-Opfer-Ausgleich, §§ 4$, 47 JGG Unter den Formen informeller Konflikterledigung, die die vollständige Durchführung eines Strafverfahrens überflüssig machen sollen, wird insbesondere das Modell des Täter-OpferAusgleichs diskutiert.559 Da hier der Beschuldigte ohne gerichtliche Schuldfeststellung560 eine Schadensausgleichspflicht übernehmen soll, werden neben einer Reihe anderer rechtsstaatlicher Bedenken561 auch Spannungen zur Unschuldsvermutung thematisiert. Zwar

553 K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 117; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K Rn. 112 a.E.; S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S . 122 f. Zur Vereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen s. BVerfGE 3, 248, 253; 25,158,164. 554 S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S . 123. 555 M I E H E , ZStW 104 (1992), 132,136 f. Siehe auch BVerfGE 65, 377, 385 f.; L R 2 4 - G Ö S S E L , Vor § 407 Rn. 11-16. 556 Gesetzentwurf der C D U / C S U Fraktion und der F.D.P., BT-Drs. 12/6853, S. 10 f., Art. 10; s.a. BRDrs. 416/94, S. 6 f. 557 Pressemitteilung des Deutschen Anwaltvereins Nr. 5/94 vom 8.4.1994, abgedruckt in N J W Heft 19/ 1994, S. XI, XII. 558 K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S . 177 f.; ähnl. K O H L M A N N , Festschrift Maurach, 1 S . 501,503; H I L L E N K A M P , JR1975,133,134; Z I P F , Kriminalpolitik , S . 164. 559 Den umfangreichen Literaturstand weist K O N D Z I E L A , MschrKrim 1989, 177, 177 Fn. 3 nach. Vgl. auch jetzt den A L T E R N A T I V - E N T W U R F W I E D E R G U T M A C H U N G , München 1992, dazu krit. L A M P E , GA 1993, 485 ff. Zu österreichischen Modellen s.u. S. 166 ff. 560 So sieht z.B. § 6 Abs. 1 des A L T E R N A T I V - E N T W U R F S W I E D E R G U T M A C H U N G vor, daß der Täter Wiedergutmachung bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens leistet, falls ihm das nicht aufgrund besonderer Umstände unzumutbar ist, etwa wenn er aus diversen aufgezählten Gründen davon ausgehen konnte, sich überhaupt nicht strafbar gemacht zu haben (!). Kritisch, wenn auch ohne Erörterung der Unschuldsvermutung, L A M P E , GA 1993, 485, 490 f. 561 Nachweise bei K O N D Z I E L A , MschrKrim 1989,177,178 Fn. 5; s.a. L E N C K N E R , JuS 1983, 340 f.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

1x6

könne ein strafrichterliches Restitutionsverfahren einige Bedenken ausräumen, gebe aber das pädagogische Potential preis, das in der unmittelbaren Konfliktregelung zwischen Täter und O p f e r liege. 562 K O N D Z I E L A will die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs dadurch retten, daß er eine administrative Richterbeteiligung einbaut und somit die auf ein G e ständnis gestützte richterliche Schuldüberzeugung zur Wahrung der Unschuldsvermutung genügen lassen will. 5 6 3 K U H L E N hält die Geständnisvoraussetzung in §§ 45, 47 J G G für verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung, da es sich um den Abbruch eines normalen Strafverfahrens handele, der gleichwohl Schuldfeststellungen enthalte. 564 Das D i l e m m a der Erziehungs- und Diversionskonzeptionen im Jugendrecht sei, daß man versuche, sowohl auf die Durchführung eines Strafverfahrens zu verzichten, als auch, Sanktion zu verhängen. Beides zusammen sei aber im Lichte der Unschuldsvermutung unzulässig. 565 Die Gründe, die für die Unschuldsvermutung allgemein sprächen, forderten, an ihr auch in solchen Situationen festzuhalten, in denen sie den Beteiligten als schwer verständliche Formalität erscheine. 566 Demgegenüber bestreitet M I E H E eine Verletzung der Unschuldsvermutung, da in der Beurteilung des Geständnisses des jugendlichen Beschuldigten durch Staatsanwalt und Richter bereits eine Schuldfeststellung liege. 567 0)

Einstellungen

aa) Recht auf ein Verfahren, auf ein Urteil, auf Freispruch und Anspruch auf Rechtsmittel gegen belastende Einstellungen und Freisprüche? Obwohl häufig als minderwertige Form der Verfahrensbeendigung gegenüber dem Freispruch bezeichnet, 568 den sie nicht ohne N o t ersetzen dürfe, 569 wird die Einstellung des Verfahrens als Prozeßinstitut dennoch von manchen für mit der Unschuldsvermutung vereinbar gehalten, sofern die Schuldfrage unbeantwortet bleibe 570 . Die Unschuldsvermutung gewähre

562

Dazu

563

KONDZIELA,

MschrKrim 1989,177,185 f. m.w.Nachw. MschrKrim 1989, 177, 187 f. Zur Stützung wird auf die noch geringeren Ansprüche im Strafbefehlsverfahren verwiesen, ibid. S. 188 Fn. 60. Zu dieser Tendenz, auf den Stand des Inquisitionsprozesses zurückzufallen, s. K U H L E N , Diversion im Jugendstrafuerfahren, S. 38 bei Fn. 152 m. Nachw. 504 K U H L E N , Diversion im Jugendstrafuerfahren, S. 30 ff, 40; dort auch zu den Versuchen, die Absehens- und Einstellungsmöglichkeiten als reguläres Verfahrensende zu konstruieren. Gegen Geständniszwang auch J U N G , GA 1993, 535, 545. 565 K U H L E N , Diversion im Jugendstrafverfahren, S . 52. Anders die überwiegende Auffassung in Osterreich, s.u. S. 167 f. 566 K U H L E N , Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 53; ähnl. W O L T E R , NStZ 1993, 1, 5. 567 M I E H E , ZStW 104 (1992), 132,135. 568 Zum Ganzen K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 85 ff m.w.Nachw. Auch A P P L , Die strafschärfende Verwertung, S . 169. 569 Die Rechtsprechung hielt stets den Angeklagten für beschwert, gegen welchen das Verfahren eingestellt wurde, obschon das Gericht auf Freispruch hätte erkennen können, BGHSt 13, 75, 80; 268, 273; 20, 333, 335; RGSt 70,193,195. W . Nachw. bei K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 87 f. 570 K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 85 ff, 92 f., 94. K Ü H L hält es für möglich, Einstellungsbeschlüsse zu treffen und so zu formulieren, ohne daß die Schuldfrage entschieden wird, s. ibid., S. 95 ff, 99 f. KONDZIELA,

A . I I . Bundesrepublik Deutschland

"7

kein R e c h t , e n t w e d e r freigesprochen oder verurteilt zu w e r d e n , 5 7 1 - e t w a weil die U n s c h u l d s v e r m u t u n g nach j e d e m n i c h t verurteilendem Verfahrenabschluß bestehen bliebe 5 7 2 — d o c h dürften d a n n a u c h keine Schuldfeststellungen oder V e r d a c h t s e r w ä g u n g e n stattfinden. 5 7 3 W e i l in nichtverurteilenden E n t s c h e i d u n g e n - Einstellungen sowie Freisprüchen -

Be-

lastungen in F o r m v o n Verdachtsäußerungen in den G r ü n d e n (vgl. § 2 6 7 A b s . 5 S t P O 5 7 4 ) oder in A n n e x e n t s c h e i d u n g e n , die auf verbleibendem V e r d a c h t basieren - dazu gesondert unten - , liegen k ö n n e n 5 7 5 oder weil der d u r c h das Strafverfahren selbst schon ausgelöste M a k e l des B e s c h u l d i g t e n 5 7 6 nicht vollends getilgt w i r d , w i r d vereinzelt gefordert, d e m B e schuldigten einen A n s p r u c h auf V e r f a h r e n s f o r t f ü h r u n g mit d e m Z i e l , seine U n s c h u l d zu beweisen ( „ R e c h t a u f ein V e r f a h r e n " ) , zu g e b e n . 5 7 7 Z u m a l w e n n die B e h ö r d e n a u t o n o m entscheiden k ö n n t e n ( § § 1 5 4 , 1 5 4 a S t P O ) , ob ein Verfahren fortgesetzt w ü r d e oder nicht, degradiere dies den Betroffenen z u m O b j e k t des Verfahrens. 5 7 8 D i e technische D u r c h s e t z u n g dieser F o r d e r u n g m ü ß t e zur A n e r k e n n u n g eines Rechtsmittels gegen Einstellungsbeschlüsse 5 7 9 u n d Freisprüche führen. D i e A n s i c h t w i r d ü b e r w i e g e n d abgelehnt: D i e R e c h t s p r e c h u n g unterscheidet zwischen T e n o r u n d G r ü n d e n u n d verneinte bei Verdachtsäußerungen u n d Schuldfeststellungen in den Urteilsgründen lange Z e i t eine Beschwer bzw. hielt Rechtsmittel f ü r ungeeignet. 5 8 0

571 APPL, Die strafichärfende Verwertung, S. 169 f. Anders noch VARGHA, Straß)rozessrecht1, S. 41 f., der das „Prinzip der definitiven Prozeßerledigung" durch Verurteilung oder Freispruch aus einer „loyalen A n erkennung" der Unschuldsvermutung ableitete. Ähnl. auch VOGLER, Z S t W 89 (1977), 761, 784 f. 572

O L G B a m b e r g S t V 1 9 8 1 , 4 0 2 , 403; M O N T E N B R U C K , In dubio pro reo, S. 52; P F L Ü G E R , Der Tod des

Beschuldigten, S. 140, 142; DERS., G A 1992, 20, 36 (In der Wiederherstellung des Rufs des Beschuldigten komme die Relevanz der Unschuldsvermutung erst recht zum Tragen); KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 93. Abi. VOGLER, Z S t W 89 (1977), 761, 785; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 437. 573 BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1 9 9 2 , 1 6 1 2 f.; 2011 f.; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 71; IntKomm/VoGLER, Art. 6 R n . 433, 436; PFLÜGER, Der Tod des Beschuldigten, S. 1 4 2 , 1 4 6 ; DERS., G A 1 9 9 2 , 20, 32, 36. 574

Dazu KÜHL, Unschuldsvermutung,

Freispruch und Einstellung, S. 61 ff.

575

„Auch ein solcher Freispruch kann vernichtend wirken.", PETERS, Gutachten C für den 52. DJT., C 60. Bei den §§ 153 ff. S t P O hält PAULUS, N S t Z 1990, 600, 600 diese Einschätzung für „rein akademischpraxisfern" und empirisch falsch, da die Beschuldigten allenfalls die Kostentragungspflicht als beschwerend zu empfinden pflegten. 576 Vgl. HERRET, Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 71; HEGHMANNS, Das Zwischenverfahren im Strafprozeß, S. 66 f. m.w.Nachw.; KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 24 f., 28 f. 577

K M R 6 - S A X , ( 1 9 6 6 ) , V o r § 2 9 6 R n . 4 b ; K M R 7 - P A U L U S , V o r § 296 R n . 55 f f . f ü r S c h u l d f e s t s t e l l u n -

gen; VOGLER, Z S t W 89 (1977), 761, 784 ff. 578 HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 291, aber gegen eine Anerkennung eines derart weitreichenden „Rechts auf ein Verfahren".

579 P E T E R S , S t V 1 9 8 1 , 4 1 1 f . 580

B G H S t 7 , 1 5 3 u. ff. m. umfangr. Nachw.; 13, 75, 77; 16, 374 (Leits.) u. ff., 377, 380 m. zahlr. Nachw.; R G S t 4, 355 ff., 357; 63, 184, 185; bestätigt durch B V e r f G E 6, 7 , 1 2 ; 28, 1 5 1 , 1 6 0 (Das Bundesverfassungsgericht sah allerdings eine Beschwer im Sinne des Verfassungsprozeßrechts für gegeben an, dazu s. KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 54 ff.); K K 3 - R u s s , Vor § 296 Rn. 5a; KLEINKNECHT/ M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , V o r § 2 9 6 R n . 13; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , § 2 9 6 R n . 4. D a z u H . F R A N K E ,

mangels Beweises, S. 94, 96 ff. m.w.Nachw.; KÜHL, Unschuldsvermutung, m.w.Nachw., 54 ff.

Freispruch

Freispruch und Einstellung, S. 37 ff.

I. Teil: RechtsvergleicKende Bestandsaufnahme

ιι8

Nach heute ganz überwiegender Ansicht dient das Strafverfahren nicht der vollständigen Klärung des Verdachts, sofern damit das Bestreben einer vollständigen Widerlegung gemeint ist. 581 Die Unschuldsvermutung gebe keinen Anspruch auf Bestätigung der Unschuld, 582 mithin auf unbedingten Freispruch, da in der Einstellung keine strafgleiche Belastung liege. 583 Z u d e m liege in der Forderung nach ausdrücklicher Unschuldserklärung eine Diskriminierung derjenigen Freigesprochenen, die diese Unschuldserklärung aus tatsächlichen Gründen mangels Erweis ihrer Unschuld nicht erhalten könnten. 5 8 4 Einige Vorschläge variieren daher das Rechtsschutzziel des durch Entscheidungsgründe belasteten Freigesprochenen oder Beschuldigten, etwa durch Verstärkung des straf- und zivilrechtlichen Ehrenschutzes. 585 KÜHL schlägt daher die Schaffung eines neuen Rechtsbehelfs vor, der mangels Tenorbeschwer kein echtes Rechtsmittel sein könne, mit dem der Beschuldigte die Streichung belastender Schuldäußerungen in den Entscheidungsgründen erreichen könnte. 5 8 6 bb) § ¡S3 StPO Für die frühere Fassung 587 des § 153 S t P O ( „ . . . w e n n die Schuld gering ist...") war die Bewertung der Schuld als gering Voraussetzung der Einstellung. Daher wurde der vorherige Nachweis der Schuld gefordert, da deren bloße Wahrscheinlichkeit die Unschuldsvermutung nicht widerlege, so daß der Zweifelssatz anzuwenden wäre. 588 Folglich wurde die Verwischung der Grenzen zum Absehen von Strafe kritisiert, zumal die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht zum vollen Beweis vorangetrieben seien. 589

581 BGHSt 10, 88, 91 ff. (zu § 154 StPO); 16, 374, 379; OLG Bamberg StV 1981, 402 f.; H E G H M A N N S , Das Zwischenverfahren im Strafprozeß', S . 66; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S . 75; M O N T E N B R U C K , In dubio pro reo, S . 52; S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S . 25. Anders K R A U S S , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, S. 172; W I M M E R , ZStW 80 (1968), 369, 375 f. (Im Hauptverfahren gehe es nicht um Überprüfung des Verdachts, sondern der Unschuldsvermutung, dagegen V O N H I N D T E , Die Verdachtsgrade im Strafverfahren, S. 12 f. Ebenso IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 448; S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S . 25 Fn. 113.). Dazu ausführt. K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 37 ff. Unklar die Äußerung von O S T E N D O R F , NJW 1978,13451347; D E R S . , GA1980, 445, 456, daß aus der Unschuldsvermutung folge, daß die Ermittlungstätigkeit immer in der Art und Weise erfolgen müsse, daß sich als Ergebnis die Unschuld des Beschuldigten zeigt. 582 K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 40, 50; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 75; T R E C H S E L , SJZ 77 (1981), 317, 319. 583

K Ü H L , J R 1978, 94, 97.

H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S. 67; K Ü H L , Unschuldsvermutung Freispruch und Einstellung, S. 50, 58 f. 585 So H E L L E , GA 1961, 166 ff; abl. K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 58. 586 K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 37 ff, 58 ff, 102 ff, 119 f.; D E R S . , N J W 1984, 1264, 1268; ähnl. P E T E R S , Gutachten C für den 52. D J T . , C 60 ff, 62; D E R S . , StV 1981, 411, 412. 587 Zur Entstehungsgeschichte des § 153 StPO s. K R Ü M P E L M A N N , Die Bagatelldelikte, S. 202 ff. 588 B R U N S , Festschrift Mäurach, 469, 477 (zum Contergan-Verfahren); O L G Stuttgart N J W 1969, 1446,1448. 585 N I E S E , SJZ 1950, Sp. 890, 892; H E I N I T Z , Festschrift Rittler, S. 327, 336. Zum Ganzen K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 106 ff. 584

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

119

Die heutige Formulierung 5 9 0 („...wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre") wird als unbedenklich angesehen, da die Schuldfrage bewußt 5 9 1 offengelassen wird und keine Sanktionen folgen. 5 9 2 Vorausgesetzt wird aber das Bestehen von Tatverdacht, da andernfalls Freispruch erfolgen müsse. 593 cc) § IS3 a StPO § 153 a S t P O sieht vor, daß mit Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten das Verfahren gegen die in Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 4 genannten Auflagen und Weisungen eingestellt werden kann, wenn diese bei geringer Schuld das öffentliche Strafverfolgungsinteresse zu beseitigen geeignet scheinen. Uberwiegend wird die Vorschrift als Lösung zur Bewältigung der Bagatellkriminalität, bei der man „ein bißchen pragmatisch denken" 5 9 4 dürfe, für unbedenklich gehalten, 595 auch wenn sich der Beschuldigte damit von der Strafe freikaufe 5915 . Z u r Rechtfertigung der Verhängung von Auflagen und Weisungen wird an die Wahrscheinlichkeit - welcher Grad genügt, ist strittig 597 - späterer Verurteilung angeknüpft, die aber nur eine Beurteilung hypothetischer Schuld 598 sei, die Schuldfrage bleibe offen, und an die Zustimmung des Beschuldigten oder an diese allein 599 . So meint M I E H E , die N o r m lasse sich vor dem Verdikt des Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung nur dadurch retten, indem die Z u s t i m m u n g darauf bezogen werde, daß die Schuld außerhalb der Hauptverhandlung in einem abgekürzten Verfahren festgestellt werde. 600 Z u r Stützung wird auf

590

Eingeführt durch Art. zi Nr. 44 EGStGB v. 2.3.1974, BGBl. I, 469, 509. BT-Drs. 7/550, S. 298: „Da die Vermutung der Unschuld bis zur rechtskräftigen Verurteilung gilt, wird auch bei der Einstellung des Verfahrens nach erhobener Klage keine Schuldfeststellung vorausgesetzt." 592 BVerfGE 82, 106, 118; BGH NJW 1975, 1829, 1831; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 436; K U H L E N , Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 43; K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 109, 119; D E R S . , J R 1978, 94, 97; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 71; M E Y E R , Festschrift Tröndle, S. 61, 72; wohl auch L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 MRK Rn. 152. Nach Z I M M E R M A N N , Freiheit und Gebundenheit, S. 132, ist das Fortbestehen des Verdachts aber nicht mit der Entkriminalisierungsfunktion der Vorschrift vereinbar. Krit. M A H R E N H O L Z , Sondervotum BVerfGE 82,106,122,123. 5,3 BVerfGE 82, 106, 118; L R 2 4 - R I E S S , § 153 Rn. 32; K M R 7 - M Ü L L E R , § 153 Rn. 3 f.; K K 3 - S C H O R E I T , 5,1

§ 153 R n . 6; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R ' ' 2 , 594

5,5 596 597

Rn. 31.

§ 1 5 3 R n . 3.

Festschrift Welzel, S . 917, 939; krit. H I R S C H , Festschrift Richard Lange, S . 815, 825. Siehe die in den folgenden Fußnoten Genannten. Nur obiter BVerfGE 50, 205, 214. So deutlich D R E H E R , Festschrift Welzel, S. 917, 939. DREHER,

Vgl.

KK3-SCHOREIT,

§ 153a R n . 16; L R 2 3 - M E Y E R - G O S S N E R ,

§ 1 5 3 a R n . 18; L R 2 4 - R I E S S ,

§I53A

598 BT-Drs. 7/1261, S . 28; D R E H E R , Festschrift Welzel, S . 917, 938 f.; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S . 74; S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S . 122; T S C I I E R W I N K A , Absprachen im Strafprozeß, S. 105. 559 B L A U / F R A N K E , ZStW 96 (1984), 485, 499; F E Z E R , ZStW 106 (1994), 1 , 33; H E R R M A N N , ZStW 96 (1984), 455, 471 f.; K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 74 f.; wohl auch K L E I N K N E C H T / M E Y E R G O S S N E R 4 2 , § 153a Rn. 12: „Unterwerfung unter nichtstrafende Sanktion"; L R 2 4 - R I E S S , § 153a Rn. 2, 10, 14; R I E S S , Festgabe Koch, S. 215, 222; ähnl. S C H Ü N E M A N N , Gutachten Β für den 58. DJT, Bd. I, Β 94 f. S.a. BT-Drs. 7/1261, S. 28 (freiwillig, daher keine Strafe); T S C H E R W I N K A , Absprachen im Strafprozeß, S. 100 Fn. 106. 600 M I E H E , ZStW 104 (1992), 132,136. Ebenso W E I G E N D , KrimJ 1984, 8, 27: nur die Zustimmung rette die Norm vor dem Verstoß gegen die Unschuldsvermutung.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

I20

das Unterlassen eines Einspruchs im Strafbefehlsverfahren verwiesen. 601 Schließlich wird die Unschuldsvermutung auch deshalb für unanwendbar gehalten, weil es sich bei den Auflagen nicht um „Strafe" handele, 602 weil das sozialethische Unwerturteil fehle 603 und die Auflagen nicht zwangsweise durchsetzbar seien, 604 auch wenn die Entwurfsbegründung zur Neufassung von 1974 6 0 5 fälschlich von „Sanktion" spreche, oder weil § 153 a S t P O keine Schuldfeststellung voraussetze und die Unschuldsvermutung sodann keine „Strafe" zulasse 606 . Zuweilen wird § 153 a S t P O als vorgezogene Maßnahme der Resozialisierung gedeutet, zu der wegen der geringen Schwere der Auflagen auch der Staatsanwalt befugt sei. 607 Bisweilen wird eine Begründung mit dem Hinweis ersetzt, das Institut habe sich bewährt. 608 Lediglich ausdrückliche Schuldfeststellungen in den Beschlußgründen verbiete die Unschuldsvermutung. 609 Die teilweise Neufassung des § 153 a Abs. 1 S t P O durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege, 6 1 0 die die Worte „bei geringer Schuld" durch den Teilsatz „und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht" ersetzt, soll nichts daran ändern, daß nur die potentielle Schuld zu prüfen sei, obschon dies nicht deutlich zum Ausdruck k o m m t . 6 1 1 Die Unschuldsvermutung bleibe unwiderlegt. 6 1 2 Dementgegen meint PAULUS, die Unschuldsvermutung stehe Schuldfeststellungen in instanzabschließenden Entscheidungen wie denen der §§ 153 ff. S t P O nicht entgegen, weil sie durch diese widerlegt werde. 6 1 3

ZStW 96 (1984), 455, 471; K O N D Z I E L A , MschrKrim J989, 1 7 7 , 188 Fn. 60; LR24R I E S S , § 153a Rn. 14. Dagegen F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 96 mit nicht verständlicher Begründung, s. G Ö S S E L , G A 1 9 9 0 , 369, 371. Dagegen auch W E I G E N D , KrimJ 1984, 8, 27 Fn. 31 (auf S. 35): im Strafbefehlsverfahren sei die Unschuldsvermutung bereits widerlegt und greife nicht mehr ein, anders bei § 153 a StPO. 602 D R E H E R , Festschrift Welzel, S. 917, 938 f.; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 153a Rn. 2, 12 („strafähnlich"); L R 2 4 - R I E S S , § 153a Rn. 8 f.; D E R S . , Festgabe Koch, S . 215, 218 ff.; S I O L E K , Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 122. A.A. zum Sanktionscharakter K A U S C H , Der Staatsanwalt—Ein Richter vor dem Richter?, S. 50 ff., 55 f. m.w.Nachw.; G R Ü N W A L D , Gutachten für den 50. D J T . , C 18; H I R S C H , Festschrift Richard Lange, S . 815, 824 f.; K O N D Z I E L A , MschrKrim 1 9 8 9 , 1 7 7 , 1 8 2 f.; S C H M I D H Ä U S E R , J Z 1 9 7 3 , 529, 532, 533, 534, 537 (eindeutiger Strafcharakter); TESKE, wistra 1989, 131, 132 f. S.a. BGHSt 28, 174, 176 (strafähnlich). 601

HERRMANN,

603

MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 70; TESKE, wistra 1989,131, 132.

604

DREHER, Festschrift Welzel, S. 917, 938 f.; RIESS, Festgabe Koch, S. 215, 218 ff. BT-Drs. 7/550, S. 298. So auch BGHSt 28, 69, 70. 606 TESKE, wistra 1989, 131, 133. Dieser bemerkenswerte Schluß beruht auf der auch ausgesprochenen Prämisse, daß „Strafe" nur dann vorliegt, wenn die Unschuldsvermutung widerlegt ist. Im definitorischen Handstreich wird so bereichsweise jegliche Diskrepanz zwischen normativem Anspruch der Unschuldsvermutung und Faktizität gelöst, da nur (nicht) ist, was auch stets (nicht) sein darf. Vgl. OGH EvBl. 1980/135 S. 409, 410 und EuGHMR Serie A Nr. 49, S. 18 f. § 40 (.Adolfi = EuGRZ 1982, 297 fF. und die Kritik 605

T R I F F T E R E R S , Ö J Z 1982, 617, 6 2 6 bei F n . 60. 607

GÖSSEL, Festschrift Dünnebier, S. 121,139. R I E S S , Z R P 1983, 93, 99 (systematische und rechtspolitische Bedenken verlören angesichts der Akzeptanz in der Praxis an Durchschlagskraft); dagegen G R Ü N W A L D , StV 1987, 453, 455. 609 K U N Z , Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S . 74. 610 Art. 5 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993, BGBl. I, 50. 611 BT-Drs. 12/1217, S . 24; S I E G I S M U N D / W I C K E R N , wistra 1993, 81, 85 f. 612 BVerfG NJW 1991, 1530, 1531 = MDR 1991, 891; F E Z E R , ZStW 1 0 6 (1994), 1, 33; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 153a Rn. 2; L R 2 4 - R I E S S , § 153a Rn. 9; R I E S S , Festgabe Koch, S. 215, 222. 608

613

PAULUS, N S t Z 1990, 600, 601.

A.II. Bundesrepublik Deutschland

121

Vielfach aber wird § 153 a S t P O für wenigstens rechtsstaatlich bedenklich gehalten, weil er nachteilige Rechtsfolgen an mindere Verdachtsgrade knüpfe, 6 1 4 und daher als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung angesehen 6 1 5 . Ebenso wurde bereits die frühere außergesetzliche Praxis, die Einstellung nach § 153 S t P O von der Erfüllung von Auflagen abhängig zu machen, als Verdachtsstrafe verworfen, weil das Verfahren nicht bis zur Schuldgewißheit gediehen war. 6 1 6 D E N C K E R sieht in der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen nach § 153a S t P O eine Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung: Die Auflagen und Weisungen seien Sanktionen, die Zustimmung des Angeklagten besage nichts über seine Schuld. 6 1 7 K o N D Z i E L A hält der Ansicht, § 153a S t P O knüpfe nicht an eine Schuldfeststellung an, entgegen, daß die Schuldfrage nicht unerheblich sei, da zumindest hinreichender Tatverdacht vorliegen müsse. Daran anzuknüpfen seien aber nur Maßnahmen zur Verdachtsklärung, nicht jedoch der Schadenswiedergutmachung. 6 1 8 Der Bagatellcharakter der Taten sowie die geringe EingrifFsintensität sei ebenfalls nicht geeignet, die Unschuldsvermutung zu relativieren. 619 Ein Verzicht auf die Unschuldsvermutung komme, zumal die Einwilligung kaum ernstlich als freiwillig zu bezeichnen sei, 620 nicht in Frage. 621 K U H L E N begründet die Unvereinbarkeit von § 153 a S t P O mit der Unschuldsvermutung damit, daß die Vorschrift ihrem Sinn nach eine implizite Schuldfeststellung voraussetze. Die Befugnis, dem Beschuldigten Auflagen und Weisungen aufzuerlegen, bedürfe einer Mindestbegründung, die in der Einwilligung nicht liege, sondern in der v o m Bürger begangenen Straftat. A u f die Klassifizierung der Auflagen etc. als Strafsanktionen k o m m e es daher nicht an. 622 Versuche, diese Begründung in der sozialen Provokation 6 2 3 einer möglichen Tat-

614 ALTERNATIV-ENTWURF, Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, S. 6. Zu den geforderten Graden der richterlichen Schuldbeurteilung s. SCHUTH, Die Einstellung unter Auflagen, S. 162 ff., 164. 615

A R Z T , J u S 1974, 693, 695; VOGLER, Z S t W 89 (1977), 7 6 1 , 786; IntKomm/VoGLER, Art. 6

Rn. 438 F.; HIRSCH, ZStW 92 (1980), 218, 233; krit. auch DERS., Festschrift Richard Lange, S. 815, 824; KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 176. Zusammenstellung bei NAUCKE, Gutachten für den 51. DJT. 1976, D 77 ff. Sehr krit. WEIGEND, Krim] 1984, 8, 27. S.a. GRÜNWALD, Gutachten für den 50. DJT, C 18. Kritisch, aber offenlassend KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. in, 116 f. S.a. WEIGEND, Anklagepflicht und Ermessen, S. 184 f. 616

KRÜMPELMANN, Die Bagatelldelikte,

617

DENCKER, J Z 1973, 1 4 4 , 1 5 0 .

618 619 620

S. 228.

KoNDZiELA, MschrKrim 1989,177,182. KoNDZiELA, MschrKrim 1989, 177,183 gegen GÖSSEL, O. Fußn. 607. HIRSCH, Z S t W 92 (1980), 218, 224; IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 438; KAUSCH, Der

Staatsanwalt

- Ein Richter vor dem Richter?, S. 56 ff.; KONDZIELA, MschrKrim 1989,177,184; SCHMIDHÄUSER, J Z 1973, 529, 534; WEIGEND, KrimJ 1984, 8, 26 ff. S. schon HEINITZ, Festschrift Rittler, S. 327, 334: die Abhängigmachung der Einstellung von der Zahlung einer Geldbuße sei eine „rechtswidrige Drohung"; BARTSCH, ZRP 1969, 128, 130. Krit. auch BACKES, KritV 1986, 315, 324. S.a. schon KRÜMPELMANN, Die Bagatelldelikte, S. 228. 621 KONDZIELA, MschrKrim 1989,177, 184 f. 622 KUHLEN, Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 44 f. 623 HÜNERFELD, ZStW 90 (1978), 905, 920.

122

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

begehung zu sehen, genügen nicht.624 Gleiches gelte für §§ 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. ι Ziff. ι JGG. 6 2 5 Auch F R I S T E R verwirft die Einstellung mit Auflagen als mit der Unschuldsvermutung unvereinbar und verfassungswidrig, da sie der Befriedigung des öffentlichen Strafbedürfnisses und damit generalpräventiven Zwecken diene: Weil der einzelne nicht auf den Schutz der Unschuldsvermutung verzichten könne, bliebe nur die Möglichkeit, den Eingriff direkt über seine Einwilligung zu legitimieren. Aber diese zweite Möglichkeit scheide auch aus, da die Einwilligung unter dem Druck der drohenden formellen Bestrafung erteilt werde, mithin nicht freiwillig erfolge und auch nicht nur die bloße Ersetzung eines an sich gerechtfertigten Eingriffes durch einen gleichartigen oder milderen darstelle, zumal zum Zeitpunkt der Einwilligung die staatliche Strafbefugnis noch fehle. Eine Rechtfertigung über die wahrscheinliche Schuld, wie sie implizit häufig zu finden sei, scheitere an der Unschuldsvermutung.626 Daß im Verständnis einer Einstellung nach § 153 a StPO auch in der Justiz tatsächlich noch erhebliche Unsicherheit herrscht, zeigt die Entscheidung des V G H München 627 in einem Verfahren zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Widerruf einer tierärztlichen Approbation: Der V G H begründete die Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs allein mit dem Hinweis auf ein Strafverfahren wegen Verstößen gegen Arzneimittelrecht und Betruges, welches nach § 153 a Abs. 2 StPO gegen Zahlung von D M 100.000 an die Staatskasse eingestellt worden war. Denn die Einstellung nach § 153a StPO setze voraus, daß der objektive Tatbestand eines Vergehens festgestellt sei, nur aus Gründen der Entkriminalisierung und Justizentlastung werde dann auf eine Kriminalstrafe verzichtet. Dieses Verständnis verstoße nicht gegen die Unschuldsvermutung, die verlange, daß niemand ohne sein Einverständnis mit einem Schuldvorwurf belastet werde. Mit der Zustimmung zu einer Einstellung nach § 153 a StPO räume der Betreffende aber den ihm angelasteten Vorwurf Inzident ein: „Niemand wählt nämlich diesen Weg, wenn er nicht gute Gründe dafür hat...". 628 Das Bundesverfassungsgericht hob den Beschluß auf, da eine Einstellung nach § 153 a StPO und die Zustimmungserklärung nichts darüber aussagten, ob der Betroffene die ihm vorgeworfenen Taten begangen habe, also auch nicht, ob der objektive Tatbestand erfüllt sei. Dies folge aus der Unschuldsvermutung, da ein gesetzlicher Nachweis der Schuld nicht vorliege.629 dd) §§ 154, 154 a StPO Verfahrenseinstellungen nach §§ 154,154a StPO sollen ebenfalls nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen, weil das Einstellungsverfahren weder so angelegt noch so ausgeformt

624

KUHLEN, Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 45 f.; HIRSCH, ZStW92 (1980), 218,225 Fn. 28; WEIGEND, KrimJ 1984, 8, 27 Fn. 30 (auf S. 35). Insoweit zustimmend auch MIEHE, ZStW 104 (1992), 132,136. 625 KUHLEN, Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 49 ff. 626 FRISTER, Schuldprinzip, S. 94-97. Dagegen, aber nicht überzeugend, GÖSSEL, GA 1990, 369, 371 (zutr. aber zu FRISTERS Vergleich mit dem Strafbefehl, ibid., S. 96). 627 V G H München N J W 1 9 9 1 , 1 5 6 1 f. 628 V G H München N J W 1 9 9 1 , 1561,1562. 625 BVerfG (2. Kammer/I. Senat) N J W 1991,1530,1531; zust. PFEIFFER/FISCHER, § 153 a RN. 3.

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123

sei, als daß es Schuldfeststellungen erbringen könnte. Mangels rechtskräftigen Urteils gelte die Unschuldsvermutung weiter.630 ee) § 383 Abs. 2 StPO Anders als in § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO n.F. formuliert die analoge Vorschrift für das Privatklageverfahren: „Ist die Schuld des Täters gering...", 631 doch wird dies zumeist in Konformität mit § 153 StPO als hypothetische Schuldfeststellung gelesen632. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gebietet die Unschuldsvermutung diese Auslegung.633 Da die Schuldfrage offen bleibe, habe die Vorschrift vor der Unschuldsvermutung Bestand.634 Das Bundesverfassungsgericht hat für Auslagenentscheidungen nach dieser Vorschrift ebenfalls entschieden, daß Schuldzuweisungen in der Begründung nur nach Durchführung eines gerichtsförmigen Verfahrens mit der Unschuldsvermutung vereinbar seien.635 p)

„Freispruch zweiter Klasse"

Im Jahre

1907

forderte

VARGHA:

Einer loyalen Anerkennung der praesumtio boni viri entspricht es, daß jeder Beschuldigte, dem seine Schuld nicht nachgewiesen wurde, für unschuldig zu halten und demgemäß in einer Weise freizusprechen ist, welche seinen Strafprozeß definitiv erledigt und ihn vollständig rehabilitiert.636

Das Verbot irgendwelcher Zusätze zum Entscheidungsi«zor, die auf den Grund des Freispruchs hinweisen,637 wird auch auf die Unschuldsvermutung gegründet.638 Ebenfalls aus der Maxime gefolgert wird das Verbot, die Freisprechung wieder anderweitig, durch Kostenentscheidungen etc., zu unterlaufen.639 Insbesondere wird die Zulässigkeit bestritten, fortbestehende Verdachtsgründe in den XJïtéAsgriinden gem. § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO auf-

630 OLG Bamberg StV 1981, 40z f.; A P P L , Die strafschärfende Verwertung, S. 169 f.; NStZ 1984, 289, 291. 631 Kritisch K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 109. 632

KK3-PELCHEN,

§ 383

RN. 10;

KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42,

§ 383

HABERSTROH,

RN. 12;

LR24-WEN-

D I S C H , § 3 8 3 R n . 2 2 , 35. i33

BVerfGE 74, 358, 373. Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 119. 635 BVerfGE 74, 358, 370 ff. m. abl. Anm. K R E H L , N J W 1988, 3254 f.; BVerfG NStZ 1988, 84; ebenso K K 3 - P F E I F F E R , Einl. Rn. 32a; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , Art. 6 M R K Rn. 12; § 383 Rn. 12; 634

KÜHL,

L R 2 4 - W E N D I S C H , § 383 R n . 2 2 , 35.

Der V G H München sieht den entscheidenden Unterschied zu § 153 a StPO in dem fehlenden Zustimmungserfordernis, N J W 1991,1561,1562: ein Schuldvorwurf dürfe ohne Einverständnis des Betroffenen nur nach einem justizförmigen Verfahren erhoben werden, gegen diese Auffassung BVerfG (2. Kammer/l. Senat) NJW 1991, 1530, 1531. 2 636 V A R G H A , Strafprozessrecht , S . 41 (Hervorh. im Original). 7 637 K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 260 Rn. 17; KMR -Paulus, § 260 Rn. 21; K K 3 - H Ü R X T H A L , § 260 Rn. 25; LR u -Gollwitzer, § 260 Rn. 33 m.w.Nachw.; K Ü H N E , Strafprozeßlehre4, Rn. 604; P E T E R S , Strafprozeß*, § 52 I I I 2, S . 474; S C H L Ü C H T E R , Strafverfahrensrecht1, Rn. 584.3. 638 F E Z E R , Strafprozeßrecht I I , Tz 17/106. 639 G R O P P , J Z 1991, 804, 806; H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S . 69; E B . S C H M I D T , Lehrkommentar, Nachtragsband II (1970), § 467 Rn. 4.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

124

zuführen, 6 4 0 da ein solcher „Freispruch zweiter Klasse" strafähnliche Wirkungen habe 641 und es sich funktional um eine Verdachtsstrafe 642 handele oder um einen der Instanzentbindung ähnlichen Schwebezustand 643 . Der in der Beschränkung des Freispruchs liegende Tadel sei außerdem ein zum Schutz der Gemeinschaft nicht notwendiger 644 Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht 645 des Angeklagten. Ebenso wurde die frühere Form des Freispruchs mangels Beweises mit der Folge der Verweigerung der Kostenerstattung als mit der Unschuldsvermutung unvereinbar bekämpft. 6 4 6 Stattdessen wurden ein Verzicht auf jegliche Begründung, 6 4 7 Formulierungen wie „ D i e Klage wird (als unzulässig/unbegründet) abgewiesen" 648 oder „Freispruch wegen unwiderlegter Unschuldsvermutung" 6 4 9 vorgeschlagen oder eine Begründungspflicht, die erst mit der Anfechtung des Freispruchs durch die Staatsanwaltschaft einsetzte, die auch nach Schwere des Anklagevorwurfs gestaffelt werden könnte 650 . Freilich fanden sich Gegner dieser Vorschläge, die eine Nivellierung aller Freisprüche als Eingriff in das Rehabilitierungsrecht der wegen erwiesener Unschuld Freigesprochenen ansahen. 651 Erst 1968 wurde auch die kostenrechtliche Differenzierung zwischen den Freisprüchen beseitigt 652 unter ausdrücklichem Bezug auf die Unschuldsvermutung. 6 5 3 Das Bundesverfassungsgericht hat die unterschiedlichen Freispruchsformen zwar für zulässig erklärt, aber

640

PETERS, G u t a c h t e n C f ü r den 52. D J T . , C 60; DERS., Strafprozef?,

§ 52 I V 5, S . 481 f.; DERS., Die

strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, S. 29 Fn. 62 (aufS. 29); KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung,

S. 25 ff., 29; DERS., N J W 1984, 1 2 6 4 , 1 2 6 8 ; SCHWENK, N J W i960, 1932, 1933; WIMMER,

ZStW 80 (1968), 369, 374 ff. Tendenziell ähnlich GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 26. Vgl. den früheren § 244 Abs. 1 Satz 4 StPO-DDR: „Formulierungen, welche die Unschuld des Freigesprochenen in Zweifel ziehen, sind unzulässig". 641 FEZER, StrafprozeßrechtW, Tz 17/133. 642 ARZT, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten, Fn. 2 auf S. 100. 643 H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 13 f., 58; KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 26 f. 644 H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 69; ähnl. KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 25 ff. (nicht unvermeidlich). 645 H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 71; s.a. HENRICHS, MDR 1956,196,198 ff. 646 H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 67 ff, 74 f.; HOEFERMANN, Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 101 f.; REIFENRATH, Festschrift Wassermann, S. 489, 490; EB. SCHMIDT, N J W 1 9 6 3 , 1 0 8 1 , 1 0 8 8 f.; TIEDEMANN, G A 1964, 353, 376 Fn. 124; WIMMER, Z S t W 80 (1968),

369 ff, 374 ff. Krit. auch KUNZ, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 75 Fn. 106. 647 H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 73 ff., 107; HENRICHS, MDR 1956,196, 200. 648 EB. SCHMIDT, NJW 1963,1081,1089; dazu KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 67. 645 ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 56; WIMMER, ZStW 80 (1968), 369, 376 f.; dazu KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 65 f. 650 KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 71 f. 651 Vgl. die Vorlage in BVerfGE 25, 327, 330 f. Nachw. bei KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 68 f. 652 Mit dem StPÄG 1964 v. 19.12.1964, BGBl 1,1067 und Änderung des § 467 Abs. 2 a.F. StPO durch Art. 2 EGOWiG vom 24.5.1968, BGBl. I, 503. H3 Bericht zu BT-Drs. V/2600/2601, S. 19 ff. Dazu SCHÄFER, Strafprozeßrecht, Einl. Kap. 3 Rn. 81.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

125

auch zugestanden, daß der Verzicht auf Aussagen über fortbestehenden Verdacht der Unschuldsvermutung tendenziell besser gerecht werde.654 q) Ausschluß von Rechtsmitteln gegen freisprechende Urteile Nach K N O C H E bedeutet der (erstinstanzliche) Freispruch, daß die Unschuldsvermutung im Hauptverfahren nicht widerlegt werden konnte, so daß sich alle weitere Maßnahmen, die eine Verurteilung zum Ziel haben, wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot verböten, da der urspiinglich vorhandene Tatverdacht keine ausreichende Bestätigung gefunden habe. Rechtsmittel und Wiederaufnahmeverfahren gegen freisprechende Urteile erster Instanz wären daher unzulässig.655 Doch trägt der von ihm herangezogene Art. 6 Abs. 2 EuMRK diese Folgerung schwerlich, da der Tatverdacht seine endgültige Bestätigung oder Widerlegung erst mit Verfahrensabschluß findet. Diesen schon mit dem Abschluß der ersten Instanz anzusetzen, läuft auf eine petitio principii hinaus. Das Verhältnismäßigkeitsgebot wäre nur tangiert, wenn jegliche höhere Instanz ungleich schlechtere Chancen zur Verwirklichung der Prozeßzwecke böte und mit ungleich höheren Belastungen einherginge. r)

Kosten- und Auslagenlast bei Einstellung, Freispruch und Tod des Beschuldigten, Versagung der Entschädigung für Untersuchungshaft

Einer der „Nebenschauplätze",656 auf denen die Unschuldsvermutung am meisten diskutiert wird, ist das Kostenrecht. Ganz überwiegend wird die Überbürdung von Kosten auf den unschuldigen bzw. nicht verurteilten Angeklagten nicht als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung betrachtet, da diese eine Entschädigung des nicht verurteilten Beschuldigten oder Angeklagten nicht verlange.657 Jüngste Urteile bestätigen, daß in der Versagung von Auslagenersatz allein keine Strafe oder strafähnliche Sanktion liege, da es schon am sozialethischen Unwerturteil fehle.658 Das Bundesverfassungsgericht hat in der früheren Differenzierung in der Auslagenentscheidung nach Freispruch wegen erwiesener Unschuld und man-

654

BVerfGE 25, 327, 331. Ebenso FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 561.

655

K N O C H E , D R I Z 1 9 7 2 , 26; abl. K Ü H L , Unschuldsvermutung,

Freispruch

und Einstellung,

S . 64.

6%

ULSAMER, Festschrift Zeidler, Band II, S. 1799,1810. 657 E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 3, 24 § 59 (Lutz) = E u G R Z 1987, 399, 403; Serie A Nr. 123, S. 40, 54 § 36 (Englert) = E u G R Z 1987, 405, 408 f.; Serie A Nr. 123, S. 64, 79 § 36 (Nölkenbockhoffi = E u G R Z 1987, 410, 413; E u K M R 9531/81, D R 31, 213, 213 f.; 10107/82, D R 48, 35, 42; 9037/80, D R 24, 221, 223; BVerfGE 68, 237, 251 f. (allerdings ohne Bezug auf die Unschuldsvermutung); B G H S t 34,184,188; B G H N J W 1 9 7 5 , 1829, 1831; O L G Celle N J W 1971, 2181, 2182; O L G Hamburg N J W 1983, 464, 465; K G G A 1974, 79, 81; O L G Köln N J W 1991, 506, 507; HERRET, Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 95, 107; KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 1 4 , 1 9 , 1 2 0 ; DERS., J R 1 9 7 8 , 94,100; DERS., N J W 1 9 7 8 , 9 7 7 , 9 7 9 ; D E R S . , N S t Z 1982, 481, 482; DERS., N S t Z 1 9 8 7 , 338; F R O W E I N / P E U K E R T ,

EMRK-

Kommentar, Art. 6 RN. 115; KÜHNE, StrafprozeßlehreA, Rn. 572.2; LR 24 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 154; T I E D E M A N N , G A 1 9 6 4 , 353, 3 7 6 F n . 1 1 4 ; D E R S . , M D R 658

1964, 971, 974.

In der Verweigerung der Auslagenerstattung sehen keine strafähnliche Maßnahme: E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 3, 26 § 63 (Lutz) = E u G R Z 1987, 399, 403; Serie A Nr. 123, S. 40, 55 f. § 40 (Englert) = E u G R Z 1987, 405, 409; Serie A Nr. 123, S. 64, 81 § 40 (Nölkenbockhoffi = E u G R Z 1987, 410, 413; B G H Z 64, 347, 353; O L G Celle N J W 1971, 2181, 2182; O L G Frankfurt N J W 1980, 2031; O L G Hamburg N J W 1983, 464; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 70.

126

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

gels Beweises keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung erblickt.659 Anders könne es aber bei Uberbürdung der Gerichtskosten und Auslagen des Privatklägers sein, die obendrein mit Schuldzuweisungen begründet wird.660 Die Grundregel des § 467 Abs. 1 StPO661 wird gleichwohl als Ausprägung der Unschuldsvermutung verstanden662 und wurde vom Gesetzgeber663 auch so begründet. Dementgegen wird die Kosten- und Auslagenbelastung des nicht verurteilten Beschuldigten unter verschiedenen Aspekten unter Heranziehung der Unschuldsvermutung kritisiert. Zum einen wird die Kostenlast grundsätzlich abgelehnt: Gelingt der Schuldbeweis nicht restlos, so muß sich nach E B . S C H M I D T die Unschuldsvermutung durchsetzen mit allen Konsequenzen, so daß der Angeklagte aus dem Verfahren ohne jeden Nachteil hervorgehen müsse, es sei denn, er ziehe durch schuldhaftes Verhalten im Prozeß solche Kostennachteile selbst auf sich.664 Auch F R I S T E R folgert aus der Unschuldsvermutung ein grundsätzliches Entschädigungsgebot, da die Inanspruchnahme des Beschuldigten zur Strafverfolgung ein prinzipiell entschädigungspflichtiges Sonderopfer sei.665 Die bei Entschädigungsund Aufopferungsansprüchen sonst anwendbaren Einschränkungs- und Ausschlußtatbestände wie z.B. Mitverschulden seien daher ebenfalls anwendbar.666 Zum anderen wird entweder auf den sanktionsähnlichen Charakter der Kostenpflicht verwiesen, sei es durch die Maßnahme selbst oder ihren Gebrauch in der Praxis, oder auf die Begründung der Kosten- und Auslagenentscheidung abgehoben. So wird in der Kostenlast eine Verdachtsstrafe neuer Art erblickt,667 so wie schon früher auf den Zusammenhang

659 BVerfGE 22, 254, 265. Für unbedenklich unter Art. 6 Abs. 2 EuMRK auch F R O W E I N , Festschrift Hans Huber, S. 553, 561; H O E F E R M A N N , Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 110 f., weil die Unschuldsvermutung nach der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der Vertragsstaaten insoweit eingeschränkt sei; anders daher de lege ferenda, ibid. S. 112 ff. 660 BVerfGE 82, 106, 119; 74, 358, 375 f.; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 M R K Rn. 153. A.A. P E U K E R T , EuGRZ 1980, 247, 262. 661 Eingeführt durch Art. 2 Nr. 25 EGOWiG v. 24.5.1968, BGBl. 1968 I, 503. 662 O L G Frankfurt NJW 1982, 1891, 1892; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 467 Rn. 1; K M R 8 P A U L U S , § 467 Rn. 4; R Ü P I N G , ZStW9i (1979), 351, 358; R Ü P I N G , Rev.int.dr.pén. 49 (1978), 323, 329. 663 BT-Rechtsausschuß BT-Drs. V/2600/2601 S. 19 ff., 21; 10/6124, S. 16. Dazu BVerfG (2. Kammer/ 2. Senat) N J W 1993, 997, 998 f.; K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 125 ff.; LR 24 -

H I L G E R , § 4 6 7 R n . 51 ff. 664 E B . S C H M I D T , Lehrkommentar, Nachtragsband II (1970), § 467 Rn. 4 (s. aber Rn. 21, wo er § 467 Abs. 4 inklusive des Abstellens auf Verdachtserwägungen für zulässig hält); zust. K U N Z , Bagatellprinzip, S. 76 f.; P F L Ü G E R , Der Tod des Beschuldigten, S. 137 f.; D E R S . , GA 1992, 20, 33 f.; D E R S . , NJW 1988, 675, 678. S.a. J U N G , JuS 1987, 157, 159. Ähnlich schon V O N H I P P E L , Der deutsche Strajprozeß, S. 690 (generell abl. gegenüber Kostenlast des Bürgers). 665 Dazu oben S. 82 bei Fußn. 292. 666 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 120 ff. Ähnlich K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 131; D E R S . , NStZ 1987, 338, 339; K Ü H N E , Straftrozeßlehre*, Rn. 604.1; P F L Ü G E R , Der Tod des Beschuldigten, S . 145 f.; D E R S . , GA 1992, 20, 28; L R 2 3 - S C H Ä F E R , Vor § 464 Rn. 22 (Aufopferungscharakter folgt aus der Unschuldsvermutung). 667 B A U M A N N , G A 1957, 405 u. ff.; S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 26; K U N Z , Bagatellprinzip, S. 76; A R Z T , Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten, S. 100 Fn. 2. In praxi wird sie wohl zur Verteilung eines „Denkzettel" mißbraucht, K Ü H L , NJW 1980, 1834, 1835; D E R S . , NStZ 1981, 114,115.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

127

v o n Instanzentbindung u n d Kostenauflage hingewiesen wurde 6 6 8 . Abgestellt w i r d dabei a u f die faktische S a n k t i o n s w i r k u n g der Kostenaufbiirdung bzw. verweigerter Auslagenerstattung, 6 6 9 w o g e g e n eingewandt wird, man müsse a u f die Z w e c k r i c h t u n g der M a ß n a h m e 6 7 0 bzw. die m i t ihr verbundene sozialethische M i ß b i l l i g u n g 6 7 1 abheben, w o n a c h die V e r w e i g e rung v o n K o s t e n - u n d Auslagenersatz keine Strafähnlichkeit aufweise. A u s der U n s c h u l d s v e r m u t u n g w i r d hingegen gefolgert, daß eventuell fortbestehender Verdacht keinen A n k n ü p f u n g s p u n k t für eine nachteilige Kostenfolge darstellt. 6 7 2 N a c h K Ü H N E sind nur zwei Möglichkeiten „argumentativ sauber": entweder m a n zieht sich auf den formalen S t a n d p u n k t zurück, daß Kosten eben keine formalen Strafsanktionen seien, oder m a n v e r w i r f t die bestehenden Regelungen wegen Verstoßes gegen die U n schuldsvermutung, da belastende Kostenentscheidungen n o t w e n d i g

Schuldzuweisungen

enthielten. 6 7 3

aa) § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO § 4 6 7 A b s . 3 Satz 2 N r . 2 S t P O w u r d e 1 9 6 8 eingefügt vor allem mit d e m M o t i v , bei Prozessen gegen N S - V e r b r e c h e r , denen M o r d nicht mehr nachzuweisen w a r u n d deren Taten nach anderen Tatbeständen w i e Totschlag wegen Verjährung nicht mehr geahndet werden konnten, die Auslagen nicht der Staatskasse überbürden zu müssen. 6 7 4 I m Gesetz hat diese Vorstellung allerdings keinen A u s d r u c k g e f u n d e n . 6 7 5 Eine allgemeine Unbilligkeitsklausel w u r d e hingegen abgelehnt. 6 7 6

668 LEUE, Der mündliche Anklageprozeß, S. 169. Die Instanzentbindung ging regelmäßig mit der Kostentragungspflicht einher, vgl. nur das badische Strafedikt vom 4.4.1803, § 617, zit. nach ALLMANN, Außerordentliche Strafe und Instanzentbindung, S. 66 ff, 68 Fn. 49. 665 Ganz deutlich etwa O L G Frankfurt N S t Z 198z, 480 f. („Sanktion minderen - finanziellen - Grades"). S.a. FONTES, G A 1955, 40, 41. MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 70. SCHUBARTH weist auf die Gleichsetzung von Geldstrafe und Kostentragungspflicht in der Öffentlichkeit hin, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 26; ebenso PFLÜGER, Der Tod des Beschuldigten, S. 137; DERS., G A 1992, 20, 33; a.A. KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 120.

Nach LR 24 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K Rn. 153, weist der Kostenausspruch jedenfalls in Verbindung mit einem Ausspruch über nicht bewiesene Schuld stigmatisierende Wirkung auf. I70

T L E D E M A N N , G A I 9 6 4 , 353, 375.

671

K Ü H L , Unschuldsvermutung,

Freispruch

und Einstellung,

S. 120; DERS., J R 1978, 94, 1 0 0 ;

DERS.,

N J W 1 9 8 4 , 1 2 6 4 , 1 2 6 7 f. Zust. LAUBENTHAL/MITSCH, N S t Z i 9 8 8 , 1 0 8 , 1 1 3 ; PFLÜGER, Der Tod des Beschuldigten, S. 135 f., s. aber S. 137, wo es heißt, daß zwischen Geldstrafe und Kosten in der Öffentlichkeit nicht unterschieden werde, woraus wohl auf eine faktische Verletzung der Unschuldsvermutung geschlossen wird. Ebenso DERS., G A 1992, 20, 31, 32 und 33. Nach KÜHNE, Strajprozeßlehre4, Rn. 572.2, kann in einer negativen Kostenentscheidung durchaus der Ausdruck sozialethischer Mißbilligung gesehen werden. 672

T I E D E M A N N , G A 1 9 6 4 , 353, 3 7 6 F n . 1 2 4 ; D E R S . , M D R 1 9 6 4 , 9 7 1 , 9 7 4 ; K U N Z , Bagatellprinzip,

673

S. 76.

KÜHNE, Strafprozeßlehre*, Rn. 572.2 iE, 572.4. 674 BT-Prot. 5. Wahlperiode, 173. Sitzung, Band 67, S. 9250. (173. Sitzung): „Der Vermittlungsausschuß war aber der Auffassung, daß die Öffentlichkeit kein Verständnis dafür hat, wenn der Staat einem Verbrecher (!), der nur aus rein formellen Gründen nicht verurteilt werden kann, auch noch die Anwälte bezahlt, vor allem in derartigen Fällen." Zust. PEUKERT, E U G R Z 1980, 247, 262. S.a. LR 2 4 -HILGER, § 467 Rn. 51 f.; LIEMERSDORF/MIEBACH, N J W 1 9 8 0 , 371, 372 Fn. 14; BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1 9 9 3 , 997, 998 f.; O L G Zweibrücken N S t Z 1987, 425; K G N J W 1994, 600 f. 675

O L G H a m b u r g M D R 1 9 7 2 , 3 4 4 ; L R M - H I L G E R , § 4 6 7 R n . 57.

676

Dazu BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N J W 1993, 997, 999.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

128

Entsprechend dem Wortlaut der N o r m wird für die Anwendung unterschieden zwischen der das Ermessen eröffnenden Verurteilungsprognose („wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird") und den das Ermessen leitenden Gesichtspunkten („Das Gericht kann davon absehen...,"), so daß die Feststellung der Voraussetzung der Ermessensfreiheit nicht zugleich als G r u n d für die Versagung der Auslagenerstattung genügen könne. 6 7 7 Diese Unterscheidung wird aber in der Diskussion um die Vereinbarkeit der Vorschrift mit der Unschuldsvermutung sowohl v o m Bundesverfassungsgericht als auch den ordentlichen G e richten sowie der Literatur regelmäßig nicht aufgenommen. Es ist nicht stets deutlich, ob es um die Prognose als Tatbestandsvoraussetzung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO 6 7 8 geht oder als ermessensleitenden Aspekt 6 7 9 . So wird für die Auslegung der herrschenden Meinung als ermessensleitender Gesichtspunkt eben jene Verurteilungsprognose reklamiert, 680 wobei umstritten in der Judikatur sei, ob die Verurteilung mit Sicherheit zu erwarten gewesen sein muß 6 8 1 oder bereits verbleibende Verdachtserwägungen hinreichen 682 . Das Bundesverfassungsgericht hat beide Auslegungen für unbedenklich gehalten: Bei der Auffassung, die auf die Sicherheit der Verurteilung abstellt, müsse allerdings die Hauptverhandlung zur Einhaltung der Unschuldsvermutung bis zur Schuldspruchreife gediehen sein, ehe in der Begründung der Auslagenentscheidung Schuld festgestellt werden könne. Bei der zweiten Auffassung, die lediglich eine Verdachtslage beschreibt und bewertet, könne die Auslagenentscheidung hingegen auch vor Schuldspruchreife getroffen werden. 6 8 3 Diese Auslegung der Vorschrift wird von anderen als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung betrachtet, 684 da sie an die Begehung einer Straftat ohne deren rechtskräftige Fest-

677

L R 2 4 - H I L G E R , § 4 6 7 R N . 57; K K 3 - S C H I M A N S K Y , § 4 6 7 R n . 1 0 a f . ; K M R ' - P A U L U S , § 4 6 7 R n . 3 7 .

Ähnl. KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER 4 2 , § 467 R n . 16 ff. 678

Das BVerfG NStZ 1992, 289, 290 sowie KG NJW 1994, 600 sprechen z.B. von den „Tatbestandsvoraussetzungen". Nach LR24-HILGER, § 467 Rn. 55, hätte aber die Prognose allein keine nachteiligen Folgen für den Angeschuldigten, behandele ihn nicht als Schuldigen und sei nicht strafähnlich. Ähnl. wohl KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER42, § 467 Rn. 16 a.E. 675

Darauf scheinen alle Vorschläge abzuzielen, die die Verfassungsmäßigkeit der Norm damit retten wollen, daß das prozessuale Verschulden des Angeschuldigten etc. als Ermessenskriterium substituiert werde, s.u. bei und in Fn. 694 u. ff. 680 Vgl. nur BVerfG (2. Kammer/2. Senat) NStZ 1992, 289, 290. 681 KG NJW 1994, 600 f. (Sicherheit); OLG Köln StV 1991,115,116 f. = NJW 1991, 506, 507 (praktisch nur bei Geständnis); OLG Zweibrücken NStZ 1987, 425 f. (Schuld muß geklärt sein); OLG Hamm NJW 1986, 734, 735; OLG Hamburg NJW 1971, 2183, 2184; NJW 1969, 945 f.; BayObLG NJW 1970, 875. W. Nachw. bei KUSCH, NStZ 1987, 426, 428 Fn. 25 u. 26. Hinzuweisen ist darauf, daß viele Judikate ohne weiteres so gelesen werden können, daß sie nur die Tatbestands-, d.h. Ermessensvoraussetzungen betreffen. Jedenfalls die Literatur formuliert so: LR 2 3 -SCHÄFER, § 467 Rn. 56; KK 3 -SCHIMANSKY, § 467 Rn. 10a; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 4 6 7 R n . 16. 682

OLG Karlsruhe JR1981, 38, 39; LG Darmstadt MDR1988, 885 (obiter). BVerfG NStZ 1992, 289, 290; BVerfG (i.Kammer/i. Senat) NJW 1992, 1612 f. = StV 1993, 138 f.; 2011 f.; zust. BVerfG (2. Kammer/2. Senat) NJW 1993, 997, 999. Zur Zulässigkeit von Verdachtserwägungen s.a. BVerfGE 22, 254, 263 ff. zu § 467 Abs. 2 Satz 1 StPO a.F.; OLG Köln StV 1991, 115, 116 f. Gegen diese Judikatur KMR8-PAULUS, § 467 Rn. 37, 43. 683

684

HERRET, Verfahrensbeendigung,

Kostentragung und Entschädigung,

S. 92 u. ff.; KÜHL, N J W 1978,

9 7 7 . 9 7 8 ; D E R S . , J R 1 9 7 8 , 9 4 , 98 f . ; L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , N J W 1 9 8 0 , 3 7 1 , 3 7 4 ;

Art. 6 Rn. 442 f.

IntKomm/VoGLER,

A.II. Bundesrepublik Deutschland

129

Stellung anknüpfe 6 8 5 . Z . T . wird darauf abgehoben, daß die Kostenentscheidung dem Angeklagten „so nebenbei bestätigt, daß er mit hoher Wahrscheinlichkeit schuldig sei" 686 . Wegen der sozialethischen Diskriminierung 6 8 7 oder der gesellschaftlichen und beruflichen Folgen für den Betroffenen, die eine solche „Schuldwahrscheinlichkeitsfeststellung" habe, 688 sei sie als strafähnlich anzusehen. 689 Die Vorschrift müsse daher so ausgelegt werden, daß es auf eine Verurteilungsprognose nicht mehr ankomme, sondern z.B. auf das prozeßwidrige Verhalten des Angeklagten. 6 9 0 LIEMERSDORF und MIEBACH haben vorgeschlagen, der Richter solle in der Begründung keine Ausführungen zur Möglichkeit einer Verurteilung, sondern nur zur Möglichkeit eines Freispruchs machen, 691 was aber zutreffend als bloß kosmetische Maßnahme abgelehnt wird, da es an der Prognose nichts ändere 692 . Nach FRISTER intensiviert dieser Vorschlag den Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nur, die allein durch rechtskräftiges Urteil widerlegt werden könne. 693 KÜHL hält die Vorschrift nicht für verfassungswidrig, da sie so ausgelegt werden könne, daß auf das Prozeßverhalten des Beschuldigten oder seine Verantwortlichkeit für das Entstehen des Verfahrenshindernisses abgestellt werden könne. 694 Dennoch fordert er die Streichung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Abs. 3 (ebenso wie § 467 Abs. 4 und § § 3 , 6 , Abs. 1 Satz 2 2. Alt. S t r E G ) , da die gerichtlichen Annexentscheidungen häufig Verdachts- und Schuldwahrscheinlichkeiten zur Leitlinie der Ermessensausübung machten. 695 LIEMERSDORF und MIEBACH halten die Vorschrift ebenfalls aufrecht mit der Erwägung, sie sei nach Sinn und Zweck so auszulegen, daß sie alle Fälle erfasse, in denen ein non liquet bestehe und die nicht durch die übrigen Absätze des § 467 S t P O erfaßt seien. 696 KUSCH sieht die straf-

685 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 122 ff.; I n t K o m m / V o G L E R , Art. 6 R n . 443; L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , NJW1980, 371, 374. S.a. allg. A P P L , Die strafichärfende Verwertung, S. 176. 686 K Ü H L , JR 1978, 94, 98; D E R S . , NJW 1978, 977, 980; D E R S . , NStZ 1982, 480 f. 687 K Ü H L , S. vorige Fußn. 688 Nämlich Verlust des Arbeitsplatzes, Mindereinkommen wegen Wechsels des Berufs oder Arbeitsplatzes, Schließung des Gewerbebetriebs nach § 35 GewO etc., s. H E R R E T , Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 71, 94. 689 H E R R E T , Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 94; K Ü H L , JR1978, 94, 98; IntK o m m / V o G L E R , Art. 6 Rn. 445. A.A. L R 2 4 - H I L G E R , § 467 Rn. 55. Für F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 123, liegt hierin allenfalls eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, für die Unschuldsvermutung komme es auf die Versagung der Entschädigung aufgrund Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz an. 650 So H E R R E T , Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 96. 691

692

L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , N J W 1980, 371, 373.

IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 443; H E R R E T , Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 97; OLG Hamm NJW 1986, 734, 735. 693 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 123. 694 K Ü H L , NJW 1978, 987, 980; D E R S . , NStZ 1981,114,115; D E R S . , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S . 128 f.; D E R S . , NJW 1984,1264,1268; D E R S . , NJW 1988, 3233, 3238. S.a. IntKomm/VoGLER, Art. 6 R n . 4 6 0 ; L R 2 4 - H I L G E R , § 4 6 7 Rn. 57; K K 3 - S C H I M A N S K Y , § 4 6 7 R n . 1 0 b ;

KLEINKNECHT/MEYER-

G O S S N E R 4 2 , § 4 6 7 R n . 18.

OLG Köln StV 1991,115,117 stellt sowohl auf hypothetische Verurteilung als auch prozessuales Fehlverhalten ab. 695 K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 133 f.; D E R S . , NStZ 1981,114,115; D E R S . , NJW 1984,1264,1268; D E R S . , NJW 1988,3233, 3238; ähnl. B E S T E , Die Kostenlast im Strafprozeß, 1988, S. 35 f. 696

L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , N J W 1980, 371, 373.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

I30

rechtliche Schuld erst als hinreichend geklärt - sei die Schuld nicht geklärt, so erfolge die Einstellung eben nicht „nur" wegen eines Verfahrenshindernisses - an durch rechtskräftige Feststellung und will die Vorschrift auf die wenigen dann noch in Frage kommenden Fälle beschränken. 697 PFLÜGER will die Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers auf Verfahren über nationalsozialistische Gewalttaten beschränken, im übrigen sei sie wegen Perplexität nichtig. 698 N a c h FRISTER ist hingegen eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift ausgeschlossen, da der Gesetzgeber bewußt eine Versagungsmöglichkeit für die Fälle schaffen wollte, in denen es, wie der Wortlaut der Vorschrift deutlich macht, „nur" wegen des Verfahrenshindernisses nicht zur Verurteilung kommt. Das Kriterium der Verurteilungswahrscheinlichkeit könne nicht durch neue Versagungsgründe wie prozessuales Verschulden ersetzt werden, dies sei Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. 699 bb) $467

Abs. 4 StPO

Bei Ermessenseinstellungen nach § § 153 ff. S t P O stellt § 4 6 7 Abs. 4 S t P O die Kostenverteilung ebenfalls in das Ermessen des Gerichts. Ermessensleitend darf nach ständiger Rechtsprechung vor allem die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung sein, 700 weil sonst eine sinnvolle A n w e n d u n g des Gesetzes nicht möglich sei 701 . Dort, w o der Angeschuldigte seine Z u stimmung zur Einstellung gegeben habe, verstoße eine Auferlegung der Kosten auf ihn nicht gegen die Unschuldsvermutung. 7 0 2 Dieser Auffassung sind auch der E u G H M R und C57 KUSCH, N S t Z 1987, 426,427 f. Die verbliebenen Fälle sind die der Aufhebung eines Urteils im Strafausspruch durch das Revisionsgericht und die Einstellung in der Hauptverhandlung wegen ne bis in idem. M

P F L Ü G E R , N J W 1 9 8 8 , 6 7 5 , 6 7 8 m . F n . 25.

Schuldprinzip, S. 125 gegen die Bewertung von K Ü H L , Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 125 ff., und L I E M E R S D O R F / M I E B A C H , N J W 1 9 8 0 , 371, 373, es bleibe Raum für die Berücksichtigung prozessualen Verschuldens. FRISTERS Formulierung beruft sich zwar auf Wortlaut und Willen des Gesetzgebers, wird diesen aber nach der oben dargelegten Unterscheidung von Ermessensvoraussetzungen und Gründen der Ermessensausübung nicht gerecht: Ist die Verurteilungswahrscheinlichkeit Voraussetzung für die Versagungsmöglichkeit, so besagt dies noch nichts über die Gründe, aus denen das Gericht für eine Versagung optieren kann. Prozessuales Verschulden etc. sind also diskutable Auslegungsmöglichkeiten und daher beileibe nicht dem Gesetzgeber vorbehalten. Der Rechtsausschuß des Bundestages hat in seiner Begründung zur heutigen Fassung des § 467 StPO im übrigen mehrheitlich die Auffassung vertreten, daß ein rechtfertigender Grund für die Kostenbelastung des Angeklagten allein in seinem prozessualen Verhalten erblickt werden könne, zu BT-Drs. V/2600/2601, S. 21 re. Die Fragestellung zur Vereinbarkeit der Norm mit der Unschuldsvermutung wäre folglich richtigerweise eine doppelte: 1. Darf eine Ermessensentscheidung überhaupt an eine Verurteilungsprognose anknüpfen? 2. Wenn ja, darf die Ermessensentscheidung erneut auf die Verurteilungswahrscheinlichkeit abstellen? So schon LR 23 -SCHÄFER, § 456 RN. 56, LR 24 -HILGER, § 467 RN. 55, 57, der die erste Frage bejaht und die zweite verneint; ihm folgend die neuere Kommentarliteratur: KK3-SCHIMANKSY § 467 Rn. 10a, 695

FRISTER,

1 0 b ; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 4 6 7 R n . 1 6 ff.; K M R 8 - P A U L U S , § 4 6 7 R n . 3 7 , 3 2 . 700

O L G Hamm N J W 1969,1448; O L G Celle M D R 1 9 7 0 , 439 (aber nur bei Überzeugung von der Tat, sonst Verstoß gegen die Unschuldsvermutung); OLG Hamburg M D R 1970, 695, 696; O L G Frankfurt N J W 1980, 2031; LG Mannheim N J W 1 9 7 1 , 2319; LG Karlsruhe AnwBl. 1972, 328 f.; LG Köln AnwBl. 1972, 2 3 8 f . ; L G F l e n s b u r g G A 1 9 8 5 , 3 2 9 ff.; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , § 4 6 7 R n . 1 9 ;

LR23-SCHÄFER,

§ 467 Rn. 67; S C H Ä T Z L E R , StrEG2, § 3 Rn. 17; B E I T L I C H , N S t Z 1988, 490; S C H M I D , J R 1 9 7 9 , 222, 222. 701 O L G Frankfurt N J W 1980, 2031. 702 B G H N J W 1975, 1829, 1831; O L G Frankfurt N J W 1980, 2031 f., zust. G Ö H L E R , OWiG", §47 R n . 45;

HABERSTROH,

NStZ

1984, 289, 294;

KK3-PFEIFFER,

Einl. R n . 32a;

KLEINKNECHT/MEYER-

Α. II. Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfassungsgericht, welche eine Verletzung von A r t . 6 A b s . 2 E u M R K allenfalls durch Schuldfeststellungen in den Entscheidungsgründen ohne vorherigen N a c h w e i s für möglich halten. D i e Formulierung einer Verdachtslage, d.h. die Bewertung der Stärke des verbleibenden Tatverdachts, sei unschädlich. 7 0 3 Z u n e h m e n d werden auch hier Verdachtserwägungen und Schuldbekundungen für unzulässig gehalten wegen ihrer objektiv strafähnlichen Wirkung. 7 0 4 Jedenfalls für die Fälle der Einstellung nach § § 154, 1 5 4 a S t P O 7 0 5 ohne Z u s t i m m u n g des Beschuldigten sehen einige Autoren darin einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, die nicht im Rahmen einer Annexentscheidung widerlegt werden könne. 7 0 6 Stattdessen müsse auf andere Kriterien ausgewichen werden, z.B. das prozessuale Verhalten des Beschuldigten. 7 0 7 FRISTER verwirft jedoch auch die gesetzliche Regelung selbst als verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber die Versagungsmöglichkeiten der Vorschrift bereits auf Schulderwägungen gestützt habe, da sich aus dem Prozeßverhalten des Beschuldigten ansonsten keine anderen Versagungsgründe ergeben könnten als beim Freispruch. 7 0 8 D e r Judikatur des E u G H M R und des B u n desverfassungsgerichts wird vorgeworfen, die Unterscheidung zwischen Verdachts- und Schulderwägungen sei undurchführbar. 7 0 9

GOSSNER 42 , § 467 Rn. 19. Gegen die Zustimmung als genügende Rechtfertigung FRISTER, Schuldprinzip, S. 127, 94 ff. 703 E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 3, 24 § 62 (Lutz) = E u G R Z 1987, 399, 403; Serie A Nr. 123, S. 40, 55 § 39 (Englert) = E u G R Z 1987, 405, 409 = N J W 1 9 8 8 , 3257 f.; Serie A Nr. 123, S. 64, 80 f. § 39 (Nölkenbockhoff) = E u G R Z 1987, 410, 414; dazu BEITLICH, N S t Z 1988, 490; abl. KÜHL, N J W 1988, 3233, 3235 ff.; auch schon DERS., N J W 1984, 1264, 1267 f.; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 72 f. Dem E u G H M R folgend BVerfGE 82, 106, 199 f.; BVerfG N S t Z 1992, 238 (zu § 47 Abs. 1 OWiG); KK 3 -PFEIFFER, Einl. Rn. 32a; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER 42 , § 467 Rn. 19. Grundsätzlich kritisch, weil die Unschuldsvermutung ü b e r d e h n e n d , K M R ' - P A U L U S , § 4 6 7 R n . 43 a . E . u n d DERS., N S t Z 1 9 9 0 , 6 0 0 f. 704

K Ü H L , J R 1 9 7 8 , 9 4 , 98 f.; D E R S . , N J W 1 9 8 0 , 8 0 6 , 8 0 8 f., 8 1 0 ; D E R S . , N J W 1 9 8 0 , 1 8 3 4 , 1 8 3 5 ;

DERS.,

N S t Z 1981, 114, 115; DERS., N S t Z 1982, 480, 481; DERS., N J W 1984,1264, 1267 f. (dort auch zu Verdachtsklauseln, S. 1268); APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 176; KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER 42 , § 4 6 7 R n . 1 9 ; L R 2 4 - R I E S S , § 153 R n . 7 7 ; L R 2 4 - H I L G E R , § 4 6 7 R n . 6 7 (jedenfalls v o r S c h u l d s p r u c h r e i f e ) ; L I EM E R S D O R F / M IE BACH, N J W 1 9 8 0 , 3 7 1 , 374; M E Y E R , Festschrift T r ö n d l e , S . 6 1 , 7 2 ; I n t K o m m / V o G -

LER, Art. 6 Rn. 4 4 4 f f ; GÖHLER, OWiG", § 47 Rn. 46. S. a. Rechtsausschuß BT-Drs. 10/6592, S. 24 f. Kritisch zur Vereinbarkeit von § 467 Abs. 4 StPO mit der Unschuldsvermutung BESTE, Die Kostenlast im Strajprozeß, S. 36; krit. auch RIESS/HILGER, N S t Z 1987, 204, 206. L G Göttingen NdsRpfl. 1987, 261 f. (nur wenn Verurteilung „sicher" wäre). 705

Für die nach überwiegender Ansicht § 467 Abs. 4 StPO auch gilt: KLEINKNECHT/MEYER-

G O S S N E R 4 2 , § 4 6 7 R n . 1 9 , § 1 5 4 R n . 1 8 , § 1 5 4 b R n . 5; a . A . L R 2 3 - S C H Ä F E R , § 4 6 7 R n . 6 5 . 706

H A B E R S T R O H , N S t Z 1984, 289, 294.

707

KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 128 f.; LIEMERSDORF/MIEBACH, N J W 1980, 371, 374 f.; HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 294. L G Hanau M D R 1978, 1047. S.a. die Aufzählung bei K M R 8 - P A U L U S , § 4 6 7 R n . 42; S C H M I D , J R 1979, 222, 224. 708 FRISTER, Schuldprinzip, S. 126 f. Ähnl. KUNZ, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 76 ff., 78: Wegen der unwiderlegten Unschuldsvermutung sind die Einstellungen wegen Geringfügigkeit kostenmäßig dem Freispruch gleichzubehandeln. 705 KÜHNE, Strafprozeßlehre*, Rn. 572.4: „fehlerhafte Begriffsspielerei", denn: „Verdacht beschreibt die Wahrscheinlichkeit von Schuld und kann daher nicht von ihr getrennt werden." (Hervorh. im Original); krit. auch KK 3 -SCHIMANSKY, § 467 Rn. 11. So bereits das Sondervotum von MAHRENHOLZ, BVerfGE 82,106, 122, 123 f.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

132

F R O W E I N sieht in der Äußerung über fortbestehenden Verdacht als Grundlage einer Kostenentscheidung keine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung, da es sich nicht um Schuldfeststellungen handele. Wenngleich es nicht Ziel des Verfahrens sei, einen Verdacht auszuräumen, so liefen der Tendenz der Unschuldsvermutung doch unnötige und mißbräuchliche Verdachtsfeststellungen zuwider, deren eigentlicher Zweck in einer Umkehrung der Unschuldsvermutung läge.710 Vorzugswürdig wegen der Tendenz in der Öffentlichkeit, dies als Schuldbekundungen zu werten, sei daher möglichste Zurückhaltung bei Verdachtsäußerungen. 711 Dagegen hält P A U L U S , wie schon angeführt, die Kategorie der „strafähnlichen Eingriffe" generell für verfehlt, weil der Rechtsordnung fremd. Schulderwägungen bei Annexentscheidungen dürften selbstverständlich ermessensleitend sein, sobald die Schuld in einer verfahrensabschließenden Entscheidung festgestellt wurde. 712

cc) § 47I Abs. 3 Nr. 2 StPO Für die Kosten- und Auslagenentscheidung in einem Privatklageverfahren nach einer Einstellung nach § 383 Abs. 2 StPO hat das Bundesverfassungsgericht entsprechend seiner Rechtsprechung zu § 467 StPO entschieden, daß Schuldzuweisungen nur nach Durchführung der Hauptverhandlung bis zur Entscheidungsreife getroffen werden dürfen, 713 während die Gegenansicht auch hier den rechtskräftigen Verfahrensabschluß verlangt, so daß hier keine Schuldzuweisungen möglich wären 714 . dd) Tod des Beschuldigten oder Angeklagten vor Rechtskraft Ob und wie über Auslagen beim Tod des Angeklagten oder Beschuldigten zu entscheiden ist, ist in der StPO bislang nicht geregelt,715 allein § 465 Abs. 3 StPO schreibt fest, daß der Nachlaß nicht für die Verfahrenskosten haftet. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob der Tod des Angeklagten zur automatischen Beendigung des Verfahrens führt, so daß entweder überhaupt keine - „isolierte" - Annexentscheidung mehr möglich ist716 oder Vorschriften des § 467 StPO analog angewandt werden können oder ob es sich um ein Verfahrenshindernis handelt, das zur Anwendung des § 467 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StPO führt. 717 Die Unschuldsvermutung wird dabei unter zwei Aspekten herangezogen:

710 711 712

FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 560 f. FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 560, 561. PAULUS, N S t Z 1 9 9 0 , 6 0 0 f.

713

BVerfGE 74, 358, 370 ff. 714 IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 459 m.w.Nachw. 715 Bei der Neufassung des § 467 StPO glaubte man von der Regelung dieser Einzelfrage absehen zu müssen, weil man annahm, den voraussichtlichen Verfahrenausgang bestimmen zu müssen, s. dazu BTRechtsausschuß (5. Ausschuß), Sitzung v. 18.10.1970, 6. WP., Prot.-Nr. 22, S. 54 ff; SCHÄTZLER, StrEG2, § 13 R n . 1 1 ; K Ü H L , N J W 1 9 7 8 , 9 7 7 , 980; s.a. B G H S t 3 4 , 1 8 4 , 1 8 7 ; PFLÜGER, G A 1 9 9 2 , 2 0 , 21 ff. 716

So die Position des BGH: BGHSt 34,184,186 ff; B G H NStZ 1983,179 m.umfangr.Nachw. und abl.

A n m . P F L Ü G E R , N J W 1 9 8 3 , 1 8 9 4 f. 717

Zum Streitstand, auf den hier nicht näher eingegangen werden muß, s. BGHSt 34,184—190; O L G

F r a n k f u r t N S t Z 1982, 480; K Ü H L , N J W 1978, 9 7 7 , 978 M I T S C H , N S t Z 1 9 8 8 , 1 0 8 ff, jew. m . w . N a c h w .

ff;

DERS., N S t Z 1982, 481; L A U B E N T H A L /

A.II. Bundesrepublik Deutschland

133

Erstens, ob nicht stets eine Kosten- und Auslagenerstattung nach dem Grundgedanken des § 467 Abs. 1 S t P O erfolgen müsse, weil die Unschuldsvermutung durch die wie auch immer konstruierte Verfahrensbeendigung unwiderlegt geblieben sei. 718 K Ü H L sieht im Tod des Angeklagten vor Rechtskraft den Anlaß für eine Einstellung wegen Verfahrenshindernisses entsprechend § 467 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StPO, wobei dieser Fall dem Freispruch und der Einstellung gleichzubehandeln sei, für die der Gesetzgeber wegen der unwiderlegten Unschuldsvermutung die Entschädigung vorgesehen habe. 7 1 9 Darüber hinausgehend wird gefolgert, die nun unwiderlegbar gewordene Unschuldsvermutung gebiete immer die Auslagenerstattung. 7 2 0 Die Rechtsprechung erkennt hingegen keinen Grundsatz genereller Auslagenersatz bei Tod des Angeklagten an. 7 2 1 Zweitens ergibt sich die gleiche Konstellation wie oben, wenn § 467 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StPO angewandt und die Schuldwahrscheinlichkeit als ermessensleitend behandelt wird, 7 2 2 worin wieder ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gesehen wird 7 2 3 . Dagegen wird eingewandt, daß die Rechtsordnung kein umfassendes Verbot postmortaler Schuldfeststellung kenne, wie andere Beispiele zeigten, welches auch nicht gerechtfertigt sei, sofern Rechte und Pflichten anderer Personen durch die Straftat des Verstorbenen bedingt seien wie eben das Recht der Erben auf Auslagenerstattung. 724 ee) Entschädigung

nach

StrEG

Die Versagung der Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft bei nicht erbrachtem Unschuldsbeweis, wie sie bis zum S t r E G 1971 7 2 5 bestand, 726 wurde als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung betrachtet. Auch hier mußten fiskalische Interessen rechtsstaatlichen Forderungen weichen. 7 2 7

718 OLG Frankfurt NStZ 1982, 480 f. (neben der Erwägung, daß die Kosten sonst die Erben zu tragen hätten, die diese „Sanktion minderen Grades" aber nicht treffen soll). Abi. L A U B E N T H A L / M I T S C H , NStZ 1988, 108, 112 f. Zum Fortbestand der Unschuldsvermutung s.a. W A C K E , J A 1987,191, 192 f. 719 K Ü H L , NJW1978, 977, 980; D E R S . , JR1978, 94,100; D E R S . , NStZ 1982, 481, 482; NJW1984,1264, 1267; D E R S . , NStZ 1987, 338, 339, woraus aber kein Zwang zur Kostenbefreiung folge, da in der Überbiirdung von Kosten keine strafähnliche Belastung liege. Abi. BGHSt 34,184,188. 720 OLG Frankfurt N J W 1982,1891,1892; P F L Ü G E R , N J W 1983,1894; D E R S . , Der Tod des Beschuldigten, S. 124 f., 131 ff., 138, 146; D E R S . , GA 1992, 20, 31 f.; D E R S . , N J W 1988, 675, 678, ausgenommen allerdings Fälle schwerwiegenden prozeßwidrigen Verhaltens. 721 BGHSt 34,184, 188; zust. B L O Y , J R 1 9 8 7 , 348, 349; OLG Celle M D R 1972, 1050 m. Anm. K L E I N K N E C H T ; M E Y E R , Festschrift Tröndle, S. 61, 72; S C H Ä T Z L E R , NStZ 1983,179,180. 722 OLG Hamm, NJW 1978,177,178; OLG Hamburg, NJW 1971, 2183, 2184. 723 K Ü H L , N J W 1978, 977, 980; M E Y E R , Festschrift Tröndle, S. 61, 72; P F L Ü G E R , Der Tod des Beschuldigten, S. 125; D E R S . , GA 1992, 20, 31 ff. 724 L A U B E N T H A L / M I T S C H , NStZ 1988,108,113: In einem Zivilprozeß gegen den Erben des Beklagten wegen Verletzung eines strafrechtlichen Schutzgesetzes gem. § 823 Abs. 2 BGB, im Wiederaufnahmeverfahren gem. §§ 359 Nr. 2, 3, 362 Nr. 2, 3, 364 Satz 1 StPO, im Einziehungsverfahren nach § 440 StPO i.V.m. §§ 76 Abs. ι, 74 Abs. 2 Nr. 2 StGB, bei Bußgeldverfahren gegen Verbände nach § 30 Abs. 1 OWiG und im Rahmen des Wahrheitsbeweises nach § 190 StGB. 725 Vom 8.3.1971, BGBl. 1,157. 726 Dazu K Ü H L , N J W 1980, 806, 807 f.; D E R S . , N J W 1988, 3233, 3236 f. 727 S C H U B A R T H , Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S . 26 f.; E L I B O L , Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S . 56 f.; D . M E Y E R , Strafrechtsentschädigung1,

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

134

§ 6 Abs. ι Nr. 2 2. Alt. S t r E G entspricht dem § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 S t P O und § 3 S t r E G dem § 467 Abs. 4 StPO. Sie erfassen bereits die Einstellung des Verfahrens vor Klageerhebung. Als ermessensleitend gilt wiederum die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung, 7 2 8 was bisweilen als zulässig angesehen wird, weil es hierbei um Aufopferungsansprüche gehe, die sich nach zivilrechtlichen Verschuldenskriterien beurteilten und aus dem Blickwinkel des Strafrechts wertfrei seien 729 . Dagegen soll die Unschuldsvermutung ein Abstellen auf die wahrscheinliche Schuld und Verurteilung des Beschuldigten auch hier verbieten. 7 3 0 FRIS T E R S Verdikt der Verfassungswidrigkeit von § 467 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 und Abs. 4 S t P O trifft aus den gleichen Gründen auch §§ 3, 6 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. S t r E G . 7 3 1 D e m wird entgegnet, daß der pauschale Ausschluß von Verdachtserwägungen etc. nicht überzeuge, da dann die Unschuldsvermutung zu einem bloß formalen Kriterium erhoben werde, das jede Billigkeitsentscheidung unmöglich mache. 7 3 2 Z u § 5 Abs. 2 S t r E G hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die Versagung der Entschädigung wegen wenigstens grob fahrlässigen Verursachens der Strafverfolgung jedenfalls dann nicht auf Schuldzuweisungen gestützt werden dürfe, wenn keine bis zur Schuldspruchreife durchgeführte Hauptverhandlung zugrundeliegt. 733 ff)

Anrechnung

der

Untersuchungshaft

Die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe nach § 51 S t G B wurde z.T. als Konsequenz der Unschuldsvermutung angesehen, da der Betroffene die Untersuchungshaft als Unschuldiger erlitten habe. Dieser Status könne sich als falsch erweisen, aber nicht nachträglich entfallen. 7 3 4 F R I S T E R S Auffassung zufolge bezweckt die Unschuldsvermutung nur die verfahrensmäßige Absicherung des Schuldprinzips, so daß der Beschuldigte nicht

Einl Rn. 20; TIEDEMANN, MDR 1964, 971, 973 f. Die Verwirklichung der Unschuldsvermutung hat die Reform durch das StrEG auch motiviert, s. BT-Drs. VI/460, S. 5; RA in BT-Drs. VI/1512, S. 2. Dazu SCHÄTZLER, StrEG1, Einl. Rn. 18 f. 728 Vgl. BGHSt 29,168,171; unklar OLG Hamm NJW1986, 734, 735 (Die „annähernd sichere" Verurteilung genüge nicht, aber eine rechtskräftige Feststellung der Schuld sei zur Überwindung der Unschuldsvermutung ebenfalls nicht erforderlich. Im Fall war eine Entscheidung nicht nötig.); LG Flensburg MDR 1978, 868; 1979, 76; G A 1 9 8 5 , 329 ff.; SCHÄTZLER, StrEG1,

§ 6 Rn. 19; D . MEYER,

Strafrechtsentschädigung,

§ 3 Rn. 3, 33 f. m.w.Nachw.; einschränkend in § 6 Rn. 30a (Wegen der Unschuldsvermutung könne die Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht auf jede Verdachtserwägung gestützt werden, sondern nur auf dem Beschuldigten zurechenbare Verhaltensweisen, also nicht auf Indiztatsachen aus dem Verhalten anderer. Kriterium und Folgerung bleiben unklar.). Zu § 3 StrEG siehe LG Flensburg MDR 1979, 76 f. m. Anm. D. MEYER, MDR 1979, 77; SCHÄTZLER, StrEG2, § 3 Rn. 17 (Verdachtserwägungen seien zwar kein formaler Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, aber eine „rechtsstaatliche Stilwidrigkeit"); a.A. jetzt KLEINKNECHT/MEYER-GOSSNER 4 2 , § 3 S t r E G R n . 2. 729

730

D . MEYER, Strafrechtsentschädigung,

§ 3 Rn. 33a.

HERRET, Verfahrensbeendigung, Kostentragung und Entschädigung, S. 119; IntKomm/VoGLER,

A r t . 6 R n . 4 6 1 ff.; K Ü H L , N J W 1 9 8 0 , 8 0 6 , 8 0 8 f . ; D E R S . , G A 1 9 8 7 , 9 0 , 9 3 ; P F L Ü G E R , G A 1 9 9 2 , 2 0 , 3 2 . 731

732

FRISTER, Schuldprinzip,

S. 125.

D. MEYER, Strafrechtsentschädigung, § 3 Rn. 33a (zurückhaltend sowie mit Ausnahme für Einstellungen nach §§ 206a i.V.m. 153a StPO). 733 BVerfG (2. Kammer/2. Senat) NJW 1992, 2011. 734 DENCKER, M D R 1971, 627; ausführl. BURMANN, Die Sicherungshafi gemäß § 4s} c StPO, S. 16 ff., 27 ff, 34 f., 36 f.; SCHRÖDER, J R 1 9 7 1 , 28. Ahnl. K Ü H N E , N J W 1979, 617, 617.

A.II. Bundesrepublik Deutschland

135

als unschuldig „gelte", sondern bis zur rechtskräftigen Verurteilung als Unschuldiger in A n spruch zu nehmen sei. Ein Verbot rückwirkender Zurechnung, d.h. Rechtfertigung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen, sei daraus nicht abzuleiten. 735 s)

Inzidentfeststellungen

strafbarer

Handlungen

aa) Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Vor- und Nachtaten bei der

Beweiswürdigung

D a nach Ansicht des Bundesgerichtshofs die Unschuldsvermutung nicht dazu zwingt, noch nicht rechtskräftig festgestellte Taten als nicht existent anzusehen, dürfen diese bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. 7 3 6 Dementgegen wird zur Einhaltung der Unschuldsvermutung als Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung verlangt, daß der Tatrichter Beweisanzeichen bei seiner Uberzeugungsbildung außer Betracht lassen müsse, wenn es sich um noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten handele. Wahrheitserforschung sei nur in den von der Verfassung gezogenen Grenzen zulässig. 737 bb) Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Vor- und Nachtaten bei der Strafzumessung Reststrafenaussetzung

und

Uberwiegend wird die Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter — oftmals sind die sie betreffenden Verfahren von Gericht oder Staatsanwaltschaft eingestellt worden 7 3 8 — selbständiger Taten oder von Tatteilen, die nicht (mehr) Gegenstand der Anklage sind, bei der Strafzumessung gem. § 46 Abs. 2 S t G B oder der Aussetzungsentscheidung nach § 57 Abs. 1 S t G B nicht unter der Unschuldsvermutung problematisiert, sondern unter dem Anklagegrundsatz, 739 der aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgenden gerichtlichen Hinweispflicht 740 oder unter dem Aspekt der Doppelbestrafung. 7 4 1 Die Rechtsprechung hält diese

Schuldprinzip, S . 127 f. BGHSt 34, 209 ff. m. abl. Anm. V O G L E R , NStZ 1987,127 ff.; zust. hingegen G O L L W I T Z E R , JR1988, 341, 344; K K 3 - P F E I F F E R , Einl. Rn. 28; K L E I N K N E C H T / M E Y E R - G O S S N E R 4 2 , Art. 6 Rn. 14; L R 2 4 - G O L L W I T Z E R , Art. 6 MRK Rn. 156 ff. Ebenso BVerfG (3. Kammer/2. Senat) Beschl. v. 25.5.1987 - 2 BvR 1383/ 86, S. 3: kein umfassendes Beweisverwertungsverbot für Sachverhalte, die den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen, aber nicht noch rechtskräftig festgestellt sind, wegen des hohen Ranges des Interesses an möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung durch richterliche Sachverhaltsaufklärung, die als Interesse an einer leistungsfähigen Strafjustiz ebenfalls vom Rechtsstaatsprinzip geboten sei. Abi. V O G L E R , Festschrift Kleinknecht, S. 429, 438 Fn. 47. 737 V O G L E R , NStZ 1987, 127, 129 f. 738 So z . B . in BGHSt 30, 165 = StV 1982, 17 m. Anm. B R U N S (Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO); BGHSt 30,147 = StV 1981, 398 (Einstellung nach §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 StPO). 739 Siehe nur BGH NJW 1951, 769, 770. 740 BGHSt 30, 147 f.: Aus der Anklage ausgeschiedene Tatteile, sofern sie vom Gericht selbst ausgeschlossen wurden oder eine Verfügung der Staatsanwaltschaft durch veränderte Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung übernommen wurde, dürfen ohne Hinweis an den Angeklagten nicht bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. So auch BGHSt 30,197 f.; BGH (Holtz) MDR1977, 982; BGH GA1980, 311 m. Anm. R I E S S ; BGH NStZ 1981, 22; 100. Anders bei Einstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. ι StPO, da sie an diese nicht gebunden ist, BGHSt 30, 165 f. 741 Sicherzustellen ist daher, daß in die Verurteilung nicht anderweitige Tatschuld einfließt: BGH NJW 1951, 770; NStZ 1981, 81; 99 f.; B R U N S , StV 1982, 18,19; D E R S . , JR 1981, 249 f.; NStZ 1981, 81, 84, dort S. 82 ff. auch zu den bis dahin aufgekommenen Bedenken. S.a OLG Saarbrücken JR 1975, 468 f. m. 735

736

FRISTER,

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

i36

Verwertung also unter der genannten Kautele grundsätzlich für zulässig. 742 BRUNS hält den von der Unschuldsvermutung geforderten gesetzlichen Nachweis der Schuld schon dann für gegeben, wenn der Schuldbeweis in einem gesetzlich geregelten Verfahren erbracht worden sei, einer Verurteilung bedürfe es nicht. 743 Andere stellen darauf ab, daß in der Phase der Strafzumessung die „prozeßordnungsgemäß" erlangte Uberzeugung genüge. 744 Dagegen verlangen diejenigen, die in der Unschuldsvermutung die Garantie verfahrensmäßiger Schuldfeststellung sehen, die rechtskräftige Feststellung anderer Taten und eine entsprechend einschränkende Auslegung von § 46 StGB. 7 4 5 Werde ein Angeklagter wegen angeblich begangener anderer Taten schwerer bestraft, so werde er in Bezug auf diese Taten doch als Schuldiger behandelt, obschon davon auszugehen sei, daß er diese Taten nicht begangen habe, solle die Unschuldsvermutung nicht leerlaufen. 746 Die Feststellung der Begehung anderer Taten werde in den Urteilsgründen fixiert und wirke auch selbst strafähnlich. 747 Auch ein Geständnis könne den Schuldnachweis nicht ersetzen.748 Dies sei tragbar, da im Falle vorheriger Einstellung nach §§ 154, 154 a StPO die Staatsorgane deutlich gemacht hätten, daß ein Bedürfnis strafschärfender Berücksichtigung nicht bestünde, während bei schwererwiegenden Taten die Schuld eben in den jeweiligen anderen Verfahren zu bewerten sei, in denen eine Gesamtbewertung vorgenommen werden könne. 749 Manifest werde die praktische Bedeutung dieser Auslegung dann, wenn in dem Verfahren über eine bereits anderweitig strafschärfend berücksichtigte Tat Freispruch erfolgt. 750 Die Mitbestrafung einer anderen Tat verstoße gegen die Unschuldsvermutung. 751 Nach Ansicht des B G H können vorangegangene Ermittlungsverfahren, die nicht zur Verurteilung geführt haben, ebenfalls in die Strafzumessung einbezogen werden, indem sie dem Täter als Warnung dienten, die er nicht beachtet habe. 752 MROZYNSKI sieht hierin einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, da dem Ermittlungsverfahren im Vorgriff

A n m . Z I P F , welches eine Berücksichtigung von Nachtaten wegen der Gefahr der Doppel- und Dreifachverwertung ablehnte. 742

BVerfG N J W 1988, 1715, 1716 = N S t Z 1988, 21; B G H S t 30, 147 f.; 165 f. m. Nachw. der unveröff. Judikatur; B G H S t 30, 197 ff.; B G H N J W 1951, 769, 770; B G H (Dallinger) M D R 1975, 195 f.; B G H N S t Z 1981, 99 f.; 1982, 326; O L G Schleswig M D R 1976, 1036; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 74; S C H Ö N K E / S C H R Ö D E R / S T R E E 2 4 , § 4 6 R n . 33; B R U N S , N S t Z 1 9 8 1 , 8i, 82; Z I P F , J R 1 9 7 5 , 4 7 1 ; T E R H O R S T ,

M D R 1979, 17 f. Ausfiihrl. zum Ganzen VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429 ff. 743

BRUNS, StV 1 9 8 2 , 1 8 , 1 9 ; DERS., Das Recht der Strafzumessung,

744

LACKNER20, § 46 R n . 41.

S. 226.

745 VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 435 ff., 437 f.; IntKomm/VoGLER, Art. 6 R n . 420 ff.; HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 292. APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 171 ff., 173, 178. Ahnl. TRECHSEL, S J Z 77 (1981), 317, 324, vgl. aber 318. 746 APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 173 ff. 747 APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 173 f., 175 f. 748 VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 439; APPL, Die strafschärfende Verwertung, S. 166. 745

H A B E R S T R O H , N S t Z 1 9 8 4 , 289, 292.

750

H A B E R S T R O H , N S t Z 1984, 289, 292.

751

VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 440. B G H S t 25, 64, 65 = J R 1973, 291 m. A n m . MEYER; B G H N J W 1987, 2243, 2244 (insoweit nicht in B G H S t 34, 299); StV 1991, 64; zust. DREHER/TRÖNDLE 47 , § 46 Rn. 24c; einschränkend O L G Köln N J W 1973. 378· 752

A.II. Bundesrepublik Deutschland

137

auf die Strafe, die dann gar nicht verhängt werden muß, Straffunktionen zugeschrieben werden, nämlich Abschreckung oder Spezialprävention. 7 5 3

cc) Aussetzungswiderruf bei Bewährungsstrafe und Maßregelvollzug D i e Tatbestände der § § j ó f A b s . i N r . i , 6 7 g A b s . 1 N r . 1 S t G B , 2 6 A b s . i N r . i J G G knüpfen den W i d e r r u f der Strafaussetzung zur B e w ä h r u n g bzw. der Aussetzung des Maßregelvollzugs an die Begehung einer Straftat bzw. rechtswidrigen Tat, ohne wie vergleichbare ausländische Regelungen 7 5 4 die Verurteilung wegen der N a c h t a t zu verlangen. Umstritten ist, ob zur Feststellung dieses Tatbestandsmerkmals die Uberzeugung des zuständigen Gerichts genügt oder ob die Unschuldsvermutung das A b w a r t e n einer rechtskräftigen Feststellung der Tatbegehung verlangt. D i e überwiegende A u f f a s s u n g hält die Unschuldsvermutung für nicht berührt und die Uberzeugung des Widerrufsgerichts für genügend, 7 5 5 teilweise mit der Einschränkung, das widerrufende Gericht müsse v o n der Täterschaft a u f g r u n d feststehender Tatsachen überzeugt sein, etwa weil der Verurteilte die Tat einräumt und Rechtfertigungs- u n d Entschuldigungsgründe nicht ersichtlich seien; ein dringender Verdacht genüge nicht. Bei schwierigeren Sachverhalten solle das Widerrufsgericht die rechtskräftige Entscheidung der Hauptsache abwarten, weil es selbst für die A u f k l ä r u n g einer neuen Tat wenig geeignet sei. 7 5 6 Z u n e h m e n d wird aber auf die Bildung einer festen U b e r z e u g u n g abgestellt oder angeraten, die Rechtskraft der neuen Entscheidung abzuwarten. 7 5 7

753

M R O Z Y N S K I , J Z 1 9 7 8 , 255, 2 6 2 .

754

§ 53 öStGB, Art. 38 Abs. 4 schwStGB, § 45 Abs. 5 S t G B - D D R , dazu VOGLER, Festschrift Tröndle, S. 423, 436 f. m.w.Nachw. Ausführlicher noch OSTENDORF, StV 1992, 288, 290 ff. 755 BVerfG (2. Kammer/2. Senat) N S t Z 1987, 118; 1988, 21; 1991, 30; BVerfG (2. Kammer/2. Senat) Beschl. v. 1.12.1986 - 2 BvR.1029/86 (zu § 5 6 f S t G B ) ; BVerfG (Vorprüfungsausschuß) Beschl. v. 6.9.1985 - 2 B v R 817/85 zu § 26 Abs. ι Nr. 1 J G G ) ; BVerfG Beschl. v. 10.4.1986 - 2 B v R 270/86 (§ 26 J G G ) ; s.a. BVerfG (3. Kammer/2. Senat) Beschl. v. 25.5.1987 - 2 B v R 1383/86; MEYER, Festschrift Tröndle, S. 61, 74; S T R E E , N S t Z 1 9 9 2 , 1 5 3 ff., 1 5 5 ; D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § j 6 f R n . 3 b ; § 6 7 g R n . 2 ; L A C K N E R 2 0 , § Ç 6 f R n . 3; LK"-GRIBBOHM, STREE24,

§ 67g

§ 56f

R n . 9;

LR24-GOLLWITZER,

R n . 3; z u r ü c k h a l t e n d e r

SK-HORN,

Art. 6

§ 67g

MRK

R n . 7;

R n . 158;

SCHÖNKE/SCHRÖDER/

LK'°-HORSTKOTTE,

§ 67g

R n . 19;

FRANK, M D R 1982, 353, 360 f.; JESCHECK/WEIGEND, Strafrecht Allgemeiner Teil5, S. 846; WENDISCH, J R 1 9 9 2 , 1 2 6 , 1 2 7 . O L G Zweibrücken StV 1985, 465; O L G Koblenz V R S 54,192 f.; 60, 426, 427; 428, 429; 73, 275, 276; O L G Koblenz BA 1981, i n ; O L G Stuttgart Die Justiz 1972, 318; O L G Hamm, N J W 1 9 7 3 , 911; K G J R 1966, 109; O L G Bremen StV 1984, 125; 1986,165; O L G Stuttgart N J W 1976, 200, 201; 1977, 1249; O L G Hamburg M D R 1979, 515 m. Anm. ZIPF J R 1979, 380; L G Krefeld N J W 1974, 1476 (nur bei zweifelsfreier Uberzeugung von der Tat, sonst Verstoß gegen die Unschuldsvermutung); L G Weiden M D R 1970, 940. Z u § 26 J G G : O L G Celle N J W 1 9 7 1 , 1 6 6 5 , 1 6 6 6 = M D R 1971, 778; zu §§ 59 b Abs. 1, 56 f Abs. ι s. O L G Düsseldorf M D R 1990,1133. 756 Eingehend O L G Zweibrücken StV 1985, 465 f.; O L G Köln N J W 1991,505. Kritisch auch BLUMENSTEIN, N S t Z 1992, 132 (Das Widerrufsverfahren sei zur Gewinnung einer „zweifelsfreien" Uberzeugung wenig geeignet, zudem seien die Verteidigungsrechte kaum gewährleistet.). S.a. LACKNER 20 , § j 6 f Rn. 3. 757 O L G Karlsruhe G A 1 9 7 5 , 86 f. O L G Bremen StV 1984,125; 1986,165 (die Rechtskraft sei schon „in Fällen geringsten Zweifels" abzuwarten); 1990,118; O L G Stuttgart N J W 1976, 200, 201; st. Rspr. des O L G Schleswig, so in N S t Z 1986, 363; O L G Köln N J W 1991, 505, 506; S K - S t G B / H o R N , § 56f Rn. 8; ebenfalls der B G H in einer unveröffentlichten Entscheidung, B G H v. 3.1.1990 - 1 Ws 693/89, zit. nach OSTEN-

DORF, S t V 1990, 230, 231.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

i38

Die Unschuldsvermutung gelte nur für das Verfahren, in welchem über Schuld und Strafe entschieden werden solle und folglich nicht im Widerrufsverfahren, 758 da es sich um die Vollstreckung einer bereits rechtskräftig verhängten Strafe oder Maßregel handele, 759 somit nur um den Wegfall einer nicht mehr begründbaren Vergünstigung 760 . Je höher die Anforderungen an den Schuldnachweis seien, desto seltener werde eine günstige Prognose gewagt werden. 761 Schließlich hätte das Erfordernis rechtskräftigen Schuldnachweises eine erhebliche Verzögerung des Widerrufs zur Folge, 762 die den kriminalpolitischen Zweck der Strafaussetzung im ganzen gefährde. 763 Zudem könne es für den Betroffenen nachteilig sein, sich u.U. in Untersuchungshaft anstatt in Strafhaft zu befinden, auch Einstellungsmöglichkeiten nach § 154 StPO wegen der neuen Tat im Hinblick auf den Aussetzungswiderruf schieden aus. 764 Die dagegen angeführte „Exklusivität" des Erkenntnisverfahrens finde keine Stütze im geltenden Recht und sei daher bloße rechtspolitische Forderung. 765 Aus dem Erfordernis des „gesetzlichen" Nachweises der Schuld in Art. 6 Abs. 2 E u M R K lasse sich nicht ableiten, daß dieser Nachweis nur durch rechtskräftig abgeschlossenes Erkenntnisverfahren geleistet werden könne. 766 Dagegen spreche schließlich auch die Gesetzgebungsgeschichte: Die Vorgängervorschrift § 25 Abs. 1 Nr. 2 S t G B a.F. ließ einen Aussetzungswiderruf nur nach „Verurteilung" wegen einer neuen Tat zu, worunter allgemein eine rechtskräftige Verurteilung verstanden wurde. Dieses Erfordernis wurde mit der Neufassung des § 25 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 7 6 7 im Bewußtsein der seit 1953 geltenden E u M R K ausdrücklich aufgegeben 768 und seither nicht geändert 769 . Ebenso wird bei § 6 7 g S t G B zumeist argumentiert, es müsse zur Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern möglich sein, diese bereits vor rechtskräftigem Urteil unterzubringen, wenn das Institut des Aussetzungswiderrufs nicht ausgehöhlt werden solle, 770 die Unschuldsvermutung müsse zu dessen Gunsten zurücktreten 771 . Auch die spezialpräven-

758

O L G Hamburg M D R 1979, 515 = J R 1979, 379 m. zust. Anm. ZIPF S. 380; DREHER, N J W 1964, 1581,1582; dagegen VOGLER, Festschrift Tröndle, S. 423, 425, 426 f. A.A. auch E u K M R , StV 1992, 282: der Geltungsbereich von Art. 6 Abs. 2 E u M R K beschränke sich nicht auf Verfahren, in denen eine Entscheidung über Anklagepunkte erlassen werde. 759 DREHER/TRÖNDLE 47 , § j 6 f Rn. 3b; O L G Stuttgart O L G S t S. 54 f. zu § 57; K G J R 1966,109; zust. O L G Celle N J W 1 9 7 1 , 1 6 6 5 , 1 6 6 6 ; O L G Hamburg J R 1979, 379; DREHER, N J W 1964,1581,1582; ZIPF, J R 1979, 380. I. Erg. BÖCKENHAUER, Der Widerruf der Aussetzung, S. 90, 95. 760 Dagegen VOGLER, Festschrift Tröndle, S. 423, 424 ff. (Verwechslung von Ursache und Wirkung, die nichts über die Zulässigkeit der Ursache aussage). 761 DREHER/TRÖNDLE 47 , § 5 6 f R n . 3b. 762 DREHER/TRÖNDLE 47 , § j 6 f Rn. 3b; STREE, N S t Z 1992,153. And. O L G Hamm N J W 1972, 500 f. 763 LACKNER 20 , § j 6 f Rn. 3; ähnl. STREE, N S t Z 1992,153 f.; WENDISCH, J R 1 9 9 2 , 1 2 6 , 1 2 7 ; BRUNNER, N S t Z 1991, 534; a.A. OSTENDORF N S t Z 1992, 288. 764 O L G Hamburg N S t Z 1992, 130, 131. 765 O L G Hamburg N S t Z 1992,130. 766 O L G Hamburg N S t Z 1992,130; ähnl. O L G Düsseldorf N J W 1992, 1183. 767 B G B l . 1969 I, 645. 768 Dazu L K 1 0 - R u s s , § 5 6 f Rn. 2a. 769 O L G Hamburg N S t Z 1992,130. Zust. insoweit OSTENDORF, StV 1992, 288, 291 f. 770 BÖCKENHAUER, Der Widerruf der Aussetzung, S. 92 f. 771 HABERSTROH, N S t Z 1984, 289, 293.

Α. II. Bundesrepublik Deutschland

139

tive Behandlung im Jugendrecht wäre besser sichergestellt, wenn sie sofort begönne. 7 7 2 Z u dem würde andernfalls derjenige privilegiert, der eine erneute Straftat begehe, im Verhältnis zu denjenigen, die Weisungen zuwiderhandelten etc. (§§ 56f Abs. 1 Nr. 2, 6 7 g Abs. 1 Nr. 2, 3 S t G B ) . 7 7 3 Im übrigen könne ein Widerrufsbeschluß korrigiert werden, wenn der Betroffene wider Erwarten freigesprochen werde. 774 Sodann unterschiede sich die im Widerruf liegende Freiheitsbeschränkung nicht von der des Widerrufs von Strafvollzugslockerungen wie Freigang, die nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG wegen neuer Taten widerrufen werden könnten: was dem Anstaltsleiter zugestanden werde, müsse man auch dem Widerrufsgericht zugestehen. 775 Z u d e m handele es sich nicht um die Sanktionierung eines Verdachts, wenn man verlangt, daß das Widerrufsgericht von der Tatbegehung überzeugt ist, etwa aufgrund zweifelsfreier Schuldbekenntnisse. 7 7 6 Sofern die Begehung einer weiteren Straftat nicht Tatbestandsmerkmal der Widerrufsnorm ist, sondern wie §§ 57 Abs. 1 S t G B , 454a Abs. 2 S t P O nur an eine (un)günstige Prognose über das Leben in Freiheit angeknüpft wird, so soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts diese Prognose bereits auf die hohe Wahrscheinlichkeit einer zwischenzeitlich begangenen Tat gestützt werden können. Dies liege im Wesen der Prognoseentscheidung und ihrer relativen Unbestimmtheit, zumal eine ungünstige Prognose nicht die Gewißheit künftiger Straffälligkeit voraussetze. 777 Auch bei § 57 Abs. 1 S t G B — ebenso wie beim W i derruf der Reststrafenaussetzung nach § 454 a Abs. 2 Satz 1 StPO 7 7 8 - sei das Gericht berechtigt zu entscheiden, ob der Verurteilte weitere, noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten begangen habe. 779 Denn es gehe nicht um die Verhängung von Rechtsfolgen aus der neu begangenen Tat, worauf sich die Unschuldsvermutung beschränke, sondern um die Frage der Weitervollstreckung einer bereits rechtskräftig erkannten Strafe. 780 Die andere Auffassung geht im wesentlichen von einem konstitutiven StraftatbegrifF aus, so daß ein Widerruf ohne rechtskräftige Schuldfeststellung nur auf einem Verdacht fuße und somit die Unschuldsvermutung verletze. 781 MROZYNSKI sieht in der Unschuldsvermu-

Einführung in das Jugendstrafrecht1, S . 194. Der Widerruf der Aussetzung, S. 93 f.; D R E H E R , NJW 1964, 1581, 158z („absurd"); ebenso S T R E E , JR1993, 39, 40. 774 Die Nachprüfung des Widerrufsbeschlusses ist bei Auftauchen neuer Tatsachen zulässig, zu denen auch ein Freispruch gehöre: O L G Karlsruhe Die Justiz 1978, 474; B Ö C K E N H A U E R , Der Widerruf der Aussetzung, S . 94 m. Nw.; D R E H E R / T R Ö N D L E 4 7 , § 67g Rn. 8, § ie Tpynti, vol. 2, S. 44 ff, 51. " Z.B. HejitiiOB-EeßyTOB, CoeemcKuü yzoAOeubiü nponecc, BBIN. II, S. B H H , Yneuue 12

o MamepuaAbuoü

ucmune

β yzoAoeuoM

npou,ecce,

125,

cAedcmeuu

BIu

zit. nach CTporo-

S. 254 F n . 1.

fle.no KajiHHHHa, CyneÖHaa IIpaKTHKa BepxoBHoro Cyna CCCP 1 9 4 6 , B b i n y c K Χ (XXXIV), S. 1 7 , 19 (Sache Kalinin, Gerichtspraxis des Obersten Gerichts der UdSSR, 1946, Heft X, S. 19), auch in CöopHHK

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

376

sowjetischen Strafprozesses erklärt, daß jeder Angeklagte bis zum gesetzmäßigen Nachweis der Schuld als unschuldig anzusehen sei, und gefolgert, daß Untersuchungsorgane und G e richt die Schuld des Angeklagten, nicht aber der Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hätte. Zugleich wurde regelmäßig betont, daß das Gericht während der Verhandlung die Schuldfeststellung nicht vorwegnehmen dürfe und daß tatsächliche Zweifel zugunsten des Angeklagten gewendet werden müßten. 1 3 N u n m e h r begann das sowjetische Schrifttum, sich näher mit der Unschuldsvermutung auseinanderzusetzen: b)

Strogovic und die Debatte im Schrifttum bis 1958

N o c h 1934 hatte STROGOVIC, einer der bedeutendsten Prozessualisten der Sowjetunion, 1 4 die Unschuldsvermutung abgelehnt 15 . In seiner 1 9 4 7 erschienenen Untersuchung über die materielle Wahrheit im Strafprozeß hingegen verfocht er die Geltung der Unschuldsvermutung im sowjetischen Strafprozeßrecht, 16 die er in den nächsten Jahrzehnten vehement und

nocTaHOBJieHHii IÏJieHyMa H onpenejieHHH Kojuierirä BepxoBHoro Cyna C C C P no BonpocaM yrojiOBHoro npouecca, 1946-1962 (1964), S. 46 f.: „3TO nojiottceHHe He TOJILKO He ocHoeaHO Ha 3aKOHe, HO HaxoRHTca β rnyôoKOM npoTHBopennn c OCHOBHMMH npnHijnnaMn coeeTCKoro yroJiOBHoro npouecca, corjiaCHO KOTOpblM BCHKHH OÖBHHSeMblH CHHTaeTCH HeBHHOBHblM, nOKa ero BHHOBHOCTb He ÖyfleT flOKa3aHa β ycTaHOBJieHHOM 3aKOHOM nopHRKe. Πο coaepacaHHK) h nyxy coBeTCKoro 3aKOHa He oöBHHHeMbiö 06»3aH H O K a 3 b I B a T b CBOIO HeBHHOBHOCTb, a O p r a H M OÖBHHeHHH o 6 » 3 a H b I flOKa3aTb npaBHJIbHOCTb npentaBJieHHoro oÔBHHeHHH." (Diese These [des Untergerichts, daß der Angeklagte sich entlasten müsse] findet nicht nur keine Grundlage im Gesetz, sondern steht in tiefem Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien des sowjetischen Strafprozesses, nach denen jeder Angeklagte als unschuldig angesehen werden muß, bis seine Schuld in der vom Gesetz vorgesehenen Weise bewiesen worden ist. Nach Inhalt und Geist des sowjetischen Gesetzes ist nicht der Angeklagte verpflichtet, Beweis für seine Unschuld zu führen, sondern sind die Anklageorgane gehalten, die Richtigkeit der vorgebrachten Anklage nachzuweisen.) Weitere Nachweise bei BILINSKY, ROW 1962, 55, 56 Fn. 6; FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203, 1204 Fn. 4 (1968); K a MHHCKaa, Yneitue o npaeoebix npe3yMtmunx β yzoAoenoM npou,ecce, S. 106 ff. und C E L ' C O V , Der sowjetische Strafprozeß1, S. 196, 198. Zusammenfassung bei F R I D I E F F , Rev.sc.crim. 1954, 523, 529. 13

Nachw. bei O p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmime β γζοΛΟβΗΟΜ npou,ecce, S. 241 f.; DEMS., Mamepuanbnan ucmuna u cydeöubie doxasameAbcmeo β coeemcKOM yioAoeuoM npouecce, S. 199 f. Unzutreffend ist die Annahme GRAVENS, Rev.sc.crim. 1948, 248, 268, der Zweifelssatz sei unbekannt. 14 MICHAIL SOLOMONOVIÒ STROGOVIÍ (1894-1984), seit den 1920er Jahren bei Militärrevolutionstribunalen tätig, bis 1939 Prokurator beim Obersten Gericht der RSFSR und in der Prokuratur der RSFSR und der UdSSR, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Leiter der Abteilung für theoretische Probleme der Rechtspflege im Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. 15 Siehe oben Fußn. 10. 16 C T p o r o B H i , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 227-259, weitgehend wortgleich mit MamepuaAbHan ucmuna u cyöeönbie öoKasameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce (1955), S. 183—216. Zusammenfassung durch FRIDIEFF in Rev.sc.crim. 1948, 885 ff., zur Unschuldsvermutung S. 888. Die Befürwortung rechtlicher Prinzipien, die eine dezidiert bourgeoise Vergangenheit haben, war in der Sowjetunion zu jener Zeit ein prekäres Unterfangen, s.u. Fußn. 67. STROGOVIÒ flicht in seine Ausführungen wo immer möglich Zitate des Akademiemitglieds VYSINSKIJ ein, dem Hauptankläger in STALINS Schauprozessen der dreißiger Jahre, der in vielen Fragen eine abweichende Meinung vertrat. Die Schrift MamepuaAbHan ucmuna u cydeÖHbie doKci3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoeuoM npoifecce aus dem Jahr

C.I.

UdSSR

377

letztlich erfolgreich verteidigte. S T R O G O V I C sah die Ursprünge der Unschuldsvermutung in den zivilrechtlichen Bonitätsvermutungen des römischen Rechts, die erst in der Menschenrechtserklärung der französischen Revolution von 1789 ihre strafrechtliche Form als Absage gegen die Praktiken des Inquisitionsprozesses des ancien regime gefunden habe. Im bourgeoisen Recht sei sie aber in der Praxis nicht verwirklicht worden und nur hohle Phrase geblieben, da sie dessen Klasseninteressen zuwiderlaufe und vielfach tatsächlich eine Schuldvermutung greife. 17 Die Bedeutung der Unschuldsvermutung werde am deutlichsten im Vergleich mit ihren Gegenstück, der (generellen) Vermutung der Schuld. 18 Aus der Unschuldsvermutung folge, daß nur der vollständige und zweifelsfreie Beweis der Schuld — mithin die materielle Wahrheit - eine Verurteilung rechtfertige, so daß die Untersuchungsorgane die Pflicht hätten, die Schuld des Angeklagten zu beweisen.19 Gelinge ihnen dies nicht, müsse er freigesprochen werden. Erfordert sei die umfassende, objektive, unvoreingenommene Sachverhaltsklärung. Den Angeklagten treffe keine Beweispflicht, obschon er das Recht zur Verteidigung habe. Der mißlungene Beweis der Schuld sei mit dem Beweis der Unschuld gleichbedeutend. Bei einer Schuldvermutung liege schon in der Anklage selbst der Grund zur Annahme, daß der Angeklagte schuldig sei, es sei denn, er könne seine Unschuld beweisen.20 Zur Verurteilung genüge somit die Wahrscheinlichkeit der Schuld. Es erfolge daher nur eine einseitige, voreingenommene Untersuchung der Tatumstände.21 Zudem könne der Angeklagte bereits verurteilt werden, wenn es ihm nicht gelänge, entlastende Beweismittel zu beschaffen.22 Einen Mittelweg zwischen beiden Vermutungen, etwa im von ihm 1934 befürworteten Verzicht auf jegliche Vermutung, könne es nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis geben. Wolle man ein Strafverfahren objektiv und zur Ermittlung der Wahrheit betreiben, so bedeute dies, die Unschuldsvermutung zugrundezulegen, weil sich andernfalls immer Voreingenommenheit und Einseitigkeit einstellten.23 Da es nur

1955, die die Ausführungen zur Unschuldsvermutung von 1947 fast wörtlich wiederholt, wurde mit dem Preis des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der U d S S R ausgezeichnet, womit STROGOVIÖS Position eine wichtige offizielle Bestätigung erfuhr, dazu SAVICKIJ im Vorwort zu STROGOVIÖS letzter M o nographie Πραβο 06euHneM020 na 3aiu,umy u npe3yM.nu,un ueeuHoenocmu (1984), S. 3 ff., 6. 17 C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbnoü ucmuHe β yzoAoeuoM npouficce, S. 227-230; DERS., MamepuaAbHan ucmuna u cydeÖHbie 0OK03ameAbcmeo β coeemcKOM y ΙΟΛΟΘΗΟΜ npoyecce, S. 185 f. Ahnlich schon 1946 POLJANSKIJ in Kapitel 1 („Das Schicksal der Unschuldsvermutung im ausländischen Recht") seines Buches über ausländisches Beweisrecht, MoKa3ameAbcmea β UHOcmpaHHOM yzoAoenoM nponecce, zit. nach C T p o r o B H H , Πραβο oöeunHeMozo na 3aiu,umy u npe3yMrmun HeeuHoenocmu, S. 116 Fn. 1. 18 CTporoBHM, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 230 ff.; DERS., MamepuanbnaR ucmuna u cydeÖHbie doKaeameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 184 ff.

" ΟτρΟΓΟΒΗΜ, Ynenue o MamepuanbHoü ucmune β yzoAoeHOM npou,ecce, S. 231; DERS., MamepuaAbHan ucmuna u cydeÖHbie doKü3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 185; DERS., R I D 1954. 372. 385. 20 Gegen diese Zuordnung von Beweispflichten zu Unschuldsvermutung oder Schuldvermutung VYSINSKIJ, Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 260 ff. 21 C T p o r o B H i , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzonoenoM npoifecce, S. 230 ff. 22 C T p o r o B H H , MamepuaAbHOH ucmuna u cydeÖHbie doKaaamenbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 198. 23 C T p o r o B H H , Ynenue o Mamepuanbnoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 232 f. mit Fn. 1 auf S. 233, 239; DERS., MamepuaAbHan ucmuna u cydeÖHbie òoKa3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM nponecce, S. 194 f.

37«

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

die Wahl zwischen Unschulds- und Schuldvermutung gebe, sei die abgeschwächte Formulierung aus der italienischen Diskussion, daß die Schuld des Angeklagten nicht vermutet werde, nicht akzeptabel. 24 Die Einwände gegen die Unschuldsvermutung aus der italienischen Debatte im Vorfeld des Codice di procedura penale 1930 weist er als faschistisch motiviert zurück, mit Ausnahme des Arguments, daß man, wolle man den Angeklagten wirklich als unschuldig vermuten, kein Strafverfahren gegen ihn betreiben dürfe. Diese Schwierigkeit stelle sich nur während der Voruntersuchung (npedeapumeAbHoe CAedcmeue), weil in dieser Phase alle prozessualen Funktionen — Anklage, Verteidigung, Entscheidung — in der Person des Untersuchungsführers zusammengefaßt seien; in der Hauptverhandlung hingegen sei die Überzeugung des Staatsanwalts von der Schuld der Angeklagten unproblematisch, da sie niemanden binde. 2 5 Doch sei der Einwand nur ein Wortspiel mit den beiden Bedeutungen des Begriffs „vermuten" (npednonozamb). 26 Gründe, auf die Schuld eines Menschen zu schließen, seien notwendig, um ein Strafverfahren gegen ihn zu betreiben. Diese „Vermutung" bedeute aber nur die Wahrscheinlichkeit seiner Schuld, die die Wahrscheinlichkeit seiner Unschuld umfaßt, in der subjektiven Meinung des Untersuchungsführers und keine Vorabentscheidung über die Schuld. Die Unschuldsvermutung sei nicht irgend jemandes Meinung, sondern ein objektiver rechtlicher Zustand, demzufolge der Verdächtige als unschuldig angesehen werde (CHumaemca, npu3Haemca HeeuHoeHbCM.). Es handele sich daher nicht um eine Vermutung im herkömmlichen Wortsinne, sondern um ein regulatives rechtliches Prinzip. Im Prozeß könnten die Beteiligten vermuten, was sie wollten, solange sie sich den Forderungen der Unschuldsvermutung gemäß verhielten. STROGOVIC unterscheidet daher als Begriffsinhalte der „Vermutung" (npednoAoxenue) zwischen Hypothese (zunome3a/hypothesis) und Präsumtion (npe3yMnu,URlpraesumtio)\ Die Unschuldsvermutung bedeute nicht, daß die Verfahrensbeteiligten die Meinung (MHemie) haben müßten, der Angeklagte sei unschuldig; im Gegenteil, die Untersuchungsorgane unterhielten die Hypothese seiner Schuld. Die Unschuldsvermutung setze vielmehr die Bedingungen der Schuldfeststellung fest. Die Unschuldsvermutung stelle nicht die unsinnige Forderung, den für unschuldig zu halten, den man anklagt, sondern daß derjenige, der anklagt, seine Anklage beweise. 27 Beide Bedeutungen schlössen sich weder aus noch stünden sie im Widerspruch zueinander. 28 Obgleich im positiven Recht nicht enthalten, ergebe sich aus der Garantie des Rechts auf Verteidigung 2 9 und dem Prinzip der Objektivität der Ermittlungen, 3 0 demgemäß sowohl be- als auch entlastende Umstände zu erforschen sind, die Geltung der Unschuldsvermutung im sowjetischen Recht. 3 1

24

C τ ρ ο r ο Β H Η, Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npoi^ecce, S. 238. C T p o r o B H i , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npouficce, S. 234 ff-> 236. 26 C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 234. 27 C T p o r o B H H , MamepuaAbHüH ucmuna u cydeönbte doKa3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 201 f., 204 m. Fn. ι. 28 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAOSHOM npoifecce, S. 237; DERS., MamepuaAbuaR ucmuna u cydeönbie Ò0K03ameAbcme0 β coeemcxoM yzoAoenoM npoi^ecce, S. 201 ff. 29 Art. HI der Unionsverfassung, § 8 Gesetz über die Gerichtsbarkeit der U d S S R (npaeo Ha 3aw,umy). 30 Art. i n U P K R S F S R (npuHi^un oÖT>eKmuenocmu paccAedoeanun). 25

31

C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β ytOAoenoM npou,ecce, S. 239 f.

C.I. UdSSR

379

Falsch sei es, der Unschuldsvermutung einen „liberalen" Charakter zuzuschreiben, der die Verbrechensbekämpfung und Strafrechtspflege lähme. Sie führe ganz im Gegenteil dazu, daß die Untersuchungsorgane alle gesetzlichen Mittel auszuschöpfen genötigt würden, um die Schuld eines Angeklagten zu beweisen. 32 Rechtswidrig seien somit alle Verurteilungen, die hinter der Anforderung zweifelsfreien Beweises zurückblieben und sich auf Vermutungen oder auf Wahrscheinlichkeiten 3 3 stützen. Das Prinzip der materiellen Wahrheit habe seine Grundlage nicht in der Unschuldsvermutung, beide folgten vielmehr gemeinsam aus Wesen und Aufgabe der Rechtsprechung (npaeocydue) selbst. Die Unschuldsvermutung diene als Garantie der Realisierung des Prinzips der materiellen Wahrheit. 34 Freispruch müsse daher erfolgen bei erwiesener Unschuld als auch bei nicht bewiesener Schuld, obschon der Angeklagte tatsächlich schuldig sein mag. Die Möglichkeit, bei nicht erwiesener Schuld und zugleich nicht erwiesener Unschuld auf eine Entscheidung oder Beantwortung der Schuldfrage zu verzichten im Sinne einer Instanzentbindung, sei im modernen Strafprozeß, der eine kategorische Antwort auf die Schuldfrage erfordere, nicht mehr möglich. 3 5 Verboten sei auch eine Unterscheidung zwischen in den Freispruchformeln oder -gründen nach erwiesener Unschuld oder nicht bewiesener Schuld. Freisprüche zweiter Klasse wie das schottische not proven oder der italienische Freispruch wegen Mangels an Beweisen erreichten keine volle Rehabilitierung des Angeklagten und seien daher moderne Formen der Instanzentbindung. 3 6 Den Versuch ARSEN'EVS, 3 7 aus Art. 326 U P K RJFSFR, der die verschiedenen Gründe für einen Freispruch aufzählt, eine dubitative Entscheidungsformel abzuleiten, weist STROGOVIC zurück: Wegen der Unschuldsvermutung müsse sowohl der Freispruch als auch die Einstellung des Verfahrens mangels zureichenden Tatverdachts im Untersuchungsverfahren als offizielle Bestätigung der Unschuld angesehen werden und die vollständige Rehabilitierung des guten Namens des Verdächtigen oder Angeklagten bewirken. 3 8 Dies werde in der Praxis nicht genügend beachtet. 39 Trotz Freispruch oder Einstellung könne niemandem, auch dem Gericht nicht, verboten werden, zu denken, der A n geklagte sei in Wirklichkeit schuldig. Doch diese Meinung sei bedeutungslos und beeinträchtige die Ehre des Betroffenen nicht. Der schiere Umstand, daß ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, nehme das Ergebnis des Prozesses nicht vorweg und habe weder Einfluß auf die rechtliche Lage des Angeklagten zur Zeit der Verhandlung noch nach ihrem A b -

32 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAkHoü ucmune Β yzonoenoM npoyecce, S. 240; DERS., MamepuQAbHüH ucmuHa u cydeônbie doKaaameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 196 f. 33 Diese Frage war in der sowjetischen Strafprozeßwissenschaft außerordentlich umstritten. VYSINSKIJ, Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 213 f., hielt die (größtmögliche) Wahrscheinlichkeit für genügend. 34 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 241; DERS., MamepuaAbnan ucmuna u cydeônbie doKaeameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 197 f. 35 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 241 ff, 244 f.; DERS., MamepuaAbnan ucmuna u cydeônbie òoica3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 205 ff. 36 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 245 ff 37 ApceHteB, „OßxajioeaHHe onpaB^aTeubHoro nparoBopa", CoeeTCKas IOCTHUHH 1941, 15, zit. nach CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yzoAoenoM npou,ecce, S. 249 Fn. 1. 38 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yzoAoenoM npoyecce, S. 248 f. 39 CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbnoü ucmune β yioAoenoM npou,ecce, S. 251 f.

380

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

schluß. Ein Konflikt mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit ergebe sich nicht, denn dieses fordere nur das eine: daß nur das behauptet werden dürfe, was bewiesen ist.40 — Anzumerken ist, daß die Frage, ob die gerichtliche Sachverhaltsfeststellung überhaupt der Wahrheit fähig sei und wenn ja, um welche Art von Wahrheit es sich handele, eine der großen Streitfragen der sowjetischen Strafprozeßlehre in den dreißiger und vierziger Jahren war.41 Aus der Unschuldsvermutung folge schließlich, daß Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu seinen Gunsten gelöst werden müssen, in dubio pro reo.42 Auch dieser Grundsatz könne im liberalen bürgerlichen Sinne verstanden werden, doch sei dies ebensowenig zwingend wie bei der Unschuldsvermutung selbst. Wie sie besage der Satz allein, daß nur dann verurteilt werden dürfe, wenn jede Möglichkeit der Unschuld des Angeklagten ausgeschlossen ist. Natürlich schütze der Zweifelssatz wie die richtig verstandene Rechtspflege die Rechte und Interessen der an ihr Beteiligten, also auch des Angeklagten. Ihr Wesen sei allerdings ein anderes, nämlich das Erfordernis begründeter und überzeugender Urteile.43 Eine andere Möglichkeit als diejenige, Zweifel an der Schuld zugunsten des Angeklagten zu lösen, gebe es nicht: Da das Gericht nur die Frage der Schuld zu untersuchen und zu beurteilen habe, eine Schuldfeststellung aber nur auf zweifelsfrei erwiesenen Umstände stützen dürfe, dürften nicht zweifelsfrei erwiesene Umstände nicht zur Stützung der Anklage verwendet werden, worin zwangsläufig eine Begünstigung des Angeklagten liege.44 Hieraus folge nicht, daß das Gericht stets zu zweifeln und freizusprechen habe; erst nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten komme der Zweifelssatz zum Tragen, der im übrigen nicht für Rechtsfragen gelte.45 Insgesamt erweise sich die Unschuldsvermutung als eine der unabdingbaren, wichtigsten Garantien zur Auffindung der materiellen Wahrheit.46 In ihrer 1948 erschienenen Dissertation über Rechtsvermutungen im Strafprozeß widmete K A M I N S K A J A der Unschuldsvermutung ein eingehendes Kapitel, worin sie die Thesen S T R O G O V I C S vertiefte und verteidigte. Sie klassifiziert die Unschuldsvermutung als „künstliche" oder „Quasi-Vermutung", weil ihr kein Erfahrungssatz zugrunde liege. Nichts miteinander zu tun hätten daher die Vermutung der Schuld im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese, die der Untersuchungsführer zugrundelege, und die Vermutung der Unschuld, die ihn als gesetzliche Vermutung binde.47 Im sowjetischen Recht habe der Satz die Bedeutung, die Wahrheitsermittlung als notwendige Bedingung des Strafurteils hervorzuheben. Es handele sich nicht um eine liberale Forderung nach möglichster Schonung des

40

C T p o r o B H S , Ynenue o MamepuaAbHoü

ucmune β yzoAoenoM

npou,ecce, S. 250 („Bejjb npmmmi

MaTepnajn>HOH HCTHHLI TpeôyeT TOJIBKO ΟΗΗΟΓΟ: y T B e p x n a T t cjienyeT Jirniib το, h t o n0Ka3aH0."). 41

Dazu m. Nachw. V Y S I N S K I J , Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 198 ff., 209 ff.

42

C T p o r o B H M , Ynenue o MamepuajibHoü

puanbHaH ucmuHa

u cydeßnbie

ucmune β yzoAoenoM

òoKasameAbcmeo

npoupcce,

β coeemcKOM yzoAoenoM

S. 253 ff; DERS.,

npou,ecce,

43

C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü

ucmune β yzoAoeuoM

npou,ecce, S. 253 f.

44

C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM

npoi^ecce, S. 255 f.

45

C T p o r o B H M , Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM

npoifecce,

46

C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHoü

MHHCKaa, Yneuue o npaeoebix 47

npe3yMtiu,unx β yzoAoenoM

KaMHHCKaa, Yneuue o npaeoebix

BHH, Yneuue o MamepuaAbHoü

ucmune β yzoAoenoM

S. 257.

npoi^ecce, S. 2 7 4 f. Ähnlich K a -

npou,ecce, S. 1 0 0 , 1 1 5 .

npeeyMnuuHx β yzoAoenoM

ucmune β yzoAoenoM

Mame-

S. 211 ff.

npou,ecce, S. 109 f. nach C T p o r o -

npou,ecce, S. 235 f.

381

C.I. UdSSR

Angeklagten, sondern um das Erfordernis umfassender Ermittlung und Berücksichtigung aller Sachverhaltshypothesen und somit des Ausschlusses von Willkür, 48 worin zugleich ein Schutz des Persönlichkeit des Angeklagten liege. 49 Das Erfordernis umfassender und zweifelsfreier Beweisgrundlage für ein Strafurteil liege deshalb im staatlichen Interesse, weil andernfalls in einigen Fällen Unschuldige verurteilt werden könnten. Dies aber sei gefährlich, weil dann der wahre Verbrecher seiner Strafe entgehe, die Autorität des Gerichts und der Justiz im Ganzen in den Augen der Werktätigen gemindert und die Persönlichkeit (AUHHocmb) des Sowjetbürgers unbegründet und ungesetzlich beeinträchtigt würde. 5 0 Den Zweifelssatz, der logische Folge der Unschuldsvermutung sei, 51 stützt KAMINSKAJA damit, daß allein die objektive Wahrheit, nicht aber bloße Wahrscheinlichkeit oder subjektives Meinen Grundlage einer Verurteilung sein dürfe. D a es im modernen Strafprozeß keine Instanzentbindung mehr geben könne und das Gericht die Schuldfrage eindeutig und unmißverständlich beantworten müsse, könnten vernünftige Zweifel an der Schuld nur zugunsten des Angeklagten gelöst werden. 52 KAMINSKAJA verwirft schließlich die richterliche Praxis, aus dem Schweigen des Angeklagten auf seine Schuld zu schließen. Von Gesetzes wegen müsse der Angeklagte sich nicht äußern oder erklären. Deute man dies dennoch zu seinen Lasten, so werde entgegen der Unschuldsvermutung tatsächlich ihm die Beweislast für seine Unschuld aufgebürdet. 5 3 Die Formeln der Unschuldsvermutung und des Zweifelssatzes wurden nun verstärkt von anderen Autoren aufgenommen. In der ersten Auflage seines Lehrbuchs 1948 lehnte CEL'COV die Präsumtion der Unschuld, die er als „psychologischen Zustand" des Untersuchungsführers, Prokurators oder Gerichts verstand, noch ab und konzedierte nur, daß alle Rechtspflegeorgane bis zum Verfahrensabschluß mit der Möglichkeit der Unschuld rechnen müßten, 54 erkannte sie aber in der zweiten Auflage 1951 an. 55 In einem 1950 erschienenen Aufsatz nahm SAVI C KIJ einen großen Teil der Debatte vorweg und charakterisierte die Unschuldsvermutung wie folgt: „Der Beschuldigte ist noch nicht der Schuldige - darin liegt

48 O b w o h l es u n t e r d e m D o g m a der Ü b e r e i n s t i m m u n g der Interessen des I n d i v i d u u m s u n d des Staates im Sozialismus anders als im bourgeoisen System keines gesonderten Schutzes vor Willkür bedarf, worauf KAMINSKAJA in der Auseinandersetzung mit TADEVOSJAN später klarstellend hinweist, Ynenue o npaeoebix npe3yMnu,UHX β yzoAoenoM npou,ecce, S. 104. 49

KaMHHCKaa, Ynenue ο npaeoemx

npe3yMtmunx

β γζοΛοβηοΜ

npou,ecce, S. 9 Ι — η 5> 'nsb. S. 96,

97 f. 50

KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix npe3yMnu,UHX β yzoAoenoM npoifecce, S. 105. KaMHHCKaH, Ynenue o npaeoebix npe3yMnu,unx β yzojioenoM npou,ecce, S. 98. 52 KaMHHCKaH, Ynenue o npaeoebtx npe3yMnu,uax β yzoAoenoM npou,ecce, S. 99 f. 53 KaMHHCKa«, Ynenue o npaeoebix npe3yMnu,unx β yzoAoenoM npou,ecce, S. n o f.: N u r zu o f t ersetzten die Gerichte eine umfassende Beweisaufnahme durch Auflisten einiger verdächtiger Ä u ß e r u n g e n des Angeklagten, die er nicht genügend zu erklären wisse. 54 Krit. dazu SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 404 f. 55 M e j i t u o B , YzoAoenbiu npoifecc, 1. Aufl. 1948 S. 182, 2. Aufl. 1951 S. 146, zit. nach STROGOVIÍ, R I D 1953, 29, 39 u n d DERS., MamepuaAbHan uemuna u cydeönbie doKasamenbcmeo β coeemcKOM yzoΛοβηοΜ npou,ecce, S. 193 F n . 1 (kritisch). D t . Ausgabe: (CEL'COV) TSCHELZOW, Der sowjetische Strafprozeß2, S. 197 ff. S.a. H e j i b u o B , CucmeMa ocnoebix npunu,unoe coeemcKozo yzonoenozo npoifecca, in: Y Hernie 3anncKH BcecoK>3Hbix HHCTHTyT JOpnflHHecKHX HayK, Moskau 1947, >6 V I S. 132, zit. nach 51

B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55.

382

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

alles beschlossen." 56 ARSEN'EV versuchte die Unschuldsvermutung als logische Notwendigkeit zu erweisen: Sie bedeute die Beweislast der Anklage für die vorgeworfene Tat. Denke man sie sich hinweg, so müßte der Angeklagte seine Unschuld beweisen, mithin einen Negativbeweis führen, welcher unmöglich sei. In der Folge wäre sodann der Willkür der Rechtspflegeorgane T ü r und Tor geöffnet. 5 7 POLJANSKIJ und STROGOVIC lehnten diese Argumentation ab, weil der Beweis von Negativa nicht unmöglich und in der Gerichtspraxis, etwa durch indirekten Beweis, alltäglich sei. 58 Das offizielle Lehrbuch des sowjetischen Strafprozeßrechts von 1953 erwähnte die Unschuldsvermutung noch mit keinem Wort; 5 9 in der Ausgabe von 1956 wird die Unschuldsvermutung anerkannt, ohne dabei eine bestimmte Literaturansicht zu übernehmen. 6 0 STROGOVIC wird vorgeworfen, er verkenne den prozessualen Aspekt, denn der Tatverdacht allein gebe das Recht, eine Person mit strafprozessualen Eingriffen zu belasten. 61 Z u den Gegnern 6 2 der Unschuldsvermutung zählte TADEVOSJAN, der in den Ausführungen STROGOVICS ein Plädoyer für individualistische Rechte sah. Auch wenn Ideen und Prinzipien in bourgeoisen Staaten und der Sowjetunion die gleiche sprachliche Form hätten, seien sie deshalb nicht wesensgleich. STROGOVIÒ vergesse, daß die Rechte des einzelnen denen der Gesellschaft untergeordnet seien. 63 Zwar habe die Unschuldsvermutung am Vorabend der Machtergreifung durch die junge Bourgeoisie durchaus eine progressive Rolle 64 gespielt, die sie später verloren habe, 65 für ihre Bedeutung im Marxismus-Leninismus sei aber allein ihre revolutionäre Zweckmäßigkeit entscheidend. Ihre Anwendung in den kapitalistischen Ländern sei zu befürworten, weil so der Raum für legale Möglichkeiten des revolutionären Kampfes erweitert würde, im sowjetischen Recht habe sie jedoch keinen Platz. Im sowjetischen Strafprozeß gelte das Prinzip der Ermittlung der materiellen Wahrheit und daß nur die Schuldigen zu strafen seien. Eine Fiktion wie die der Unschuldsvermutung sei unnötig. Was nütze auch eine Vermutung, die sich in 8 0 - 9 0 % aller Fälle als falsch herausstelle? Die Anerkennung einer Unschuldsvermutung und eines Satzes, daß der Zweifel dem Angeklagten unabhängig von seiner Persönlichkeit und den konkreten Fallumständen zugute kommen soll, hieße dem sowjetischen Strafverfahren den Klassencharakter zu nehmen

56

S A V I C K I J , R I D 1953, 395, 4 0 6 = CoeeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1 9 5 0 , M» 1, S . 45 ff. E b e n s o D A -

V Y D O V , R I D 1 9 5 6 , 33, 37. 57

ApceHbeB, rapaumuu AUHHOcmu β ytonoenoM npou,occe, S. 76, Dissertation, zitiert von I I O J I Bonpocbt meopuu coeemcKOto yzonoeuozo npou,ecca, S. 183 f., 184 Fn. 1, und von B I L I N S K Y , ROW 1962, 55, 57. 58 ITojiHHCKHH, Bonpocbt meopuu coeemcKOZO yzonoenozo npouficca, S. 184 mit Verweis auf S T R O G O V I Ò , Logik, S . 202. 59 CoeemcKuü yzoAoeHbiü nponecc (1953), unter der Redaktion von D. S. K A R E V . Dazu ΟτροτοBHM, MamepuanbHaa ucmuua u cydeÖHbie doK03ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoeuoM npou,ecce, S. 193 Fn. ι (auf S. 194). 60 CoeemcKuü yzoAoeubiu npou,ecc (1956) unter der Redaktion von D . S. K A R E V , S. 75-80. 61 CoeemcKuü ytonoenbtü npou,ecc (1956), S. 79. 62 Weitere Nachw. bei KacyMOB, TIpe3yMnu,UH neeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 13 f. 63 TafleeocHH, CoeeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1948, 6, S. 65, 69. 64 Ebenso später FIpoKypaTypa CoK)3a CCP, Teopun doKcaameAbcme β coeemcKOM γζοΛοβποΜ nponecce, HacTb oömaa, S. 435; KacyMOB, IIpeayMrmuti neeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 8. HHCKHH,

65

So auch SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 399 = CoeeTCKoe rocynapcTBO Η npaBO 1950, NÍ I, S. 45 ff.; ähnl.

KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix npe3yMnii,URX β γζοΛοβποΜ npou,ecce, S. 92 ff.

C.I. UdSSR

383

und ihm einen rein formalen Charakter zu verleihen. Aus dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Person und dem Vorbehalt gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Beschlusses für eine Verhaftung folge eine allgemeine Annahme der Unbescholtenheit der Bürger, die aber mit der Unschuldsvermutung im Sinne STROGOVICS nichts zu tun habe. 66 In den nächsten Jahren konkretisierte STROGOVIÓ, der als Antagonist von TADEVOSJAN und CEL'COV die Idee von Garantien des Beschuldigten und Angeklagten als subjektive Rechte propagierte 67 und dem die Präsumtion der Unschuld als „eines der wichtigsten Probleme des sowjetischen Strafprozesses" 68 erschien, seine Auffassung. Der Angeklagte sei Subjekt prozessualer Rechte, nicht bloßes Objekt einer gerichtlichen Untersuchung. 6 9 Er bekräftigte, daß die Unschuldsvermutung 1789 eine fortschrittliche Einrichtung des bourgeoisen Strafprozesses im Vergleich zum hergebrachten Inquisitionsprozeß gewesen sei, welchen eine Schuldvermutung auszeichnete. Als eines der demokratischsten Prinzipien des Strafprozesses sei die Unschuldsvermutung wegen ihres fortschrittlichen Charakters zur festen Errungenschaft der sowjetischen Rechtsprechung geworden, wobei sie einen neuen, sozialistischen Inhalt bekommen hätte. Es sei daher schlechterdings falsch anzunehmen, mit der Unschuldsvermutung werde ein bourgeoises Prinzip in das sozialistische Recht eingeführt. Es handele sich vielmehr um verschiedene, lediglich gleichnamige Rechtssätze. 70 STROGOVIC behauptete ihre Geltung in allen Stadien des Verfahrens bis zum rechtskräftigen Urteil, welches allein zur Widerlegung tauge. 71 Gegen Kritiken, daß weder der Untersuchungsrichter noch der Staatsanwalt oder das verhandelnde Gericht die Unschuld des Beschuldigten und Angeklagten vermuten könnten, wandte STROGOVIC ein, daß die Präsumtion der Unschuld nicht die subjektive Meinung des einen oder anderen Prozeßbeteiligten bestimme - wie LUKASEVIC anfänglich meinte 72 - , sondern die objektive Rechtslage, d.h. „das Gesetz" (3QKOH), betrachte den Angeklagten als unschuldig bis diejenigen, die ihn für

66 TaneBocHH, CoBeTCKoe rocyflapcTBO H npaBO 1948, Λβ 6, S. 65, 70 ff, cf. BILINSKY, ROW 1962, 55, 56 f. und FRIDIEFF, Rev.sc.crim. 1948, 885, 889. Gegen TADEVOSJAN bereits KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebixnpe3yMnu,uñX βyt0A0eH0Mnp0u,ecce, S. 103 ff.; CoeemcKuüyionoenbiünpou,ecc (1956), S. 78. 67 STROGOVIÓ, RID 1954, 372, 373 f.; DERS., RID 1956, 470, 478 f. Natürlich sind diese Garantien zuvörderst als „Garantien der sozialistischen Rechtspflege" zur Sicherung ihrer Aufgaben zu verstehen wegen des Axioms der prinzipiellen Identität der Interessen des einzelnen und der Gesellschaft (s.u. bei Fußn. 135), gleichwohl setzte sich STROGOVIÓ damit dem Vorwurf des Rückfalls in bürgerliches Denken aus; dazu und zu der gesamten Debatte s. DIRNECKER, ROW 1959,160 ff, v.a. 162; auch BILINSKY, ROW 1965, 9 ff., 12. 68 STROGOVIÓ, RID 1953, 29, 38 = CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1952, .N» 8, S. 13 ff.; ebenso in D E R S . , MamepuaAbHaa ucmuna u cydeÖHbie doKaeameAbcmeo β coeemcKOM yioAoenoM npouficce, S . 183 Fn. ι. 65 CTporoBHM, MamepuaAbHaa ucmuna u cydeÖHbie doKaeameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 195. 70 CTporoBHM, MamepuaAbHOH ucmuna u cydeÖHbie òoK03ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 185 ff, 194; ebenso später IIlH(f>MaH, CcmnajiHCTHHecKaa 3aKOHHOCTi> 1957, Ks 7, S. 14, 15;

c f . B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 56. 71

CTporoBHM, YioAoeHbiü npot^ecc, Moskau 1946, S . 147; s.a. später D E R S . , Πραβο oöeuHHeMOZO na 3aiu,umy u npe3yMnu,uH neeunoenocmu, S . 107; ebenso KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix npesyMtiifunx β yzoAoenoM npou,ecce, S . 109 ff. Ähnl. JAKUB, in: KapeB (Hrsg.), CoeemcKuü yzOAoenbiü npou,ecc, 1956, S . 79. Zit. nach B I L I N S K Y , R O W 1962, 55, 59, 60. 72 JlyKamcBHM, in: BecTHHK JleiiHHrpancKOro yHHBepcHTeTa 1954, .N? 9, S. 91 ff, zit. nach CTpoΓΟΒΗΊ, MamepuaAbHaa ucmuna u cydeÖHbie doKa3ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM nponecce,

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

384

schuldig hielten, seine Schuld bewiesen hätten73. Ihre Verneinung würde das Wesen des sowjetischen Strafprozesses entstellen74 und eine parteiische, einseitig anklägerische Einstellung bei der Untersuchung und Entscheidung bedeuten75. Wenn man keine Schuldvermutung befürworten wolle, die auch von TADEVOSJAN abgelehnt werde, so bliebe nur die Annahme der Geltung der Unschuldsvermutung. 76 Immer wieder insistiert STROGOVIC, daß

die Präsumtion der Unschuld von gewaltiger Bedeutung für die Sicherung der Richtigkeit und Begründetheit der Gerichtsurteile sei,77 indem sie die Beseitigung jeglicher Zweifel an der Schuld des Angeklagten fordere: Die Präsumtion der Unschuld ist, ebenso wie alle anderen prozessualen Garantien im sowjetischen Strafprozeß, die Garantie der sozialistischen Rechtspflege für die richtige und gerechte Entscheidung in Strafsachen. Die Präsumtion der Unschuld bedeutet die Forderung nach vollständigem und unbedingtem Beweis der Anklage sowie eine allseitige, objektive und unvoreingenommene Untersuchung der Frage nach der Schuld des Angeklagten. Die Präsumtion der Unschuld verlangt eine Begründung der Anklage durch sorgfältig überprüfte und jeden Zweifel ausschließende Tatsachen, aber keine Vermutungen und Annahmen. 7 8 Sie verlangt eine hohe Qualität der Untersuchungs- und Gerichtstätigkeit; sie bildet eine notwendige Bedingung für die Feststellung der materiellen Wahrheit und hängt unmittelbar mit dem Recht des Angeklagten auf Verteidigung zusammen. 7 9

Nur so sei die sozialistische Gesetzlichkeit im Strafverfahren zu verwirklichen.80 Gegen den Vorwurf der Übernahme bourgeoiser Ideen erwiderte DAVYDOV, daß die Un-

schuldsvermutung im bürgerlichen Strafprozeß nur heuchlerisch deklariert worden sei, denn eine Präsumtion der Unschuld habe nur als Privileg für die Ausbeuterklasse, für die Werktätigen indessen eine unumstößliche Schuldvermutung gegolten.81 Schon K A M I N S -

S. 204 Fn. ι und 2. Ähnl. auch 1959 noch JlyKauieBHH, Tapanmuu ΛΟΘΗΟΜ npou,ecce,

npae oöeuHReMozo β coeemcKOM yzo-

S. 48 ff.

73 C T p o r o B H i , MamepuaAbHOH ucmuna u cydeÔHbie Ò0K03ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npoi^ecce, S. 203 (,,3ÜKOH cHumaem oôeuHneMOZo neeunoenbiM, ηοκα me ynacmnuKu npouficca, Komopbie CHumaiom oöeunneMOio eunoenbiM, ne doKaMtom, nmo OH deücmeumeAbHO euHoeeH. ", Hervorh. im Original). Später erneut in Πραβο oöeunneMozo Ha 3aiu,umy u npe.3yMni^un neeuHoenocmu, S. 74. 74

STROGOVIÖ, R I D 1953, 29, 39.

75

STROGOVIÖ, R I D 1954, 372, 384 f. Ähnl. RACHUNOV, R I D 1957, 95, 95 f., 101. 76 C T p o r o B H i , MamepuaAbHOH ucmuna u cydeÔHbie doxasameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM nponecce, S. 192 ff. 77 Die Forderung nach „Gesetzmäßigkeit" (saKOHHOcmb) und „Begründetheit" (oöocHoeaHHOcmb) der Strafurteile schrieb Art. 15 des Gesetzes über den Gerichtsaufbau der UdSSR und der Unions- und Autonomen Republiken ( 3 a K O H o cynoycrpoHCTBe CCCP, COIO3HI>IX a a B T O H O M H t i x pecnyßjimc) fest, s. CTporoBHH, MamepuaAbHan ucmuna u cydeÔHbie Ò0K03ameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM ηροιfecce, S. 196. 78 STROGOVIÖ, R I D 1954, 372, 384; ähnl. KaMHHCuaa, Ynenue o npaeoebtx npe3yMtw,UHX βyzoAoeHOM npoi^ecce, S. 99 ff., 102. 79 STROGOVIÖ, R I D 1953, 29, 39. Ebenso schon SAVICKIJ, RID 1953, 395, 406 und zuvor (1948) KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix npeeyMnufinx β yzoAoenoM npoifecce, S. 97. 80 STROGOVIÖ, R I D 1956, 470, 479. 81 DAVYDOV, R I D 1956, 33, 36; ähnl. bereits STROGOVIÖ, RID 1954, 372, 377, 385. Im Erg. auch RACHUNOV, R I D 1957, 95, 1 0 1 .

C.I.

UdSSR

385

KAJA hatte versucht, d e m Begriff strafprozessualer Garantien einen sozialistischen Inhalt zu geben, indem sie ihre Notwendigkeit für die Wahrheitsfindung betonte, da nur richtige Urteile den gewünschten gesellschaftlich-politischen Effekt hätten. 8 2 Sowohl die Unschuldsvermutung als auch der Zweifelssatz dienten daher der E r h ö h u n g der „Treffsicherheit" (Schlagkraft) der strafgerichtlichen Repression (MemKocmb cydeÖHOü penpeccuu).83 LUKASEVIC hält es für eine vordergründige und unzureichende B e g r ü n d u n g , die U n schuldsvermutung allein deshalb abzulehnen, weil der Begriff seine Wurzeln im bourgeoisen Recht habe; andernfalls müßte auf eine Vielzahl von Begriffen u n d Prinzipien verzichtet werden. Verfehlt sei die A n n a h m e , das sowjetische Recht müsse a u f alle Fragen des Prozeßrechts stets die entgegengesetzte Antwort finden wie das bourgeoise Recht. 8 4 P o L j A N S K i j bringt die Unschuldsvermutung ebenfalls in Z u s a m m e n h a n g mit der Forderung nach Gesetzmäßigkeit und Begründetheit 8 5 des Urteils u n d sieht sie als Schutz gegen die Voreingenommenheit u n d Parteilichkeit des Richters. Außerdem folge aus ihr, daß der Angeklagte seine Unschuld nicht beweisen müsse u n d Zweifel zu seinen Gunsten gehen müssen. TADEVOSJAN wird entgegengehalten, daß die Unschuldsvermutung nicht als formaler Beweis gesehen werden dürfe. D a n n aber könne m a n ihre G e l t u n g nur bestreiten, wenn zugegeben werden könne, daß sowjetische Gerichte trotz Zweifels an der Schuld des Angeklagten verurteilen dürften, was absurd sei. 8 6 Er verwirft STROGOVICS Ansicht insoweit, als es keinen Unterschied zwischen der Unschuldsvermutung (npednonoMenue neeuHoenocmu) als Prozeßprinzip und der Unschuldsvermutung (npe3yMnu,un neeuHoeHocmu) als Tatsachenhypothese gebe. D e n n ihren G r u n d habe sie in einer Vermutung (npednoAOMeuue), daß nämlich die Sowjetbürger gute u n d ehrliche Menschen seien. O h n e diese A n n a h m e einer Bonitätsvermutung (npe3yMnu,un doöponopndoHHoemu) sei der A u f b a u des Sozialismus nicht möglich. 8 7 D i e Bedeutung der Unschuldsvermutung sei folglich nicht, daß der Angeklagte als unschuldig betrachtet werde (cHumaemcR, npu3HaemcH HeeuHoeHbiM), sondern daß seine Unschuld vermutet werde (npednoAOzaemcn neeuHoeHbiM.).s> Trotz der allgemeinen A n n a h m e der Unbescholtenheit der Bürger gebe es Ausnah-

82

KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix

83

KaMHHCKan, Yneuue

o npaeoebix

S. 104.

npeayMnnunx e yzoAoeuoM nponecce, npe3yMnu,UHX β yzoAoenoM

auch SAVICKIJ im Vorwort zu K a c y M O B , Upe3yMnu,UR neeuHoenocmu

npou,ecce,

S. 100, 115; so später

β coeemcicoM npaee, S. 4.

84

J l y K a m e B H i , Fapanmuu

85

Z u den Begriffen s.o. Fußn. 77. Bemerkenswert ist die Ableitungskette: „OÖBHHHTejibHblH πρΗΓΟ-

ηραβ oôeunneMOZo β coeemcKOM yzonoeuoM

npou,ecce, S. 45 f.

Bop 3aKOHeH TOJibKO Torna, Korna OH oöocHOBaH. OßocHoeaHHbiM ace e r o MOJKHO npH3HaTb TOJIBKO Torna, Korna OH yöenHTeJiteH, a yöejiHTejibeH OH TOJIBKO Torna, Korna He Bbi3BiBaeT coMHeHH» Β TOM, HTO BHHa noncynHMoro noJiHOCTBK) noKa3aHa." (Ein Schuldspruch ist nur dann gesetzmäßig, wenn er begründet ist. Als begründet anerkennen kann man ihn aber nur dann, wenn er überzeugend ist, und überzeugend ist er nur dann, wenn er keine Zweifel daran hervorruft, daß die Schuld des Angeklagten vollständig bewiesen ist.), ITOJI SIHCKHH, Bonpocbi

meopuu coeemcKoto

yzoAoenozo

ηρομεοεα,

S. 183; ähnl. be-

reits DERS., CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1949.>1? 9, S. 57,57 f. 86

n o n HHCKHH, Bonpocbi

meopuu coeemcKozo

yzoAoenozo

npou,ecca, S. 184 f. = CoBeTCKoe rocy-

napcTBO H npaBO 1949, Λ6 9, S. 57, 63 f. 87

n o j i SIHCKHH, CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1949, Na 9, S. 57, 59; DERS., Bonpocbi

eemcKozo 88

yzonoeuozo

meopuu

co-

npou,ecca, S. 182.

ΠΟΛ SIHCKHH, Bonpocbi

meopuu coeemcKozo

napcTBo H npaBO 1949, K? 9, S. 57, 61.

yzoAoeuozo

npou,ecca, S. 182 = CoBeTCKoe rocy-

386

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

men, so wie im Einzelfall die Schuld desjenigen, gegen den Strafverfahren betrieben werde, vermutet werde. In gewisser Spannung zu seinem Ausgangspunkt mit der Kritik an S T R O G O V I C hält er nun zwei Aspekte der Unschuldsvermutung auseinander: Bedeutung habe sie für das Ermittlungsverfahren nur, indem sie den Staatsanwalt mahne, daß die Strafverfolgung nur bei Vorliegen ernster Gründe zulässig sei - sie gebiete aber nicht, den Beschuldigten für unschuldig zu halten,89 im Gegenteil, der Strafverfolger müsse ihretwegen von einer Schuldvermutung ausgehen.90 Denn die Beantwortung der Schuldfrage geschehe nicht erst mit einem Gerichtsurteil, sondern bereits dann, wenn die Schuld des Betreffenden — nach dem Ermittlungsverfahren - feststehe.91 Generell ende die Wirkung der Unschuldsvermutung, wenn der Untersuchungsführer (CAedoeameAb) bei Abfassung der Anklageschrift zu der Überzeugung gekommen sei, der Beschuldigte sei zweifelsfrei schuldig.92 Gleiches gelte für die staatsanwaltliche und gerichtliche Uberzeugung: in allen Stadien des Prozesses wirke

89 riojiHHCKHH, Bonpocbi meopuu coeemcKozo yioAoenozo npoifecca, S. 187: „B03M0)KHbi η β neñcTBHTejitHOCTH ÖMBSIOT TaKHe cjiynaH, Korna oÖBHHaeMMÖ npHBJieKaeTCH κ OTBeTBeHHOCTH He ποTOMy, ττο ecTb ocHOBaHHa npeflnojioraTb ero BHHOBHOCTI,, a noTOMy, MTO no oôcroaTejibBaM nejia Ηβτ ocHOBaHHH coMHeBaTtca Β ero He ocnapneaeMoñ Η HM caMHM BHHOBHOCTH H ocTaeTc» TOJIBKO ycraHoBHTb CTeneHL ero BHHy. Mbi He BH^HM npenaTCTBHa npn3HaTb, ΗΤΟ Β 3TOM cjiyqae npe3yMnuHH ΗΒΒΗHOBHOCTH YMOJIKAET, noTOMy HTO OHa yxce onpoeeprayTa. OopMajibHO oÔBHHaeMbiH Β 3TOM cjiynae no nocTaHOBJieHHH npnroBopa He CMHTaeTca ΒΗΗΟΒΗΜΜ, HO aro «He CHHTaeTca BHHOBHLIM» oTHioflb He 03HaMaeT npennojioxeHHa HeBHHOBHOCTH Η yxc BO BCHKOM cjiynae He paBH03HaHH0 npHHitfiny «ciHTaeTca HeBHHOBHbIM». TpeÔOBaHHH CHHTaTb OÖBHHaeMblH HeBHHOBHbIM nOCJie ΤΟΓΟ, KaK ero BHHOBHOCTb HeocnopHMo noKa3aHa, XOTH emë h He ycTaHOBJieHa cyneÔHbiM npnroBopoM, — TaKoro TpeôoBaHHa 3aKOH He npeataBJiaeT hh Κ rpaxnaHaM, HH Κ opraHy, np0H3B0jjameMy cnencTBHe, noTOMy HTO H3 Taxoro τρβ6oBaHHa, pe3Ko pacxonameroca c HeôcTBHTejibHocTbio, BbiTeKaJi 6BI H ΒΜΒΟΗ, κοτορωϋ 6biji 6bi HacMeuiKOH Han HeHCTBHTejibHOCTbK),— npexpameHHe flejia." (Es sind Fälle möglich und kommen auch in der Wirklichkeit vor, daß der Beschuldigte nicht deshalb zur Verantwortung gezogen wird, weil es Grund gibt, seine Schuld zu vermuten, sondern weil von den Umständen der Sache her keine Gründe bestehen, an seiner Schuld zu zweifeln, er seine Schuld auch nicht bestreitet und nur der Grad der Schuld noch zu erweisen ist. Wir sehen kein Hindernis festzustellen, daß in diesem Falle die Unschuldsvermutung verstummt, weil sie bereits widerlegt ist. Formal ist der Beschuldigte bis zum Erlaß des Urteils «nicht als schuldig zu betrachten», aber dies bedeutet keine Vermutung der Unschuld und ist keinem Falle gleichbedeutend mit dem Prinzip, daß er «als unschuldig angesehen wird». Eine solche Forderung - den Angeklagten für unschuldig zu halten, nachdem seine Schuld unbestreitbar bewiesen ist, wenn auch noch nicht durch den vorgeschriebenen richterlichen Urteilsspruch - richtet das Gesetz weder an den Bürger noch an das die Untersuchung leitende Organ, weil aus dieser Forderung, in krasser Verfehlung der Wirklichkeit, sich auch eine Konsequenz ergeben würde, die der Wirklichkeit Hohn lachte, — die Einstellung des Verfahrens.). 90 Hier machen sich die begrifflichen Schwierigkeiten seiner Konzeption auch sprachlich bemerkbar: „ripHHHMaa pemeHHe o πρΗΒπβΜβΗΗΗ jiHua β Kanecree oÔBHHaeMoro, cjienoeaTejib ne pyicoeodumcn

NPEIYMNNHEÑ HCBHHOBHOCTH H HE Η3ΧΟ^ΗΤ H3 H e ë , OH censan

NPE3YMNNHEÑ ΗΘΒΗΗΟΒΗΟΟΤΗ, He N03B0JI-

a i o m e ü eMy npHBJieib JIHUO Β KanecTBe OÔBHHAEMORO 6 e 3 HOCTaTOWHbix fljia ΤΟΓΟ OCHOBAHHH." ( H e r -

vorh. im Original) (Bei der Entscheidung über die Aufnahme der Beschuldigung einer Person wird der Untersuchungsführer nicht von der Unschuldsvermutung geleitet und geht nicht von ihr aus, er wird von der Unschuldsvermutung gebunden, die ihm nicht gestattet, eine Person zum Beschuldigten zu machen ohne genügende Gründe.), ΠΟΛΒΗΟΚΗΗ, Bonpocbi meopuu coeemcKozo yzoAoenozo npou,ecca, S. 186. " ITojiaHCKHH, Bonpocbi meopuu coeemcKozo yionoeuozo npoi^ecca, S. 187, oben Fußn. 89; cf. B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 57 f. 52 Abi. CoeemcKuü yzoAoeHbtü npoiiecc (1956), S. 78; IIpoKypaTypa CoK>3a CCP, Teopun όοκα3ameAbcme β coeemcKOM yzoAoenoM npoi^ecce, HacTb oßmaa, S. 442 f.

C.I.

UdSSR

387

die Präsumtion der Unschuld.93 Gilt die Unschuldsvermutung mithin in jedem Verfahrensabschnitt, so haben doch die Schuldüberzeugung von Untersuchungsführer, Staatsanwalt (npoKypop) und Gericht nicht dasselbe Gewicht, nur letztere ist endgültig. Im Verfahren bedeute die Unschuldsvermutung somit viererlei: (1) Der Angeklagte habe keine Pflicht, seine Unschuld zu beweisen, sondern die Anklage müsse seine Schuld nachweisen. (2) Im Verfahren müssen alle entlastenden Umstände, nicht nur diejenigen, die der Angeklagte selbst behauptet, berücksichtigt werden. (3) Das Gericht darf vor dem Urteilsspruch nicht zu verstehen geben, es halte den Angeklagten für schuldig. (4) Zweifel müssen zugunsten des Angeklagten gelöst werden und mangelnder Schuldbeweis ist mit Unschuld des Angeklagten gleichzusetzen, nicht mit Verdacht.'4 Nach R A C H U N O V ergibt sich aus der Präsumtion der Unschuld auch, daß ein Geständnis des Angeklagten nicht den Ausgang des Verfahrens im Sinne einer guilty plea bestimmen, also eine Verkürzung der Beweisaufnahme und -Würdigung bedeuten dürfe.95 S A V I C K I J argumentiert, daß die Präsumtion der Unschuld weder Zweifel an der Schuld des Angeklagten meine noch daß Unschuldige dem Gericht übergeben werden. Das Untersuchungsorgan, das die Anklageschrift verfasse, sei ebenso von der Schuld des Betreffenden überzeugt wie der Staatsanwalt, der sie bestätige. Dies berechtige aber nur zur Vornahme dieser Prozeßhandlungen. Erst das rechtskräftige Urteil widerlege die Unschuldsvermutung und beende zugleich das Recht auf Verteidigung.96 Verneint man diese Auffassung von der Präsumtion der Unschuld, so kommt dies der Verneinung der Bedeutung der Gerichtsverhandlung als des Hauptstadiums unseres Prozesses gleich, so führt das zu einer Herabsetzung der Bedeutung der Uberprüfung des Strafurteils in der höheren Instanz. Verneint man die Präsumtion der Unschuld, so fuhrt das notwendigerweise dazu, daß die Begriffe des „Beschuldigten" und des „Schuldigen" ineinander übergehen. 97

Auch D A V Y D O V betonte das richterliche Monopol der endgültigen Schuldfeststellung durch rechtskräftiges Urteil.98 c) Die „ Grundsätze des Strafverfahrens der UdSSR und der Unionsrepubliken " vom 25.12.1958 Positiven gesetzlichen Niederschlag hatte die Unschuldsvermutung bis dahin nicht gefunden. S T R O G O V I C , K A M I N S K A J A , C E L ' C O V und P O L J A N S K I J versuchten sie daher an Normen anzubinden, die sich auf umfassende und objektive Sachverhaltsaufklärung und -Würdigung sowie das Recht auf Verteidigung, das allerdings im Ermittlungsverfahren nur ein-

93

riojiHHCKHÍÍ, Bonpocbi meopuu coeemcKOZo yionoenoio nponecca, S. 186 ff., 188 f.; cf. Bi-

L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 59 f . 94 95 96

97

I l o j i HHCKHH, Bonpocbi meopuu RACHUNOV, R I D 1957, 9 5 , 1 0 1 .

coeemcKozo yzoAoenozo npoupcca,

S. 191 f.

S A V I C K I J , R I D 1 9 5 3 , 3 9 5 , 4 0 6 f.

SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 407. Ebenso später SAVICKIJ im Vorwort zu K a c y M O B , IIpe3yMnnuH neeuHoenocmu Β coeemcKOM npaee, S. 3 f. 98 D A V Y D O V , R I D 1956, 33, 36 f.; so später auch SnufiKAoneduHecKuu CAoeapb npaeoebix 3HÜHUÜ, S. 360; r i p o K y p a T y p a C o i o 3 a C C P , Teopun doKtaameAbcme β coeemcKOM yzoAoenoM npoupcce, HacTii o6maa, S. 447.

388

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

geschränkt bestand, weil kein Verteidiger zugelassen w a r , " bezogen.100 D e r V e r s u c h der Bef ü r w o r t e r d e r U n s c h u l d s v e r m u t u n g , d e n S a t z i n d e n G r u n d s ä t z e n f ü r das S t r a f v e r f a h r e n d e r U d S S R u n d d e r U n i o n s r e p u b l i k e n v o m 25.12.1958 ( O c H o e b i yzoAoenozo eodcmea

Coto3a

CCP

u cow3Hbix pecny6AUK)im

cydonpou3-

z u verankern,102 scheiterte.103 I m O b e r -

s t e n S o w j e t b e z e i c h n e t e d e r D e p u t i e r t e S A R K O V d i e U n s c h u l d s v e r m u t u n g als d e m W e s e n d e s s o z i a l i s t i s c h e n R e c h t s w i d e r s p r e c h e n d u n d d i e F o r d e r u n g n a c h i h r e r A n e r k e n n u n g als V e r s u c h , baufällige D o g m e n des b o u r g e o i s e n Rechts einzuführen.104 G O L U N S K I J , einer der Hauptverantwortlichen für den Entwurfstext, begründete den Verzicht a u f die Unschulds-

99 Art. 47, 48 U P K RSFSR i960 (YrojiOBHO-ripoueccyajitHbiH Koneicc PCCP), dazu FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203,1217 (1968). S.a. Textsammlung der Prozeßgesetze aller Sowjetrepubliken 3ακοηοόαmeAbcmeo 06 yzoAoenoM cydonpou3eodcmee Coto3a CCP u coK>3Hbtx pecnyônuK β dey χ moMax, MocKBa 1963. Deutsche Übersetzung des Gesetzestextes bei FRITSCH (Hrsg.), GVG, StGB, StPO der RSFSR, Berlin 1962, und H.J.ARNOLD, StGB, StPO, GVG der RSFSR, Berlin 1961; engl. Übersetzung bei BERMAN, Soviet Criminal Law and Procedure • The RSFSR Codes1, S. 203 ff. Die Zulassung eines Verteidigers schon im Untersuchungsverfahren war heftig umstritten, s. DAVYDOV, R I D 1956, 33, 46. Zur Stellung des Verteidigers s. SAVICKIJ, R I D 1956, 384 ff.; später HUSKEY, 34 Am.J.Comp.L. 93 ff. (1986). 100 CEL'COV, Der sowjetische Strafprozeß1, S. 198. Einzelheiten bei BILINSKY, R O W 1962, 55, 56 m. w. Nachw.; KaMHHCKa», Ynenue o npaeoebix npe3yMnu,unx β yzonoeuoM npou,ecce, S. 100 f.; ΠοπHHCKHH, Bonpocbi meopuu coeemcKOZO yzonoeuozo npoi^ecca, S. 185; CoeemcKuü yzoAoenbiü npoyecc (1956), S. 75 ff. 101 Abgedruckt in: Z. SZIRMAI (Hrsg.), The Federal Criminal Law of the Soviet Union, Leyden 1959, S. NO ff. (russ./engl.), in R I D 1959, 86 ff. (dt.) und bei BELLON, Rev.int.dr.pén. 1959,113,140 ff. (frz.). 102 So STROGOVIÉ, CoBeTCKoe rocyaapcTBO H npaeo 1958, JM° 7, S. 83 f. (zit. nach TojiyHCKHH. CoBeTCKoe rocynapcTBO Η npaeo 1959, H> 2, S. 48,54 Fn. 7); DAVYDOV, R I D 1956, 33,36 f.; RACHUNOV, COBeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1956, JV? 8, S,. 34 ff. = R I D 1957, 95 ff.; auch einer der stellvertretenden Vorsitzenden der juristischen Kommission beim Ministerrat der UdSSR, SUCHODREV [ C y x o H p e ß ] , CoeeTCKoe rocynapcTBo Η npaßo 1957, N? 5, S. 85, 89.

Dagegen VIKTOROV [BmcTOpoe], CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1958, M» 3, S. 88, 90 ff., 91: wenn Untersuchungsführer und Staatsanwalt es nur mit Unschuldigen zu tun hätten, dürfte nie ein Strafverfahren durchgeführt werden; KAREV [ K a p e ß ] , CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1958, 7, S. 118 f., der die Unschuldsvermutung selbst nur als deklaratorisch ansah und eine Präzisierung der konkreten Folgerungen für die Pflichten der Rechtspflegeorgane für sinnvoller hielt. Abi. auch BARANOV [EapaHOB], CcmnajmcTHHecKaa 3an0HH0CTt. 1958, JV2 3, S. 8 f. Kurze Wiedergabe der Positionen STROGOVIÖS und KAREVS bei BELLON/FRIDIEFF, Rev.sc.crim. 19J9, 83, 94; s.a. JlyKauieBHH, Tapaurnuu ηραβ oôeunneMOzo β coeemcKOM yzoAoenoM nponecce, S. 43 ff. Z u m Ganzen gut DIRNECKER, R O W 1959, 160 ff., 162, 164; s.a. HAZARD/SHAPIRO, The Soviet Legal System, Part I, S. 85 f.; OSAKWE, 50 Tul.L.Rev. 266, 281 Fn. 75 (1975-76). 103 Dazu rojiyHCKHH, CoBeTCKoe rocynapcTBo a npaBO 1959, N» 2, S. 48, 54; JlyKauieBHH, Γαραηmuu ηραβ oôeuHtieMozo β coeemcKOM yzoAoeuoM npou,ecce, S. 43 ff. 104 Die Rede ist abgedruckt in: 3acenaHHit BepxOBHoro CoBeTa C C C P ΠΗΤΟΓΟ co3biBa. BTopaa ceccHa: CTeHorp. ο τ ι ε τ . , MocKBa 1959, S. 523 f. = H3BecTH» vom 27.12.1958 (zit. nach BILINSKY, R O W 1962, 55, 59) = ripaeaa vom 27.12.1958 S. 5 (zit. nach FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203,1205 Fn. 9 (1968) und BERMAN, Soviet Criminal Law and Procedure • The RSFSR Codes1, S. 59 Fn. 18); auszugsweise Wiedergabe bei KacyMOB, Tlpe3yMnu,UH HeeuHoeuocmu β coeemcKOM npaee, S. 15. Deutsche Übersetzung in R I D 1959, 135,137. Ahnl. GOLUNSKIJ, R I D 1959,138,141; DERS., CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1959, Ks 2, S. 48, 53 f.; ablehnend JlyKaiueBHM, Tapanmuu ηραβ oôeuHaeMOzo β coeemcKOM yzoAoenoM npoifecce, S. 43 f.; KacyMOB, ÎIpe3yMnu,UH HeeuHoeuocmu β coeemcKOM npaee, S. 15 f.

C.I.

UdSSR

389

V e r m u t u n g d a m i t , daß es weitaus wichtiger sei, spezifische G a r a n t i e n auszusprechen, die sich aus der U n s c h u l d s v e r m u t u n g ableiten lassen - daß der Beschuldigte v o r rechtskräftiger V e r u r t e i l u n g w i e ein U n s c h u l d i g e r zu behandeln sei - , als eine allgemeine F o r m e l festzuschreiben, die bloß deklaratorischen C h a r a k t e r h a b e . 1 0 5 S o verbietet A r t . 7 Satz 2 1 0 S der OcHoebi

Schuldfeststellungen u n d Bestrafungen, die nicht d u r c h Gerichtsurteil ergehen,

u n d A r t . 1 4 A b s . 2 1 0 7 eine V e r s c h i e b u n g der B e w e i s f ü h r u n g s p f l i c h t 1 0 8 a u f den A n g e k l a g t e n .

N i c h t überliefert wird stets, d a ß SARKOV ferner meinte, d a ß der Sinn dieser komplizierten Formulier u n g vielleicht f ü r Juristen verständlich sein möge, die breiten Massen der Werktätigen i h n aber k a u m verstehen w ü r d e n . Er d e m o n s t r i e r t e dies s o d a n n , i n d e m er den Satz wörtlich n a h m (nach der U b e r s e t z u n g in R I D 1959, 135,137 m i t Berichtigungen): „Wir sind der M e i n u n g , d a ß d u r c h die gesetzgeberische Verankerung dieser F o r m u l i e r u n g u n v e r s ö h n liche W i d e r s p r ü c h e in das Gesetz hineingetragen w ü r d e n . Stellen Sie sich folgenden Fall vor: A m Tatort w u r d e ein M ö r d e r , ein Bandit, auf frischer Tat ertappt. D u r c h eine sorgfältige, in genauer U b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m Gesetz d u r c h g e f ü h r t e U n t e r s u c h u n g h a b e n der U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r u n d der Staatsanwalt die Schuld des B a n d i t e n festgestellt, o b w o h l seine Schuld o h n e d i e s f ü r alle o f f e n k u n d i g war. A u f der G r u n d l a g e des Gesetzes u n d der gesammelten unwiderlegbaren Beweise sind der U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r u n d der Staatsanwalt n i c h t n u r berechtigt, s o n d e r n auch verpflichtet, d e n M ö r d e r strafrechtlich zur V e r a n t w o r t u n g zu ziehen u n d ihn zu verhaften. W ü r d e die vorgeschlagene F o r m u l i e r u n g in das Gesetz a u f g e n o m m e n , wären der U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r u n d der Staatsanwalt hingegen verpflichtet, diesen B a n d i t e n als u n schuldig anzusehen. D a unterstrichen wird, d a ß der Beschuldigte bis zur Rechtskraft des Urteils als u n schuldig gilt, ergibt sich ferner, d a ß selbst das G e r i c h t nach der V e r h a n d l u n g ü b e r die Sache u n d n a c h Verk ü n d u n g eines Strafurteils verpflichtet wäre, diesen Beschuldigten als u n s c h u l d i g anzusehen. V o m S t a n d p u n k t des g e s u n d e n Menschenverstandes ist eine solche T h e s e zweifellos unsinnig. Es ist n u r n i c h t einzusehen, w a r u m das d e n e r w ä h n t e n T h e o r e t i k e r n unklar ist." Ebenso der stellvertretende Vorsitzende der juristischen K o m m i s s i o n b e i m M i n i s t e r r a t der U d S S R BARANOV in: CouHajiHCTJwecKaü 3aKOHHOCTb 1958, 3, S. 8, 9: Eine ausformulierte U n s c h u l d s v e r m u t u n g w ü r d e sowohl von d e n Bürgern als auch d e n U n t e r s u c h u n g s f ü h r e r n u n d G e r i c h t e n wenig verstanden werden; ebenso TonyHCKHH, CoeeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1959, .N? 2, S. 48, 54: Es widerspreche d e n G r u n d s ä t z e n sozialistischen Rechts, w e n n eine N o r m v o m h e r k ö m m l i c h e n W o r t s i n n a b w e i c h e n d u n d daher allenfalls von Rechtswissenschaftlern, nicht aber von Staatsanwälten oder gar d e n W e r k t ä t i g e n zu verstehen sei. N a c h BERMAN, ibid., f ü h r t e die Ä u ß e r u n g SARKOVS i m Westen zu der A n n a h m e , i m sowjetischen Recht gebe es keine U n s c h u l d s v e r m u t u n g , u n d der Artikel GORKINS in Η3ΒΘΟΤΗ« v o m 2.12.1964, S. 3, w u r d e daher als R e c h t s ä n d e r u n g gedeutet. In der Tat aber h a b e n sich die sowjetische Diskussion u n d Rechtslage in dieser Zeit n i c h t geändert. 105 106

r o j i y H C K H H , CoBeTCKoe rocynapcTBo H n p a ß o 1959, Ms 2, S. 48,53 f. OraTbH 7. OcymeCTBJieHHe npaBOcynnH TOJibKO cyflOM I l p a B o c y n H e n o y r o n o B H b i M n e j i a M o c y m e c T B J i a e T c a TOJibKO c y n o M . HHKTO He MOTOT 6 b i T b

107

npn3HaH BHHOBHbiM Β coBcpiiieHHH npecTyiuieHHH H noflBeprHyT YROJIOBHOMY HaKasaHHK) HHAIE KaK n o npnroBopy Cyna. (Artikel 7. A u s ü b u n g der R e c h t s p r e c h u n g n u r d u r c h das Gericht D i e R e c h t s p r e c h u n g in Strafsachen wird n u r v o m G e r i c h t ausgeübt. N i e m a n d k a n n anders der B e g e h u n g eines Verbrechens f ü r schuldig b e f u n d e n u n d bestraft werden als d u r c h ein Gerichtsurteil.) OraTbH 14. BcecTOpoHHee, nojiHoe Η οδτ,βκτΗΒΗοε HccjienoBaime oöCTOjrrejibCTB n e n a Cyn, npoKypop, cjienOBaTejib Η JIHIÍO, np0H3B0flnmee fl03HaHne, o6H3aHbi npHHsrrb Bee npenycMOTpeHHbie 33KOHOM Mepbi HJIH BcecTopoHHero, nojiHoro Η 06τ>βκτΗΒΗ0Γ0 nccjienoBaHHH 06CTOHTejibCTB flejia, BLIHBHTI, KaK yjiHiaiomHe, TaK Η onpaBHbiBaiomHe oÖBHHaeMoro, a TaKJKe o T f l r i a i o m H e H CMarnaiomne e r o BHHy oôcToaTejibCTBa. Cyn, n p o K y p o p , cjienoeaTejib H JIHUO, np0H3B0H»mee R03HaHHe, He Bnpaee n e p e j i a r a T b 0 6 snaHHOCTb HOKa3biBaHHa Ha oÖBHHiieMoro.

39°

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Art. 36 Abs. i 1 0 9 bestimmt, daß der Richter den Angeklagten dem Gericht übergibt, wenn genügende Gründe dafür vorliegen, ohne jedoch die Schuldfrage damit vorab zu entscheiden. Art. 43 Abs. 4 verbietet, eine Verurteilung auf Vermutungen zu stützen, vielmehr bedarf es des in der Hauptverhandlung erbrachten Beweises. 110 Trotz der Verwerfung des Antrags, die Unschuldsvermutung in die OcHoebi

aufzuneh-

men, sahen viele sie in den vorgenannten Vorschriften der Sache nach als verwirklicht an. 1 1 1 Andere wie M A R T Y N C I K leugneten ihre Existenz, weil sie in den OcHoebi nicht ausdrücklich genannt werde. 1 1 2 TRUSOV erklärte den Versuch, die Unschuldsvermutung in den

(Artikel 14. Die allseitige, vollständige und objektive Untersuchung der Tatumstände Das Gericht, der Prokurator, der Untersuchungsführer und die Person, die die Ermittlung führt, sind verpflichtet, alle vom Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur allseitigen, vollständigen und objektiven Untersuchung der Tatumstände zu ergreifen, sowohl die belastenden als auch die entlastenden, wie die erschwerenden und die mildernden Umstände festzustellen. Das Gericht, der Prokurator, der Untersuchungsführer und die Person, die die Ermittlung führt, sind nicht berechtigt, die Beweisführungspflicht dem Beschuldigten aufzuerlegen.) 108 Der russische Text spricht von o6n30HHOcmb doKasbieanun, der Verpflichtung zur Beweisfiihrung. Häufig wird hier Beweislast übersetzt, dem aber 6peMH doKa3bieaHUH entspräche, vgl. G O R G O N E , 28 A m J . C o m p . L . 577, 586 f. m. Fn. 21 f. (1980). Welche Beweislast gemeint ist, bleibt in den Übersetzungen offen. EpeMH 00K03bieaHUsi ließe sich als Darlegungslast verstehen wegen der Ableitung vom imperfektiven Aspekt d0K03bieamb des Verbs beweisen im Gegensatz zum perfektiven Aspekt d0K03amb. Dazu BERMAN, 28 Am.J.Comp.L. 615, 617 m. Fn. 4 (1980). STROGOVIÓ, Πραβο oGeunneMOio na 3aw,umy u npe3yMnu,UH HeeuHoenocmu, S. 84, und KacyMOB, Πρβ3γΜημιΐΗ ueeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 23, 50 ff., gebrauchen die beiden Begriffe jedoch unterschiedslos. 109 CraTbH 36. ripesarne cyny CyflbH npH HajiHHHH HOCTaTOHHbix ocHOBaHHH ana paccMOTpeHHH nejia Β cyneÖHOM 3acenaHHH, He npenpemaa Bonpoca o BHHOBHOCTH, BMHOCJIT nocTaHOBJieHHe o npenaHHH oÖBHHiieMoro cyny(Artikel 36. Die Ubergabe an das Gericht Bei Vorliegen hinreichender Gründe für die Verhandlung einer Sache vor Gericht ordnet der Richter, ohne über die Frage der Schuld vorab zu entscheiden, die Ubergabe des Beschuldigten an das Gericht an.) 110 CTaTi>H43. ΠρΗΓΟΒορ cyaa OÖBHHHTejIfcHblH ΠρΗΓΟΒΟρ Ηβ ΜΟΧβΤ ÔblTb OCHOBaH Ha npeflnOJIOXeHHHX H nOCTaHOBjraeTca jiniiib πρκ ycjioBHH, ecjiH Β xojje cyneÖHoro paaônpaTejibCTBa BHHOBHOCTL· noHcynHMoro Β coBepuieHHH npecTynjieHHH HOKa3aHa. (Artikel 43. Das gerichtliche Strafurteil Das verurteilende Urteil darf sich nicht auf Vermutungen gründen und wird nur dann ausgesprochen, wenn im Verlauf der gerichtlichen Hauptverhandlung die Schuld des Angeklagten hinsichtlich der Verbrechensbegehung bewiesen worden ist.) 111 JlyKameBHH, rapanmuu npae oöeunneMoio e coeemcKOM yioAoenoM npou,ecce, S. 57; und unten Fußn. 119. So später CoeemcKuü yzoAoenbiü npoifecc (1980), S. 84; KacyMOB, Vlpe3yMnu,uR HeeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 16; IIpyTHeHKOBa, Ilpe3yMnnusi HeeuHoenocmu, S. 8 gegen M a p TBIHMHK. Auch OSAKWE, 50 Tul.L.Rev. 266, 281 f. m. Fn. 75 (1975-76), der die Unschuldsvermutung allerdings in Art. 15 verwirklicht sieht, welcher nur bestimmt, daß die Begehung einer Straftat bewiesen werden müsse. Anders FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203, 1205 (1968), der darin eine Zurückweisung der Unschuldsvermutung sieht. 112 Ε . Γ. MapTbiHHHK, rapanmuu npae 06euHaeM0i0 β cyde nepeoü UHcmaHU,uu (KnuiHHeB 1975), S. 75, zit. nach FIpyTHeHKOBa, IIpe3yMni^uH neeunoenocmu, S. 7 bei Fn. 3.

C.I. UdSSR

391

OcHoebi zu verankern, für sinnlos: Es handele sich bei der Unschuldsvermutung lediglich um eine logische Annahme, die den Beweisvorgang präge. Da eine vollständige Sachaufklärung in der Praxis regelmäßig unmöglich sei, gleichwohl aber eine kategorische Antwort auf die Schuldfrage gegeben werden müsse, bleibe nur ein indirekter Beweis der Schuld- oder Unschuldhypothese. So werde die These, der Angeklagte sei eines bestimmten Deliktes schuldig, durch Widerlegung der Antithese, er sei unschuldig, bewiesen. Gelinge der Beweis nicht, verbleibe die Antithese. Die andere Möglichkeit, die Unschuldshypothese als These zu nehmen und durch Widerlegung der Schuldhypothese als Antithese zu beweisen, stoße auf immense praktische Schwierigkeiten und sei daher abzulehnen. 113 Die meisten Befürworter der Unschuldsvermutung gaben jedoch ihre Meinung nicht auf, nur einige strichen die Unschuldsvermutung aus ihren Lehrbüchern. 114 Ahnlich wie zuvor S T R O G O V I C 1 1 5 formulierte L u K A S E v i è 1959 die Unschuldsvermutung als objektiven rechtlichen Grundsatz, der verbiete, jemanden für schuldig zu halten, der nicht von einem Gericht auf Grund einer allseitigen und objektiven Analyse über die Gesetzmäßigkeit und Begründetheit der Anklage verurteilt worden sei. Im Gegensatz zu S T R O G O V I C S Ansicht gebiete die Unschuldsvermutung aber auch jedem am Prozeß beteiligten staatlichen Organwalter, den Angeklagten als unschuldig anzusehen bis er die innere Überzeugung der Schuld gewinne. Mit P O L J A N S K I J " 6 sei anzunehmen, daß die Unschuldsvermutung in allen Stadien des Prozesses einschließlich der Wiederaufnahme gelte, aber in jedem einzelnen Stadium durch die Schuldüberzeugung des jeweils verfahrensführenden Organs widerlegt werde; im nachfolgenden Verfahrensabschnitt beginne ihre Geltung von neuem. 117 1964 flammte die Debatte wieder auf. 118 Im Jahr 1965 fand die Unschuldsvermutung Eingang in die neue Enzyklopädie sowjetischer Rechtsbegriffe sowie 1966 in das Handbuch der Prokuratur der UdSSR zur Beweistheorie des Strafverfahrens, die sich auf die genannten Bestimmungen der OcHoebi beziehen.119 Das letztgenannte offizielle Werk versteht die Unschuldsvermutung als Konkretisierung der allgemeinen Vermutung für die Normtreue der

113 T p y c o B , OcHoebi meopuu cydeÖHbix doKasamenbcme (MocKBa 1960), S. 156 f. = TROUSSOV, Introduction à la théorie de la preuve judiciaire, S . 200 ff. Dagegen später K a c y M O B , Πρβ3γΜημιΐΗ neeuHoeHocmu β coeemcKOM npaee, S. 17. 114 Nachweise bei FLETCHER, 15 U C L A L.Rev. 1203,1205 Fn. 10 (1968). 115 Siehe oben Fußn. 73. 116 Siehe oben S. 385 f. 1,7 JlyicameBHH, fapaumuu ηραβ oöeuHaeMOZO β coeemcKOM γιΟΛΟβΗΟΜ npoyecce, S. 48 f., 52 ff., 55 f.; cf. BILINSKY, ROW 1962, 55, 59. Daß LUKASEVIÒ dies als erster formuliert habe, wie BILINSKY, ibid., meint, ist daher unzutreffend; außerdem weist LUKASEVI¿ die Ansicht STROGOVIÒS zunächst als falsch zurück (S. 48 f.). 118 CTporoBHH, CyòeÒHan OIUUÖKÜ, JlHTepaTypHaa Ta3eTa, 23.5.1964, S. 5; DERS., Omeem npotcypopy, JÏHTepaTypHaa TaíeTa, 18.8.1964, S. 2; OHJIHMOHOB, O 3a CCP, Bcecow3HHÖ HHCTHTyT no H3y«jeHHio npHHHH h

p a 3 p a 6 0 T K e M e p n p e n y n p e x n e H H K ) n p e c T y n H O C T H , Teopun

00K03ameAbcme

β coeemcicoM

yzo-

ΛοβποΜ npou,ecce, HacTb o6man, S. 434 ff., 437 ff. Ähnlich zuvor schon lOpuduHecKuü CAoeapb, 2. Aufl. Moskau 1956, Band 2, S. 222 f.

392

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Sowjetbürger.120 Es handele sich um eine objektive Regel, die an den Staat gerichtet sei und in allen Phasen des Strafprozesses gelte. 121 Sie sei daher unabhängig von der subjektiven Meinung der staatlichen Organwalter, denn es sei keine widerlegliche, empirisch gegründete Vermutung: Vielmehr sei die Unschuldsvermutung insoweit unwiderleglich, als sie einen bestimmten Verfahrensgang und bestimmte Verfahrensanforderungen unabdingbar und ausnahmslos festschreibe. Es komme nicht darauf an, ob vor dem rechtskräftigen Urteil bereits die materielle Wahrheit herausgefunden worden sei, da das vorgeschriebene Verfahren keinesfalls abgekürzt werden dürfe. 122 Die der Unschuldsvermutung - als wesentliches Element des Rechts auf Verteidigung 123 und Ausdruck der Prinzipien der Gesetzlichkeit124 und materiellen Wahrheit125 - beigelegten Folgen betrafen somit das Erfordernis hinreichenden Beweises,126 den Zweifelssatz127 und unbedingten, voll rehabilitierenden Freispruch128 sowie die Beweislast der Anklage, 129 wobei die sowjetische Literatur ebenfalls von der mit diesem Terminus verbundenen begrifflichen Wirrnis angesteckt wurde. 130 - V Y S I N S K I J etwa versuchte eine Beweislast Verteilung einzuführen, indem er dem Angeklagten eine Beweispflicht für seine Behauptungen auferlegte. Diese Beweislast könne im Prozeß auch mehrmals hin und her wechseln je nach den Einlassungen der beiden Seiten. 131 Gemeint ist damit wohl eine vom jeweiligen Stand einer vorläufigen Beweiswürdigung abhängige tatsächliche Uberzeugungslast oder „konkrete Beweislast", 132 die der factual burden der englischen Diskussion entspricht, und die nun Rechtscharakter tragen soll. 133 - Für alle diese Folgen wurde die Geltung der Unschuldsver-

120 r i p o K y p a T y p a CoK>3a CCP, Teopiw doKajameAbcme HacTb o ö m a a , S. 439. 121 r i p o K y p a T y p a CoK>3a C C P , Teopun doKasameAbcme HacTb oömaa, S. 440, 443 ff. 122 r i p o K y p a T y p a C o i o 3 a C C P , Teopun Ò0K03ameAbcme HacTb o ô m a a , S. 446 f.

β coeemcKOM yzoAoenoM

npou,ecce,

β coeemcKOM yzoAoenoM

npou,ecce,

β coeemcKOM yzoAoeuoM

npoifecce,

123 SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 406, 408; STROGOVIÒ, R I D 1953, 29, 39. Ähnl. ÖEL'COV, Der sowjetische Straftrozeß1, S. 197; DAVYDOV, R I D 1956, 33, 37. 124

Siehe CEL'COV, Der sowjetische Straftrozeß1, S. 197; DAVYDOV, R I D 1956, 33, 37; NIKOLAJEV, R I D

1957. 33» 38. 125

DAVYDOV, RID1956, 33, 37. SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 407. 127 SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 407; 3HU,uiaioneóuHecKuü CAoeapb npaeoebix 3HOHUÜ, S. 360; lOpudunecKuü CAoeapb1, Band 2, S. 222 f. Ahnl. TROUSSOV, Introduction à la théorie de la preuve judiciaire, S. 206, der betont, es müsse sich um tatsachengestützte, unbehebbare, nicht leichtfertige Zweifel handeln. 128 Vgl. PoLjANSKij, S t u R i 9 5 7 , 1 0 5 , 122. 125 SAVICKIJ, R I D 1953, 395, 407; CEL'COV, Der sowjetische Straftrozeß2, S. 198 (s.a. S. 195); NIKOLAJEV, R I D 1957, 33, 38; VYSINSKIJ, Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 266. So auch die Einschätzung von HAZARD, Rev.sc.crim. 1964, 293, 303. A.A. TaneBOCHH, CoBeTCKoe rocynapcTBO h npaBO 1948, Ks 6, S. 72. 130 Krit. BILINSKY, R O W 1962, 55, 60 ff. 131 VYSINSKIJ, Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 256 ff., 258 f. Dagegen C T p o r o B H H , Ynenue o MamepuanbHoü ucmune β yzoAoeuoM npou,ecce, S. 260 ff. 132 Begriff von PRUTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 7 ff. 133 Krit. BILINSKY, R O W 1962, 55, 61 f., der hierin sowie mit der Anwendung des dem Untersuchungsprozeß angeblich fremden Begriffes „Beweislast" die Statuierung von Mitwirkungspflichten sieht. Abi. 126

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UdSSR

393

mutung als konstitutiv angesehen,134 wie die Darlegungen der vermeintlichen Folgen ihrer Negierung zeigen. Als subjektive Garantie kann die Unschuldsvermutung keinesfalls verstanden werden, denn „die sozialistische Gesellschaft ist die einzig sichere Garantie für den Schutz der Interessen des einzelnen": Im sowjetischen Strafprozeß stehen die Interessen des Beschuldigten und die gesetzlich geschützten Interessen des Staates nicht im Gegensatz zueinander. Der sowjetische Gesetzgeber stellt der Rechtsprechung die Aufgabe, den Schuldigen zu bestrafen, und bemüht sich in jeder Weise darum, daß kein Unschuldiger bestraft wird. Die prozessualen Garantien des einzelnen fallen vom Standpunkt des sowjetischen Gesetzgebers aus völlig mit den Interessen der Rechtsprechung zusammen. 1 3 5

Das von der Prokuratur der UdSSR herausgegebene Handbuch der Beweistheorie im sowjetischen Strafprozeß betont daher, daß Art. n der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen nur den Aspekt eines subjektiven Rechts zum Schutze des Angeklagten hervortreten lasse. Nicht weniger bedeutsam sei aber die Unschuldsvermutung als Garantie der Wahrheitsfindung, welche die Menschenrechtserklärung vernachlässige. Daher sei die Unschuldsvermutung vollständig nur im sozialistischen Recht verwirklicht als Ausdruck wahrer, nicht bloß formaler Demokratie. 136

3.

Deutungen der sowjetischen Debatte

a) Bilinsky Für BILINSKY ist die sowjetische Präsumtion der Unschuld nichts anderes als das umformulierte Prinzip der materiellen Wahrheit. Schon aus der Zurückweisung der individualistischen Staatslehre ergebe sich, daß die Unschuldsvermutung keinen Platz im sowjetischen Prozeß haben könne. Da nach sozialistischer Auffassung der Angeklagte keines Schutzes gegen den Staat und seine Organe bedürfe, erschöpfe sich die Präsumtion der Unschuld in einer technischen Weisung an die Rechtspflegeorgane zur möglichst umfassenden und sorgfältigen Beweiswürdigung.137 Die verschiedenen Aspekte der Präsumtion der Unschuld, die in der sowjetischen Diskussion hervorgehoben würden, änderten daran nichts: Es kann sich auch nichts ändern, weil die P d U - praesumtio boni viri - ein Bestandteil der Weltanschauung ist, deren Ausgangspunkt der M e n s c h als ein von Gott geschaffenes, kluges, vemünf-

NIKOLAJEV, R I D 1957, 33, 38; SCHINDLER, NJ 1956, 654, 656, jeweils wegen Verstoßes gegen die Präsumtion der Unschuld. 134 Ausdrücklich SAVICKIJ, R I D 1953, 395,407 („nicht nur eine Deklaration"). Anders KAREV, CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1958, Λ» 7, S. 118 f., zit. nach BELLON/FRIDIEFF, Rev.sc.crim. 1958, 83, 94. 135 P o L j A N S K i j , StuR 1957, 105, 121. Sachlich ebenso KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebtx npesyMnu,unx β γζοΛΟθΗΟΜ npoi^ecce, S. 100, 104; SAVICKIJ, R I D 1956, 384, 385. Vgl. dazu auch HAUSER, Menschenrechte im Sowjetsystem2, S. 30 ff. (zur kommunistischen Anthropologie), 37 f., 39 ff. (zum Staats- und Grundrechtsverständnis). 136

npoKypaTypa HacTt oömaa, S. 436. 137

Coio3a

C C P , Teopun

B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 58.

òoKaeameAbcme

β coeemcKOM yionoenoM

npou,ecce,

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

394

tiges und sich im Zustand absoluter Freiheit und Unabhängigkeit befindliches Wesen ist. Der Mensch, das Individuum, ist ein vorstaatliches Wesen und seine Freiheit überstaatlich. In Bezug auf das Individuum ist der Staat eine sekundäre, aus dem Willen der Individuen abgeleitete Erscheinung. Ein „bonus vir" bildet die Grundlage dieser freiheitlichen Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne ist die praesumtio boni viri nicht nur eine strafprozessuale Institution, sondern einer der Grundpfeiler der f r e i h e i t l i c h - d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft. Anders verhält es sich bei der D i k t a t u r des P r o l e t a r i a t s . Die Lehre über die Diktatur des Proletariats stützt sich auf die Auffassung vom Menschen als einem mit der Erbsünde der bourgeoisen Vorurteile belasteten Wesen. Die Demokratie wird nur als Demokratie f ü r das Volk und nicht d u r c h das Volk verstanden. In der freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist die praesumtio boni viri ein Ausdruck des Mißtrauens der souveränen Gesellschaft den Staatsorganen gegenüber. Im Staate der Diktatur des Proletariats ist es gerade umgekehrt. Der Grundpfeiler der Weltanschauung der Diktatur des Proletariats ist die praesumtio m a l i v i r i . Mit Recht behauptet Sarkow, daß die praesumtio b o n i v i r i mit dem Wesen des sowj. Rechts nicht übereinstimmt. Eine Diskussion über das Vorhandensein der PdU im sowj. Strafprozeß muß also eine fruchtlose Diskussion sein, wenn sie sich im Rahmen des Strafprozesses bewegt und auf die Grundlagen der Lehre von der Diktatur des Proletariats nicht eingeht. 138

b)

Berman

stellt fest, daß in den Vorschriften des i960 erlassenen Strafprozeßkodex der R S F S R wie zum Teil schon im Kodex von 1923 alles das, was in westlichen Rechtsordnungen unter der Unschuldsvermutung verstanden werde, enthalten sei, nur die Bezeichnung selbst nicht: (1) der Angeklagte müsse keinen Beweis anbieten, (2) die Anklage dürfe nicht als Schuldindiz betrachtet werden, (3) belastendes Beweismaterial müsse in der Hauptverhandlung vorgetragen werden, auf deren Resultate sich das Urteil allein stützen dürfe, (4) eine Verurteilung dürfe nicht auf Vermutungen und Mutmaßungen gestützt werden, (5) der A n geklagte sei freizusprechen, wenn seine Schuld nicht erwiesen sei. 139 B E R M A N meint zum einen, es sei mißverständlich, hier von Beweislast zu sprechen, da der sowjetische Prozeß inquisitorisch sei und zur Verurteilung die intime conviction des Richters erfordere. 1 4 0 Z u m anderen lege der Gebrauch des Ausdrucks „Unschuldsvermutung" die Existenz förmlicher Beweisregeln nahe wie die des anglo-amerikanischen Prozesses. Im sowjetischen Strafrecht gebe es aber keine Vermutungen. 1 4 1 Z u d e m kenne die russische Sprache keinen adäquaten Terminus für „Vermutung" bzw. „vermuten", sondern nur Worte, die eine stärkere Bedeutung hätten (cnumambcn,141 npednonozambcn). Eine der geläufigen Umschreibungen bedeute das gleiche wie das englische "to consider". Es wäre aber falsch zu sagen, der Staatsanwalt „betrachte" den Beschuldigten als unschuldig, wenn er Anklage erhöbe. Ebenso habe der Richter des gerichtlichen Vorverfahrens (cydeÔHoe CAedcmeue, eines Zwischenverfahrens, das über die Zulassung der Anklage befindet) sich eine Meinung über die Schuld gebildet, während der Richter der Hauptverhandlung zu Prozeßbeginn noch gar keine Meinung zu der Sache haben könne. Insgesamt könne man daher sagen, daß das sowjetische BERMAN

138

B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 5 9 ( H e r v o r h . i m O r i g i n a l ) .

139

BERMAN,

140 141

142

Soviet Criminal Soviet Criminal B E R M A N , Soviet Criminal Verwendet vom Obersten BERMAN,

Law and Procedure • The RSFSR Codes, S. 58 f. Law and Procedure • The RSFSR Codes, S. 59 fF. Law and Procedure • The RSFSR Codes, S. 62. Gericht in der Entscheidung 1946, s.o. Fußn. 12.

C.I. UdSSR

395

Recht durchaus in einem allgemeinen Sinne die Unschuldsvermutung kenne, nicht aber "in the technical meaning attached to it in English and American law". 143 Die Auseinandersetzungen im sowjetischen Schrifttum beruhten auf "semantic confusion" 144 aufgrund der gezeigten sprachlichen Insuffizienz des Russischen. Dieser Bewertung wird von F L E T C H E R widersprochen. Zunächst gebe es keine allgemeine Korrelation zwischen Inquisitionsprozeß, intime conviction und Bejahung oder Verneinung der Unschuldsvermutung, denn auch in Frankreich und Deutschland werde die Unschuldsvermutung trotz Untersuchungsmaxime anerkannt.145 Sodann weist er BERM A N S linguistisches Argument zurück: Die dem zugrundeliegende Sprachtheorie W H O R F S , daß die Grenzen einer Sprache auch die Grenzen der Begriffs- und Vorstellungswelt ihrer Sprecher seien, sei problematisch.146 Sein Beispiel, daß die russische Sprache keine adäquate Übersetzung für „vermuten" bereitstelle, überzeuge nicht, denn der Unterschied zwischen "presume" und "consider" sei unerheblich: B E R M A N S These, der Staatsanwalt betrachte den Angeklagten nicht als schuldig, lasse sich mit beiden Verben exerzieren und stelle vielmehr einen grundsätzlichen Einwand gegen ein bestimmtes Verständnis der Unschuldsvermutung dar.147 B E R M A N unterlaufe bei der rechtsvergleichenden Betrachtung ein Methodenfehler, indem er am Wortlaut der Unschuldsvermutung und einer unausgesprochenen Vorstellung von ihrer „technischen Bedeutung" hafte anstatt die Funktion des Instituts zu ergründen und dann nach Äquivalenten im sowjetischen Recht zu suchen.148 B E R M A N hielt an seiner Deutung fest, weil die Grenzen des sprachlichen Erbes nie ganz überschritten werden könnten, daher könne auch die von F L E T C H E R behauptete rhetorische Funktion der Unschuldsvermutung nur eine eingeschränkte sein.149 Sein Hinweis darauf, daß die Unschuldsvermutung auch wegen Unverständlichkeit nicht in die Omoebi von 1958 aufgenommen wurde, belegt seine These indes nicht: In allen in dieser Arbeit betrachteten Sprachen bereitet die Redeweise von der „Vermutung" Schwierigkeiten. Daß die Sprache L E R M O N T O V S , D O S T O E V S K I J S und P U Ì K I N S zu einem funktionalen Äquivalent des englischen "presumption" unfähig sein sollte, erscheint in der Tat fragwürdig. 150 G O R G O N E bestreitet zudem, daß der Richter im Vorverfahren, wenn er die Anklage zuläßt, von der Schuld des Angeklagten ausgehe, denn dies stehe im Widerspruch zu Art. 36 Abs. 1 der OcHoebi, die eine Vorabentscheidung über die Schuld verbiete. Schließlich seien der eröffnende und der die Hauptverhandlung leitende Richter in der Regel identisch, so daß letz-

Soviet Criminal Law and Procedure • The RSFSR Codes, S . 62. Soviet Criminal Law and Procedure • The RSFSR Codes, S . 59 Fn. 18 (auf S . 83). 145 F L E T C H E R , 15 UCLA L.Rev. 1203,1208 f. (1968). 146 F L E T C H E R , 15 U C L A L.Rev. 1203,1209 f. (1968). 147 F L E T C H E R , 15 U C L A L.Rev. 1203,1210 f. (1968). 148 F L E T C H E R , 15 U C L A L.Rev. 1203,1211 ff. (1968). 149 B E R M A N & Q U I G L E Y , 15 U C L A L.Rev. 1230, 1234 f., 1236 (1968): npe3yMnu,un sei als lateinisches Fremdwort recht gebräuchlich, das Verb npe3WMupoeambCH aber nicht. Selten und auf einschlägige juristische Texte begrenzt kommt es aber vor: S T R O G O V I É verwendet das Verb, so z.B. in Πραβο oôeunneMozo Ha 3au{umy u npe3yjnnu,ua HeeuHoenocmu, S. 89; Jlnöyc, Πρε3γΜημιιη HeeuHoeuocmu β coeemcKOM 143

BERMAN,

144

BERMAN,

yzoAoenoM

S. 18, 20. 150 So (1980).

npou,ecce, GORGONE,

S. 4 und ständig; ebenso Π ε τ ρ γ χ Η Η , CoBeTCKoe rocyjjapcTBO H npaBO 1978,

28 Am.J.Comp.L. 577, 604 (1980). Insistierend

BERMAN,

12,

28 Am.J.Comp.L. 615, 620

396

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

terer durchaus eine Meinung zu dem Fall habe, aber eben von der Unschuldsvermutung ausgehen müsse. 1 5 1 B E R M A N übersehe den Unterschied zwischen einer A n n a h m e oder Unterstellung, die gelte, bis das Gegenteil erwiesen sei, und einer Meinung, die auf der Beurteilung von Tatsachen beruhe. Daher erlasse der Richter des Vorverfahrens den Eröffnungsbeschluß nicht, weil er meine, die Anklage sei bewiesen, sondern weil er die Schuldhypothese der Prokuratura für justiziabel halte. 1 5 2 Gegen diese Kritiken reformuliert B E R M A N seine Auffassung dahingehend, daß das sowjetische Recht die Unschuldsvermutung sowohl enthalte als auch nicht enthalte, d.h. die Unschuldsvermutung des sowjetischen Rechts sei nicht die des amerikanischen Rechts. Zwar seien einzelne Folgerungen aus der Unschuldsvermutung im sowjetischen Recht enthalten ebenso die Banalität, daß auf Verdacht nicht verurteilt werden dürfe, doch fehle das Wesentliche. Der G r u n d liege in der Rolle der Prokuratura und der sowjetischen Gleichsetzung der Unschuldsvermutung mit einer tatsächlichen Uberzeugung von der Unschuld des Angeklagten. Der Prokurator sei zugleich unparteiische Kontrollinstanz und Ankläger 1 5 3 und dürfe die Anklage erst erheben, wenn er von der Schuld des Angeklagten überzeugt sei. Deshalb könne man bei ihm nicht von einer Unschuldsvermutung sprechen. 1 5 4 Eine unparteiische Rolle des Staatsanwalts wäre zwar vereinbar mit einem Konzept der Unschuldsvermutung als Beweislastverteilung, doch passe dieses Konzept nicht auf die inquisitorische Struktur des sowjetischen Strafprozesses, in dem sowohl der Staatsanwalt als auch das G e richt eine Beweispflicht hätten gem. Art. 14 Abs. 1 OcHoebi155. Im kontinental-europäischen wie im sowjetischen Prozeß trage der Staatsanwalt keine Darlegungs- und Beweislast dergestalt, daß er einen Freispruch riskiere, wenn er nur unvollständigen oder nicht überzeugenden Beweis vortrage, da das Gericht selbst ermitteln müsse. Z u d e m sei in vielen Strafprozessen der Prokurator nicht anwesend; und selbst wenn der Prokurator im Laufe des Prozesses seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten verliere und sich deshalb zurückziehen müsse, 1 5 6 bleibe eine Verurteilung möglich. 1 5 7 D e m kontinental-europäischen Verständnis der Unschuldsvermutung genüge das sowjetische Recht jedenfalls in der Prozeßphase. Allerdings liege anders als in den U . S . A . im europäischen Verständnis seit der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 und erneut mit Inkrafttreten der E u M R K die Betonung auf der Wahrung der Würde des Verdächtigen vor dem Prozeß; hier lasse der sowjetische Rechtszustand erheblich zu wünschen übrig. 1 5 8 c)

Fletcher

fragt sich, warum die Unschuldsvermutung in der sowjetischen Literatur so heftig umstritten ist, zumal der Zweifelssatz und die Beweislast der Anklage jedenfalls seit den FLETCHER

151

GORGONE, 28 Am.J.Comp.L. 577, 602 ff. m. Fn. 46 (1980). GORGONE, 28 Am.J.Comp.L. 577, 605 (1980). Weiteres s.u. S. 399. 153 Zu den Befugnissen des sowjetischen Prokurators s. OSAKWE, 57 Tul.L.Rev. 439, 460 ff. m. w. Nachw. (1982-83). 154 BERMAN, 28 Am.J.Comp.L. 615, 615 f., 619 f. (1980). 155 Siehe oben Fußn. 107. 156 Gem. Art. 248 U P K RSFSR. 157 BERMAN, 28 Am.J.Comp.L. 615, 618 f. (1980). 158 BERMAN, 28 Am.J.Comp.L. 615, 623 (1980). 152

C.I. UdSSR

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40er Jahren einhellig anerkannt war. 159 Nach der Zurückweisung von B E R M A N S Erklärung, die sowjetischen Autoren hätten die Unschuldsvermutung nicht richtig verstanden, bestimmt er zunächst die Funktion der Unschuldsvermutung in westlichen Rechtsordnungen als Ausgangspunkt. Dort sei die Unschuldsvermutung - wie oben bereits referiert 160 - keine subsumtionsfähige Norm, sondern eine rhetorische Figur, die der Ermahnung des Gerichts oder der Jury diene, unparteiisch und vor allem unabhängig von den Ergebnissen der staatsanwaltlichen Ermittlungen die Beweise zu würdigen. 161 Diese Funktion, der Eindruckskraft der Ergebnisse der Strafverfolgungsorgane entgegenzuwirken, erhielte im sowjetischen Prozeß noch eine zusätzliche Dimension, die die Heftigkeit der Diskussion erkläre: Denn im sowjetischen Strafprozeß seien (1) Untersuchungsführer und Staatsanwalt beide Angehörige der Prokuratura, welche die Gesetzmäßigkeit aller Gerichte und staatlichen Organe überwacht, (2) das Kriterium für die Anklageerhebung sei nicht nur hinreichender Tatverdacht, sondern die intime conviction des Anklägers von der Schuld des Betroffenen 162 und (3) die Voruntersuchungen würden als unparteiische Ermittlungen betrachtet. 163 Die Stellung des Staatsanwalts sei also sowohl die eines (parteiischen) Anklägers als auch die eines Vertreters einer unparteiischen Behörde, die den Beschuldigten für schuldig befunden habe. Die Unschuldsvermutung erhält zum einen daher die Aufgabe, der Überzeugungskraft der Untersuchungsergebnisse entgegenzuwirken, zum anderen aber auch die gegensätzliche Aufgabe, die Untersuchungsorgane zur unvoreingenommenen und umfassenden Aufklärung anzuhalten, gegensätzlich deshalb, weil der Richter sich kaum einer bereits getroffenen unparteiischen Sachverhaltsbewertung entziehen könnte. 164 Da sich alle sowjetischen Autoren einig waren, daß die Unschuldsvermutung im Ermittlungsverfahren gelte, auch als Mahnung an die Untersuchungsorgane, die für den unverteidigten Beschuldigten sprechenden Umstände zu berücksichtigen und somit - die Unschuldsvermutung substituiert den Verteidiger - sein Verfassungsrecht auf Verteidigung zu wahren, 165 aber uneins waren, ob das Ermittlungsergebnis die Vermutung bereits widerlege, gehe es tatsächlich um den Einfluß der Staatsanwaltschaft auf den Prozeß: Entscheidet das Gericht allein über die Schuld - so die Befürworter der Unschuldsvermutung wie S T R O G O V I C —, oder Gericht und Staatsanwaltschaft nacheinander oder miteinander - so die Kritiker der Unschuldsvermutung wie POLJ A N S K I J ? 1 6 6 Die beiden Seiten der Unschuldsvermutung seien folglich Masken für "the conflict of institutional loyalties" 167 . Die Behauptung eines Staatsanwalts, tatsächlich bestimme die Prokuratur über die Schuld und das Gericht nur noch über das Schuld- und Strafmaß, löste 1964 die erneute Debatte über die Unschuldsvermutung aus. 168 Dies erkläre auch den

155

160 161

162

F L E T C H E R , 15 U C L A L.Rev. 1203, 1206 (1968). Siehe oben S. 364 f. F L E T C H E R , 15 U C L A L.Rev. 1203, 1211 f., 1213 f. (1968). So G O L U N S K I J , R I D 1956, 374, 377. Vgl. Art. 71 Abs. 1 U P K R S F S R i960. Dazu

FLETCHER,

15 UCLA L.Rev. 1203,1215 Fn. 40 (1968). 163 Art. 20, 71 UPK RSFSR i960. L.Rev. 1203,1215 f. (1968). L.Rev. 1203,1217 f. m.w.Nachw. (1968). 166 FLETCHER, U C L A L.Rev. 1203,1218 f. m.w.Nachw. (1968). 167 FLETCHER, U C L A L.Rev. 1203,1217 (1968). 168 O H J I H M O H O B , JlHTepaTypHaa Ta3eTa, 18.8.1964, S . 2, als Antwort auf S T R O G O V I Í , ibid., 23.5.1964; dagegen wieder der Richter des Obersten Gerichts G O R K I N , H3BecTHH, 2.12.1964, S . 3, und 164

F L E T C H E R , 15 U C L A

165

FLETCHER,

15 15 15

U C L A

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

398

Streit über die Relevanz der subjektiven Überzeugung der Staatsanwaltschaft, die zugleich die begriffliche Kohärenz der Unschuldsvermutung berühre, wenn man sie als herkömmliche Vermutung auffassen wolle: man könne nicht gleichzeitig die Unschuld eines Beschuldigten vermuten müssen und von seiner Schuld überzeugt sein, um Anklage zu erheben. In seiner Erwiderung auf FLETCHERS Kritik weist BERMAN 1 6 9 darauf hin, daß bereits 1965 und 1966 in unter der Leitung der Prokuratura verfaßten Abhandlungen die Unschuldsvermutung ausgiebig behandelt und als allein durch rechtskräftiges Urteil widerlegbar bezeichnet wird 1 7 0 . Der Streit sei nicht darum gegangen, ob die Unschuldsvermutung nur vor oder noch während der Hauptverhandlung gelte, sondern ob man sie positivieren solle. Denn die technische Bedeutung der Unschuldsvermutung sei die Allokation von Darlegungs- und Feststellungslast, beides Begriffe, die im europäischen und sowjetischen Strafprozeß keinen Sinn hätten. Die übrigen damit verbundenen Regeln habe man seit 1958 eingehend positiviert, viel weitgehender als etwa in Frankreich oder Deutschland. 1 7 1 Für eine Auffassung, daß die Unschuldsvermutung bereits durch den Staatsanwalt widerlegt werden könne, und für einen Streit zwischen Prokuratoren und Gerichten oder Partei und Juristen finde sich kein Beleg, insbesondere nicht bei dem von FLETCHER zitierten POLJANSKIJ. 1 7 2 Zuzugeben ist BERMAN, daß POLJANSKIJS Buch die Annahme einer Polarisierung der Justizorgane nicht stützt. POLJANSKIJ formuliert zwar, daß die Unschuldsvermutung widerlegt sei, wenn die Schuld des Betreffenden sich als zweifelsfrei darstelle, woraus aber keine Schuldvermutung folge. Er versteht die Unschuldsvermutung nicht als — widersinnige 1 7 3 — Anordnung eines psychischen Zustandes, sondern vielmehr ein Bündel verschiedener Garantien der Wahrheitsfindung, 1 7 4 wie oben referiert. d)

Gorgone

GORGONE kritisiert grundsätzlich die geläufige Kategorisierung des sowjetischen Strafprozesses als inquisitorisches Verfahren, welche die grundlegende Meinungsverschiedenheit unter den sowjetischen Juristen über die Natur des Strafverfahrens ignoriere. 1 7 5 Z u d e m vereinfache die Kontrastierung des sowjetischen und anglo-amerikanischen Prozesses zu stark und führe daher in die Irre. 176 Zwei Seiten ständen sich gegenüber, von denen die eine, deren Vertreter er Konservative nennt, 1 7 7 die inquisitorischen Z ü g e betone ("Cooperation Model"): 1 7 8 (1) die Einzigartigkeit der Rolle des Prokurators als Garant der Gesetzmäßigkeit

S T R O G O V I É , JlHTepaTypHaH Ta3eTa,

18.8.1964,

S.

2; cf.

FLETCHER,

15 UCLA L.Rev. 1203, 1222 (1968)

m. w. Nachw. 169

B E R M A N & Q U I G L E Y , 15 U C L A L . R e v . 1230, 1 2 3 0 ff. (1968).

170

3ni^uKAoneduHecKuü

Teopun Ó0Ka3ameAbcme 171 172

173 174 175 176

177

GONE, 178

CAoeapb β coeemcKOM

npaeoebix yzoAoenoM

3HaHuü, npoi^ecce,

S.

359

f.;

MacTt

IlpoKypaTypa

C o w 3 a

CCP,

oömai, S. 434 ff.

B E R M A N & Q U I G L E Y , 15 U C L A L . R e v . 1 2 3 0 , 1 2 3 2 ff, 1239 (1968). B E R M A N & Q U I G L E Y , 15 U C L A L . R e v . 1 2 3 0 , 1 2 3 7 ff. (1968).

Siehe oben Fußn. 89. riojiHHCKHH, Bonpocbi meopuu coeemcKozo γιοΛοβηοιο ηρομεεεα, S. 187 f., 191 f. G O R G O N E , 28 Am.J.Comp.L. 577, 578 ff. (1980). G O R G O N E , 28 Am.J.Comp.L. 577, 582 (1980). Zu denen C E L ' C O V , J E V T E J E V , J A K U B , K A R E V , R A D K O V und T A D E V O S J A N gehören sollen, 28 Am.J.Comp.L. 577, 579 Fn. 6 (1980). G O R G O N E , 28 Am.J.Comp.L. 577, 578 (1980).

GOR-

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allen staatlichen Handelns, eingeschlossen der erstinstanzlichen Strafgerichte, vor denen er zugleich als Staatsanwalt und unparteiischer Untersuchungsführer auftritt; (2) die aktive Rolle des Strafrichters in der Hauptverhandlung und seine Pflicht, nötigenfalls Beweis zu erheben im Interesse der Wahrheitsfindung; (3) der nicht-streitige Charakter der Hauptverhandlung, die eine kooperative Suche nach der Wahrheit sei, bei der es keine Parteien, sondern nur Mitwirkende gebe. Die andere Seite, deren Anhänger GORGONE Reformisten nennt, 1 7 9 favorisierten ein stärker am Parteiprozeß orientiertes Verfahrensmodell ("Adversary Model"): 1 8 0 (1) Betont werde die eingeschränkte psychologische Flexibilität des Prokurators, nachdem er die Anklage unterzeichnet habe, wozu er die Uberzeugung von der Schuld des Angeklagten gebildet haben müsse, sowie die Absorption der überwachenden Funktion durch die des Anklägers jedenfalls während der Hauptverhandlung. (2) Betont werde ebenfalls die scharfe Trennung einer richterlichen Pflicht, die Beweisaufnahme zu erleichtern und einer abzulehnenden Beweislast des Richters, welcher der Herr der Hauptverhandlung sei und nicht der Prokurator in seiner überwachenden Funktion. (3) Betont werde letztlich die streitige Natur der Hauptverhandlung, in der die Wahrheit im Widerstreit der Argumente beider Seiten und nicht kooperativ gefunden werden solle. GORGONE setzt sich anschließend mit BERMANS Deutung des sowjetischen Prozesses auseinander, von der hier nur die Einschätzung der Unschuldsvermutung interessieren soll, da im übrigen nur die Übertragbarkeit anglo-amerikanischer Prozeßbegriffe diskutiert wird. Vor dem Hintergrund dieses Schulenstreits sei auch die Kodifizierung der OcHoebt 1958 zu sehen, die in streitigen Punkten vage geblieben sei, so etwa bei der Unschuldsvermutung. So hätten beide Seiten behauptet sich durchgesetzt zu haben, weil zum einen die Unschuldsvermutung explizit nicht enthalten ist, zum anderen aber die aus ihr abgeleiteten Regeln positiviert wurden. 1 8 1 Der Prokurator dürfe erst anklagen, wenn er von der Schuld des Betreffenden überzeugt sei, was ausschließe, daß er strafausschließende Umstände in der Hauptverhandlung vortrage - denn dann hätte er nicht anklagen dürfen - und daß er unparteiisch sei. 182 Folglich habe mit dem Unterzeichnen der Anklage für den Prokurator die Unschuldsvermutung ihre Kraft verloren. Im Grundsatz seien zwar sowohl Prokuratura als auch G e richt an die Unschuldsvermutung gebunden, da sie alle Umstände der Tat erforschen, Zweifel zugunsten des Beschuldigten lösen müßten sowie ihm keine Beweislast auferlegen und Anklage oder Urteil erst nach innerer Überzeugung von der Schuld unterzeichnen dürften. Ihre Bindung an die Unschuldsvermutung bestehe aber zu verschiedenen Zeiten und habe verschiedene Konsequenzen. In der Hauptverhandlung entspreche der Beweisführungsund Feststellungslast des Prokurators die kognitive richterliche Unschuldsvermutung. 1 8 3 Die Unschuldsvermutung hege der Richter seit dem Beginn des Vorverfahrens, bevor er die Akten des Falles erhalte und den Erlaß eines EröfFnungsbeschlusses prüfe. Eröffnen könne er das Verfahren nur, wenn er nach Prüfung der Aktenlage zugleich eine Schuldhypothese akzeptiere. Dennoch bleibe die Unschuldsvermutung bis zur Überzeugungsbildung am

179 Wozu PERLOV, POLJANSKIJ, RACHUNOV, SAVICKIJ und STROGOVIÍ zählen sollen, GORGONE, 28 A m . J . C o m p . L . 577, 580 Fn. 8 (1980). 180 GORGONE, 28 A m . J . C o m p . L . 577, 579 (1980). 181 GORGONE, 28 A m . J . C o m p . L . 577, 588 (1980). 182 GORGONE, 28 A m . J . C o m p . L . 577, 590 ff. (1980). 183

GORGONE, 28 A m . J . C o m p . L . 5 7 7 , 5 9 5 f. (1980).

400

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Ende des Verfahrens bestehen, andernfalls würde die Unschuld des Angeklagten zum Beweisthema - was aber vermutet werde, müsse nicht bewiesen werden. 184 Die Unschuldsvermutung bedeute schließlich in der Hauptsache die Beweislast des Anklägers, so daß das sowjetische Recht, wenn es denn die Unschuldsvermutung für sich reklamiere, auch diese Beweislastregel inkorporieren müsse. 185 Mehr als eine Irrtumsvermutung ("presumption of error"), d.h. die Vermutung des Richters, daß die Anklage in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt stehe, bedeute der Begriff der Beweislast indes nicht. 186 e)

Anmerkung

Der Streit um die „Existenz" der Unschuldsvermutung in der früheren Sowjetunion erscheint hauptsächlich als Streit um die „wahre" Bedeutung dieser Maxime. Dabei sind die Unklarheiten nicht allein auf die sowjetische Debatte beschränkt. B I L I N S K Y und B E R M A N setzen eine bestimmte Deutung und Einbettung der Unschuldsvermutung voraus, die sie im sowjetischen Recht nicht wiederfinden. Daraus zu folgern, dort gäbe es die Unschuldsvermutung in der so definierten „wahren" oder „technischen" Bedeutung nicht, ist deshalb ebenso richtig wie für unsere Untersuchung bedeutungslos. Das sprachliche Argument B E R M A N S betrifft kein spezifisch russisches Problem, sondern ein begriffliches, wie die Differenz zwischen ihm und G O R G O N E über die Rolle der Unschuldsvermutung in der Vorstellung des amerikanischen Richters belegt. F L E T C H E R und G O R G O N E scheinen einen Aspekt der sowjetischen Debatte zu verabsolutieren und damit das Bild zu verzerren. 187 F L E T C H E R ist zuzugeben, daß vielfach betont wird wie in Art. 7 Ocnoebi, daß nur das Gericht Schuld verbindlich feststellen darf; eine Gegenposition ist jedoch nicht auffindbar es sei denn, man identifiziert die Schuldüberzeugung des Anklägers mit einer Widerlegung der Unschuldsvermutung (so P O L J A N S K I J ) und dem Ende ihrer Geltung als Verfahrensgarantie (so nicht einmal P O L J A N S K I J ) .

4. Weitere Entwicklung bis 1991 Im Jahr 1973 ratifizierte die Sowjetunion den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen. 1977 wurde in Art. 160 der neuen Verfassung der U d S S R aufgenommen, daß niemand als einer Straftat schuldig anzusehen sowie zu strafen sei, bis er durch rechtmäßiges Gerichtsurteil für schuldig erklärt wurde. 188 Dem offiziellen und überwiegenden Verständnis 189 zufolge enthält diese Formulierung, die von Art. 7 Satz 2 GORGONE, 28 Am.J.Comp.L. 577, 605 f. (1980). GORGONE, 28 Am.J.Comp.L. 577, 607 ff. (1980). 186 GORGONE, 28 Am.J.Comp.L. 577, 609 (1980). 187 Kritisch gegenüber beiden Darstellungen auch HUSKEY, 34 Am.J.Comp.L. 93, 95 Fn. 4 (1986). 188 OraTba 160 KoHCTHTyiïHH C C C P : HHKTO He M03KCT SbiTb npn3iiaH BHHOBHbiM Β coBepinemra npecryiuieHHSi, a T a K x e nonBeprayT yroHOBHOMy HaKa3aHHK> «Haie KaK no npnroBopy cyna Η Β COOTBCCTBHH C 3&ΚΟΗΟΜ. Zit. nach CTporoBHH, Πραβο oôeuHneMozo πα 3aw,umy u npe3yMnu,un neeunoenocmu, S. 67. S.a. BOBOTOV/LARINE, Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 334. 189 So der offizielle Kommentar zur Unionsverfassung KoHcmumyuua CCCP: TIonumuKO-npaeoeoü KOMMenmapuu, MocKBa 1982, S. 378, zit. nach CTporoBHH, Πραβο oôeuHneMozo Ha 3aut,umy u npe3yMnu,UH HeeuHoenocmu, S. 72, zum Ganzen auch DERS., ibid. S. 71 ff., 73 ff. m.w.Nachw. 184

185

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UdSSR

401

der OcHoebt 1958 kaum abweicht, 1 9 0 die Festschreibung der Unschuldsvermutung. So hat auch das Plenum des Obersten Gerichts der U d S S R wiederholt in Entscheidungen und Weisungen, zuletzt in einer vielbeachteten Entscheidung v o m 16. Juni 1978, verdeutlicht, daß der Angeklagte keine Beweislast trage, alle Zweifel zu seinen Gunsten auszulegen seien und die in Art. 160 der Unionsverfassung enthaltene Unschuldsvermutung erst durch rechtskräftiges Urteil widerlegt werde. 1 9 1 Gleichzeitig mit der Positivierung ist die dogmatische Diskussion jedoch nur teilweise erstorben und bekenntnishafter Beteuerung gewichen. 1 9 2 Anläßlich der A u f n a h m e der Unschuldsvermutung in die Verfassung vön 1977 erscheinen die M o n o g r a p h i e n LIBUS', LARINS u n d die Dissertation KASUMOVS.193 N a c h In-

krafttreten der neuen Unionsverfassung sind allerdings kaum noch die Unschuldsvermutung ablehnende Stellungnahmen bekannt geworden: 1 9 4 So behauptete ARSEN'EV ähnlich wie CARBONNIER zuvor, der Angeklagte könne nicht als unschuldig gelten, sondern befinde sich vielmehr in einem „Zwischenraum" zwischen Schuld und Unschuld. 1 9 5 Die übrigen Kommentare zur Unschuldsvermutung lassen schließen, daß die Position STROGOVICS sich nun durchgesetzt hat. Übernommen wird beispielsweise seine Ansicht, daß die Unschuldsvermutung ein objektiver Rechtssatz sei, demzufolge das Gesetz die Unschuld vermute. 1 9 6 So formulierte PETRUCHIN, daß die Unschuldsvermutung nicht durch die innere Überzeugung des Prokurators widerlegt werde, da sich die Vermutung an die Staatsgewalt insgesamt richte, nicht an ein bestimmtes Individuum. 1 9 7 In der dogmatischen Konzeption bestehen indes vielfach Abweichungen, für die auch die bestehenden N o r m -

1,0 Siehe oben Fußn. 106. Z u den Unterschieden, namentlich der Verwendung der Konjunktion a maKxe (sowie) anstelle von u (und), s. CaBHijKHH, CoBeTCKaa KJCTHUHH 1978, Ns 5, S. 7, 9; Π ε τ ρ γ χ ι ΐ Η , CoBeTCKoe rocyaapcTBO h iipaBO 1978, Ns 12, S. 18,18 f.; CTporoBHM, Πραβο oöeuHneMozo na 3aw,umy u npe3yMn-i^uH HeeuHoenocmu, S. 68 ff., 73. 191 noCTaHOBJieHHe N» 5, in: EfOJiJieTeHb BepxoBHoro cyaa C C C P 1978 4, S. 8, 9 Nr. 2, Auszug bei ITpyTHeHKOBa, ÍIpeayMnnuH neeunoenocmu, S. 8 Fn. 1; ebenso BOBOTOV/LARINE, Rev.int.dr. pén. 63 (1992), 333, 334 Fn. 4 m.w. Nachw.; dazu auch EjieMHCOB, Coi;HajiHCTHHecKaa 3aKOHHOCTb 1978, N° 11, S. 15, 15 f. 192 In den Jahrgängen 1978-1979 der JInTepaTypHaa Ta3eTa fand eine ausgedehnte Diskussion statt, dazu JlHÖyc, IIpe3yMnu,uñ HeeuHoenocmu β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 7. 193 J I n 6 y c , ΠρεβγΜ,ημιΐΗ HeeuHoenocmu e coeemcKOM yzoAoenoM npoyecce, TauiKCHT 1981; JlapHH, Ilpe3yMnnuH HeeuHoenocmu, MocKBa 1982; KacyMOB, TlpesyMni^un HeeuHoenocmu e coeemcKOM npaee, Eaicy 1984. 154

Dazu SAVICKIJ im Vorwort zu KacyMOB, npe3yMnu,ua ueeunoenocmu e coeemcKOM npaee, S. 4; KacyMOB, npe3yMnu,uH HeeuHoenocmu e coeemcKOM npaee, S. 18; OSAKWE, 57 Tul.L.Rev. 439, 538 (1982-83). STROGOVIÒ setzt sich 1984 nur noch mit wenigen Kritikern auseinander, Πραβο oôeuntieMozo na 3aw,umy u npe3yMnu,uH HeeuHoenocmu, S. 77 ff. 195 Β . H. A p c e H t e B , 3ακοη o BepxoenoM Cyòe CCCP u neKomopbie eonpocbi cydeônoû npaicmuKU, in: Pa3eumue meopuu u npaKmuKU yzoAoenozo cydonpoueeodcmea e ceeme ηοβοζο 3ακοηοόαmeAbcmea o BepxoenoM Cyòe CCCP, npoKypamype CCCP u aòeoKamype e CCCP, Bopoiieac 1981, S. 18, zit. nach ΟτροΐΌΒΗΜ, Πραβο oöeuHneMozo na 3aw,umy u npe3yMnu,UH neeunoenocmu, S. 78 (mit ablehnender Stellungnahme) 196 CoeemcKuü yzoAoenbiü npoifecc (1980), S. 82 f.; KacyMOB, npesyMrmun HeeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 15 f., 21 f. 197 n e T p y x H H , CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1978, Λ» 12, S. 18, 21. W. Nachw. bei OSAKWE, 50 Tul.L.Rev. 439, 537 f. (1982-83).

402

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

texte R a u m bieten." 8 Nach PETRUCHIN hat die Unschuldsvermutung eine empirische Basis in der überwiegenden Normtreue der sowjetischen Bevölkerung. 1 9 9 Auch KASUMOV, 200 LIBUS 2 0 1 und KUDRJAVCEV 2 0 2 bringen die Unschuldsvermutung mit einer allgemeinen Bonitätsvermutung (npe3yMnu,ua doôponopRÔOHHOcmu) in Verbindung oder leiten sie daraus ab. - STROGOVIÒ hingegen betont, daß die Unschuldsvermutung keine empirische Basis habe wie andere Vermutungen, so daß sie auch nicht im herkömmlichen Sinne widerlegt, sondern nur befolgt werden könne, und wendet sich folglich gegen Ableitungen aus einer allgemeinen Bonitätsvermutung. 2 0 3 Das Augenmerk gilt nun vor allem der Frage, welche Normen des einfachen Rechts gegen Art. 160 der Verfassung verstoßen und daher geändert werden müssen. Dabei besteht durchgehend die Tendenz, die Unschuldsvermutung über das bisher anerkannte M a ß auszudehnen. Der zugrundeliegende Gedanke ist, daß das Gericht nunmehr die ausschließliche Kompetenz zur Schuldfeststellung habe. 204 Manche Autoren wollen die Geltung der Unschuldsvermutung erweitern auf den Vorwurf der Gesetzesverletzung in disziplinar- und verwaltungsrechtlichen Verfahren sowie das Verfahren vor den gesellschaftlichen Gerichten (moeapumecKue cydbi),20i ja sogar auf den Zivilprozeß 206 . Nach KASUMOV ist die Unschuldsvermutung für jedermann, d.h. auch fur jeden Bürger, verpflichtend. 2 0 7 Art. 314 U P K R S F S R verbietet, Formulierungen in ein freisprechendes Urteil aufzunehmen, die die Unschuld des Freigesprochenen in Zweifel ziehen; entsprechende N o r m e n gibt es in den Prozeßgesetzen der übrigen Sowjetrepubliken. 208 STROGOVIC wendet sich 1984 noch gegen die immer wieder geäußerte Auffassung, der gescheiterte Schuldbeweis stehe dem Beweis der Unschuld nicht gleich, wiewohl das Gesetz in beiden Fällen den Freispruch anordnet. 209 Begriffliche Schwierigkeiten werden hierbei erneut deutlich: MOTOVILOVKER gesteht zu, daß man beide Situationen juristisch gleichbehandeln könne und müsse, allerdings liege es nicht in der Macht des Gesetzgebers, den fehlenden Schuldbeweis mit dem realen

Zum Ganzen noch einmal S T R O G O V I Ö selbst, Πραβο oöeuHHeMozo na 3aw,umy u ηρε.ίγΜημιιη neeuHoenocmu (1984), S . 64-140; r i p y T M e H K O B a , npe3yMnu,uñ neeunoenocmu, S . 9 ff.; B A S S I O U N I / S A — V I T S K I , The Criminal Justice System of the USSR, S. 4 7 5 ° · 199 ΠβτργχΗΗ, CoBeTCKoe rocynapcTBO Η npaeo 1978, Κ» I2, S. 18, 21 f. m.w.Nachw. 200 KacyMOB, ΠρεβγΜημιιπ. neeunoenocmu e coeemcKOM npaee, S. 7. 201 JlHÖy c, IJpe3yMnu,UH neeunoenocmu β coeemcKOM yzojioenoM npouficce, S. 19, 28 ff., 34. S.a. zuvor CaBHiiKHH, CoBeTCKaa KJCTHUHH 1978, 5, S. 7, 9. 202 Β. H. KyApjiBueB, IJpaeoeoe noeedenue: HopMa u namoAozun, MocKBa 1982, S. 251, zit. nach CTporoBHi, Πραβο oôeuHjieMozo πα 3amumy u npesyMni^ua ueeunoenocmu, S. 93. 203 CTporoBHH, Πραβο oöeunneMoio na 3aw,umy u npe3yMnu,un neeunoenocmu, S. 88, 92 f. 204 S A V I C K I J im Vorwort zu KacyMOB, Tîpe3yM.nuiun neeunoenocmu β coeemcKOM npaee, S . 3 f. 205 Kynp»Bi(CB, Πραβοβοε noeedenue: HopMa u namoAoïun, S. 250 f., zit. nach CTporoBmi, Πραβο oñeunneMoio πα 3aut,umy u npe3yMnquH neeunoenocmu, S. 76 f.; ebenso ΠετργχκΗ, CoBeTCKoe rocyflapcTBO H npaBO 1978, Ν» iz, S. 18, 20; KacyMOB, npe3yM.nu,un neeunoenocmu β coeemcKOM npaee, S . 26 ff., 33 ff. 206 ΠβτργχΗΗ, CoBeTCKoe rocyjapcTBO H npaeo 1978, 12, S. 18, 20; KacyMOB, npe3yMnu,un HeeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 29 ff. 207 KacyMOB, npe3yM.nu,ua neeunoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 6 f., 22. 208 Nach CTporoBHM, Πραβο oôeuHneMOZO na 3aufumy u npe3yMnu,ua neeunoenocmu, S. 95 und ff. 209 CTporoBHM, Πραβο oöeuHHeMozo na 3aui,umy u npe3yMnu,un neeunoenocmu, S. 96 ff. 198

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UdSSR

Beweis der Unschuld gleichzusetzen. 210 Daran anknüpfend sieht LIBUS Gefahren für den Freigesprochenen in der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen, weil die dort aufgeführten Verdachtsmomente einen Schatten auf deren rehabilitierende Wirkung werfe. Er fordert daher, die Urteilsgründe nicht öffentlich zu verkünden. 211 STROGOVIÓ sieht für eine Unterscheidung zwischen mangelndem Schuldbeweis und Beweis der Unschuld keine Grundlage im Gesetz, vielmehr würde der Angeklagte wegen der Unschuldsvermutung im Freispruch in jedem Falle für unschuldig erklärt, so daß man das Urteil ebenso wie eine Verfahrenseinstellung auch nicht verstecken müsse. 212 Grund für diese verfehlten Ansichten sei eine quantitative Betrachtung des Schuldbeweises, richtigerweise dürfe aber nur darauf abgestellt werden, ob der Schuldbeweis zur Verurteilung hinreicht oder nicht. 213 Sowohl der Freispruch als auch die Verfahrenseinstellung hätten daher vollständig rehabilitierende Wirkung, ausgenommen die Einstellung „aus nicht rehabilitierenden Gründen" (ηρεκραιυ,βΗΐιε yzonoeHozo dena no Hepea6uAumupyww,UM

ocHoeanuHM),

die zur A b g a b e der Sache an ein ge-

sellschaftliches Gericht oder das Arbeitskollektiv, zur Übernahme einer Bürgschaft o.ä. führe. Diese Art der Einstellung des Strafverfahrens in geringfügigen Sachen wird vom Untersuchungsführer oder Staatsanwalt vorgenommen, wenn diese vom Vorliegen einer Straftat ausgehen, aber eine Maßnahme gesellschaftlicher Einwirkung für ausreichend halten. Deshalb wurde darin mitunter ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gesehen, weil die für diese Diversionsformen notwendige Feststellung einer wenn auch geringfügigen Straftat in die ausschließliche Kompetenz des Gerichts falle. 214 STROGOVIC sieht hierin hingegen keinen Verstoß gegen Art. 160 der Unionsverfassung, weil diese Reaktionsform nicht auf der Feststellung einer Straftat, sondern nur einer „Rechtsverletzung" (npaeouapyiueHue) beruhe und keine Strafe darstelle. Das Strafverfahren sei mit der Einstellung endgültig beendet, die Schuldüberzeugung des Staatsanwalts für das gesellschaftliche Organ nicht bindend. Das durch die Unschuldsvermutung garantierte gerichtliche Monopol der Schuldfeststellung und Strafverhängung werde folglich durch diese Form der Entkriminalisierung nicht verletzt. 215 Im Rahmen des Beweisrechts weist STROGOVIC daraufhin, daß Geständnisse nicht wie in der Praxis üblich überzubewerten seien, sondern die Unschuldsvermutung gleichwohl

210 Λ. O. MoTOBHjioBKep, ilpesyMni^un Heeunoenocmu u moAKoeanue coMnenuü e coeemcKOM γζοΛοβΗΟΜ nponecce, in: rapanmuu npae Aunnocmu e conuanucmimecKOM. yzoAOQHOM npaee u nponecce, HpocjiaBJiL· 1981, S. 5 f., zit. nach CTporoBHM, Πραβο oöeuHneMozo na 3aiu,umy u npe3yMnnun neeuHoehocmu, S. 97 f. 211

J l n S y c , IIpe3yMnu,UH Heeunoenocmu β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 174 f., 180 ff. C T p o r o B H H , Πραβο oöeuHReMoio na 3aut,umy u npe3yMnu,ua Heeunoenocmu, S. 99 ff. 213 C T p o r o B H H , Πραβο oôeuHHeMozo πα samumy u npe3yMnu,ua Heeunoenocmu, S. 101. 214 CaBHUKHÎi, COBETCKAA IOCTHUHH 1978, 5, S. 7, 9; J I n 6 y c , CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1981, 7, S. 62, 65 ff, 68 f.; DERS., Πρβ3γΜημιιη Heeunoenocmu e coeemcKOM yzoAoenoM nponecce, S. 190 ff.; JlapHH, npe3yMnufiH Heeunoenocmu, S. 101 ff., 118 f. Vgl. die entsprechende Fragestellung im Recht der D D R u. S. 412 bei Fußn. 50. 215 C T p o r o B H i , Πραβο oôeuHneMozo na 3awfimy u npe3yMnu,UH Heeunoenocmu, S. 108 ff, 112 ff. Ebenso bereits die Weisung des Präsidiums des Obersten Sowjet vom 8.2.1977 ripe3HflnyMa BepΧΟΒΗΟΓΟ CoBeTa C C C P ) , BeflOMOCTH BepxoBHoro CoeeTa C C C P 1977, M« 7 S. 117, auch zit. bei STROGoviè, ibid., S. i n . Ähnl. bereits 3 j i 0 6HH/KejTHHa/HK0BjieB, CoBeTCKoe rocynapcTBO h npaBO 1978, KS 12 S. II, 16; n e T p y x H H , CoeeTCKoe rocynapcTBO H npaeo 1978, XS 12, S. 18, 22 ff. m.w.Nachw. 212

4°4

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

eine vollständige Beweiserhebung und -Würdigung gebiete, die von den einfachen Gesetzen ohnehin gerade bei Geständnissen angeordnet werde. 216 Auf der XIX. All-Unions Parteikonferenz der K P d S U im Juni 1988 wird die strikte Beachtung der Unschuldsvermutung beschlossen. 217 A m 1 3 . 1 . 1 9 8 9 schreiben die Deputierten des Obersten Sowjets die Unschuldsvermutung ausdrücklich fest. 218 In der Erklärung der Menschenrechte und Freiheiten des Kongresses der Volksdeputierten der U d S S R vom 219 5 . 9 . 1 9 9 1 erhält die Unschuldsvermutung in Art. 15 die gleiche Fassung wie im IPBPR. Art. 9 des Entwurfs neuer Grundsätze für das Strafverfahren regelt Unschuldsvermutung, Beweislast und Zweifelssatz im einzelnen.220

5.

Die Unschuldsvermutung in der Praxis der U d S S R

1992 resümiert PRUTÒENKOVA in ihrer kleinen Abhandlung über die Unschuldsvermutung, daß die theoretischen Diskussionen in der sowjetischen Strafprozeßrechtslehre von der Realität des Prozesses weit entfernt waren, woran auch die Aufnahme der Formel in die Verfassung von 1977 nichts geändert habe. Wirklichkeit habe die Unschuldsvermutung frühestens mit dem Beginn der Demokratisierung der gesamten Regierungsform gewinnen können. 221 So w a r während der generell feindseligen Einstellung STALINS gegenüber Recht und

rechtlichen Zwängen eine mäßigende Wirkung juristischer Prinzipien nicht zu erwarten.

216 C T p o r o B H i , Πραβο oôeuHneMozo πα 3aw,umy u ηρεβγΜημαη HeeuHoenocmu, S. 116 ff., 120 ff. m.w. Nachw. 217 Text in 3KOHOMHiecnas Ta3eTa, Juli 1988, Mb 28, S. 12, zit. nach POMORSKI, 14 L. & Soc. Inquiry 581, 597 (1989-90). 218 XJ 2 C T OCHOB 3aKOHOnaTejitCTBa O cynoycTpoàcTBe, Text bei ü p y T i e H K O B a , ΠρεβγΜημιιη neeuHoeuocmu, S. 9; cf. auch SAVICKIJ, zit. nach MARIE, Rev.sc.crim. 1 9 9 0 , 1 9 9 , 201. 219

BejiOMOCTH Ci>e3na HaponHbix ßenyTaTOB C C C P H BepxoBHoro CoBeTa C C C P , .N» 37, S. 1489, zit. nach IIpyTHeHKOBa, Ilpe3yMnu,u¡i HeeuHoenocmu, S. 9 bei Fn. 1. 220 Προβκτ OCHOB yrojioBHoro-npoueccyajiLHoro 3aKojioflaTejii.cTBa CoK>3a C C P H pecnyôjiHK, PÏ3BecTHH v. 28.6.1991, zit. nach IIpyTHeHKOBa, Tlpe3yMnu,UH HeeuHoenocmu, S. 11: ι. OÔBHHaeMtiH CHHTAETCH HeBHHOBHtiM, noKa e r o BHHOBHOCTL Β coBepmeHHH npecTynJieHHH He 6yneT noKa3aHa Β npenyCMOTpeHHOM 3aKOHOM nopjwKe H ycTaJioBJieHa BCTynHBiHHM Β 3aKOHHyio CHJiy npnroBopoM cyna. 2. 06a3aHHOCTt flOKasbiBaTL oÖBHHeHHe B03JiaraeTC» Ha oÖBHHHTejiH. OÖBHHflCMbin He o6«3aH HOKa3tIBaTt CBOIO HeBHHOBHOCTb. 3. B c e coMHeHHa Β BHHOBHOCTH, ecjiH HCHepnaHbi B03M0)KH0CTH HX ycTpaHHTb, HOJI*HLI TOJiKOBaTtca Β nojib3y ΟΘΒΗΗΗΒΜΟΓΟ. 4· BbIBOU O BHHOBHOCTH JIHIja He M03K6T 6bITb OCHOB3H Ha npeAIIOJIOXeHHHX. (Entwurf der Grundsätze strafprozessualer Gesetzlichkeit der Sowjetunion und der Republiken: 1. Der Angeklagte wird als unschuldig vermutet, bis seine Schuld an einem begangenen Verbrechen in der gesetzlich vorgesehenen Weise durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil bewiesen ist. 2. Die Verpflichtung, die Anklage zu beweisen, liegt beim Ankläger. Der Angeklagte ist nicht verpflichtet, seine Unschuld zu beweisen. 3. Zweifel an der Schuld müssen, wenn die Möglichkeiten sie auszuräumen, ausgeschöpft sind, zugunsten des Angeklagten ausgelegt werden. 4. Der Schluß auf die Schuld einer Person darf nicht auf Vermutungen gegründet werden.) 221

IIpyTHeHKOBa, Tlpe3yM.nu,un HeeuHoenocmu,

S. 8.

C.I. UdSSR Nach 1953 verringerte sich die Distanz zwischen Theorie und Praxis. Für die Zeit der Reformen unter CHRUSCËV und BREZNEV, die zu den großen Kodifikationen des materiellen und formellen Strafrechts des Bundes und der Einzelrepubliken führte, nimmt OSAKWE an, daß Verletzungen der strafprozessualen Rechte des Angeklagten bei nicht-politischen Taten im Grundsatz von der politischen Leitung ungewollt waren. Eher im Gegenteil, man habe sich bemüht, den Eindruck gesetzmäßiger Verfahren hervorzurufen. Für politische Taten habe das positive Recht allerdings nicht gegolten bzw. sei von Entscheidungen der politischen Organe gänzlich überlagert worden. 2 2 2 POMORSKI beschreibt das Prinzip der Gesetzlichkeit als Mittel, lokale Abweichungen von der Parteilinie zu unterdrücken, nicht als Rechtstaatlichkeit im westlichen Sinne. 2 2 3 Die Autoren des Reformentwurfs von 1992, die ausdrücklich angetreten sind, Gesetzestext und -praxis wieder zusammenzuführen, 2 2 4 bezeichnen aber den Eindruck der Gesetzlichkeit des Strafverfahrens generell nur als Fassade, hinter welcher die rechtlichen Garantien des Angeklagten leerliefen. Tatsächlich habe es keine funktionale D i fferenzierung zwischen den beteiligten Behörden gegeben, die Gerichte hätten ebenfalls die Rolle des Anklägers eingenommen und faktisch mit einer Schuldvermutung operiert. 2 2 5 Z u m Ende der 80er Jahre wurde die Mißachtung der Unschuldsvermutung in der Praxis auch in der Sowjetunion weithin gerügt, 226 ihre strikte Beachtung auf der zuvor erwähnten X I X . AllUnions Parteikonferenz der K P d S U unter anderem beschlossen 227 . Als Garantie für eine die Würde von Untersuchungshäftlingen wahrende Behandlung wurde die Unschuldsvermutung nicht verstanden und hätte auch kein Spiegelbild in der Praxis gefunden, die sich durch eine harte und oft entwürdigende Behandlung des Verdächtigen kennzeichnete. 228

6.

Russische Föderation

Die Verfassung der Russischen Föderation von 1991 enthält die Unschuldsvermutung nicht ausdrücklich, doch hat man sich um die Berücksichtigung ihrer Folgerungen in Kapitel III, den Prozeßgarantien, bemüht. 2 2 ' Folgerungen aus der Unschuldsvermutung, wie die von

222 OSAKWE, 57 Tul.L.Rev. 439, 455 ff. (1982-83). Ebenso für politische Taten jetzt die Autoren des Strafprozeßentwurfes für die Russische Föderation, Κοπυ,εημιΐΗ yzoAoenozo-npouficcyaAbHOzo 3ακοποdamenbcmea POCCUÜCKOÜ Φεόεραμιιιι, Moskau 1992·. S. 3, zit. nach LAWYERS C O M M I T T E E FOR H U M A N RIGHTS, Human Rights and Legal Reform in the Russian Federation, S. 39. 223 POMORSKI, 14 L. & Soc. Inquiry, 581, 588 (1989-90). 224 ΚοπμεημιΐΗ YzoAoeHozo-npoifeccyaAbHozo 3aKOHOÒameAbcmea POCCUÜCKOÜ Φβόεραιμιιι, S. 1 7 , zit. nach LAWYERS COMMITTEE FOR HUMAN RIGHTS, Human Rights and Legal Reform in the Russian Federation, S. 38. 225 KoHnennun YZOAOEHOZO-npou,ECCYANBHOZ0 3aK0H0damejibcmea POCCUÜCKOÜ edepau,uu, S. 4, zit. nach LAWYERS COMMITTEE FOR HUMAN RIGHTS, Human Rights and Legal Reform in the Russian Federation, S. 39. Weitere Einzelheiten ibid. So auch POMORSKI, 14 L. & Soc.Inquiry 581, 594 ff. (1989-90). 226 Nachweise bei POMORSKI, 14 L. &C Soc.Inquiry 581, 596 Fn. 38 (1989-90). 227 Siehe oben Fußn. 217. 228 Dazu BERMAN, 28 Am.J.Comp.L. 615, 623 (1980). 225 BOBOTOV/LARINE, Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 334.

40 6

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

BOBOTOV und LARIN sogleich beschriebenen, sind auch im Modellentwurf von 1990 des Instituts f ü r Staat und Recht enthalten. 230 BOBOTOV und LARIN schreiben der Unschuldsvermutung mehrere Rechtsfolgen zu: — Der Ankläger hat die Beweislast für die Anklage, der Angeklagte muß sich nicht entlasten. — Anklageschrift und Schuldspruch müssen sich auf Schuldbeweise stützen. — Alle Zweifel müssen zugunsten des Angeklagten gelöst werden (in dubio pro reo), sowohl bei Tatsachen als auch bei Rechtsauslegung. — Freiheitsbeschränkende Eingriffe dürfen nicht über das M a ß des zur Wahrheitsfindung Erforderlichen hinausgehen. 2 3 1 Ahnlich versteht PRUTCENKOVA die Unschuldsvermutung nicht nur als Anordnung einer gesetzlichen Vermutung, sondern als Garantie der Gesamtheit der freiheitsschützenden N o r m e n im Strafprozeß. 2 3 2 Auch sie folgt STROGOVICS Auffassung, die Unschuldsvermutung sei keine bloße subjektive Meinung, sondern objektiver Rechtssatz, so daß der Verdächtige, Angeklagte etc. nicht wie ein Verbrecher behandelt werden dürfe. 2 3 3 BOBOTOV und LARIN betonen, daß die Unschuldsvermutung kein Geschenk an die Rechtsbrecher sei, welches die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Sicherheit der Bürger gefährde, sondern vielmehr die Funktionsfähigkeit des Justizapparats verbessere, weil sie den Umgang mit Beweisen auf ein höheres Niveau hebe. 234 In der Praxis werde die Verwirklichung der Konsequenzen der Unschuldsvermutung aber durch das Erbe der sozialistischen Epoche, als Strafrecht und -prozeß noch Kampfmittel zur Niederringung des Klassenfeindes waren, gehemmt, namentlich durch eine repressive Grundhaltung der Justiz und Strafverfolgungsorgane, die sich in der extrem niedrigen Freispruchsquote von ca. ι % 2 3 5 niederschlage. Diese Haltung schlage bei den großen Reformprojekten der jüngsten Zeit immer wieder durch, so z.B. mit dem Fehlen einer Verpflichtung, nach entlastenden Umständen zu suchen. 236 In der am 1 2 . 1 2 . 1 9 9 3 durch Referendum angenommenen Verfassung der Russischen Föderation ist die Unschuldsvermutung mit dem Zweifelssatz in Art. 49 nach dem Muster des Grundsatzentwurfs 2 3 7 von 1991 enthalten: 238 (1) Jeder einer Straftat Beschuldigte wird solange als unschuldig angesehen, wie seine Schuld nicht in einem durch Föderationsgesetz bestimmten Verfahren nachgewiesen und durch ein rechtskräftig gewordenes Gerichtsurteil bestätigt wurde. (2) Der Beschuldigte ist nicht verpflichtet, seine Unschuld zu beweisen. (3) Unausräumbare Zweifel an der Schuld einer Person sind zugunsten des Beschuldigten auszulegen.

230

La législation en matière de la procédure pénale de l'URSS et de la République fédérale de la Russie, Modèle théorique, Moskau 1990, S. 133 FF., zit. nach B O B O T O V / L A R I N E , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 335. 231 B O B O T O V / L A R I N E , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 335. 232

233

I T p y T H e H K O B a , IIpe3yMnnun

Heeunoenocmu,

S. 6.

ripyTHeHKOBa, ripe3yMnmiñ HeeuHoeHocmu, S. 12. 234 B O B O T O V / L A R I N E , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 335. 235 O S A K W E , 57 Tul.L.Rev. 439, 463 (1982-83), sieht darin kein Indiz besonders repressiven Vorgehens, sondern das Resultat der vorherigen Ausfilterung zweifelhafter Fälle durch Staatsanwalt und Vorverfahren. 236 B O B O T O V / L A R I N E , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 333, 335 ff. 237 Siehe oben Fußn. 220. 238 Text in PoccHHCKaa Ta3eTa vom 11.11.1993, deutsche Übersetzung nach EuGRZ 1994, 519 ff., 523.

C.II. DDR

407

II. DDR ι.

Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d ideologische F u n d i e r u n g

Nachdem anfänglich in der D D R Gerichte, die zum Zweifelssatz Zuflucht nahmen, kritisiert wurden und Freisprüche als Niederlagen gewertet wurden, 1 setzte sich mit der Liberalisierung nach der stalinistischen Ära allmählich eine Befürwortung der „Präsumtion der Unschuld" ein, die noch in keinem Gesetzestext zu finden war. In dubio pro reo wurde in § 221 Abs. 3 S t P O - D D R übernommen, nach dem der Angeklagte freizusprechen war, dem nicht bewiesen werden konnte, daß er die Tat begangen habe. Diese Zweifelslage trat aber erst dann ein, wenn die Beweismittel erschöpft waren und der Sachverhalt auch nach Berücksichtigung der „Logik der Tatsachen", der Lebenserfahrung und Kenntnis der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge noch unklar blieb. 2 Eben aber diese beiden letzten Kriterien erlaubten, sachliche Unkenntnis durch Mutmaßung zu überwinden. 3 1956 setzt eine Erörterung der Unschuldsvermutung ein, die zunächst als prozessuale G a rantie unter die Rechte des Angeklagten gezählt wird. 4 Bezogen wurde die Unschuldsvermutung auf die unvollständige Rehabilitierung durch den Freispruch mangels Beweises und die Unschuldsklausel des noch fortgeltenden Entschädigungsgesetzes von 1904. 5 In seinem Urteil vom 8.1.1957 erkennt das Oberste Gericht 6 die Präsumtion der Unschuld an, die im Zusammenhang mit dem Prinzip der Gesetzlichkeit, dem Recht auf Verteidigung und der Erforschung der objektiven Wahrheit stehe. Z u Beginn der 1960er Jahre war die Geltung von Zweifelssatz und Präsumtion der Unschuld als Prozeßprinzipien in Rechtsprechung und Lehre unumstritten. 7 Eine widerstrebende Auffassung wie in der U d S S R zur gleichen Zeit scheint es nicht gegeben zu haben. Die Deutung der Unschuldsvermutung wurde vor allem durch HERRMANN geprägt, der seine 1957 gegebene Interpretation 8 - die Unschuldsvermutung sei kein eigenständiges Prinzip, sondern untrennbarer Bestandteil des Rechts auf Verteidigung, das die Beweisführungspflicht des Anklägers beinhalte und eine subjektive Schuldüberzeugung bei Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und Gericht verbiete, die vielmehr unbelastet durch die im Ermittlungsverfahren getroffenen Feststellungen im Hauptverfahren die Beweise prüfen müßten — wenige Jahre später als noch in dogmatischen bürgerlichen Vorstellungen verhaftet 9 revi-

'

Dazu B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 158 ff. m.w.Nachw. OG v. 9.7.1952 - 3 Zst 11/52, zit. und kommentiert bei B E N J A M I N , N J 1952, 467, 469. 3 Kritisch B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 159 f. 4 S C H I N D L E R , N J 1956, 654, 656; H E R R M A N N / L E H M A N N , StuR 1957, 400; S T R E I T , N J 1956, 563; H E L M , StuR 1956, 723, 729 ff. 5 S T R E I T , NJ 1956, 563; H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1981 f. 6 OGSt 4, 201 (Leitsatz 2) u. f. 7 Zum Zweifelssatz bzw. der Beweislast der Anklage: OG NJ 1963, 378 f.; BG Neubrandenburg NJ 1964, 127 f.; H I N D E R E R , StuR i960, 1700, 1724; S I E B E R T , StuR 1963, 831, 844; Der Schöffe 1957, 38, 43; H E R R M A N N / S C H Ü S S E L E R / W I N K L E R , StuR 1964,1044,1059. S.a. B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S . 160 ff.; S P E C K , Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafverfahrensrecht der DDR, S . 60. 8 H E R R M A N N / L E H M A N N , StuR 1957, 400 ff. ' H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1966. Dazu s.a. B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 161 f. 2

4o8

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

dierte. D e n „marxistisch-leninistischen Inhalt des sozialistischen Prinzips der Präsumtion der Unschuld" faßte er nun — im Anschluß an die „schöpferische Neugestaltung durch die Sowjetwissenschaft" — folgendermaßen: Nach Aufhebung des Interessengegensatzes zwischen Staat und Individuum als Folge der Aufhebung des Klassengegensatzes im Arbeiterund-Bauern-Staat könne sie nicht auf einen Bestandteil des Rechts auf Verteidigung beschränkt werden. Die Präsumtion der Unschuld gewährleiste die Wahrheit der in der strafprozessualen Untersuchung getroffenen Feststellungen. 10 Als Garantie der Erforschung der objektiven Wahrheit lenke sie auch die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane. D i e durch sie gegebene objektive Rechtslage stehe nicht im Gegensatz zur Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane, sondern sei Leitgedanke ihrer Untersuchungen und erhöhe deren Q u a l i t ä t . " Rekurriert wird dabei auf das optimistische Menschenbild, das die Erziehbarkeit und Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen zur Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft voraussetze: Dieser optimistischen, die schöpferische Mission des Menschen bejahenden Haupttendenz bei der Leitung der Gesellschaft durch den sozialistischen Staat kann das sozialistische Strafverfahren nur dann richtig entsprechen, wenn einer seiner Leitgedanken die Präsumtion der Unschuld ist. 12 N o c h deutlicher in dem früheren Aufsatz: Der Aufbau des Sozialismus wäre undenkbar, wenn man nicht von der grundsätzlichen Vermutung ausgehen dürfte, daß sich die Bürger des Arbeiter-und-Bauern-Staates diszipliniert, staatstreu und ehrlich zur sozialistischen Staats- und Rechtsordnung verhalten.13 In keinem Falle dürfe eine Beschuldigung allein dazu fuhren, die grundsätzliche Wertschätzung jedes Bürgers aufzugeben, somit entspreche die Präsumtion der Unschuld den gesellschaftlichen Grundlagen. 1 4 Doch garantiere sie nicht die Wahrheitserforschung schlechthin, „sondern ihre Richtung und ihr U m f a n g werden bestimmt von den Erfordernissen der geplanten Kriminalitätsbekämpfung". N u r so könnten Werktätige für die aktive Beteiligung am Strafverfahren interessiert werden, und ihre Beteiligung verwirkliche die Präsumtion der Unschuld noch konsequenter. 1 5 Völlig abwegig sei die Auffassung, die Präsumtion der Unschuld schwäche den K a m p f gegen das Verbrechen, denn ohne strikte Wahrung der Rechte des Angeklagten könne die objektive Wahrheit nicht erforscht werden. 1 6 Falsch sei auch, sie als Forderung an die sub-

StuR 1962,1965,1967. StuR 1962,1965,1967. 12 H E R R M A N N , StuR 1962, 1965,1968. 13 H E R R M A N N / L E H M A N N , StuR 1957, 400, 401. Genau entgegengesetzt B I L I N S K Y , ROW 1962, 55, 61, der der sozialistischen Gesellschaft eine praesumtio mali viri unterstellt, s.o. S. 394. 14 H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1969. 15 H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1969; dazu krit. B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 161 f. 16 H E R R M A N N , StuR 1962, 1965,1971. 10

HERRMANN,

"

HERRMANN,

C.II. D D R

jektive Meinung der Strafverfolgung zu verstehen. Die Präsumtion der Unschuld drücke vielmehr eine objektive Rechtslage17 aus, die durch subjektive Meinungen nicht berührt werde. Untersuchungsorgan, Staatsanwalt und Gericht dürften durchaus annehmen - und die Anklage müßte dies zwangsläufig - , der Angeklagte sei schuldig, rechtmäßig sei ihre Annahme aber nur, wenn sie durch Beweise gestützt werde. Bis dahin seien dies nur vorläufige Schlußfolgerungen. 18 Die Präsumtion der Unschuld gelte folglich im gesamten Prozeß seit Beginn des Ermittlungsverfahrens, ende erst mit dem rechtskräftigen Urteil und lebe in Kassations- und Wiederaufnahmeverfahren wieder auf. 19 Schon ein von der Beweislage nicht getragener Eröffnungsbeschluß stelle eine Verletzung der Unschuldsvermutung dar.20 Aus ihr folge ferner der in dubio pro ra>-Satz und die Beweislast der Strafverfolgungsorgane.21 Sie verlange eine selbstkritische Einstellung jedes Strafverfolgungsorgans und die ständige Prüfung der Gesetzlichkeit und Begründetheit der Beschuldigung, die Unvoreingenommenheit des Richters, auch beim Verhör des Angeklagten.22 Ihre Negierung sei gleichbedeutend mit Voreingenommenheit und Subjektivismus und würde zur Qualitätssenkung der Strafverfolgung führen: Das aus diesen Gründen mangelhafte Strafverfahren wäre ungeeignet, die Volksmassen von der Gerechtigkeit seiner Durchführung zu überzeugen und als Hebel bei der Mobilisierung der Werktätigen zur Verbrechensbekämpfung zu dienen. 3

Durch die oben beschriebenen Wirkungen verstärke die Präsumtion der Unschuld die Gesellschaftswirksamkeit des Strafverfahrens.24 B E C H T H O L D deutet dies so, daß die Präsumtion der Unschuld nun kein Schutzrecht des Beschuldigten gegen den Staat mehr sei, auf das er sich berufen könne, sondern Grundlage und Instrument einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung.25 In der Tat ist eine Deutung als aus Mißtrauen geborenes Abwehrrecht gegen den Staat nicht denkbar, wenn man per definitionem davon ausgeht, daß ein solcher Interessengegensatz nicht mehr bestehe,26 wie sich folgerichtig an der Gegenposition in der sowjetischen Diskussion zeigte. H E R R M A N N S Deutung bemüht sich daher, dem Vorwurf zu entgehen, bürgerliche Auffassungen einführen zu wollen. Berufen kann sich der einzelne auf die Unschuldsvermutung insofern, als er mangelnde Sachaufklärung und inadäquate Beweiswürdigung rügt.27

StuR 1962,1965,1971,1975 im Anschluß an S T R O G O V I È und L U K A S E V I Ö . StuR 1962,1965,1971 ff. H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1975. H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1975 f. H E R R M A N N , StuR 1962, 1965,1976 f. H E R R M A N N , StuR 1962, 1965,1977 f., 1978 ff. H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1978. H E R R M A N N , StuR 1962,1965,1978. B E C H T H O L D , Die Prozeßprinzipieti im Strafverfahren der DDR, S . 161 f., 163. Siehe nur P O L J A N S K I J , StuR 1957,105,121.

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HERRMANN,

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HERRMANN,

" 20 21 22 23 24 25

26

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

2. Der Rechtszustand im einzelnen Die Präsumtion der Unschuld wurde erstmals 1968 in die S t P O vom 1 2 . 1 . 1 9 6 8 aufgenommen 2 8 sowie in Art. 4 Abs. 3 und 5 S t G B 2 9 . Ausdrücklich galt die Unschuldsvermutung auch über Art. 14 Ziff. 2 I P B P R 3 0 . A u c h Art. 99 der Verfassung der D D R wird stets mitzitiert. 31 § 6 Abs. 2 S t P O - D D R lautete: Niemand darf als einer Straftat schuldig behandelt werden, bevor seine strafrechtliche Verantwortlichkeit nachgewiesen und in einer rechtskräftigen Entscheidung festgestellt ist. Im Zweifel ist zugunsten des Beschuldigten oder des Angeklagten zu entscheiden. Die Präsumtion der Unschuld wird nun als Garantie der Wahrung der Menschenwürde des Beschuldigten und Angeklagten bezeichnet, 32 so wie auch die Überschrift des Art. 4 S t G B -

27

So in OGSt 4, 201 f. Dazu BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 56 f. 29 Art. 4 S t G B - D D R lautete: Artikel 4 Schutz der Würde und der Rechte des Menschen Die Würde des Menschen, seine Freiheit und seine Rechte stehen unter dem Schutz der Strafgesetze des sozialistischen Staates. Die Achtung der Menschenwürde, von der sich die sozialistische Gesellschaft auch gegenüber dem Gesetzesverletzer leiten läßt, ist fur die Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Strafrechtspflege und für den Strafvollzug unverbrüchliches Gebot. Eine Person darf nur in strikter Ubereinstimmung mit den Gesetzen strafrechtlich verfolgt und zur Verantwortung gezogen werden. Eine Handlung zieht strafrechtliche Verantwortung nur nach sich, wenn dies zur Zeit ihrer Begehung durch Gesetz vorgesehen ist, der Täter schuldhaft gehandelt hat und die Schuld zweifelsfrei nachgewiesen ist. Die Rückwirkung und die analoge Anwendung von Strafgesetzen zuungunsten des Betroffenen ist unzulässig. Die Rechte der Persönlichkeit, das Post- und Fernmeldegeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung sind gewährleistet. Sie dürfen nur so weit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist. Festnahmen und Verhaftungen erfolgen nur auf Grundlage des Gesetzes. Niemand darf als einer Straftat schuldig behandelt werden, bevor nicht in einem gesetzlich durchgeführten Verfahren von einem Gericht oder gesellschaftlichen Organ der Rechtspflege seine Schuld zweifelsfrei nachgewiesen und rechtskräftig festgestellt worden ist. Das Recht auf Verteidigung ist gewährleistet. Strafen im Sinne dieses Gesetzes werden ausschließlich durch Gerichte ausgesprochen. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden; Ausnahmegerichte sind verboten. (Strafgesetzbuch der D D R vom 12.1.1968 in der Neufassung vom 19.12.1974 (GBl. 1 1 9 7 5 Nr. 3 S. 14).) 30 In Kraft in der D D R seit dem 23.3.1978, GBl. II 1976 Nr. 4, S. 108. 31 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 67. Art. 99 DDR-Verfassung ist allerdings weniger explizit. In Frage kommt nur sein Abs. 2, der mit Art. 4 Abs. 5 S t G B - D D R teilidentisch ist: „Eine Tat zieht strafrechtliche Verantwortlichkeit nur nach sich, wenn diese zur Zeit der Begehung der Tat gesetzlich festgelegt ist, wenn der Täter schuldhaft gehandelt hat und die Schuld zweifelsfrei nachgewiesen ist. Strafgesetze haben keine rückwirkende Kraft." (Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968 (GBl. I S. 199) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7 . 1 0 . 1 9 7 4 (GBl. I 425).) 32 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafrerfahrensrech?, S. 67. 28

C.II.

DDR

411

D D R lautet, und im wesentlichen als Verbot unbewiesener Schuldfeststellungen angesehen 33 . Sie gelte für die Strafgerichte und gesellschaftlichen Gerichte, aber auch für alle anderen staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Einrichtungen, insbesondere Presse, Funk und Fernsehen, sowie für jeden Bürger. 34 Der Verdacht rechtfertige die Durchführung eines Verfahrens und ggf. die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, aber keine strafprozessuale Entscheidung eines Gerichts oder gesellschaftlichen Gerichts vor dem Urteil enthalte eine Schuldfeststellung. 35 Die Kommentierungen folgern daraus das Gebot unvoreingenommener Untersuchung und unparteiischen Vorgehens bei der Wahrheitsfindung, 36 so daß die Unschuldsvermutung in entscheidendem Maße die gesellschaftliche Wirksamkeit des Strafverfahrens bestimme. 37 Auch eine gründliche Vernehmung des Beschuldigten nebst exakter Protokollierung sei durch die Präsumtion der Unschuld gefordert, da nur so der Beschuldigte sein Verteidigungsrecht wahrnehmen könne. 38 Weiterhin folge, daß die Organe der Strafrechtspflege den zweifelsfreien 39 Schuldbeweis zu führen haben und nicht der Beschuldigte seine Unschuld beweisen müsse, 40 wie § 8 Abs. 2 S t P O - D D R ausdrücklich anordnet, ebenso, daß im Zweifel zugunsten des Beschuldigten zu entscheiden und bei mangelnder Begründung des Vorwurfs freizusprechen sei (in dubio pro reo) 41 die nichtbewiesene Schuld sei gleichbedeutend mit der erwiesenen Unschuld. 42 Schließlich sei die Unschuldsvermutung eine wesentliche Garantie für das Recht auf Verteidigung, denn nur wenn im Strafverfahren anerkannt werde, daß vor rechtskräftiger Entscheidung keine Schuldfeststellungen erfolgen, könne das Recht auf Verteidigung verwirklicht werden. 43 Als Konsequenz aus der Unschuldsvermutung gewährten die §§ 369 ff. S t P O - D D R einem Bürger Entschädigung für den durch Untersuchungshaft oder sonstigen Freiheitsentzug entstandenen Vermögensschaden, wenn das gegen ihn geführte Strafverfahren mit Freispruch, Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens oder endgültiger Einstellung endete.44 Ausnahmen sahen die §§ 371 f. S t P O - D D R vor.

33 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht^, S. 67, 274; Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2. 34 Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2, S. 28. 35 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, StrafverfahremreM, S. 67 f. 36 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 68, 126. 37 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 68. 38 BEIN/LUTHER, StuR 1963, 245, 253. 39 O G Urt. v. II. 5.1966, N J 1966, 475 476. 40 O G Urt. v. 3.9.1968, N J 1968, 638, 639; BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrech?, S. 6 7 , 1 2 6 f.; Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2. 41 O G S t 1 0 , 1 2 1 , 1 2 4 ; O G Urt. v. 2.4.1980, N J 1980, 285 f.; Urt. v. 17.4.1975, N J 1975, 517; BUCHHOLZ/ HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 67 f.; Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2. Insbesondere soll bei den Beschuldigten oder Angeklagten entlastenden Einlassungen stets deren Wahrheit unterstellt werden, sofern sie nicht exakt widerlegt werden könnten. Eine Zurückweisung als bloße Schutzbehauptung sei unzulässig, BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrech?, S. 127, s.a. S. 150. 42 HERRMANN, StuR 1962, 1965,1981. 43 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 68. 44 BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrech?, S. 398 ff. S.a. Beschluß des Präsidiums des Obersten Gerichts zur Entschädigung für Untersuchungshaft und Strafen mit Freiheitsentzug gemäß §§ 369 ff. StPO durch die Gerichte der D D R vom 22. Januar 1975, N J 1975 Beilage 1, Punkt 1.1.

412

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Als weitere Folge der Unschuldsvermutung 4 5 wurde der Freispruch mangels Beweises 1968 beseitigt und der einheitliche Freispruch eingeführt mit der Regelung des § 244 Abs. 1 Satz 4 S t P O - D D R , welcher lautet: Formulierungen, welche die Unschuld des Freigesprochenen in Zweifel ziehen, sind unzulässig.46 Als Verstoß gegen die Präsumtion der Unschuld wurde die Beteiligung von Vertretern aus dem Arbeits- und Lebenskreis des Täters sowie der Schöffen an der Ermittlungstätigkeit gesehen, da hierbei häufig von einer feststehenden Straftat ausgegangen wurde. 4 7 Es wird daher darauf hingewiesen, daß auch hier der Grundsatz beachtet werden müsse. 48 H E R R MANN hingegen sah in der Beteiligung der Werktätigen wegen der erzieherischen Kraft des Kollektivs eine konsequentere Verwirklichung der Unschuldsvermutung, denn so werde die Kriminalität in ihren Wurzeln besser ergründet. 49 Die Reaktionsform der Bürgschaft als Resozialisierungsmaßnahme nach §§ 31 S t G B D D R , 57 S t P O - D D R , 5 0 sah vor, daß bereits während des Strafverfahrens über die Bürgschaftsübernahme beraten wurde, worin eine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung gesehen wurde 5 1 . Die Untersuchungshaft (§§ 122 ff. S t P O - D D R ) wurde, soweit ersichtlich, nicht unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung thematisiert. Es wird aber darauf hingewiesen, daß es sich nicht u m vorweggenommene Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit handele. 5 2 Auch sei im Untersuchungshaftvollzug zu dokumentieren, daß es sich um noch nicht verurteilte Bürger handele, so durch Zivilkleidung und Trennung von Strafgefangenen, 5 3 § 130 Abs. ι , 2 S t P O - D D R . Daß aus dem Schweigen des Angeklagten, ein in § 8 Abs. 2 S t P O - D D R verbürgtes Recht, keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, wird schon mit der Charakterisierung dieses Schlusses als Fehlschluß begründet. 54

45

BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrecht', S. 274; Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2, § 244 Anm. 1.4. 46 Zur Auslegung, insbesondere dem Problem, der Begründungspflicht zu genügen, s. MÜHLBERGER, NJ 1973, 381, 382. S.a. KÜHL, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 65. 47 BECHTHOLD, Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 162; ohne Bedenken SEMLER/ KERN, Die gerichtliche Ahndung von Straftaten, S. 87 ff. (Beteiligung der Werktätigen diene der Erhöhung der Sachkunde des Gerichts und Vorbereitung der Hauptverhandlung und sei keine Beweiserhebung). 48 FUNK, NJ 1964, 705, 705 („Die Tätigkeit der Untersuchungsorgane darf nicht auf eine Vorwegnahme der Hauptverhandlung hinauslaufen und das Prinzip der Präsumtion der Unschuld verletzen."); Kommentar zur Strafprozeßordnung, § 6 Anm. 2, S. 28. 49 HERRMANN, StuR 1962,1965,1969. 50 Dazu GLESS, MSchrKrim 1991, 339 ff. 51 52

GLESS, M S c h r K r i m 1991, 339, 351. BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrech?,

S. 158.

53

Dazu BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrech?, S. 165 f.

54

BUCHHOLZ/HERRMANN/LUTHER, Strafverfahrensrechi,

S. 150.

C. III. Volksrepublik China

413

III. Volksrepublik China Auch in der nachstalinistischen Zeit und ihrer Betonung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der U d S S R und anderen sozialistischen Ländern wurde in der V R C h i n a zunächst weder ein Strafgesetzbuch noch ein Strafprozeßgesetz erlassen. Die chinesische Literatur soll die durch Fehlen von Kodifizierungen eröffnete Flexibilität als Vorteil herausstreichen. 1 Vor 1956 behauptete die Volksrepublik die Geltung der Unschuldsvermutung getreu dem sowjetischen Vorbild. Ihre Beachtung stellte sich aber als Hindernis bei der Bestrafung von Konterrevolutionären dar und wurde daher endgültig auf dem V I I I . Parteitag 1956 der Kommunistischen Partei verworfen. 2 Alle Entscheidungen im Strafverfahren wie Verhaftung, Erhebung der Anklage etc. beruhten auf der inneren Uberzeugung des jeweiligen Organs von der Schuld des Beschuldigten. Müßte dessen Unschuld vermutet werden, so wäre in allen Fällen das Verfahren einzustellen. 3 Das Konzept einer Unschuldsvermutung wird seitdem als bürgerliches Relikt abgelehnt. 4 1979 wurden ein Strafprozeßkodex sowie Regeln über die Verhaftung und den Haftvollzug erlassen, ergänzt 1983 durch einen Beschluß des Komitees des Volkskongresses über das Verfahren für eine zügige Behandlung von Fällen, an denen Kriminelle beteiligt sind, die die öffentliche Sicherheit gefährden. 5 Diese Vorschriften enthalten gewisse Garantien des Angeklagten, so z.B., daß der Ankläger die Beweislast für die Schuld des Angeklagten trägt, welche nicht vermutet wird, daß der Angeklagte nicht als Krimineller behandelt wird, sowie das Verbot, ein Geständnis zu erzwingen, wiewohl kein allgemeines Schweigerecht, sondern Aussagepflicht besteht. Im Falle unzureichenden Schuldbeweises muß der Angeklagte freigesprochen werden. 6 Die Unschuldsvermutung fehlt und wird standhaft zurückgewiesen. Y ü SHUTONG gibt in seinem 1992 erschienenen Aufsatz drei Gründe dafür an: (1) Die Unschuldsvermutung sei, als G e gensatz zu einer Schuldvermutung, in der Epoche der Feudalherrschaft praktiziert worden. Schriebe man einem Beschuldigten Unschuld zu, so führte dies in der chinesischen Sprache und Kultur leicht zu einer „laisser faire"-Haltung gegenüber dem Verdächtigen. (2) Der Unschuldsvermutung sei theoretisch widersprochen, sobald ein Angeklagter verhaftet oder verfolgt werde. (3) Der chinesische Strafprozeßkodex sehe eine Reihe effektiver Maßnahmen vor, um einen Sachverhalt zu klären und die legitimen Rechte des Beschuldigten zu wahren, so daß es einer Stütze im Prinzip der Unschuldsvermutung nicht bedürfe, ihre vernünftigen Elemente seien schließlich positiviert. 7

1

So die Darstellung von H A Z A R D , Rev.sc.crim. 1964, 293, 303. C.L., Rev.sc.crim. 1965, 498, 499. Begründet wird diese Wende in Fa-Hsüeh 1958, Nr. 1, S. 37 ff., 45, 50, zit. nach HynameBHM, rapanmuu npae oôeuHHeMozo β coeemcKOM yzoAoeuoM npoi^ecce, S. 43 Fn. 2; B E R M A N & Q U I G L E Y , 15 U C L A L.Rev. 1230,1232 Fn. 4 (1968); beide m.w. Nachw. 3 Fa-Hsüeh 1958 Nr. 1, S. 39, 43, zit. nach JlyicaiiieBHH, rapanmuu npae oôeuHHeMozo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 47 f. 4 Arbeitsbericht des Volksgerichts der Provinz Fukien, in: Fukien Jih-Pao v. 13.2.1959, zit. nach HAZ A R D , Rev.sc.crim. 1964, 293, 303 bei Fn. I . 5 Dazu Yü S H U T O N G , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 321, 321. 6 Yü S H U T O N G , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 321, 322 f. 7 Yü S H U T O N G , Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 321, 323. 2

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

4H

IV. Andere (vormals) sozialistische Staaten Die meisten anderen sozialistischen Staaten, z.B. Albanien, Bulgarien, CSSR und Jugoslawien, haben die Unschuldsvermutung nach sowjetischem Vorbild in ihr positives Recht übernommen.1 Auch dort, wo keine Positivierung erfolgte wie in Polen, war die sowjetische Debatte der fünfziger und sechziger Jahre bestimmend.2 Die am i. 2.1952 angenommene Strafprozeßordnung der bulgarischen Volksrepublik formulierte die Unschuldsvermutung in Art. 8 direkt: Der Angeklagte wird als unschuldig angesehen, solange das Gegenteil nicht bewiesen wird. Er hat das Recht auf Verteidigung. 3

Eine gleichlautende Vorschrift enthielt Art. 12 des albanischen Strafprozeßgesetzes.4 Auch § 6 des Strafprozeßgesetzes 1956 sowie § 2 Abs. 2 der am 1. 1. 1962 in Kraft getretenen Strafprozeßordnung der CSSR enthielten die Unschuldsvermutung ausdrücklich, die nur durch rechtskräftiges Urteil widerlegbar war. Bloßer, unwiderlegter Verdacht genüge zur Verurteilung nicht {in dubio pro reo)·, die nicht bewiesene Schuld sei mit der bewiesenen Unschuld gleichzusetzen. Der Beschuldigte sei nicht verpflichtet, seine Unschuld zu beweisen, dies sei Aufgabe der Strafverfolgungsorgane.5 Die seit 1991 geltende Charta der Grundrechte und -freiheiten enthält die Unschuldsvermutung in Art. 40 Abs. 2.6 Das tschechoslowakische Recht soll keine Ausnahmen gekannt haben, selbst keine exceptio veritatis bei übler Nachrede: Die Anklage mußte beweisen, daß die behaupteten Tatsachen falsch sind.7 Das Verbot, vor dem erstinstanzlichen Urteil in der Presse eine Meinung zum Ausgang des Gerichtsverfahrens zu äußern, in Art. 13 Abs. 1 des polnischen Pressegesetzes von 1984 wurde sowohl auf den Schutz der Persönlichkeitssphäre als auch auf die Unschuldsvermutung gestützt.8

1 Dazu JlyKaiueBHM, rapanmuu npae oöeunneMozo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 58 f.; BERMAN & QUIGLEY, 15 U C L A L.Rev. 1230, 1232 m.w.Nachw. in Fn. 4 (1968). Z u Bulgariens Strafprozeßkodex vom 1 . 2 . 1 9 5 2 s. C T p o r o B H i , MamepuaAbHaH ucmuna u cydeônbte òoKa3amenbcmeo β co-

eemCKOM

yzoAoenoM

npoi^ecce,

S. 1 9 1 F n . 2.

2

Z u Polen s. CIESLAK, Rev.int.dr.pén. 37 (1966), 207, 222 ff. Er unterscheidet eine objektive Deutung der Unschuldsvermutung, derzufolge das Gesetz allein den Angeklagten als unschuldig ansehe, und eine subjektive Deutung, die er teilt, derzufolge auch die am Strafverfahren beteiligten Organe diese Sicht einzunehmen haben, ibid. S. 224 f. Dort auch in Fn. 8 bis 11 zahlreiche Nachweise zur Literatur und polnischen Judikatur. 3 Zit. nach STROGOVI£, R I D 1953, 29, 39; DERS., R I D 1954, 372, 384; J l y K a m e B H H , rapanmuu npae oßeuHneMozo β coeemcKOM yzoAoenoM npouficce, S. 58. 4 JlyKaiueBHM, rapanmuu npae oöeunneMozo β coeemcKOM yzoAoenoM npoyecce, S. 58 f. 5 R Ú Í E K , StuR 1963, 327, 334. Nachw. auch bei JlyKameBHM, rapanmuu npae oöeunneMozo e coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 42 f. Fn. 1 6 REPÍK, Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 365, 365 u. ff. 7 REPÍK, Rev.int.dr.pén. 63 (1992), 365, 367. 8

Z u m Ganzen WALTOS, Z S t W 98 (1986), 272, 277 f., 286.

D .1. Die Judikatur der Organe der E u M R K

D.

415

Die Unschuldsvermutung in der Judikatur der

Rechtsprechungsorgane internationaler Verträge I.

Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 E u M R K in der Judikatur der Europäischen Menschenrechtskommission und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

ι.

Travaux préparatoires

Die travaux préparatoires der E u M R K sind soweit ersichtlich in der Judikatur sowohl der E u K M R als auch des E u G H M R zu Art. 6 Abs. 2 bislang nicht herangezogen worden, sie sind für das Verständnis der Unschuldsvermutung auch kaum ergiebig. 1 Während in den ersten E n t w u r f der geplanten Konvention seitens des Mouvement Européen noch keine prozessualen Garantien aufgenommen wurden, zielt der Entwurf des Expertenkomitees 3 auf die Kodifizierung der Garantien der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 einschließlich deren Art. 9 bis 11. Eine gesonderte inhaltliche Diskussion über die Aufnahme der Unschuldsvermutung fehlt daher. Die Textgestalt der Unschuldsvermutung war zunächst wortgleich mit der Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, 4 wandelte sich aber im Verlauf der Entstehungsgeschichte durch die Favorisierung des „definitorischen" Ansatzes und der Ausformulierung präziser weiterer Prozeßgarantien zur heutigen Form 5 .

1 Entgegen der Annahme H O E F E R M A N N S , Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, 83 ff., sind die travaux veröffentlicht: C O N S E I L D ' E U R O P E / C O U N C I L O F E U R O P E : Recueil des Travaux Préparatoires de la Convention Européenne des Droits de l'Homme/Collected Edition of the "Travaux Préparatoires" of the European Convention on Human Rights-, acht Bände, La Haye/The Hague, 1975 bis 1985. 2 Entwurf vom 12.7.1949, abgedruckt in Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. I, Annex S. 296 ff. 3 Aufgenommen als Entwurf in die Empfehlung der Beratenden Versammlung des Europarates vom 8. 9.1949, abgedruckt in Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. II, S. 277 ff. Art. I dieses Entwurfs bezeichnet die Kodifizierung der Rechte der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der U N als Ziel, Art. 2 Abs. 3 inkorporiert ausdrücklich deren Art. 9 bis 11, also auch die Unschuldsvermutung des Art. 11 Abs. ι der Allgemeinen Menschenrechtserklärung. 4 So im Entwurf vom 7.2.1950 auf der 6. Sitzung des Expertenkomitees, Art. 3 c): "Everyone charged with a penal offence has the right to be presumed innocent until proved guilty according to law in a public trial at which he has had all the guarantees necessary for his defence." „Toute personne accusée d'un acte délictueux est présumée innocente jusqu'à ce que sa culpabilité ait été légalement établie au cours d'un procès public oû toutes les garanties nécessaires à sa défense lui auront été assurées." Wiedergegeben in Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. III, S. 222/223. 5 Von Beginn an wurden zwei Wege für die Formulierung der Konvention unterschieden. Zum einen könnte der Vertragstext die avisierten Rechte nur aufzählen und ihre Ausgestaltung den Vertragsstaaten überlassen, zum anderen könnte man die Rechte definieren, womit den Staaten weniger Spielraum gelassen würde. Dementsprechend formulierte das Expertenkomitee auf der Sitzung vom 16.3.1950 zwei Entwürfe: Variante A entsprach dem „Enumerations"ansatz und enthielt die zuvor wiedergegebene Fassung, die eine Widerlegung der Unschuldsvermutung nur durch ein prozeßrechtsgemäßes Verfahren zuläßt, Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. IV, S. 50 ff., 52/53 in Art. 2 Abs. 3c). Daneben enthält die Vari-

S.

4I6

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Trotz der strengeren Bindung der Mitgliedsstaaten durch das gewählte Modell hat die E u K M R betont, daß die jeweilige nationale Praxis bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. 6 Angenommen werden kann, daß die Vertragsschließenden Staaten von der grundsätzlichen Ubereinstimmung ihrer Rechtsordnungen mit der Konvention ausgingen sowie daß die Garantien des Art. 6 auf verschiedene Weise befolgt werden können. Die Konvention bezweckt somit, den kontinentalen und angelsächsischen Prozeß mit den gleichen Garantien zu versehen, ohne eines der Systeme zu bevorzugen. 7 Daraus läßt sich aber nicht als Grundsatz folgern und ist von den Rechtsprechungsorganen der E u M R K auch nicht gefolgert worden, daß die Konvention nicht nachträglich durch eine objektive Auslegung eine umfassendere Rechtswirkung als ursprünglich vorgesehen zuerkannt werden könne. 8

2. Sachlicher Geltungsbereich Die Unschuldsvermutung gilt nach der Judikatur der Kommission und des Gerichtshofs nur für Verfahren, die auf die Verhängung einer „Strafe" zielen. Die Passage "charged with a criminal offence/accusé d'une infraction" wird autonom ausgelegt. 9 Die dafür entwickelten Kriterien sind (i) die Charakterisierung der Rechtsfolge als Strafe im nationalen Recht, (2) die Art der Straftat, (3) die Schwere des drohenden Eingriffs. Für die Abgrenzung sind die Begriffe des innerstaatlichen Rechts daher nicht allein maßgebend, angesichts der materiellen Kriterien der autonomen Auslegung auch nicht, ob eine förmliche Anklage vorliegt. 10 Im Ordnungswidrigkeitenverfahren findet Art. 6 Abs. 2 E u M R K regelmäßig, 1 1 im Disziplinarverfahren je nach Strafähnlichkeit der Maßnahme Anwendung 1 2 . Präventive und sichernde Maßnahmen wie Beschlagnahme von illegal erlangten Vermögensteilen stellen keine Strafe dar und fallen daher nicht unter Art. 6 Abs. 2 E u M R K , wenn sie nicht auf der Feststellung einer Straftat, sondern der Gefährlichkeit des Betroffenen beruhen. D e n n Ver-

ante A nur wenige prozessuale Garantien. Variante B, die für den „Definitions'ansatz stehen soll, enthält hingegen die Unschuldsvermutung in der heutigen Formulierung und zahlreiche weitere spezifische Prozeßgarantien, Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. IV, S. 56 ff., 60/61 in Art. 7 Abs. 2. Der „definitorische" Ansatz hat sich sodann durchgesetzt, in den folgenden Entwürfen bleibt die Unschuldsvermutung unverändert, Collected Edition of the "Travaux Préparatoires", vol. IV S. 222/223, 2.78/279; vol. V, S. 80/81,124/125, 150/151. 6 EuKMR 2518/65, CD 18, 44, 45 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 8 (1965), 370. 7 H O E F E R M A N N , Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S . 85. 8 H E R Z O G , A Ö R 86 (1961), 194,199; H O E F E R M A N N , Die Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises, S. 85. Ähnl. V O N W E B E R , ZStW 65 (1953), 336, 346. 9 EuGHMR Serie A Nr. 35 S. 24 § 46 (Deweer)·, Serie A Nr. 49 S. 15 f. §§ 30 ff. (.Adolf) = EuGRZ 1982, 297 ff.; Serie A Nr. 62, S. 15 § 28 (Minelli)·, EuKMR 12386/86, DR 70, 59, 74 f. 10 EuGHMR Serie A Nr. 22, S. 34 f. § 82 (Engel) = EuGRZ 1979, 221, 232; Serie A Nr. 73, S. 18 § 50 (Öztürk) (zu Art. 6 Abs. 3e); Serie A Nr. 123, S. 23 § 54 (Lutz); EuKMR 12386/86, DR 70, 59, 75 ff.; 12995/ 87, DR 67, 204, 208 (Duhs). S.a. 13057/87, DR 60, 243, 249 (Demicoli). 11 EuGHMR Serie A Nr. 73, S. 17 ff. (Öztürk) = EuGRZ 1985, 62 = NJW1985,1273; bestätigt im Fall Lutz, EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 22 ff. §§ 51 ff. 12 Bejahend in EuGHMR Serie A Nr. 58, S. 17 § 30, S. 20 § 39 (Albert et Le Compté)·, abl. in EuKMR 10313/85, DR 39, 225, 230 f.; weitere Nachweise bei IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 385.

417

D .1. Die Judikatur der Organe der EuMRK

mögensbeschlagnahmen existieren nicht nur im Strafrecht ebenso wie Maßnahmen vergleichbarer oder sogar größerer Schwere.13 Beim Verfall von Gütern, die zur Begehung einer Straftat benutzt wurden, aber einem unschuldigen Dritten gehören, wurde hingegen eine Verletzung der Unschuldsvermutung erwogen.14 Ein Bußgeld des Kfz-Halters für Falschparken, das zudem im Verwaltungsverfahren verhängt wird, verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung.15 Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 E u M R K schließt es nicht aus, daß die Unschuldsvermutung sich auch an Behörden anderer Staaten als desjenigen richtet, in dem eine Anklage gegen eine Person vorliegt.16 Aus allem folgt, daß die Unschuldsvermutung nicht in Verfahren vor den Zivilgerichten, 17 weder im Ehescheidungsprozeß18 noch im arbeitsgerichtlichen Verfahren 19 gilt ebensowenig wie im Auslieferungsverfahren, da dieses nicht auf Schuldfeststellung gerichtet ist20.

3. Adressaten und Drittwirkung Anfänglich nahm die Kommission an, die Unschuldsvermutung gelte nur für den mit der Sache befaßten Richter.21 Seit der Entscheidung im Fall Petra Krause steht aber fest, daß sie nicht nur für Gerichte, sondern für sämtliche staatlichen Stellen gilt.22 Auch sind nach einem Freispruch alle staatlichen Stellen an die bestätigte Unschuldsvermutung gebunden.23 Eine Geltung der Unschuldsvermutung für Privatpersonen, wie sie bei Pressekampagnen diskutiert wird, hat die Kommission abgelehnt.24

4. Zeitlicher Geltungsbereich Da die Kommission zunächst in der Unschuldsvermutung nur eine Anforderung an die richterliche Geisteshaltung sah,25 hatte sie folglich, ähnlich wie nunmehr der amerikanische

13 EuKMR 12386/86, D R 70, 59, 75 ff.: Es genügt, daß die dem Gefährlichkeitsurteil zugrundeliegenden Tatsachen hinreichend sicher festgestellt sind, im Fall die vermutete Mitgliedschaft in der Mafia. S.a. E u G H M R Serie A Nr. 39, S. 37 § 100 (Guzzardì)·, Serie A Nr. 148, S. 17 § 39 (Ciulla). 14 EuKMR 9118/80, DR 3Z, 159,166 (Allgemeine Gold- und Silberscheideanstalt AG). 15 EuKMR 12995/87, D R 67, 204, 208 ff. (Duhs). 16 EuKMR 10427/83, D R 47, 85, 91. 17

E u K M R 4253/70, C D 3 8 , 1 1 5 , 1 1 8 ; 6062/73, D R 2 , 5 4 , 5 5 .

EuKMR 785/60 vom 14.6.1961 (unveröff.), zit. nach PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten, S. 159 Fn. 514. " EuKMR 852/60 vom 19.9.1961 (unveröff), zit. nach PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten, S. 159 [393] Fn. 514. 18

[393]

20

E u K M R 1 9 1 8 / 6 3 , C D 1 2 , 1 1 5 , 1 1 9 f. = Y . B . E u r . C o n v . H u m . R t s . 6 ( 1 9 6 3 ) , 4 8 4 , 4 9 3 ; s.a. 1 0 4 2 7 / 8 3 ,

DR 4 7 , 85, 91 f. 21 EuKMR 788/60 (Österreich ./. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), S. 740, 782 ff, 784; 7572/76, 7586/76, 7587/76, D R 14, 64, 88 (Ensslin, Baader 22 23 24 25

EuKMR 9296/81, DR 30, 227, 228. EuKMR 9295/81, DR 30, 227, 228. EuKMR 6062/73, D R 54.55· Dazu der nächste Absatz.

éRaspe).

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

4i8

Supreme Court,26 entschieden, daß eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EuMRK nicht vor Eröffnung der Hauptverhandlung geltend gemacht werden könne.27 Eine gewisse Rückwirkung hatte die Unschuldsvermutung aber schon auf das Ermittlungsverfahren, indem gesetzeswidrig erlangte Beweismittel im Hauptverfahren nicht verwertet dürften, da sie dem Erfordernis des „gesetzlichen" Schuldnachweises nicht genügten.28 Auch die Beurteilung von Untersuchungshaft unter der Unschuldsvermutung, die vor Erhebung einer Anklage vollzogen wurde, fügt sich nicht in diese Sicht.29 Im Fall Petra Krause hat die Kommission diese enge Sicht jedoch aufgegeben: Zwar sei die Unschuldsvermutung primär eine prozessuale Garantie, jedoch auch ein fundamentales Prinzip, das jedermann davor schütze, von staatlichen Stellen als einer Straftat schuldig bezeichnet zu werden, bevor diese Schuld gerichtsförmig festgestellt wurde. Auf die Einleitung eines Verfahrens und die Erhebung einer Anklage kommt es daher nicht an.30 Der Schutz der Unschuldsvermutung ist - trotz des Wortlauts "charged with a criminal offense" - nach jüngerer Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht nur auf die zeitliche Phase des Strafverfahrens nach Anklageerhebung beschränkt. Der E u G H M R formulierte im Fall Minelli, daß die Unschuldsvermutung für das ganze Strafverfahren gelte, insbesondere auch für Annexentscheidungen.31 Die Unschuldsvermutung verliert ihre Geltung mit der Verurteilung - auf die Rechtskraft wurde bislang nicht abgestellt32 - , so daß sie in einem auf das Strafmaß beschränkten Berufungsverfahren33 sowie im Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr gilt, es sei denn, es ist nach Zulassung der Wiederaufnahme erneut über eine Anklage zu entscheiden.34 Nach einem Freispruch sind alle Behörden an die strafgerichtliche Feststellung gebunden.35

26

Siehe oben S. 342 ff., 345 ff. EuKMR 4483/70, C D 38, 77, 78 f.; 6323/73 (Bocchieri), D R 8, 59, 64; s.a. 7572/76, 7586/76, 7587/ 76 (Ensslin, Baader & Raspe), D R 14, 64, 88. Dazu F R O W E I N , Festschrift Hans Huber, S . 553, 555; F R O W E I N / P E U K E R T , EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 113; P E U K E R T , E u G R Z 1980, 247, 260; N E D J A T I , Human Rights under the European Convention, S. 125. 28 Offenlassend in EuKMR 5523/72, C D 46, 99,106 {Huber) = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 17 (1974), 314; 788/60 (Österreich ./. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 784. S.a. IntKomm/VOGL E R , Art. 6 Rn. 398. 29 Siehe unten bei Fußn. 58. 30 EuKMR 7986/77, D R 13, 73, 75 f. (Krause)·, bestätigt in 9077/80, D R 26, 211, 213 f.; vgl. dazu IntK o m m / V o G L E R , Art. 6 Rn. 391; P O N C E T , La protection de l'accusé, S. 79 Nr. 92. 31 E u G H M R Serie A Nr. 62, S. 15 f. § 30 (Minelli)·. „l'article 6 § 2 régit l'ensemble de la procédure pénale/Article 6 § 2 governs criminal proceedings in their entirety" = E u G R Z 1983, 475, 479 (Die deutsche Ubersetzung ist jedoch fehlerhaft.); Serie A Nr. 123, S. 3, 23 § 56 (Lutz)·, S. 40, 54 § 35 (Englert)·, 64, 78 f. § 34 f. (Nölkenbockhoff); ebenso EuKMR 15871/89, StV 1992, 282. 32 Vgl. E u G H M R Serie A Nr. 6z, S. 18 § 37 (Minelli) = E u G R Z 1983, 475; zust. G U R A D Z E , Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 24; krit. F R O W E I N / P E U K E R T , EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. i n Fn. 2; P A R T S C H , Die Rechte und Freiheiten, S. 161 [395]. 33 EuKMR 8289/78, D R 18,160,166. 34 EuKMR 914/60, C D 7 , 1 1 4 , 1 1 6 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 4 (1961), 373, 377. 35 EuKMR 9295/81, D R 30, 227, 228. 27

D . I . Die Judikatur der Organe der E u M R K

419

5. Unparteiische Prozeßführung Anfänglich hat die Kommission in der Vorschrift vor allem eine Regel zum Schutz gegen die Voreingenommenheit des Richters gesehen,36 die allerdings auch von Art. 6 Abs. 1 EuMRK garantiert wird und nur selten nachweisbar war,37 vor allem, da die Kommission verlangte, daß die Verstöße gegen die Unschuldsvermutung im Urteil bei der Beweiswürdigung des Gerichts zum Ausdruck kommen38 und andererseits genüge, daß der Richter deutlich mache, daß er sich durch ggf. diskrimierende Umstände nicht beeinflussen lasse39. Pressekampagnen seien daher grundsätzlich geeignet, die Fairneß des Prozesses zu gefährden, eine Verletzung der Unschuldsvermutung aus diesem Grund wurde bislang aber nicht bejaht.40

6. Ausgestaltung des Beweisverfahrens: Beweislastverteilung und Zweifelssatz Die Strafverfolgungsbehörden tragen als Folge der Unschuldsvermutung die Beweislast,41 was mit dem Zweifelssatz ausgedrückt wird.42 Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EuMRK bestimmt nichts über die Form des erforderlichen „gesetzlichen Nachweises der Schuld".43 Daher ist auch die guilty plea des englischen Rechts mit Art. 6 EuMRK vereinbar.44 Die Kommission unterscheidet zwischen unzulässigen Schuldvermutungen und tatsächlichen

36 E u K M R 788/60 (Österreich ./. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 784: "...Article 6 (2) is thus primarily concerned with the spirit in which the judges must carry out their task."; E u K M R 4124/69, C D 35, 132, 136; 5523/72, C D 46, 99, 106; 9037/80, D R 24, 221, 222. So auch PONCET, La protection de l'accusé, S. 83 f. Nr. 97. Exemplarisch der (seltene) Fall eines belgischen Richters, der vor Prozeßende die feststehende Schuldüberzeugung des Gerichts bekanntgab, E u K M R 1727/62, Y.B.Eur. Conv.Hum.Rts. 8 (1965), 410, 412 f. (Boeckmanns). Ebenso NEDJATI, Human Rights under the European Convention, S. 126: 37

Krit. daher FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 553 f.; IntKomm/VÒGLER, Art. 6 Rn. 407; PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten, S. 160 f. [394 f.], 38 E u K M R 788/60 (Österreich ./. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 786, 788. 39 E u K M R 9000/80, D R 2 8 , 1 2 7 , 130 (zu Art. 6 Abs. 1 E u M R K ) . 40 Siehe E u K M R 3860/68, C D 30, 72 f.; 3866/68, C D 30, 74 f. 41 E u K M R 788/60 (Österreich./. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 782; 4124/ 69, C D 3 5 , 1 3 2 , 1 3 6 . PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten, S. 159 [393]; abw. JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 113 zum englische Recht: Die Unschuldsvermutung spiegele sich in der Beweislastregel wider, sei aber nicht mit ihr gleichzusetzen — womöglich wegen der vielen Ausnahmen im englischen Recht. Ähnl. jetzt auch FAWCETT, The Application of the European Convention1, S. 179: Aus der Unschuldsvermutung lasse sich nicht entnehmen, wo die Beweislast für den Vorwurf liege, also etwa auf der Anklagevertretung. (And. noch in der ersten Aufl. S. 161.) Zur Begründung verweist er auf den inquisitorischen deutschen Strafprozeß, in dem es keine Beweislastverteilung gebe, aber das Prinzip in dubio pro reo. - Diese Stelle legt eine begriffliche Schwierigkeit mit der „Beweislast" sowie deren „Verteilung" nahe. 42 E u K M R 788/60 (Österreich v. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 782; 4124/ 69, C D 3 5 , 1 3 2 , 1 3 6 ; FAWCETT, The Application of the European Convention2, S. 179; JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 113; NEDJATI, Human Rights under the European Convention, S. 125; abl. GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Nr. 24. 43 So auch L o z z i , Favor rei e processo penale, S. 39; a.A. CHIAVARIO, La convenzione europea, S. 374 f. 44 E u K M R 5076/71, C D 40, 64. JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 97, meint, darin könne kein Verzicht auf das Recht auf ein faires Verfahren gesehen werden.

420

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

Schlußfolgerungen (Beweisvermutungen) und hält auch belastende Vermutungen des nationalen Strafrechts für zulässig, sofern sie nicht "unreasonable" und unwiderleglich sind, wobei nicht die Textgestalt, sondern der Effekt der N o r m maßgebend sei. 45 - Zulässig sei der Haftgrund der Wiederholungsgefahr daher auch deshalb, weil eine allgemeine Vermutung bestehe, daß vielfach Vorbestrafte auch künftig eine Gefahr darstellen. 46 - Die Richter können den Angeklagten nur auf der Grundlage hinreichenden gesetzlichen Beweises verurteilen, wobei die Unschuldsvermutung eine unvoreingenommene Beweiswürdigung garantieren soll. 47 Hängt die Strafbarkeit bei Ehrdelikten in einigen Rechten davon ab, ob der Täter die Wahrheit der behaupteten Tatsache beweisen kann oder nicht, so ist dies nach Ansicht der Kommission mit Art. 6 Abs. 2 E u M R K vereinbar, da es unfair wäre, dem Verletzten das Beweisrisiko aufzubürden. 4 8

7. Verletzungen von Verfahrensrecht Die Unschuldsvermutung ist nur eine Verbesonderung des in Art. 6 Abs.i E u M R K niedergelegten Rechts auf ein faires Verfahren; kommt es überhaupt nicht zu einem an sich erforderlichen Verfahren, so ist auch die Unschuldsvermutung verletzt. 49 Verwertung unrechtmäßig erlangter Beweise kann eine Verletzung der Unschuldsvermutung darstellen, 30 wenn der Richter diesen Umständen nicht Rechnung trägt.

45 Zum englischen Recht: EuKMR 5124/71, CD 42, 135 (widerlegliche Vermutung, daß jemand, der mit einer Prostituierten lebt, wissentlich von ihren Einkünften lebe). Zum niederländischen Recht: s. EuKMR 6170/73 (unveröfF.), zit. nach EuKMR 15135-15137/89, DR 62, 319, 321 und P E U K E R T , E U G R Z 1980, 247, 263 (Haftung des Kfz-Halters, sofern er nicht nachweist, daß die Benutzung des Wagens gegen seinen Willen und unhinderbar erfolgte). Zum französischen Zollgesetz: EuGHMR Serie A Nr. 141-A, S. 15 §§ 27 f. (Salabiaku) = EuGRZ 1992, 521; EuGHMR Serie A Nr. 243, S. 22 § 36 (Pham Hoang) = EuGRZ 1992, 472 = 14 Hum.Rts.L.J. 95 (1993). Zum österreichischen Recht EuKMR 15135/89, 15136/89 und 15137/89, DR 62, 319, 321. Vgl. die erklärende Auslegung Maltas v. 12.12.1966, daß Beweislastumkehrungen als mit Art. 6 Abs. 2 EuMRK vereinbar angesehen werden: "The Government of Malta declares that it interprets paragraph 2 of Article 6 of the Convention in the sense that it does not preclude any particular law from imposing upon any person charged under such law the burden of proving particular facts.", abgedruckt in: European Convention on Human Rights, Collected Texts, Dordrecht Boston Lancaster 1987, S. 79. 46 EuKMR 9167/80, DR 26, 248, 250; zust. IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 415. 47 EuKMR 788/60 (Österreich v. Italien - Pfunders), Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 6 (1963), 740, 784; 4124/ 69, C D 35, 132, 136; N E D J A T I , Human Rights under the European Convention, S. 125. S.a. C H I A V A R I O , La convenzione europea, S. 374 f. 48 EuKMR 8803/79, DR 26,171,177 ff. (Lingens & Leitgeh). Weitere Beispiele bei IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 416 f. 49 EuGHMR Serie A Nr. 35, S. 30 § 56 (Deweer); Serie A Nr. 49, S. 15 § 30 (Adolf)·, Serie A Nr. 62, S. 15 § 27 (Minellî)·, Serie A Nr. 123, S. 22 § 52 (Lutz). 50 Offenlassend EuKMR 5523/72 (Huber), C D 46, 99,106. Letztlich offenlassend P O N C E T , La protection de l'accusé, S. 89 ff. Nr. 101 m.w.Nachw.

D . I . Die Judikatur der Organe der E u M R K

421

8. Öffentliche Äußerungen von Behörden Die Kommission hat Art. 6 Abs. 2 E u M R K entnommen, daß niemand von Behörden als schuldig bezeichnet werden dürfe, bevor seine Schuld gerichtlich festgestellt sei, 51 es müsse einem Laien stets erkennbar sein, daß es sich nur um Beschuldigungen, nicht aber um festgestellte Tatsachen handele. 52 Äußerungen eines Verdachts sind hingegen zulässig, 53 eventuelle Gefahren der Beeinflussung der Richter wurden unter Art. 6 Abs. 1 E u M R K behandelt. 54 Auch gebiete die Unschuldsvermutung Zurückhaltung bei der Weitergabe von Informationen über eine Strafverfolgung an die Presse.55

9. Untersuchungshaft, Sicherungshaft Nach Ansicht der Kommission ist die Untersuchungshaft - die von der Konvention in Art. 5 Abs. ι lit. c ebenso erwähnt wie der Haftgrund der Verhütung von Straftaten vorausgesetzt wird - prinzipiell selbstverständlich zulässig. 56 Die Haftdauer darf zur Beurteilung der Angemessenheit auch ins Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe gesetzt werden. 57 Bei einer allzu großen Annäherung - etwa durch ihre Dauer - an die zu erwartende Strafe kommt allerdings ein Verstoß in Betracht. 58 Auch sieben Jahre währende Untersuchungshaft bei möglicher Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe hat die Kommission noch gebilligt. 59 Entscheidungen über die Haftfortdauer dürfen nicht auf Schuldfeststellungen beruhen. 60

51 E u K M R 7986/77, D R 13, 73, 7$ f. (Krause)·, 2343/64, C D 22, 38, 41 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 10 (1967), 176, 182; 8361/78, D R 27, 37, 43; 9077/80, D R 26, 211, 213; 13251/87, D R 68, 137, 148 ff. (Berns & Ewert)·, 15776/89, D R 64, 264, 269; ablehnend LR 24 -GOLLWITZER, Art. 6 M R K RN. 122 ff. 52

E u K M R 8361/78, D R 27, 37, 43; 9077/80, D R 26, 211, 213.

53

E u K M R 7986/77, D R 13, 73, 76 (Krause)·, 8361/78, D R 27, 37, 43; 10847/84, D R 44, 238; 15776/89, D R 64, 264, 269. 54

Krit. FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 555 f. E u K M R 2343/64, C D 22, 38, 41 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 10 (1967), 1 7 6 , 1 8 2 ; 8361/78, D R 27, 37, 42 f. And. noch E u K M R 7572/7586/7587/76, D R 14, 64, 87 f. (Ensslin, Baader & Raspe) = E u G R Z 1978, 314. 55

56 E u K M R 7981/77 vom 5.10.1977 (unveröff.), zitiert nach IntKomm/VoGLER, Art. 6 Rn. 428 Fn. 3. Ebenso FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 117; PEUKERT, E u G R Z 1980, 247, 261; PONCET, La protection de l'accusé, S. 79 Nr. 93. 57 E u K M R 2122/64, * n : E u G H M R Serie Β „Wemboff' Case, S. 9, 66 § 68 Nr. 2; a.A. die Kommissionsmitglieder BALTA (S. 68 § 70 Nr. Ι) und EUSTATHIADES (S. 85 f. § 73), nach denen die Unschuldsvermutung eine Berücksichtigung des konkret zu erwartenden Strafmaßes verbietet. Dazu CHIAVARIO, La convenzione europea, S. 371 Fn. 4. 58

E u K M R 2120/64, C D 19, 21, 35 f. (Poerschke) (keine Stellungnahme der Kommission); 2122/64 ' n : E u G H M R Serie Β „ Wemhoff" Case, S. 9, 66 § 68 Nr. 2: „Si la durée de la détention se rapprochait trop de la durée de la peine à laquelle on doit s'attendre dans le cas d'une condemnation, le principe de la présomption d'innocence ne serait pas entièrement respecté"; s.a. den dissent des Richters ZEKIA in E u G H M R Serie A, Urt. v. 27.6.1968, „ Wemhoff" Case, S. 39 f.; E u K M R 8224/78, D R 15, 211, 226 (Bonnechaux). Jedoch dürfte Art. 5 Abs. 3 vorrangig in Betracht kommen: vgl. E u K M R 9404/81 vom 6.10.1981: Solange die Dauer der Untersuchungshaft mit Art. 5 Abs. 3 E u M R K vereinbar ist, komme eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 E u M R K nicht in Frage, zit. nach FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 117 Fn. 23. 55

E u K M R 3376/67, C D 29, 31 ff. 43

60

E u K M R 9404/81 vom 6.10.1981, zit. nach FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,

Fn. 23.

(Rosenbaum). Art. 6 Rn. 117

422

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

J A C O B S folgert aus der Unschuldsvermutung eine Beschränkung der Haftmöglichkeiten generell sowie ein entsprechendes Haftregime, das den Untersuchungshäftling nicht als Strafgefangenen behandelt. 61 Die Verhängung von Präventivhaft im Anschluß an eine Verurteilung als Sicherungsmaßnahme in der Form der Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Wiederholungstäter ist von Art. 5 Abs. 1 lit. c E u M R K gedeckt und verstößt nicht gegen Art. 6 Abs. 2 E u M R K , weil diese Unterbringung weniger auf der Feststellung von Schuld als auf der Vermutung beruhe, daß Täter mit zahlreichen schwerwiegenden Vorstrafen auch künftig eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Gefährlichkeitsprognosen aber stehe die Unschuldsvermutung nicht entgegen. 62

10. Verfahrensbeendigung ohne Sachurteil Ein Recht auf endgültige Verdachtsklärung, auf Freispruch oder Verurteilung, gibt es nach Ansicht der Kommission nicht. 63 Auch bei einer Einstellung können aber Rechte aus Art. 6 Abs. 2 E u M R K berührt werden. 64 Eine Schuldfeststellung darf aber mit solchen Entscheidungen dann auch nicht verbunden werden. 65 In der zwangsweisen Anerkennung einer Strafzahlung wurde zwar ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. ι E u M R K , nicht aber gegen die Unschuldsvermutung gesehen, da es im Fall noch nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen war. 66

11. Verlesung von Vorstrafen Die Verlesung eines Vorstrafenregisters sowie die Berücksichtigung von Vorstrafen in der Strafzumessung beeinträchtigt hingegen die Unschuldsvermutung nicht, da sie nur für die Schuldfeststellung, nicht für die Strafzumessung gilt. 67

61 62 63

JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. III. EuKMR 9167/80, DR 26, 248, 250 zu Österreich. E u K M R 4 5 5 0 / 7 0 ( S o l t i k o w ) , C D 3 8 , 1 2 3 , 1 2 6 f. (zu A r t . 6 A b s . 1 E u M R K ) ; 8 2 3 3 / 7 8 , D R 1 7 , 1 2 2 , 133

§ 67 (zu Art. 6 Abs. 1 EuMRK); 9531/81, DR 31, 213, 213 f.; 6903/75 (Deweer) in: EuGHMR Serie Β Nr. 33, S. 10 ff. 28 § 58 = EuGRZ 1979, 240, 241; s.a. EuGHMR Serie A Nr. 35, S. 30 § 56 (Deweer). Krit. JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 95 ff., 97, in. 64 EuKMR 8269/78, DR 17,171,174; auch in: EuGHMR Serie Β Nr. 43 S. 10 ff. = EuGRZ 1979, 623 (Adolf)·, vgl. a. EuGHMR Serie A Nr. 49, S. 17 ff. §§ 35 ff. (Adolf) = EuGRZ 1982, 297. 65 EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 3, 25 f. §§ 59 ff. (Lutz) = EuGRZ 1987, 399, 403; Serie A Nr. 123, S. 40, 54 § 37 (Englert)= EuGRZ 1987,405,409 = NJW1988, 3257; Serie A Nr. 123, S. 64, 79 § 37 (Nölkenbockhojf) = EuGRZ 1987, 410, 413; EuKMR 6281/73, DR 5> 13.14; Vergleich in: 8, 30, 34 (Neubecker) = EuGRZ 1977, 204; 6650/74, DR 5, 58, 62 f.; Vergleich in: DR 17, 5 ff. (Liebig) = EuGRZ 1977, 492,526; 3267/68 = EuGRZ 1979, 623. Zögernd noch 8269/79, EuKMR 8269/78, DR 17, 171,174 (Adolf). 66 EuGHMR Serie A Nr. 35 S. 24 ff. (Deweer), krit. FROWEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 558 f. 67 EuGHMR Serie A Nr. 58, S. 20 § 40 (Albert et Le Compte) = EuGRZ 1983,190,196; EuKMR 2518/ 65, C D 18, 44, 45 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 8 (1965), 370; 2742/66, C D 19, 95, 98 = Y.B.Eur.Conv.Hum. R t s . 9 ( 1 9 6 6 ) , 550; 2 6 7 6 / 6 5 , C D 23, 31, 34; 5 6 2 0 / 7 2 , C D 4 6 , 1 1 0 , i n ; 7 0 5 8 / 7 5 , D R 6 , 1 2 9 , 1 2 9 f.

D . I . Die Judikatur der Organe der E u M R K

4^3

12. Verwertung nicht rechtskräftig festgestellter Taten bei der Strafzumessung und beim Aussetzungswiderruf Eine Berücksichtigung noch nicht rechtskräftig festgestellter Taten bei der Strafzumessung haben die Kommission und der E u G H M R für zulässig erachtet,68 denn die Unschuldsvermutung beziehe sich nur auf die Feststellung der Schuld, nicht auf Art und Maß der Strafe. Folglich dürfen andere noch nicht abgeurteilte Taten nicht auf die Schuldfeststellung bezogen werden. 69 Für das Verfahren des Widerrufs der Strafaussetzung auf Bewährung gilt die Unschuldsvermutung hingegen. Im Fall stellte die Kommission jüngst maßgeblich auf das Vorliegen eines Geständnisses des Betroffenen ab und verneinte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EuMRK. 7 0 Die Einleitung eines neuen Strafverfahrens darf als Grund für den Widerruf der Strafaussetzung auf Bewährung herangezogen werden, wenn für die neuen Taten hinreichender Tatverdacht besteht, allerdings sollten Formulierungen vermieden werden, die die neue Tat als erwiesen hinstellen.71

13. Kosten- und Auslagenentscheidungen bei Einstellung und Freispruch Die Kommission unterscheidet zwischen Kosten und notwendigen Auslagen, auf letztere beziehe sich die Unschuldsvermutung nicht. Art. 6 Abs. 2 E u M R K verpflichte nicht, einen Freigesprochenen von Kosten und Auslagen freizustellen.72 Unzulässig seien aber übermäßige und willkürliche 73 Kostenbelastungen sowie auf Schuldfeststellungen beruhende Begründungen, welche vom Tenor untrennbar sind. Zwei Beschwerden gegen die Bundesrepublik Deutschland und eine gegen die Schweiz, die sich gegen Verdachtsfeststellungen in Kostenentscheidungen richteten, wurden zwar für zulässig erklärt, aber durch Vergleich beigelegt.74 Im Fall Minelli gegen die Schweiz waren dem Angeklagten die Kosten des Privatklägers trotz Freispruchs wegen Verjährung der vorgeworfenen Tat zu zwei Dritteln auferlegt worden, weil er ohne Verjährungseintritt sehr wahrscheinlich verurteilt worden wäre. Der

68 E u G H M R Serie A Nr. 22, S. 37 f. § 90 {Engel) = E u G R Z 1976, 221, 235; E u K M R 5620/72, C D 46, 110, i n ; 7058/75, D R 6, 129, 129 f. Dazu VOGLER, Festschrift Kleinknecht, S. 429, 437 f.; IntKomm/VoGL E R , Art. 6 Rn. 420 ff. 69 E u K M R 5620/72, C D 4 6 , 1 1 0 , m . 70 E u K M R 15871/89, STV 1992, 282 f. 71 E u K M R 11226/85 v o m 6.5.1985, zit. nach F R O W E I N / P E U K E R T , EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 118. Unentschieden in der Beschwerde 12748/87 (Grabemann), die durch Vergleich beendet wurde, D R 63, 137 ff. = E u G R Z 1992, 451 ff.

72

EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 3, 24 § 59 (Lutz); S. 40, 54 § 36 (Englert); 64, 79 § 36 (Nölkenbockhoff)·,

E u K M R 9531/81, D R 31, 213, 213 f.; 10107/82, D R 48, 35, 42; 9037/80, D R 24, 221, 223; abl. IntKomm/VoGL E R , Art. 6 Rn. 451. 73 E u K M R 7640/76, D R 1 2 , 1 0 3 , 1 0 6 f.; Vergleich in: D R 16, 56 ff. (Geerk). 74 E u K M R 6281/73, D R 5 , 1 3 , 1 4 ; Vergleich in: 8, 30, 34 (Neubecker)·, 6650/74, D R 5, 58, 62 f.; Vergleich in: 17, 5 ff. (Liebig)·, dazu ausf. W E S T E R D I E K , E U G R Z 1987, 393. E u K M R 7640/76, D R 1 2 , 1 0 3 ff.; 16, 56 ff. (Geerk)·, dazu auch W E S T E R D I E K , E U G R Z 1987, 393. Für Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 2 E u M R K F R O WEIN, Festschrift Hans Huber, S. 553, 561.

424

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

E u G H M R sah darin eine Verletzung der Unschuldsvermutung. 7 5 A u c h danach wurde in zwei schweizerischen Fällen jedoch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 E u M R K durch die Entscheidungsgründe konstatiert. 7 6 U b e r die schweizerische Rechtstradition, d e m A n g e klagten Verfahrenskosten trotz Freispruchs in sinngemäßer A n w e n d u n g zivilrechtlicher H a f t u n g s g r ü n d e aufzuerlegen, war damit nicht entschieden. Eine Entscheidung der K o m mission hat die Kosteniiberbiirdung wegen „leichtfertigen" Verursachens der Strafklage als mit der Unschuldsvermutung vereinbar bezeichnet. 7 7 In den Entscheidungen Lutz, Englert und Nölkenbockhoff7i

stellt der Gerichtshof darauf

ab, ob die auslegungsfähigen und -bedürftigen G r ü n d e des nationalen Gerichts die Absicht erkennen lassen, (zulässigerweise) eine Verdachtslage zu umschreiben oder (unzulässigerweise) Schuld- oder Schuldwahrscheinlichkeitsaussagen zu treffen. 7 9 I m Gegensatz zum Mi»f/ß-Urteil hat der E u G H M R n u n m e h r auch noch „zweideutige und wenig zufriedenstellende" Formulierungen als zulässige Äußerungen einer Verdachtslage interpretiert, 8 0 obw o h l sich die jeweils zu beurteilenden Formulierungen k a u m unterscheiden 8 1 . Zugleich sind damit stillschweigend die Kriterien aus Adolf und Minelli

überholt worden, die eine

Verletzung der Unschuldsvermutung bereits dann bejahten, w e n n die A u s f ü h r u n g e n eines Gerichts es nahelegten oder der Auslegung fähig waren, daß das Gericht den Betroffenen f ü r schuldig hielt. 82 N e u tritt hier die Überlegung hinzu, daß es sich bei den in Frage ste-

75 EuGHMR Serie A Nr. 62, S. 16 ff. §§ 31 ff. {Minelli) = EuGRZ 1983, 475 ff.; dazu W E S T E R D I E K , EuGRZ 1987, 393, 394; krit. K Ü H L , NJW1984,1264 ff. 76 EuKMR 10107/82, DR 38, 90, 96; 48, 35, 42 ff, s.a. EuGRZ 1985, 626. 77 EuKMR 9688/82, DR 35, 98, IOO zur Graubündner StPO. 78 EuGHMR Serie A Nr. 123, §§ 60; 37; 37 (Lutz; Englert; Nölkenbockhoff) = EuGRZ 1987, 399 ff. Kurzfassung des EnglertAJttàXs auch in NJW 1988, 3257 f. Ebenso EuKMR 11735/85, DR 54,133,137 f. (Zedan). 79 EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 3, 25 § 62 (Lutz), wortgleich mit S. 54 § 39 (Englert) und S. 80 § 39 (Nölkenbockhoff): „Les juridictions allemandes entendaient ainsi indiquer... . Même si les termes employés par elles peuvent paraître ambigus et peu satisfaisants .../The German courts thereby meant to indicate, Even if the terms used may appear ambiguous and unsatisfactory...". 80 EuGHMR Serie A Nr. 123, S. 3, 24 § 62 (Lutz)·, 40, 55 § 39 (Englert)·, 64, 80 f. § 39 (Nölkenbockhoff). Dazu W E S T E R D I E K , EuGRZ 1987, 393, 396 f. 81 So die dissenting opinions des Richters C R E M O N A , EuGHMR Serie A Nr. 123 S. 29; 58; 84 f. Zudem komme es nicht auf die Absicht einer Schuldfeststellung an, sondern auf die tatsächlichen Wirkungen auf die Öffentlichkeit. Die Kommission hatte in allen drei Fällen eine Verletzung der Unschuldsvermutung durch die Äußerung der Gerichte angenommen unter Berufung auf die Entscheidungen Adolf und Minelli, s. EuKMR in EuGHMR Serie A, S. 31, 35 f.; (Lutz)·, 60, 62 f. (Englert)·, 86, 90 f. (Nölkenbockhoff). 82 Vgl. EuGHMR Serie A Nr. 49, S. 18 § 39 (Adolf)·. les motifs de la décision ... pouvaient fort bien s'interpréter comme déclarant M. Adolf coupable d'une infraction.../...the reasoning in the decision ... was in terms that, in the opinion of the Court, were well capable of being understood as meaning that Mr. Adolf was guilty of a criminal offence..."; Serie A Nr. 62, S. 18 § 37 (Minelli)·. „Aux yeux de la Cour, la présomption d'innocence se trouve méconnue si, sans établissement légal préalable de la culpabilité d'un prévenu ..., une décision judiciaire le concernant reflète le sentiment qu'il est coupable. Il peut en aller ainsi même en l'absence de constat formel; il suffit d'une motivation donnant à penser que le juge considère l'intéressé comme coupable./In the Courts judgment, the presumption of innocence will be violated if, without the accused's having previously been proved guilty, ..., a judicial decision concerning him reflects an opinion that he is guilty. This may be so even in the absence of any formal finding; it suffices that there is some reasoning suggesting that the court regards the accused as guilty."

D .1. Die Judikatur der Organe der E u M R K

425

henden Kostennachteilen nicht um strafgleiche Maßnahmen handele, da den Betroffenen nur die eigenen Auslagen nicht ersetzt worden waren, während es sich im Minelli-Fall um die Überbiirdung der Kosten des Privatklägers gehandelt habe. 83

14. Entschädigung für Untersuchungshaft und andere Verfolgungsmaßnahmen Die Konvention fordert keine Entschädigung für unschuldig erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen, 84 jedoch kann deren Versagung, wenn sie trotz fehlender Verurteilung mit Schuldfeststellungen begründet wird, gegen Art. 6 Abs. 2 E u M R K verstoßen 85 .

15. Sonstiges Medizinische Untersuchungen des Angeklagten sind nach Auffassung der Kommission unbedenklich, 86 ebenso die Unterbringung eines Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Begutachtung (§ 81 a StPO), 8 7 Sicherstellung von Gegenständen für spätere Einziehung oder Verfallserklärung (§ n i b StPO), 8 8 Beschlagnahme persönlicher Habe zur Sicherung der späteren Verfahrenskosten 89 . Belastende Äußerungen von Zeugen während der Verhandlung schließt die Unschuldsvermutung nicht aus. 90 Der Umstand, daß einer von mehreren Angeklagten in einem Geschworenenprozeß im Gerichtssaal aus Sicherheitsgründen in einem „Glaskäfig" erscheinen muß, wobei es sich im Fall allerdings um eine permanente Installation für wegen gefährlicher Taten Angeklagter handelte, verletzt die Unschuldsvermutung nicht. 91

83

E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 3, 26 § 63 (Lutz)·, S. 40, 55 f. § 40 (Englert)·, S. 64, 81 § 40 (Nölkenbockhoff)·, dagegen die dissents des Richters CREMONA, S. 30, 59, 85: Die Unschuldsvermutung könne unabhängig vom Vorliegen einer strafgleichen Maßnahme verletzt werden. Krit. auch WESTERDIEK, E U G R Z 1987. 393. 398· 84 E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 40, 54 § 36 (Englert)·, 64, 79 § 36 (Nölkenbockhoff); E u K M R 9108/80, D R 24, 232, 233 (Eckle). 85 E u G H M R Serie A Nr. 123, S. 40, 54 f. § 37 (Englert)·, S. 64, 79 § 37 (Nölkenbockhoff)·, E u K M R 9108/ 80, D R 24, 232, 233 f. (Eckle)·, 6650/74, D R 5, 58, 62 f.; Vergleich in: 17, 5 ff. (Liebig); 6281/73, D R 5,13; s.a. 8, 30, 34 (Neubecker). 86 E u K M R 986/61, C D 3, 23, 24 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 5 (1962), 192, 198. 87 E u K M R 986/61, C D 3, 23, 24 = Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 5 (1962), 192,198. 88 E u K M R 5263/71, C D 42, 97, 98. 89 E u K M R 4338/69, C D 36, 79, 82; krit. PONCET, La protection de l'accusé, S. 85 f. Nr. 99 Fn. 263. ,0 E u K M R 913/60, Y.B.Eur.Conv.Hum.Rts. 4 (1961), 582, 586 ff. 51 E u K M R 11837/85, D R 6 9 , 1 0 4 , 1 2 8 ff. (Auguste) = E u G R Z 1992,173 ff.

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

426

II. Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen ι.

T r a v a u x préparatoires

Auch der I P B P R hat seinen Ausgangspunkt in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948; in den folgenden Jahren arbeitete die Menschenrechtskommission der U N jedoch detaillierte Fassungen aus. 1 Der Hinweis auf die Notwendigkeit eines mit Individualgarantien ausgestatteten Verfahrens aus Art Ii Abs. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verlor sich hier ebenso wie bei Art 6 Abs. 2 E u M R K im Z u g e der ausdrücklichen Aufnahme einzelner Prozeßgarantien in den Vertragstext. 2 Entgegen dem Entwurf 1954, 3 der die Unschuldsvermutung gemeinsam mit anderen Rechten des Angeklagten im Strafprozeß regeln wollte, hat der zuständige Ausschuß der Generalversammlung der U N O aufgrund eines britischen Antrags die Bedeutung der Unschuldsvermutung hervorheben wollen, indem sie ihr einen eigenen Absatz spendierte. 4 Art. 14 Abs. 2 I P B P R regelt: 2. Everyone charged with a criminal offence shall have the right to be presumed innocent until proved guilty according to law. 2. Toute personne accusée d'une infraction pénale est présumée innocente jusqu'à ce que sa culpabilité ait été légalement établie.5 Ein philippinischer Vorschlag, die Worte "beyond reasonable doubt" anzuhängen, wurde abgelehnt, weil diese Formel außerhalb der C o m m o n Law-Welt nicht verbreitet sei. 6

2.

U n m i t t e l b a r e A n w e n d b a r k e i t u n d self-executing

character des I P B P R

Angesichts der Formulierung von Art. 2 Abs. 2 I P B P R , der die Vertragsstaaten verpflichtet, die notwendigen Schritte zu ergeifen, um den im Pakt genannten Rechten Wirkung zu verleihen, in Verbindung mit der in Art. 40 vorgesehenen Berichtspflicht der Staaten über die dabei erzielten Fortschritte und angetroffenen Schwierigkeiten bestand Unklarheit, ob der Pakt nicht nur eine progressive Implementierungspflicht ausdrückt. Inzwischen hat sich

1

Dazu N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 1 m.w.Nachw. Vgl. UN Doc. E/1371, Art. 13 Satz 1; E/CN.4/SR 110, S. 50, die verschiedenen Etappen der Vorarbeiten weist B O S S U Y T , Guide to the "Travauxpréparatoires", S. 291 ff. nach. Die Formulierung der englischen Fassung "has the right" wurde später in "shall have..." geändert, UN Doc. E/1681, Art. 10 § 2, w. Nachw. bei B O S S U Y T , ibid., S. 293. 3 Art. 14 Abs. 2 Satz 1 MRK-Entwurf 1954 in UN Doc. E/2573 (= E/CN.4/795), S. 67. Zur Entstehungsgeschichte der Norm s. B O S S U Y T , Guide to the "Travauxpréparatoires", S. 291 ff.; N O W A K , CCPRKommentar, Art. 14 Rn. 1 f. m.w.Nachw. 4 UN Doc. A/4299, § 56 S. 16. S.a. UN Doc. AyC.3ZL.792; A7C.3/SR.961, § 2; A/C.3/SR.967, § 29. 5 Deutsche Ubersetzung nach BGBl. 1973 II, 1533: „2. Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat Anspruch darauf, bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten." 6 UN Doc. E./CN. 4/365, Abstimmung in E/CN.4/SR. 156, §§ 26 ff., 48, S. 6 ff. 2

D . I I . U N - P a k t über bürgerliche und politische Rechte

427

allerdings die Meinung durchgesetzt, daß die Bestimmungen des Paktes die Vertragsstaaten unmittelbar mit der Ratifikation verpflichten.7 Es besteht hingegen keine Pflicht zur Inkorporierung der Bestimmungen des Paktes in innerstaatliches Recht. Ob sich die Bürger eines Vertragsstaates auf diese Rechte des Paktes vor heimischen Gerichten berufen können, hängt von der jeweiligen nationalen Rechtsordnung ab.8 Hat ein Vertragsstaat den Pakt in innerstaatliches Recht überführt, so wird vielfach angenommen, daß einige seiner Bestimmungen self-executing werden, also direkt von einzelnen Bürgern reklamiert werden können.9

3.

Anwendung des Art. 14 Abs. 2 IPBPR

a) Auslegung in der Literatur Zur Auslegung des Art. 14 IPBPR haben die Kommentatoren häufig die Straßburger Judikatur wegen ihrer zahlreichen Präzedenzien zur EuMRK als Orientierungslinie genommen.10 Die Unschuldsvermutung wird als Unterfall des allgemeineren Rechts auf ein faires Verfahren gesehen." Ahnlich wie zur EuMRK wird davon ausgegangen, daß die Unschuldsvermutung nicht nur, wie der Text nahelegen könnte, dem Angeklagten, sondern schon dem Beschuldigten vor Erhebung einer Anklage zugutekommt12 und bis zur Rechtskraft13 gilt. Vor dem Prozeß habe sie vor allem Bedeutung für die Beschränkung der Untersuchungshaft und für deren Ausgestaltung. Untersuchungshäftlinge dürften nicht als Strafgefangene behandelt werden und seien von diesen zu trennen wie Art. 10 Abs. 2 lit. a) IPBPR auch explizit festlegt.14 Ihre größte Bedeutung habe die Unschuldsvermutung im Strafverfahren selbst. Dort bewirke sie die Beweislastverteilung zu Lasten der Anklage und den Freispruch im Zweifel. 15 Die Ausgestaltung des Schuldbeweises bleibt dem nationalen Recht überlassen,16 die Un-

7 Dazu NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 2 Rn. 48 ff., 53 ff, 55 ra.w.Nachw. in Fuß. 150; Art. 40 Rn. 15 ff. m.w.Nachw.; M C G O L D R I C K , The Human Rights Committee, S. 269 § 6.1 m. zahlr. Nachw. in A n m . I. Siehe nur TOMUSCHAT, V N 1 9 7 8 , 1 , 3 f.; DERS., I Hum.Rts.L.J. 249, 256 f. m.w.Nachw. in Fn. 17 (1980). 8 NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 2 Rn. 50 m.w.Nachw.; MCGOLDRICK, The Human Rights Committee, S. 271 § 6.5. 9 M C G O L D R I C K , The Human Rights Committee, S. 271 § 6.5 m. w. Nachw. in A n m . 16; s. nur TOMUSCHAT, V N 1978, ι, 4 mit Fn. 39 für die Bundesrepublik; siehe oben S. 46 Fußn. 3. 10

N O O R M U H A M M A D , Due Process of Law, S . 1 3 8 , 1 3 9 F n . 6 (auf S . 434), 1 4 9 ff.; VAN D I J K , The Right

of the Accused to a Fair Trial, S. 1 f., 40 ff.; s.a. NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 14 R n . 3 6. "

VAN D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 40. NOOR MUHAMMAD, Due Process of Law, S. 145,150; VAN D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 41 f.; NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 34. 13 NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 34; MUNGER, Bürgerliche und politische Rechte im Weltpakt, S . 61. 12

14

N O O R M U H A M M A D , Due Process of Law, S. 150; s.a. VAN D I J K , The Right of the Accused to a Fair

Trial, S. 41 f. 15

N O O R M U H A M M A D , Due Process of Law, S . 1 5 0 ; N O W A K , CCPR-Kommentar,

A r t . 1 4 R n . 35; VAN

D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 40. 16 NOWAK, CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 35; VAN D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 40.

428

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

schuldsvermutung gelte sowohl für inquisitorische als auch kontradiktorische Prozesse. 17 Wiewohl der philippinische Antrag auf Einfügung der Worte "beyond reasonable doubt" abgelehnt wurde, wird dieser allgemeine Grundsatz herangezogen. 18 Eine Verurteilung auf der Grundlage eines Schuldeingeständnisses allein wird für möglich gehalten, sofern das Geständnis freiwillig erfolgte. 1 9 Auch müsse der Richter das Verfahren ohne vorgefaßte Meinung über den Angeklagten führen und dürfe nur aufgrund sicheren Beweises verurteilen, wobei es dem Angeklagten gestattet sein müsse, Entlastungsbeweise vorzutragen. 20 Die Unschuldsvermutung soll aber nicht nur für den Strafrichter, sondern für alle staatlichen Behörden dergestalt gelten, daß das Ergebnis eines Strafverfahrens nicht durch Vorurteile beeinflußt werden darf. Ahnlich wie bei Art. 6 Abs. 2 E u M R K wird im Falle einer ausgeprägten Medienjustiz auch eine horizontale Geltung der Unschuldsvermutung angenommen. 2 1 b)

Art. 14 Abs. 2 IPBPR

in der Praxis der Menschenrechtskommission

der Vereinten

Nationen

Die Menschenrechtskommission der U N hat sich vergleichsweise selten in ihren Stellungnahmen zu den Staatenberichten nach Art. 40 I P B P R und in Individualbeschwerden unter Art 5 Abs. 4 des Fakultativprotokolls 22 geäußert. In ihren Allgemeinen Bemerkungen nach Art. 40 Abs. 4 I P B P R hat die Kommission ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie zuwenig oder zu diffuse oder unbefriedigende Informationen über die Implementierung der Unschuldsvermutung in den Vertragsstaaten erhalte. 23 Bislang hat der Ausschuß nur in zwei Beschwerden gegen Uruguay eine Verletzung der Unschuldsvermutung angenommen. 2 4 In

Due Process of Law, S . 150. Due Process ofLaw, S . 150; N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 14 R N . 35. 19 V A N D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S . 41. 20 N O O R M U H A M M A D , Due Process of Law, S. 150; N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 35; V A N D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S . 40. 21 N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 36; V A N D I J K , The Right ofthe Accused to a Fair Trial, S . 38. 22 Zu diesem Beschwerdeverfahren s. M C G O L D R I C K , The Human Rights Committee, S . 120 ff.; N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 5 F P Rn. 1 FF.; T O M U S C H A T , I Hum.Rts.L.J. 249 ff. (1980); V A N D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 6 f. Die Stellungnahmen des Human Rights Committee werden veröffentlicht als Anhang zu den Jahresberichten an die Vollversammlung (UN Doc. A/.../40), in einer eigenen Reihe: ICCPR, H U M A N R I G H T S C O M M I T T E E , Selected Decisions under the Optional Protocol, vol. I (2nd to 16th sessions) New York 1985, vol. II (17th to 32nd sessions) New York 1990, in den Jahrbüchern des Human Rights Committee sowie in einigen Periodika wie dem Human Rights Law Journal. 23 General Comments, U N Doc. CCPR/C/21 Rev. 1 , S. 13 § 7, abgedruckt auch in N O W A K , CCPRKommentar, S. 887 f. 24 In Communication 5/1977 (No. R . 1/5), UN Doc. A/34/40, S. 124 ff., 129 = H U M A N R I G H T S C O M M I T T E E , Selected Decisions under the Optional Protocol, vol. I (New York 1985), 40 ff. = Y.B.Hum.Rts. Comm. 1979-80 II, S. 526 ff., 528 = 1 Hum.Rts.L.J. 209 ff., 215 (1980), und Communication 7/1977 (No. R. 2/8), UN Doc. A/35/40, S. in ff., 118 = ι Hum.Rts.L.J. 221, 225 (1980). In Communication 203/1986, UN Doc. A/44/40, S. 200, 206 f. §§ 2(c), 3, fanden die Sondervoten der Mitglieder C o o R A Y , D I M I T R I J E V I C und L A L L A H eine Verletzung der Unschuldsvermutung, zit. nach N O W A K , CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 37 Fn. 110. In Communication No. R. 3/16, 4 Hum.Rts. L.J. 185, 187 § 16 (1983), wurde nach Feststellung einer Verletzung von Art. 14 Abs. 3 IPBPR die Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung nicht weiter geprüft. 17

NOOR MUHAMMAD,

18

NOOR MUHAMMAD,

D.II. UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte

429

beiden Fällen handelte es sich um massive Verletzungen zahlreicher Rechte durch Verurteilungen und Strafvollstreckung ohne adäquaten Prozeß. Aus der Verletzung von Art. 14 Abs. ι und 3 I P B P R wurde ohne weitere Begründung auch eine Verletzung der Unschuldsvermutung abgeleitet. Spätere Entscheidungen, die Verletzungen von Art. 14 Abs. 1 und 3 I P B P R konstatieren, erwähnen den Abs. 2 hingegen nicht mehr. 25 In einem zivilrechtlichen Kontext hat die Kommission die Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 2 I P B P R verneint. 26 Bei der Beurteilung der Staatenberichte nach Art. 40 I P B P R hat die Kommission die Unschuldsvermutung als umfassenderes Prinzip und nicht nur als bloße Beweislastregel angesehen. 27 Aus ihr folge ein Verbot für alle staatlichen Stellen, den Ausgang eines Strafverfahrens vorwegzunehmen. 2 8 Dabei wurde sie als absolute N o r m bezeichnet, da Art. 14 Abs. 2 I P B P R keine Beschränkung zulasse. 29 Werden Beschuldigte in ein Arbeitslager verbracht und zu korrektiver Zwangsarbeit angehalten, so liegt darin eine Verletzung von Art. 14 Abs. 2 I P B P R . 3 0 Eine Verletzung wurde auch erwogen beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr, da diese G e f a h r kaum hinreichend gewiß zu bestimmen sei. 31 Die Vorschrift des Art. 10 Abs. 2a) I P B P R , die eine Trennung von Straf- und Untersuchungshäftlingen anordnet, wurde als Ausdruck der Unschuldsvermutung bezeichnet. 32 Zentral ist ihre Bedeutung als Beweislastregel und Zweifelssatz. 33 Verurteilt werden könne nur nach Schuldbeweis "beyond reasonable doubt". 3 4 Die Notwendigkeit des Beweises zur Widerlegung der Unschuldsvermutung wurde hervorgehoben, als in einem Staatenbericht formuliert wurde, der Angeklagte gelte als nicht schuldig, bis er für schuldig „erklärt" ("pronounced") werde. 3 5 Eine generelle widerlegbare Vorsatzvermutung wurde als klarer Widerspruch zur Unschuldsvermutung gesehen. 36 Aber auch in vagen und unbestimmten Tatbestandsformulierungen solcher Delikte wie der Bildung subversiver Vereinigungen könnte ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liegen. 37 Kritisch betrachtet wurde die Verwendung von Geständnissen, insbesondere ob vor der Polizei abgelegte G e -

25 Communication i/6, UN Doc. A/35/40, S. 127; vgl.a. Communication 349/1986, 13 Hum.Rts. L.J. 349. 351 (1992)· 26

27

C o m m u n i c a t i o n 2 0 7 / 1 9 8 6 , U N D o c . A / 4 4 / 4 0 , S. 2 1 0 , 2 2 0 § 9.5.

UN Doc. CCPR/C/SR. 205, S. 9 § 30 (OPSAHL); zust. MCGOLDRICK, The Human Rights Com-

mittee, S . 4 0 5 § 10.IL. 28

Art.

14

29

30

General Comments, UN Doc. CCPR/C/21 Rev. 1, S. 13 § 7; zust. NOWAK, CCPR-Kommentar, Rn. 36. U N D o c . C C P R / C / S R . 4 7 5 , S. 6 § 23 (TOMUSCHAT).

UN Doc. CCPR/C/SR. 198, S. 2 § 5 QAN6A). 31 UN Doc. CCPR/C/SR. 413, S. 9 § 29 (TOMUSCHAT) ZU Österreich; s.a. UN Doc. A/39/40, § 334 zu Gambia. 32 General Comments 9(16), UN Doc. A/37/40, S. 97 § 8 = UN Doc. CCPR/C/21 Rev. i, zu Art. 10, S. 9. 33 Welche sie natürlich auch enthält, General Comments, UN Doc. CCPR/C/21 Rev. 1, S. 13 § 7. 34 General Comments, UN Doc. CCPR/C/21 Rev. 1, S. 13 § 7. 35

U N D o c . C C P R / C / S R . 65, S . 5 § 26 ( O P S A H L ) .

36

U N D o c . C C P R / C / S R . 386, S . 5 § 18 (PRADO V A L L E J O ) ; s.a. S R . 4 0 2 , S . 4 § 21 ( P R A D O V A L L E J O ) ,

S. 8 § 4 6 ( H A N G A ) ; s.a. S R . 4 0 7 , S . 13 § 52; S R . 4 7 3 , S. 6 § 23 (TOMUSCHAT) zur V e r f a s s u n g v o n Sri L a n k a ,

die typische Common Law-Regeln über die Beweislast enthält, und die Antwort in SR. 477, S. 10 § 44. 37

U N D o c . C C P R / C / S R . 357, S . 3 § 1 2 (TOMUSCHAT).

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

43°

ständnisse vom Gericht einfach übernommen werden.38 Einmal wurde gefragt, ob der Unschuldsvermutung praktische Wirkung verliehen worden war durch Beschränkung der Medienberichterstattung.39 Als mögliche weitere Anwendungsfälle der Unschuldsvermutung wurden erwogen, ob ein freigesprochener Angeklagter die Verfahrenskosten tragen müsse - oder ob nicht der Staat alle Kosten inklusive der Auslagen des Angeklagten zu übernehmen habe40 —; ob ein Staatsanwalt sich öffentlich über die Schuld einer Person äußern könne, obschon er kein Verfahren einleite; ob ein Angeklagter eine Buße akzeptieren kann, um einen Prozeß zu vermeiden und ob andere Behörden als das Gericht die Unschuldsvermutung zu respektieren haben.41

E. Religiöse Rechte Religiöse Rechte sind immer wieder als wahrer Ursprung der Unschuldsvermutung benannt worden,1 ebenso sind, wie die historische Einführung zu Anfang zeigte, Rückgründungen auf religiöse Konzepte versucht worden. Eine entwicklungsgeschichtliche Abhängigkeit des Schutzes des Beschuldigten2 von religiösen Maximen soll in diesem Kapitel nicht untersucht oder angedeutet werden. Hier wird allein der Frage nachgegangen, welche Deutungen einer Unschuldsvermutung, so sie vorhanden ist, in diesen Rechten gegeben werden.

I. Kanonisches Recht In der historischen Einführung wurde bereits gezeigt, daß eine Bonitäts- und daraus folgende Unschuldsvermutung im kanonischen Recht schon früh als Ableitung einer Vermutung wider die Heilsvergessenheit oder als Restbestand des ursprünglichen status innocentiae anerkannt war und gerade durch Kirchenrechtler wie M E N O C H I U S ihre eingehendste Behandlung erfahren hatte.3 Sie fügt sich ein in die Grundsätze des kirchlichen Strafrechts, welches sich grundsätzlich zum Schuldgedanken,4 der von dort aus in das weltliche Recht Eingang

38

39

U N

D o c . C C P R / C / S R . 4 7 5 , S . Π § 51 ( T O M U S C H A T ) ; A / 3 9 / 4 0 § 1 5 1 .

U N Doc. A/41/40, § 391 (zu Ungarn). 40 U N Doc. CCPR/C/SR. 319, S. 1 1 ( H A N G A ) , zit. nach V A N D I J K , The Right of the Accused to a Fair Trial, S. 42 Fn. 225. 41 U N Doc. C C P R / C / S R . 205, S . 9 § 30 ( O P S A H L ) , C C P R / C / S R . 250, S . 3 § 13 ( O P S A H L ) , jeweils offenlassend. ' Vgl. E S S A I D , La présomption d'innocence, Nr. 135 S . 91 Fn. 249; s.a. B E R M A N , Law and Revolution, S. 610 Note 35. 2 P E R I T C H , Revue pénitentiaire et de Droit pénal 50 (1926), né, 116 f. Fn. 1 sieht die Bevorzugung des Schwachen als Folge der Christianisierung; ähnl. D E D O M I N I C I S , Arch.pen. X V I I I (1962), 411 ff, dazu oben S. 13 Fußn. 10. 3 Siehe oben S. 14 ff. 4 So schon reg. iur. 23 in VI o : „sine culpa, nisi subsit causa, non est aliquis puniendus."

E. Religiöse Rechte

431

gefunden haben soll,5 und zur Geltung des Prinzips in dubio pro reo6 bekennt. Aufnahme in die beiden Codices Iuris Canonici von 1917 und 1983 hat sie allerdings nicht gefunden. Anwendung kann die Unschuldsvermutung nur auf Spruchstrafen [poenae ferendae sententiae) finden, da bei Tatstrafen (poenae latae sententiae) die Strafe sofort mit Begehung der Tat eintritt (can. 1314 C I C 1983).7 Die Kanonistik blieb bis in dieses Jahrhundert der Legalbeweis- und Vermutungstheorie verhaftet.8 Folglich galt die Bonitäts- und Unschuldsvermutung wie bei M E N O C H I U S als Beweis oder Beweisersatz, der sich auf Wahrscheinlichkeit gründet. Als Rechtsvermutung scheint die Bonitätsvermutung daher stets nur eine sehr allgemeine und folglich schwache gewesen zu sein.9 Die den Vermutungen im kanonischen Schrifttum häufig zugeschriebene beweisgleiche oder beweisersetzende Wirkung 10 bringen nach M E I L E gesetzliche Generalvermutungen wie quivispraesumitur bonus nicht hervor und werden durch ernstliche Zweifel überwunden. 11 Dem entspricht die von L E G A vorgenommene Einordnung der Bonitätsvermutung unter die naturrechtlichen Vermutungen, die er allerdings nur mit der Wirkung einer praesumptio hominis ausstattet.12 Ihre praktische rechtliche Bedeutung ist daher zweifelhaft. Im neueren Schrifttum wird sie, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit belastenden Vermutungen erörtert. So kannte der C I C 1917 in can. 2200, § 2, eine Vorsatzvermutung,13 Posita externa legis violatione, dolus in foro externo praesumitur, donee contrarium probetur.

C I C 1983 kennt nur noch eine Vermutung der Zurechnungsfähigkeit in can. 1321, § 3: Posita externa violatione, imputabilitas praesumitur, nisi aliud appareat.

5

REES, Die Strafgewalt der Kirche, S. 69. LEGA, Praelectiones in textum iuris canonici, De delictis etpoenis, S. 127 f.; FLATTEN, Mensch und Menschlichkeit im kirchlichen Strafirecht, S. 7. In can. 18 C I C 1983 wird außerdem eine günstige Auslegung für Strafgesetze angeordnet. Als Interpretationsregel wurde der Grundsatz auch vereinzelt im weltlichen Recht angesehen, z.B. von GERLAND, Strafprozeß, S. 37, 190; dagegen ELIBOL, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 67 ff. 6

7 Die Tatstrafen sind gem. can. 1318 nur für schwere Delikte erlaubt, die großes Ärgernis hervorrufen oder durch Spruchstrafe nicht wirksam bekämpft werden können. Beispiele sind die Exkommunikation für Häresie (can. 1364 § 1) oder Abtreibung (can. 1398). Zur Tatstrafe s. BORRAS, Les sanctions dans l'Église, S. 52 ff.; DE NAUROIS/SCHEUERMANN, Der Christ und die kirchliche Strafgewalt, S. 79 ff.; REES, Das kirchliche Strafrecht, S. I02 ff., 136 f. Zweifelnd zum Verhältnis von Tatstrafe und Unschuldsvermutung WAIDER,

Z S t W 98 ( 1 9 8 6 ) , 1 6 2 , 1 6 7 F n . 28. 8

Nachweise bei MOTZENBÄCKER, Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S. 184 ff., 205 ff. Siehe nur bei MENOCHIUS, oben S. 15 f. 10 Dazu MOTZENBÄCKER, Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S. 205 ff. " MEILE, Die Beweislehre des kanonischen Prozesses, S. 79. 12 LEGA/BARTOCCETTI, Commentarius in iudicia ecclesiastica, vol. II, S. 818 Nr. 3 („Aliae [praesumptiones] potius sunt iuris naturalis·, veluti nemo praesumitur malus nisi probetur." Hervorh. im Original), S. 819 Nr. 7. Wobei allerdings die Einschränkung gemacht wird, daß diepraesumptiones iuris naturalis sich auch nur auf qualitates naturales beziehe, mit der Folge, daß die Vermutung dann nicht mehr greift, „si naturalis qualitas per aliquod factum fuerit ablata". Wenn also die allgemeine Bonitätsvermutung durch ein Delikt aufgehoben wurde, gelte die andere praesumptio iuris naturalis (reg. iur. 8 in V I o ) «Semel malus semper praesumitur esse malus», S. 820 Nr. 7 a.E. Dazu auch MOTZENBÄCKER, Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S. 205. 13 Z u r Struktur MOTZENBÄCKER, Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S. 480 ff. 9

432

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

V i e l f a c h wird a n g e n o m m e n , daß die Neufassung damit eine erhebliche A b s c h w ä c h u n g der Beweislastumkehr v o r g e n o m m e n habe wegen der Beschränkung auf die imputabilitas14

und

der schwachen F o r m des Gegenbeweises „nisi aliud appareat" anstatt „donec contrarium probetur" 1 5 . Z u d e m wird erwartet, daß die neue Vermutung in der Praxis k a u m eine Bedeutung gewinne, 1 6 weil für die Bejahung der Strafbarkeit zur imputabilitas

eben noch die er-

schwerten G r a d e von dolus oder culpa hinzutreten (can. 1321, § 1) u n d positiv bewiesen werden müssen. D e r G r u n d für die Beibehaltung der eingeschränkten Vermutung war die befürchtete mangelnde Anwendbarkeit des Strafrechts, wenn dem Oberen oder dem Richter die Beweislast aufgebürdet w ü r d e . 1 7

14 Der Begriffsinhalt von imputabilitas ist mehrdeutig, zudem wird der Begriff auch noch komparativ gebraucht. Imputabilitas moralis wird zumeist als allgemeiner Grundbegriff angesehen, der dem der menschlichen Handlung entspricht, die Einsichtsfähigkeit und freien Willen voraussetzt, vgl. B O R R A S , Les sanctions dans l'Église, S. 18; M C D O N O U G H , 48 The Jurist 727, 733 (1988); D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S. 56 ff.; P R E E , ÖARK 38 (1989), 226, 230 ff., 235 ff. Von den verschiedenen denkbaren Abstufungen von Wissen und freiem Wollen sowie deren Kombinationen werden vom CIC 1983 nur die schwerwiegenden Formen dolus und culpa als Strafvoraussetzung aufgeführt (can. 1321, § 1: „graviter imputabilis"). Die von D E P A O L I S (aaO., S. 56). sogenannte imputabilitaspoenalis ist mithin eine Untermenge der imputabilitas moralis und existiert nur in den zwei Formen von dolus und culpa, s. D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S. 56; P A H U D D E M O R T A N G E S , Zwischen Vergebung und Vergeltung, S. 116. Andererseits wird imputabilitas neben der Kennzeichnung der Schuldformen auch für „Schuldfähigkeit" gebraucht, so im Gegensatz zur incapacitas delicti committendi des can. 1322 und in den Fällen geminderter bzw. erschwerter Schuld in den cann. 1324-1326, so bei D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S. 56. Unklar bleibt, ob die Vermutung des can. 1321 § 3 nur imputabilitas im Sinne von Schuldfähigkeit meint, so D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S. 58, P R E E , ÖARK 38 (1988), 226, 238, oder auch imputabilitas gravis im Sinne einer der beiden Schuldformen, so H U G H E S , Studia canonica 21 (1987), 19, 24 und R E E S , Das kirchliche Strafrecht, S. 380 f. Die Gesetzgebungsmaterialien geben keinerlei Aufschluß, s. M C D O N O U G H , Studia canonica 21 (1987), 381, 384; vgl. aber R E E S , Das kirchliche Strafrecht, S. 339; Z A P P , OAKR 27 (1976), 36, 53 f. Eine solche Vermutung, der Täter habe wenigstens fahrlässig gehandelt, wäre jedoch kaum praktisch, da die meisten Tatbestände dolus voraussetzen. Immerhin folgt aber in jedem Falle, daß die Vermutung des can. 1321, § 3, nicht gleichgesetzt werden kann mit der vormaligen praesumptio doli, insbesondere, sofern dolus nach der Definition des can. 2200 § 1 C I C 1917 weiterhin als „deliberata voluntas violandi legem" aufgefaßt wird. In diesem Sinne eindeutig die Materialien: P O N T I F I C I A C O M M I S S I O C O D I C I I U R I S C A N O N I C I R E C O G N O S C E N D O , Schema documenti quo disciplina sanctionum seu poenarum in Ecclesia latina denuo ordinatur (1973), Prœnotanda, S. 7; und B O R R A S , Les sanctions dans l'Église, S. 18; H U G H E S , Studia canonica 21 (1987), 19, 24; M C D O N O U G H , Studia canonica 21 (1987), 381, 384, 386, 390; D I E S . , 48 The Jurist 727, 732 (1988); D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S. 58 f. („praesumitur libertas in agendo vel in omitiendo, non autem deliberata voluntas violandi legem"). A.A. daher zu Unrecht E S E R , Festschrift Mikat, S. 493, 506, der can. 2200, § 2, CIC 1917 und can. 1321, § 3, C I C 1983 für „im wesentlichen inhaltsgleich" hält. 15 A R I A S , in: Código de Derecho Canónico, S. 797; B O R R A S , Les sanctions dans l'Église, S. 18; CLSACommentarylGREEti, can. 1321, S. 901; G R E E N , 50 The Jurist 221, 243 (1990); M C D O N O U G H , 48 The Jurist 727, 736 fF., 739 (1988); N I G R O , in: Commento al Codice di Diritto Canonico, S. 759. P R E E , Ö A R K 38 (1989); 226, 238, hält can. 1321, § 3, daher nicht mehr für eine Vermutung im technischen Sinne, ebenso schon W A I D E R , ZStW 89 (1977), 1006, 1008. 16 P R E E , ÖARK 38 (1989), 226, 238 f. („so gut wie ohne Relevanz"); dem folgend P A H U D D E M O R T A N G E S , Zwischen Vergebung und Vergeltung, S. 115 f. 17 R E E S , Das kirchliche Strafrecht, S. 339, 380 f. m.w.Nachw.

E. Religiöse Rechte

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Viele Autoren hegen bei der Aufstellung dieser Vermutungen keinerlei Bedenken 1 8 oder halten sie für gerechtfertigt 1 9 . Einige Kommentatoren betrachteten die Vorsatzvermutung des can. 2200, § 2 C I C 1917 als „unrühmliche Ausnahme" 2 0 des ansonsten vorbildlichen kirchlichen Strafrechts wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung 2 1 und befürworteten die A u f n a h m e der Unschuldsvermutung bei gleichzeitiger Streichung der Vorsatzvermutung, um nicht hinter dem Standard des weltlichen Rechts zurückzubleiben. 2 2 In ähnlicher Weise hatte die amerikanische Bischofskonferenz unter dem alten Codex eine allgemeine Freiheitsvermutung für den kirchlichen Prozeß als Schutz vor Willkür reklamiert. 23 Vor allem Kommentatoren aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis sehen in beiden Vorschriften einen Widerspruch wenigstens zur weltlichen Unschuldsvermutung, an die die Katholiken in C o m m o n Law-Ländern gewohnt seien. 24 Auch die neue Vermutung der Zurechen-

18

in: Código de Derecho Canónico, S. 7 9 7 ; BORRAS, Les sanctions dans l'Église, S. 18; M c D o The Jurist 7 2 7 , 7 3 1 f., 7 3 7 f. (1988); M Ö R S D O R F , Lehrbuch des Kirchenrechtsu, Band III, S. 3 1 7 f. (zu can. 2 2 0 0 , § 2); P U Z A , Katholisches Kirchenrecht, S. 395; S C H W E N D E N W E I N , Das neue Kirchenrecht, S. 452; S T R I G L , in: L I S T L / M Ü L L E R / S C H M I T Z , Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Bd. III, S. 930. BARRY, Studia canonica 5 (1971), 259, 263 berichtet folgende Replik auf seinen Vorhalt, can. 2200, § 2 CIC 1917 sei eine Verirrung wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung: „Sed, Pater, ne obliviscaris Ecclesiam esse societatem perfectam, ac proinde esse incapacem erroris." " AYMANS, Festschrift für Kardinal Casaroli, S. 193, 203 Fn. 27 = DERS., AfkKR 153 (1984), 339, 351 Anm. 43: Bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Communio befinde sich die Kirche „...geradezu im Zugzwang; darin ist es auch gerechtfertigt, daß bei entsprechender äußerer Verletzung der Rechtsordnung die Zurechenbarkeit vom Gesetz selbst vermutet wird." ARIAS,

NOUGH, 48

20

Z A P P , Ö A R K 27 ( 1 9 7 6 ) , 36, 52.

21

BARRY, Studia canonica 5 (1971), 259, 263; M C M A N U S , The Internal Forum, Acta Conventus Internationalis Canonistarum, S. 260 f. bedauert die Mentalität dieser Normen; DE PAOLIS, De Sanctionibus in Ecclesia,

S . 58; Z A P P , Ö A R K 2 7 (1976), 36, 52 f.; W A I D E R , Z S t W 78 (1966), 524, 526; DERS., Z S t W 95

s.a. B Ö C K E N F Ö R D E , Das Rechtsverständnis der neueren Kanonistik, S. 4 7 Anm. 253. The Internal Forum, Acta Conventus Internationalis Canonistarum, S. 2 6 0 f.; Z A P P , Ö A R K 2 7 ( 1 9 7 6 ) , 36, 52 f.; N E U M A N N , Menschenrechte - auch in der Kirche?, S. 4 0 . 23 N C C B (National Conference of Catholic Bishops), On Due Process, Washington 1972, S. 5: "The dignity of the human person, the principles of fundamental fairness, and the universally accepted presumption of freedom require that no member of the Church arbitrarily be deprived of the exercise of any right or office", zit. nach CLSA-CommentarylGREEN, Vor can. 1720, S. 1025. 24 GREEN, 50 The Jurist 221, 243 (1990): "Such a presumption seemed to reflect an insufficient respect for the basic integrity of believers. Such a respect for persons seems operative in the Anglo-American law presumption of innocence and corresponding burden of proof on the state to demonstrate culpability. [...] The code would have responded better to exigencies of freedom, justice, and equity by affirming the presumption of innocence in an unqualified fashion."; DERS., CLSA-Commentary, can. 1 3 2 1 , S. 9 0 1 : "AngloAmerican commentators have questioned the retention of such a presumption of imputability even if it is less obnoxious than the prior presumption of dolus, or malice. The traditional Anglo-American presumption of innocence until one is proven guilty seems more appropriate. This would place an additional burden on church authorities. However, church law should be no less a guardian of freedom, justice, and equity than civil law—and a corollary of this guardianship function is a presumption of purity of intent even on the part of alleged lawbreakers." (Hervorh. im Original); HUGHES widmet dem Vergleich zum Common Law einen ganzen Artikel: Studia canonica 21 (1987), 19 ff.; M C M A N U S , The Internal Forum, Acta Conventus Internationalis Canonistarum, S. 260 f.; PROVOST, Studia Canonica 9 (1975), 137, Σ47: "This may be a legitimate presumption in itself, but it is hardly a common presumption for all peoples throughout (1983), 397, 399; 22

MCMANUS,

434

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

barkeit25 als Umkehr der Beweislast wird als nicht vereinbar mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EuMRK angesehen, die aber für den Apostolischen Stuhl nicht gelte26. Eine ausdrückliche Stellungnahme findet sich bei M O T Z E N B Ä C K E R , der die Unschuldsvermutung als von Naturrechtssätzen zweiter oder dritter Ordnung27 abgeleitete „allgemeinste Regel" anerkennt28 und den in der Vorsatzvermutung des can. 2 2 0 0 , § 2 , enthaltenen Widerspruch im Wege der Normenkollision auflöst29. Die angeführten Kollisionsregeln sind: Die speziellere Norm gehe der allgemeineren vor,30 oder die für die Gemeinschaft wichtigere Norm gehe vor, bei gleicher Wichtigkeit die ranghöhere31. Dementsprechend müsse die aus dem Naturrecht abgeleitete Norm „Quivis praesumatur bonus nisi probetur malus" dem can. 2 2 0 0 , § 2 , weichen. M O T Z E N B Ä C K E R hält die Vorsatzvermutung darüberhinaus für sachlich begründet und nicht unbillig, da der Täter eben am besten die Umstände der Tat kenne.32 Bemerkenswert ist seine Haltung gegenüber dem Einwand, daß so die Bestrafung Unschuldiger ermöglicht werde: Dem Einwand, es könnten durch die Regelung im kanonischen Recht manche Unschuldige bestraft werden, kann der Gegeneinwand gemacht werden, daß durch die gegenteilige Regelung manche Schuldige nicht bestraft werden können. Jede Rechtsordnung muß mit den Grenzen menschlichen Erkennens rechnen.33

Der Umstand, daß im inneren (moralischen) Bereich ungerechte Strafen nicht vollzogen zu werden zu brauchen,34 scheint den Einwand zusätzlich zu entkräften. H U G H E S hingegen sucht die implizite Geltung der Unschuldsvermutung in der Fassung der presumption of innocence des englischen Common Law auch im kanonischen Prozeß nachzuweisen. Eine eigenständige Rechtsgrundlage der Unschuldsvermutung im kirchlichen Recht wird nicht einmal angesprochen. Den Gegensatz von Unschuldsvermutung und Zurechenbarkeitsvermutung erklärt er für nur scheinbar und zur Folge der äußeren Unterschiede der verschiedenen Prozeßstrukturen. Im Parteiprozeß des Common Law stellt er als Wirkung der presumption of innocence fest, daß der Angeklagte nicht die Beweisführungslast für seine Unschuld trage.35 Für defences hingegen treffe den Angeklagten eine evidential burthe world. [...] To establish as a fundamental principle something which has been rejected by an entire experience of law for a body of Catholic faithful, is to violate one of the basic principles of the Second Vatican Council—which calls for us to respect such fundamental human experiences, in so far as they are not contrary to the Gospel." 25 Wohl nur in can. 2200, § 2: D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S . 58. 26 E S E R , Festschrift Mikat, S. 493, 506; P A H U D D E M O R T A N G E S , Zwischen Vergebung und Vergeltung, S. 1 1 4 f., 115; W A I D E R , ZStW98 (1986), 167 f. Krit. auch S E B O T T , Das kirchliche Strafrecht, S. 51. Vgl. R E E S , Das kirchliche Strafrecht, S. 71. 27 Zu den Ordnungen des Naturrechts s. F U C H S , Lex naturae, S . 81 ff. 28 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 288, 323. 29 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 323. 30 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 288. Vgl. schon reg. iur. 34 in VI 31 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 323. 32 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 481; zust. R E E S , Das kirchliche Strafrecht, S. 178. 33 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 482. 34 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 481. 35 H U G H E S , Studia canonica 21 (1987), 19, 33.

E. Religiose Rechte

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den, eine minimale Darlegungslast, ohne deren Erfüllung die Entscheidung über die Beweisfrage nicht an die Jury abgegeben werden könne. Im inquisitorischen Prozeß des kanonischen Rechts sei die Zurechenbarkeitsvermutung nur eine Anweisung an den Richter, wie er die gefundenen Beweise auszuwerten habe: jeden Zweifel an der Zurechenbarkeit habe er zu beseitigen, da moral certitude Basis jedes kanonischen Urteils sei.36 Er folgert: A n d this is precisely the form that the presumption of innocence takes in the canonical trial: it is a direction in the law itself to the tribunal that it must find a person guilty only if it has acquired moral certainty on that point. 3 7

Schließlich sei die Stellung des Angeklagten im Common Law und des Codex Iuris Canonici 1983 in der Frage der Zurechenbarkeit identisch.38 In der Tat ist eine Wirkung einer Unschuldsvermutung oder ein rechtlicher Effekt, der mit einer Unschuldsvermutung erklärt oder illustriert werden kann, daß eine Verurteilung nicht auf der Grundlage eines Verdachts erfolgen darf. H U G H E S ' Feststellung entspricht dem Erfordernis des proof beyond a reasonable doubt im Common Law bzw. der richterlichen Überzeugung der StPO. Übergangen wird dabei jedoch die Frage, ob eine Unschuldsvermutung nicht auch gegenläufige Vermutungen, die auf die richterliche Überzeugungsbildung kraft Gesetzes Einfluß nehmen, indem sie beweisersetzend wirken, ausschließen muß. Denn die „Überzeugung" mag ihrerseits durch gesetzliche Anordnung seil. Vermutungen auf Verdachtsgrundlage entstehen. Diese Frage der Normenkollision, auf die zuvor schon M O T Z E N B Ä C K E R einging, klärt H U G H E S nicht. Zuzugeben ist, daß can. 1 3 2 1 § 3 keine schwere Belastung für den Angeklagten mehr darstellt, wenn nach H U G H E S ' Ansicht schon die bloße Möglichkeit genügt,39 daß die Zurechenbarkeit fehle, um die Vermutung außer Kraft zu setzen. Damit wird aber die prinzipielle Frage nicht gelöst. Andere, die die Unschuldsvermutung erwähnen, verweisen auf sie als Grundsatz der Moraltheologie („Quilibet praesumitur bonus, nisi malus certo probetur")40 oder auf ein nicht weiter spezifiziertes Prinzip „nemo malus nisi probetur"41. Zum Teil wird nur bemängelt, daß die belastenden Vermutungen der geforderten pastoralen Ausrichtung des kanonischen Rechts widersprächen.42

36 H U G H E S , ebda. Z u moral certitude auch M C D O N O U G H , 48 T h e Jurist 727, 736 f. (1988). „Moralische Gewißheit" liege zwischen absoluter Gewißheit und Quasi-Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit, die jeden vernünftigen Zweifel ausschließe, wenn auch nicht die absolute Möglichkeit des Gegenteils, P i u s X I I , Ansprache an die Römische Rota ν. 1 . 1 0 . 1 9 4 2 , Acta Apostolicae Sedis 34 (1942) 338, 339 f.

31 38

HUGHES, Studia canonica 21 (1987), 19, 33 (Hervorh. im Original).

HUGHES, Studia canonica 21 (1987), 19, 35. 39 HUGHES, Studia canonica 21 (1987), 19, 34; zust. MCDONOUGH, 48 T h e Jurist 727, 737 f. (1988). 40 H E N D R I K S , P e r R M C L 79 (1990), 1 6 3 , 1 6 4 mit Verweis auf E . G E N I C O T / I . S A L S M A N S , Institutiones Theologiae Moralis, Louvain/Bruxelles 1931, vol. I , Nr. 121 S . 108 und J . A E R T N Y S / C . D A M E N , Theologia Moralis, Augustae Taurinorum/Buscoduci 1928, vol. II Nr. 22, S. 21. 41 D E P A O L I S , De Sanctionibus in Ecclesia, S . 58. 42 P A H U D D E M O R T A N G E S , Zwischen Vergehung und Vergeltung, S. 115; ähnl. G R E E N , 50 T h e Jurist 221, 243 (1990). Vgl. auch PROVOST, Studia canonica 9 (1975), 137, 147: "Certainly, it is not contrary to Christ to presume people innocent, whereas it may be questionable that it is a specifically Christian insight to presume people to be guilty."

I. Teil: Rechtsvergleichende Bestandsaufnahme

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II. Jüdisches Recht Der Talmud ordnet ebensowenig wie die Bibel an, jedermann für gut zu halten, eine ausdrückliche Unschuldsvermutung im Strafverfahren fehlt.1 Das talmudische Recht trennt klar zwischen Zivilsachen, in denen es um Geldersatz geht, und Strafsachen, die auf die Verhängung von Todes- oder Leibesstrafe zielen. Das Strafverfahren2 unterliegt striktesten Anforderungen hinsichtlich der Zulässigkeit von belastenden Beweisen3 und zeichnet sich durchgängig durch einen favor rei aus, beispielsweise in der Begünstigung der Entlastungszeugen oder der Unumstößlichkeit des Freispruchs4. Der Ausschluß jeglicher Vermutung, d.h. Indizienbeweises, anstelle der erforderlichen zwei Zeugen bei Todesstrafsachen5 und der dabei anzuwendende Zweifelssatz6 sowie der allgemeine Grundsatz der Beweislast des Klägers7 dienen der möglichsten Vermeidung der Bestrafung Unschuldiger8. Andererseits ist auch mit der Kippahstrafe eine Verdachtsstrafe vorgesehen, wenn ein zweiter Zeuge fehlt und die Täterschaft sehr naheliegend war.9 Bekannt war ebenfalls die Haft während des Prozesses, die bei Kapitaldelikten der Regelfall war.10 Überliefert ist indes ein Satz des Inhalts, daß von niemandem vermutet werde, daß er in böser Gesinnung gegen das Gesetz gehandelt habe, wenn sein Handeln einer gesetzeskonformen Erklärung fähig ist. Diese Vermutung gründet auf dem allgemeineren Prinzip, daß jedermann rechtschaffen geboren sei und diese Eigenschaft vermutet werde bis zum klaren Beweis, daß er den rechten Weg verlassen habe. Die Vermutung gilt vor allem im Zivilrecht und hängt in ihrer Stärke von der sozialen Stellung und vom Leumund des Betroffenen ab.

Encyclopedia Judaicavol. 6, Evidence, Sp. 992. Geregelt hauptsächlich in den Traktaten Synhedrin und Makkoth des Talmud. Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf den babylonischen Talmud, wenn nicht anders gezeichnet. Nicht zugänglich waren leider Z. F R A N K E L ( F R A N K E L ) , Der gerichtliche Beweis nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1846, und J. K L E I N , Das Gesetz über das gerichtliche Beweisverfahren nach mosaisch-thalmudischem Rechte, 1885. Anzumerken ist, daß spätestens mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. der jüdische Gerichtshof (Synedrium) seine Strafgerichtsbarkeit verlor, C O H N , 5 Israel L.Rev. 53, 53 f. (1970); K I R S C H B A U M , Self Incrimination in Jewish Law, S. 135, beide m.w. Nachw. Die nachfolgende Strafrechtswissenschaft ist deshalb ohne praktische Erfahrung und schreibt sub specie aeternitatis für eine ideale Gesellschaft, C O H N , 5 Israel L.Rev. 53, 55 (1970). 3 Insbesondere durch genaueste Ausforschung der Zeugen, s. 3. und 4. Abschnitt des Traktats Synhedrin = fol. 23 ff. 4 Dazu Synhedrin, IV, i = 32 mit weiteren Beispielen. 5 Synhedrin IV, Ν = 37b, Makkoth I, ix = 6b mit Bezug auf 5. Mose 17, 6; 19,15. M A I M O N I D E S , Book of Judges, chap. XX, S. 60 f., führt für das Erfordernis der Sicherheit noch 5. Mose 13,15, 2. Mose 23, 7 an. 6 Baba Qamma 44b in fine. 7 Bei K I R S C H B A U M , Self-incrimination in Jewish Law, S . 185 in Anm. 16. 8 Vgl. 2. Mose 23, 7. 9 Babylonischer Talmud, Synhedrin IX, v, 2 = 81b; entspricht Jerusalemer Talmud, Sanhédrin 9, 10 (5) = 27b. Zur Kippahstrafe als poena extraordinaria s. K A N T O R , Beiträge zur Lehre von der strafrechtlichen Schuld im Talmud (Kippahstrafe), S. 72 ff.; K O H L E R , ZfVglRwiss 20 (1907), 161, 232 f. Sie diente dazu, eine bei vollem Beweis zu verhängende Todesstrafe zu umgehen. Zu anderen Fällen der Verhängung einer poena extraordinaria bei unvollständigem Beweis s. G O L D I N , Hebrew Criminal Law and Procedure, S. 121 Anm. 7, 122 f. Anm. 9. 10 C O H N , Human Rights in Jewish Law, S . 209 m.w.Nachw. 1

2

E. Religiöse Rechte

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Sie fällt, sobald Grund für den Verdacht des Gegenteils besteht, und gilt ohnehin nur für einzelne Personen bekannten Leumunds, nicht wenn die Täter eines Verbrechens noch unbekannt sind, da es viele Rechtsbrecher in der Welt gebe. 11 Die anfangs beschriebenen Beweisvorschriften wurden im modernen Schrifttum bisweilen mit Wirkungen identifiziert, die sich aus einer Unschuldsvermutung ableiten lassen. 12 Angesichts der strikten Beweisanforderungen wird eine Verurteilung sogar als schwieriger angesehen als unter einer ausdrücklichen Geltung der Unschuldsvermutung. 13

III. Muslimisches Recht Das muslimische Recht kennt eine allgemeine Bonitäts- und Rechtmäßigkeitsvermutung, die als Grundlage des gesamten Prozeßrechts gilt, also sowohl in zivilrechtlichen als auch strafrechtlichen Angelegenheiten: 1 J >

QAALWU^O J l o

Í

( A f ale musulmin haraal bir sahhat) 2

Bei allen Handlungen der Muslimin wird gute Absicht vorausgesetzt. Jeglicher Rechtsbruch muß folglich durch Geständnis oder Zeugenbeweis nachgewiesen werden, welche die einzigen Beweismittel im Strafverfahren sind. 3 Die Beweiswürdigung ist der Überzeugung des Richters überlassen, ein Legalbeweissystem existiert nicht. Folglich muß der Richter im Zweifel nicht verurteilen. 4 O b darüber hinaus weitere Folgerungen dieses Prinzips und inwieweit Unterschiede zwischen den Rechtsschulen bestehen, muß angesichts der Unzugänglichkeit der Quellen offen bleiben.

" Encyclopedia Talmudica, vol. I, Sp. 566 f. ('Ahazokey 'Eynashey b'Rashi'ey la mahz'kinan: not presumed to act wickedly against the law.)

People are

12 MENDELSOHN, The Criminal Jurisprudence of the Ancient Hebrews, S. 180, zählt den Satz, daß niemand als schuldig anzusehen bis zur Erbringung des gehörigen Beweises, unter die aus dem jüdischen Recht erwachsenen Maximen, allerdings ohne Belege. Ebenso nimmt KIRSCHBAUM, Self-incrimination in Jewish Law, S. 7 8 , 1 2 2 ff., eine Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils im Kontext der Regeln über die Verwertbarkeit von Geständnissen an. Solange kein genügender Beweis für die Begehung einer Straftat vorlag, war eine Selbstbezichtigung unbeachtlich. Aus dem allgemeinen Schrifttum verweist HORWATT, I Wm. & Mary Bill of Rts.J. 145, 173 (1992), auf das Alte Testament und sämtliche Regeln des Talmud, die dem Angeklagten günstig sind oder sein können. Darin lasse sich die Unschuldsvermutung deutlich erkennen. Schließlich behauptet auch BRAAS, Précis de Procédure Pénale1, tome II, n° 610, S. 535, das alte hebräische Recht als Ursprung der Unschuldsvermutung, ohne Nachweise anzubieten. 13 Encyclopedia Judaicavol. 6, Evidence, Sp. 992. ' VON TORNAUW, Das Moslemische Recht, S. 56, 233. 2 Nach VON TORNAUW, Das Moslemische Recht, S. 56. 3 VON TORNAUW, Das Moslemische Recht, S. 233. 4 RACHED, L'intime conviction du juge, S. 126 f.

Z W E I T E R

T E I L

Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze A. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung D i e sprachliche Fassung, jedermann werde als unschuldig vermutet bis z u m Beweis des G e genteils, dient sowohl als Ausgangspunkt mancher Interpretationen als auch als G r u n d l a g e der Kritik bis hin zur grundsätzlichen Ablehnung einer Unschuldsvermutung. M a n c h e Autoren halten Wortlautanalysen für vordergründig und unmaßgeblich, da allein a u f die politische Zwecksetzung abzustellen sei. Diese T h e s e ILLUMINATIS, 1 daß die Unschuldsverm u t u n g mit herkömmlichen rechtstechnischen Methoden nicht adäquat zu erfassen sei, m u ß sich indes erst erweisen. Eine nähere Betrachtung des Wortlauts ist schon deshalb unumgänglich, u m die weitere Untersuchung nicht mit semantischen Unklarheiten zu belasten. Es wird sich auch zeigen, daß mancher D i s p u t a u f der mangelnden K l ä r u n g unausgesprochen vorausgesetzter BegriiFsverwendung beruht.

I. Zur Semantik der Unschuldsvermutung Vorab seien die verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes „ U n s c h u l d " verdeutlicht,

ι.

„Bonität" und „Unschuld"

Sprachlich von den modernen Fassungen verschieden sind die historischen Bonitätsvermutungen des Typs „quilibet praesumitur bonus". Bonität zielt a u f eine Eigenschaft, die d e m Menschen naturgemäß z u k o m m e n soll. Wie eng oder weit die Intension von „ b o n u s " ist, ob Tugendhaftigkeit, Gottergebenheit vorrangig, allein oder nachrangig oder neben Rechtstreue gemeint ist, ist nicht stets sicher auszumachen. Im Kontext juristischer A b h a n d l u n g e n ist ein rechtlicher Bezug aber selbstverständlich u n d wird später explizit, so daß „ b o n u s " jedenfalls auch, wenn nicht vorrangig oder allein Rechtstreue meint, die sich je nach konkreterem Kontext als Vertragstreue etc. oder strafrechtliche Unschuld darstellt. 2 Vereinzelt finden sich Reihungen wie „praesumitur bonus, et legalis, et innocens". 3 Z u d e m kann sowohl im religiösen als auch im säkularen Naturrecht diese Bonität - jedenfalls auch - mit Rechtstreue identifiziert werden, da bis zur u n d in der Aufklärung zumeist unausgesprochen von

1

2 3

ILLUMINATI, La presunzione d'innocenza dell'imputato, S. 12 f., 23 f. Vgl. den Artikel „Bona, bonus" bei BARBOSA, Tractatus Varii, Axioma 37, S. 23. BOURICIUS/FRISIUS, Captivus, s.o. S. 20 Fußn. 60.

Α. Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung

439

der prinzipiellen Übereinstimmung religiöser, sittlicher oder vernunftrechtlicher Gebote mit dem Recht ausgegangen wurde. Bonität verstanden als menschliche Eigenschaft kann also im rechtlichen Kontext in einen generellen Hang zu rechtstreuem Verhalten übersetzt werden. Aus dieser Eigenschaft wird sodann ein Schluß auf ein spezifisches Verhalten gezogen. Der Gebrauch von Bonitätsvermutungen ist seit Aufklärungszeiten im juristischen Schrifttum aus der Mode gekommen mit einer Ausnahme im Bereich der Ehrdelikte, wo von einer Vermutung für die umfassende Tadelsfreiheit zugunsten des Opfers gesprochen wurde und teilweise noch wird. 4 Bei „Unschuld" ist der rechtliche Bezug in der Regel selbstverständlich, so daß Abgrenzungen zur der Bonität entsprechenden moralischen Tadelsfreiheit oder „Unschuld im Myrtenkranz" 5 nur gelegentlich vorgenommen werden. 6 Ist „Unschuld" allgemein das Synonym für nicht rechtswidriges Verhalten, so ist „Unschuld" im strafrechtlichen Kontext der Gegensatz zur prozessualen „Schuld" 7 (vgl. § 263 StPO), d.h. zum vollständigen Vorliegen jedenfalls der materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit und nicht bloße Negierung von „Schuld" i.e.S. als Kategorie des materiellen Strafrechts 8 . Im kontinentalen Raum nur vereinzelt, im Common Law aber häufiger sind Begrenzungen der „Unschuld" auf das Fehlen der unrechtsbegründenden Umstände. Verbreiteter und zunächst hier zu Grunde zu legen ist das Verständnis als Fehlen von tatbestandsmäßigem Handeln und/oder Rechtswidrigkeit und/oder Schuld sowie sonstiger Strafbarkeitsvoraussetzungen. In einem erweiterten Sinne können, wie noch dargelegt werden wird, in die Begriffe „Schuld" und „Unschuld" die prozessualen Voraussetzungen der Straffolge einbezogen werden. Bonität verstanden als Eigenschaft der moralischen Güte oder äußeren Rechtstreue ist gegenüber der Unschuld folglich das umfassendere Vermutungsobjekt, zum einen weil sie

4

F E U E R B A C H , Lehrbuchu,

§ 2 7 2 S. 455; R Ö D E R , Grundzüge

des Naturrechts,

S. 1 3 4 , 1 3 7 ; s. K Ü H L , Un-

schuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 43 ff. zum NS-Schrifttum. 5 So TRECHSEL, S J Z 77 (1981), 317, 318, der wegen der Mehrdeutigkeit der „Unschuld" den Begriff der „Vermutung der Schuldlosigkeit" vorzieht. 6 LÉAUTÉ, Le caractère irréparable de la perte de l'innocence, S. 5 f.; MANZINI, Trattato di diritto processuale penale

italiano'',

vol. I, S. 2 2 1 bei F n . 4 m i t Verweis auf G H I R L A N D U S u n d B L A N C U S ; V Á Z Q U E Z

SOTELO, «Presunción de inocencia», S. 287 f.: „culpabilidad" ist Gegenteil der „inocencia" presumida, bzw. „inocencia", jedenfalls „en su alcance vulgar", meint „no responsabilidad penal". 7 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 161 ff, 163; MARXEN, Straftatsystem und S. 344; MÖLLER, Vorläufige Maßregeln, S. 216; ERMACORA/NOWAK/TRETTER/KOPETZKI, Die

Menschenrechtskonvention,

A r t . 5, 6 ( V F G H ) N r . 6.4.1., S. 282; H Ö P F E L , Staatsanwalt

und

Strafprozeß, Europäische

Unschuldsvermu-

tung, S. 16 bei Fn. 16; SCHRÖDER, N J W 1 9 5 9 , 1 9 0 3 , 1 9 0 3 . Damit entspräche diese Verwendung von „Schuld" noch der früheren Ubersetzung von „reatus" als „obligatio ad poenam patiendam" bzw. der „obligatio dandi poenam laesionis suae" im Sinne CHRISTIAN WOLFFS, lus naturae, Pars prima, §§ 1072 f. S. 713, dazu HRUSCHKA, Strukturen der Zurechnung, S. 37 m. Nachw. in Fn. 29. 8 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 161; SCHRÖDER, N J W 1 9 5 9 , 1 9 0 3 , 1 9 0 3 ; K a c y M O B , Ilpe3yMrmuH HeeuHoeuocmu β coeemCKOM npaee, S. 22 f.; J l n ö y c , IJpesyMnuuR HeeuHoenocmu β coeemCKOM yzoAOBHOM npou,ecce, S. 24. Ebenso diejenigen, die die Unschuldsvermutung auch als „NichtUnrechts-Vermutung" verstehen, so PAEFFGEN, Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S. 1 1 3 , 1 3 0 Fn. 90; SK-SÍPO/PAEFFGEN, Vor § 112 RN. 25; zust. WOLTER, Ermittlungsmaßnahmen und Verfahrenssicherung, S. 89, 95 Fn. 24 (auf S. 96); MÖLLER, Vorläufige Maßregeln, S. 217.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

440

nicht auf strafrechtlich relevantes Handeln begrenzt ist, sondern eine allgemeine Rechtmäßigkeitsvermutung umfassen kann, zum anderen, weil die Unschuld sich im juristischen Verständnis nur retrospektiv auf ein bestimmtes vergangenes Geschehen, eine bestimmte Tat bezieht. Wollte man aus der Unschuldsvermutung im Kontext der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr folgern, es müsse davon ausgegangen werden, der Betroffene werde sich künftig rechtstreu verhalten, so überstiege eine solche Ungefährlichkeitsvermutung den Unschuldsbegriff, sofern damit nicht nur das Prognoseindiz der vermeintlich begangenen Tat ausgeschlossen werden soll.

2.

Reale Unschuld, noch nicht festgestellte Schuld, festgestellte Unschuld und nicht festgestellte Schuld

„Unschuld" als Abwesenheit der Gesamtheit der Strafbarkeitsvoraussetzungen läßt sich im Kontext des Strafverfahrens auf wenigstens vier Arten verwenden, die regelmäßig nicht auseinander gehalten werden: Zum einen als Aussage über die Realität (i.e. das reale Vorliegen von Unschuld), zum anderen als Gegenstück zur erfolgten Verurteilung als Voraussetzung für Strafe (i.e. das noeti* nicht - verfahrensförmig — festgestellte Vorliegen von Schuld oder Unschuld), zum dritten als Resultat der Sachverhaltsrekonstruktion im Verfahren, dies wieder im doppelten Sinne (i.e. als das endgültig festgestellte Vorliegen von Unschuld oder das endgültig nicht festgestellte Vorliegen von Schuld10). Diese vier Unschuldsbegriffe sind ersichtlich nicht synonym. Real unschuldig ist derjenige, der tatsächlich wenigstens entweder nicht tatbestandsmäßig oder nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft etc. gehandelt hat. Die tatsächliche Schuld eines Bürgers gibt jedoch in allen hier behandelten Rechtsordnungen - von den Tatstrafen des kanonischen Rechts abgesehen — noch keine Eingriffsrechtfertigung für die Verhängung beispielsweise von Strafhaft ab. Erst wenn im rechtskräftigen Urteil Schuld festgestellt wird, kann Strafe vollstreckt werden, so z.B. § 449 StPO. Die festgestellte Unschuld oder Schuld muß nicht der tatsächlichen Schuld oder Unschuld entsprechen, auch wenn dies angestrebt wird. Fehlverurteilungen werden in gewissen Grenzen toleriert wie schon die Beschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten und Unmöglichkeit absoluter Gewißheit zeigt." Weil bis zum Zeitpunkt der relevanten Schuldfeststellung die Voraussetzungen für Strafvollstreckung keinesfalls vorliegen, mag der Zustand des Angeklagten als „unschuldig" bezeichnet werden; gleichwohl mag

9

Wenn im folgenden von „noch nicht verurteilt" gesprochen wird, so bedeutet das „noch" lediglich, daß eine Entscheidung zu erwarten steht, die auch auf Verurteilung lauten kann, im Gegensatz zu endgültig „nicht verurteilt", womit ausgedrückt werden soll, daß ein nicht-verurteilendes Erkenntnis vorliegt. Nicht impliziert ist, daß ein verurteilendes Erkenntnis wahrscheinlich ist oder gar allein zu erwarten steht. 10 Diese Unterscheidung findet sich schon im römischen Strafverfahren, das den Richtern die Voten „A-" (absolvo), „ C . " (condamno) und „ N . L . " (non liquet) erlaubte. Auf ein mehrheitliches non liquet folgte das amplius cognoscendum, Vorläufer der absolutio ab instantia, dazu GEIB, Geschichte des römischen Criminalprocesses, S. 365 ff. Ebenso unterschied der gemeine Prozeß zwischen den Beweisergebnissen innocens und non repertus culpabilis,

N a c h w . bei FARINACIUS, C L A R U S u n d G H I R L A N D U S s.o. S. 19 f. F u ß n . 51 u n d 52.

" Vgl. nur FREUND, Normative Probleme der„ Tatsachenfeststellung", S. 46 fF., 58, 64 fF. und durchgängig; FRISTER, Z S t W 106 (1994), 303, 327 f. Bedenklich sind daher Übertreibungen wie „Die Verurteilung eines Unschuldigen wäre ein schwerer Eingriff in die nach Art. I G G unantastbare Menschenwürde, der

Α. Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung

441

er nicht real unschuldig sein. Im folgenden sollen diese beiden Begriffsinhalte zur leichteren Unterscheidung als reale oder materielle Unschuld bzw. Schuld zur Kennzeichnung einer Aussage über die Wirklichkeit sowie als formelle Unschuld bzw. Schuld im Sinne des unvollständigen bzw. vollständigen Vorliegens der zur Verhängung und Vollstreckung von Strafe notwendigen materiell-rechtlichen und prozessualen Bedingungen bezeichnet werden. Die Bonitäts- und Unschuldsvermutungen bis zur Aufklärungszeit beziehen sich ausschließlich auf die Lösung von Beweisfragen und somit auf Hypothesen über die reale Schuld oder Unschuld des Betroffenen. Noch C H R I S T I A N W O L F F definiert innocentia als reale Unschuld. 12 Aber bereits B E C C A R I A verwendet den Schuld- bzw. Unschuldsbegriff auf mehrfache Weise. 13 In der berühmten Passage, daß vor dem Urteil ein Mensch nicht als Schuldiger {reo) angesehen werden könne, 14 wird der Begriff im zweiten Sinne verwandt: Der Bürger ist „unschuldig", weil noch nicht verurteilt. Einige Sätze später definiert er den Unschuldigen als jemanden, dessen Schuld noch nicht bewiesen sei.15 Auch hier wird auf das Moratorium abgestellt, das nur durch Beweis zu überwinden ist. Das Urteil wird nicht erwähnt, ein Unterschied ist aber wohl nicht intendiert. Schließlich verwirft er die Folter, weil man nicht wissen könne, ob man nicht einen Unschuldigen foltere. 16 Hier wird offenbar auf die reale Schuld abgestellt, denn nach den vorherigen Definitionen wird stets ein „Unschuldiger", d.h. nicht Verurteilter, der Folter unterworfen. Erörtert wird eine Unschuldsvermutung vor allem für die Zeit bis zur (endgültigen) Feststellung der Schuld oder Unschuld in einem Urteil. Die Behauptung, der mit einem Strafverfahren überzogene Bürger sei als real unschuldig anzusehen, ist auf den ersten Blick kontraintuitiv, weil unwahrscheinlich. Die Feststellung, er sei „unschuldig" im Sinne von „noch nicht verurteilt", ist zunächst trivial: Ein nicht Verurteilter ist nicht verurteilt. Die beiden Varianten des dritten Sinnes der „Unschuld" 17 werden relevant, wenn zu bestimmen ist, ob sie gleich zu behandeln sind beispielsweise durch einheitlichen Freispruch oder Verbot der Instanzentbindung, was häufig durch die Bezeichnung beider Beweisergebnisse als Fälle von „Unschuld" begründet wird.

um jeden Preis - auch um den der Nichtbestrafung eines Schuldigen - vermieden werden muß.", G . KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 23. Vgl. auch KUNIG, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 342 f.; HÖFFE, Kategorische Rechtsprinzipien-, S. 235. Wäre das zutreffend, so wären alle Einschränkungen von Rechtsmitteln, die Beschränkung der Wiederaufnahme und die Beweislast des Wiederaufnahmeklägers, die Regeln über die Rechtskraft etc. verfassungswidrig, weil hier bewußt die Möglichkeit einer Fehlverurteilung abgesegnet wird. Auf die Spitze getrieben bedeutete dies, daß Strafverfahren nicht mehr betrieben werden dürften, weil stets die Möglichkeit der Fehlverurteilung besteht, so der Anonymus in 10 Am.L.Rev. 642, 655 (1876); ebenso NOZICK, Anarchy, State, and Utopia, S. 96. 12 CHR. WOLFF, lus natura, Pars I, § 1085 S. 721: „Innocens dicitur, qui nullo facto sua pcenam meruit." Dieser Begriff wird auch durchgehalten, indem bei ungenügendem Schuldbeweis der Angeklagte mit dem Unschuldigen gleichzubehandeln ist: „...quamdiu sufHcienter probatum non est, qui accusatur..., pro innocente habendus...", Pars VIII, § 673 S. 501. [Kursive im Original.] 13 Siehe oben S. 30 Fußn. 121. 14 BECCARIA, Dei delitti e delle pene, § X V I , S. 62. 15 BECCARIA, Dei delitti e delle pene, § X V I , S. 62 f. 16 BECCARIA, Dei delitti e delle pene, § X V I , S. 63. 17 „Unschuld" als Bezeichnung für ein eindeutig entlastendes oder das uneindeutige Resultat einer Sachverhaltsrekonstruktion.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

442

II. Zur Logik der Verneinungen B e v o r a u f d i e V e r m u t u n g s s t r u k t u r der U n s c h u l d s v e r m u t u n g e i n g e g a n g e n w i r d , ist ein A s p e k t a u f z u h e l l e n , d e r ebenfalls zur V e r w i r r u n g b e i g e t r a g e n h a t : die L o g i k d e r V e r n e i n u n g e n v o n V e r m u t u n g s o b j e k t u n d V e r m u t u n g s n o r m , die vor a l l e m in der i t a l i e n i s c h e n D i s kussion eine Rolle spielen. Versteht m a n „ S c h u l d " als reales V o r l i e g e n der S t r a f b a r k e i t s v o r a u s s e t z u n g e n , so ist die V e r n e i n u n g d a s reale N i c h t V o r l i e g e n dieser V o r a u s s e t z u n g e n . D a s G e g e n s a t z p a a r u n s c h u l d i g - s c h u l d i g ist k o n t r a d i k t o r i s c h o d e r darstellbar als v o l l s t ä n d i g e D i s j u n k t i o n : tertium

non

datur. A n d e r s verhält es sich m i t der V e r w e n d u n g dieser B e g r i f f e als B e s c h r e i b u n g d e s E r g e b nisses der S a c h v e r h a l t s r e k o n s t r u k t i o n i m Prozeß, die als zweistellige A u s s a g e e i n e r i n t e r n e n u n d e x t e r n e n V e r n e i n u n g z u g ä n g l i c h ist. 1 8 M ö g l i c h e E r g e b n i s s e s i n d e n t w e d e r e i n e e i n d e u tige o d e r e i n e n i c h t e i n d e u t i g e S a c h v e r h a l t s r e k o n s t r u k t i o n . D i e e i n d e u t i g e R e k o n s t r u k t i o n k a n n b e s t e h e n e n t w e d e r a u s der F e s t s t e l l u n g der S c h u l d o d e r d e r U n s c h u l d . D i e Vernein u n g der „ S c h u l d " i m S i n n e einer e i n d e u t i g e n S c h u l d f e s t s t e l l u n g ist f o l g l i c h n i c h t d i e B e j a h u n g der F e s t s t e l l u n g der „ U n s c h u l d " , d e n n b e i d e b i l d e n e i n e n k o n t r ä r e n u n d n i c h t e i n e n k o n t r a d i k t o r i s c h e n G e g e n s a t z . B e i d e k ö n n e n n i c h t z u g l e i c h wahr, d u r c h a u s a b e r z u g l e i c h falsch sein. D e s h a l b e r l a u b t die A f f i r m a t i o n d e s e i n e n d i e N e g a t i o n d e s a n d e r e n , n i c h t a b e r die N e g a t i o n d e s e i n e n d i e A f f i r m a t i o n d e s a n d e r e n . D i e s läßt sich i m erweiterten l o g i s c h e n Q u a d r a t 1 9 darstellen: A eindeutiger Beweis der Schuld

E B(S)

B(—iS)

kein eindeutiger Beweis der Unschuld —iB(—i S )

j —iB(S)

I

S steht für: Schuld S steht für: Unschuld B( ) steht für: eindeutiger Beweis von ( )

eindeutiger Beweis der Unschuld

kein eindeutiger Beweis der Schuld

O

kontradiktorischer Gegensatz konträrer Gegensatz subalterne Beziehung triadische Beziehung

18 Dies wird von STROGOVIÓ ansatzweise erfaßt, wenn er feststellt, daß die Aussage, der Angeklagte sei unschuldig, zwei unterschiedliche Bedeutungen und unterschiedliche logische Strukturen haben könne. Zum einen könne die Aussage bloß negativ sein als Verneinung der Schuld, zum anderen aber auch die

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

443

Hier wurde eine Erweiterung des Quadrats um Y vorgenommen, welches die subkonträren Aussagen I und O, die weder exklusiv noch reversibel sind, zusammenfaßt und den neutralen Gegensatz zu den beiden incongruae A und E bildet.20 Y steht folglich für ein nicht einpositive Behauptung der Unschuld enthalten. Zur Unterscheidung der beiden Unschuldsbegriffe schlägt er den Rückgriff auf den altertümlichen Terminus HeeuHHOcmb/HeeuHHbiü für die positive Konstatierung der Unschuld vor, während das geläufige HeeuHoenocmb/HeeuHoeHbiü für die bloße Negation der Schuld stehen soll, MamepuaAbHUH ucmuna u cyöeöubie doicaeameAbcmeo β coeemcKOM yzoAoeuoM npot^ecce, S. 211 Fn. I. Unerkannt bleibt jedoch die zweistellige Struktur der Aussage sowie der Umstand, daß es sich nicht um eine allgemeine Behauptung oder Negierung der Schuld, sondern um die justizielle Aussage über die Schuld handelt. " Die Darstellung des Quadrats geht auf APULEIUS, die Terminologie auf die Scholastik zurück. Die Buchstaben A, E, I und O stehen ursprünglich für die kategorischen Aussagen der aristotelischen Logik, finden aber auch zur Benennung anderer Aussagen und hier als Kürzel Verwendung. Zu konträren und kontradiktorischen Gegensätzen sowie zum logischen Quadrat vgl. B O C H E N S K I , Formale Logik, § 12.091, S . 69; S A L M O N , Logik, S . 272 ff., 101 Fn. 5; T A M M E L O , Outlines of Modern Legal Logic, S . 10 ff., 13; J A C K S O N , Semiotics and Legal Theory, S. 86 ff., 199 ff.; auch R Ö H L , Allgemeine Rechtslehre, S. 193. 20 Damit liegt ein unvollständiges logisches Sechseck nach B L A N C H É , Structures intellectuelles, S. 47 ff., vor. Die logischen Beziehungen der Argumente untersucht im einzelnen K A L I N O W S K I , L'axiomatisation, S. 159, 163 ff; s.a. D E R S . , Einführungin die Normenlogik, S. 68 f., dort auch zur Übertragung auf die deontische Logik: S. 71 ff, 7 6 f.; s.a. R Ö H L , Allgemeine Rechtslehre, S. 193. Zum Ganzen J A C K S O N , Semiotics and Legal Theory, S. 90 ff. Das vollständige Sechseck in der Fassung und mit Beispielen von J A C K SON, ibid., hat folgende Gestalt: weiß und schwarz

schwarz

weiß

nicht schwarz

nicht weiß

Y (IaO) weder weiß noch schwarz Y entspricht -1 (A V E) und damit —1 Α Λ —1 E (Umformung nach den DEMoRGANschen Gesetzen, s. Q U I N E , Methods of Logic4, S . 68 f., 81 f.) bzw. Ο Λ I und ist insbesondere dann wahr, wenn A und E zugleich falsch sind.

444

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

deutiges Rekonstruktionsergebnis als „dritte" Möglichkeit des Beweisergebnisses.21 Aus der Negation eines konträren Elementes, beispielsweise der Feststellung der Schuld, folgt nur, daß entweder die Unschuld festgestellt ist oder keine eindeutige Feststellung vorliegt.22 Möglich ist die definitorische, d.h. normative Gleichsetzung von eindeutig festgestellter Unschuld mit einem nicht eindeutigen Rekonstruktionsergebnis für Sprachgebrauch oder normative Behandlung,23 um die Prämisse „Schuld" in beiden Fällen verneinen zu können.24 In gleicher Weise läßt sich das Verhältnis von Wahrscheinlichkeitsaussagen über die reale Schuld aufschlüsseln. Die formalisierte Darstellung wird nur aus Gründen der Prägnanz gewählt, ohne behaupten zu wollen, daß Quantifizierungen der Schuldwahrscheinlichkeit sinnvoll sind: (siehe rechte Seite) Folglich schließt die Aussage, die Unschuld sei gewiß (A), die Aussagen, die Schuld sei möglich (O) und Schuld sei gewiß (E), aus. Die Verneinung der Aussage E, Schuld sei gewiß, führt nur zu der Aussage, Unschuld sei möglich (I), nicht aber, Unschuld sei gewiß (A).

Die obere „Ecke" U , die hier lauten müßte Β (—ι S ν S), bringt einige konstruktive Schwierigkeiten mit sich und wird selten praktisch sinnvoll übersetzbar, so daß hier auf sie verzichtet werden kann. Die kontradiktorischen Gegensätze (Α—Ο, E—I) bestehen entlang den diagonalen Linien, sie sind exklusiv und reversibel: wenn die eine Aussage wahr ist, muß die andere falsch sein und umgekehrt. Die konträren Aussagen (A—E) können nicht zugleich wahr, aber zugleich falsch sein. Die subkonträren Aussagen (I—O) können auch zugleich wahr sein. Die senkrechten Beziehungen heißen subaltern; so gilt A —> I, aber nicht I —> A (jedoch —11 —> —ι A) ; ebenso E —» O, aber nicht O —» E (jedoch - i O - > - i E ) . Subaltern sind auch die Beziehungen Y I und Y - > O. Weil A - > - i O und - , O - i E, gilt Α —» - i F.. Analog folgt aus E —> —11 und —IL—> — i A : E — > —¡A. Damit ist dargetan, daß die konträren Aussagen nicht zugleich wahr sein können. 21 So bildet auch ENGISCH im Zusammenhang mit der strafprozessualen Schuldfeststellung ein „neutrales Mittleres" zwischen den konträren Gegensätzen, wenn auch mit mißverständlicher Formulierung („für nicht schuldig befunden", besser wäre: „nicht für schuldig befunden"), Über Negationen in Recht und Rechtswissenschaft, S. 220, 230 f. Beispielhafte Darstellung bei CTporoBHH, Ynenue o MamepuaAbHOÜ ucmune β yionoenoM npoi^ecce, S. 241 ff. 22 Somit gilt - 1 A —> (Ε ν Y) und - ι E —> (A ν Y). Dies läßt zeigen, indem man Y durch —1 Α ν —ι Ε ersetzt: —Ι A —» (Ε ν ( — Ι Α Λ - Ι E)), dies läßt sich reduzieren (vgl. QUINE, Methods of Logic4, S. 66) auf: —ι A —> —1Α ν E, womit eine Tautologie vorliegt (vgl. a. KALINOWSKI, L'axiomatisation, S. 159,165 Fn. 8). Entsprechendes gilt für —1 E —» (Α ν Y). 23 So z.B. BELING, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S. 239, für den Zweifelssatz: „Es steht somit der Nichtbeweis der Strafbarkeit dem Beweis der Nichtstrafbarkeit gleich."; genauso O r p o r o B H H , Ynenue o MamepuaAbHOÜ ucmune β ytOAoeHOM npou,ecce, S. 231 („corjiacHO npe3yMni;nn HeBHHOBHOCTH Henoxa3aHHan BHHOBHOCTL paBH03H3HHa HOKa3aHHOH HeBHHOBHOCTH": Gemäß der Unschuldsvermutung ist die nicht bewiesene Schuld gleichbedeutend mit der bewiesenen Unschuld.), auch S. 241 f.; DERS., MamepuaAbHan ucmuHa u cydeÖHbie doKa3amenbcmeo β coeemcKOM yzoAoenoM npou,ecce, S. 184, 211; DERS., Πραβο οδβιΐΗΗβΜΟΖο na 3aw,umy u npe3yMnu,un ueeuHOeHOcmu, S. 100; ebenso ROMERO ARIAS, La presunción de inocenia, S. 20. 24 Eine solche generelle, empirisch feststellbare closure rule für die Gleichbehandlung von konträren und kontradiktorischen Gegensätzen behauptet DWORKIN, No Right Answer?, S. 58 ff., 65 ff., 71 f., dazu JACKSON, Semiotics and Legal Theory, S. 193 ff.

Α. Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung

Gewißheit der Unschuld

keine Gewißheit der Schuld, Möglichkeit der Unschuld

445

p(S) = 1

p(S) = 0

p(S) * 1 RF m oder Vt m —» RF m Der prozessuale Normsatz lautet entsprechend: TBp - » RF p oder Vt p

RF p

Wann ein Element t p , das den prozessualen Tatbestand TB p erfüllt, zu bejahen ist, legen sekundäre Normen fest. Im Normalfall ist diese Prämisse zu bejahen, wenn ein unter den materiellen Tatbestand TB m subsumierbarer Umstand t m bewiesen ist, also zur in der Verhandlung gewonnenen, auf zulässige Beweisanträge etc. gestützten Überzeugung des Richters feststeht, kurz B(t m ): B(t m )

tp, so daß wegen t p

RF p folgt: B(t m )

RF p

Welche Rechtsfolge eintritt, wenn ein solcher Beweis nicht eindeutig möglich ist, folgt nur, wenn der Beweis notwendige Bedingung für die Bejahung des prozessualen Tatbestands und die Bejahung des Tatbestands notwendige Bedingung für die Rechtsfolge116 ist: B(t m )

tp und tp O RFp, so daß - , B(t m )

- , t p -> - , RF p

Die Wirkung einer Vermutung besteht nun darin, daß sie unter bestimmten Bedingungen den prozessual erheblichen Tatbestand tp ebenso konstituiert wie der Beweis.117 Die Bedingungen sind das Fehlen der Gegenbeweises (B(—, t m ) und eventuell der Beweis einer Vermutungsbasis, B(VB): B(VB) λ -π B(—ι t m )

tp

Da tp —» RFp, läßt sich dies auch direkt als Anordnung der prozessualen Rechtsfolge ausdrücici:en: B(VB) λ —, B(—, t m ) —> RF gewißheit des Ausgangs eines — nach hiesigem Verständnis jedenfalls die Strafrechtsfolge erst konstituierenden — Gerichtsverfahrens liegen, „weil der offiziellen Darstellung nach alle Entscheidungen im Recht schon vorentschieden sind, mithin keine Ungewißheit entstehen kann". 116 Genau genommen müßte die Rechtsfolgeanordnung dieser spezifischen Norm als 0(RF§ x ) formalisiert und für die Verneinung unterschieden werden: —10(RF$x) heißt nur, es ist nicht geboten, die Rechtsfolge anzuordnen. Ob es auch verboten ist, sie anzuordnen, 0(—, RF§X), folgt daraus allein noch nicht, s.o. Fußn. 29. Für das Strafrecht kann man allerdings Art. 103 Abs. 2 GG eine Norm entnehmen, die bei Verneinung der Prämisse die Rechtsfolgeanordnung nicht nur nicht gebietet, sondern verbietet. Vgl. statt vieler KOCH/RÜSSMANN, Juristische Begründungslehre, S. 53 ff. m. Fn. 2 f. 117 Die Differenz von prozessualem und materiellem Tatbestand wird von M U S I E L A K , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 23, im Ansatz erkannt, wenn er daraufhinweist, daß die Beweislastnorm sich darauf beschränke festzustellen, „ob" ein Tatbestandsstück erfüllt sei, aber nicht „wie", d.h. nicht konkrete Tatsachen fingiere. Ahnlich FRISCH, Festschrift Henkel, S. 273, 282 f.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

466

Die Vermutung verweist somit auf die Rechtsfolge einer entscheidungserheblichen N o r m . Diese prozessuale N o r m erfährt damit eine Tatbestandserweiterung: B(tm) ν h B(-, tm) λ B(VB)]

RFp

Zumeist wird dies über den Zwischenschritt des „Beweises" 1 1 8 ausgedrückt, weil eine Konstruktionsfigur des prozessualen Tatbestandes nicht verwendet wird: B(VB)

Λ

- , B ( - , t m ) - > B ( t m ) - » RFp

Möglich ist das vollständige „Kürzen" der Sachverhaltskonstitution natürlich nur bei N o r men, deren Tatbestand nur aus einem Merkmal, dem Vermutungsobjekt, besteht. Angenommen, eine N o r m ordnet eine Rechtsfolge bedingt durch die kumulativ verlangten und zu beweisenden materiellen Tatbestandsmerkmale t m l und t m 2 an: B(tml) Λ B(tm2) - » RFp und besteht z.B. f ü r das zweite Tatbestandsmerkmal eine Vermutung des Typs B ( V B ) λ -π B(—i t m 2 ) - » t p 2 so ließe sich der Tatbestand der N o r m alternativ so formulieren: [ B ( t m l ) λ B ( t m 2 ) ] ν [ B ( t m l ) a B ( V B ) λ - , B(—ι t m 2 ) ]

RFp

Der von M U S I E L A K gegen eine Deutung der Vermutung als Rechtsfolgebestimmung erhobene Einwand beruht also auf einer Verwechslung der praktischen oder prozessualen Rechtsfolge R F p mit der materiellen Rechtsfolge R F m , die auch nach seinem rechtstheoretischen Ausgangspunkt nicht identisch sein können. Diese Verwechslung hätte bei der Einstufung der Vermutungsfolge als „Fiktion" offenbar werden müssen. D e n n die gesetzgeberische Gleichsetzung der Existenz bzw. Nichtexistenz mit dem Befehl, eine Tatsache für existent oder nicht existent zu halten, im Wege der Fiktion wird schon länger als „Kurzverweis u n g " 1 1 9 auf dieselbe Rechtsfolge begriffen. 1 2 0 Lange wird hier schon vor den Gefahren einer Verdinglichung der fingierten Tatsache und einer Ausdehnung der Verweisung über G e b ü h r ohne Berücksichtigung des jeweiligen Regelungs- und Anwendungskontextes gewarnt. 1 2 1 So wird die behauptete Fiktion als Vermutungsfolge wie selbstverständlich nicht auf die materielle Rechtslage bezogen. 1 2 2

118

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Funktionsgleichheit von Beweis und Vermutung unter einen Oberbegriff zu fassen, der als „Beweis" im weiteren Sinne oder „Tatsachenfeststellung" begegnet, s. BIERLING, Juristische Prinzipienlehre, 4. Band, S. 38 ff., 41; LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 80 Fn. 22; GRAUL, Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 258 Fn. 139; auch FRISCH, Festschrift Henkel, S. 273, 275 m. Fn. 15. Der hier gewählte Oberbegriff ist der des (genauer: eines Merkmals des) prozessualen Tatbestands. 119 Begriff von ESSER, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen1, S. 37 u. ff. 120 LARENZ, Methodenlehre der Rechtswissenschaft', S. 251 ff. m.w.Nachw. 121 Bereits VON TUHR, Allgemeiner Teil, Band 2,1 S. 13 f.; ESSER, Wert und Bedeutung ¿1er Rechtsfiktionen1, S. 31 ff.; LARENZ, Methodenlehre der Rechtswissenschaft^, S. 252 f. 122 So ausdrücklich LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 63 ff., 6 5.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

467

Ob der Vermutungsschluß besagt, daß der vermutete Sachverhalt als real existent anzunehmen ist oder als fingiert, ist somit nur ein ungenauer sprachlicher Ausdruck für die Konstitution des praktischen, meist prozessualen Tatbestands. Der Unterschied wird einmal erheblich, wenn die Feststellung der „realen" Existenz eines Sachverhalts rechtsfolgenrelevant ist, z.B. wenn eine Freispruchsformel der erwiesenen Unschuld vorgesehen ist oder im Urteilstenor oder der Begründung danach differenziert wird. Zum anderen kann darin eine unterschiedliche Aussage über die Reichweite der Vermutung liegen: Wäre ein Vermutungsschluß kraft Gesetzes als mit der Wirklichkeit übereinstimmend anzusehen, ließe sich das als bindende Aussage über das Vorliegen des materiellen Tatbestandes t m ansehen, die zu einer einheitlichen Bindung aller Normen, deren Tatbestände eine Aussage über die reale Existenz, z.B. in Form des Nachweises des Vermutungsobjekts, anknüpfen, führen könnte. c) Anwendungsbereich der Vermutungen Auf welche Normen eine Vermutung verweist, ist normativ zu bestimmen. Es läßt sich hierbei keine prinzipielle Aussage darüber treffen, ob durch eine Vermutung nur der Untersatz für die eine im Augenblick entscheidungserhebliche Norm oder noch anderer Normen konstituiert werden soll. Insbesondere steht nicht a priori fest, daß die Vermutung den Sachverhalt für alle Normen, die denselben Tatbestand aufweisen, konstituiert. Ebensowenig wie andere Rechtssätze haben Vermutungen einen „natürlichen" Anwendungsbereich, vielmehr ist ihr Anwendungsbereich in Form einer tatbestandlichen Prämisse normativ zu definieren. Für welche Normen eine Vermutung sachverhaltskonstituierend wirkt, ihre Reichweite also, muß der normative Kontext im Wege der Auslegung der Vermutung — Existenz oder Fehlen einer besonderen Vermutungsbasis können ein erster Anhaltspunkt für den Anwendungsbereich sein — und der betroffenen Normen ergeben. Viele Vermutungen, vor allem im Zivilrecht, sind auf einen spezifischen Regelungskontext bezogen und dienen der Lösung einer bestimmten prozessualen Situation. Ob diese Vermutungen auch außerhalb ihres primären Regelungskontextes anwendbar sind - somit für die materielle Version der Norm gelten, indem sie t m anordnen - , ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit und bedarf wenigstens der Reflexion. Diese an sich triviale Feststellung wird bei Vermutungen verdeckt durch Konzeptionen, die in ihnen Aussagen über die Realität sehen und zudem nicht zwischen prozessualem und materiellem Normsatz unterscheiden, sowie von der Lehre der gesetzlichen Sicherheit, die dem Vermutungsobjekt eine quasi-reale Existenz zukommen läßt. Darin liegt jeweils eine Verdinglichung des Vermutungsobjekts, die dazu führt, die Vermutung auf alle Kontexte anzuwenden, in denen der vermutete Sachverhalt relevant werden kann, weil das Vermutungsobjekt „existiert" oder „gesetzlich sicher" ist. Diese Annahme absoluter Tatbestandskonstitution durch eine einmal betätigte Vermutung ist möglich und oft nicht nur unschädlich, sondern zur Sicherung konsistenter Sachverhaltsbeurteilung (Entscheidungsharmonie) wünschenswert. Sie kann aber auch zu Friktionen führen wie sie LEIP O L D am Beispiel zivilrechtlicher Vermutungen demonstriert hat. 123 Deutlicher tritt die

123 L E I P O L D , Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 8 6 f.: So werde nach § 1 2 5 3 Abs. 2 Satz BGB die Rückgabe des Pfands vermutet, insoweit es um das Erlöschen des Pfandrechts gehe. War aber der Pfandgläubiger treuhänderischer Inhaber der gesicherten Forderung und verlangt nun sein Hintermann Schadensersatz, weil der Treuhänder das Pfand vorzeitig zurückgegeben habe, so gelte die Vermutung der

1

468

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

normative Definition des Anwendungsbereichs zutage, wenn es um die Übernahme von Vermutungen aus anderen Rechtsgebieten geht. 124 Die Relativität der Vermutungswirkung wird deutlicher, wenn man Vermutungen als tatbestandskonstituierende Verweisungsnormen versteht. Traditionell wurden Rechtsvermutungen nur auf die Sachentscheidungssituation im Prozeß bezogen, wie auch die Kontroverse um ihre Wirkung als Beweis- oder Beweislastregel zeigt, 125 so bei WEBER 1 2 6 und den neueren Abhandlungen von R O S E N B E R G , 1 2 7 L E I P O L D , 1 2 8 M U S I E L A K , 1 2 9 PRÜTTING 1 3 0 oder WRÓBLEWSKI 1 3 1 . Folglich wird der Zweifel über das tatsächliche Vorliegen des Vermutungsobjekts als Tatbestandsmerkmal der Vermutung bezeichnet. 132 In diesem Verständnis kommt ihnen außerhalb des Prozesses keine Bedeutung zu. 133 Gewiß erzeugen Beweis- oder Beweislastregeln Vorwirkungen, doch sind dies zum Teil faktische Wirkungen oder Reflexe wie die Beweisführungs- oder Behauptungslast. 134 Eine über die Entscheidungssituation hinausreichende Wirkung von Vermutungen scheint sich indes aufzudrängen, wenn man den Gegenbeweis nicht nur wie in der obigen Formalisierung als negative Bedingung begreift, sondern auch zeitlich als Endpunkt eines durch die Vermutung geschaffenen provisorischen Rechtszustands. Diese zeitliche Dimension wird selten thematisiert, vielleicht weil sie als selbstverständlich vorausgesetzt wird, denn die geläufigen Formeln bestimmen die Wirkung einer Vermutung meistens „bis" zum Beweis des Gegenteils. Reifiziert man zusätzlich die Vermutungsfolge als gesetzliche Anordnung einer Tatsache, so scheint an einer außerprozessualen Wirkung kaum noch ein Zweifel

Rückgabe nicht. Ebenso gelte die Vermutung des § 484 BGB, daß der Hauptmangel beim Viehkauf schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe, nur für die Gewährleistungsansprüche des Käufers. Mache der Verkäufer selbst Ersatzansprüche gegen seinen Lieferanten geltend, so müsse er beweisen, daß die Erkrankung schon vor dem Weiterverkauf vorgelegen habe. L E I P O L D folgert daraus, daß Vermutungen nicht auf Tatsachen, sondern auf die Annahme eines bestimmten Tatbestandsmerkmales gerichtet und somit nicht Beweisregeln, sondern Beweislastnormen seien. Ebenso M U S I E L A K , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 21 ff., 24 f. m.w.Nachw.; P R Ü T T I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 152 ff., 154. 124 Vgl. G . K L E I N , Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S . 41 ff. m.w.Nachw., zur Behandlung außerstrafrechtlicher Vermutungen im Strafrecht. 125 Siehe nur M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S. 170, 178, 181, 219, 223 m.w.Nachw. Ausdrücklich für eine Beschränkung auf den Prozeß: E R N S T W O L F , Allgemeiner TeiP, S. 442 f. (Vermutung als „prozeßrechtliche Hilfsregel, die nur im Prozeß für das Gericht verbindlich sei"); V O L L M E R , Auslegung und ,^Auslegungsregeln", S. 286 u. ff. 126 A . D . W E B E R , Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung, S . 63 ff. 127 R O S E N B E R G , Die Beweislast'', S . 199 ff. 128 L E I P O L D , Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S . 76 ff. 129 M U S I E L A K , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S . 60 ff. 130 P R U T T I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S . 48 ff. 131 W R Ó B L E W S K I , Structure et fonctions des présomptions juridiques, S . 43, 56. 132 L E I P O L D , Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S . 93,100; M U S I E L A K , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 62, 67. 133 H . K A U F M A N N , Strafanspruch, S . 165. 134 Dazu M U S I E L A K , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S . 32 ff. Nur die faktischen verhaltenslenkenden Wirkungen, die die Verteilung des Prozeßrisikos mit sich bringt, zählt H E I N R I C H , Die verfassungswidrige Beweislast, S. 142 f., 92 ff, auf.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

469

zu bestehen. Jedenfalls für „voraussetzungslose" Vermutungen oder Interimswahrheiten ist dies konstruktiv möglich; weil der die Vermutungswirkung ausschließende Gegenbeweis wohl nur im Prozeß erbracht werden kann135 - es sei denn, man ließe eine zu spezifizierende Uberzeugung vom Gegenteil bei zu spezifizierenden Personen zu —, käme die Vermutung einer auflösend bedingten atypischen materiell-rechtlichen Regelung im Sinne P L Ó S Z ' gleich. Schwieriger stellt sich dies bei Vermutungen dar, die an eine besondere Ausgangstatsache gebunden sind, welche im Prozeß des Beweises bedarf. Löst man sich von der prozessualen Bindung des Beweises von Vermutungsbasis und Gegenteil, so ist eine Vermutung in jeder Entscheidungssituation als praktische Handlungsanleitung zur Uberwindung bestehender Ungewißheit über handlungsleitende Umstände denkbar.136 Eine Begründung für die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der gesetzlichen Vermutungen gibt M O T Z E N B Ä C K E R als Konsequenz der Lehre von der gesetzlichen Sicherheit. In außerprozessualen Situationen besäßen Vermutungen eine Ordnungsfunktion und leisteten Orientierung. Der gesetzliche Befehl, den vermuteten Tatbestand als gewiß anzunehmen, sei solange zu befolgen, wie die Vermutungsbasis gegeben sei. Die „Dauerverpflichtung zur Vermutung" habe den Zweck, das rechtliche Handeln aufgrund dieser Vermutung zu ermöglichen und zu erleichtern. Als sekundäre Wirkung bestehe ein Rechtsschein für die vermutete Tatsache, demgemäß man sich verhalten müsse.137 Mit anderen Worten, die Vermutung produzierte eine auflösend bedingte materielle Rechtsfolge. Ob und in welcher Weise eine Vermutung außerhalb des Prozesses oder einer Sachentscheidungssituation gilt, muß nach der hier vertretenen Ansicht normativ bestimmt werden.

4.

V e r m u t u n g u n d Beweislast

a) Materielle

und formelle

Beweislast

Vermutungen werden heute überwiegend als materielle Beweislastregeln begriffen, die für den Fall der nicht eindeutigen Sachverhaltsrekonstruktion eine Entscheidung für eine der meistens zweiwertigen Rechtsfolgen der entscheidungserheblichen materiellen Norm ermöglichen. „Beweislast" in diesem materiellen Sinne138 besagt nicht mehr als die Verwerfung einer von zwei kontradiktorischen Sachverhaltshypothesen im Falle des non liquet, d.h. bei Fehlen sowohl des Beweises als auch des Gegenbeweises für ein Tatbestandsmerkmal139. Unterstellt wird dabei eine Tatbestandsformulierung, die nicht die eindeutige gerichtliche Feststellung der Tatbestandsmerkmale als notwendige Prämisse der Rechtsfolgeanordnung

135

Z u dem wenig praktischen Konzept eines „außergerichtlichen Beweises" s. POHLE, Festschrift Dölle, Bd. II, S. 317, 328 ff.; L E I P O L D , Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 24 f. 136 Dazu ULLMANN-MARGALIT, 80 Journal of Philosophy 143,154 ff. (1983). 137 M O T Z E N B Ä C K E R , Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht, S . 301 ff, 304. 138 Synonym gebrauchte Bezeichnungen wie objektive Beweislast, Feststellungsrisiko etc. weist PRÜTT I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 6, nach. 135 Entspricht der „prozessualen Ungewißheit" M U S I E L A K S , Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 72, dagegen V O L L M E R , Auslegung und „Auslegungsregeln", S. 280 f., 290, mit der hier im Text verwendeten Umschreibung, die letztlich nur semantisch präziser ist.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

47°

versteht („Erwiesenheitstheorie") 140 oder bereits Beweismaßregeln inkorporiert, 141 so daß für den Fall, daß nach der Beweiserhebung offen bleibt, ob ein Tatbestandsmerkmal gegeben ist, keine Rechtsfolgeentscheidung durch eine materiell formulierte N o r m , deren Tatbestand das prozessuale non liquet nicht berücksichtigt, determiniert ist. 142 Die materielle Beweislastregel überbrückt dieses Dilemma und ist somit Entscheidungsregel. 143 Anders gewendet dienen Beweislastregeln als Hilfsnormen der Übersetzung des materiellen Normsatzes in den prozessualen Normsatz. Ausgegangen wird stets von einem materiellen Normsatz, der auf ein Bikonditional 144 vereinfacht wird: tm

R F m , so daß t m

> R F m und —< t m —> —,

Aus der materiellen Regelung der kontradiktorischen Gegensätze wird als sicher eine Regelung für die konträren Gegensätze des prozessualen Tatbestands gefolgert: B ( t m ) ->· RFp und B(-> t m ) - » - ι RFp Für ungeklärt wird die „dritte", den konträren Gegensätzen gegenüberstehende Situation Y, die wie oben gezeigt 145 dem non liquet entspricht, gehalten: -I

B ( t m ) Λ - , B(—ι t m ) - » RFp ν - ι R F p

Die materielle Beweislastregel normiert für diese Situation eine eindeutige Folge. Anstatt einer unmittelbaren prozessualen Rechtsfolgebestimmung wird aus den oben bereits ange-

140

Eine gesonderte Beweislastregel hat daher keinen Raum in der Konzeption LEONHARDS, Die Beweislast1, S. 127 ff., nach welcher die Prämisse lautet: (genau) „wenn der Tatbestand a + b erwiesen ist...", woraus für den Fall der Nichterweislichkeit die Verneinung der Rechtsfolge folgt ebenso wie für das konträre Gegenteil des Beweises des NichtVorliegen des Tatbestandes a + b, das nur dann wahr ist, wenn nicht der Tatbestand erwiesen ist. Dagegen LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 22 ff.; M u SIELAK, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 4 ff.; PRUTTING, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 145 ff, alle m.w.Nachw. Zwingend ist diese Annahme LEONHARDS bei Anknüpfung an den Beweis von Tatsachen anstatt der Tatsachen selbst indessen nicht. So postuliert KELSEN, Reine Rechtslehre2, S. 242 ff, 248, daß die Rechtsfolge auszusprechen sei bei Erwiesenheit des Tatbestandes, und zu verneinen sei, wenn das Gericht festgestellt hat, daß der Tatbestand nicht erfüllt ist. Daraus allein läßt sich entgegen GRAUL, Abstrakte Gefiihrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 274 Fn. 218, nicht ableiten, welche Rechtsfolge im Fall des non liquet anzuordnen ist. 141 Wie oft im Verwaltungsrecht, s. NELL, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 215 ff. 142 Eingehend LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 19 ff., 29 f.; MUSIELAK, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 19 ff; dem folgend GRAUL, Abstrakte Gefiihrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 279 ff; etwas abweichend ROSENBERG, Die Beweislasf, S. 1 ff, 12. Wie der Text auch ISENSEE, Die typisierende Verwaltung, S. 121. 143 LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 61 ff; MUSIELAK, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 23. 144 Stellt eine Norm einen einfachen materialen Konditional (—> oder Z>) dar, so folgt aus der Verneinung der Prämisse nicht, daß die Rechtsfolge nicht eintreten soll. Nur bei einem Bikonditional („genau/ nur dann, wenn", formalisiert mit: —1 RF p Weil Vermutungen aber herkömmlich entweder als Tatsachenaussagen oder als Fiktionen mit der Funktion des Beweisersatzes aufgefaßt werden, erfolgt eine Gleichsetzung mit dem Beweis des Gegenteils: - B ( g =: B(—1 t m )

165

A.D.WEBER, Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung1, S. 74 ff. Das Erfordernis des Nachweises eines Tatbestandsmerkmales ließe sich so formalisieren (t für Tatbestandsmerkmal, B(t) für eindeutigen Beweis dieses Tatbestandsmerkmals, RF für Rechtsfolge): 170

I H R F M B

B(t),

die Vermutung für das Gegenteil wäre: —1 B(t) - > - i t woraus sich für die Normanwendung ergäbe: —11 —> —1 RF. Dies folgt aber ebenso aus der anfänglichen Normformulierung.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

476

Wie oben gezeigt, folgt aus dem Fehlen des Beweises einer Tatsache aber nur, daß entweder ihr NichtVorliegen bewiesen ist oder überhaupt kein eindeutiger Beweis vorliegt: - , B(t m )

B(—ι t m ) ν (-, B(t m ) λ - , B(—ι t m ))

Soll mit der Gleichsetzung, die das non liquet als erbrachten Gegenbeweis definiert, eine Norm ausgedrückt werden, so ist diese identisch mit einer Beweislastregel. Soll damit eine Aussage über die Tatsache eines Beweises gemacht werden, so ist sie unvollständig. Diese Ungenauigkeit ist dann unschädlich, wenn sie als normative Gleichsetzung tatsächlich verstanden wird. Daß die Aufstellung einer Vermutung anstelle einer Beweislastregel gleichsam zuviel regelt und deshalb zu den von W E B E R demonstrierten Friktionen führt, setzt die nicht erzwungene Annahme voraus, daß man den Vermutungsschluß absolut setzt - „als wahr" annimmt - und für jeden passenden Tatbestand vorschreibt. Allgemein läßt sich damit festhalten, daß in jedem Falle, in dem die Änderung eines gegebenen Rechtszustandes notwendig durch einen diese Änderung explizit festsetzenden Akt erfolgen muß - dergestalt, daß ein mit einer Ausnahme versehenes generelles Verbot171 der Rechtsänderung gilt —, diese notwendige Bedingung negativ durch eine (voraussetzungslose) Vermutung oder Interimswahrheit für die Fortdauer des Ausgangszustandes und zugleich für das Fehlen der Rechtsfolgebedingungen ausgedrückt werden kann, die durch jenen expliziten Akt widerlegt wird. Dabei kann dieser die Rechtsänderung herbeiführende Akt sich zugleich als materieller Grund der Änderung darstellen (so das Gesetz) oder eine Aussage über einen von dem Akt verschiedenen materiellen Grund der Änderung enthalten, d.h. die Erfüllung eines materiellen Tatbestandes, obschon die Existenz des Aktes selbst konstitutiv172 für die angeordnete Änderung ist (Urteil, Verwaltungsakt). Insbesondere ein Nachweis-, Feststellungs- und Begründungserfordernis jeglicher Art für oder gegen das Vorliegen eines materiellen Tatbestandsmerkmals kann so formuliert werden.' 73 In diesem Sinne, als Festlegung der notwendigen Bedingungen einer Verurteilung, versteht vor allem 174 S T R O G O V I C die Unschuldsvermutung. Ist ein Begründungsakt in diesem Sinne notwendige Prämisse für eine Handlung, so ist dies äquivalent mit der Aussage, daß ohne diese Begründung die Handlung verboten ist. Wenn die Begründung selbst ein aktives Handeln erfordert und somit eine abgrenzbare zeitliche Periode ist, so gilt bis zu ihrem Gelingen, daß mangels Begründung beispielsweise das zu begründende Staatshandeln nicht stattfinden darf. Ist ζ. B. ein Gesetz vonnöten, um die

171 Wie bereits erwähnt, o. Fußn. 29, ist das deontische Gegenteil eines Gebots die Freistellung, nicht das Verbot einer Rechtsfolge. Wenn es um staatliche Eingriffe geht, so liegt in dem Vorbehalt des Gesetzes schon eine normative Überführung der Verneinung einer Eingriffsermächtigung in ihr Verbot. 172 Das heißt nicht, daß materielle Rechtsfolgen eines Urteils behauptet werden, sondern daß sich aus dem materiellen Recht keine Urteilsfolgen ergeben. 173 So schon MAC-IVER, Revista de ciencias penales 1958 (Heft 2), 1, 8 f. BENN & PETERS formulieren beispielsweise das von ihnen als fundamentales Gerechtigkeitsprinzip bezeichnete "principle of equality" nicht als positives Gleichbehandlungsgebot, sondern als Vermutung gegen Ungleichbehandlung, die demjenigen eine Rechtfertigungslast (onus of justification) aufbürdet, der eine Differenz behauptet, BENN & P E T E R S , The Principles of Political Thought, S. 127 f.; dazu K A T Z N E R , 70 Journal of Philosophy 89 ff. (1973). 174 ΟτροΓοβΗΜ, Ynenue o MamepuaAbHoü ucmune β yzoAoenoM npoi^ecce, S. 237; DERS., MamepuanbHOH ucmuna u cydeÖHbie doKa3ameAbcmeo β coeemcKOM yionoenoM npou,ecce, S. 196.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

477

Freiheit des Bürgers einzuschränken, so ist eine Freiheitsbeschränkung ohne u n d bis zum Erlaß des Gesetzes verboten. Der Vorbehalt des Gesetzes läßt sich daher auch als „Freiheitsvermutung" ausdrücken. 1 7 5 Eine Begründungspflicht u n d die korrespondierende Vermutung sind beide Beschreibungen der Aktualisierung desselben Bikonditionals: Die Begründungspflicht hebt hervor, daß ein Handeln nur nach aktiver Begründung vorgenommen werden darf. Die „Vermutung" beschreibt die zeitliche Dimension des Zustands der noch nicht geleisteten, aber möglichen Änderung, dem ein gegenwärtiges Verbot des begründungsbedürftigen H a n delns entspricht. Mißlingt die Begründung, bleibt es beim Ausgangszustand der nicht-existenten Begründung. Eine eigenständige Bedeutung k o m m t der Formulierung als Vermutung insofern zu, weil sie verdeutlicht, daß für die Rechtsfolge nicht nur ein materieller G r u n d , sondern auch ein Akt der Begründung (des Beweises, der Feststellung oder sonstigen förmlichen oder formlosen Kommunikation des Grundes) erforderlich ist u n d daß die Situation des Zweifels mit dem Fehlen des Grundes gleichzusetzen ist, denn Vermutungen werden ihrem Ursprung als prozessuale Hilfsnormen gemäß erst dann bemüht, wenn eine eindeutige Lage fehlt. Die Rede von der Vermutung des NichtVorliegens der Voraussetzungen für einen Eingriff ist also nicht falsch, wenn sie auf das NichtVorliegen der Begründung bezogen wird u n d betonen soll, daß allein die gelungene Begründung eine bestimmte Rechtsfolge auslöst, sie begründet aber nichts: Weder begründet die Vermutung die Begründungspflicht, noch die Begründungspflicht die Vermutung, beide sind nur semantisch unterschiedlich. Allerdings gibt dieser Gebrauch des Terminus' der „Vermutung" Anlaß zu Mißverständnissen u n d Begriffsverwirrung, wenn die normative Gleichsetzung des fehlenden oder mißlungenen Begründungs*z£ö mit dem NichtVorliegen des zu behauptenden Grundes als Aussage über Tatsachen mißdeutet wird, exemplarisch in der sowjetischen u n d italienischen Diskussion. Solche Fehldeutungen sind gerade bei Begründungen, die in einer selbst rechtlich geregelten Form erfolgen müssen wie im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, nicht ausgeschlossen. D e n n gewöhnlich wird der normative Konditional statisch u n d materiellrechtlich u n d nicht dynamisch, temporal u n d prozessual gedacht, wie sich an dem üblichen „Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung" zeigen ließ. Diese Verwechslung ist wie bei den Beweislastregeln unschädlich, solange nur eine Aussage über die in Rede stehende Rechtsfolge gemacht wird, weil das Fehlen des Grundes die gleichen Wirkungen hat wie das Fehlen oder Scheitern des Begründungsaktes oder -Verfahrens, nämlich das Verbot der jeweiligen Rechtsfolge. D e h n t man sodann über die Hypostasierung der Vermutungsfolge das Begründungserfordernis auf andere prozessuale Normsätze aus oder verdinglicht man den Vermutungsschluß zu einem Existentialurteil über ein Tatbestandsmerkmal (t m ) einer materiellen N o r m , so führt dies mitunter zu Merkwürdigkeiten wie für die Unschuldsvermutung sogleich zu demonstrieren sein wird. Deutlich wird dies schon an folgenden Beispielen: Kann eine Fahrerlaubnis wegen habitueller Fahruntüchtigkeit nur in einem gerichtlichen Verfahren entzogen werden, so könnte man daraus eine „Vermutung" für die Fahrtüchtigkeit bis zum Beweis des

175

So FLEINER, Institutionen des Deutschen VerwaltungsrechtS. 131; H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 46 f.; DÜRIG, AÖR 79 (1953/54), 57· 82. Der Begriff suggeriert allerdings zusätzliche Regelungsinhalte, die sich als problematisch darstellen, dazu BERG, Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung, S. 90 ff.

47»

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Gegenteils folgern, wenn damit nicht mehr gesagt werden soll, als daß der Führerschein ansonsten und zuvor aus diesem Grund nicht entzogen werden darf. Daß vor einem solchen Urteil in allen Situationen unbeirrt von der Fahrtüchtigkeit eines Verkehrsteilnehmers auszugehen sei, wäre eine Fehldeutung. Trifft den Bürger ein Begründungszwang, so in dem Erfordernis des formalisierten Nachweises seiner Fähigkeit zur Teilnahme am Straßenverkehr als Bedingung einer generellen Fahrerlaubnis, so liegt in der „Vermutung" als temporärer Verneinung der geleisteten Begründung nicht die Tatsachenbehauptung, Bürger ohne Führerschein könnten nicht regelgerecht Auto fahren. Ebensowenig folgt aus einem noch nicht erbrachten Gesundheitsnachweis, erforderlich etwa für eine Einstellung in den öffentlichen Dienst, eine Vermutung im Sinne einer Tatsachenbehauptung, daß alle Anwärter krank sind bis zum Beweis des Gegenteils, sondern nur die Rechtsfolge, daß sie noch nicht eingestellt werden können, weil sie noch kein Gesundheitszeugnis übersandt haben.

5. Folgerungen für die Unschuldsvermutung" als gesetzliche Vermutung Vorausgesetzt sei die Existenz einer gesetzlichen Vermutung der Unschuld. Ihre Genese unterschiede sich nicht von anderen Rechtssätzen und hinge insbesondere nicht davon ab, ob sie an ein Wahrscheinlichkeitsurteil anknüpfte. Wie später noch zu zeigen sein wird, ist W R Ó B L E W S K I darin zuzustimmen, daß sie sich nicht als para-empirische Vermutung klassifizieren läßt, sondern als non-empirische. Diese Einordnung hat indes keinen Einfluß auf die Methode der Rechtsfolgenanordnung. a) Die Komponenten der Vermutung Die Unschuldsvermutung ist grundsätzlich als gesetzliche Vermutung darstellbar, doch ergibt sich für ihren Inhalt aus dieser Form nur sehr wenig. Entscheidend ist, wie die Komponenten der Vermutung bestimmt werden, also die Vermutungsbasis, der Gegenbeweis und die Rechtsfolge. Mit W R Ó B L E W S K I ist festzuhalten, daß diese Komponenten und ihr Verhältnis zueinander rein normativ bestimmt sind. Es gibt daher kein „richtiges" Verständnis der Unschuldsvermutung, das allein aus ihrer Vermutungsstruktur abzuleiten wäre. Ein umgangssprachliches Verständnis der Unschuldsvermutung dergestalt, daß die Justizbehörden die Unschuld des Verdächtigten für möglich oder wahrscheinlich zu halten hätten, erschöpfte sich in einer Mahnung vor Befangenheit, selektiver Sachverhaltswahrnehmung infolge blinden Verfolgungseifers oder Urteilsperseveranz, deren Einhaltung rechtlich nur schwierig einzufordern ist. Sofern Unvoreingenommenheit der Verfolgungsbehörden und eine objektive SachVerhaltsermittlung garantiert werden soll wie es dem Verständnis der vormals sozialistischen Staaten entsprach, beschränkt sich der Appell auf eine nicht-juristische „Vermutung" der Unschuld. Bisweilen wird die Unschuldsvermutung als bloße „Tatsachenvermutung" ohne eigene Rechtswirkung, mithin als praesumptio hominis beschrieben.176 Mehr als Motiv für einen

SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, f.; A U E R , Die Verteilung der Beweislast, S . 39 f.; dem folgend H . F R A N K E , Freispruch mangels Beweises, S. 50 ff., mit mißverständlicher Terminologie. 176

268

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

479

Rechtssatz könnte sie in der Gestalt nicht sein. 177 Hier sollen aber mögliche rechtliche Wirkungen untersucht werden. aa) Vermutungsbasis Als Vermutungsbasis für die Unschuldsvermutung wird von einigen Autoren die Verdächtigung vorgeschlagen, weil es ihrer sonst nicht bedürfe. 178 W R Ó B L E W S K I nimmt an, daß es keines Beweises einer Vermutungsbasis bedürfe und die Vermutung für jede Tatsachenkonstellation gelte. Für die Geltung im Strafprozeß ergibt sich daraus kein Unterschied. Entgegen der Ansicht K Ö S T E R S zeigte sich keine Schwierigkeit in der Konstruktion einer „voraussetzungslosen" Vermutung, weil Voraussetzungen und damit „Geltungsbedingungen" durchaus bestehen, diese nur so allgemein sind, daß sich eine Umschreibung erübrigt. Es erscheint daher nicht notwendig, an der Begrenzung auf eine Verdächtigung festzuhalten, wenn damit nicht zugleich eine Beschränkung des Anwendungsbereichs auf das Strafverfahren ausgedrückt werden soll.179 Unklar bleibt an der Konstruktion PAEFFGENS, warum erst der Tatverdacht das Movens der Unschuldsvermutung bilden soll. Das Argument, ansonsten bedürfe es ihrer nicht, unterstellt schon ein gewisses Maß rechtsstaatlicher Gesittung, nämlich daß nur aufgrund Tatverdachts ein Strafverfahren betrieben wird. Warum aber sollte nicht auch der Jedermann, gegen den aus völlig willkürlichen Gründen ohne Tatverdacht ein Strafverfahren eingeleitet wird, als unschuldig gelten? Aktuell würde die Unschuldsvermutung gewiß erst mit dem drohenden Eingriff in die Rechte eines Bürgers, doch ist dies bei anderen (Grund-) Rechtsgewährleistungen nicht anders180 und betrifft nur die Möglichkeiten ihrer Verletzung, nicht den Beginn ihrer Geltung. 181 Daß die Unschuldsvermutung außerhalb einer Verdächtigung selten praktisch würde, mag zwar zugestanden werden. Sie unabhängig davon anzuordnen, würde immerhin von Abgrenzungsschwierigkeiten um den Begriff der Verdächtigung entlasten. Die allgemeinste Vermutungsbasis könnte die Eigenschaft, ein Mensch zu sein, darstellen. Die Bezeichnung der Unschuldsvermutung als Interimswahrheit182 meint nichts anderes als eine solche „voraussetzungslose" Vermutung, obwohl der Grund für diese Klassifizierung oft darin liegt, daß es sich nicht um einen paraempirischen Satz handelt.

177 Inkonsistent daher H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, der die Unschuldsvermutung einerseits in Art. ι G G verortet und ihr Verfassungsrang zugesteht (S. 48) sowie als Grund der Beweislastverteilung im Strafprozeß und der Maxime in dubio pro reo (S. 51 f.), andererseits sie als „schlichte Tatsachenvermutung" klassifiziert (S. 51), wobei diese „Tatsachenvermutungen" „nichts mit Rechtswirkungen zu tun" haben (S. 51), doch zugleich Beweislastregeln (S. 52) sein sollen. 178 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 165 ff.; PAEFFGEN, Haftgründe, Haftdauer undHaftprüfung, S. 113, 133 Fn. 90; SK-StPO/PAEFFGEN, Vor § 112 Rn 26. 179 So wohl GRAUL, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, S. 238. 180 Sachlich ebenso ILLUMINATI, La presunzione d'innocenza dell'imputato, S. 185. 181 So VÁZQUEZ SOTELO, «Presunción de inocencia», S. 354. 182

VÁZQUEZ SOTELO, «Presunción de inocencia», S. 273 u. ff.; VEGAS TORRES, Presunción ile inocencia,

S. 212; JAÉN VALLEJO, La presunción de inocencia, S. 33 Fn. 24.

480

bb)

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Gegenbeweis

Welcher Art der die Vermutungsfolge ausschließende Gegenbeweis ist, läßt sich aus der Vermutungsstruktur nicht entnehmen und bedarf originärer Setzung. 183 Möglich ist dabei die gesamte Bandbreite von bloßem Schuldindiz bis hin zum rechtskräftigen Urteil. O b als Beweisregeln konzipierte Schuldvermutungen zulässige Mittel des Gegenbeweises sind, ist ebenfalls prinzipiell offen. Versteht man die Unschuldsvermutung als para-empirischen Satz, gar nur als approbierten Erfahrungssatz, wird man an den Gegenbeweis keine hohen Anforderungen stellen, wie es in der voraufklärerischen Epoche und im kanonischen Recht noch jüngst der Fall war. Will man zum Schutze des Beschuldigten und Angeklagten ein Verbot der Vorwegnahme der Schuldfeststellung oder Sanktionen erreichen, so wird man für den Gegenbeweis wenigstens das erstinstanzliche Urteil fordern. O b erst ein rechtskräftiges Urteil hinreicht, m u ß sich nach dem spezifischen Regelungszweck richten. Nicht einsichtig ist die Annahme einer ««widerleglichen Vermutung, 184 wenn damit mehr ausgedrückt werden soll 185 als die Irrelevanz der jeweiligen persönlichen Schuldüberzeugung bei Staatsanwalt oder Richter vor dem rechtskräftigem Schuldspruch. Schließlich kann die angeordnete Rechtsfolge doch mit rechtskräftigem Urteil ein Ende finden. Da das für zulässig gehaltene endgültig verurteilende Erkenntnis die „gesetzliche Sicherheit" für die Schuld des Betroffenen, also das genaue Gegenteil der Rechtsfolge der Unschuldsvermutung, anordnet, ist die Unschuldsvermutung auch nach dieser Ansicht widerleglich. cc) Vermutungsobjekt:

reale

Unschuld

Versteht man Vermutungen als Anordnung eines Verhaltens und nicht als Aussage über Realität, so ergibt sich vor allem für die Rechtsfolge der Vermutung keine zwingende Festlegung, sondern die Abhängigkeit von normierender Setzung und Norminterpretation. Zunächst wird als Vermutungsschluß eine Aussage über die materielle oder reale Unschuld betrachtet.

183

Im Zivilprozeßrecht wird der „Gegenbeweis" regelmäßig als Hauptbeweis verstanden, so daß das Gegenteil des Vermutungsobjekts zur Uberzeugung des Richters feststehen muß, s. nur ROSENBERG/ SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozeßrecht, § 1 1 4 1 4 a) S. 656; extensive Nachw. zur älteren Strafprozeßlehre bei GRAUL, Abstrakte Gefahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 234 f. Zum niedrigeren Beweismaß für die Entkräftung belastender Vermutungen im Common Law s.o. S. 266 f., 329. 184 P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S. 49, 51; I l p o K y p a T y p a CoK>3a CCP, Teopun doKasameAbcme β coeemcKOM yzoAoenoM npouficce, HacTb oömaa, S. 446. 185 Darauf zielt die Bezeichnung als „unwiderleglich" bei ITpoKypaTypa Coio3a CCP, Teopun doKa3ameAbcme β coeemcKOM yionoenoM npoifecce, HacTb o6maa, S. 446: „HeonpoBepjKHMbiö xapaKTep N P E 3 Y M I M H H HCBHHOBHOCTH COCTOHT Β TOM, HTO, no O Ö M E M Y npaBHJiy, ebieody o euHoenocmu ÒOAMHO npeduiecmeoeamb paccAedoeaHue u cydeönoe paccMompenue yzoAoeuozo òena co eceMU npucymuMU UM zapanmuHMU u amo ycmanoeAeuHbiü 3ÜKOHOM nopndoK ne Moxem öbimb usMenen, m.e. omeepzHym, no ycMompeHuw CAedoeameAn, ηροκγρορα u cyda, ΧΟΤΗ 6Η OHH H coöpajra HeocnopHMbie, C HX T O U C H 3 p e H H H , R0Ka3aTejibCTBa BHHOBHOCTH oÖBHHüeMoro." (Hervorh. im Original) [Der unwiderlegliche Charakter der Unschuldsvermutung besteht darin, daß, nach allgemeiner Regel, der Schlußfolgerung auf die Schuld die Untersuchung und gerichtliche Überprüfimg der Strafiache mit allen ihr eigenen Garantien vorausgehen müssen und diese vom Gesetz festgelegte Reihenfolge nicht geändert, d.h. verletzt, werden darf nach dem Gutdünken des Untersuchungsführers, Staatsanwalts und Gerichts, obwohl sie ihrer Ansicht nach unumstößliche Beweise der Schuld des Angeklagten gesammelt haben mögen.].

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung (1) Anwendung (a)

481

im Prozeß bei der Sachentscheidung

Konstruktionsmöglichkeiten

N i m m t man als Voraussetzung der Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung in dieser Weise die Situation des nicht eindeutigen Beweisergebnisses im Strafverfahren, so umfassen die Möglichkeiten die Anordnung, das Vermutungsobjekt für wahr zu halten oder zu verfahren, als ob es wahr wäre, oder ohne Aussage über das Vorliegen des Tatbestandes die Rechtsfolgen einer fraglichen Strafnorm zu verneinen. 186 Sie fungiert entweder als Beweisregel, wenn die Unschuld als erwiesen anzunehmen wäre, oder als materielle Beweislastregel, 1 8 7 wenn die Zweifelssituation durch Wahl der Rechtsfolge der erwiesenen Unschuld oder Verneinung der Rechtsfolge der erwiesenen Schuld gelöst wird. Im letzteren Fall wäre die Unschuldsvermutung gleichbedeutend mit dem Zweifelssatz in dubio pro reo und zugleich eine Konkretisierung dieses Satzes, 188 der ansonsten auch so verstanden werden könnte, daß er nur eine im Vergleich zur Verurteilung günstigere Rechtsfolge anordnet, wie sie früher in der Instanzentbindung bestand. 189 Sofern ein non liquet Tatbestandsvoraussetzung ist, besteht zwischen Beweisregel und Beweislastregel 190 ein Unterschied nur in der Begründung und möglicherweise in der Qualität der Rechtsfolge, wenn für erwiesene U n schuld besondere Regelungen bereitstehen. Eine Beweisregel kann hingegen schon an das gänzliche Fehlen des Schuldbeweises anknüpfen, 1 9 1 während Beweislastregeln ihrem Begriff

186 Siehe oben S. 456 ff. Vgl. WRÓBLEWSKI, Structure et fonctions des présomptions juridiques, S. 43, 67 ff., 69. 187 Versteht man Vermutungen ausschließlich als Ausnahmen von der Grundregel, daß jeder Kläger seine Behauptung zu beweisen habe, dann läßt sich schließen, daß die Unschuldsvermutung in Verfahren, in denen die Anklage die Beweislast trifft, rechtlich sinnlos sei, so MEYER, 60 Geo.L.J. 1381, 1441,1447 f., 1462 f. (1971-72). Da man aber wie gezeigt Beweislastregeln als Vermutungen reformulieren kann, hindert nichts, auch eine Grundregel so umzuformen und in der Beweislast der Anklage die Unschuldsvermutung verwirklicht zu sehen. Es handelt sich letztlich bloß um terminologische Beliebigkeiten. 188 So ausdrücklich LEIPOLD, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 130 ff 189 Dazu VEGAS TORRES, Presunción de inocencia, S. 211 ff. Vgl. auch PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 49 Fn. 174. Nicht erfaßt ist jener Anwendungsfall des Zweifelssatzes, in dem von zwei Sachverhaltshypothesen die zu wählen ist, die die günstigere Straffolge erwarten läßt, dazu MONTENBRUCK, In dubio pro reo, S. 33 u. ff. 190 Der Charakter des Zweifelssatzes als Beweis- oder Beweislastregel ist immer wieder auch monographisch behandelt worden, s. nur FRISCH, Festschrift Henkel, S. 273 ff. (Rechtsanwendungsnorm); MOSER, »In dubio pro reo«, S. 47 f., 63 ff. (Beweislastregel); H.PETERS, „In dubio pro reo", S. 6 ff, 53 ff. (Beweislastregel); SCHÖN, In dubio pro reo, S. 11 ff. (Beweislastregel); THÖNE, Der Grundsätzen dubio pro reo", S. 1 ff. (Beweislastregel); WENG, „In dubio pro reo", S. 6 ff. (Beweislastregel). S.a. FUCHS, Die Wahlfeststellung, S. 9 ff., 13 f. (Entscheidungsregel); GÜNTHER, Verurteilungen im Strafprozeß, S. 36 ff. (Entscheidungsregel); TENCKHOFF, Die Wahrunterstellung im Strafprozeß, S. 107 ff. (Entscheidungsregel); G.KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 21 ff. (Beweislastregel); VOLK, NStZ 1983, 423, 423 (Fiktion und Beweislastregel). Kritisch MONTENBRUCK, In dubio pro reo, S. 16 ff.; MICHAEL, Der Grundsatz in dubio pro reo, S. 17 ff. Eine erschöpfende Liste der Literatur gibt GRAUL, Abstrakte Gefahrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 267 ff. 191 Unerheblich ist, daß die so verstandene „Beweisregel" nach Abschluß der Beweisaufnahme eingriffe (and. BELING, J W 1931, 1579 zu 36.), denn ihre Definition erfolgt hier über die Rechtsfolge, d.h. die Anordnung eines bestimmten Beweisergebnisses. Normativ könnte aber aufgrund der Ungewißheit der Schuld ohne weiteres die Gewißheit der Unschuld angeordnet werden.

482

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

nach an ein non liquet gebunden sind.192 Ein sachlicher Unterschied mit Blick auf die Rechtsfolgen ist in der Behauptung, es könne unter der Unschuldsvermutung keine Zweifelssituation geben, denn der Richter müsse von der Unschuld überzeugt sein, solange bis er die Uberzeugung der Schuld gewinnt,193 nicht gegeben, denn die Gleichsetzung des nicht eindeutigen Beweisergebnisses mit der Gewißheit der Unschuld erfolgt normativ durch die Unschuldsvermutung als Interimswahrheit, welche mit einer Beweis- oder Beweislastregel wirkungsgleich ist. Das entspricht der Konstruktion der Unschuldsvermutung als Beweisregel, die die Unschuld für erwiesen erklärte, solange der Gegenbeweis nicht vorliegt. Eine Beweisregel begegnet indes den schon genannten Bedenken, daß die Annahme einer Tatsache als bewiesen mißlich ist, wenn im gleichen Prozeß noch das Gegenteil angenommen werden muß.194 ( ß ) Ausschluß von

Schuldvermutungen?

Ob eine gesetzliche Vermutung der Schuld im Sinne einer Entscheidungsregel Schuldvermutungen jeder Art eo ipso ausschließt, muß bezweifelt werden. Gewiß inkompatibel wäre eine gegenteilige an ein non liquet anknüpfende Beweis- oder Beweislastregel, gleichgültig, ob im Prozeßrecht oder materiellen Recht enthalten,195 da nicht zugleich beide erfüllt werden könnten und somit nicht beide zugleich Geltung beanspruchen könnten.196 Welche Vermutung nun gilt, bedarf normativer Entscheidung, die darin liegen kann, daß man Schuldvermutungen als Ausnahmen der Unschuldsvermutung bestehen läßt wie im Common Law üblich oder der Unschuldsvermutung höheren Rang einräumt und einfachgesetzliche Schuldvermutungen entkräftet. Sind Schuldvermutungen hingegen als Beweisregeln konzipiert und Bestandteil des Gegenbeweises, so kollidieren sie nicht mit einer an ein non liquet anknüpfenden Beweislastregel.197 Mit der Regelung der materiellen Beweislast geht zumeist eine gleich gerichtete Regelung der abstrakten198 formellen Beweislastlast einher,199 so daß zu Recht eine Übereinstimmung mit Regeln wie dem nachklassischen200 und kanonischen Satz „actori incumbit pro192

Einer Beweislastregel bedarf es nicht, wenn ein eindeutiger Beweis für oder gegen ein Tatbestandsmerkmal vorliegt, wobei zugleich unterstellt wird, daß die Rechtsfolgen für diese beiden konträren Gegensätze durch die „materielle" Norm determiniert sind. 193 V E G A S T O R R E S , Presunción de inocencia, S . zu f. 194 Vgl. den Fall zweier Nebentäter an einem Totschlag, von denen jedem einzelnen die Verursachung nicht sicher zugeschrieben werden kann, L E I P O L D , Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S . 6i, nach S A R S T E D T / H A M M , Revision5, S . 276 f. Rn. 354; F R I S C H , Festschrift Henkel, S . 273, 276; G R A U L , Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 270 ff. 195 Sofern man darin nicht eine Form des vorgesehenen Gegenbeweises erblickt, s. G R A U L , Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S. 423 m. Fn. 469. 196 In einer „deontisch perfekten Welt", dazu K O C H / R Ü S S M A N N , / « R À F T W J E Begründungslehre, S. 46 f. m. w. Nachw. 197 G R A U L , Abstrakte Gefáhrdungsdelikte und Präsumtionen, S . 288, 321, 323 f. Unzutreffend S T E I N E R , Die Reform der Schuldprüfung, S. 99. 198 Zur Begrifflichkeit s. P R Ü T T I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 7 ff. 199 P R U T T I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S . 28 f. 200 Vgl. D. 22, 3, 2: „Ei incumbit probatio qui dicit, non qui negat" und D. 22, 3, 21: „semper nécessitas probandi incumbit illi qui agit", dazu P R U T T I N G , Gegenwartsprobleme der Beweislast, S . 269 f. m.w. Nachw.; S C H W A B , Festschrift Bruns, S . 505, 516 f.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

483

batio" angenommen wird. Möglich bleiben aber abweichende Regelungen der konkreten formellen Beweislast für einzelne Umstände. So schließt selbst eine höherrangige Entscheidungsregel Schuldvermutungen nicht aus, die als Beweisthemen- und Beweisführungsregeln konzipiert sind und die die Anklage des Beweises eines zur Verurteilung nötigen Merkmals entheben, also den Vermutungsschluß nicht vom Bestehen eines non liquet, sondern bereits vom Fehlen eindeutigen Gegenbeweises abhängig machen, und es dem Angeklagten überlassen, den Gegenbeweis entweder eindeutig zu führen oder wenigstens ein non liquet herbeizuführen, das, wenn endgültig, zur Anwendung der Entscheidungsregel führt. Dies ist die im Common Law häufige Situation des Auseinanderfallens von burden of persuasion und burden of production. Dem kann nur entgegnet werden, wenn Inhalt der Unschuldsvermutung zugleich eine Norm ist, die bestimmt, welche Gestalt das Beweisthema annimmt Schuld oder Unschuld - und, damit zusammenhängend, wer den Beweis zu führen hat. Zusätzlich bedarf es einer dritten Normierung, welcher Art der zu führende Beweis sein muß, um Schuldvermutungen als (unwiderlegliche) Beweisregeln auszuschließen, die ζ. B. den Inhalt polizeilicher Protokolle für erwiesen zu halten anordnen. Denn wie der Gegenbeweis der Schuld zu erbringen ist, geht aus dem Erfordernis, daßer zu erbringen ist, noch nicht hervor. Daß beispielsweise der erforderliche Beweis nur auf staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnissen sowie gerichtlicher Überzeugung und nicht auf legislativer Hilfestellung ruhen soll, kommt in Bewertungen zum Ausdruck, Schuldvermutungen umgingen das Erfordernis des proof beyond reasonable doubt.201 In diesem Sinne entsprechen Schuldvermutungen einer praktischen Beweismaßsenkung, da andernfalls unzureichendes Beweismaterial normativ aufgefüllt wird. Die letzten beiden Regelungsgegenstände lassen sich nicht mit dem in dubio pro reo-Satz verbinden, da sie nicht vom Zweifel abhängen, sondern vielmehr beeinflussen, ob und wann es zum Zweifel bzw. non liquet kommen kann.202 Ein Verständnis der Unschuldsvermutung, das alle diese Normierung in sich aufnähme, ginge über den Zweifelssatz hinaus. Es ginge auch über den Vermutungsschluß auf die reale Unschuld hinaus, aus dem sich nicht ergibt, wie sein Gegenteil festzustellen ist. (2) Anwendung außerhalb der prozessualen

Endentscheidung

Zweifelhaft erscheint hingegen die Anwendung der Unschuldsvermutung in dieser Weise in anderen Situationen als der prozessualen Sachentscheidung. Wie erwähnt, ist diese Prozeßsituation traditionell der Regelungskontext, auf den gesetzliche Vermutungen zugeschnitten sind. Darauf stützen sich Begrenzungen der Wirkung der Unschuldsvermutung auf den Prozeß wie sie der amerikanische Supreme Court seit Bell v. Wolfish vornimmt.203 Hier ist die Anwendung einer gesetzlichen Unschuldsvermutung unproblematisch und von Einzelheiten und terminologischen Differenzen abgesehen auch sachlich unbestritten. Die sprachliche Fassung, die die Unschuldsvermutung auch in modernen Gesetzes- oder Vertragstexten erhalten hat, legt eine zeitliche Dimension und damit das Bestehen eines auflösend bedingten Rechtszustands jedoch nahe: Neben Formulierungen des Typs „quilibet praesu201 202

Siehe oben S. 266 bei Fußn. 98, S. 324, 327 u. ff. Zur Bedeutung der quantitativen Dimension des Zweifelssatzes s.

Tatsachenfeststellung", 203

FREUND,

S. 60 f.

Siehe oben S. 345 ff. Im deutschen Recht PAULUS, NStZ 1990, 600, 601.

Normative Probleme der

4

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

84

mitur innocens, nisi contrarium probetur" findet sich stets „...donec contrarium probetur", „jusqu'à ce qu'il a été déclaré coupable", „...until proved guilty", „...bis er für schuldig befunden wird", „...solange er nicht..." usf. Im geschichtlichen Rückblick ist eine Vermutung realer Unschuld außerhalb der Prozeßsituation bis in das 19. Jahrhundert hinein bislang nicht zu belegen. Erst die Kontroverse um die Widersprüchlichkeit einer Unschuldsvermutung, die im italienischen Recht entstand, betrifft fast ausschließlich Situationen außerhalb der prozessualen Endentscheidung. K Ö S T E R gesteht demnach der Unschuldsvermutung aufgrund eines a fortiori-Schlusses materielle Wirkungen für die Situationen zu, in denen eine Lösung eines strafrechtlichen Konfliktes außerhalb und ohne ein Strafverfahren gesucht werde.204 P A E F F G E N knüpft an diese Deutung an und schreibt der Unschuldsvermutung hauptsächlich materiell-rechtliche Wirkungen zu, erklärt sie aber zu einer „Praesumtion eigener Art", weil sie für das erkennende Gericht in der endgültigen Urteilsberatung nicht gelten könne, andernfalls eine Verurteilung nicht möglich wäre.205 Versteht man die Rechtsfolge der Unschuldsvermutung als an den Richter adressierte Verpflichtung, kein Urteil auszusprechen, das Strafe verhängt, so ist ihre Anwendung in Situationen, in denen ein Strafurteil überhaupt nicht zu den gesetzlich vorgesehenen Handlungsmöglichkeiten zählt, sinnlos. Möglich ist eine Anwendung der Unschuldsvermutung außerhalb des Strafprozesses nur, wenn man den Vermutungsschluß als Festlegung eines rechtlich relevanten Umstands begreift, an den außerhalb des Prozesses anwendbare Normen anknüpfen können. In der bindenden Aussage über das Vorliegen tatbestandsrelevanter Umstände liegt wie zuvor gezeigt notwendig zugleich die (partielle) Determination der jeweiligen Rechtsfolge. Normen, die die Unschuld eines Bürgers als Tatbestandsmerkmal aufweisen, sind rar. Die in den Strafgesetzbüchern formulierten Sätze sind unvollständig, die Sanktionsfolge setzt einen prozessual konstituierten Tatbestand voraus. Betroffen sind daher praktisch nur solche Normen, deren Tatbestand ganz oder partiell mit einer Aussage über die Schuld einer Person erfüllt werden kann oder muß. Ordnete die Unschuldsvermutung somit entweder die Erwiesenheit oder „gesetzliche Sicherheit" der Unschuld eines jeden an, worin wie gezeigt der Ausschluß der Annahme der Schuld als auch der Möglichkeit der Schuld - und damit des Verdachts206 liegt, so dürfte ein Urteil über zivilrechtliche Schadensersatzansprüche erst dann mit der Begehung einer Straftat begründet werden, wenn ein entsprechendes Strafurteil vorliegt, dürften polizeirechtliche Maßnahmen nicht auf den Verdacht der Begehung einer Straftat ge-

204

KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 164 fF., 173; zust. KONDZIELA, MschrKrim 1989, 177, 181. 205

206

P A E F F G E N , Vorüberlegungen,

S . 4 9 , 51 f.

Zutr. MAHRENHOLZ, Sondervotum, B V e r f G E 82, 1 0 6 , 1 2 2 , 123; auch RÖNNAU, Die Absprache im Strafprozeß, S. 173. A.A. PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 77: Zwischen Unschuldsvermutung und Tatverdacht bestehe kein logischer Widerspruch. Dies ist nur dann richtig, wenn man die vermutete „Unschuld" nicht auf die reale Existenz der Schuld, sondern auf das Fehlen einer Verurteilung bezieht. Letzteres ist aber nicht das von PAEFFGEN, ibid., S. 50 ff., verwendete Verständnis. Dies wird auch von DALBKERMEYER, Der Schutz des Beschuldigten, S. 114 f., übersehen. Umgekehrt kann sogar dem Begriff des Verdachts die Aufgabe zugeschrieben werden, „zu gewährleisten, daß der Beschuldigte nicht als schuldig gilt, solange nicht seine Schuld durch richterliches Urteil festgestellt ist", VON HINDTE, Die Verdachtsgrade im Strafverfahren, S. 11.

485

Α . Z u r Normstruktur der Unschuldsvermutung

stützt werden. Solche weitreichenden Folgen werden zumeist geleugnet, weil die U n schuldsvermutung nur für Staatsorgane gelte und auf das Strafrecht beschränkt sei, darauf ist aber hier noch nicht einzugehen, denn konstruktiv wären diese Folgerungen möglich. Die A n w e n d u n g in Situationen, in denen ihre Widerlegung von vornherein nicht thematisch ist, mag untypisch erscheinen, führt allein aber auch noch nicht zu einem W i d e r spruch. In jenen Situationen stellte sie sich als die von PAEFFGEN beschriebene ««widerlegliche Vermutung oder Fiktion dar.207 Ein Widerspruch ergibt sich aber, weil ihre Erstrekkung auf den Zeitraum vor der Urteilssituation und auf alle Staatsorgane auch diejenigen bindet, die den Gegenbeweis zu führen haben, w o m i t die Vermutung endgültig unwiderlegbar wird. D i e rechtsstaatliche Errungenschaft des Tatverdachts, 208 also die begründete Feststellung der Möglichkeit des Vorliegens einer Straftat, von „Schuld", ist nach § § 160 Abs. 1, 152 Abs. 2 S t P O und in allen hier betrachteten Rechtsordnungen tatbestandliche Voraussetzung für die Betreibung eines Strafverfahrens, angefangen beim Ermittlungsverfahren bis hin zum Eröffnungsbeschluß. 2 0 9 Eine als Sachverhaltsfestsetzung verstandene Unschuldsvermutung schließt es in allen diesen Fällen aus, daß Staatsanwalt oder Richter die zur Verfahrenseinleitung und -förderung nötigen Aussagen über die Wahrscheinlichkeit der Schuld und darauf gegründeter Verurteilung machen dürfen. D i e Betreibung eines Strafverfahrens wäre nach § 344 S t G B im deutschen Recht strafbar, da jeder gesetzeskundige Staatsanwalt oder Richter wüßte, daß er einen Unschuldigen strafrechtlich verfolgt. Ist ein Strafverfahren nicht zulässig, kann es auch nicht zur Widerlegung der Unschuldsvermutung k o m m e n . Für diejenigen, die als Vermutungsbasis den Tatverdacht behaupten, ergibt sich zudem noch das Paradox, daß die Unschuldsvermutung ihre eigene Vermutungsbasis aufhebt. Der Kritik, 2 1 0 daß eine als Sachverhaltsfestsetzung auch im außerprozessualen Bereich anwendbare U n schuldsvermutung die D u r c h f ü h r u n g des Strafverfahrens ausschlösse, ist daher insoweit zuzustimmen. D i e A n o r d n u n g , die Aussage über den materiellen Tatbestand „Unschuld" für wahr zu halten, erweist sich wegen der Kontextungebundenheit als fatal. Dieser Widerspruch ist folglich insbesondere den Positionen eigen, die in der U n schuldsvermutung die A n o r d n u n g eines psychischen Zustandes bei Vertretern der Strafverfolgungsorgane sehen, wenn darunter nicht nur eine M a h n u n g vor einseitiger Sachverhaltsw a h r n e h m u n g verstanden, 211 sondern über diesen Zwischenschritt Einfluß auf Rechtsfol-

207

Vgl. PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 49.

208

Vgl. nur HELLWIG, G S 88 (1922), 417, 417 f.; VON H I N D T E , Die Verdachtsgrade im Strafverfahren,

S. 13; BLOMEYER, J Z 1970, 715, 715 f., klassifiziert das Tatverdachtserfordernis als drittschützende A m t s pflicht. 205

BELING, Grenzlinien

210

FRISTER, Schuldprinzip,

zwischen Recht und Unrecht, S. 19 Fn. 3.

RN. 466; SIEGERT, Grundlinien

S. 88; DERS., Jura 1988, 356, 359; P I E R O T H / S C H L I N K ,

Grundrechte

des Völkerstrafprozeßrechts, S. 59; TRECHSEL, S J Z 77 (1981), 317, 318 f.;

DREHER, N J W 1964, 1581, 1582; M A N Z I N I , Trattato di diritto processuale penale italiano'', vol. I, S. 226; G I O C O L O N A C C I , in: Convegno di studio: verso una nuova giustizia penale, S. 217, 221 FF.; MARUCCI, Giur.compl.cass.pen. 1949, 117, 120 ff.; VANNINI/COCCIARDI, Manuale

di diritto processuale

italiano,

S. i o é ; G O M E S CANOTILHO/VITAL MOREIRA, Constituiçâo da República Portuguesa Anotada3,

Art. 32,

A n m . IV, S. 203; ITOJIHHCKHH, Bonpocbi

meopuu

coeemcKOZo γζοΛοβποζο

npouficca,

S. 187; ToJiyH-

CKHH, CoBeTCKoe rocynapcTBO H npaBO 1959, Ν» 2, S. 48, 54; ΦΗΛΗΜΟΗΟΒ, JlHTepaTypHaji Ta3eTa v. 18.8.1964, S. 2. 211

So wohl SAX, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988.

486

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

gen genommen werden soll212. Diesem Paradox kann nicht dadurch entgangen werden, daß „das Gesetz" anstelle der beteiligten Personen die Unschuld vermute,213 solange von der Rechtsfolge der Sachverhaltsfestsetzung nicht Abstand genommen wird. Mit dem Verbot, Grundrechtseingriffe an Prognosen über den (verurteilenden) Verfahrensausgang, vor allem die Höhe der zu erwartenden Strafe, zu knüpfen, weil darin stets ein Urteil über die Schuld des Angeklagten impliziert sei, erkennt die auf der Lehre der gesetzlichen Sicherheit fußende Auffassung die Unvereinbarkeit des Verdachtsurteils mit einer dekretierten Unschuldsaussage an.214 Nicht möglich ist allerdings, die Zulässigkeit der verfahrenskonstitutiven Verurteilungsprognose des Tatverdachts dann noch zu retten, indem sie zur „bloßen Potentialität" (der Schuld) erklärt wird, die den Verdächtigen nicht diskriminiere.215 Schließlich ist „die bloße Potentialität" jeglicher Prognose wesenseigen. Unklar ist weiterhin die Notwendigkeit dieser Konstruktion zur Erreichung der mit ihr verbundenen Regelungsziele. Daß die Wahl der Vermutungs^r/w ebenso wie der Fiktionsform den Inhalt des Rechtssatzes nicht vollständig, insbesondere den Anwendungsbereich nicht prädeterminiert, schon gar nicht im Sinne erzwungener Universalrelevanz, steht für Fiktionen wie erwähnt schon länger und für Vermutungen aus gleichem Grund unbezweifelbar fest. Gegenteilige Annahmen216 lassen sich durch die ontologisierende Sprache zu einer Verdinglichung der Rechtsfolge verleiten. Es geht bei dieser Konstruktion ja nicht wie zur Zeit der Aufklärung und Reformbestrebungen immer auch um den Schutz der wirklich und im Ergebnis Unschuldigen,217 sondern um die Begründung, daß das Freiheitsinteresse des noch nicht verurteilten Bürgers mit dem des unbescholtenen gleich ist.218 Die technische Form der praesumtio iuris ac de iure wird nach P A E F F G E N erst durch den Adressaten bedingt,219 soll also eine besonders strikte Bindung der Strafverfolgungsorgane und des Gesetzgebers bewirken, was auch mit der Bezeichnung als „Rechtsregel",220 die nicht nur näherungsweiser Umsetzung, sondern der Erfüllung oder Nichterfüllung fähig ist, betont wird. Gleichwohl soll die Vermutung nicht hindern, daß dem Verdächtigen Duldungspflichten auferlegt werden, die sich allein auf den Verdacht als differentia specifica gründen und mit dessen Stärke drückender werden.221 Es erweist sich, daß die Wahl der Rechtsform 212 Unklar daher M A R X E N , Straftatsystem und Strafprozeß, S . 344, demzufolge die Unschuldsvermutung die Justizorgane „zu einem fast widersprüchlichen Verhalten nötigt". Warum sollten die Justizorgane jemanden für unschuldig halten, wenn dies keine rechtlichen Konsequenzen hat? 213 So S T R O G O V I Ò , RID 1953, 29, 38 f.; D E R S . , MamepuaAbHun ucmuna u cydeönbie Ò0K03ameAbcmeo β coeemcKOM yzonoeuoM npou,ecce, S. 203; D E R S . , Πραβο oöeuHneMOzo na aamumy u npe3yMnu,UR

HeeuHOBHOcmu, S. 74. 214

Dazu siehe oben S. 76 ff

2,5

PAEFFGEN,

216

So wohl

Vorüberlegungen, S . 56. Die Rechtsvermutung

KÖSTER,

der Unschuld, S. 172 ff., 176;

PAEFFGEN,

Vorüberlegungen,

S. 49.

217

Vgl.

218

PAEFFGEN,

215

PAEFFGEN,

Vorüberlegungen, S. 76 m. Fn. 313. Vorüberlegungen, S . 77. Vorüberlegungen, S. 52 f. („Der Gedanke der Bändigung des Leviathans gebietet eine die

PAEFFGEN,

Wirklichkeit gestaltende Rechtsregei im Sinne einer gesetzlich vorgeschriebenen Gewißheit, daß in der Person des Beschuldigten die Voraussetzungen für strafrechtliche Sanktionen nicht erfüllt sind." (Fußnote ausgelassen)) . 220

S K - S t P O / P A E F F G E N , V o r § 1 1 2 R n 26.

221

PAEFFGEN,

Vorüberlegungen,

S.

77,116 f.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

487

einer Vermutung im engen Sinne das ungeeignete rechtstechnische Mittel ist, die erstrebte Disziplinierung des Strafverfahrens in handhabbare Rechtsfolgen zu übersetzen. Vermutungen fungieren als derivative oder sekundäre Normen, die auf die Rechtsfolge anderer Rechtsätze verweisen, indem sie den jeweiligen Tatbestand als gegeben definieren. Die unmittelbare Rechtsfolge einer Vermutung der Unschuld wäre die Herbeiführung von Rechtsfolgen, die an eine tatbestandserfüllende Aussage oder Fiktion der Unschuld unmittelbar anknüpfen. Zur Einflußnahme auf Normen, deren Tatbestand den Verdacht voraussetzt und auch voraussetzen soll, ist das Konstrukt untauglich. Die „Rechtsvermutung eigener Art", derzufolge die staatlichen Organwalter „von der Unschuld des Beschuldigten auszugehen"222 haben, als Folge des Rechtsstaatsprinzips223 besteht streckenweise224 nur in der Akzentuierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gepaart mit einem Argumentationsverbot, das die Rechtfertigungsmöglichkeiten strafprozessualer Eingriffe auf den Ermittlungszweck begrenzt. Zum Verbot von Strafe oder strafgleichen Eingriffen vor dem Verfahren bedarf es der Fiktion materieller Unschuld nicht, dazu genügte ein Verweis auf die Gesetzesbindung der Justiz und Verwaltung. Irreguläre Bestrafungen durch Exekutiv- oder Justizorgane sind schon keine gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgen, so daß man sie auch nicht im Wege der Sachverhaltsmanipulation per Fiktion verbieten muß. Kompetenzüberschreitungen im Strafverfahren sind nicht deshalb verboten, weil die Strafverfolgungsorgane den Verdächtigen nicht als schuldig ansehen dürfen, sondern weil das Gesetz sie nicht erlaubt, obwohl der Verdächtige zur Durchführung des Verfahrens als schuldig angesehen werden muß. Auch um diese einfachgesetzliche Lage zu stabilisieren wäre nur ein höherrangiges Verbot der Strafe vor rechtskräftiger Verurteilung vonnöten. Der einfache Gesetzgeber ist nicht deshalb gehindert, eine irreguläre Strafe vor Verfahrensabschluß und beliebige Beschwernis für den Verdächtigen zu statuieren, weil er ihn als unschuldig ansehen müßte, sondern obwohl er ihn als möglicherweise schuldig ansehen muß, besteht Zwang zur rationalen Begründung von Freiheitsverkürzungen, die von einem legitimen Regelungszweck gedeckt sein müssen, sowie ein Gebot zur Eindämmung exekutiver Willkür. Welche Regelungszwecke als legitim anzuerkennen sind, ist die eigentlich wesentliche Frage: Es geht bei der Reglementierung strafprozessualer Eingriffe um die Ausgestaltung der Rechtsstellung des Verdächtigen, wie es C A R B O N N I E R verdeutlicht hat. 225 Dies kann nicht durch „eine die Wirklichkeit gestaltende Rechtsregel" erreicht werden, die den Tatverdacht ausschließen muß. Eine Identifikation mit der Rechtsposition des Unschuldigen bietet dazu keine Hilfe, wenn damit nicht nur ausgedrückt werden soll, daß eine Gleichsetzung mit der Rechtsposition des - so verurteilten! - Schuldigen nicht stattfinden darf. Der Verdächtige kann weder wie der Verurteilte noch wie der Unschuldige behandelt werden, wenn ein Strafverfahren stattfinden soll.226 Ein Ausweg aus der kompletten Paralyse der Strafjustiz durch eine universale Tatbestandsfiktion der Unschuld ist, die zur Widerlegung aufgerufenen Strafverfolgungsorgane aus dem Adressatenkreis der Unschuldsvermutung auszunehmen.227 Für das deutsche Recht 222

S K - S I P O / P A E F F G E N , Vor § 112 R n 26.

223

PAEFFGEN,

224

Vgl. die bei mutung.

Vorüberlegungen, S . 52. Vorüberlegungen, S. 53 ff., aufgezählten Folgewirkungen der Unschuldsver-

PAEFFGEN,

Instruction criminelle, S. 42 f., s.a. oben S. 180 f. m. Fußn. 90. P I E R O T H / S C H L I N K , Grundrechte", Rn. 466.

225

CARBONNIER,

226

Knapp und zutreffend insoweit

227

S o G R O P P , J Z 1 9 9 1 , 804, 8 0 7 , 813.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

488

müßte man die Ausnahme auch auf den Richter ausdehnen, um den Eröffnungsbeschluß zu ermöglichen. Uneingeschränkte Geltung könnte der Unschuldsvermutung nur für einen Adressaten widerspruchsfrei zugestanden werden, der keine der Vorbereitung ihrer Widerlegung dienenden Entscheidungen zu treffen hat wie die Petty Jury im Common Law. Um die Möglichkeit der Widerlegung nicht zu versperren, könnte daher die Reichweite der Unschuldsvermutung begrenzt werden, indem der Strafverfolgung dienende Eingriffe ebenso wie natürlich die Verurteilung selbst für zulässig erklärt werden.228 Das läßt sich allerdings nicht daraus folgern, daß der Tatverdacht als Vermutungsbasis genommen wird,229 denn die Annahmen der Unschuld und des Verdachts schließen sich aus. Nicht geklärt ist weiterhin, wie weit diese Ausnahmen reichen sollen. Polizeirechtliche Gefahrenabwehr ist beispielsweise zur Widerlegung der Unschuldsvermutung per Strafverfahren im Einzelfall oftmals nicht vonnöten und unterfiele dann nicht der Ausnahme. Eine über die Erfordernisse der Widerlegung hinausgehende inhärente Beschränkung ist aus der Vermutungskonstruktion nicht zu entnehmen.230 Schließlich kann man den Vermutungsschluß „Unschuld" ersetzen durch den den Verdacht zulassenden Ausschluß der Gewißheit der Schuld. Um die Widerlegung zu ermöglichen, unterscheidet M A R X E N zwischen der „wirklichen Existenz der Straftat", von der auszugehen die Unschuldsvermutung verbiete, und der „möglichen Existenz", deren Annahme erforderlich sei, um ein Verfahren und damit die Widerlegung betreiben zu können. Zugleich vertritt M A R X E N einen konstitutiven Begriff der Straftat, so daß nur ein ordnungsgemäß geführter Prozeß eine Straftat zum Entstehen bringt.231 Gemeint ist nicht, daß der Staatsanwalt nur Anklage erheben darf, wenn er an der Schuld des Verdächtigen zweifelt, und nicht, wenn er davon überzeugt ist, sondern verboten wäre der Eintritt von Rechtsfolgen, die die Feststellung einer Straftat voraussetzen - welche dies sind, stellt die wahrhaft: interessante Frage dar.232 In die gleiche Richtung zielen Vorschläge, nicht die Unschuld zu vermuten, sondern Schuldvermutungen zu verbieten,233 wenn damit gemeint ist, Schlüsse auf (feststehende) Schuld als Tatbestandsvoraussetzung zu verbieten. Bezogen auf eine „Schuldvermutung" im umgangssprachlichen Sinne als Annahme der Wahrscheinlichkeit der Schuld, liefe dies auf die soeben behandelte Vermutung der Unschuld hinaus, weil der Verdacht in diesem Sinne stets eine „Vermutung" der Schuld ist.234 (3)

Zwischenergebnis

Ein Verständnis der Vermutung der Unschuld als Gebot einer Aussage, Unschuld liege vor, mit gleichzeitigem Verbot der Aussage, Schuld liege vor, impliziert eine Festlegung der Rechtsfolgen aller Normen, deren Tatbestand eine Aussage über Schuld verlangt und auf die die Vermutung Anwendung findet. Im Prozeß dient eine solche Vermutung als Entschei-

228 229

PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 51 ff., 53, 55. Dazu FRISTER, Schuldprinzip, S. 88. So aber K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S . 178; PAEFFGEN, Vorüberlegungen,

StPO/PAEFFGEN, V o r § I I I RN 26. 230 231

232 233 234

Ähnl. FRISTER, Jura 1988, 356, 359. M A R X E N , Straftatsystem undStrafprozeß, S. 345; DERS., GA 1980, 365, 375 bei Fn. 46. Siehe oben S. 67 Fußn. 171. TRECHSEL, SJZ 77 (1981), 317, 318 f.; 335, 338. So schon A . D . W E B E R , Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung, S. 63.

S.

77; S K -

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

489

dungsregel, wenn sie durch Beweislosigkeit bedingt ist. Außerhalb des Prozesses kann ihre uneingeschränkte Anwendung ihre eigene Widerlegung hindern, wenn sie auf die ihrer Widerlegung dienenden Verfahrensnormen angewandt wird. O b und wie ihre Anwendung zu beschränken ist, erfordert zusätzliche Normierung, die nicht schon aus ihr ableitbar ist. Die bezweckte Reglementierung des Widerlegungsverfahrens und Bindung der Staatsgewalt könnte sie überdies nicht leisten. Aus der provisorischen Geltung einer Aussage folgt nichts dafür, unter welchen Bedingungen ihre Geltung endet, denn aus dem Regelungsgehalt der Rechtsfolge ist kein analytischer Schluß auf den Inhalt der Tatbestandsmerkmale möglich. 235 Die Anordnung einer „juristischen Tatsache" der Unschuld kann die vielgestaltigen Regelungsziele und darin eingeschlossenen rechtspolitischen Bewertungen nicht adäquat zum Ausdruck, geschweige denn zur Anwendung bringen. dd) Vermutungsobjekt: formelle Unschuld Bislang wurde „Unschuld" als Objekt des Vermutungsschlusses bezogen auf Tatbestände, die Aussagen über das reale Vorliegen der Schuld oder Unschuld erfordern. Z u erwägen wäre, ob es nicht sogar naheliegender ist, das Vermutungsobjekt „Unschuld" im zweiten anfangs genannten Sinn („noch nicht verurteilt") als Kürzel für den prozessualen Tatbestand zu verstehen. 2 3 6 Die Ableitung eines Verbots der Antezipation von Strafe, deren Vollzug ein entsprechendes Urteil voraussetzt, sowie Wendungen, die im Kontext strafprozessualer Eingriffe mahnen, der Beschuldigte sei als unschuldig anzusehen oder werde als Unschuldiger in Anspruch genommen, sprechen eher für das zweite Verständnis, denn es dürfte darin kaum die Behauptung realer Unschuld intendiert sein, eine solche wäre jedenfalls nicht nötig. Wie zuvor gezeigt, ist eine so verstandene Vermutung ein bloß analytischer Satz, das Komplement eines Beweiserfordernisses 237 als notwendige Prämisse einer N o r m . Das Verbot der Rechtsfolge als Folge der Verneinung der Prämisse kann allein schon mit dem Gesetzlichkeitsprinzip begründet werden. Lautet die Norm: Genau wenn der Nachweis einer Straftat geführt ist, dann soll gestraft werden, so läßt sich dies ohne inhaltliche Änderung aufspalten in: Nur wer „einer Straftat schuldig" ist, soll gestraft werden.

Richtig G . KLEIN, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast, S. 71. So im Ergebnis MAC-IVER, Revista de ciencias penales 1958 (Heft 2), 1, 8 f. Eindeutig in diesem Sinne gebraucht beispielsweise ZACZYK das Wort „Unschuld": „Das Strafprozeßrecht regelt den Gang der Klärung eines Verdachts, und so bedeutet die dabei zu beachtende Unschuldsvermutung nicht, daß StA und Gericht nur so tun, als sei der Angeklagte gar nicht der Täter: Vielmehr ist die Vermutung seiner Unschuld bis zum Urteil zwingend, da erst das Urteil seine Schuld rechtsverbindlich feststellt.", StV 1993, 490, 492 (Hervorh. im Original). Exemplarisch auch STROGOVIÛ, der die zumeist auf einem materiellen Unschuldsbegriff beruhenden Kritiken an der Unschuldsvermutung stets zurückwies, s. nur Πραβο oóeunñeMOZO Ha 3amumy u npeβγΜημιΐΛ HeeuHoenocmu, S. 71 ff., 74, 78, ihre statistische Begründung bestritt, ibid. S. 88. 237 Hierauflag wie oben dargestellt die Betonung in der sowjetischen Lehre, namentlich bei STROGOv i è , s.o. S. 376 ff. So auch MALINVERNI, Principi del processo penale, S. 473. Sachlich ebenso die Ableitung ILLUMINATIS, La presunzione d'innocenza dell'imputato, S. 77. 235

236

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

490

und: Nur wenn der Nachweis einer Straftat geführt ist, dann ist jemand „einer Straftat schuldig". So ist das kontradiktorische Gegenteil: Immer wenn kein Nachweis einer Straftat vorliegt, soll nicht gestraft werden. welches auch als Interimswahrheit oder Vermutung formulierbar ist: Bis zum Beweis einer Straftat ist niemand „einer Straftat schuldig". Bis zum Beweis einer Straftat wird vermutet, daß niemand „einer Straftat schuldig" / daß ein jeder „unschuldig" ist. Auch diese „Vermutung" ergibt folglich keine Begründung für das Beweiserfordernis und umgekehrt, wenn das Beweiserfordernis als notwendige Prämisse feststeht.238 Ebensowenig ergibt sich aus ihrer Rechtsfolge, wie der Gegenbeweis auszusehen hat. Eigenständige Bedeutung bekommt die Formulierung als Vermutung nur dann, wenn Unklarheit darüber besteht, ob das Beweiserfordernis notwendige Bedingung ist, indem ausdrückt wird, daß die Rechtsfolge nicht eintreten darf, wenn der Nachweis der Tatbestandsvoraussetzungen nicht erbracht ist, d.h. solange er nicht erbracht ist und wenn er mißlungen ist, wovon der Zweifelssatz nur eine sprachliche Verbesonderung ist.239 So verstanden ist die Unschuldsvermutung inhaltsgleich mit der Aussage, daß bestimmte materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Bedingungen notwendig zu erfüllen sind, damit Strafe verhängt werden darf. Als Rechtssatz wäre diese Unschuldsvermutung nur eine Verdoppelung einer bereits existenten Norm.240 Betrachtet man nur einen Ausschnitt aus der Gesamtheit dieser Bedingungen, so erklärt sich, warum die der Unschuldsvermutung zugeschriebenen Regelungswirkungen im deutschen Recht auch mit dem Schuldprinzip als Bezeichnung gewisser materieller Erfordernisse erklärt werden können oder im Common Law mit dem Erfordernis von (substantive) due process oder dem Fifth und Sixth Amendment bzw. noch spezieller mit proof beyond reasonable doubt.241 Sachlich nicht widersprochen werden kann deshalb Äußerungen, das Verbot von Strafe ohne genügenden Nachweis ergebe sich bereits aus dem - um die erwünschten Verfahrensbedingungen stillschweigend angereicherten - Schuldprinzip242 oder der Zuordnung des Verbots der Verdachtsstrafe zu 238 Vgl. SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 269: Der Zweifelssatz sei die Konsequenz aus der Nachweispflicht des Staates, die er aber sodann wieder auf eine Ausgangsvermutung für den Menschen gründet. 239 So LR24-GOLLWITZER, § 261 RN. 103 (in dubio pro reo als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und von Art. 103 Abs. 2 GG). FRISTER, Schuldprinzip, S. 68 m. Fn. 1, nennt dies das formale Verständnis des in dubi0-S3.tz.es, welches sich nicht mit einem Verbot der Verdachtsstrafe decke. Es geht ihm jedoch nur darum, ob das Nachweiserfordernis Verfassungsrang hat, was er schließlich bejaht. 240 Insofern zutr. FLETCHER, 77 Yale L.J. 880, 881 (1968). 241 Siehe oben S. 324, 351 m. Fußn. 241, 372 Fußn. 403. 242 MONTENBRUCK, In dubio pro reo, S. 74. Entsprechend wird der Zweifelssatz überwiegend als prozessuale Kehrseite des Schuldprinzips betrachtet: BGHSt 18, 274, 275 f.; MICHAEL, Der Grundsatz in dubio pro reo, S. 20 f.; SAX, Festschrift Stock, S. 143, 164 f.; SULANKE, Die Entscheidung bei Zweifeln, S. 74. W. Nachw. bei FRISTER, Schuldprinzip, S. 77 Fn. 42.

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

491

den Wirkungen des Schuldprinzips anstelle der Unschuldsvermutung243. Klarzustellen ist nur, daß es sich dann um zwei bloß semantisch verschiedene Fassungen eines identischen Postulats handelt. Technische Bedeutung kann einer Unschuldsvermutung insofern zukommen, wenn sie ein gerichtlich durchsetzbares subjektives Recht gewährt, mit dem irreguläre Strafen und irreguläre Verfahren gerügt werden können. Falls Verletzungen des Nachweiserfordernisses bereits über ein als Verfassungssatz angesehenes Schuldprinzip oder Verfahrensgarantien verschiedener Reichweite resp. due process angegriffen werden können, fügt die Unschuldsvermutung dem nichts hinzu. Nimmt man aber in den Gegenbeweis neben prozessualen auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen auf, so kann sie grundsätzlich zur Rüge einer Verletzung sämtlicher als notwendig definierten Bedingungen der Strafe verwendet und gleichsam als Superrevisionsgrund, der umfassende Legalität garantiert, ausgestaltet werden. Begrenzt man sie auf das Erfordernis einer bestimmt gearteten Legalität des Verfahrens, so läßt sich jeder Verfahrensverstoß mit der Unschuldsvermutung rügen, wie es für den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EuMRK {„gesetzlicher Nachweis der Schuld") vertreten wird. Die Deutung der Unschuldsvermutung durch das spanische Verfassungsgericht geht in diese Richtung eines Superrevisionsgrundes, allerdings beschränkt auf die Legalität der Beweisverfahrens. Meistens wird indes der Unschuldsvermutung ein engerer Wirkungsbereich gesucht. An dem dargestellten Zwischenschritt, der Feststellung der prozessualen Schuld als Tatbestandsvoraussetzung, hakt die Auffassung ein, die die Unschuldsvermutung als „Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung"244 begreift. Mit dem soeben schon angesprochenen Konzept M A R X E N S eines konstitutiven Straftatbegriffs wird eine Bindung sämtlicher Tatbestände, die eine Aussage über strafrechtliche Schuld erfordern, an den Feststellungsakt im Strafverfahren behauptet, wobei nur die Aussage des Feststehens der Schuld, nicht ihrer Möglichkeit, also des Verdachts, ausgeschlossen sein soll. Daß dies eine normative Forderung und keine ontologische Notwendigkeit ist, bedarf kaum der Erwähnung.245 Über das Bestehen und den Umfang einer solchen Bindung kann daher mit Recht Streit herrschen.246 Genau genommen ergibt sich als Folge der „Vermutung" im weiteren Sinne nur, daß die gesetzlich vorgesehenen Straffolgen nicht ohne ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens verhängt werden dürfen, denn nur diese setzen nach der positiven Rechtslage den Schuldbeweis voraus.247 Will man Verfahrensfehler grundsätzlich dem jeweils existenten Rechtsmittelkanon überlassen, so bliebe in Fällen der Verhängung regulärer Straffolgen für eine regulative Wirkung der Unschuldsvermutung wenig Raum. Anders als noch zu Zeiten der Aufklärung ist die Irregularität des Verfahrens heute jedenfalls in Europa und den meisten Ländern des Common Law-Kreises bei einem hohen Standard tatsächlicher Gesetzmäßigkeit von Justiz und Verwaltung kaum Gegenstand der Besorgnis. Der Blick richtet sich daher auf weniger offensichtliche Fälle legislativer oder faktischer Umgehung des Begrün-

243 244 245

So F R I S T E R , Schuldprinzip, S. 69 ff. Siehe oben S. 68 ff. Wider den Hang zur Vergegenständlichung und den Glauben an „juristische Tatsachen" s. nur ES-

SER, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 128 ff. m.w.Nachw. 246 247

Siehe oben S. 68 ff, 135 ff Das erklärt die Position von

PAULUS,

NStZ 1990, 600, 601, es gebe keine „strafähnlichen Eingriffe".

49 2

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

dungserfordernisses in Form der Verhängung und Schaffung irregulärer Strafsanktionen. Das Verbot von Strafe ohne rechtmäßiges Verfahren bezieht sich nun auf „Strafe" in einem materiellen Sinne. Da der Bürger einer Vielzahl rechtsverkürzender staatlicher Maßnahmen unterworfen ist, stellt sich das Problem des Abgrenzungskriteriums. Vorgeschlagen wird die Strafähnlichkeit der Eingriffe oder strafgleiche Rechtfertigung von Eingriffen, die zumeist mit dem Strafverfahren verbunden sind. Die phänotypische Ähnlichkeit mit existenten Strafformen führt dazu, daß vor allem jede Form der Freiheitsentziehung ohne Urteil suspekt wird. Nimmt man das Ähnlichkeitskriterium ernst, verbietet sich Untersuchungshaft zur Gänze.248 Unumgänglich wäre auch das Verbot jeder vom Staat auferlegten Geldleistungspflicht ohne Strafurteil, denn in der finanziellen Belastung unterscheidet sich ein Zivilurteil oder ein Steuerbescheid nicht von der Geldstrafe. Andererseits müßte zweifelhaft werden, ob eine strafgleiche Behandlung vorliegt, wenn ein Verdächtiger geschlagen wird, weil die Rechtsordnung keine Prügelstrafe vorsieht, es sei denn, es genügten auch Ähnlichkeiten mit historischen Strafformen? Ohne Berücksichtigung des rechtlichen Kontexts haben alle diese Akte keinen bestimmten Sinn. „Strafe" liegt daher nur in dem Sinn bestimmter Handlungsformen, nicht in deren äußerer Gestalt.249 Allgemein und uneingeschränkt taugt das Kriterium der äußerlichen Ähnlichkeit nicht, so daß ausgefeiltere Vorschläge gleichsam topisch eine offene Reihe alternativer Kriterien bereitstellen, die eine Näherung an die Strafphänomenologie beschreiben.250 So wird als Identifizierungsmoment das „sozialethische Unwerturteil" vorgeschlagen, das der Strafe innewohne und das als faktisches Phänomen der Definitinionsmacht des Gesetzgebers entzogen sei.25' Da auch den im Strafverfahren erforderten Tatverdachtsfeststellungen eine solche Diskrimierungswirkung zukomme, diese aber unumgänglich seien, muß mit dem Kriterium eine Einschränkung einhergehen.252 Unbeachtet bleibt, daß eine Reihe

248 M Ü L L E R / P I E R O T H , Verfassungsmäßigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, S . 228, 236. Cf. nur E S S A I D , La présomption d'innocence, Nr. 618 S. 360, oben S. 181 f.; Campbell v. McGruder, 580 F.2d 521, 527 (D.C.Cir. 1978), oben S. 344 Fußn. 196 f. 249 So schon B E L I N G , für den die Strafe ein reines νοούμενον ist, Vergeltungsidee, S. 5, und weiter: „In der realen Welt gibt es überhaupt keine ,Strafe'. Die realen Vorgänge, die an sich als Lebenserscheinungen gegeben sind, die Einsperrung und Festhaltung eines Menschen, die Zahlung einer Geldsumme usw., gewinnen für uns die Bedeutung der .Strafe' erst dadurch, daß wir durch gedankliche Relation diese Vorgänge mit einer Vorstellung, die wir haben, in Verbindung setzen. Die Strafe ist so wenig eine natürliche' Erscheinung, daß vielmehr das V e r b r e c h e n der .Freiheitsberaubung' von der s t r a f w e i s e erfolgenden Freiheitsberaubung, die zivilistische Schuldzahlung von der Geldstrafe qua f a k t i s c h e r E r e i g n i s s e völlig ununterscheidbar sind. Nur der Sinn, dem wir dem Vorgang beilegen, läßt diesen uns als .Bestrafung' erscheinen." (Hervorh. im Original) Vgl. heute nur J A K O B S , Allgemeiner Teil2, Tz. 1/1: „Welchen Inhalt und welche Aufgabe Strafe hat, läßt sich - auch beschränkt auf staatliche Strafe - nicht unabhängig vom Bestand der Ordnung ausmachen, in der gestraft wird, und auch nicht unabhängig von der Verständigung über den Sinn dieser Ordnung." und Tz. 1/2 f., 1/9 ÍF. Zu den folglich unüberwindlichen Schwierigkeiten, einen Begriff der Strafe im Verfassungsrecht aus ihrem „Wesen" abzuleiten, s. VOLK, ZStW 83 (1971), 405 ff., 426 f., 433 f. 250 P A E F F G E N , Vorüberlegungen, S. 53 Fn. 194 (auf S. 54); in den U . S . A . der vom Supreme Court ent-

wickelte Mendoza-Martinez-Test,

Kennedy v. Mendoza-Martinez,

9 L.Ed.2d 644 (1963), dazu siehe oben S. 346 bei Fußn. 213. 251 So hauptsächlich KÜHL, siehe oben S. 72 f. 252 F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 91.

372 U.S. 144, 168 f.; 83 S.Ct. 554, $67 f.;

Α. Zur Normstruktur der Unschuldsvermutung

493

nicht strafrechtlicher Eingriffe ebenfalls diskriminierend wirken. Ist die faktische Wirkung maßgeblich, so kann zivilgerichtlichen Urteilen ebenso wie manchen präventiv-polizeilichen Maßnahmen ein solcher Effekt nicht abgesprochen werden, man denke nur an Fälle groben Vertragsbruchs oder der Schließung einer Gaststätte aus hygienischen Gründen. Unklar ist auch, wie diejenigen Kompetenzüberschreitungen der Verfolgungsorgane diskrimierende Wirkung entfalten können, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen. 253 Besser geeignet scheint die Betrachtung der mit einer Maßnahme verfolgten Zwecke bzw. der gegebenen Rechtfertigung zu sein, da die wenn auch umstrittenen Strafzwecke weniger Überschneidungen mit anderen Bereichen zulassen. Rein spezialpräventiven Strafkonzepten dürfte allerdings eine Abgrenzung zur sonstigen Gefahrenabwehr schwer fallen. Im übrigen dürfte zwar nicht selten eine poenale Motivation hinter dem Formenmißbrauch prozessualer Instrumente wie der Untersuchungshaft zu identifizieren sein, doch wie ist mit Fällen des „schlichten" Ubermaßes zu verfahren? Deshalb wird häufig indirekt angesetzt und gefragt, ob eine Maßnahme vom legitimen Prozeßzweck erfordert wird. 254 Deckt der Zweck der Verdachtsklärung die Maßnahme nicht, lassen sich auch keine präventiv-polizeilichen Gründe anführen, bleibt von dem praktischen Numerus clausus der Eingriffsgründe nur noch die Deutung als poenal. 255 Gleichwohl ist als Schwäche dieses Ansatzes nicht zu übersehen, daß mit Verfahrenszwecken gerechtfertigte Eingriffe, die der Strafe phänotypisch sehr ähneln wie langjährige Untersuchungshaft, auch den symbolischen Gehalt der Strafe annehmen und diese entwerten. Bisweilen werden diese Kriterien wohl zwecks Lückenvermeidung auch kombiniert. 256 Diese Konzepte lassen sich alle je nach Leistungsfähigkeit ihres Differenzierungskriteriums durchführen und auch noch in einem weiteren Sinne mit einer Unschuldsvermutung verbinden. Eine Begründung für die Wahl des einen oder des anderen Konzepts gibt die Vermutungsform nicht her. Allerdings vermag die Rede von einer „Vermutung" einige Unklarheit zu stiften. Zu beachten ist zudem die Formulierung der Prämisse unseres Konditionals, die den Nachweis der Straftat und alle übrigen zur Bejahung der Voraussetzungen eines Strafurteils nötigen materiellen und prozessualen Bedingungen in sich aufnimmt. Somit richtete sich unsere „Vermutung" auf das NichtVorliegen der Gesamtheit der notwendigen Bedingungen des Eingriffs. So ist die Redeweise von der Unschuld im Sinne des Nicht-begangen-Habens nicht falsch, aber unvollständig. Ebenso könnte man eine Vermutung aufstellen, daß jeder Angeklagte zwar die ihm vorgeworfenen Straftaten begangen hat, sie aber alle verjährt sind etc. Undifferenziert angewandt, verführt die Redeweise von der Vermutung dazu, das Fehlen einer Begründung mit dem NichtVorliegen der in für diese Begründung notwendigen Elemente zu identifizieren, womit die Möglichkeit einer erfolgreichen Begründung überhaupt verneint würde.

253 Zahlreiche Zweifelsfälle aus der Judikatur listet VOLK, ZStW 83 (1971), 405-433, auf. S.a. HIRSCH, Festschrift Engisch, S. 304 ff. 254 Siehe oben S. 71 bei Fußn. 211. 255 So ist ein Kriterium des Mendoza-Martinez-Tests, ob für den Eingriff vernünftigerweise eine alternative Rechtfertigung unter Wahrung des Ubermaßverbots gefunden werden kann oder ob er nur als Sanktion erklärbar ist, Kennedy v. Mendoza-Martinez, 372 U.S. 144, 168 f.; 83 S.Ct. 554, 567 f.; 9 L.Ed.2d 644

(1963). 256

Kennedy v. Mendoza-Martinez,

372 U.S. 144,168 f.; 83 S.Ct. 554, 567 f.; 9 L.Ed.2d 644 (1963).

494

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

6. Fazit zum Vermutungscharakter Es zeigt sich, daß die Unschuldsvermutung als sachverhaltskonstituierende Vermutung konzipierbar ist, allerdings nur in Grenzen. Eine ausnahmslose Geltung im vorprozessualen Bereich führt sich selbst ad absurdum. Kriterien für die Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung in den verbleibenden Fällen ergeben sich aus der Vermutungsstruktur nicht, wenn man nicht den Vermutungsschluß zu einem Faktum hypostasiert. Weil der Kreis der Tatbestände, für den der Vermutungsschluß gelten soll, allein normativ bestimmbar ist, folgt aus der notwendigen Einschränkung der Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung, um ihre Widerlegung zu ermöglichen, daher ebenfalls nicht, daß sie nicht als gesetzliche Vermutung darstellbar sei. Die maßgeblichen Fragen sind vielmehr, ob die Konstruktion als Vermutung außerhalb der Urteilsberatung eine sinnvolle Form für den mit ihr verfolgten Regelungszweck ist, und bejahendenfalls, nach welchen Kriterien ihr Anwendungsbereich zu definieren ist. Versteht man sie in einem übertragenen Sinn als Komplement des Verfahrenserfordernisses für die Verhängung von Strafe, so bleiben ebenfalls die wesentlichen Fragen offen: Der Anwendungsbereich, namentlich eine Begrenzung auf das Strafrecht, die Widerlegungskriterien sowie überhaupt ein Einfluß auf das Beweisverfahren. Fraglich ist ferner, ob eine einheitliche Begründung für die Beweislastregeln und die sonstigen EingrifFsverbote gegeben werden kann. Zweifelhaft erscheint zudem, ob viele der intendierten Wirkungen nicht genauso aus dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abzuleiten wären.257

B. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung I. Begründungen aus metaphysischen oder empirischen Prämissen Die Konzeption der Unschuldsvermutung als gesetzliche Vermutung im eigentlichen oder übertragenen Sinne läßt fast alle inhaltlichen Fragen offen. Zu klären ist vor allem, ob darin überhaupt eine dem Regelungsziel adäquate Form gefunden ist. Eine inhaltliche Festlegung oder wenigstens Konkretisierung könnte von den Begründungen zu erwarten sein, die für die Unschuldsvermutung gegeben werden. Ihre allgemeinste Form finden sie in bestimmten Menschenbildern, aus denen eine „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" abgeleitet wird.

I. Kategorisches Argument aus der conditio

humana

Ein unbedingtes Argument des Typs „Alle Menschen sind gut/rechtstreu", das den zwingenden deduktiven Schluß auf die Rechtstreue des einzelnen erlaubte, wird nicht vertreten. Es wäre auch nicht plausibel, da sich die Erfahrungsfestigkeit der Prämisse, wenn sie denn wenigstens auch die Phänomenologie des Menschen beschreiben wollte, nicht einmal ansatzweise darlegen ließe.

257

So bereits MROZYNSKI, J Z 1978, 255, 256.

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

495

So haben auch weder die antike noch die mittelalterliche Naturrechtslehre die Bonität des Menschen als Istzustand behauptet: Die idealistischen Lehren haben zwar das vollendete oder naturgemäße Sein mit dem Guten als entelechiale Form identifiziert, das jedoch mit der äußeren — verderbten — Wirklichkeit als bloßer Potenz der Substanz nicht übereinstimmte. 258 Für jegliche christliche Lehre kommt eine uneingeschränkte grundsätzliche Bonität des Menschen trotz der Güte der Schöpfung nach dem Sündenfall ohnehin nicht mehr in Ansehung - der biblische Text legt das Gegenteil nahe.259 Das Maß der Entfernung von der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit sowie der Weg der Uberwindung der Sünde hat in den Gnadenlehren der christlichen Konfessionen sehr verschiedene Beurteilungen erfahren. Während die protestantischen Lehren ein eher dunkles Bild der Menschennatur zeichnen, ist die Polarisierung der katholischen Gnadenlehren ausgeprägter. Der vergleichsweise geringen Bedeutung der Erbsünde in der jesuitischen Lehre stand beispielsweise der Jansenismus gegenüber mit der Annahme eines natürlichen Hanges zum Schlechten. 260 So haben die kirchlichen Juristen wie MENOCHIUS und BARBOSA, die eine Bonitätsvermutung auf den Überresten des status innocentiae und einer Vermutung gegen die Heilsvergessenheit des einzelnen zu gründen suchten, mit Mühe unternommen, dem Einwand der Erbsünde zu begegnen.261 In ihren Systemen blieb die Bonitätsvermutung aber stets allgemeinstes Indiz, das durch jegliche konkretere, abweichende Wirklichkeit entkräftet wurde. Später versuchte LUDOVICI wie gezeigt mit einer Trennung des philosophischen oder theologischen Bonitätsbegriffs von dem juristischen die theologische Gewißheit der bösen Natur des Menschen zu umgehen, indem Bonität auf äußerliche Rechtstreue beschränkt wurde, die weder in einem klaren Ableitungsverhältnis zu einem Menschenbild noch zur Empirie steht. 262 In der Neuzeit hat ROUSSEAU am eindringlichsten betont, daß der Mensch von Natur aus gut sei, doch gilt diese Aussage nur für den Naturzustand, der nach Erfindung der Künste unwiederbringlich verloren ist.263 Gleichwohl nahm die französische Aufklärung und die

258 Vgl. nur THOMAS VON AQUIN, Summa Theologica, II i, Qu. 18, 3 ad 3: „bonum convertatur cum ente", vgl. auch Qu. 71, 2. Art. Dazu WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 29 ff., 58. 259 ι. Mose 8, 21: „[...] denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an;". 260 MARUCCI, Giur.compl.cass.pen. 1 9 4 9 , 1 1 7 , N8; zur Einordnung des Jansenismus in die Gandenlehren seiner Zeit s. nur SCHMIDT-BIGGEMANN, „Jansenismus" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Sp. 633 ff., 635.

Aus jüngerer Zeit vgl. allgemeiner zum Einfluß der Sündhaftigkeit auf die Menschennatur nur FUCHS, Lex naturae, S. 57 ff. 261 Siehe zum einen MENOCHIUS, der durch die Erbsünde die essentia der Seele als nicht berührt und die Erbsünde obendrein durch den Tod Christi und die Taufe als überwunden ansah (womit sich die Entelechie vollendet hätte!), zum anderen BARBOSA, daß die aus der Erbsünde fließende Neigung zum Bösen an der natürlichen Möglichkeit und Fähigkeit, das Gute zu verwirklichen, nichts ändere, siehe oben S. 16 Fußn. 39. - Möglichkeit und Fähigkeit zum Guten erlauben aber noch keinen Schluß auf ihre Betätigung, siehe unten bei Fußn. 274 f. 262

LUDOVICI, De Prasumptione Bonitatis, §§ 1 1 - 1 3 , S. 13-16, oben S. 21 f.; ähnl. STÄNGLIN, De Presìdio Innocenti¡e, Thesis I—III, S. 4 ff., der innocentìa nur auf die zur Aufrechterhaltung der Ruhe (tranquilitas) der menschlichen Gesellschaft nötigen Eigenschaft, der Abwesenheit von Delikten, bezieht, da wegen des Sündenfalls „in judicio divino nemo innocens deprehendatur", ibid. S. 5. 263 ROUSSEAU, Discours de l'inégalité parmi les hommes, S. 314 Anm. (/) [auf S. 401, dort auch auf S. 408 f. zur Unmöglichkeit, zum Naturzustand zurückzukehren], 329 ff, 331, 334 f., 336; DERS., Émile, livre IV, S. 337 ff., 340. Zur Sekundärliteratur s. ESSAID, La présomption d'innocence, Nr. 38 S. 36 Fn. 41.

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

496

Assemblée Nationale 1789 verkürzend die natürliche Güte zum Ausgangspunkt eines optimistischen Bildes des Menschen,264 welcher, wenn er nur aufgeklärt sei, sich spontan zum Guten wenden werde.265 Möglich ist das vor dem Hintergrund der RoussEAUschen Gedanken nur, wenn man den verderbten gesellschaftlichen Zustand abschütteln und den natürlichen Menschen befreien wollte.266 Eine Rückkehr in den natürlichen Zustand ist jedoch für R O U S S E A U selbst nicht denkbar, vielmehr muß der homme sauvage wie Émile zur Soziabilität erzogen werden. Eine Rückgründung der Bonität oder gar Rechtstreue des in Gesellschaft lebenden Menschen auf den status innocentiae vor dem Sündenfall oder den status naturalis mancher Gesellschaftvertragstheoretiker267 ist daher kaum schlüssig. Ein kategorisches Argument eignet aber den Begründungen, die auf ein bestimmtes Menschenbild, eine idealisierende anthropologische Grundannahme verweisen. Demzufolge sind alle Menschen entweder „von Natur aus" gut oder selbstbestimmte Wesen, die zur Einsicht in das Gute fähig und aufgerufen sind. Die Verwendung einer solchen Prämisse zur Fundierung einer normativen Unschuldsvermutung muß keinen naturalistischen Fehlschluß darstellen, wenn man eine Anordnung zur Achtung eines bestimmten Menschenbildes etwa in einer Verfassungsvorschrift ausmachen kann. Eine solche Norm mag man in Art. ι Abs. ι G G lokalisieren, wenn man den Menschen dort als Vernunftwesen betrachtet findet, das man sich in der Tat ohne die Grundannahme gesetzestreuer Veranlagung „kaum vorstellen" kann.268 So verankert K Ö S T E R die Unschuldsvermutung in der „Seinsgegebenheit" der Menschenwürde, die er wertphilosophisch interpretiert als Bild eines zur Selbstbestimmung fähigen Wesens,269 das überindividuelle Werte - welche ihm auch in der Rechtsordnung begegnen - erkennen kann und als verpflichtend erfährt. An diesem Bild festzuhalten gebiete die Unschuldsvermutung.270 In allen Spielarten einer anthropologischen These wird dem Menschen271 aber implizit als wesensgemäß zugesprochen, sich gegen das Gute, Werthafte und somit auch gegen das Recht, sollte es das Gute und Werthafte verkörpern,272 entscheiden zu können. Nach dem Sündenfall 273 koexistieren im status imperfectus gottähnliche Bonität und Gottesverleug-

264 RIEDEL, Theorie der Menschenrechtsstandards, S. 177 Fn. 16, sieht in dieser und ähnlichen Konzeptionen des „natürlichen Menschen" ein pessimistisches Menschenbild, da der Mensch im Urzustand ängstlich, schwach und schutzbedürftig sei. 265 RIVERO, «Cours de Libertés publiques», S. 36, zit. nach ESSAID, La présomption d'innocence, Nr. 46 S. 41 m.w. Nachw. 266 Dazu ARENDT, Über die Revolution, S. 137 f., 93 ff. 267 Erwägend PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 46, der diesem Begründungsstrang zu Recht nur geringe Tragweite zumißt, ibid. S. 44 ff. 268

265

A M E L U N G , Rechtsgüterschutz,

S . 3 2 6 f.

Ähnl. BVerfGE 5, 85, 204. 270 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 143 ff.; PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 65. Ähnl. ESSAID, La présomption d'innocence, Nrn. 128 ff. S. 89, oben S. 183 f. 271 Grundsätzlich als homo phaenomenon verstanden, um dessen Handeln es dem Recht geht. 272 Zur Problematik dieser Gleichsetzung s. u. bei Fußn. 280. 273 Zu einem historischen Versuch, aus dem Stande der Unschuld und der Gottesebenbildlichkeit eine Naturrechtslehre zu entwickeln, s. VALENTIN ALBERTI, Compendium iuris naturae I, §§ 14-19, zit. nach WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 135; dagegen PUFENDORF, Eris scandica, caput II, §§ V. f., S. 287 ff: Aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen lassen sich keine konkreten Aussagen über

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

497

nung, und das Vernunftwesen kann sich bei der Wahl seiner Maximen irren oder gar sich der Einsicht in das Allgemeine vollends verschließen, ein Unvernünftiger werden 2 7 4 - und gerade darin seine Fähigkeit zu moralischem Handeln bestätigen. 275 Daher folgt für den Einzelfall nichts über die Verhaltensweise eines Beschuldigten, wenn die Wahl seiner

Maxi-

men kontingent ist. Die Grundannahme kann auch nicht durch das Verhalten eines, worauf FRISTER zutreffend hinweist, 276 oder aller widerlegt werden, da sie durch diese Verhaltensmöglichkeit definiert ist. Allenfalls kann das Menschenbild erschüttert werden, sofern es eine empirische Basis beansprucht, 277 transzendentale Thesen bleiben ohnehin intakt. Eine Präferenzrelation, die im Zweifel das Festhalten an einem Bild des Menschen als eines auf Selbstbestimmung angelegten Wesens gebieten wollte, ist nicht möglich, weil sie keine eindeutige Folge haben kann. Dieser Einwand räumt aber solche Konzeptionen nicht aus, die der Fähigkeit zur Wahl zwischen gut und böse noch eine ontisch fundierte Präferenz für das Gute zugesellen, die die Kontingenz der Wahl einschränkt, 278 worum sich die Ethik stets bemüht hat. 279 Trotz der stupenden Allgemeinheit einer solchen A n n a h m e ließe sich mit dieser Präferenz jedenfalls eine Argumentationslastverteilung und ein Präferenzprinzip wie die strafrechtliche Beweislastregel begründen.

die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander treffen. Denn: „Enimuero eam operam frustra sumi adparet, si consideretur, accuratiores Theologos, non refragante A L B E R T O tradere; imaginem Dei sensu Biblico sola spiritualia compierti, quo sensu eam penitusperiisse." ibid., S. 288 (Hervorh. im Original); auch verwechsele A L B E R T I Moraltheologie und Naturrecht, ibid. S . 289. Dazu W E L Z E L , Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 135. 274

Darauf zielend auch LISKEN, Z R P 1994, 264, 268. Folgerichtig konstatiert HABERLE, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 56, daß das „Menschenbild im Strafrecht" „gemischter Natur" sei: „Die Existenz des — verfassungskonformen — Strafrechts rechne damit, daß der einzelne Mensch straffällig werden kann und insoweit Mißtrauen verdient; anders die Unschuldsvermutung." 275 So ist es für KANT ganz selbstverständlich, daß man beim Menschen, der sowohl Vernunftwesen als auch ein „mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen" affiziertes Wesen ist, „keinen h e i l i g e n Willen, d.i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maxime fähig wäre, voraussetzen kann", vielmehr wird der solchermaßen pathologisch affizierte Wille des homo phaenomenon dem moralischen Gesetz oft entgegen sein, Kritik der praktischen Vernunft, § 7 Anmerkung, S. A 58. Vgl. auch 1 K A N T , Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft , Β 48 f. (S. 694): „Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er s i c h s e l b s t machen, oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder m o r a l i s c h gut noch böse sein. Wenn es heißt: er ist gut geschaffen, so kann das nichts mehr bedeuten, als er zum G u t e n erschaffen, und die ursprüngliche A n l a g e im Menschen ist gut; der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern, nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt, oder nicht (welches seiner freien Wahl gänzlich überlassen sein muß), macht er, daß er gut oder böse wird." (Hervorh. im Original). Die gute oder böse Anlage tritt folglich hinter der ursprünglichen moralischen Anlage (ibid., S. Β 58 f./S. 700 f.), die ihm Erkenntnis und Wahl der Pflicht ermöglicht, zwangsläufig zurück. Im übrigen ist für KANT neben dem Guten (ibid. S. Β IJ ff./S. 672 ff.) notwendig auch das Böse in dieser Anlage mitenthalten, ibid. S. Β 2θ ff., Β 39 ff. (S. 675 ff., 688 ff.). Vgl. auch H E G E L , Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 18 m. Zusatz, S. 69. 276

277

Bd.

II, 278 275

F R I S T E R , Schuldprinzip, S . 75. Wie bei SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, S . 263, 268 f.; A U E R , Die Verteilung der Beweislast, S . 39 f. So K Ö S T E R , Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 143 ff. Dazu L U H M A N N , Rechtssoziologie*, S. 118.

498

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Eine solche anthropologische Prämisse über die moralische280 Bonität des Menschen erlaubt jedoch nur dann einen Schluß auf seine Rechtstreue, wenn vorausgesetzt ist, daß die Rechtsordnung dem ihr zugrundeliegenden Menschenbild gänzlich adäquat ist: Nur dann kann sich die grundsätzliche Güte des Menschen in grundsätzliche Normtreue als Betätigung dieser natürlichen Gutheit übersetzen lassen. Dies ist noch einigermaßen plausibel darstellbar in ganzheitlichen Ordnungen, die ihre eigene Ontologie enthalten und in ein übergreifendes Deutungsschema integrieren und somit das Sollen durch ein klar beschreibbares Sein für eindeutig determinierbar halten können, so z.B. in theologisch dominierten Gesellschaften (nemo immemor suae salutis) oder in der Vernunftherrschaft der Aufklärung, auch in der staatslosen Gesellschaft der verwirklichten marxistischen Utopie. Selbst dann ist die Möglichkeit individueller Abweichung, individuellen Böseseins, sei es auch nur noch als Krankheit erklärbar, nicht ausgeschlossen. Liegen Indizien dafür im Einzelfall vor, besagt eine allgemeine Annahme natur- und ordnungsadäquaten Verhaltens wenig, was die Kanoniker zur Zeit des gemeinen Rechts durchaus erkannt haben. Heute ist eine solche Begründung der Unschuldsvermutung wenig überzeugend. Wenn Recht als positiv im Sinne von änderbar verstanden wird,281 seine Inhalte nicht mehr durch Reflexion ohne weiteres erkennbar sind wie bei einer lex corde hominum inscripta, so wird der Schluß von der faktischen Prämisse einer natürlichen Güte auf ein Faktum der natürlichen Bereitschaft zur und Aktualisierung von Rechtstreue entkoppelt. Konzediert man diese Unerkennbarkeit des Rechts, so mag man nur auf der Basis von Restbeständen eines naturrechtlichen Mythos der inhärenten Vernünftigkeit einer jeglichen Rechtsnorm dann noch insistieren, daß der Bürger, so er eine Rechtsnorm einmal zur Kenntnis genommen hat, sich an ihr orientieren werde aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit. Wird Recht nunmehr als machbar und gemacht begriffen, bezieht es seine Existenz und Autorität aus regelgeleiteter Setzung und Durchsetzung ohne Rückgründung auf transzendentale Richtigkeitskriterien, so verliert eine anthropologisch gegründete Vermutung genereller Bereitschaft zu normtreuem Verhalten nicht nur ihr Fundament, sondern auch ihre rhetorische Bedeutung, die in der Exaltierung der Würde des Individuums liegt, weil sie behaupten müßte, daß der Mensch von Natur aus gehorsam ist und handelt, wie ihm von der positiven Norm geheißen. Daß der Mensch kraft seiner natürlichen Güte dazu neigt, die Normen des Steuerrechts oder des Baurechts zu befolgen, wird daher auch nicht behauptet. Zudem nötigten Erscheinungen massierten Normbruches wie in Steuer- oder Straßenverkehrsrecht zu der Erklärung, daß entweder die Natur des Menschen zunehmend verderbt oder daß die gebrochenen Normen naturwidrig seien. Daß eine Berufung auf Menschenbilder im Strafrecht häufiger vorkommt, läßt sich dadurch erklären, daß sich zumindest die Vorschriften des Kernstrafrechts als änderungsresi-

280 Die Schwierigkeit bei Aussagen über die ursprüngliche oder naturhafte oder wesenseigene bonitas des Menschen liegt oftmals in der Unklarheit über den Maßstab, der gut von böse scheidet. In Frage kommen religiöse, moralische oder rechtliche Kriterien, so daß es wie seit dem 17. Jahrhundert formuliert sektorielle Bonitäten geben kann, die voneinander unabhängig bestehen. Für die Beurteilung der „Natur" des Menschen, die nach der aufklärerischen Tradition als einer Vergesellschaftung und erst recht einem Staat vorausgehend gedacht wird, kommen wohl nur transzendentale Kriterien, religiöse oder moralische, in Betracht. 3 281 Vgl. nur L U H M A N N , Rechtssoziologie , S. 207 ff.

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

499

Stent gezeigt und gesellschaftlichen Wandel mitunter über Jahrtausende überstanden haben, so daß ihnen eine quasi-naturrechtliche Dignität eignet.282 Praktisch führt ein Verständnis der Unschuldsvermutung als Ausdruck einer anthropologischen Prämisse, eines bestimmten Menschenbildes, dazu, sie anderen Ordnungen, denen man ein abweichendes Menschenbild als Grundlage unterstellt, abzusprechen.283 Sofern sich eine Ordnung als auf ein bestimmtes Menschenbild gegründet und als ihm entsprechendbeschreibt, gehört es jedenfalls zur rhetorischen Konsistenz dieser Beschreibung, eine allgemeine Normtreue zu postulieren. Dies trifft sowohl auf die westlichen Gesellschaftssysteme als auch auf die ehemals sozialistischen Ordnungen zu.284 Die Berufung auf ein bestimmtes Menschenbild, auf eine bestimmte Natur des Menschen ist daher vor allem zur Zeit der Aufklärung wohl als „Kampfmittel" 285 zu deuten, das einem durchzusetzenden Sozialentwurf rhetorische Emphase - schon durch die der Eigenliebe schmeichelnde Vorstellung naturhafter Güte des Menschen - , aber kein sachliches Begründungselement verleiht, wie Anrufungen der Natur stets nur wiedergeben, was eine vorherige Wertentscheidung in diese Natur hineingelegt hat.286 Ihre Anziehungskraft seit der Aufklärung verdankt die Unschuldsvermutung gewiß zu einem nicht geringen Teil ihrem Charakter als Säkularisat287 des christlichen Gedankens der wesenhaften Gutheit der Schöpfung, an der die Menschennatur wenigstens in ihrer Potenz teilhat. Davon zu trennen ist die bereits angedeutete Möglichkeit, daß es ein in einer positiven Rechtsordnung normativ fixiertes Menschenbild gibt im Sinne eines abstrakten Sammelbegriffs verbindlicher prinzipieller Normierungen. Eine explizite Formulierung dieser Art fehlt jedenfalls im deutschen Verfassungsrecht ebenso wie in den anderen hier betrachteten Rechtsordnungen mit Ausnahme der französischen, wenn man in der in der Verfassung inkorporierten Menschenrechtserklärung von 1789 zugleich ein „Menschenbild" gezeichnet sieht. Ob die gleichwohl stattfindende Berufung ζ. B. auf ein „Menschenbild des Grundgesetzes"288 mehr darstellt als eine Abbreviatur für die Summe und Einheit der subjektiven

282 So daß noch bis in die jüngste Zeit den Tatbeständen des Kernstrafrechts der Charakter von mala in se zugewiesen werden konnte, vgl. nur A R T H . K A U F M A N N , Das Schuldprinzip, S. 130 ff., 200 f. m.w. Nachw. Da aber zugleich für das Neben- oder Ordnungsstrafrecht anerkannt werden mußte, daß es sich um delieta mere prohibita handelt, deren Inhalt nicht durch Introspektion ermittelt werden kann, ergibt sich hier eine erste Bruchstelle in der Ableitung von Rechtstreue aus Bonität, die man beheben kann, indem man dem Gesetzesgehorsam generell eine ethische Dimension verleiht, so A R T H . K A U F M A N N , ibid., S. 136 f., 200 f. 283

284

W i e z . B . B I L I N S K Y , R O W 1 9 6 2 , 55, 5 9 .

Zu letzteren s.u. Fußn. 306. So W E L Z E L zum Naturrecht in Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 243. 286 W E L Z E L , Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S . 16 f., 30 f., 61, 225, 242 f., 249. Insofern zustimmend auch der Rechtsanthropologe L A M P E , Grenzen des Rechtspositivismus, S . 46 f. m. Nachw. Zur Unergiebigkeit anthropologischer Begründungsversuche hingegen s.a. R I E D E L , Theorie der Menschenrechtsstandards, S. 178 ff., 346 ff. 287 Zum Begriff der Säkularisierung als neuzeitlicher Verformung genuin theologischer Inhalte in weltliche und des Säkularisats als deren Resultat s. nur B L U M E N B E R G , Legitimität der Neuzeit1, S. 20 ff. 288 Vgl. nur BVerfGE 4, 7, 15 f.; 5, 85, 204. Zum Ganzen mit umfangr. Nachw. H A B E R L E , Das Menschenbild im Verfassungsstaat, krit. D R E I E R , A Ö R 116 (1991), 623 ff. 285

500

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Rechtsverbiirgungen der Verfassung, muß bezweifelt werden. Aus einer Projektion rechtlich verbindliche Folgerungen zu ziehen, die nicht schon aus den einzelnen Grundrechten ableitbar sind, begegnet erheblichen methodischen Bedenken. 289 Wenigstens für das deutsche Verfassungsrecht kann ein konturiertes und in den Einzelheiten widerspruchsfreies „Menschenbild" nicht gefunden werden. 250 Die Verwendung einer solchen argumentativen Generalklausel, die als „(Schein-)Konsens auf hoher Generalisierungsebene" 29 ' sachliche Regelungsprobleme eher verdeckt als zu lösen hilft, ist wegen der damit notwendig verbundenen Beliebigkeit ihrer Ausfüllung abzulehnen.292 Soll die Berufung auf ein im deutschen Recht in Art. ι G G verankertes Menschenbild lediglich einen Achtungsanspruch 293 ausdrücken, so fragt sich zudem, wieso es für dessen Begründung des Rückgangs zu einer idealen Menschennatur bedarf und Art. ι G G nicht schon hinreichen müßte, insbesondere warum es der Annahme der Bonität bedarf, um die Menschenwürde des Beschuldigten zu respektieren, die nach dem Verfassungstext uneinschränkbar ist und folglich auch durch Begehung von Straftaten nicht verwirkt werden kann 294 . Allenfalls könnte die Unschuldsvermutung rhetorische Verstärkung, keinesfalls Rechtsgrund eines Achtungsgebotes sein.

2.

Statistisches Argument

Wie oben ausgeführt, entstanden zur Zeit gesetzlicher Beweistheorien viele Vermutungen aus rechtlich approbierten Wahrscheinlichkeitsaussagen (id quod plerumquefit). So finden sich in mehreren Rechtsordnungen Autoren, die die Unschuldsvermutung auf statistische Argumente stützen wollen oder sie damit verwerfen bzw. ihre Geltung von der Gültigkeit der zugrundeliegenden statistischen Aussage abhängig machen wollen. 295 Nun kann das statistische Argument zwei Formen annehmen: Die Menschen sind überwiegend (zu mehr als 50%) unschuldig (rechtstreu). Der Beschuldigte X ist ein Mensch. .·. X ist unschuldig.

289

Ablehnend daher BVerfGE 50, 290, 337 ff., für ein „Insgesamt der Grundrechte"; DREIER, AÖR 116

(1991), 623, 6 2 7 f. 290

Auch HABERLE, der an der Verbindlichkeit eines verfassungsrechtlichen Menschenbildes festhält, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 75 f., konstatiert, daß es nicht ein, sondern mehrere, sich teilweise widersprechende Menschenbilder gebe, ibid., S. 41 ff., 61 ff., 73 f. 291

292

D R E I E R , A Ö R 1 1 6 (1991), 623, 6 2 7 .

Ebenso DREIER, AöR 116 (1991), 623, 627 f. Warnend gleichwohl auch HABERLE, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 63. 293 Vgl. PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 52; H. FRANKE, Freispruch mangels Beweises, S. 49 f. 294

295

M A U N Z / D Ü R I G , A r t . 1 1 R n . 21.

SCHNEIDER, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, S. 263, 269 m. Fn. 28. Dem folgend sein Schüler AUER, Die Verteilung der Beweislast, S. 25 ff., 40. S. auch oben S. 206 f., 282 m. Fußn. 215 und 218, S. 287, 360 f. m. Fußn. 315.

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

501

Dabei bedeutet „ist unschuldig" in der conclusio dasselbe wie umgangssprachlich „ist wahrscheinlich unschuldig", da es sich um einen induktiven Schluß handelt, im Unterschied zu „muß unschuldig sein", wie es beim deduktiven Schluß folgen würde. Bekanntlich ist die Freispruchquote gering. 296 Möglich ist daher auch: D i e meisten (mehr als 5 0 % ) Beschuldigten (Angeklagten) sind nicht unschuldig. Der Beschuldigte X ist ein Beschuldigter (Angeklagter). .·. X ist nicht unschuldig. Die Prämissen beider Argumente können nebeneinander bestehen, nicht aber beide Schlußfolgerungen. Diese Situation entsteht bei induktiven Argumenten dann, wenn nicht genügend Erfahrungsdaten zur Einbettung der zweiten Prämisse bereitstehen oder benutzt werden. Eine Vereinigung beider Argumente ergibt nichts von dem zweiten Argument Verschiedenes, außer daß die meisten Beschuldigten Menschen sind. Will man also eine relevante Aussage über die Schuld eines Beschuldigten treffen, wird man um das zweite Argument nicht umhin können, 2 9 7 so man sich nicht dem „Fehlschluß des unvollständigen Erfahrungsdatums" 2 9 8 aussetzen will. N u r bei solchen Vermutungen, deren Vermutungsbasis nicht zugleich Daten enthält, die dem Vermutungsschluß zuwiderlaufen, kann eine statistische Aussage ein plausibles Motiv abgeben, wie KAMINSKAJA gezeigt hat: so bei der Vermutung, daß die Menschen allgemein eher zum Guten als zum Bösen neigten, der Vermutung der Rechtmäßigkeit des Besitzes, der Formgültigkeit von Rechtsgeschäften, der legitimen Geburt etc. Indem die Unschuldsvermutung jedoch sich nicht auf schlechthin jedermann, sondern gerade den Beschuldigten oder Angeklagten beziehe, enthalte sie spezifische Daten, die der Erfahrung nach den Schluß auf strafrechtliche Schuld wahrscheinlicher machen als auf Unschuld. Sie charakterisiert die Unschuldsvermutung daher als künstliche oder Quasi-Vermutung, die keine empirische Grundlage habe. 299

296 Vgl. die Zahlen von 1987 bis 1991 der nach allgemeinem Strafrecht Abgeurteilten für die Bundesrepublik Deutschland: Jahr Abgeurteilte Freisprüche ohne Maßregeln Einstellungen π 1987 737-932 28.162 (3,8%) 7·834 1988 754.560 27-793 (3,7%) I20.0I3 1989 755-3^7 26.829 (3.6%) 119.009 1990 756.285 24.981 (3.3%) 115.296 1991 754-420 23.074 (3,1%) 107.794 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 3 (Strafverfolgung), Wiesbaden 1987-1991. 297 Zur Wahl der Referenzgruppe s. BERG, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung, S. 93 m.w.Nachw. PERELMAN/OLBRECHTS-TYTECA, Traité de l'Argumentation2, S. 96 ff. Ahnl. PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 50. Siehe oben S. 183, 282, 360 f., 382, 385, 402. 2,8 Bezeichnung von SALMON, Logik, S. 183. 299 KaMHHCKaa, Ynenue o npaeoebix npesyMnuunx β yzoAoeuoM npou,ecce, S. 96, auch S. 91, 95, 105; ebenso CTporOBHM, Πραβο oßeiiuneMozo HÜ 3aw,umy u npesyMnuua neeunoenocmu, S. 88, 92.

J02

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Eine statistische Begründung der Unschuldsvermutung angewandt auf den Einzelfall

ist

folglich implausibel. 300 Es könnte nicht einmal eine dem Beschuldigten günstige Entscheidungsregel für das non liquet begründet werden. 301 Im übrigen wird das Wesentliche der Unschuldsvermutung oft gerade in ihrer kontrafaktischen W i r k u n g gesehen, sowohl in einer Situation, in der eine starke Wahrscheinlichkeit für die Schuld eines einzelnen Verdächtigen spricht, ja selbst wenn eine allgemeine Wahrscheinlichkeit rechtmäßigen Verhaltens nicht mehr bejaht werden könnte. 3 0 2

3.

Grundsätzliche Normbefolgungsbereitschaft als Grundannahme jeder normativen Ordnung

Unabhängig von anthropologischen oder stochastischen Begründungen ist es eine G r u n d annahme jeglicher normativer Ordnung, daß die Mitglieder der Gemeinschaft, für die diese Ordnung gilt, zu dem in den N o r m e n erwarteten Verhalten fähig sind und sich überwiegend normtreu verhalten werden. Sofern Sinn einer N o r m ist, die Orientierung in der Welt zu erleichtern, wenn nicht zu ermöglichen, 303 setzt dies voraus, daß jemand diese N o r m befolgt, also die in ihr ausgedrückte Verhaltenserwartung erfüllt, und zwar nicht nur zufällig, sondern regelmäßig, und nicht vereinzelte Individuen, sondern im Grundsatz jedermann. 3 0 4 Ohne diese Voraussetzung ist die Aufstellung von Normen sinnleer, es bliebe allein der Versuch si-

300

Statistische Analysen besagen für den konkreten Fall nichts, LUHMANN, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normenì, S. 6 f. mit Verweis auf GEORGES SPENCER BROWN, Probability and Scientific Inference, London 1957. Zutreffend wandten sich daher schon FARINACIUS, Praxis et Theorica criminalis, lib. I. titvl. V. de Indiciis & Tortura, quaestio XLVII, Nr. 285 S. 743 und MENOCHIUS, De Prasumptionibus, liber V, praesumptio I, Nr. 33, S. 646, gegen die Auffassung, die allgemeine Bonitätsvermutung werde nicht durch eine spezielle Deliktsvermutung verdrängt. Ihre allgemeine Bonitätsvermutung beruht zwar auf metaphysischen Annahmen, wird aber eingereiht in zahlreiche induktive Schlüsse und ebenso behandelt. Die aliquapresumilo sceleris specialis erweitert folglich die Tatsachenbasis. Ebenso die Autoren oben S. 20 Fußn. 61. Folglich bestehe, so OSTERMEYER, Straftinrecht, S. 69, beim Richter auch psychologisch eine Schuldvermutung. 301 Vor allem dann nicht, wenn man ebenfalls eine Ausgangsvermutung für die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns aufstellt. AUER, Die Verteilung der Beweislast, S. 29 ff., 36 f., findet sein „Erklärungsprinzip" für die Beweislastregelung daher in dem Wertverhältnis der Prozeßsubjekte, daß die Wahl zwischen den konkurrierenden tatsächlichen Vermutungen entscheidet. 302 So PAEFFGEN, Vorüberlegungen, S. 55; DERS., Haftgründe, Haftdauer und Haftprüfung, S. 113, 131 Fn. 85; SK-StPO/PAEFFGEN, Vor § 112 RN. 26; LEIPOLD, Beweislastregeln, S. 131,134 (für in dubio pro reo, mit dem er die Unschuldsvermutung gleichsetzt). 303 Denn in der Ermöglichung und Garantie der Annahme, die künftige Welt werde „normkonform aussehen", liegt der Sinn normativer Erwartungen und damit von Rechtsnormen, dazu JAKOBS, Festschrift Miyazawa, S. 419, 423 bei Fn. 8. 304 So schon SCHOLZ, ArchCrimR N.F. 1 (1834), 396, 404: „Für gute Bürger im Staate muß die Vermutung streiten und schlechte gehören zu den Ausnahmen. Nur gegen Verletzungen der Bürger letzter Art sind die Strafgesetze gegeben, und ein Staat oder eine Gesetzgebung, da wo alle Bürger schlecht sind, läßt sich nicht denken, ist ein Widerspruch gegen den Begriff des Staates als einer geregelten fortbestehenden Verbindung." Ähnl. ESSAID, La présomption d'innocence, Nr. 128 ff. S. 89 f., oben S. 183 bei Fußn. 119 und 121 mit Verweis auf BENTHAM, der die Existenz von Normen als Beweis für die normative Ansprechbarkeit des Menschen nimmt.

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

503

tuativer O r i e n t i e r u n g in der W e l t nach kognitiven M u s t e r n . W i r d diese f u n d a m e n t a l e E r w a r t u n g in B e z u g a u f b e s t i m m t e Verhaltensformen nachhaltig enttäuscht, w i r d sich keine durch jene b e s t i m m t e gemeinsame O r i e n t i e r u n g gekennzeichnete O r d n u n g einstellen. Dieser G r u n d a n n a h m e bedürfen andere gesellschafstheoretische A n s ä t z e gleichermaßen. S o ist die A n n a h m e eines Gesellschaftsvertrages nach R A W L S s c h e m M u s t e r o h n e die g e g e n seitige Z u s c h r e i b u n g grundsätzlicher Rechtstreue seitens der Vertragsschließenden

kaum

sinnvoll. 3 0 5 A u c h ist diese G r u n d a n n a h m e kein Spezifikum einer freiheitlichen O r d n u n g : 3 0 6 N a h e liegend ist es zwar, die dezentrale V e r w a l t u n g der Existenz, die d e m einzelnen w i e in der

Nach JlHÖyc, IIpe3yMnu,UH HeeuHoenocmu β coeemcKOM yzoAOMHOM npou,ecce, S. 29, ist ohne eine Bonitätsvermutung (npe3yMnu,un doôponopadoHHoemu) sogar „wahre" (noÒAUHHO) menschliche Gemeinschaft schlechthin unwahrscheinlich. 305 „Indem sich die Vertragsschließenden mutuelle Rechtstreue versprechend adskribieren, schreiben sie einander sowohl die Befähigung als auch die Vermutung kontinuierlich rechtstreuen:,assoziationsverträglichen' Verhaltens zu. Denn was nicht hinreichend häufig allseitig erwartbar ist, kann verständigerweise nicht von allen erwartet und generell versprochen werden;", BOTTKE, Assoziationsprävention, S. 178. Diese Vermutung der Rechtstreue schreibt sich für BOTTKE in der Unschuldsvermutung fort, ibid. S. 182 f. m. Fn. 624, S. 201 m. Fn. 657. 306

Vgl. HERRMANN/LEHMANN, StuR 1957, 400, 401; HERRMANN, S t u R i 9 6 2 , 1 9 6 5 , 1 9 6 8 , wiedergegeben oben S. 408; IIOJIÎIHCKHH, CoBeTCKoe rocyflapcTBO H npaeo 1949, W? 9, S. 57, 59; DERS., Bonpocbi meopuu coeemcKozo yzoAoenoio ηρομεεεα, S. 182; I l e T p y x H H , CoeeTCKoe rocynapcTBO h npaeo 1978, 12, S. 18, 21 f.; K a c y M O B , ΠρεβγΜημιΐΗ HeeuHoenocmu β coeemcKOM npaee, S. 7; J l n ö y c , ifUH HeeuHoenocmu β coeemcKOM yzonoMuoM npou,ecce, S. 29; dazu oben S. 385, 402.

ÍIpesyMn-

Dagegen BILINSKY, R O W 1962, 55, 59: Diepraesumtio boni viri sei ein Grundpfeiler der freiheitlichdemokratischen Gesellschaft, die Diktatur des Proletariats hingegen beruhe auf einer praesumtio mali viri, nämlich der „Auffassung vom Menschen als einem mit der Erbsünde der bourgeoisen Vorurteile belasteten Wesen". Das mag für die noch zur Einsicht in die Entwicklung der Geschichte zu erziehenden Teile der Bevölkerung zutreffen, läßt sich aber schon deshalb nicht verallgemeinern, weil am Ende des Erziehungsund Entwicklungsprozesses eine - für viele gerade viel zu optimistische - Vision steht, die davon ausgehen muß, daß der Mensch in geeigneten gesellschaftlichen Umständen ein anderer, besserer, nämlich seinem idealen „wahren Wesen" völlig entsprechender sein wird. Für die die Ordnung tragende revolutionäre Elite des Proletariats, die Partei, gilt schon zuvor zwingend die Prämisse gesinnungstreuen Verhaltens. Eine andere Frage ist, wie schnell man bereit ist, eine Enttäuschung dieser Annahme zu bejahen und nach welchen Kriterien das Fehlerrisiko zugewiesen wird, dazu siehe unten S. 521 f. Nur für die freiheitliche Ordnung formuliert MAIHOFER, Menschenwürde im Rechtsstaat, S. 127 f., die Fähigkeit und den Willen zur Normtreue als faktische und normative Prämisse. Bestimmte Staatsformen scheinen zusätzlicher, speziellerer anthropologischer Prämissen zu bedürfen, so etwa das seit der Antike für die Demokratie für nötig befundene „optimistische Menschenbild", demnach der überwiegende Teil der Bürger in politischen Dingen vernünftiger Überlegung fähig und zugänglich ist, s. WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 14. Daß die Errichtung einer freiheitlichen republikanischen Staatsform auch ohne ein idealisierendes Menschenbild auskommt, zeigt indes die amerikanische Revolution, dazu ARENDT, Über die Revolution, S. 235 ff. Die Unvollkommenheit der menschlichen Natur führt zum Einbau von Kontrollmechanismen zur Begrenzung des Machtmißbrauchs, MADISON, in: The Federalist Papers, Nr. 51, S. 319 f. ("But what is government itself but the greatest of all reflections of human nature? If men were angels, no government would be necessary. If angels were to govern men, neither external nor internal controls on government would be necessary."). Somit muß nicht nur im Rechtsstaat „die Staatsgewalt davon ausgehen, daß der Staatsbürger nicht lügt", cf. WACKE, Die Beweislast der Familienunternehmen in Steuersachen, S. 64 (Hervorh. im Original).

II. Teil: Revision der vorgefundenen Interpretationsansätze

Ordnung des G G ein Höchstmaß an individueller Freiheit überläßt, 307 darauf zu gründen, daß der einzelne wohl seine Freiheit nicht zum Schaden anderer verwalten werde. 308 Jedoch erfordern auch Modelle zentraler Verwaltung der Existenz, der Lebensplanung, beispielhaft in der zentralen Verwaltung von Freiheit in totalitären Staaten, 309 — die man zudem damit begründen könnte, daß der einzelne seine Freiheit eben nicht schadlos gebrauchen werde310 - , diese Grundannahme, nicht weil es noch Restbereiche von Freiheit gibt, die sich nicht erfassen lassen, sondern selbst wenn sie sich erfassen ließen, müßten die die zentrale Verwaltungsstelle verwaltenden Menschen selbst normkonform handeln, 311 wenn es eine Ordnung sein soll. Traut man hingegen der Mehrzahl der Bevölkerung kein regelgeleitetes Handeln zu, so müßte es konsequenterweise nicht zu einer Umkehr des grundsätzlichen Regel-AusnahmeVerhältnisses zwischen Freiheitsgewährung und Verbot kommen, wie KÖSTER annimmt 312 - denn die Verbote müßten ja eingehalten werden - , sondern zu einer faktischen Einengung der Handlungsmöglichkeiten und steter Kontrolle des einzelnen, wie sie aus totalitären Systemen bekannt ist. Diese Annahme erfordert nicht viel. Sie erfordert nicht moralische Bonität, ja vielleicht nicht einmal bewußte Normbefolgung, wenn sich eine staatliche Ordnung als geschicktes Ausbalancieren der Egoismen der einzelnen Mitglieder denken ließe. 313 Auf die Motive zur Normbefolgung, ob Egoismus, Pflichtgefühl oder Angst vor Terror, kommt es insoweit nicht an. Diese Grundannahme der Möglichkeit der Orientierungsleitung oder Verhaltenssteuerung durch Normen ist nicht nur trivial, sie wird auch durch abweichendes Verhalten einzelner oder vieler nicht beeinträchtigt. 314 Denn selbst der massenhafte Bruch einzelner Normen bedeutet oft nur die Veränderung des Inhalts eines Normengefüges. Erst völlige Irregularität, der Untergang nicht nur einer, sondern aller Ordnungen auf unabsehbare Zeit, das Chaos eines verewigten HoBBESschen Urzustandes würde diese Grundannahme im-

307 Im Sinne des Grundprinzips der bürgerlichen Gesellschaft als Ordnung der Eigendynamik der Individuen, deren Lebensplanung selbstbestimmt bleibt. Vgl. KLESCZEWSKI, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, S. 349 ff. 308 Art. 2 Abs. Ι G G wird deshalb von KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 145 f., zutreffend als Anzeichen für eine Ausgangsvermutung für die Rechtstreue des einzelnen Bürgers herangezogen — doch ist diese Vermutung allenfalls Motiv der Freiheitsgewährung, nicht Rechtsgrund, wie KÖSTER es will, für eine verfassungskräftige Legalitätsvermutung. 305

Vgl. zur Bedeutung dieser Modelle ftir die Straftheorie KLESCZEWSKI, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, S. 350 f. 310 Diese Begründung findet sich bereichsweise auch in an sich offenen Gesellschaften in allen verhaltenssteuernden Normen, exemplarisch stets im Strafrecht. 311 Zutreffend erkannt von MAIHOFER, Menschenwürde im Rechtsstaat, S. 128, ohne allerdings diese Erkenntnis zu verallgemeinern: Ginge man davon aus, cIz&jede Gelegenheit aus Menschen Mörder und Räuber machte, „ . . . dann müßten wir hinter jeden Bürger einen Wächter stellen, und auch dann müßten selbst diese untereinander sich des Schlimmsten versehen". 312 KÖSTER, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 146. 313 Es kommt KANTS Diktum in den Sinn, daß das „Problem der Staatserrichtung, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar" ist, Zum ewigen Frieden, S. 37, 55 f., 56; s.a. ARENDT, Über die Revolution, S. 225 ff. 3H So auch MAIHOFER, Menschenwürde im Rechtsstaat, S. 128 f.

Β. Materielle Konstitution einer Unschuldsvermutung

plausibel werden lassen. Diese Grundannahme ist zunächst nur eine abstrakte gedankliche Prämisse und nicht notwendigerweise ein Rechtssatz. 315 Eine Aussage für den Einzelfall folgt aus ihr nicht. 316 Im übrigen bewirkt eine existente Ordnung durch die Sozialisierung der Menschen einen Hang zur Einhaltung der jeweiligen Normen und fördert, wenn sich die Alternative konformen oder abweichenden Verhaltens stellt, die Wahl des konformen Verhaltens. 317 Eine statistische Aussage über überwiegend normtreues Verhalten hat gewiß eine empirische Basis, die aber von Norm zu Norm variiert und über den Einzelfall zu wenig aussagt. Warum diese empirische Basis zu einer Norm erhoben werden soll, ergibt sich hingegen nicht aus ihr selbst.

II. Andere moderne Ansätze ι.

Verhältnis Bürger-Staat, Rechtsstaatlichkeit,

in dubio pro liberiate

Unter der Geltung des Grundgesetzes ist die Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen vielfach als Element der Menschenwürde angesehen worden. 318 Sie läßt sich aber ebenso als Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesens im klassischen Verständnis des Begriffs begreifen: „Im Rechtsstaat spricht die Vermutung für die Freiheit der Bürger von staatlichem Zwang.", wie FLEINER 319 es noch 1928 formuliert hatte. Dies ist lediglich wie gezeigt320 das Korrelat des Erfordernisses des Gesetzesvorbehalts fur einen staatlichen Eingriff in Freiheit und Eigentum oder heute in die Grundrechte 321 bzw. allgemeiner einer Argumentationslast des Staates für Eingriffe. Es gilt, daß die Freiheitsbeschränkung explizit gemacht werden muß und expliziter Rechtfertigung bedarf. 322 In dieser Weise, nämlich als

315

SCHOLZ, ArchCrim N.F. 1 (1834), 396, 404, leitet daraus aber die Unschuldsvermutung her. Der Gedanke liegt im übrigen auch dem haftungsbegrenzenden Prinzip des Vertrauensgrundsatzes im Strafrecht zugrunde, ohne das „Sozialität nicht denkbar", (JAKOBS, Grundlagen der objektiven Verhaltenszurechnung, unveröfF. Manuskript, S. 13), wäre: Das Individuum soll vor allem in arbeitsteiligen Kontexten auf rollenkonformes, mithin normkonformes Verhalten anderer vertrauen dürfen — falls das Gegenteil nicht offenbar ist —, ohne Haftung für deren Rollenbruch fürchten zu müssen, wenn dieser an einen vom ihm ausgelösten Kausalverlauf anknüpft. Jegliche soziale Interaktion würde gelähmt, wenn jeder, um Haftung zu vermeiden, alles „Kontrollierbare kontrollieren" müßte, JAKOBS, Strafrecht Allgemeiner Teil1, Tz. 7/53; DERS., Festschrift Miyazawa, S. 419, 423 bei Fn. 8. 316

317

318

L U H M A N N , Rechtssoziologie,

S. 125.

Dazu siehe oben S. 48 f. 319 FLEINER, Institutionen des deutschen Verwaltungsrecht?, S. 131. 320 Siehe oben S. 476 ff. 321 N u r in diesem Sinne verwandte das Bundesverfassungsgericht den Begriff einer „grundsätzlichen Freiheitsvermutung" in B V e r f G E 6, 32, 42, vgl. FRISTER, Schuldprinzip, S. 72 Fn. 18. 322 Vgl. schon BURCKHARDT, Methode und System des Rechts, S. 212: „Für das Polizeirecht gilt der Satz, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Wenn der Staat die private Freiheit einschränken will, muß er es sagen." BURCKHARDT wendet sich aber gegen den Gebrauch von Präsumtionen im objektiven Recht sowie gegen Zweifelsregeln wie in dubio pro libértate, weil dann jede Einschränkung als von vornherein unrichtig gelten müßte, ibid. S. 212 Fn. 85, 287 f. Auch ALEXY, Theorie der Grundrechte, S. 517 f., versteht die Freiheitsvermutung als Argumentationslast.

5• CTporoBHH, MnxaHJi C O J I O M O H O B H H

STROGOVI legal guilt conclusive presumptions 325 CARRARA

14, 20, 372

Darlegungslast 265 ff. s.a. evidential burden Dauer — der Untersuchungshaft -> dort — des Verfahrens - Beweismaß Constitutio Criminalis Carolina Corpus Iuris Canonici 13, 14 Crime Control Model 365 f. CSSR 414

213

Drittwirkung 66 f., 147 ff, 159 f., 234, 303, 402, 411, 417, 428, 560 f. Due Process Clause 320 f., 324, 334, 351, 353 Due Process Model 302, 366 f. due process of law 285, 356, 361, 369, 543 — Begriff 351 —procedural due process 351, 357 — substantive due process 334 f., 350 f., 355 f., 372 Durchsuchung 110 f., 113 DWORKIN 352,444 Ehrdelikte 160, 250, 420 Ehre 16, 38 f., 93,184, 231, 379, 439, 541 ehrengerichtliche Verfahren 63 Ehrenschutz 44, 93,118,154,187, 561 Eigentumsgarantie 104 Einstellung des Verfahrens 116 ff, 166 ff, 239, 403 f., 422, 564-568 — Rechtsmittel gegen belastende - 116 ff. elements of the offence, (essential -) 271 ff., 306 ff., 329 ff.

647

Register empirische Grundlage — einer Bonitäts- oder Unschuldsvermutung 22, 42, 55,184,195, 204, 206, 245 f., 283, 380, 392, 494 ff., 500 ff, 505 — von Vermutungen allgemein 195, 246, 449, 451 ff. englisches Recht 253—289 Entlastungsbeweis 21, 30, 39, 323, 372 Entschädigung 26 — für Strafverfolgungsmaßnahmen 82, 425 — für erlittene Untersuchungshaft 125 ff, 133 f., 168 f., 178, 187, 227, 411, 425 Entscheidungsharmonie 561, 570 ff. Erbsünde 16, 21, 495 f., 503 Erfolgshaftung strict liability Ermittlungsverfahren 72, 80, 85, m , 112 f., 153, 155, 172, 209, 233, 386 f., 418, 572 f. — Sonderopfer 82 — Straffunktion 137, 572 f. Eröffnungsbeschluß 74, 87,114,142 f., 240, 485, 488, 541 Erwiesenheitstheorie 470 ff. ESSAID

181 f., 183

ff.

Europäische Menschenrechtskonvention (EuMRK) 46, 205 f., 244, 415-425 evidential burden 271 ff, 277 ff, 290 ff, 296, 305 ff, 311 f., 326 f., 373, 474, 483 — Begriff 265 ff. exceptions 271 ff, 296, 304, 331 Fahrlässigkeit — Auffangfunktion 96 f. — Vermutung der dort fair trial 51 f., 69, 86 f., 108,135,170, 285, 322, 338, 419 f., 428, 535, 547 ff., 553 false positive problem 295, 352 Familienrecht 232,417 Faschismus 44, 193 f., 378 favor defensionis 20, 88 favor rei 12,14,177, 200, 209, 212, 231, 247, 436, 543 Fehlverurteilung(en) — tolerable Quote 286 f., 370, 512, 553 — Vermeidung 21, 28, 86 f., 94,101, 161,176, 187,192, 241 f., 285, 287, 302, 322, 334 ff, 340, 440, 521, 523 f., 526, 556 — Vermutung der - 192 FERRI 41-44,187 ff, 198, 241 FEUERBACH

34, 96

Fiktion 55 ff, 77, 114, 182,187, 203, 382, 458, 466, 485 ff. FILANGIERI

29, 38, 4 0

Finanzstrafgesetz, österreichisches 161, 162 FLETCHER 277,335,364 f., 372, 395, 396 ff, 400,532 f. Folter 19, 24 f., 28, 30 ff, 36, 38, 71, 95, 441 FORTESCUE

253

Französische Revolution 26, 32, 377 französisches Recht 23, 30 ff, 171-187 Freiheitsvermutung 433, 505 ff, 526 s.a. in dubio pro liberiate Freispruch 116 ff, 187, 216, 427 — mangels Beweises 82,123 f., 125,156,168 f., 191,194, 407, 412 — (Italien) 218 f., 379 — mit Kosten (Schweiz) 156 ff. — Rechtsmittel gegen belastende -gründe 116 ff, 219 — zweiter Klasse 123 f., 168 Freispruchformen 19,123 f., 168 f., 178 f., 218 f., 2 39> 379. 411 Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 560

60,

42,187, 241 Gefahrenabwehr 488, 514, 518, 521, 525 Gefährlichkeitsprognose -* Prognose Gegensatz — kontradiktorischer 442 ff — konträrer 442 ff. Geldstrafe 539 f. Geldwäsche 155 General Court of Massachusetts 318, 322 Generalprävention 70,122,146, 516 f. Geschäftsherrenhaftung 97, 260 gesellschaftliche Gerichte 403, 411 Gesellschaftsordnung 394, 502 ff. Gesetzlichkeit, sozialistische 384 f., 392, 405, 409 Gesetzlichkeitsprinzip -» nulla poena sine lege Geständnis 24, 60, 62,113 f., 116,136,140 f., 187, 403, 428 f., 437, 528, 568 Gewaltenteilung 286, 532 Gleichbehandlung — aller Beschuldigten 80 ff, 172 — von Beschuldigten und Nichtbeschuldigten 78 ff, 172, 222, 353 f., 517 Gleichheitssatz 368, 476, 507 f., 551 f. — equal protection 353 Glossa Ordinaria des Accursius 13 Glossa Ordinaria zu den Dekretalen Gregors IX. 14 GAROFALO

GORGONE

398 f.

Gottesebenbildlichkeit

11,16, 495 f.

Register

648 Gottesurteil 255, 533 Grand Jury 255, 338 Grundsätze des Strafverfahrens der UdSSR und der Unionsrepubliken von 1958 387 ff-, 399 guilty plea 287, 321, 353, 366, 387, 419, 559, 566 Habeas Corpus 284, 345 Haftbefehl, obligatorischer 227 Handlungsstörerhaftung 515, 518 Hauptverhandlung — Straffunktion 69 f., 537, 559 — Zweiteilung der dort Hauptverhandlungshaft 115 HEGEL

2 5 7 , 4 6 3 , 4 9 7 , 538

Hehlerei (§ 259 a.F. StGB) HOBBES 26,31, 504,539

94

H U M B O L D T , W I L H E L M VON ILLUMINATI

31

2 0 7 ff., 2 1 3 , 2 1 6 f . , 2 2 1 f . , 2 2 3 f . ,

225 f., 438 Imperativenlogik 445 in dubio pro liberiate 505 ff., 525 s.a. Freiheitsvermutung in dubio pro reo 39, 52 f., 55, 84, 88, 91, 94, 96 ff., 98 ff., 118,153 f., 156,161,165,173 ff., 185,187 f., 194 f., 207, 215, 218, 231, 235, 246 f., 249 f., 298, 335, 364 f., 374, 380 f., 404, 406 f., 409, 411, 414, 419 f., 429, 431, 436, 444, 455, 481 f., 483 ff, 490, 508 ff, 512, 545, 549 in dubio pro república 194 in dubio pro societate 198 indictment 255 f., 257, 270 f., 274, 338, 364 Informationserhebung im Ermittlungsverfahren 112 informelle Konflikterledigung 70,115 f., 166 ff, 403 f·. 533 Inquisitionsprozeß 14-31 s.a. Amtsprozeß insanity 264, 266 f., 304, 310, 329, 331 f., 373 Instanzentbindung absolutio ab instantia Interimswahrheit 195, 246 f., 469,472,476,479, 482, 490 — Begriff 448, 473 Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) 45, 46 f., 244, 426-430 — self-executing character 46 f., 426 f. Inzidentfeststellung strafbarer Handlungen 77 f., 135 ff., 147,163, 570 ff. — beim Aussetzungswiderruf 137 ff, 340,423 f., 572 — im Besteuerungsverfahren 142 f. — bei der Beweiswürdigung 135 ff.

(Inzidentfeststellung strafbarer Handlungen) — bei der Strafzumessung 135 f., 168,317, 339 ff, 423 f., 571 f. ipoteticità des Prozesses 205 f., 531 ff. irisches Recht 293-297 irreguläre Strafe -* Strafe, irreguläre italienische Verfassung von 1947 196, 197-207, 242 f., 445, 451 italienisches Recht 40-44,187-230 jüdisches Recht 436 f. Jugendstrafrecht 70,115 f., 137,167 f., 322 Jugoslawien 414 Jury 254 ff, 260, 265 ff, 278, 283, 287 ff, 302, 306, 309, 312, 317, 325 ff, 328 f., 334, 336 f., 340 f., 346, 363 f., 365, 373 — Recht auf jury trial 322 jury charge jury instruction jury instruction 259, 263 f., 275, 286, 325 f., 338, 340, 362, 368 Justizgrundrechte 51, 550, 564 Justizirrtum -• Fehlverurteilungen KAMINSKAJA

380 f., 384, 501

kanadisches Recht 297-317 kanonisches Recht 14-17, 430-435 KANT 34, 285, 497,504,545 Kaution Sicherheitsleistung, bail KELSEN

232, 457, 459, 460 ff, 463 f., 4 7 0 , 5 1 5

Kippahstrafe

436

KLEIN, ERNST FERDINAND KLEINSCHROD

20, 36

2 0 , 35, 3 7

kognitive Dissonanz -• Urteilsperseveranz körperliche Untersuchung des Beschuldigten 78,113, 425 Kostenerstattung 124,178, 430, 568 f. — bei Einstellung und Freispruch 125 ff, 423 f., 568 f. — Strafcharakter der Versagung der - 126 ff, 158, 425, 569 f. — bei Tod des Beschuldigten 132 ff. LA BRUYÈRE

28,528

Länderverfassungen 46 law of evidence Beweisrecht legal burden persuasive burden legal guilt 335, 365 ff, 534, 559 Legalbeweissystem 24, 28,191, 437, 451 f., 509, 521 Legalbeweistheorie 14, 20,174, 217, 431, 448 ff., 458, 512 Legalitätsprinzip 170

649

Register Legisten 15,19 Lehre von der gesetzlichen Sicherheit 75. 450, 45* f·. 469. 484 Lex Romana Visigothorum 13 logisches Quadrat 442 ff. logisches Sechseck 443 LUDOVICI 2 1 - 2 3 , 459· 495 LUHMANN

56, 58, 64,

520, 531, 535, 542

LUKASEVIÒ

385 f.

Magistrates' Courts Act 1980 269 f., 274, 296 Magna Charta 253 mandatory presumptions 311 f., 325 ff., 328 MANZINI

189 ff, 1 9 7 , 1 9 9 f., 2 0 2 f . , 2 0 6 f . , 2 4 1 ,

245, 2 4 9 , 439, 485

Maßregeln der Sicherung und Besserung

63, 73,

9 8 , 1 0 3 , 105, 163, 422

Medien, Prozeßberichterstattung der dort Mediengesetz, österreichisches 161,169 f., 561 f. 151,157, 170, 561

Meinungsfreiheit MENOCHIUS

1 5 - 1 7 , 254, 282, 4 3 0 , 495, 5 0 2

mens rea 270, 285, 308, 311 f., 315, 333, 336 Menschenbild 48, 5 1 , 1 8 3 , 369, 4 0 8 , 495 ff, 503, 507 f· Menschenrechtserklärung von 1 7 8 9 3 3 , 1 8 0 , 1 8 2 , 193, 2 0 8 , 2 2 3 , 2 4 2 , 243, 245, 3 7 7 , 383, 396, 4 9 9 ,

543 Menschenwürde

48 f., 51, 54, 60, 87,92,153, 234,

368, 4 1 0 , 4 4 0 , 4 9 6 MITTERMAIER

f.,

5 0 0 , 513, 544

ff.

31, 35, 3 6

Mitwirkungspflichten des Beschuldigten 105, 294> 524> 552 f·. 554 Model Penal Code 320 f., 325 f., 331, 332 f. MONTESQUIEU

Moraltheologie MORTARA

26, 2 7 , 1 7 1 , 1 8 6

435

1 9 0 ff., 1 9 9

MOTZENBÄCKER

muslimisches Recht

4 3 4 f . , 453, 4 6 9 , 521

437

Namensnennung des Beschuldigten 145 f., 149 ff, 159 f., 1 7 2 , 561 Nationalsozialismus 4 4 , 4 3 9 — Gewalttaten 127 ff. Naturrecht 26, 434 f., 438, 499 Naturrechtslehre 16, 495 f. ne bis in idem 248, 275 ne delieta maneant impunita 25 Nebenstrafen, vorzeitige Verhängung von 228 f. Nebenstrafrecht 9 5 , 1 7 3 Negativbeweis 9 3 , 1 8 5 f., 215, 258, 2 7 1 f., 2 9 0 , 336, 382, 524

nemo tenetur seipsum prodere 39, 84 f., 90, 156, 1 7 6 f., 185, 2 2 0 f., 225, 256, 284, 286, 288 f., 298, 3 1 6 , 323, 342, 350, 4 1 2 f., 553 neuseeländisches Recht 289—292 Nichtstörer 79, 518 no case to answer, submission of 278, 307 non liquet 95 f., 1 2 9 , 1 9 5 , 2 1 4 , 265, 4 4 0 , 4 4 2 ff, 4 6 9 ff, 4 7 3 , 4 7 6 , 481 ff, 502, 556 Normsatzlogik 445 nulla poena sine lege 25, 31, 3 7 , 5 2 , 1 5 5 f., 1 8 5 , 1 9 3 , 2 2 2 , 285

obiter dictum, Begriff 368 Offenheit des Verfahrensausgangs 531 ff, 549, 559 Öffentlichkeit, Orientierung der - durch Justizbehörden 145 ff, 229, 421 f. Ordnungsstrafen 163 Ordnungswidrigkeitenrecht 63 f., 173 f., 417, 512 s.a. regulatory offences Ordonnance criminelle von 1670 24, 28, 29, 31, 33. 2 97 österreichisches Recht 29, 37, 39, 160—171 PACKER

3 0 2 , 3 6 5 ff, 534, 564

Parteiprozeß

87,177

f., 1 9 6 ,

206, 240

f.,

251, 258,

293, 4 2 8 , 435

permissive inferences 327 f. permissive presumptions 312 f. Person der Zeitgeschichte 149 ff. Persönlichkeitsrecht, allgemeines 50, 67, 124, 1 2 9 , 1 4 6 , 1 4 7 ff, 515, 541, 560 f.

persuasive burden 271 ff, 277 ff, 290 ff, 296, 305 ff., 315, 3 2 6 , 3 7 2 , 483 — Begriff 265 ff. petty jury 255, 488 PLATON

521

271 ff, 306 f., 373

pleading,

rules of

PLÓSZ

457 f., 4 6 2 , 4 6 9

poena confessi 114 f., 567 poena extraordinaria 20 f., 31 f., 35 f., 96, 218, 436, 471 poena naturalis 520 POLJANSKIJ

382, 385 f., 39I, 397 f., 4OO

polnisches Recht 414 portugiesisches Recht 248—250 positives Recht 498 f. Postbeschlagnahme 113 praesumptio doli Vorsatzvermutung praesumptio facti 13, 97 praesumptio hominis 2 2 , 1 8 7 , 1 9 5 , 236, 4 4 7 , 452, 454, 4 7 8

2 7 6 , 431,

650

Register

praesumptio naturae 13,15, 17 praesumtio -* praesumptio Präventivmaßnahmen 210 f. présomption antéjudiciaire 182, 183, 258 Presseberichterstattung, vorverurteilende -» Prozeßberichterstattung der Medien Pressefreiheit 151, 170, 561 Pressekonferenzen der Strafverfolgungsbehörden -» Öffentlichkeit, Orientierung der - durch Justizbehörden presumption of error Fehlverurteilung, Vermutung der pre-trial liberty ->• Untersuchungshaft PreußCrimO von 1805 36, 37 preventive detention -» Untersuchungshaft, Präventivhaft Prinzip der materiellen Wahrheit 92,154,184 ff., 194. 377. 379 ff·. 382, 384. 392. 407. 568 Privatklageverfahren 123, 132, 158, 425 Prognose — bei Gefahrenabwehr 65, 555 — der Gefährlichkeit 103, 232 — bei Maßregelverhängung 98 — bei Strafaussetzungsentscheidung 139 f. — über die Straferwartung 75, 562 — über den Verfahrensausgang 76 ff., 128 ff., 4 8 6 , 540

— über künftiges Verhalten des Beschuldigten 1 0 9 , 1 1 0 f., 352 f., 4 2 1 , 562 ff., 564 Prokuratura 396 ff. proof beyond reasonable doubt Beweismaß provisoes 271 ff., 304 Prozeßberichterstattung der Medien 148 ff., 159 f., 1 6 9 f., 1 7 1 , 2 2 9 , 4 1 4 , 4 1 7 , 4 1 9 , 4 2 8 f., 542, 5 6 0 f. Prozeßrechtsverhältnis PRUTÒENKOVA

534 ff.

404

ratio decidendi, Begriff 368 rational connection 300, 305, 312, 313, 328 f., 329 Recht — auf Freispruch 116 ff. — auf ein Urteil 116 ff. — auf ein Verfahren 116 ff. — auf Verteidigung ji, 84, 205, 220 f., 377 f., 384, 387, 3 9 2 , 3 9 7 , 4 0 7 f., 4 1 0 f., 4 1 4 rechtliches Gehör 556 rechtsfolgenrelevante Umstände 113 Rechtskraft 59, 61 ff., 65, 67, 79,114,132,137, 1 4 1 , 1 4 7 , 209, 248, 387, 392, 4 0 9 , 4 1 4 , 418, 441, 4 8 0 , 558

f.,

570

f.

Rechtsstaatsprinzip

50 f., 60, 89, 90, 107, 487,

508, 511, 5 4 0 , 543, 544, 5 4 6 - 5 4 9

Rechtsvermutung -» Vermutung Regeln von Mallorca 45 regulatory offences 269 f., 290 f., 303, 308, 313 f. Rehabilitierung des Verdächtigen 379, 403, 407 Reine Rechtslehre 460 ff., 470 religiöse Rechte 430-437 reus in excipiendo fit actor -» Beweislast für Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe reverse onus clauses 304 ff. Ritual 532, 535, 538, 546 R o c c o 188 ff., 194 f. römischer Strafprozeß 11, 253 ROSENBERG ROUSSEAU

55 f., 455, 458, 4 6 8 , 4 7 4 , 512, 525 f. 2 9 , 3 1 , 495 f.

Rufschädigung Diskriminierungswirkung Russische Föderation 405 f. russisches Recht 23, 374 f. SARKOV

388

Schuld — formelle 29, 31, 440 ff. s.a. legal guilt — materielle 440 ff. Schuldfeststellung — in Entschädigungsentscheidungen 134 — in Freispruchs- oder Einstellungsgründen 73 f., 1 1 7 f., 1 1 9 ff, 1 5 6 ff., 2 5 0 , 4 2 2 — hypothetische 118,123 — in Kostenentscheidungen 126 ff., 129 ff., 131 ff., 1 5 6 ff., 4 2 3 f., 569 f. — „prozeßordnungsgemäße" 61 f., 70, 85, 136, 141, 512 s.a. Schuldspruchreife — s.a. Verdachtsäußerungen Schuldprinzip 49, 52, 60, 79, 87, 91 f., 96, 100, 1 3 4 , 1 5 3 , 1 6 2 , 1 7 2 , 2 4 9 , 4 3 0 , 4 9 0 , 5 1 0 - 5 1 8 , 533, 546, 568

Schuldspruchreife 62,114,128,131,134 Schuldvermutung(en) 90, 91-98,143,155,164 f., 1 6 6 , 1 7 3 ff., 1 8 7 f., 2 0 2 , 2 1 1 , 2 1 6 , 2 1 7 f., 235 ff., 250, 268 ff., 2 9 6 , 3 0 4 ff., 3 1 7 , 3 2 1 ff., 337 f., 3 7 4 ,

377. 384. 419 f·. 435- 455. 482 ff. 553 s.a. mandatory presumptions, permissive inferences/presumptions — unwiderlegliche 304 s.a. conclusive presumptions — verschleierte 95 ff. Schutz der Rechtspflege, § 353 d StGB 150, 560 Schweigerecht - • nemo tenetur schweizerisches Recht 154-160 schwerer Diebstahl (§ 245 a a.F. StGB) 94 f. Scuola classica 40-41,187, 192, 215

Register

651

Scuola positiva 4 1 - 4 4 , 1 8 7 ff., 241, 508 Scuola tecnico-giuridica 188 ff. semel malus, semper malus 1 7 , 1 8 , 23, 431 servitus iustitiae 224 Sicherheitsleistung 7 0 , 1 4 7 s.a. bail Sicherungsmaßnahmen 228 f., 232, 250 social policy 2 8 2 , 2 8 7 , 3 69 f.

summary offences 269 f. summary proceedings 269 f., 274, 304, 314

VON S O D E N

Tat- und Schuldinterlokut 86, 176 Tatausgleich, außergerichtlicher 167 f. Täter-Opfer-Ausgleich 115 f., 533, 567 f. Tatprinzip 109, 211, 350, 509 f., 538 Tatsachenvermutung ->• Vermutung Tatstrafe des kanonischen Rechts 431, 440, 464, 509, 520 Telefonüberwachung 113

2 9 , 34, 35, 3 7

Sonderopfer 81 ff., 513 f. sowjetisches Recht 375—405 sozialethisches Unwerturteil 63, 7 2 , 1 0 8 , 1 2 0 , 125, 127, 351, 492, 515 Sozialvertragslehren 27, 496, 503 spanisches Recht 23, 230-248, 533, 557 SPEE VON L A N G E N F E L D

21, 28

SUNDBY

332

ff.

Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung Systemgerechtigkeit 550 f. TADEVOSJAN

382,385

spezialpräventive Eingriffe 7 0 , 1 0 3 f., 1 0 7 , 1 0 9 , 138, 228 f., 538 Staatsverständnis, liberales 183 ff, 194, 200, 242, 503 f. Star Chamber 256 statutory reversal of the burden ofproof 268 ff.

THAYER

STEPHEN

— E u M R K 415 f. — I P B P R 426

2 5 6 f., 521

Steuerstrafrecht 95, 97 f., 142 f., 155, 317 f. — Erbenhaftung 160 Steuerstraftat, Inzidentfeststellung -* dort Stigmatisierung -»• Diskriminierungswirkung Störermodell (KRAUSS)

78 ff.

strafähnliche Eingriffe 70 ff, 106 ff, 132 f., 492 ff, 515, 539 f. s.a. sozialethisches Unwerturteil; Strafbegriff, materieller Strafaussetzung — Unterlassen der 105 — Widerruf 6 0 , 1 3 7 ff., 340, 423 f. Strafbarkeitsbedingung, objektive 167 Strafbefehlsverfahren 114 f., 120, 524 Strafbegriff, materieller 31, 119 ff, 343, 346, 416 f., 492 ff, 539 f. Strafe — irreguläre 487, 492 ff. — kommunikative Bedeutung 493 f., 539 f., 562 Straftatbegriff, konstitutiver 68,139,149 f., 488, 534 strict liability

268 f., 277, 301 f., 314 f.

STROGOVIÔ

3 7 6 - 3 8 7 , 3 9 7 , 4 0 2 f., 4 0 6 , 4 4 2 ,

446, 461 STÜBEL

2 0 , 35, 3 7

subjektive Tatbestandsmerkmale — Beweiserleichterungen 96 f. — faktische Vermutung - 98, 174 s.a. Vorsatzvermutung, Fahrlässigkeit Subventionsbetrug (§ 264 StGB) 96 summarische Verfahren 114 f., 220, 269 f.

458 ff.

2 6 0 , 2 8 2 , 3 1 8 f., 3 6 2

THOMAS VON A Q U I N THOMASIUS

1 5 , 1 6 , 495

II, 28, 31, 32

Todesstrafsachen 436 Trajansentenz 11, 28, 253, 279, 508 travaux préparatoires

TRIBE

353, 361, 3 6 3 , 3 6 7 f.

Typisierung

553 ff.

Übermaßverbot Verhältnismäßigkeitsprinzip üble Nachrede 93 f., 160, 414 Unschuldsbegriff — formeller und materieller 334 f., 361, 440 ff. — innocens 19 — Mehrdeutigkeit 183, 439 — non repertus culpabilis 19 Unschuldsvermutung — Adressaten 66 f., 155, 209, 234, 385 ff, 417, 428, 487, 560 f. — sachlicher Anwendungsbereich 63 ff, 154 f., 162, 172, 210 ff, 231 ff, 280 f., 303, 362 ff, 402 f., 416 f., 481-488, 557 f. — zeitlicher Anwendungsbereich 61 ff., 154 f., 162 f., 172, 209, 233, 342 ff, 385 ff, 409, 417 f., 428, 483 f., 558 f. — Beweisfunktion 207, 283, 361 f., 385 — Einschränkbarkeit 59, 185 f., 517, 559 — erkenntnispsychologische Hintergrunderwartung 54 — faktische Verletzung 7 2 , 1 6 6 — formelle Unschuld 489-493 — Garantie der Exklusivität der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung 66, 68 f., 135 ff, 491 f., 570 — Gegenbeweis 480 f.

652 (Unschuldsvermutung) — Inhomogeneität 243 f. — instrumentaler Gebrauch 543 — Kompetenzordnung für die Schuldfeststellung 68,75 f., 140,164, 387, 398,402, 541, 564 ff., 570 ff. — materielle (reale) Unschuld 480—489 — Menschenrecht 542 f. — Nicht-Unrechts-Vermutung 64, 77, 439 — Nichtvermutung der Schuld 197 ff., 242 — psychologische Überforderung des Richters 86 — psychologische Überforderung des Staatsanwalts 398 — psychologischer Sachverhalt 53 ff., 378, 381, 383, 398, 532 — rechtliche Verletzung 166 f. — Rechtsprinzip 58 f., 203 ff. — Rechtsregel 59 — Rechtsvermutung eigener Art 56 — rhetorische Bedeutung 173, 245, 364 f., 397, 500, 532 f. — Teilhabefunktion 85 — Ungefährlichkeitsvermutung 64,106, 352, 440, 563 — unwiderlegliche Vermutung 56, 480 f., 485, 486 — Vermutungsbasis 56, 244, 282, 479 f., 485 ff., 488 — Vermutungscharakter 55 ff, 182,197 ff, 206, 244 f., 281 f., 360 ff, 378 ff, 394 ff, 478-494 — Verwirkung 186 — Verzicht 112, 321 — Verzichtbarkeit 60, 140, 234, 559 Untersuchungshaft 26 f., 32 f., 37,106-111, 159, 179-182,188,194,199, 201, 222-228, 240, 250, 284 f., 315 f., 342-359,412,418,421,427,492 f., 507, 538, 541, 562-564 — Anrechnung 105, 134 — Dauer 82 ff., 108, 159, 201, 222, 226, 349 ff, 355 ff·. 42.1. 539. 562 — Fluchtgefahr 110, 182, 224 ff, 342, 345, 348 — generalpräventiver Gebrauch 107 f., 110, 224 fr. — Haftbedingungen III, 180 ff, 224, 227, 296, 343, 345 f., 412, 427, 429, 539 — Präventivhaft 294 f., 562 f. — Sicherungshaft 182 — als Sonderopfer 82 — spezialpräventiver Gebrauch 107 ff, 170, 224 ff.

Register (Untersuchungshaft) — Strafähnlichkeit 71, 83,106 ff, 179 ff, 223 f., 295 f., 346, 356 f., 421, 563 — Tatschwere 109 f., 227, 563 — Verdunkelungsgefahr 110 f., 182, 225 f., 345, 564 — Wiederholungsgefahr 108 f., 294 f., 347-358, 420 f., 440, 562 f. Untersuchungsprozeß Amtsprozeß Untersuchungsrichter 156,196, 213, 238, 383, 407. 53* Urteilsperseveranz 144, 478, 532 US-amerikanisches Recht 318—372 VARGHA

35 ff, 3 9 , 1 2 3 , 1 7 0 f.

VÁZQUEZ SOTELO VEGAS TORRES

2 4 I f., 245 f., 439, 4 7 9

2 4 3 ff.

Verdachtsäußerungen 73,128 ff, 131 f., 423 f. — in Urteilsgründen 117 ff, 219 Verdachtskündigung 64 Verdachtsstrafe 20 f., 28, 35 ff, 71, 94, 96,110, 115,124,178, 436, 471, 507, 522, 555, 564, 566 — Abgrenzung zur außerordentlichen Strafe 36 — Verbot der 91, 93,100 f., 156, 490, 517, 527 s.a. poena extraordinaria Verfahrensdauer 115, 250 f. Verfall 417,425 — erweiterter 103 f., 555 f. — (forfeiturej 358 Verhältnismäßigkeitsprinzip 59, 83,125,146,152, 296, 300, 487, 508, 540 Verhandlungsstil 101 f., 161 Verhör 177 f., 225, 283 Vermögenseinziehungsgesetz 104 f. Vermögensstrafe 102 f., 555 f. Vermummungsverbot 156 Vermutung — anti-empirische 456 — Anwendungsbereich 467 ff. — Arten 447, 455 f. — außerstrafrechtliche 97 f. — Beweisfunktion 246, 448 ff, 458 ff. — Beweislastregel 56, 282 f., 448 ff. — der Fahrlässigkeit 98,165 — formelle 455 f. — der deliktischen Herkunft von Vermögensgegenständen 102 ff, 155 — Indizienschluß 97, 200, 276, 448 ff, 454 — materielle 455 f. — non-empirische 456, 478 — Normstruktur 453—467 — para-empirische 456, 478 f.

Register

653

(Vermutung) — politisch motivierte 195, 203 f., 207 — praesumptio ... dort — Rechtsvermutung 57, 447, 456, 468, 473 — Schuldvermutung dort — Semantik 378, 385, 394 ff. — Tatsachenvermutung 55, 99, 447, 454, 456, 478 f., 559 — unwiderlegliche 325, 357, 448 — der Vaterschaft 97 — der Verbotskenntnis 98 — Verweisungsnorm 466 f., 468 f., 562 f. — voraussetzungslose 448, 455, 469, 472, 479 — der Zurechnungsfähigkeit 97, 236 f., 431 ff. Vermutungslehren

14 ff., 19 f., 254 f., 448-453

Vermutungstheorie 19 f., 431, 449 ff., 474 Verneinungen, Logik zweistelliger - 201 ff., 442-447

Verteidigung 89 Verwaltungsprozeß Verwaltungsrecht

s.a. Recht auf 471 65,162,232,301,303,402,417,

571 Verwaltungsstrafrecht 163 f. V-Leute 155 Volksrepublik China 413 VOLTAIRE

26, 28 f., 31

217

86,101 f., 114, 144 f., 156,

161, 1 7 0 , 202, 362 f., 377, 385, 419 f., 446, 536,

556, 559

Vorstrafen

90,113, 338, 422

vorzeitiger Strafantritt VYSINSKIJ

s.a. Befangenheit

vorläufiger Strafvollzug

376,392

Waffengleichheit WEBER, A . D .

85, 88,101, 175, 214, 220 f. 3, 5, 38, 450, 4 7 4 f.

Wertphilosophie

48, 496 f., 544

Wiederaufnahmeverfahren

62,147 f., 172, 418,

441. 559 Willkür 25, 41, 49, 74, 78, 90, 184, 193, 288, 381 f., 433, 487, 509 Willkürverbot 155, 536, 542, 548, 553, 555 Wirtschaftskriminalität 96 WOLFF, CHRISTIAN

25 f., 28, 439, 441

WRÓBLEWSKI

207, 453-456, 458, 478

Zeugenschutz

341,425

Zivilrecht

64, 212, 232 f., 280 f., 302, 362, 402,

417. 437. 515. 533. 541. 557 Zollstrafrecht

Vorbereitungshandlungen Voreingenommenheit

Vorfeldtatbestände 96 Vorfrage, strafrechtliche ->· Inzidentfeststellung strafbarer Handlungen vorläufiger Strafvollzug 112, 159, 508 Vorsatzvermutung 17, 20, 35 f., 94, 96, 217, 236, 275, 431 ff., 510, 527 s.a. mens reu

95,155

Zufall 527 f., 565 Zwangsarbeit 429 Zweifelssatz in dubio pro reo Zweiteilung der Hauptverhandlung

86, 176, 214