»Unsere Erde gibt es nur einmal«: Bekenntnisse zur Verantwortung für die Umwelt [1 ed.] 9783428531837, 9783428131839

Das erste Umweltministerium in Europa entstand im Jahr 1970 in Bayern. Der damalige Ministerpräsident Dr. Alfons Goppel

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»Unsere Erde gibt es nur einmal«: Bekenntnisse zur Verantwortung für die Umwelt [1 ed.]
 9783428531837, 9783428131839

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Studien zu Umweltökonomie und Umweltpolitik Band 8

„Unsere Erde gibt es nur einmal“ Bekenntnisse zur Verantwortung für die Umwelt

Herausgegeben von

Henning Kaul und Hans Zehetmair

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HENNING KAUL / HANS ZEHETMAIR (Hrsg.)

„Unsere Erde gibt es nur einmal“

Studien zu Umweltökonomie und Umweltpolitik Band 8

„Unsere Erde gibt es nur einmal“ Bekenntnisse zur Verantwortung für die Umwelt

Herausgegeben von

Henning Kaul und Hans Zehetmair

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0238 ISBN 978-3-428-13183-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Zum Geleit In Bayern ist der Schutz der belebten und unbelebten Natur und Umwelt bereits seit 1970 als Aufgabe der Politik erkannt worden. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Veränderungen und Entwicklungen in und an der Natur und Umwelt sind von den Gremien der Christlich-Sozialen Union aufgegriffen worden und führten 1970 zur Gründung des Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltschutz, des ersten Ministeriums seiner Art in Europa. Dieses erste eigenständige „Umweltministerium“ hatte die Aufgabe, Maßnahmen zur Reparatur bereits eingetretener Schäden in Natur und Umwelt auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Gleichzeitig wurden Vorsorgemaßnahmen in allen Ressorts der Staatsregierung eingefordert, um neuerliche Schäden zu vermeiden. Und mit Hilfe der Landesentwicklung wurden Vorgaben an alle politischen Ebenen zum umweltgerechten Handeln erlassen. Mit dieser Publikation wollen wir wichtigen Meinungsbildnern dieser Generation die Möglichkeit geben, ihre Meinungen zur Entwicklung und Erwartungen an zukünftige Umweltthemen darzustellen. Diese Veröffentlichung soll auch klarstellen, dass der Schutz unserer Natur und Umwelt keine alleinige Aufgabe der Regierungen und Parlamente ist, sondern nur in der Verantwortung aller Menschen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten in einer arbeitsteiligen Gesellschaft erfolgreich zum Vorteil aller umgesetzt werden kann. Deshalb hat die Hanns-Seidel-Stiftung von Anfang an in ihren Veranstaltungsprogrammen dem Thema Natur- und Umweltschutz einen breiten Raum gegeben. München, im Juni 2009

Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair Staatsminister a.D., Senator E.h. Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung

Vorwort Nach der Landtagswahl 1974 bündelte der Bayerische Landtag die ressortübergreifenden Aufgaben des Natur- und Umweltschutzes und der Landesentwicklung in einem eigenständigen „Ausschuss für Landesentwicklung und Umweltfragen“. Erster Vorsitzender dieses Ausschusses war der spätere Landtagspräsident Alois Glück. Er leitete den Ausschuss zwölf Jahre lang, gefolgt von Erwin Huber für ein Jahr und Dr. Herbert Huber für drei Jahre. 1990 wählten mich die CSU-Fraktion und der Bayerische Landtag zum Vorsitzenden des „Umweltausschusses“ – eine Aufgabe, die ich nach 18 Jahren mit meinem Verzicht auf eine neuerliche Landtagskandidatur im September 2008 abgegeben habe. Auf meinem 22 Jahre langen parlamentarischen Weg habe ich immer das Gespräch mit Persönlichkeiten gesucht, die sich parallel, ergänzend oder eigenständig in Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen, Verwaltungen, Industrie, Handwerk und Initiativen mit Fragen des Natur- und Umweltschutzes, der Landesentwicklung und des Verbraucherschutzes befasst haben. Ihre Erkenntnisse, ihre Ratschläge, ihre Meinungen, Beschlüsse und Sorgen habe ich versucht, zusammen mit den Mitgliedern der im Ausschuss vertretenen Fraktionen in zukunftsweisende Beschlüsse aufzunehmen. Mit dem Ergebnis der Landtagswahl vom September 2008 musste die CSU-Fraktion nach 34 Jahren die Verantwortung im Vorsitz des „Umweltausschusses“ abgeben. Ich bin den Autoren dieses Buches als Begleiter meiner parlamentarischen Arbeit sehr dankbar, dass sie mit ihren Gedanken zu der politischen Querschnittsaufgabe des Natur- und Umweltschutzes ein Zeichen setzen für die Notwendigkeit einer unversehrten Natur und Umwelt als Voraussetzung allen erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns und unseres persönlichen Wohlbefindens. Das Buch soll auch ein Nachschlagewerk sein auf der weiteren Suche nach dem Weg in die Zukunft eines umweltverträglichen Lebensraumes für Menschen, Tiere und Pflanzen und des verantwortlichen Umgangs mit den endlichen Rohstoffen unserer Erde. Ich danke den Autoren für die Zeit, die sie allen durch ihre Mitarbeit an diesem Buch geschenkt haben, und für ihre Bereitschaft, sich mit ihren Beiträgen den weiteren Dialogen über den rechten Weg eines überlebenswichtigen Schutzes unserer Umwelt zu stellen. Ohne die materielle Hilfe der Hanns-Seidel-Stiftung und ohne die thematische und organisatorische Unterstützung durch Prof. Dr. Siegfried Höfling und Frau Barbara Fürbeth M.A. von der Stiftung hätte diese Publikation nicht entstehen kön-

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Vorwort

nen. Der Hanns-Seidel-Stiftung mit den Lektoren, zusammen mit meiner Tochter Anke Schellenberg, bin ich deshalb sehr dankbar für ihre große Unterstützung. München, im Juni 2009

Dipl. Ing. (FH) Henning Kaul Vorsitzender des Umweltausschusses im Bayerischen Landtag von 1990 bis 2008

Inhaltsverzeichnis Notker Wolf Hilfe zur Selbsthilfe? Perspektiven zu einer wirkungslosen und wirksamen Entwicklungshilfe – Voraussetzung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angela Merkel Die Bewahrung der Schöpfung im Zeichen einer nachhaltigen Entwicklung . . . .

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Alois Glück Umweltpolitik in Bayern – wie es begann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Horst Seehofer Ökonomie und Ökologie: Der bayerische Weg in eine nachhaltige Zukunft . . . . . .

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Angelika Niebler Die Europäische Union als Umweltunion – Wurzeln und Triebe einer Querschnittspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Friedrich Schutz der Umwelt: Der Beitrag der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Haber Ein jedes nach seiner Art: Artenvielfalt in der Kulturlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ludwig Sothmann Lebensgemeinschaft Mensch, Tier und Pflanze – Ein Plädoyer für die Erhaltung der Biodiversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günther Wess Intakte Umwelt und menschliches Wohlbefinden: Das Konzept Environmental Health . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ernst-Ludwig Winnacker Auf der richtigen Spur? Forschung und Wissen über unsere Natur und Umwelt am Beispiel der „Grünen Gentechnik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ulrich Wagner Wissen und Handeln in Sachen Energie, Umwelt, Klima – Herausforderungen an Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhaltsverzeichnis

Ilse Aigner Neues Gold? Agrarrohstoffe für Ernährung und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Hartmut Graßl Die Tugend des Vorausdenkens: Klimaschutz für Mensch und Natur . . . . . . . . . . . . 131 Randolf Rodenstock Herausforderung Klimawandel – Chancen und Risiken aus Sicht der Wirtschaft 143 Gerhard Berz Wer soll das bezahlen (und versichern)? Klimawandel und Wetterkatastrophen . . . 151 Otmar Bernhard Umwelt und Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Claus Hipp Bodenschutz aus der Sicht eines ökologisch orientierten Unternehmens . . . . . . . . . 169 Hans Fendt Bildung ist aller Umweltschutz Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Theo Waigel Interview über Nachhaltigkeit und die Deutsche Bundesstiftung Umwelt . . . . . . . . 187 Fritz Brickwedde Reparatur und Vermeidung von Umweltsünden – nur ein finanzielles Problem? Fragen an den Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt . . . . . . . . . . 193 Henning Kaul Nicht Herr, nicht Knecht: Umweltschutz ist Handeln im Einklang mit der Natur 197 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hilfe zur Selbsthilfe? Perspektiven zu einer wirkungslosen und wirksamen Entwicklungshilfe Voraussetzung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Von Notker Wolf

Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen muss immer mehr zu einem globalen Anliegen werden, zu einem Anliegen der Menschen und Regierungen aller Länder. Wie kann das geschehen? In Europa und langsam auch in den USA werden die Menschen zwar immer umweltbewusster, andere Länder und Kontinente sind aber noch kaum aufgewacht. So wie die Entwicklungshilfe trotz aller ernsthaften Bemühungen und der Milliarden an Geldern relativ wirkungslos geblieben ist, so wird es erst recht mit einer Entwicklungshilfe sein, die auf Nachhaltigkeit bedacht ist.

I. Handicaps der Entwicklungshilfe Hilfe zur Selbsthilfe – lautet seit eh und je der Slogan der Entwicklungshilfe. Zu recht: Denn nur dann ist eine Hilfe wirklich sozial, wenn sie den anderen befähigt, selbstständig sein Leben zu bestreiten. Von Katastrophenhilfen und Hilfen in Fällen, bei denen alle Voraussetzungen zu einer Selbsthilfe fehlen, soll zunächst einmal abgesehen werden. Wenn wir ehrlich sind, haben die Milliarden Dollar – es sollen in den letzten 50 Jahren an die zwei Billionen gewesen sein – wenig zu einer wirklichen Entwicklung beigetragen. Selbst aus Afrika melden sich erste kritische Stimmen. Die Entwicklungshilfe fördere nicht die Selbsthilfe, sondern unterminiere sie und erzeuge genau das Gegenteil. Sie mache die Menschen abhängig. Wer weiß, dass Hilfe weiter fließt, wird sich nicht selbst anstrengen.1 Für seine Anstrengungen würde der Mensch nicht belohnt, für Faulheit wird niemand bestraft. In Europa hingegen gibt es jetzt Stimmen, die sagen, dass die gegenwärtige Finanzkrise am meisten die afrikanischen Länder treffen würde, weil die Hilfen gekürzt werden. Vielleicht ist 1 Vgl. Interviews mit dem Kenianer James Sikhiwati in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 4. 4. 2007, S. 13: „Wer Afrika helfen will, darf kein Geld geben“, und mit Dambisa Moyo, in FAZ.net, 13. 4. 2009: „Wir Afrikaner sind keine Kinder“.

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das aber auch eine Chance. Die Regierungen werden herausgefordert, selbst etwas zu tun. Wenn wir uns aber die Entwicklungspläne für afrikanische Länder ansehen, dann kann man den Eindruck gewinnen, als wüssten die Geberländer immer schon, was den Empfängern nottut. Sie gehen immer von ihrer eigenen Situation, ihren eigenen Vorstellungen und ihren eigenen Modellen aus. Sie denken für, aber nicht mit den Menschen vor Ort. Wenn ein Hilfegesuch an einen Fonds kommt, sollte zuerst die Frage gestellt werden: Was wollt ihr damit erreichen? Wollt ihr wirklich eine Entwicklung eures Landes? Regierungschefs suchen nach Schauprojekten, und wir wissen zur Genüge, wie viele Gelder in falsche Kanäle fließen und in privaten Taschen hängen bleiben. Mit der Bereitschaft zur Hilfe muss die Herausforderung an die Empfänger parallel laufen. Denken die Hilfe suchenden Staatsmänner wirklich an ihr Volk? Denken sie nur an die Hauptstadt oder auch an die entlegenen ländlichen Regionen? Vielerorts scheint noch gar kein echtes Staatsbewusstsein entwickelt zu sein. Zu sehr wirkt noch die Stammesstruktur nach, und Männer wie seinerzeit Mobutu sehen ihren Staat eher als großen Stamm an, für den sie zwar einerseits sorgen, von dem sie aber häufig absahnen und dabei eher an ihren eigenen Clan denken. Es kann ihnen nicht unbedingt daraus ein Vorwurf gemacht werden, denn die Idee des Nationalstaats ist den Afrikanern von Europa aus im späten 19. Jahrhundert übergestülpt worden. Männer wie Nyerere, der sich wirklich um sein Volk gesorgt hat, sind eher die Ausnahme. Wenn in den Regierungen ein Verantwortungsbewusstsein gewachsen ist, dann muss mit ihnen überlegt werden, welche Hilfe angemessen ist. Oft wird es eher das Know-how sein als der finanzielle Segen. Ein solcher Prozess ist mühsam und wird einer sehr detaillierten Zusammenarbeit und des Dialogs auf vielen Ebenen bedürfen. NGOs arbeiten zwar stärker an der Basis, kennen die Situation vor Ort. Wenn ihre Hilfe aber dauerhafte Früchte tragen will, müssen sie lange die Projekte vor Ort begleiten. Selbst dann ist keineswegs garantiert, dass beispielsweise ein breit gestreutes Brunnenprojekt länger funktioniert, weil sich vor Ort niemand nach deren Weggang darum kümmert. Es fehlt die Kultur der Pflege und der Wartung. Die Menschen sind zu sehr daran gewöhnt zu warten, dass der Regen vom Himmel fällt, und wenn er eben nicht kommt, dann hungert man sich durch. Hilfsprojekte mit landwirtschaftlichen Traktoren funktionieren nur, wenn die nötige Infrastruktur der Garagen und Mechaniker gegeben ist. Autofirmen wie Toyota und Hyundai, die in einem Land ins Geschäft kommen wollen, wissen darum und bauen das nötige Netz zur Wartung auf. Die reichen Länder werden immer wieder kritisiert, sie würden aus ihren Etats zu wenig Gelder für die Entwicklungshilfe freistellen. Das mag sein, und Bundeskanzlerin Angela Merkel konnte nach einer G-8 Versammlung erfreut mitteilen, wie viele Milliarden zusätzlich bereitgestellt würden. An Geld allein aber liegt es nicht. Immerhin sind in den letzten fünf Jahrzehnten von den reichen Ländern in die ärmeren zwei Billionen Dollar investiert worden, ohne dass irgendwo ein wirklicher wirtschaftlicher Aufschwung sichtbar wäre.

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Dabei ist es ein Skandal, dass 50% und mehr davon in Militärhilfe fließen. Damit werden Machtpotentaten gestützt, die Entwicklungshilfe pervertiert sich vielerorts zu einer Destruktionshilfe eines Landes, und nicht zuletzt verdienen daran die Firmen der Geberländer. Das Interesse von Ausländern und multinationalen Firmen an den Bodenschätzen tut ein Übriges, Länder in Afrika zu destabilisieren und eine Entwicklung gar nicht erst aufkommen zu lassen, von Umweltschutz ganz zu schweigen. In Brasilien werden Urwälder gerodet, um Hölzer für den Export in die reichen Länder zu gewinnen. Hier wird rücksichtslos ausgebeutet. Uns im Westen kommt diese Ausbeutung zugute, ohne dass an die Auswirkungen auf die klimatischen Verhältnisse gedacht wird. Der Westen sorgt sich, dass inzwischen China den Wettlauf um die Bodenschätze aufgenommen hat. Die sambische Ökonomin Dambisa Moyo hält dem entgegen: „Das ist nur Neid. Der auf Mitleid und Almosen basierte Ansatz der westlichen Entwicklungshilfe ist gescheitert. Das chinesische Modell hat in Afrika innerhalb von fünf bis zehn Jahren mehr Arbeitsplätze und Infrastruktur geschaffen als der Westen in 60 Jahren.“2 Das ist eine gesunde Herausforderung an uns, den Ansatz unserer Entwicklungshilfe neu zu bedenken.

II. Armut und Traditionen als Feinde des Umweltschutzes Wer durch Afrika reist, wird immer wieder entsetzt die zahlreichen Buschfeuer feststellen. Ganze Hügel und Berge stehen in Flammen. Feuer fasziniert. Aber wie sollen die Menschen auch an neues Weideland kommen, wie soll das hoch gewachsene Gras vernichtet werden? Es fehlen vielerorts alle Voraussetzungen für eine normale landwirtschaftliche Bewirtschaftung. Dass beim Abbrennen des Geländes auch wertvolle Nährstoffe verlorengehen, ist kaum bekannt. Tiere brauchen Weideland, Menschen brauchen Äcker, auf denen sie Nahrung anbauen können. Zu groß ist oft die rein materielle Not. Umweltprogramme müssen in Entwicklungsprogramme eingebettet werden. Wer Hunger hat, denkt an heute und morgen, nicht an die ferne Zukunft. Wenn Dirk Messner vom Beirat der Bundesregierung eine globale Umweltveränderung fordert – selbst arme Länder müssten sich aus Gründen des Klimaschutzes an der Low-Carbon-Entwicklung orientieren –, wird sein Aufruf folgenlos bleiben. Mit „Strategien, Geld und internationalen Partnerschaften“ ist es nicht getan. Das ist viel zu weit von der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen entfernt.3 Da Öl und Elektrizität in vielen Ländern knapp sind, ist Holz immer noch der wichtigste Energielieferant, sowohl als Feuerholz als auch als Holzkohle, die sich leicht über weite Strecken tragen lässt. Früher konnten bei der geringeren BevölkeSiehe Interview mit Dambisa Moyo, ebd. Interview mit Messner, Dirk: Alle Länder müssen CO2 einsparen, in: Entwicklung und Zusammenarbeit (E+Z) 6 / 2009, S. 260 f., hier S. 261. 2 3

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rungsdichte die Büsche und Bäume wieder in genügender Zahl nachwachsen. Bei Zunahme der Bevölkerung und kommerzieller Abholzung ist das nicht mehr der Fall. Versteppung und Bodenerosion können die Folge sein. Das deutsche Agrar- und Forstwirtschaftprojekt SECAP (Soil Erosion Control and Agroforestry Poject) hat die Parole ausgegeben: „Kata mti / panda mti – fälle einen Baum / pflanze einen Baum“. Zwischen 1987 und 1999 pflanzten Bauern daraufhin zehn Millionen Bäume auf ihrem Land. Von Schulen aus werden Bäume gepflanzt, was es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat. Jedes Jahr wird ein „Tag des Baumes“ begangen. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich langsam eine Bewusstseinsänderung einstellt. Hier trägt die Initiative einer Regierung ihre ersten Früchte. Auf dem forstwirtschaftlichen Sektor ist am ehesten auch die Verbindung von Entwicklungshilfe und Umweltschutz gegeben. Solaröfen haben noch große Mühen, sich durchzusetzen. Ein Feuer vor dem Haus gehört zur Kultur. Das Essen am Abend könnte auch anders zubereitet werden, aber traditionelle Gewohnheiten lassen sich nicht einfach umpolen. Brunnenprojekte ermöglichen gutes Trinkwasser und bessere Hygiene. Was aber ist zu tun, wenn die Wasserhähne offen gelassen werden und wertvolles Wasser vergeudet wird? Es lassen sich entsprechende Wasserhähne anbringen, die von selbst wieder schließen. Wo aber sind die Klempner, die für die Reparaturen sorgen? Es bedarf der Schaffung eines Handwerkerstandes. Mitunter geht es auch brutaler zu. Der Projektleiter des Hausbaus im Slum des Mathare-Valleys wäre beinahe umgebracht worden. Die Besitzer der alten „Häuser“ sahen sich um ihre Einkünfte gebracht. Arme sind nicht einfach Heilige. Oft beuten sie sich gegenseitig aus. Dabei dient die Beseitigung eines Slums der Hygiene und dem sozialen Aufstreben der Bevölkerung. Umweltschutz im Zusammenhang mit Entwicklungshilfe ist ein facettenreiches Problem.

III. Wider die Hoffnungslosigkeit Neben dem oben erwähnten Beispiel gibt es durchaus erfolgversprechende Ansätze. Die Sahelzone gilt bislang als eine hoffnungslose Katastrophenregion. Die Sahara frisst sich immer mehr nach Süden. Die Versteppung und Versandung nimmt unaufhaltsam ihren Gang. So lauteten die Meldungen bis in die Gegenwart. Nun kommt gerade aus dieser Zone wieder Hoffnung. Satellitenbilder beweisen, dass die Vegetation wieder zunimmt. Es ist die Bevölkerung selbst, die einen Weg gefunden hat, wie in einem Bericht des Spiegels zu lesen war.4 Männer eines Dorfs hatten festgestellt, dass im Schatten der stehen gebliebenen robusten Akazien Hirse gedieh, dass Ziegen und Kamele Laub fraßen, dass Vieh sich dort sammelte und natürlichen Dünger hinterließ, dass sie auch Äste für ihre Feuer abschneiden konnten. Kurzum: Man erkannte, wie wichtig Bäume und damit die Aufforstung sind. 4

Schmundt, Hilmar: „Ground Zero“ ergrünt, in: Der Spiegel 17 / 2009, S. 136 – 138.

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Andere Bäume wurden gepflanzt wie der rasch wachsende Eukalyptus, um die Dünen zu stabilisieren, Neem-Bäume gegen Malaria, Affenbrotbäume und andere mehr, in deren Schatten auch Getreide gedeihen kann. Vor allem die widerstandsfähigen Akazien tragen auch in der Trockenzeit noch Blätter. Entscheidend aber dabei ist, dass die Menschen vor Ort selbst den Wert erkannt haben und ihre Erfahrungen an die Nachbardörfer weitergeben. Derartige Initiativen gilt es zu unterstützen und zu fördern, wie es derzeit durch deutsche Institutionen geschieht. Erst wenn aus solchen Initiativen größere Bewegungen entstehen, werden sie nachhaltigen Erfolg zeitigen. So können fruchtbare Entwicklungen am Leben erhalten werden, bis sie sich selber tragen. Der Erfolg hängt auch damit zusammen, dass es den Menschen nicht zuerst um Umweltschutz geht, sondern um ihr Überleben. Ein anderes erfolgreiches Experiment ist durch den bengalischen Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus gestartet worden. Er vergibt Kleinkredite und berücksichtigt dabei die kulturelle Gegebenheit, dass Frauen mit dem Geld sparsamer umgehen und es für die Familie einsetzen, während Männer in den ärmeren Ländern dazu neigen, Geld für Alkohol und Spiele auszugeben. Yunus hat inzwischen damit weltweit Erfolg. Die Kredite werden fast immer zurückbezahlt, so dass neue Kredite vergeben werden können. Zweck seiner Unternehmen ist nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Lösung von sozialen und Umweltproblemen. Diese Kredite ermöglichen kleinste Unternehmen, die Entwicklung geschieht nachhaltig von unten her. Selbstverständlich obliegt es verantwortungsvollen Regierungen, die größeren Projekte durchziehen. Wenig beachtet worden ist die Aufforstung der Berge Südkoreas. Durch den Koreakrieg von 1950 bis 1953 waren die Berge kahl und verkarstet. In den siebziger Jahren wurde ein rigoroses Aufforstungsprogramm verwirklicht. Unter Strafe wurde verhindert, dass auf den Bergen Feuer angezündet wurde. Heute sind die südkoreanischen Berge wieder bewaldet und erstrahlen in wunderbarem Grün. Nordkorea steht diesbezüglich noch ein ganzes Programm bevor. Die Menschen holzen vielerorts das kleine Gebüsch ab, sei es zum Kochen, sei es, um in den strengen Wintern die Zimmer zu heizen. Andere Energiequellen gibt es praktisch nicht. Auch tragen sie von den Hügeln frische Erde als natürliches Düngemittel auf ihre Felder. Der Erosion bei starken Regenfällen wird damit Vorschub geleistet.

IV. Die Chancen kleinerer Gruppen am Beispiel von Benediktinerklöstern Wenn wir wieder zum Grundproblem zurückkehren, zur Frage der Sensibilisierung, der Eigeninitiative und des Engagements, dann bieten kleinere Gruppen eine bessere Voraussetzung als Regierungen und NGOs. Hier lebt der Mensch in einem überschaubaren Rahmen, sieht, was er einbringt, und wird von den andern gefor-

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dert, und er erfährt konkret den Profit seines Handelns.5 Nyerere hat dieses Prinzip mit seiner Idee von den Ujamaa-Dörfern zu verwirklichen versucht, allerdings ohne Erfolg. Er holte die verstreuten Bauern in größere Dorfeinheiten, wo für medizinische Behandlung und Ausbildung der Kinder gesorgt werden sollte. Das Vorhaben scheiterte an der sozialistischen Gleichheitsidee. Alle sollten das Gleiche erhalten, ein Lehrer mit 30 Unterrichtsstunden ebenso wie ein Lehrer mit 10 Wochenstunden. Versuche von privaten Kleinunternehmen wurden unterbunden. Wenn einer eine Hammermühle erfolgreich betrieb, weil er sich auch um die Wartung bemühte, wurde sie vergemeinschaftet mit dem „Erfolg“, dass sie sehr bald stillstand, weil niemand ein persönliches Interesse zeigte, sich zu engagieren. Im sozialistischen System müsste die Jacke näher sein als das Hemd. Beispiele seines Ideals waren die Benediktinerklöster in seinem Land, auf die er immer wieder lobend hinwies. Im Mittelalter waren Mönche die eigentlichen Träger der landwirtschaftlichen Entwicklung in Europa. Sie rodeten Wälder, legten Fischteiche an, verbesserten das Saatgut. Die Zisterzienser gingen im 13. Jahrhundert von der Zwei-Felder- auf die Drei-Felder-Wirtschaft über. In ihren Gärten bauten sie nicht nur Gemüse an, sondern pflegten auch die Heilkräuter. Hildegard von Bingen ist in unserer Zeit zu einem Inbegriff natürlichen Heilens geworden. Die Triebfeder des Ganzen war die Anweisung der Benediktusregel: „Nur dann seien die Mönche wahre Mönche, wenn sie von der eigenen Hände Arbeit lebten.“ Eigenverantwortung, Autonomie und Autarkie wurden zur Basis dieser Entwicklung. Klöster wie die Reichenau, St. Gallen und Fulda vermitteln einen kleinen Eindruck dessen, was an kultureller Arbeit in weitem Sinn gewachsen ist. Nicht nur die großen Klöster trugen hierzu bei. Im 9. Jahrhundert war Bayern von zahlreichen größeren und kleineren Klöstern übersät. Überall in Europa stoßen wir noch auf die Überreste der vielen Klöster. Benedikt von Nursia hat auch die Kultur der Wartung und der Nachhaltigkeit in Europa mit einfachen Anweisungen ohne jegliche ideologische Zielsetzung grundgelegt. Das Handwerkszeug werde wie heilige Altargeräte behandelt. Der Verwalter muss über die ausgegebenen Geräte genau Buch führen und darauf achten, dass sie wieder funktionsfähig zurückgebracht werden. Das sind schlichte Anweisungen mit einer großen, nachhaltigen Wirkung. Als Pater Andreas Amrhein Ende 1884 zunächst in Reichenbach in der Oberpfalz und zwei Jahre später in St. Ottilien eine benediktinische Gründung vornahm, um die christliche Botschaft nach Afrika und Asien zu tragen, waren die mittelalterlichen Klöster seine Vorbilder. Christentum bedeutete für ihn nicht nur Verkündigen und Taufen, sondern eine ganze Kultur. Nicht nur der Kopf, der ganze Mensch sollte getauft werden. Aus dieser Idee heraus wurden die Klöster in Tansania geboren. Die dortigen vier Abteien sind zu Klosterdörfern herangewachsen und leisten vor Ort konkrete 5

Vgl. dazu Scholvin, Sören: Verordnete Selbstständigkeit, in: E+Z 4 / 2009, S. 166 f.

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Entwicklungshilfe. Im Süden des Landes ist ein ganzes Schulnetz entstanden, das nach der Unabhängigkeit im Jahre 1961 vom Staat übernommen wurde. Allerdings haben unsere afrikanischen Benediktiner in ihren Klöstern erneut private Sekundarschulen errichtet, die ein hohes Ansehen genießen. Ferner bilden die Klöster weiterhin Handwerker aus, die überall im Lande anzutreffen sind: Schreiner, Zimmerer, Maurer und Automechaniker. Zusammen mit den Tutzinger Benediktinerinnen haben sie große Krankenhäuser aufgebaut, deren Leitung immer mehr in afrikanische Hände übergeht. Zur Stromversorgung wurden Wasserkraftwerke errichtet. Die Präsenz der Mönche garantiert die nachhaltige Wartung dieser Kraftwerke. Eine afrikanische Gründung im sambischen Katibunga unterhält einen großen Garten. Dort arbeiten die Internatsschüler mit. In ihren heimischen Dörfern haben die Schüler ihrerseits wieder Gärten angelegt. Auf vielen Pfarreien finden wir die Wälder, die früher von Missionaren angelegt wurden. Klöster benötigen Bauholz, und so wird weiterhin aufgeforstet. Für die dortigen Afrikaner ist es auch eine kulturelle Neuheit, über die gegenwärtige Generation hinaus zu denken. Denn Bäume bringen ja oft erst der nachfolgenden Generation einen Ertrag. Dies geschieht in Klöstern. In den Usambara-Bergen hat der Benediktinerpater Athanas Meixner, ein Vorkämpfer für umweltbewusste Entwicklung, in den letzten Jahren mit den Bauern 10.000 veredelte Avocadobäumchen aufgezogen und ausgepflanzt. In den dortigen Bergen geht durch die zunehmende Erwärmung und größere Trockenheit der Kaffeeanbau zurück. „So mussten wir uns nach einer anderen Baumfrucht für unsere Bauern umsehen und fanden sie in den Avocadobäumchen. Diese gedeihen auf den trockenen Hängen und können bis zu 1.000 Früchte pro Baum tragen . . . Avocadobäume geben einen sicheren Ertrag, und die Frucht ist auf Grund des hohen Fettgehalts von 15 Prozent ein gutes Nahrungsmittel.“ Und nicht nur das: „Wir in Soni propagieren die Anpflanzung der Bäume als eine Art Hecke rings um die meist kleinen Felder der Bauern . . . Bei diesem Anbau werden die Bäumchen recht eng, in nur drei Metern Abstand, gepflanzt. So erhält man eine Hecke, die das Feld vor dem Wind und damit vor der Austrocknung schützt. Auf den Feldern im Inneren können die Frauen Mais und Bananen anbauen, die durch die Hecke besser geschützt sind und die Trockenperiode besser durchstehen.“6 Ähnliche Entwicklungen sind auch in den andern Benediktinerklöstern in Afrika anzutreffen, oft in kleinerem Stil, immer aber in Verbindung mit ihrer Umgebung. Die heimischen Schwestern – in Tansania gibt es allein 1.500 – arbeiten auf den Pfarreien mit und helfen den Frauen bei der Verbesserung des Haushalts und der Hygiene. Benediktiner sind überfordert, wenn es um Großprojekte geht, aber sie helfen an der Basis und bilden viele Menschen in ihrer Umgebung aus. Durch Ausbildung und Vorbild wirken sie in die Bevölkerung hinein. Das Ziel ist allerdings erst dann erreicht, wenn in den beiden noch halb-europäischen Klöstern die Afrikaner selbst die Leitung der einzelnen Sektoren übernehmen, wie in den Handwerkerschulen, in den landwirtschaftlichen Betrieben und in den Krankenhäusern. 6

Zitat aus: Ruf in die Zeit, hrsg. von der Abtei Münsterschwarzach, Mai 2009, S. 14.

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In der Abtei Peramiho liegt die Handwerkerschule voll in afrikanischen Händen, das Hospital ebenso. Ähnlich ist die jüngere Entwicklung in der Abtei Ndanda an der Ostküste des Landes gelaufen. Die beiden rein afrikanischen Abteien Hanga bei Songea und Mvimwa in der Nähe des Tanganyika-Sees haben sich schon lange auf diese Art der Entwicklungshilfe eingestellt. Dort wurden ebenfalls Wälder und Fischteiche angelegt. Die langfristige Präsenz der Mönche garantiert eine solche fundamentale Entwicklungshilfe und ist ein Beispiel für Nachhaltigkeit.

V. Ausblick Die Klöster können heute nicht mehr die Entwicklung der Länder garantieren, wie sie es im Mittelalter taten. Es kann auch nicht ihre Aufgabe sein. Sie sind bestenfalls Beispiele, wie Entwicklungshilfe und Nachhaltigkeit verwirklicht werden können. Es ist der überschaubare Rahmen, der enge Kontakt mit der Bevölkerung, über Generationen hinweg. Sie arbeiten mit den Menschen, nicht nur für die Menschen. Es bleibt die Grundfrage an jede Form von Entwicklungshilfe und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Ist es wirklich eine Hilfe zur Selbsthilfe? Sind die Menschen eines Landes dazu bereit, selber Hand anzulegen? Wie können wir sie motivieren? Eine solche Herausforderung nimmt die Menschen ernst und behandelt sie nicht wie unmündige Kinder. Sie verhilft ihnen zu ihrer Würde. In dieser Herausforderung werden sie auch lernen, für Nachhaltigkeit und Umwelt zu sorgen und ihren Beitrag für die Erhaltung unseres ganzen Globus als Lebensort für die nachfolgenden Generationen zu leisten.

Die Bewahrung der Schöpfung im Zeichen einer nachhaltigen Entwicklung Von Angela Merkel

Die Bewahrung der Schöpfung ist die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Nach Prognosen der Vereinten Nationen werden zur Mitte dieses Jahrhunderts über neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Fest steht: Der rapide Bevölkerungsanstieg lässt den weltweiten Energieverbrauch weiter anwachsen und verschärft den Wettbewerb um knapper werdende Ressourcen. Wie aber kann es gelingen, den Reichtum unserer Erde und damit die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit langfristig zu bewahren? Immer deutlicher wird: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben. Schon heute zieht unser Konsum unsere Lebensgrundlagen in große Mitleidenschaft. Gegenwärtig verbrauchen die Menschen in Mitteleuropa etwa das Zehnfache an natürlichen Ressourcen im Vergleich zu Afrika. Auch ethisch lässt sich die ungleiche Nutzenverteilung der Ausbeutung nicht rechtfertigen – erst recht nicht, wenn die Umweltund Klimafolgeschäden eines übermäßigen Ressourcenabbaus vor allem die Lieferländer selbst treffen. Grundsätzlich muss jeder Mensch das gleiche Anrecht darauf haben, Ressourcen nachhaltig in Anspruch zu nehmen. So einfach dieser Grundsatz ist, so schwierig ist es jedoch, ihm tatsächlich Geltung zu verschaffen. Dies darf aber kein Vorwand dafür sein, entsprechende Anstrengungen zu unterlassen. Im Gegenteil: Wir brauchen diese Leitlinie nicht zuletzt auch für die Verhandlungen über ein Nachfolgeübereinkommen zum Kyoto-Protokoll über den internationalen Klimaschutz. So kann und muss sich dieser Grundsatz in konkreten Zielen und Maßnahmen niederschlagen. Das heißt zum Beispiel: Wenn von Entwicklungs- und Schwellenländern verlangt wird, ihre Emissionen zunehmend vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, können Industrieländer nicht auf Dauer einen höheren CO2-Ausstoß pro Kopf für sich in Anspruch nehmen. Indem Industrieländer ihre Pro-Kopf-Emissionen deutlich reduzieren, können sie Entwicklungs- und Schwellenländer davon überzeugen, selbst auf einen nachhaltigen Wachstumspfad einzuschwenken. Nur so erreichen wir schließlich eine Konvergenz der Pro-Kopf-Emissionen auf einem Niveau, das mit einem hinreichenden globalen Klimaschutzziel vereinbar ist. Europa kann und muss in dieser Situation ein Beispiel dafür geben, wie sich wirtschaftlicher Wohlstand, hohes Umweltschutzniveau und sozialer Zusammen-

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Angela Merkel

halt auch in globaler Hinsicht miteinander verbinden lassen – aus Gründen historischer Verantwortung und auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn an Europa werden die Folgen ökologischer und sozialer Probleme anderer Länder nicht spurlos vorübergehen. Armut und Umweltzerstörung auf anderen Kontinenten betreffen auch uns – sei es durch Gefahren regionaler Konflikte und Auseinandersetzungen um natürliche Ressourcen oder etwa durch zunehmende Migration. Europa bringt alle Voraussetzungen mit – unter anderem in Form von umwelttechnologischem Know-how –, um eine Vorreiterrolle einnehmen und mit einer Politik der Nachhaltigkeit der Welt ein Beispiel für eine zukunftsfähige Entwicklung geben zu können. Wir brauchen einen breiten Politikansatz für den Schutz unserer Umwelt, und zwar unter Beachtung der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten. Dieser Ansatz muss wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Wohlstand, soziale Verantwortung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zusammenführen. Ein durchdachtes Nachhaltigkeitskonzept berücksichtigt die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern. Es geht nicht um wirtschaftlichen Fortschritt trotz Umweltschutz, sondern mit und durch Umweltschutz. Der gesellschaftliche, ökonomische und technologische Fortschritt muss am Prinzip der Nachhaltigkeit gemessen werden. Nur dann bewahren wir auch künftigen Generationen die Chance auf ein Leben in Wohlstand und in einer intakten Umwelt. Schon die Beschreibung dieses überaus komplexen Zieles zeigt: Nachhaltigkeit bietet kein einfaches Patentrezept zur Problemlösung. Das Leitbild der Nachhaltigkeit stellt vielmehr hohe Anforderungen an einen breiten politischen Diskurs über die Weichenstellungen unserer Gesellschaft. So muss eine zeitgemäße Forschungsund Innovationspolitik beispielsweise Impulse für neue energieeffiziente Technologien, umweltschonende Produkte und Verfahren geben. Eine moderne Bildungspolitik muss helfen, Verhaltensmuster zu verändern und ein Bewusstsein für nachhaltigen Konsum zu schaffen. Nachhaltigkeit ist im Übrigen keine Erfindung der deutschen Politik. Mit ihren Nachhaltigkeitsinitiativen knüpft die Bundesregierung vielmehr an vielfältige staatliche wie gesellschaftliche Prozesse und Aktivitäten auf internationaler Ebene an. Nachhaltigkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zu einem anerkannten Leitbild entwickelt – beginnend mit dem Bericht der Brundtland-Kommission von 1987 über die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 bis hin zum Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002. In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hat der Nachhaltigkeitsgedanke zusehends Raum gewonnen. Greifbare Indizien dafür sind Festlegungen in Parteiprogrammen, Nachhaltigkeitsberichte und Konzepte von Unternehmen sowie zahlreiche Initiativen engagierter Bürgerinnen und Bürger. Jetzt kommt es darauf an, Nachhaltigkeit noch deutlicher zu einem selbstverständlichen Teil unseres Alltags zu machen.

Bewahrung der Schöpfung im Zeichen einer nachhaltigen Entwicklung

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Nachhaltigkeit ist kein unverbindliches Wohlfühlthema oder eine vorübergehende Modeerscheinung, sondern wesentlicher Teil gelebter Gerechtigkeit und damit wichtige Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Dies verdeutlicht uns auch die gegenwärtige internationale Finanzmarktkrise. Die Umsetzung einer Politik der Nachhaltigkeit bleibt aber trotz breiter Anerkennung als Leitbild eine große Herausforderung. Ihr stellt sich die Bundesregierung im Rahmen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Darin werden konkrete Ziele festgelegt. Der jeweilige Stand der Zielerreichung wird mithilfe bestimmter Indikatoren gemessen. Alle zwei Jahre wird über die erreichten Fortschritte berichtet. Und alle vier Jahre erfolgt eine Bilanzierung im Rahmen eines Fortschrittsberichts. Der Fortschrittsbericht 2008 zeigt ein gemischtes Bild: Erfolge gab es zum Beispiel im Bereich Klimaschutz. Von 1990 bis 2007 ist der Ausstoß der Treibhausgase um mehr als 20 Prozent gesunken. Außerdem hat sich der Anteil erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch mehr als verfünffacht. Insgesamt besteht aber noch dringender Handlungsbedarf. Das gilt etwa mit Blick auf den Flächenverbrauch. Das Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie, den Neuverbrauch bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren, liegt noch in weiter Ferne. Im Fortschrittsbericht 2008 hat die Bundesregierung dargelegt, wie Nachhaltigkeit in der praktischen Arbeit der Bundesregierung künftig noch stärker Berücksichtigung finden soll – als politische Daueraufgabe über Legislaturperioden hinweg. So wird nicht zuletzt jedes Gesetz und jede Verordnung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung künftig auf mögliche Auswirkungen auf eine nachhaltige Entwicklung hin überprüft. Die Grundregel der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung lautet: „Jede Generation muss ihre Aufgaben selbst lösen und darf sie nicht den kommenden Generationen aufbürden. Zugleich muss sie Vorsorge für absehbare zukünftige Belastungen treffen.“ Natürlich reicht das Engagement der Politik allein für ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften nicht aus. Der Schutz menschlichen Lebens, die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und eine langfristig tragfähige wirtschaftliche Entwicklung sind eine Herausforderung für jeden Einzelnen – Unternehmen in ihren Entscheidungen über Produktionsverfahren ebenso wie Konsumenten bei der Auswahl von Produkten. Weltweit ist jeder über alle Lebensbereiche hinweg gefordert, den Nachhaltigkeitsgedanken zu verinnerlichen und ihn zu einer persönlichen Leitlinie zu machen. Aber es wird sich erst erweisen müssen, ob das 21. Jahrhundert tatsächlich ein Jahrhundert nachhaltiger Entwicklung sein wird. Es ist jedenfalls jegliche Anstrengung wert.

Umweltpolitik in Bayern – wie es begann Von Alois Glück

„Was ist im konservativen Bayern los?“, fragten sich die Etablierten in der bundesdeutschen Politik, als Ministerpräsident Alfons Goppel nach der Landtagswahl 1970 und seiner Wahl am 8. Dezember 1970 im Plenum des Bayerischen Landtags die Neuorganisation der Staatsregierung zur Zustimmung des Landtags vorlegte und erläuterte: „Es wird ein neuer Geschäftsbereich – ein Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen errichtet. Ihm werden folgende Aufgaben zugeteilt: 1. Landesentwicklung, Landesplanung und Raumordnung. 2. Umweltfragen: vorausschauende Feststellung von Schädigungen und Gefahren für die Natur, die Landschaft und die Grundgüter des Lebens wie Boden, Wasser und Luft . . . 3. Dem Geschäftsbereich unterliegt die Koordinierung aller die Landesentwicklung berührenden Planungen und Maßnahmen.“ Wie kam es dazu, dass in Bayern durch die CSU das erste „Umweltministerium“ gegründet wurde, in Deutschland, in Europa, wahrscheinlich weltweit? Von der etablierten Politik noch wenig bemerkt hatte sich ein neues Thema entwickelt, der Natur- und Umweltschutz. Außerdem entwickelte sich unabhängig davon mit der Datenverarbeitung und neben der klassischen Hoheitsverwaltung die ersten Ansätze einer vorausschauenden und gestaltenden Verwaltung durch entsprechende Planungskonzepte. Und der in Bayern wiederum völlig neue Ansatz war nun die Verbindung von Umweltschutz und Planung, nicht nur organisatorisch in einem Ministerium, sondern in der Zusammenschau der fachlichen Wechselwirkungen von vorausschauender und gestaltender Planung und Umweltschutz. Umweltschutz wie Planung wurden von der etablierten Verwaltung wie auch weitüberwiegend von der Politik skeptisch und eher ablehnend betrachtet. Wie kommt nun „ausgerechnet“ Alfons Goppel dazu, eine solche Neugründung zu etablieren, die von nicht wenigen bekannten Politikern als eine eher falsche Konzession an den „Zeitgeist“ eingestuft wurde? Der Ausgangspunkt dieser Initiative war der damalige Generalsekretär Max Streibl mit einer jungen Mannschaft in der Landesleitung der CSU. Sie erkannten die Bedeutung dieser neuen Entwicklungen, führten entsprechende Gespräche und entwickelten das Konzept für eine solche Umstrukturierung. Typisch für diese

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Alois Glück

Initiative war die intensive Kommunikation mit dem fachlichen und gesellschaftlichen Umfeld. Nach der erfolgreichen Landtagswahl 1970 legte Max Streibl ein entsprechendes Konzept für diese neue Aufgabenstellung in der Staatsregierung und für ein neues Ministerium vor. Es ist kein Geheimnis, dass Ministerpräsident Alfons Goppel dem Ganzen wenig Positives abgewinnen konnte, letztlich aber dem politischen Gewicht von Max Streibl und seinen Unterstützern nachgegeben hat. Auch die anderen führenden Politiker in der CSU und insbesondere auch die Ministerien mit ihren Leitungen betrachteten das neue Projekt mit hohem Misstrauen, wurden doch damit Kompetenzen neu verteilt und für viele entwickelte sich der Alptraum eines durch den Querschnittscharakter von Planung und Umweltschutz allzuständigen und übermächtigen neuen Ministeriums mit entsprechendem politischen Einfluss der politischen Führung. Typisch für die Situation war, dass es für dieses neue Ministerium keine entsprechenden organisatorischen und personellen Vorbereitungen gab. Der erste Sitz war deshalb die „MüllemannVilla“, das Haus eines in Konkurs gegangenen Unternehmers, das man dafür anmietete. Der erste Staatsekretär des Ministeriums, Alfred Dick, erzählte oft, wie er auf seiner Reiseschreibmaschine erste Briefe tippte und das Ganze eben erst organisatorisch aufgebaut werden musste. Die Gründung dieses Ministeriums war nicht nur politisches Kalkül und vorausschauende Reaktion auf eine beginnende Entwicklung – zugrunde lag für den Bereich des Umweltschutzes eine starke Prägung im Selbstverständnis der CSU, die Verbindung zur Heimat, die Bedeutung der Tradition. 1970 wurde das europäische Naturschutzjahr ausgerufen. Das damalige Verständnis des Naturschutzes war vom Schutzgedanken geprägt und in einer starken inneren Verbindung zum Gedankengut und den Wertvorstellungen des Denkmalschutzes, der in dieser Zeit auch seine politische Bedeutung bekam. Das starke Wirtschaftswachstum der 60er-Jahre hinterließ tiefgreifende Spuren der Veränderung, auch von Zerstörungen und mobilisierte entsprechende Gegenkräfte. Der Naturschutz nahm damit ein Thema auf, das schon in der Bayerischen Verfassung verankert war. „Der deutsche Wald, kennzeichnende Orts- und Landschaftsbilder und die einheimischen Tier- und Pflanzenarten sind möglichst zu schonen und zu erhalten.“ So lautet Artikel 141, Satz 2 der Bayerischen Verfassung in seiner ursprünglichen Fassung von 1946. Die Überzeugung, dass Heimat ein hohes, schützenswertes Gut ist, drückte sich zunächst in den Bestrebungen des Denkmalschutzes aus. Anfang der 70er-Jahre griff dann der Schutzgedanke auf den Umweltbereich über, etwa in der damals neu aufblühenden Naturparkbewegung. Einen darüber hinausgehenden und ganz neuen Akzent setzte der damalige Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten, Dr. Hans Eisenmann, mit der Gründung des Nationalparks Bayerischer Wald, dem ersten Nationalpark Deutschlands. Mit dem Nationalpark wurde ein großer Schritt vom Schutzgedanken zum ökologischen Pfad des Naturverständnisses und des Umweltschutzes eröffnet. Die Weiterentwicklung des Naturschutzes vom ausschließlichen Schutzgedanken zum ökologischen Systemdenken und umfassenden Umweltschutz entwickelte sich erst in den folgenden Jahren. Der große Wurf des

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Nationalparks war politisch zu diesem Zeitpunkt möglich, weil der Nationalpark zu einem Anziehungspunkt für den Bayerischen Wald und damit zu einem Motor in der Entwicklungsstrategie Bayerischer Wald als Wirtschafts- und Lebensraum wurde. Die Zustimmung zu dem Projekt in der Bevölkerung des Bayerischen Waldes und in der Politik war zu diesem Zeitpunkt im Kern nicht der Umweltschutzgedanke, sondern der Nationalpark als wichtiges Instrument der Entwicklungsstrategie für den Bayerischen Wald, als Magnet für den Tourismus. Hans Eisenmann hatte grundsätzlich ein Verständnis von der Natur und der Landnutzung, das über die traditionelle Sichtweise der Land- und Forstwirtschaft hinaus griff. Er sprach oft von der „Agrikultur“ als ganzheitliches Verständnis bäuerlicher Kultur und Wirtschaftsweise und dies war für ihn auch die Grundlage für das Bayerische Landwirtschaftsförderungsgesetz, das 1969 verabschiedet, neue Dimensionen der Agrarpolitik und der Wechselbeziehung von Landnutzung durch die Landwirtschaft und Natur- und Umweltschutz zu einer Einheit zusammenfasste. Aufgabe der Landwirtschaft war damit auch die Pflege der „Kulturlandschaft“, der Beginn eines Paradigmenwechsels in der Agrarpolitik und – zunächst massiv abgelehnt – im Selbstverständnis der Landwirte. Das von Umweltminister Max Streibl 1973 dem Bayerischen Landtag vorgelegte Bayerische Naturschutzgesetz war das erste Fachgesetz in Europa; es wurde von den Umweltorganisationen als beispielhafte Pionierleistung gepriesen. Die bayerische Umweltpolitik realisierte mit dem Drei-Zonen-Alpen-Plan für die bayerischen Alpen eine wegweisende Planung. Man nutzte dabei eine Vorlage der bayerischen Wasserwirtschaft, die auf der Grundlage der Bedeutung der Alpen für die Wasserwirtschaft in Bayern eine solche Planung entwickelte. Sie wurde dann als genereller Schutz- und Entwicklungsplan für die Alpen als politisches Konzept realisiert. Diese Planung entwickelte eine am Anfang sicher noch nicht zu erahnende Bedeutung für den Schutz des bayerischen Alpenraums und wurde so wiederum zu einer großen und auch heute in der Form noch einmaligen Pionierleistung und Wirkung für die Alpen. Gleiches gilt für das Bayerische Waldgesetz, in dem wieder an den Ursprungsgedanken der Waldwirtschaft, die „Nachhaltigkeit“, angeknüpft wurde. Damit wurden Max Streibl und Hans Eisenmann die Pioniere der weit vorausschauenden Umweltpolitik der CSU und der Bayerischen Staatsregierung. Ihre Konzepte, ihre fachlichen Impulse schöpften sie aus dem Umfeld gesellschaftlicher Entwicklungen, dem Gespür dafür und externer fachlicher Kompetenz. Die Konzepte entstanden nicht in der Politik und den Verwaltungen – ihr Verdienst ist es, dass sie diese Entwicklungen aufgegriffen und in gestaltende Politik umgesetzt haben. Staatsminister Max Streibl beschrieb die Aufgabenstellung in einer Rede in der Plenarsitzung des Bayerischen Landtags am 22. Juni 1971 unter dem Motto „Bayern in der Welt von Morgen“, so: „Bisher unbekannte Probleme kommen auf uns zu. Die Grundgüter des Lebens, Luft, Boden und Wasser sind in akuter Gefahr. Die Landschaft ist einer rapid steigenden Belastung ausgesetzt. Das Ausscheiden weiterer Flächen aus der landwirtschaftlichen Nutzung bedroht unsere Kulturland-

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schaft. . . . Die öffentlichen Güter, kurz als wissenschaftliche, soziale und kulturelle Infrastruktur umschrieben, stehen heute in den meisten Ländern in einem unausgewogenen Verhältnis zu den sogenannten Marktgütern. Dieses Missverhältnis hat uns als Nebenprodukt einen Großteil unserer drängendsten Umweltprobleme beschert. Wir müssen uns bemühen wieder das rechte Verhältnis herzustellen. Wachsende Konsumgüterproduktion erfordert kurz gesagt erhöhte Bereitstellung öffentlicher Infrastruktureinrichtungen.“ Wohlstand und ein gesunde Umwelt auf Dauer miteinander zu vereinbaren, das war eine der zentralen Fragen, auf die die Menschen konstruktive Antworten suchten. 1972 wurde das aufsehenerregende Buch „Die Grenzen des Wachstums“ von Dennis Meadows veröffentlicht. In den 70er-Jahren entwickelte sich aus der ursprünglichen Umweltdiskussion, die primär eine Fachdiskussion war, eine umfassende gesellschaftspolitische Debatte nach dem Motto: „Wie wollen wir morgen leben?“ Damit verbunden waren immer mehr gesellschaftspolitische Konflikte und auf die Anfangseuphorie folgten mehr und mehr sehr kontroverse Auseinandersetzungen. Für die CSU begann eine schwierige Entwicklung. Die Umweltbewegung wurde in wesentlichen Teilen eine Protestbewegung gegen moderne Lebensstile, verbündete sich zum Teil mit anderen Protestströmungen etwa der Friedensbewegung, dem Freiheitsverständnis der 68er oder der Emanzipationsbewegung bei den Frauen. Das war dann der Nährboden für eine neue politische Strömung, die sich parteipolitisch in der Gründung und Entwicklung der Grünen formierte. Die tragende und letztlich auch viele innere Gegensätze überbrückende Strömung aber war die Protestbewegung. Wenn wir eine Bilanz der bayerischen Umweltpolitik der vergangenen Jahrzehnte ziehen, so zeigt sich unter dem Strich ein eindrucksvolles Ergebnis: Noch nie wurde in einem so kurzen Zeitraum in einem gesellschaftspolitisch wichtigen Bereich so viel Grundlegendes auf den Weg gebracht wie in der Umweltpolitik. Mehr noch: Seit den 70er-Jahren ist das Umweltbewusstsein in einem Maße gewachsen und Allgemeingut geworden, dass beispielsweise die Frage nach der Umweltverträglichkeit eines Bauprojektes mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Heute ist Umweltschutz nicht mehr fachspezifisch begrenzt, sondern eine Querschnittsaufgabe. Unbestritten ist freilich auch: Der Weg, der dabei zurückgelegt werden musste, führte nicht steil nach oben und er war nicht frei von Hindernissen. Viele unterschiedliche Etappen brachten ein anstrengendes Auf und Ab mit sich. Und ebenso richtig ist: Trotz vieler Erfolge sind wir im Umweltschutz noch längst nicht dort, wo wir sein sollten. Wir haben immer noch keinen Lebensstil gefunden – keine Art zu wirtschaften; keine Art, unser Leben zu organisieren, die nicht zulasten der Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen geht oder in einer globalen Welt auf Kosten der Lebenschancen von Menschen in anderen Teilen der Welt. Mit dieser Aufgabenstellung ist ein modisch gewordener Begriff eng verbunden, der wohl

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die zentrale Grundorientierung für die Zukunft der modernen Zivilisation präzise umreißt: Nachhaltigkeit. Das Wort wird heute vielfach strapaziert. Ursprünglich stammt der Begriff „Nachhaltigkeit“ aus der Forst- und Landwirtschaft. Er bezeichnet das Prinzip, einen Wald so zu bewirtschaften, dass immer nur so viel Holz geschlagen wird, wie nachwachsen kann. Unvergessen ist mir eine Umweltbeilage aus der „Süddeutschen Zeitung“, die Anfang der 70er-Jahre erschien. Darin hieß es: „Die moderne Zivilisation wird nur eine gute Zukunft haben können, wenn sie sich ein wesentliches Prinzip bäuerlichen Wirtschaftens und bäuerlichen Stolzes zum Maßstab nimmt: Nicht von der Substanz leben, sondern den Hof mindestens so an die nächste Generation weitergeben, wie er übernommen wurde.“ Das hat mich damals, da ich selbst aus der bäuerlichen Welt komme, besonders angesprochen und beeindruckt. Leider ist dieses Erfahrungswissen im Sog des technischen Fortschritts ziemlich in Vergessenheit geraten. Man hielt im Agrar- und Umweltbereich vieles für machbar, so dass man glaubte, auf althergebrachte, bewährte Prinzipien verzichten zu können. Erst als man feststellte, dass sich der Mensch auf Dauer nicht gegen die Natur durchsetzen kann, wurde der Gedanke der Nachhaltigkeit wieder neu entdeckt und zwar zuerst in der Umweltdebatte, in der ökologischen Diskussion. Heute ist Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung, also der verantwortungsbewusste Umgang mit den natürlichen und nicht beliebig vermehrbaren Ressourcen, zu einem gesellschaftspolitischen Leitbild geworden, das in der Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik, in der Energiepolitik und in vielen Bereichen der Umweltpolitik prägend wirkt. Damit ist das ursprünglich aus der Natur kommende Prinzip der Nachhaltigkeit zu einem Schlüsselthema für die Zukunft unserer Zivilisation geworden und auch zu einer gewaltigen ethischen Herausforderung. Denn es erfordert Kraft, seine Möglichkeiten nicht voll auszuschöpfen aus Verantwortung für die Zukunft, in der die Lebenschancen unserer Nachkommen möglichst nicht geringer sein sollen als die unseren.

Ökonomie und Ökologie: Der bayerische Weg in eine nachhaltige Zukunft Von Horst Seehofer

Die globale Finanzkrise und der Konjunktureinbruch drohen die Verhandlungen zum Weltklimagipfel in Kopenhagen und die Bemühungen um ein nachhaltiges Wirtschaften in den Hintergrund zu drängen. Fällt also der Klima- und Umweltschutz der Wirtschafts- und Finanzkrise zum Opfer? Bricht damit der alte Gegensatz von Ökonomie und Ökologie wieder auf? Handelt es sich dabei um zwei widerstreitende Ziele, von denen eines immer dann besser erreicht wird, wenn das andere zurückgedrängt wird? Dies war zumindest lange Zeit die politische Gefechtslage, mit den Vertretern des Umweltschutzes auf der einen und den Vertretern der Wirtschaft auf der anderen Seite. Dennis Meadows hat im Auftrag des Club of Rome in seinem vielbeachteten Werk „Die Grenzen des Wachstums“ bereits 1972 auf die unsichere Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsmodells hingewiesen. Daraus zogen viele den Schluss, die Lösung des Nachhaltigkeitsproblems liege in einer Begrenzung des Wirtschaftswachstums und des technischen Fortschritts. Der Grundstein für den Antagonismus von Ökologie und Ökonomie war gelegt. Kann dies aber der richtige Weg für eine nachhaltige Umwelt- und Wirtschaftspolitik sein? Ist wirtschaftliches Wachstum wirklich ursächlich für unsere ökologischen Probleme? Ich meine: Nein!

Für einen Paradigmenwechsel: Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern Eine nachhaltige Entwicklung in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht schließt sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingt einander geradezu. So verstandene Nachhaltigkeit ist eine der Leitlinien bayerischer Politik. Nachhaltig handeln heißt, unsere Lebensgrundlagen zu erhalten und nicht zu verzehren. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Das gilt vom Schutz der Umwelt und des Klimas bis hin zur Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Und das heißt für die Politik: Sie darf nicht in Wahlperioden denken, sondern muss für Generationen handeln. Für die Wirtschaft heißt das: Sie muss weg von Quartalsdenken und der Jagd nach dem schnellen Geld. Nachhaltigkeit heißt auch, dass der Staat eine Finanzpolitik betreiben muss, die unseren Kindern und Enkeln mindestens die gleichen Chancen und Gestaltungsspielräume lässt, wie wir sie heute haben. Das

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schließt also Konsum auf Pump und auf Kosten der nächsten Generation aus. Und natürlich bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir bei der Nutzung unserer natürlichen Ressourcen und beim Schutz von Umwelt und Klima nicht auf Kosten kommender Generationen leben dürfen. Deshalb wird Bayern auch in Zukunft Vorreiter bei der Bewahrung der Schöpfung sein. Dabei betrachten wir Klima- und Umweltschutz in der richtigen Dosierung nicht als Job-Killer, sondern als Job-Motor. Bayern handelt nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern, das ist unser Weg. Diesen bayerischen Weg möchte ich anhand von fünf Thesen verdeutlichen.

I. „Ökologie und Ökonomie dürfen kein Gegensatz sein“ Entsprechend dem Leitbild der Nachhaltigkeit müssen die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Umwelt, Wirtschaft und Sozialem berücksichtigt werden. Eine Umweltpolitik, die diese Zusammenhänge leugnet und sich ausschließlich als begrenzendes Element des Wirtschaftslebens (miss-)versteht, setzt die künftige Prosperität unserer Gesellschaft aufs Spiel und gräbt sich damit langfristig selbst die gesellschaftliche Akzeptanz und das wirtschaftliche Fundament ab. Daher darf die Umweltpolitik ihre Belange nicht mehr isoliert und ohne Rücksicht auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Auswirkungen verfolgen. Sie muss vielmehr Ökologie und Ökonomie im Sinne der Nachhaltigkeit als Ganzes begreifen. Gerade für Deutschland in seiner aktuell schwierigen konjunkturellen Situation heißt dies konkret: Klima- und Umweltpolitik darf sich nicht als Wachstumsbremse und Vernichter von Arbeitsplätzen erweisen. Sie muss stattdessen innovative Wege zu einem von Anfang an ökologisch verträglichen Wirtschaften und Wachsen weisen. Das aktuelle Beispiel der Reduzierung der CO2-Emissionen von PKWs zeigt, dass es dabei Anpassungsschwierigkeiten geben kann. Es ist niemandem geholfen, wenn man durch überzogene Anforderungen ganze Industriezweige ins Ausland treibt. Nachhaltigkeit bedeutet hier auch, der Wirtschaft die Chance und die Zeit zum Umsteuern zu geben. Gerade was die Mobilität der Zukunft betrifft, hat Bayern gute Karten, Weltmarktführer zu werden. Voraussetzung aber ist: Die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme und die Auswirkungen von Produktionsprozessen und Produkten müssen in allen Facetten berücksichtigt werden. Denn die Umweltpolitik kann nur die Mittel in Umweltprojekte investieren, die zuvor erarbeitet worden sind. Diese einfache Wahrheit wird leider oft vergessen. Wir brauchen für die Verwirklichung von Nachhaltigkeit eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung. Dazu muss sich die Umweltpolitik bekennen. Nachhaltige Umweltpolitik in der skizzierten Dimension sucht konsequent nach Wegen, das Leitbild des von vornherein ökologisch verträglichen Wirtschaftens und Wachsens zu verwirklichen. Es muss das Ziel sein, den kommenden Generationen wirtschaftliche Prosperität in einer gesunden Umwelt zu ermöglichen, also echte Vorsorge für eine lebenswerte Zukunft zu schaffen. Dazu muss die Umweltpolitik ein Innovationsmotor werden, der die Entwicklung effizienter, umweltverträglicher und nach-

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haltiger Wirtschaftsformen zusammen mit den Wirtschaftsbeteiligten anschiebt. Einer solchen Politik fühlt sich die Bayerische Staatsregierung verpflichtet.

II. „Bayern macht sich auf den Weg in ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ Ökologisch verträgliches Wachstum ist kein Wunschdenken, sondern ganz konkret realisierbar. Dies zeigt sich anschaulich am Beispiel Bayerns, etwa bei der fortschreitenden Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Steigerung des Energieverbrauchs. Galt bei uns noch vor 25 Jahren die Faustregel, dass 1% Wirtschaftswachstum mit 1% mehr Energieverbrauch erkauft werden musste, so haben wir in Bayern heute ein Verhältnis von 1 zu 0,6. Das reale Wirtschaftswachstum in Bayern ist in den letzten 20 Jahren um 95 % gestiegen, der Primärenergieverbrauch aber nur um ein Drittel. Andere Länder haben hier noch erheblichen Nachholbedarf. Die Wirtschaft in China wuchs in den vergangenen zehn Jahren jährlich um 10 %, musste dieses Wachstum aber mit jährlich 20 % mehr Energieverbrauch erkaufen – mit entsprechend verheerenden Auswirkungen auf das globale Klima. Obwohl Bayern in Deutschland bei der Wirtschaftskraft an der Spitze liegt, haben wir mit 7 Tonnen pro Kopf und Jahr den bundesweit niedrigsten CO2-Ausstoß. Zudem liegt die Energieproduktivität, also unser Bruttoinlandsprodukt bezogen auf den Primärenergieverbrauch, in der bayerischen Wirtschaft ein Viertel über dem bundesweiten Durchschnitt. Diese Erfolge machen Mut, weiterhin in die Richtung des ökologisch verträglichen Wirtschaftens voranzuschreiten, wie das Bayern auf dem Weg in eine kohlenstoffarme Wirtschaft vormacht: Bis zum Jahr 2020 wollen wir die Energieproduktivität um mindestens 25% steigern und die CO2-Emissionen pro Kopf von derzeit 7 auf unter 6 Tonnen je Einwohner senken. Dazu wollen wir auch den Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch auf 20 % verdoppeln. Schon heute liegt der Anteil der „Erneuerbaren“ an der Stromerzeugung in Bayern fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Rund 60 % des deutschen Wasserkraft-Stroms wird in Bayern erzeugt. Rund die Hälfte des deutschen Solarstroms kommt aus Bayern. Man mag es kaum glauben, aber 2005 wurde im Freistaat mehr Photovoltaikfläche installiert als irgendwo sonst auf der Welt. Damit sind wir Solarstrom-Weltmeister! Das gilt auch für andere Bereiche: Jeweils gut ein Drittel der in Deutschland installierten Solarthermiekollektoren wie auch Wärmepumpen stehen in Bayern. Die Spitzenposition Bayerns bei der Nutzung von Wasser, Sonne, Geothermie und Biomasse werden wir weiter ausbauen. So wird die Staatsregierung die Tiefen-Geothermie, also die Nutzung von Erdwärme, mit 12 Millionen Euro fördern. Mit weiteren 16 Millionen Euro werden wir die Nutzung nachwachsender Rohstoffe im Rahmen eines Programms „Bioenergie für Bayern“ fördern. Bayern ist frühzeitig in die Forschung und Förderung der nachwachsenden Rohstoffe eingestiegen. Von 1990 bis 2007

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haben wir rund 226 Millionen Euro für Biomasseprojekte sowie für Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet investiert. Bereits im Jahre 2000 hat Bayern als eines der ersten Länder ein umfassendes Klimaschutzkonzept beschlossen, das 2003 mit der Initiative „Klimafreundliches Bayern“ und einer Klimaallianz mit dem Bund Naturschutz und den beiden christlichen Kirchen fortgesetzt wurde. Auch deshalb kann Bayern auf dem Weg zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft schon Beachtliches vorweisen: Über 80 % der Stromerzeugung in Bayern ist CO2-frei. Diesen Vorsprung bei der CO2-Reduzierung wollen wir halten und weiter ausbauen. Bayern investiert deshalb 350 Millionen Euro zusätzlich zu den regulären Haushaltsmitteln in den Klimaschutz. Priorität haben dabei die Maßnahmen mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis. Daher liegt ein Schwerpunkt bei der energetischen Gebäudesanierung. Durch Wärmedämmung bei älteren Bauten wird pro investierten Euro die höchste CO2-Einsparung erreicht. Bayern wendet insgesamt 150 Millionen Euro für die energetische Sanierung staatlicher Gebäude auf und plant, 23 Millionen Euro für den Umbau seiner Wälder und für Schutzmaßnahmen im Bergwald einzusetzen. Zur Anpassung an den Klimawandel werden bis zum Jahr 2020 insgesamt 2,3 Milliarden Euro in den Hochwasserschutz fließen. Mit dem Klimaprogramm leistet Bayern nicht nur einen Beitrag für den Klimaschutz, sondern unterstützt auch das heimische Handwerk, das Baugewerbe und wichtige High-Tech-Branchen. Bayern als High-Tech-Land muss die Möglichkeiten nutzen, die sich unserer Wirtschaft in der Energie- und Umwelttechnik bieten. Deshalb werden wir die Klimaforschung und die Entwicklung von Technologien zur effizienteren Energieerzeugung und von erneuerbaren Energien mit über 42 Millionen Euro vorantreiben. Auch die Mobilität wird einen angemessenen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Das gilt für die öffentlichen Verkehrsmittel und für die individuelle Mobilität. Hier müssen auch neue Wege beschritten werden. Die Bayerische Staatsregierung wird zum Beispiel eine Initiative starten, um zusammen mit der Industrie das Elektroauto voranzubringen. Für mich steht außer Frage: Der Umstieg auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft wird gelingen. Wir müssen unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern und das Wirtschaftswachstum noch stärker als bisher schon vom Energieverbrauch entkoppeln. Dabei stellen Ökonomie und Ökologie eben keinen Gegensatz dar. Vielmehr kann Bayern als Vorreiter bei der Entwicklung neuer klimafreundlicher und kohlenstoffarmer Technologien immense Wachstumsmärkte erschließen. Schon heute hat der globale Markt für Umwelttechnologien einen Umfang von 700 Milliarden US-Dollar und das Wachstumspotenzial, das im Umwelt- und Klimaschutz steckt, ist enorm. Das ist eine große Chance für viele Unternehmen und die Arbeitnehmer in unserem Land.

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III. „Nachhaltigkeit verlangt eine neue Balance von Freiwilligkeit und Regulierung“ Klassische Umweltpolitik in Form einer umfassenden staatlichen Interventionspolitik hat ihre Wurzeln in einer Zeit, in der mit großem Aufwand erhebliche Umweltschäden repariert werden mussten, die auf einen allzu gedankenlosen und kurzsichtigen Umgang von Wirtschaft und Gesellschaft mit den natürlichen Ressourcen zurückzuführen waren. Diese Aufgabe haben wir in Bayern zu einem großen Teil erfolgreich gemeistert: Beispielhaft nenne ich nur die erheblich verbesserte Qualität unserer Luft oder unserer Gewässer. Für diesen Zweck waren die klassischen Instrumente des hoheitlichen Umweltschutzes, im Wesentlichen spreche ich hier von staatlicher Regulierung, sicher richtig. Sind aber ständig neue und immer ausgefeiltere Gesetze und Verordnungen wirklich geeignet, eine wirksame Umwelt- und Klimapolitik, also eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert, voranzubringen? Die Anforderungen an eine moderne Umweltpolitik haben sich grundlegend gewandelt. Im Mittelpunkt steht heute nicht mehr die isolierte Reparatur von Schäden, quasi die Umweltnachsorge, sondern die Prävention. Deshalb setzt Bayern neben sinnvollen rechtlichen Rahmenbedingungen auch auf neue Wege wie den kooperativen Umweltschutz, der – wo immer es möglich ist – an die Stelle der bisher praktizierten klassischen hoheitlichen Regulierung tritt. Modernes Ökomanagement ersetzt oder ergänzt das klassische Instrumentarium staatlicher Regulierung dort, wo es sinnvoll ist, durch marktwirtschaftliche Instrumentarien. Innerhalb des durch Recht und Gesetz geschaffenen Rahmens muss Freiraum für freiwillige Leistungen und Selbstverpflichtungen gelassen werden. Ein erfolgreiches Beispiel ist hier der „Umweltpakt Bayern“. Und auch marktwirtschaftliche Systeme mit handelbaren Zertifikaten zur Inanspruchnahme von Umweltressourcen wie zum Beispiel der CO2-Emissionshandel müssen hier ihren Platz finden können. Umweltpolitik muss dabei den Mut haben, losgelöst von vielfältigen Vorstellungen unterschiedlichster Interessengruppen wissenschaftsbasiert Prioritäten und Schwerpunkte zu setzen, um die wirklich drängenden Zukunftsprobleme zu lösen. Dies ist für mich letztlich auch eine Frage der Glaubwürdigkeit von Umweltpolitik.

IV. „Umwelt- und Klimaschutz geht alle an“ Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Wenn wir die Wirtschaft und die Bürger über die heute bestehenden Kreise organisierter Umweltschützer hinaus mitnehmen und zu einem aktiven Beitrag zum Umweltschutz motivieren wollen, müssen wir bereit sein, erheblich mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative zuzulassen. Wir müssen hier die aus Meinungsumfragen zum Umweltbewusstsein in Deutschland durchaus erkennbare Begeisterungsfähigkeit

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nutzen. Nur so werden wir die Menschen dazu bringen, im Sinne von Nachhaltigkeit an der Gestaltung der ökologisch-ökonomischen Zukunft mitzuwirken und den Umweltschutz nicht nur passiv der Verantwortung der öffentlichen Hand und der Umweltverbände zu überlassen. Auch dies erfordert ein umweltpolitisches Umdenken und einen Abschied von überlebten Strukturen: Umweltpolitik darf nicht mehr alles und jedes bis ins kleinste Detail vorschreiben und regeln. Der Staat muss einen Rahmen setzen, der die Intentionen und Ziele für Nachhaltigkeit definiert, die praktische Verwirklichung im Detail aber der Innovationskraft der Wirtschaftsbeteiligten und dem Engagement der Bürger überlassen. Rund 42 % der Menschen in Bayern engagieren sich im Ehrenamt, viele davon gerade für den Natur- und Umweltschutz. Es passiert vieles in unseren Gemeinden durch Initiativen von unten und vor Ort. Dieses Engagement gilt es zu stärken. Mit seinem Umweltpakt macht Bayern schon seit 1995 hervorragende Erfahrungen bei der Aktivierung unternehmerischer Eigenverantwortung im Umweltschutz. Markenzeichen des Umweltpaktes ist die Verständigung von Staat und Wirtschaft auf gemeinsame Zielsetzungen. Geheimnis des Erfolges dieses Umweltpaktes, dem in Bayern mittlerweile rund 5.000 Unternehmen angehören, ist die Schaffung einer Situation, in der jeder gewinnt. Effizienter Einsatz von Energie oder die Reduktion des Wasserverbrauches in Produktionsprozessen nützt nicht nur der Umwelt, sondern bringt auch für die Unternehmen konkrete finanzielle Vorteile und einen Anstoß, entsprechende Innovationen voranzutreiben. Mittlerweile ist der Umweltpakt Bayern ein erfolgreicher Exportartikel: 14 weitere Bundesländer und mehrere ausländische Staaten haben die Idee aufgegriffen. Und auch der „Global Compact“ der Vereinten Nationen trägt unverkennbare Züge unseres Umweltpaktes. Eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben wir nun mit der bayerischen Klimaallianz. Darin arbeiten Verbände, Institutionen, die beiden christlichen Kirchen und die Staatsregierung partnerschaftlich miteinander für den Klimaschutz. Die Beteiligung so vieler gesellschaftlicher Gruppen stärkt das gemeinsame Verantwortungsbewusstsein aller Partner für unser Klima. Denn wir wissen: Bei der CO2Reduktion kann viel durch Überzeugungsarbeit und Freiwilligkeit erreicht werden. Schließlich schonen Investitionen in die Energieeinsparung das Klima und den Geldbeutel. Der Staat könnte niemals das vielgestaltige tausendfache Engagement der Bürger ersetzen. Er kann es auch nicht verordnen. Er kann es aber ermöglichen und die Menschen zum Mitmachen ermutigen. Denn: Beim Umwelt- und Klimaschutz kommt es auf jeden an!

V. „Nachhaltigkeit braucht eine globale Ausrichtung“ Der Klimawandel ist eines der größten Zukunftsrisiken der Menschheit. Die Schadensanalysen der großen Rückversicherer zeigen, dass die Schäden aus Naturkatastrophen seit den 80er-Jahren deutlich zugenommen haben. 2008 war demnach das zweitteuerste Jahr der Geschichte. Diese Beobachtungen stützen auch der UN-

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Klimarat und viele Klimaforscher. Der Nicholas Stern-Report (Chef der Weltbank) zum Beispiel beziffert die ökonomischen Schäden durch den Klimawandel auf mindestens 5 % der weltweiten Wirtschaftsleistung bis Mitte des Jahrhunderts.1 Hinzu tritt die Gefahr einer Verschlechterung der Lebensbedingungen in vielen Regionen unserer Erde. Wollen wir dieses Szenario abmildern und unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele erreichen, dann müssen wir – gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der ganzen Welt – erhebliche Anstrengungen unternehmen. Umweltprobleme wie die Erderwärmung oder Schadstoffemissionen und ihre Auswirkungen machen nicht an Grenzen halt. Treibhausgase, die in China, Indien oder den USA entstehen, können Europa nicht kalt lassen. Nachhaltige Umweltpolitik muss deshalb in Bayern, in Deutschland und in Europa noch wesentlich stärker als bisher auf globale Entwicklungen reagieren. Wir müssen alles daran setzen, im gemeinsamen globalen Haus gleichsam einen weltweiten „ökologischen Binnenmarkt“ zu etablieren. Deutschland und Europa müssen ihre umwelttechnologischen Erfahrungen und ihre Innovationskraft noch wesentlich stärker dazu nutzen, aufstrebenden Ländern wie China, Indien oder Brasilien wertvolle Schützenhilfe auf dem Weg zu einem ökologisch verträglichen Wachstum zu geben. Hier bietet die EU einen echten „Mehrwert“, hier brauchen wir ganz klar mehr Europa, um im Konzert der „Großen“ Gehör zu finden. Die G8-Staaten haben versprochen, eine Halbierung ihrer CO2-Emissionen bis 2050 „ernsthaft in Betracht zu ziehen“. Falls jedoch bedeutende Energieverbraucher und die meisten Öl produzierenden Länder in die Vereinbarung zur Senkung der CO2-Emissionen nicht einwilligen, könnten diese Klimaschutzanstrengungen schnell Makulatur werden. Die Zusagen einzelner Länder wie etwa Deutschlands, ihre Verpflichtungen überzuerfüllen, helfen dann wenig. Alle Länder müssen ihre Verantwortung für die Erde wahrnehmen. Natürlich haben wir in den hoch entwickelten Industrieländern eine besondere Verantwortung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne der Nachhaltigkeit. Wer sonst, wenn nicht wir, muss dafür Sorge tragen, dass neue Energiekonzepte entwickelt werden, dass bestehende Energietechniken optimiert werden, dass mit Energie rationell und sparsam umgegangen wird, dass durch die Erschließung regenerativer Energiequellen nicht neue Verwerfungen entstehen und dass wir auf dem Weg zu einer nachhaltigen CO2-freien Wirtschaft vorankommen?

Fazit: Ökonomie und Ökologie finden zueinander Manchmal hilft ein Blick zurück, um mit Optimismus in die Zukunft zu blicken. In Deutschland haben wir im Umweltschutz schon viel erreicht: Seit 1995 wurde der Ausstoß von Schwefeldioxid um mehr als 90 %, der von Stickoxiden um rund 1 Stern, Nicholas: The Stern Review on the Economics of Climate Change, 2006, http: // www.occ.gov.uk / activities / stern.htm.

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Horst Seehofer

50 %, der von Feinstaub um 85 % reduziert. Nicht zuletzt technischer Fortschritt und beachtliche finanzielle Aufwendungen der Unternehmen haben diese erfreulichen Ergebnisse ermöglicht. Die düsteren Prognosen des Club of Rome sind nicht eingetreten. Wachstum und technischer Fortschritt haben sich als Teil der Lösung und nicht als Problem erwiesen. Auch um die künftigen umweltpolitischen Herausforderungen zu meistern, brauchen wir effiziente Technologien, aber auch starke Unternehmen, die die Kosten für Umwelt- und Klimaschutzinvestitionen schultern können. Die Abstimmung von ökonomischen und ökologischen Zielsetzungen ist der Kern des Konzepts der Nachhaltigkeit. Mit dem Leitbild einer wertegebundenen sozialen Marktwirtschaft vor Augen werden wir unsere Wirtschaftsordnung so weiterentwickeln, dass die heutige Generation weniger als bisher auf Kosten der künftigen wirtschaftet. Die schwerste wirtschaftliche und finanzielle Krise seit Jahrzehnten hat in der Öffentlichkeit zu Recht die Einsicht wachsen lassen, dass ein Paradigmenwechsel hin zur Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern unumgänglich geworden ist. Nur so bleibt unser Land zukunftsfähig. Das gilt in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und das gilt in der Umwelt- und Klimapolitik. Bis sich diese Erkenntnisse im Bewusstsein der Menschen dauerhaft festsetzen und zu Veränderungen des Lebensstils führen, ist noch viel zu tun. Mit vielen guten Beispielen ist Bayern ein Vorreiter und demonstriert so, dass nötige Veränderungen oft leichter als gedacht umsetzbar sind. Ich bin davon überzeugt, dass Ökonomie und Ökologie Hand in Hand gehen müssen, um unsere hohe bayerische Lebensqualität und den Wirtschaftsstandort Bayern dauerhaft zu sichern. Bayern ist auf seinem Weg in eine nachhaltige Zukunft gut vorangekommen. Der Freistaat ist dabei sogar Wegbereiter für viele andere in Deutschland und Europa. Wir haben als erstes Land in Deutschland ein Umweltministerium eingerichtet, wir haben als erstes Land in Deutschland den ausgeglichenen Haushalt erreicht und wir sind Vorreiter bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Bayern bleibt auch künftig Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit, in ökologischer, aber auch ökonomischer und sozialer Hinsicht.

Die Europäische Union als Umweltunion – Wurzeln und Triebe einer Querschnittspolitik Von Angelika Niebler*

Politik auf europäischer Ebene findet häufiger als man denkt im „kleinen“ Rahmen statt. In den Ausschüssen des Europäischen Parlaments und des Ministerrats wird an der Formulierung einzelner Wörter und Sätze gefeilt. Noch über die kleinsten Details – nicht selten geht es um den Gebrauch von Bindewörtern wie „und“ bzw. „oder“ – wird heftig gestritten. Der zeitliche Planungshorizont für die gesetzgeberischen Vorhaben von fünf Jahren wird dabei dennoch selten überschritten. Zugegeben: Tatsächlich können Entscheidungen über die Formulierung einzelner Wörter große Wirkung entfalten und haben auf Bürger, Umwelt und Industrie einen entsprechenden Einfluss. Doch neben den im politischen Alltag gefällten Entscheidungen entwickelt die Europäische Union (EU) auch zunehmend langfristige umweltpolitische Ziele und Visionen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Zielsetzung der EU, bis 2020 mindestens 20 % weniger Treibhausgase zu emittieren, den Anteil erneuerbarer Energien auf 20 % zu erhöhen und 20 % weniger Energie zu verbrauchen. Diese und ähnliche Ziele greifen zunehmend auf andere Politikbereiche wie die Industrie- und Energiepolitik, die Landwirtschaftspolitik oder die Regional- und Transportpolitik über. Zieht man zudem in Betracht, dass heutzutage ca. 80 % der auf nationaler Ebene geltenden umweltrelevanten Gesetze europäische Wurzeln haben, wird schnell deutlich, dass der europäischen Ebene in diesem Bereich eine besondere Bedeutung zukommt. Tendenziell ist aus dem Randthema Umweltschutz im vereinten Europa ein allgemein gültiges Prinzip geworden, das mittlerweile in nahezu allen Politikbereichen der EU thematisiert wird. Auch international ist die Europäische Union auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren zum Trendsetter geworden.

I. Die Wurzeln der europäischen Umweltpolitik Norbert Wiener, ein amerikanischer Mathematiker und Begründer der Kybernetik, schrieb 1950: „The more we get out of the world the less we leave, and in the long run we shall have to pay our debts at a time that may be very inconvenient for * Unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Sara Höweler.

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Angelika Niebler

our own survival.“ („Je mehr wir von der Erde nehmen, desto weniger hinterlassen wir und auf lange Sicht werden wir unsere Schulden zahlen in einer Zeit, die für unser eigenes Überleben sehr unbequem sein wird.“)1 Mit diesen Worten kritisierte er schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts den verschwenderischen Umgang der Menschheit mit den Ressourcen der Erde. Das tat er damit noch lange, bevor der Club of Rome 1972 seine Studie zu den Grenzen des Wachstums veröffentlichte und der Nachhaltigkeitsbegriff in das Bewusstsein der internationalen Politik Einzug hielt. Auch als die Europäische Gemeinschaft im Jahr 1957 gegründet wurde, spielte der Umweltschutzgedanke zunächst keine Rolle. Erst 1973 kann mit der Verabschiedung des ersten Umweltaktionsprogramms der Europäischen Kommission von dem Beginn einer europäischen Umweltpolitik gesprochen werden, die schließlich 1987 mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte ihren Platz im europäischen Primärrecht erhielt. In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden somit die Weichen für eine europäische Umweltunion gestellt. Dass sich die Umweltpolitik zu einem zentralen Bereich europäischer Politik entwickeln würde, war allerdings so nicht zu erwarten. Die Europäische Union war im Jahr 1957 mit Inkrafttreten der Römischen Verträge als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet worden. Abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt Umweltproblemen noch keine politische Bedeutung beigemessen wurde, ging es den Gründervätern hauptsächlich um die wirtschaftliche Integration und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes. Was war also der Auslöser für diese Entwicklung hin zu einer europäischen Umweltunion? Am Anfang stand die Erkenntnis, dass Umweltverschmutzung keine Grenzen kennt. Seit Mitte der sechziger Jahre verdeutlichten zahlreiche Umweltkatastrophen die grenzüberschreitende Natur bestimmter Umweltbelastungen. So lag die Ursache der Versäuerung skandinavischer Seen und des dadurch ausgelösten Rückgangs der Fischbestände im sauren Regen, der durch britische sowie mittelund osteuropäische Schwefeldioxidemissionen entstanden war. Schwefeldioxid bildet sich bei der Verbrennung von schwefelhaltigen fossilen Brennstoffen wie Erdöl oder Kohle und schlägt sich durch Vermischung mit der in Wolken enthaltenen Feuchtigkeit oft weit entfernt vom Ort der ursprünglichen Emission in Form von saurem Regen nieder. Auch die Verschmutzung des Rheins, der jahrzehntelang als „Kloake Europas“ galt, war ein gutes Beispiel dafür, dass Umweltverschmutzung nicht an Ländergrenzen Halt macht. Angeregt von den Niederlanden, die besonders unter der Verschmutzung des Flusses durch industrielle Abwässer zu leiden hatten, wurde schon 1950 die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins gegründet, der 1976 auch die Europäische Gemeinschaft beitrat. Gemeinsame europäische Anstrengungen im Bereich des Luft- und Gewässerschutzes waren also wichtige Komponenten für die Entstehung einer europäischen Umweltunion. Doch auch ein anderer – noch entscheidenderer – Faktor spielte bei 1 Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, New York 1950, S. 64.

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der Entwicklung der gemeinsamen europäischen Umweltpolitik eine Rolle: die Befürchtung, dass es aufgrund unterschiedlicher Umweltstandards in den Mitgliedstaaten zu Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen im Gemeinsamen Markt kommen könnte. National unterschiedliche Standards wie etwa der Bleigehalt von Benzin oder die Grenzwerte von Autoabgasen stellten Hindernisse für den Handel mit bestimmten Produkten dar. Schon früh wurden deshalb umweltrelevante Maßnahmen im Bereich der Chemikalienkontrolle und der Regulierung von Kfz-Emissionen verabschiedet. In dieser Hinsicht war die europäische Umweltpolitik primär eine begleitende Maßnahme zur Verwirklichung des Binnenmarktes durch die Harmonisierung nationaler Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Als weiterer Grund für die Entwicklung einer europäischen Umweltpolitik gilt außerdem das Ziel der Angleichung der Lebensbedingungen innerhalb der Europäischen Union, das in der Präambel und in Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verankert ist. Die dort genannten Ziele zur Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen werden nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ interpretiert und bilden somit eine Grundlage für die Maßnahmen der Europäischen Union im Bereich des Umweltschutzes. Hierauf sind auch die relativ strengen Grenzwerte im Bereich des Luft- und Gewässerschutzes zurückzuführen, die inhaltlich für eine Marktharmonisierung in diesem Ausmaß nicht erforderlich gewesen wären. Schon in den siebziger Jahren wurden auf europäischer Ebene Mindestanforderungen für die Qualität von Oberflächengewässern für die Trinkwassergewinnung, Bade-, Fisch- und Muschelgewässer eingeführt. In den achtziger Jahren folgten Qualitätsgrenzwerte bezüglich einzelner Schadstoffe für die Luftreinhaltung. Diese Maßnahmen tragen dem Leitgedanken Rechnung, dass Umweltschutz eine höhere Lebensqualität für den Menschen schafft. Auf diese Weise hat sich aus dem anfänglichen Randthema Umweltschutz ein zentraler Politikbereich entwickelt, der sich von seinem Status als „Anhängsel“ der wirtschaftlichen Integration losgelöst hat. Deutschland war einer der Vorreiter in dieser Entwicklung und hat sich kontinuierlich für ein hohes Schutzniveau auf europäischer Ebene eingesetzt.

II. Die Triebe der europäischen Umweltpolitik Mit einer ähnlichen Dynamik, die seit den siebziger Jahren zu der Herausbildung einer europäischen Umweltpolitik führte, hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine effektive Umweltpolitik nicht losgelöst von anderen Politikbereichen funktionieren kann. Immer stärker zeigt sich, dass Umwelt- und Klimaschutz nicht im Gegensatz zu Wirtschaftswachstum stehen müssen und die umweltpolitischen Ziele der EU durchaus mit den wirtschaftspolitischen Zielen Hand in Hand gehen können. In dieser Entwicklung spiegelt sich die Tatsache wider, dass Umwelt- und Klimaschutz in den vergangenen

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Angelika Niebler

Jahren auch in der Gesellschaft einen Bedeutungszuwachs erfahren haben. So gaben in einer Eurobarometer-Umfrage, die von November bis Dezember 2007 durchgeführt wurde, insgesamt 96 % aller befragten EU-Bürger an, dass ihnen der Umweltschutz persönlich wichtig sei. 64 % stuften ihn sogar als sehr wichtig ein, während nur 3 % ihn für nicht so wichtig hielten (siehe Abbildung 1).

Nicht sehr wichtig 3%

Ziemlich wichtig 32%

Keine Angabe 1%

Sehr wichtig 64%

Quelle: EUROBAROMETER Spezial 295.

Abbildung 1: Wie wichtig ist Umweltschutz für sie persönlich?

Doch trotz des Wissens um Umweltprobleme und ihre Ursachen fällt es nach wie vor schwer, Verzicht und Rücksicht zugunsten nachfolgender Generationen zu üben. Das zeigt sich spiegelbildlich auch an den Umsetzungsproblemen in den Mitgliedstaaten, bei denen die Umweltpolitik einen Spitzenplatz einnimmt (siehe Abbildung 2). Häufig fehlt der politische Wille zur Umsetzung der europäischen Richtlinien oder die kurzfristig anfallenden Kosten scheinen zu hoch. Insofern besteht die eigentliche Aufgabe der Umweltpolitik nicht nur darin, für identifizierte Probleme entsprechende Lösungsmaßnahmen und -instrumente zu benennen, sondern letztlich auch den zeitlichen Horizont von Politik zu verändern. Anhand des Beispiels der europäischen Industrie-, Forschungs- und Energiepolitik soll im Folgenden erläutert werden, wie über das Nachhaltigkeitsprinzip der Umweltschutz in anderen europäischen Politikbereichen immer stärker integriert wird und wie die Europäische Union einem der drängendsten Umweltprobleme unserer Zeit begegnet: dem Klimawandel. Parallel zu dem erwarteten Anwachsen der Weltbevölkerung auf rund neun Milliarden Menschen im Jahr 2050 bedarf es einer Reduktion der weltweiten CO2Emissionen um 50%, um die globale Erwärmung auf ein Level von 2° Celsius zu begrenzen. Der Pro-Kopf-CO2-Ausstoß dürfte dafür zwei Tonnen nicht überschreiten. Dieser Wert beziffert weniger als ein Fünftel des aktuellen europäischen

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Pro-Kopf-Ausstoßes und entspricht einem Zehntel der Emissionen eines US-Amerikaners. Diese Zahlen machen schnell deutlich, was Klimaschutz leisten muss: die Umstellung unserer Produktions- und Konsumgewohnheiten zur Schaffung einer CO2-armen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kosten für die entsprechenden Maßnahmen werden jedoch relativ niedrig sein, auf jeden Fall aber viel niedriger als die Kosten, die der Klimawandel ohne ein Eingreifen der Politik verursachen würde. Wenn sich die Industrieländer im Rahmen der internationalen Verhandlungen über das Kyoto-Nachfolgeprotokoll beispielsweise darauf einigen würden, ihre Emissionen bis 2020 um insgesamt 30 % zu verringern, würde das Wirtschaftswachstum um weniger als 0,2 % jährlich beeinträchtigt. Dies wäre ein geringer Preis für die Vermeidung möglicher langfristiger Kosten des Klimawandels.2 Außerdem bleiben hierbei andere positive Aspekte unberücksichtigt wie z. B. geringere Luftverschmutzung, sichere Energieversorgung zu vorhersehbaren Preisen und bessere Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation.

Sonstige Haushalt Regionalpolitik Fischerei Verbraucherschutz Wettbewerb Medien/Telekomm. Energie & Verkehr Steuer-/Zollwesen Sozialpolitik Industrie Landwirtschaft Binnenmarkt Umwelt 0

100

200

300

400

500

600

700

800

Quelle: Christoph Knill, Europäische Umweltpolitik, 2008.

Abbildung 2: Anhängige Vertragsverletzungsverfahren nach Politikbereich (Stand: 31. 12. 2004) 2 Anhand von wirtschaftlichen Modellrechnungen bezifferte Nicholas Stern, Ökonom und Berater der britischen Regierung in Wirtschaftsfragen, die Kosten und Risiken des Klimawandels mit Einbußen von mindestens 5 % des globalen Bruttoinlandproduktes jährlich, wenn nichts gegen ihn unternommen werde. Andererseits sei es möglich, die weltweiten Kosten zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen zur Abwendung der schlimmsten Folgen des Klimawandels auf ca. 1% des globalen BIP jährlich zu beschränken.

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III. Der Beitrag der europäischen Forschungspolitik Die Umstellung unserer Produktionsgewohnheiten kann nur durch eine ambitionierte Forschungspolitik eingeleitet werden. Die Fähigkeit Europas und der Welt, den Klimawandel zu stoppen, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob es gelingt, die Produktion von Strom und Wirtschaftsgütern von der Entstehung von CO2 abzukoppeln. Die europäischen Technologieplattformen und die gemeinsamen Technologieinitiativen, die die Europäische Union im Rahmen des Siebten Forschungsrahmenprogramms gemeinsam mit Partnern aus der Industrie aufgebaut hat, stellen erste wichtige Schritte auf dem Weg zu einer effizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft dar. Sie erforschen beispielsweise die Möglichkeiten, die Energieeffizienz von Flugzeugen zu verbessern oder treiben die Entwicklung von Wasserstoffund Elektrofahrzeugen für den Verkehrssektor voran. Als Leuchtturmprojekte der EU entwickeln sie beispielhafte Projekte, die als Anstoß dafür dienen sollen, weitere finanzielle Ressourcen für die Entwicklung von umwelt- und klimafreundlichen Technologien bereitzustellen. Im Siebten Forschungsrahmenprogramm sind bereits beträchtliche Mittel für die Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der kohlenstoffarmen bzw. -freien Energietechnologien vorgesehen. Des Weiteren stehen im Rahmen des Programms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation Gelder für Forschungen im Energiebereich und für die Förderung von Energiesparmaßnahmen zur Verfügung. Zieht man in Betracht, dass die europäische Industrie weltweit den Spitzenplatz im Bereich der Öko-Innovationen und erneuerbaren Energien belegt, verschaffen ihr die Anstrengungen der Europäischen Union, die Erforschung energieeffizienter Technologien zu fördern, einen weiteren Startvorteil und sorgen so für Wachstum und Beschäftigung. Doch eine klima- und umweltfreundliche Industriepolitik ist nicht allein auf die Erforschung und Entwicklung von Umwelttechnologien beschränkt. In besonderem Maße hängt der Erfolg der europäischen Klimaschutzstrategie auch von Investitionen in die Infrastruktur ab, damit die entwickelten Technologien Verbreitung finden können.

IV. Auf dem Weg zu einer umwelt- und klimafreundlichen Infrastruktur Um nur ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Infrastrukturmaßnahmen zu nennen: Es ist möglich, den Energieverbrauch von Gebäuden mit bereits existierenden Technologien um mehr als 60 % zu reduzieren. Investitionen auf diesem Gebiet sind aus ökonomischem, ökologischem und sogar sozialem Blickwinkel sehr profitabel, denn die Heiz- und Stromrechnung zu senken, bedeutet gleichzeitig, die Gefahren der „Energiearmut“ zu senken, die gemeinsam mit den steigenden Energiepreisen stetig wachsen. Die Europäische Union will diesem Problem entgegenwirken, indem sie Mindestanforderungen an die Energieeffizienz von Neubauten und sanierten Gebäuden setzt und ihren Anwendungsbereich erweitert.

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Ab dem Jahr 2015 sollen Niedrigstenergie- und Passivhäuser so zum europäischen Standard werden. Ähnliche Erfolge versprechen Maßnahmen im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, der Abfallverwertung und der städtebaulichen Planung. Doch das wohl derzeit wichtigste Vorhaben der EU im Bereich der Infrastrukturmaßnahmen betrifft die europäischen Strom- und Gasmärkte. Rund 80 % des Energieverbrauchs in der EU werden durch fossile Brennstoffe – Erdöl, Erdgas und Kohle – gedeckt, die allesamt wesentlich zum CO2-Ausstoß beitragen. Darüber hinaus stellen fossile Brennstoffe eine begrenzte Ressource dar, die bis Mitte des Jahrhunderts nahezu erschöpft sein wird. Daher trägt eine geringere Nutzung fossiler Brennstoffe dazu bei, die Energiesicherheit der EU zu verbessern und den Klimawandel zu bekämpfen. Zudem werden die EU-eigenen fossilen Brennstoffe schneller zur Neige gehen als in der übrigen Welt. Dadurch wird die EU immer abhängiger von Einfuhren und anfälliger für Angebots- und Preisschocks. Wenn der Energieverbrauch nicht eingedämmt und der Brennstoffmix nicht geändert wird, könnte die Abhängigkeit von Öleinfuhren bis 2030 auf 93 % und von Gaseinfuhren auf 84 % steigen. Derzeit bezieht die EU ca. 50 % ihres Erdgasbedarfs aus nur drei Quellen: Russland, Norwegen und Algerien. Der Grad der Abhängigkeit der EU von Energieeinfuhren lag 2005 bei insgesamt 52,3 %. Die EU forciert deshalb die Diversifizierung des europäischen Energiemixes hin zu mehr heimischer Energie. Dies erfordert den verstärkten Einsatz kohlenstoffarmer oder -freier Technologien auf der Grundlage erneuerbarer Energiequellen wie Wind-, Solar- und Wasserenergie oder Biomasse, da die EU über wenig eigene Ressourcen an fossilen Brennstoffen verfügt. Die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur beinhaltet deshalb die Liberalisierung und Dezentralisierung der europäischen Strom- und Gasmärkte. Ein dezentraler Energiemarkt ist die Voraussetzung zur Teilhabe der Erzeuger von erneuerbaren Energien am Wettbewerb. Durch die breitere Fächerung des europäischen Energiemix werden noch dazu zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Indem man die Abhängigkeit von einer Energieform oder von einigen wenigen Lieferländern außerhalb der EU vermeidet und indem man mehr Energie innerhalb der EU erzeugt, wird neben einer klimafreundlicheren Energieversorgung auch noch eine größere Versorgungssicherheit erreicht.

V. Die Rolle der erneuerbaren Energien Bereits seit den neunziger Jahren treibt die Europäische Union die Nutzung und Produktion erneuerbarer Energien voran. Die Förderung der Nutzung von erneuerbaren Energiequellen führt zu einem geringeren Verbrauch fossiler Brennstoffe, zur Diversifizierung der genutzten Energieträger und zur Sicherung der Energieversorgung. Außerdem wird so die Entwicklung neuer Industrien und Technologien unterstützt. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich zunächst auf einen Richtwert von 12 % für die Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen bis 2010 geeinigt. In diesem Sinne wurden neue Vorschriften erlassen, die nationale Zielvorgaben für Strom aus

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erneuerbaren Energiequellen und Biokraftstoffe im Verkehr betreffen, um den Anteil erneuerbarer Energiequellen in den Mitgliedstaaten zu steigern. Darüber hinaus wurden Anreize für den privaten Sektor geschaffen, die notwendigen Investitionen zu tätigen. Im Jahr 2007 beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs, sich noch stärker zu engagieren und verbindliche nationale Ziele festzulegen, wonach bis 2020 mindestens 20 % des EU-weiten Primärenergiebedarfs aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden soll. Dazu gehört auch das neue verbindliche Ziel, den Anteil der Biokraftstoffe im Verkehrssektor bis 2020 auf 10 % zu erhöhen. Durch diese Maßnahmen wird die Nutzung erneuerbarer Energien spürbar steigen. Nach aktuellen Prognosen (siehe Abbildung 3) wird die Verwendung von Biomasse, Biogas und Bioabfällen zunehmen. Ebenso der Einsatz von Kraft-WärmeKopplungstechniken, bei denen der bei der Stromerzeugung entstehende Dampf nicht ungenutzt entweicht, sondern wiederverwendet wird (z. B. zur Einspeisung in Fernwärmenetze). Auch der Einsatz von Biomassekesseln anstelle von öl- oder elektrisch betriebenen Wasserheizsystemen in Gebäuden wird zunehmend interessanter und die Nutzung der Erdwärme aus Oberflächen nahen und tiefen Quellen und der Sonnenenergie dürfte sich ausweiten. Den größten Anstieg bei der Stromerzeugung werden aber voraussichtlich die Windkraftanlagen mit ihren immer leistungsstärkeren Windrädern verzeichnen. Energieproduktion in Terrawattstunden Offshore-Windkraft Onshore-Windkraft Gezeiten-und Wellenkraftwerke Solarthermie-Kraftwerke Solarzellen Wasserkraft (große Anlagen) Wasserkraft (kleine Anlagen) Geothermie Biologische Abfallstoffe Biomasse Biogas

Quelle: Europäische Kommission 2007.

Abbildung 3: Voraussichtliche Zunahme erneuerbarer Energien in der Europäischen Union

VI. Ökodesign und energieeffiziente Produkte Europäische Energieverbrauchskennzeichnungen, Mindesteffizienznormen und freiwillige Vereinbarungen zwischen Haushaltsgeräteherstellern haben bewirkt, dass der Energieverbrauch eines handelsüblichen Kühl- oder Gefrierschranks seit

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1990 um fast 50 % gesunken ist. Bei anderen Geräten wie Waschmaschinen und Geschirrspülern wurden Einsparungen von mehr als 25 % erzielt. Umweltstandards bei Produkten zählen zu den wichtigsten Instrumenten, die es den europäischen Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre selbst gesteckten Klimaschutzziele zu erreichen. Indem die Anforderungen an die Umwelt- und Klimafreundlichkeit bestimmter Produkte erhöht werden, werden die größten Stromfresser vom Markt genommen und Kunden erhalten die Möglichkeit, ihren ökologischen Fußabdruck3 zu reduzieren, ohne ihr Verhalten zu ändern.

VII. Industrie- und Umweltpolitik: ein gesundes Spannungsverhältnis? Umwelt- und klimaschutzpolitische Vorgaben werden vielfach gerade in der Industrie mit kritischen Augen gesehen, denn sie führen oft zu hohen Kosten im produzierenden Gewerbe. Belasten regulatorische Vorgaben zudem nur einseitig die europäische Industrie, droht bei überzogenen Auflagen eine Abwanderung der Produktion in das außereuropäische Ausland, in dem meist weitaus niedrigere Umweltstandards gelten. An unserer Industrie hängen unsere Arbeitsplätze, so dass es zwingend ist, alle umwelt- und klimapolitischen Auflagen auf ihre Auswirkungen für die Industrie und insbesondere den Mittelstand zu bewerten und die sich – jedenfalls auf den ersten Blick – vielfach divergierenden Interessen in einen gesunden Ausgleich zu bringen. Manchmal kann dies erreicht werden. Manchmal kommt es jedoch auch zu Kompromissen, die gut gemeint sind, aber letztlich doch nicht zu der erforderlichen Planungssicherheit für die betroffene Industrie führen und daher kritisch bewertet werden müssen. Dies lässt sich gut anhand des Beispiels Emissionshandel erläutern. Im Dezember 2008 nahm das Europäische Parlament den zwischen Kommission, Rat und Parlament ausgehandelten Kompromiss zur Überarbeitung der sog. Emissionshandelsrichtlinie an. Diese bestimmt, wie das europäische Emissionshandelssystem ab 2013 gestaltet werden soll.4 Ziel ist, die industriellen CO2-Emissionen in der EU bis 2020 im Vergleich zu 2005 um 21% zu senken. Nachdem bislang außer den Stromerzeugern allen Sektoren, die am Emissionshandel teilnehmen, die Zertifikate frei zugeteilt wurden, gelten auf Grundlage der überarbeiteten 3 Als ökologischer Fußabdruck wird die Fläche auf der Erde verstanden, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Bei gegenwärtigem Verbrauch werden weltweit pro Person 2,2 Hektar Land jährlich verbraucht, es stehen jedoch nur 1,8 Hektar zur Verfügung. 4 Um die wirtschaftlichen Kosten der im Rahmen des Kyoto-Protokolls eingegangenen Verpflichtungen so niedrig wie möglich zu halten, haben die EU-Mitgliedstaaten einen Binnenmarkt zum Handel mit Emissionszertifikaten eingerichtet. In diesem sogenannten Emissionshandelssystem handeln die Betreiber energieintensiver Anlagen mit Zertifikaten, die ihnen zuvor anhand nationaler Allokationspläne zugeteilt worden sind. Die aktuelle Handelsperiode läuft noch bis 2012, die darauffolgende von 2013 bis 2020.

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Richtlinie in der kommenden Handelsperiode verschärfte Regeln. Ursprünglich sah der Kommissionsvorschlag vor, dass, abgestuft eingeführt, ab dem Jahre 2013 bis zum Jahre 2020 sämtliche Emissionszertifikate auf dem Markt ersteigert werden müssen. CO2-Emissionen sollen Geld kosten und hierdurch die Industrie zur Umstellung ihrer Produktionen auf CO2-arme, energieeffiziente Technologien zwingen. So richtig dieser Ansatz im Grundsatz ist, so sehr führt er zu einem massiven Wettbewerbsnachteil der europäischen Industrie im Vergleich zu außereuropäischen Standorten. Dies gilt jedenfalls, solange es keine internationale Vereinbarung gibt, die auch außerhalb Europas entsprechende kostenintensive Belastungen für das produzierende Gewerbe vorsehen. Insoweit galt es, im Gesetzgebungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament und den 27 Mitgliedstaaten eine Regelung zu finden, die die Klimaschutzziele erreichen lässt, ohne zu einem sog. „Carbon Leakage“, d. h. der Abwanderung der Betriebe aus Europa, zu führen. Die Richtlinie, wie sie im Dezember 2008 kurz vor Weihnachten beschlossen wurde, sieht nun vor, dass Sektoren, die nicht dem sogenannten Çarbon Leakage“ unterliegen, 80 % der CO2-Zertifikate auf der Basis von Benchmarks frei zugeteilt erhalten. Bis zum Jahr 2020 soll dieser Anteil auf 30 % sinken. Ab 2027 sollen dann sämtliche Zertifikate vollständig auktioniert werden. Stromerzeuger müssen ihre Zertifikate grundsätzlich zu 100 % erwerben. Dieser nun erzielte Kompromiss zwischen Klimaschutz und industriepolitischen Interessen weist viele Ecken und Kanten auf. Einerseits ist positiv, dass durch die Einführung eines Benchmark-Systems ein Anreiz geschaffen wird, auf CO2-arme Technologien umzustellen. Der jeweils „Klassenbeste“ eines Sektors bekommt die Zertifikate weiterhin zunächst kostenfrei zugeteilt, die Mitbewerber müssen sich folglich technologisch anstrengen. Andererseits ist an dem Kompromiss zu kritisieren, dass er der Industrie nicht die erforderliche Planungssicherheit gibt. So stehen die Sektoren, die von „Carbon Leakage“ betroffen sein können, noch nicht fest und es ist nicht geklärt, wie energieintensive Sektoren für ihren höheren Strombedarf entschädigt werden. Klimaschutz und Industrieförderung stehen nicht grundsätzlich im Widerspruch, sondern können sich sinnvoll ergänzen, wenn der richtige Interessenausgleich gefunden wird. Manchmal gelingt dies gut, manchmal, wie gezeigt, weniger gut. Denn im Gegensatz zur Überzeugung vieler Umweltaktivisten, dass Klimaschutz nur mit harten Regelungen und Verboten zu machen ist, bin ich der Auffassung, dass Industriepolitik Anreize setzen sollte, um klima- und umweltfreundliche Innovationen in der europäischen Wirtschaft zu fördern. Wenn in Europa zu harte Auflagen erfüllt werden müssen, ist die Gefahr groß, dass Unternehmen ins nichteuropäische Ausland abwandern, wo die Verschmutzungsrechte im schlimmsten Fall unbegrenzt sind. Das ist aber sicher nicht im Sinne des Umweltschutzes.

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VIII. Welche Blüten wird die Europäische Umweltunion tragen? Die allmähliche Übertragung des Nachhaltigkeitsprinzips aus der europäischen Umweltpolitik auf andere europäische Politikfelder ist vor allem den jüngsten Entwicklungen im Bereich des Klimaschutzes zu verdanken. Das tut nicht nur der Umwelt-, sondern auch anderen Politikfeldern wie der Industrie-, Forschungs- und Energiepolitik gut. Die Maßnahmen, die insbesondere im Rahmen des Klima- und Energiepakets der Europäischen Union beschlossen wurden, versprechen ein umwelt- und klimafreundlicheres Europa. Doch die Bedeutung der Europäischen Union als Umweltunion hängt von mehreren Faktoren ab. So wird die Qualität des Umweltschutzes nicht nur von Vertragsbuchstaben bestimmt, sondern wesentlich vom jeweiligen Verständnis des Begriffs Umweltschutz und dem Willen zu dessen politischer Umsetzung. Dabei wird die Art des Umweltschutzes nicht etwa allein von Brüssel geprägt, sondern auch von den Entscheidungen in den Mitgliedstaaten und den Einstellungen und Verhaltensweisen der europäischen Bürgerinnen und Bürger beeinflusst. Der Europäischen Union kommt in dieser Hinsicht – auch international – eine Vorreiterrolle zu. Umweltschutz ist eine Chance mit einem großen wirtschaftlichen Potenzial für neue Technologien und Arbeitsplätze. Wir verfügen in Europa über ein großes Wissen in der Umwelttechnik. Wissenschaftler und Unternehmen haben sich in diesem Bereich große Kompetenzen erarbeitet und sind weltweit in der Umwelttechnik führend. Hierin liegen große Chancen und ein ungeheures Innovationsund Wachstumspotenzial für die EU, nicht zuletzt mit Blick auf den weltweit großen Bedarf an Umwelttechnologien.

Schutz der Umwelt: Der Beitrag der Kirchen Von Johannes Friedrich

„Mit allen Christen bekennen wir Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und doch zerstören wir seine Schöpfung. Wir wissen sehr vieles und tun sehr wenig, Das Gefühl der Ohnmacht wächst. Wir suchen nach Wegen aus der Gefahr. Die Zeit drängt. Der Glaube ist herausgefordert – und unser Tun.“

Diese eindringlichen Worte richtete im Frühjahr 1989 die Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in ihrem „Wort zur Bewahrung der Schöpfung“ an die evangelischen Christen in Bayern. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wirkte zu diesem Zeitpunkt noch nach. Umweltschutz gehörte zu den Top-Themen in Gesellschaft und Politik. Die Kirche konnte und wollte dazu nicht schweigen. Sie ging das Thema auf ihre Weise an und formulierte in dieser Botschaft auch ein Schuldbekenntnis: „Zum Christsein gehört die Verantwortung für die Schöpfung. Wir kennen Gottes Auftrag: ’Macht euch die Erde untertan“ (1. Mose 1, 28). Das kann nicht heißen: Macht mit der Schöpfung, was ihr wollt. Gott hat uns die Erde anvertraut, damit wir sie für künftige Generationen von Menschen, Tieren und Pflanzen „bebauen und bewahren’ (1. Mose 2,15). Aber wir haben Gottes Geschöpfe wie Sachen benutzt und so ihren Schöpfer beleidigt. Deshalb haben wir Grund, Buße zu tun, und bitten Gott um die Chance eines neuen Anfangs.“ In dieser Erklärung der Landessynode von 1989 wird etwas deutlich, was seither für kirchliche Umweltarbeit richtungweisend gewesen ist: Schutz der Umwelt – wir sagen lieber mit einem biblischen Wort aus der Genesis „Bewahrung der Schöpfung“ – ist eine zutiefst geistliche Aufgabe. Noch ehe wir fragen, was man praktisch tun kann, muss geklärt sein, wie der Glaube an den Schöpfer heute beschrieben werden kann; welche Rolle wir dem Menschen nach den biblischen Zeugnissen zuweisen wollen; wie wir unser Verhältnis zur außermenschlichen Schöpfung, also zur Mitwelt, sehen und schließlich, auf welchen Wertehaltungen wir unseren Lebensstil gründen. Dabei kommen dann auch die Versäumnisse in den Blick, derer wir uns schuldig gemacht haben. Die Erklärung von 1989 hat zunächst einen kräftigen Impuls gesetzt. In den Jahren, die folgten, wurde die Stelle eines Beauftragten für Umweltfragen errichtet, ein Netz von Gemeindeumweltbeauftragten geschaffen – es sind heute über 1.200 Männer und Frauen – und eine kirchliche Umweltberatung etabliert. Wir müssen aber selbstkritisch einräumen, dass der Schwung des Anfangs in dem Maß verebbte, wie das Thema „Bewahrung der Schöpfung“ in der Gesellschaft überhaupt

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an Gewicht verlor. Andere Themen, vor allen Dingen die dringliche Aufgabe, die kirchlichen Finanzen zu konsolidieren, überlagerten das Umweltthema. Erst als unabweisbar wurde, dass ein vom Menschen verursachter Klimawandel zu einer Bedrohung für den gesamten Globus werden würde, fanden die Fragen von Umwelt- und Klimaverantwortung wieder die ihnen angemessene Resonanz. Heute stellt sich die Frage, welchen Beitrag der christliche Glaube und die Kirche in allen ihren Organisationsformen hier leisten können, noch einmal dringlicher. Ich sehe vier sehr unterschiedliche Bereiche, in denen sie herausgefordert sind: – Schon die Wahrnehmung und Bewertung der Situation sind nicht ausschließlich eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Analyse, sondern bedürfen der Orientierung an einer Glaubenshaltung. – Der Erste Artikel des Glaubensbekenntnisses „Ich glaube an Gott, den Schöpfer“ muss neu bedacht und auf die aktuelle Situation hin ausgelegt werden. – Daraus können Impulse kommen, die uns einen veränderten Lebensstil des Einklangs mit der Natur und der Nachhaltigkeit lehren. – Schließlich ist die Kirche auch eine Institution mit einer ökonomischen Seite. Sie besitzt Immobilien, Wälder und Felder, sie verbraucht Energie, sie löst Mobilität aus – die Menschen erwarten mit Recht, dass sie in diesen Bereichen ganz praktisch ein gutes Vorbild abgibt.

I. Wahrnehmen, was ist „Wir wissen sehr vieles und tun sehr wenig“, hat die Landessynode 1989 formuliert. Dabei sind aber auch unter Fachleuten oft die Fakten und ihre Bewertung selbst umstritten, erst recht natürlich die Folgen, die man daraus zu ziehen hat. Carl Amery hat in seinem 2002 erschienenen Buch „Global Exit“ geschrieben: „Es ist vorauszusehen, dass die Lebenswelt, wie wir sie kennen und bewohnen, im Laufe des anhebenden Jahrtausends zusammenbrechen und unbewohnbar werden wird.“ Prognosen dieser Art, mit prophetischer Wucht vorgetragen, finden nur zu einem kleinen Teil Zustimmung und die Bereitschaft, aktiv zu werden – auch wenn sie der Wahrheit ziemlich nahe kommen könnten. Die weitaus häufigere Reaktion sind Abwehr, Abwiegeln oder Verleugnung. Außerdem stoßen wir auf das Phänomen, dass Menschen die Fakten, also den Klimawandel und das nahende Ende des fossilen Zeitalters, wohl zur Kenntnis nehmen, aber die gebotenen Konsequenzen nicht folgen lassen. Für diese Reaktionsweisen gibt es Gründe. In die wissenschaftliche Analyse z. B. fließt auch die Angst dessen ein, der die Ergebnisse seiner Untersuchungen auf seine private Zukunft überträgt. Der Bürger, dem erklärt wird, jetzt werde er bald den Gürtel enger schnallen müssen, schreckt vor einer solchen Aussicht zurück

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und zieht in abwehrender Haltung die Grundlagen solcher Prognosen in Zweifel. In den Medien findet er dafür schnell Verbündete. Da in der Gesellschaft die Zahl derer abnimmt, die eine Familie gründen und Kinder bekommen, nimmt gleichzeitig die elementare Sorge um das Wohlergehen künftiger Generationen ab. Schließlich haben wir es, was die Welt des Konsums und der Unterhaltung angeht, auch mit einer Form von Sucht zu tun. Menschen sind abhängig von einem Lebensstandard, den es in der Geschichte der Menschheit auch für die breite Masse so noch nie gegeben hat, und setzen alles darein, die Zeichen der Zeit nicht wahrnehmen zu müssen. „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, hat Martin Luther als Auslegung zum Ersten Gebot formuliert. Mit dieser genialen Kurzformel hat er uns ein Mittel in die Hand gegeben, wie Angst, Egozentrik und Suchtverhalten in Bezug auf die Krise des Globus überwunden werden können. Wessen Gott der Vater Jesu Christi ist und nicht die Lebensversicherung, der Traumurlaub und das Auto, der kann es sich leisten, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. In der Politik gilt weitgehend noch die Devise, dass man mit technischen und ökonomischen Mitteln die Krise bewältigen kann und niemand Einbußen in seinem Lebensstandard wird hinnehmen müssen. Man möchte die Wähler nicht verängstigen. Wer das Erste Gebot für sich gelten lässt, braucht solche Versicherungen nicht. Er wird, wie alle anderen auch, von Einbußen betroffen sein, aber es wird ihn nicht in der Tiefe seiner Person treffen. In dem Maß, wie es der kirchlichen Verkündigung gelingt, das Erste Gebot wieder in den Herzen der Menschen zu verankern, leistet sie auch einen Beitrag zur ungeschminkten und zugleich gelassenen Wahrnehmung der Situation, ohne die angemessene Reaktionen nicht möglich sind. Oder noch kürzer gesagt: Die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen muss uns in einer gewissen Weise erst zweitrangig werden, damit wir erstklassig darauf reagieren können.

II. Das Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer und die Rolle des Menschen „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch dort droben?“, dichtete Joseph von Eichendorff im Jahr 1810. Die Antwort lag für ihn auf der Hand: „Wohl den Meister will ich loben, so lang’ noch mein’ Stimm’ erschallt.“ Diese Art von Naturfrömmigkeit, die aus dem Naturerleben die Gewissheit von der Existenz eines allmächtigen und gütigen Gottes gewinnt, hat auch heute noch viele Anhänger. Sie steht aber in einem auffälligen Kontrast zu der geringen Rolle, die Schöpfungstheologie und Schöpfungsspiritualität in Theologie und Verkündigung der evangelischen Kirche seit langem spielen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der biblische Offenbarungsglaube und die pantheistische Überzeugung von deus sive natura vertragen einander nicht. Seit mit

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Charles Darwin und der Evolutionstheorie die biblischen Texte zur Schöpfung scheinbar unhaltbar geworden waren, zogen sich Theologie und Frömmigkeit aus dieser Debatte zurück. Im 20. Jahrhundert standen andere Themen im Vordergrund: die Frage nach dem Wort Gottes, nach Vernunft und Offenbarung, nach der historisch-kritischen Bibel-Exegese und die Christologie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer schiedlich-friedlichen Trennung zwischen Naturerfahrung und Glaube. Sie führte aber dazu, dass die Natur immer „gottloser“ wurde und Gott immer „naturloser“. Das wurde lange nicht als Problem gesehen: Religion und Glaube, so sagte man, haben es doch in erster Linie mit dem Übernatürlichen zu tun, nicht mit dem Natürlichen. Als in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts weltweit das Thema Umwelt und Ökologie entdeckt wurde, sahen sich Glaube und Theologie mit dem Verdacht konfrontiert, die Krise der Umwelt sei eine direkte Folge des christlich-biblischen Welt- und Naturverhältnisses. Es lohnt sich, diesen Vorwurf zu prüfen und die biblischen Grundlagen noch einmal neu zu untersuchen. Der schon zitierte Publizist Carl Amery schrieb 1972 in seinem Buch „Das Ende der Vorsehung – Die gnadenlosen Folgen des Christentums“: „Macht euch die Erde untertan: In dieser Aufforderung zur totalen Unterwerfung der Natur hat sich das Christentum weit über seine Grenzen hinaus manifestiert. Die Vernichtung der Natur durch den Menschen ist die Folge jüdisch-christlicher Wertvorstellungen, z. B. die Entmythologisierung der Natur.“ Ein Planet wird geplündert, und die Bibel ist schuld. Das dem Menschen übertragene dominium terrae ist die Ursache der gegenwärtigen Probleme. Viele Zeitgenossen haben diese Überzeugung inzwischen übernommen. Es gilt zuerst der Frage nachzugehen, wie die Bibelwissenschaft den berühmtberüchtigten Spruch heute deutet. Carl Amery bezieht sich, wie viele, die seine Position teilen, ja nicht nur auf einen isolierten Vers; er bezieht sich darauf, dass das Christentum den Menschen als die Krone der Schöpfung gepriesen hat, und darauf, dass der Mensch in demselben Kapitel der Genesis als Bild Gottes bezeichnet wird, was von keinem anderen Lebewesen des Globus ausgesagt wird: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Stimmt es nach heutiger Bibelauslegung, dass – der Mensch die Krone der Schöpfung sei, – er als das Bild Gottes eine unvergleichlich herausgehobene Stellung über alles Leben hat und – er den Auftrag hat, sich die Erde untertan zu machen?

Die erste Beobachtung: In Genesis 1 beginnt die Schöpfungsgeschichte mit den bekannten Worten: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Und dann beginnen die einzelnen Schöpfungsakte. Es entstehen Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Erde und Meer, grüne Pflanzen, Vögel, Fische, Landtiere – in insgesamt

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sieben Tagen ist die Welt fertig. Am Ende steht als Höhepunkt der Mensch. Dem Menschen kommt eine besondere Verantwortung im Umgang mit der Schöpfung und seinen Mitmenschen zu. So sieht es die Exegese heute im Allgemeinen. So haben wir es im Kopf. Auch der Erste Glaubensartikel in Luthers Kleinem Katechismus sieht den Menschen als gottgesetztes Zentrum der Kreatur: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.“ Man kann Genesis 1 auch anders lesen: Beschrieben wird die Schaffung von Lebensräumen, also von Ökosystemen: Himmel, Meer, Luftraum, Festland, und diese Lebensräume werden besiedelt von Lebewesen: Der Himmel von den Gestirnen – der alte Orient dachte sich die Sterne als Lebewesen –, das Meer von den Wassertieren, die Luft von den Vögeln und das Land von den Landtieren, angefangen von den Würmern über die Tiere des Feldes bis – zum Menschen. Das passiert am sechsten Schöpfungstag. Der Mensch muss sich den Lebensraum Festland mit den Tieren teilen, für ihn ist kein eigener Lebensraum vorgesehen. Es gibt hier keine hervorgehobene Stellung des Menschen. Der Segen, den Gott erteilt „Seid fruchtbar und mehret euch . . .“ gilt den Tieren genauso wie den Menschen. Es gibt auch noch eine Nahrungsmittelzuweisung, damit es im Lebensraum Erde nicht gleich Mord und Totschlag gibt: Die Menschen sollen sich von den Körnern und Früchten der Pflanzen ernähren, die Tiere vom Gras und Kraut. Die ganze Anordnung zielt dann darauf, ein Ökosystem zu schaffen, in dem die Lebewesen unter Einschluss des Menschen ihr Auskommen haben und auf ein Miteinander angewiesen sind. Es deutet sich auch an, dass es Konflikte um die Nahrung geben kann. Wie steht es nun mit dem Menschen als Bild Gottes? Was haben Philosophen und Kirchenväter in Jahrhunderten dazu nicht alles Tiefsinniges gesagt! Es ist aber ganz einfach: In der altorientalischen Welt pflegten die jeweiligen Herrscher, der Großkönig oder Pharao, im Land und vor allem in den fernen Provinzen, Standbilder von sich aufzustellen. In dem Bild war nach der damaligen Auffassung der Herrscher selber gegenwärtig. Wo das Bild stand, war der Herrschaftsbereich des Pharao. Man könnte mit dem Kino-Kultfilm „The Blues Brothers“ etwas salopp formulieren: Wir – die Menschen – sind im Auftrag des Herrn unterwegs! Das ist nun schon etwas, was den Menschen fundamental von den Tieren unterscheidet, aber es ist keine Macht aus eigener Machtvollkommenheit, es ist übertragene Macht. Gott ist der alleinige Ursprung allen Seins. Die Herrschaft des Menschen ist undenkbar ohne Rückbindung an ihn. Wir sprechen deshalb heute von einem Anthropozentrismus der Verantwortung, nicht einem Anthropozentrismus der Herrschaft. Das ist der Ausgangspunkt für alle ethischen Forderungen. In die Richtung Anthropozentrismus der Verantwortung weist nun die dritte Aussage über den Menschen: „Macht euch die Erde untertan und herrscht.“ 1934 schrieb der jüdische Theologe Benno Jakob, ganz im Geist der damaligen Technikbegeisterung, in einem Kommentar zu Genesis 1:

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Johannes Friedrich „Mit diesen Worten ist dem Menschen die uneingeschränkte Herrschaft über den Weltkörper Erde verliehen, deshalb kann keine Arbeit an ihr, z. B. Durchbohrung oder Abtragung von Bergen, Austrocknen oder Umleiten von Flüssen und dergleichen als gottwidrige Vergewaltigung bezeichnet werden.“

Schon an den Beispielen kann man erkennen, dass niemand zu dieser Zeit sich eine Vorstellung davon machen konnte, welche Ausmaße menschliche Eingriffe in die Natur einmal haben würden. Und man verstand auch in der christlichen Exegese einen symbolischen Akt der alten Zeit nicht mehr. Das Wort, das Luther mit „untertan machen“ übersetzt, heißt in seiner Grundbedeutung „Den Fuß auf etwas setzen“. Das kann ein Akt harter Unterwerfung sein, aber weit häufiger ist dieses Wort mit dem Land verbunden und dann handelt es sich um einen Akt der Inbesitznahme. Man müsste also übersetzen: Füllt die Erde und nehmt sie in Besitz. Bleibt das andere Wort „Herrschen“. Hier kommt alles darauf an, was mit Herrschen gemeint ist. Der Begriff kann denjenigen bezeichnen, der eine Prozession anführt, er steht dafür, wie ein Hirte seine Herde leitet, auch dies ein Bild von Herrschaft, aber eben keine beliebige, sondern eine Herrschaft, deren primäres Merkmal Fürsorge ist. Das gilt auch für die Herrschaft des Königs: Er ist zuständig dafür, dass in seinem Herrschaftsbereich Leben gedeiht. Ingesamt müsste man also übersetzen: „Seid fruchtbar und mehret euch, nehmt die Erde in Besitz und tragt Fürsorge für alles Leben auf ihr.“ Es ist nicht zu übersehen, dass das christliche Abendland, besonders seit der Zeit der Aufklärung, die Aussagen aus der Genesis nicht so verstanden hat. Da hat Amery Recht. Aber die Ur-Kunde des Christentums spricht eine ganz andere Sprache. Wir haben es also mit einer doppelten Natur des Menschen zu tun: Einerseits ist er Geschöpf wie alle anderen Geschöpfe. Das wird z. B. auch durch die Genetik bestätigt: Das Erbgut des Menschen deckt sich mit dem des Schimpansen zu 98 %. Wir sind Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, wie es Albert Schweitzer ausgedrückt hat. Andererseits ist der Mensch in biblisch-christlicher Sicht durchaus herausgehoben über die außermenschliche Schöpfung durch den Auftrag, Gottes Schöpfermacht auf der Erde zu repräsentieren und Verantwortung für alles Leben auf der Erde zu übernehmen. Eine Verfügungsmacht über das Leben selbst hat er nicht. Jahrtausende lang hatte das dominium terrae nur wenige konkrete Auswirkungen. Der Mensch erlebte sich gegenüber der Natur als der Schwächere. Die Frage lautete nicht: Wie schützen wir Natur und Umwelt? Sie hieß vielmehr: Wie schützen wir uns vor der Natur? Der Wolf beispielsweise, heute fast nur noch als Märchenfigur bekannt, war eine reale Bedrohung für Mensch und Vieh. Hagelschlag, Überschwemmungen, Stürme und Dürrezeiten vernichteten nicht nur bäuerliche Existenzen, sondern stürzten ganze Landstriche in Not und Elend. In alten Kirchenliedern und gottesdienstlichen Gebeten wird Gott um Hilfe gegen den Mehltau, Dürre und Wassernot angefleht.

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Seit der Mensch durch die Explosion seines technischen Könnens und naturwissenschaftlichen Wissens eine erdrückende Überlegenheit errungen hat, ist die ethische Dimension erst richtig brisant geworden. Jetzt, in dieser für die Natur so bedrohlichen Lage, taucht die Forderung auf, Natur und Umwelt zu schützen. Jetzt macht sie auch Sinn. In der Sprache des Glaubens reden wir davon, dass es gilt, die Schöpfung zu bewahren. Was wir heute brauchen, ist, den Respekt vor der außermenschlichen Natur wieder zu erlernen. Ein Blick aus dem Fenster hinaus in den Garten zeigt: Die Natur ist auch nicht friedlich. Die Katze jagt die Amsel, und die Amsel frisst den Regenwurm. Was man so distanziert die „Nahrungskette“ nennt, hat in Wahrheit mit „töten und getötet werden“ zu tun. Auch wir Menschen können ja gar nicht anders, als unser Leben auf Kosten der Tiere und Pflanzen zu fristen. Wir können nicht dem Grundkonflikt entrinnen, dass alles, was lebt, auf Kosten anderen Lebens lebt. Es hat keinen Sinn, von einer völlig konfliktlosen Einheit zwischen Menschen und Natur zu träumen. Es wird immer Konflikte geben. Die Bibel weiß das und hat deshalb dem Menschen die Verantwortung dafür übertragen, diesen Konflikt so zu regeln, dass möglichst viele möglichst gut leben können und nicht von vornherein die Menschen dominieren. Die Bibel hat schon Recht, wenn sie dem Menschen den Auftrag gibt: Herrscht über die Erde und tragt Sorge für das Leben, das auf ihr gedeiht.

III. Gut leben, statt viel haben Mit diesen aus der neueren Bibelauslegung gewonnenen Einsichten sind wir aber noch lange nicht am Ende des Weges angelangt. Jetzt wird die Frage umso dringender, wie wir denn nun unser Leben einrichten sollen, damit alles Leben auf der Erde gedeiht. Das Problem hat sich noch verschärft, seit wir unter dem Gebot der Nachhaltigkeit auch das Leben der künftigen Generationen in den Blick nehmen müssen. „Lebe hier nicht auf Kosten von anderswo und heute nicht auf Kosten von morgen“ – mit dieser Kurzformel hat Lenelies Kruse-Graumann die Aufgabe beschrieben, und es geht um das Wohl der ganzen Schöpfung, nicht nur der Menschen. Das Prinzip ist zunächst ganz einfach: Den Einklang mit der Natur zu suchen, heißt das Gebot, auch wenn es nicht ohne Konflikte abgeht. Heruntersteigen vom Sockel des Allmachtswahns, sich zurücknehmen, leise auftreten, kleine Schritte tun. Das hat eine technische, eine wirtschaftliche und eine geistig-geistliche Seite. Die Stichworte dazu heißen Effizienz, Konsistenz und Suffizienz: Unter Effizienz verstehen wir den geringst möglichen Energie- und Materialeinsatz pro Produkt und Dienstleistung. Die Konsistenz setzt darauf, dass natürliche und industrielle Kreisläufe aufeinander abgestimmt werden. Stoffe, die nicht kompatibel mit den natürlichen Kreisläufen sind, müssen demzufolge eliminiert werden. Der wich-

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tigste Bereich der Konsistenzstrategie ist der Ersatz fossiler durch regenerative Energieträger. Für Theologie und Kirche am wichtigsten ist die Suffizienz, also die Frage: Wie viel Energie, wie viele stoffliche Ressourcen brauchen wir eigentlich, um ein menschenwürdiges, erfülltes, befriedigendes Leben zu führen? Eine so verstandene Suffizienz bedeutet nicht Verzicht und Genügsamkeit. Im Gegenteil: ein an der Suffizienz orientierter Lebensstil bringt mehr Lebensqualität und nicht weniger, freilich eine Lebensqualität neuer Art, die es oft noch zu entdecken gilt. Es gibt dafür ein schönes biblisches Muster: die Lilien auf dem Felde. Im Matthäus-Evangelium Kapitel 6 sagte Jesus: „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?“

Jesus ruft hier nicht dazu auf, sich in das soziale Netz der Gesellschaft fallenzulassen. Seine Worte sind ein Lockruf zum Vertrauen. Menschen, die sich ihres Wertes aus dem Glauben heraus als Kinder Gottes gewiss sind, Menschen, die frei sind um die ängstliche Sorge um sich selbst und sich in Liebe dem Nächsten zuwenden können, Menschen, deren Hoffnung tiefer gegründet ist als die Glücksverheißungen des Konsums, solche Menschen haben es auch leichter mit einem Lebensstil nach Grundsätzen der Suffizienz und entdecken darin die Qualität eines Lebens nach dem Motto „Gut leben statt viel haben“. Dabei kommt uns etwas zu Hilfe, was die wenigsten vermutet hätten, aber aus diesen Quellen gespeist ist: die guten alten Kardinaltugenden der abendländischchristlichen Tradition. Neben den geistlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung sind das die Klugheit, die Tapferkeit, die Mäßigung und die Gerechtigkeit. Als zeitgemäß erscheint mir für uns heute die Mäßigung, lateinisch temperantia, oder besser: die Tugend, das richtige Maß zu kennen. Sie lehrt uns zu fragen: Wie viel ist genug? Das richtige Maß kann man finden, wenn man den Satz „Gut leben statt viel haben“ weiter entfaltet: Gut leben statt viel haben, kann dann heißen: Lieber weniger statt mehr; lieber einfacher statt komplexer; lieber langsamer statt schneller; lieber näher statt weiter; lieber nutzen statt besitzen; lieber bewahren statt wegwerfen.

IV. Vom Wissen zum Tun Am 11. Januar 2007 unterzeichneten der bayerische Ministerpräsident, der Erzbischof von München und Freising sowie der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern eine gemeinsame Erklärung zum Schutz des Klimas. Die großen christlichen Kirchen in Bayern traten damit der Bayerischen Klimaallianz bei.

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Abbildung 1: Giotto, Allegorie der Mäßigkeit, Padua, Scrovegni-Kapelle

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In der Erklärung heißt es im letzten Abschnitt: Die bayerischen Bistümer, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und die bayerische Staatsregierung werden ihre vielfältigen Möglichkeiten der Bildungs- und Umweltarbeit engagiert wahrnehmen, um das Verantwortungsgefühl der Menschen für nachhaltige Entwicklung und insbesondere für den Klimaschutz zu wecken. Von großer Bedeutung sind dabei die Förderung zukunftsfähiger Lebensstile und die Verankerung der Generationengerechtigkeit und der globalen Verantwortung im Bewusstsein des Einzelnen und der Gesellschaft. Staat und Kirche können schon heute auf ein umfangreiches Engagement im Umweltschutz blicken. Sie werden auch in Zukunft mit gutem Beispiel vorangehen, um so als Vorbild für die Menschen zu wirken, z. B. durch energetische Optimierung der eigenen Liegenschaften, durch Maßnahmen der Energieeinsparung und durch verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien. Mit konkreten Maßnahmen in ihrem eigenen Wirkungsbereich wollen Staat und Kirche ein Zeichen für den Klimaschutz setzen. Zwei Jahre nach der Unterzeichnung dieser Erklärung mag es angebracht sein, eine Zwischenbilanz zu ziehen, was aus diesen Absichtserklärungen geworden ist, aber auch, was es schon seit Jahren gibt.

1. Umweltbildung / Bildung für nachhaltige Entwicklung Die Bildungseinrichtungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, ELKB, an ihrer Spitze die Evangelische Akademie Tutzing, veranstalten regelmäßig Seminare zu aktuellen Themen aus dem Bereich Umwelt- und Klimaschutz. Seit den 1990er-Jahren findet etwa im Evangelischen Bildungszentrum auf dem Hesselberg alljährlich die Tagung „Ökologie rund um den Kirchturm“ statt. Erfreulich ist, dass in der Umweltbildung die ökumenische Zusammenarbeit reibungslos funktioniert. So wird alljährlich das Ökumenische Umweltforum für Klöster und Kommunitäten angeboten. In Einrichtungen dieser Art, die oft Grundbesitz haben und große Gästehäuser betreiben, können ökologische Grundsätze häufig direkt in die Praxis umgesetzt werden. Der landeskirchliche Beauftragte für Umweltfragen hält regelmäßig Vorträge zu den einschlägigen Themen in Gemeinden und bringt vierteljährlich eine Zeitschrift heraus, die alle Kirchengemeinden und Gemeindeumweltbeauftragten erreicht. Seit dem Jahr 2008 ist das Netzwerk Evangelische Umweltarbeit in Bayern berechtigt, die Dachmarke „Umweltbildung.Bayern“ zu führen, die vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz entwickelt worden ist. Folgerichtig arbeitet der landeskirchliche Umweltbeauftragte auch im Plankstettener Kreis mit, dem bayerischen Netzwerk der außerschulischen Umweltbildung, und engagiert sich im Interministeriellen Arbeitskreis Bildung für nachhaltige Entwicklung, zu dem das Bayerische Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz einlädt.

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Abbildung 2: Die Dachmarke Umweltbildung.Bayern

2. Förderung zukunftsfähiger Lebensstile Hier handelt es sich um eine Daueraufgabe, die in Predigten, Vorträgen, Aktionen und Publikationen ständig bearbeitet wird. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: Zum Netzwerk Evangelische Umweltarbeit in Bayern gehört auch der kirchliche Verein „Schöpfung bewahren konkret“, der wiederum die Bayerische Evangelische Umweltstiftung errichtet hat. Diese hat im Jahr 2007 einen Fotowettbewerb mit dem Titel: „Schöne Aussichten: Großeltern begeistern ihre Enkel für die Schöpfung“ ausgelobt. Im Rahmen der Klimawoche 2008 organisierte der Beauftragte für Umweltfragen eine Kampagne mit dem Titel: „Volksbewegung – 2 km ohne Auto mobil“. Es ging darum, dass sich Menschen verpflichteten, „in den nächsten vier Monaten alle Wege meines häuslichen Alltags, die nicht länger sind als zwei Kilometer, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen“. 3. Energetische Gebäudesanierung und Einsatz erneuerbarer Energien Rund 7.000 Immobilien befinden sich im Eigentum der ELKB, der Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke. Generell gilt, dass die energetische Optimierung von Immobilien die wirkungsvollste Art ist, Energie zu sparen und den Ausstoß von Treibhausgasen in diesem Bereich zu reduzieren. Im Sommer 2007 wurden deshalb in einer ersten Maßnahme fünf Millionen Euro für einen Energiesparfonds bereitgestellt; außerdem achten wir bei unseren laufenden Pfarrhaussanierungen verstärkt auf die energetische Optimierung dieser Häuser. Die Bewirtschaftung, Erhaltung und Modernisierung der landeskirchlichen Gebäude insgesamt soll in den nächsten Jahren durch ein professionelles Immobilienmanagement deutlich verbessert werden. Dabei wird auch die Frage nach dem Energieverbrauch eine große Rolle spielen. Neben diesen langfristig angelegten Maßnahmen ragen einige einzelne Projekte heraus: Als Beispiel sei der Neubau der Immanuelkirche in Ampfing genannt. Sie erreicht durch eine kompakte Gebäudehülle, hochgedämmte Fenster, Wärmerück-

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gewinnung und eine kontrollierte Lüftung fast einen Passivhaus-Standard. Für Wohngebäude ist das inzwischen nicht mehr ungewöhnlich, für ein Sakralgebäude aber bisher einmalig. Die Kirchengemeinde Mühldorf am Inn als Bauherrin hat dafür im Jahr 2008 einen E.ON-Umweltpreis bekommen.

Abbildung 3: Evangelische Immanuelkirche in Ampfing

Der Einsatz erneuerbarer Energien hat sich in den letzten Jahren gut entwickelt. So gibt es in der ELKB ca. 200 Photovoltaik-Anlagen auf kirchlichen Dächern. Wenn es um Kirchendächer geht, die oft von der Fläche und der Südausrichtung des Daches besonders geeignet sind, kommt es nicht selten zu einem Konflikt zwischen Denkmalschutz und Klimaschutz. Die kirchlichen Bauämter sind hier bisher sehr zurückhaltend. Theologische Gründe, die eine solche Anlage auf einem Sakralgebäude verbieten würden, gibt es jedoch nicht. Auch die Zahl solarthermischer Anlagen nimmt stetig zu, ebenso die Umrüstung alter Heizungsanlagen auf Holzpellets und Hackschnitzel als Energieträger. Ebenso spielt die Geothermie eine wachsende Rolle. So wurde das Studienseminar der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, VELKD, an das geothermische Fernwärmenetz der Gemeinde Pullach angeschlossen. Die Windkraft spielt eine, wenn auch bescheidene Rolle. Der kirchliche Verein „Schöpfung bewahren konkret“ ist einziger Gesellschafter der „Kirchenwind GmbH“, die eine Windkraftanlage in der Nähe von Eisenach betreibt. Aus den Erträgen dieser Anlage werden Maßnahmen der Umweltberatung finanziert.

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4. Das Umweltmanagement „Grüner Gockel“ Umweltmanagement ist der Königsweg hin zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise von Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Es umfasst die Bereiche Heizenergie und Stromverbrauch, Mobilität, Beschaffung, Ernährung und Bewirtung, Reinigung, Abfallwirtschaft, Biodiversität, Vermögensanlage sowie Schöpfungsspiritualität und Umweltbildung. Es leistet einen Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels, hilft dazu, Energie und Rohstoffe zu sparen, und bringt den Gemeinden und Einrichtungen auch eine nicht zu unterschätzende finanzielle Entlastung. Das Umweltmanagement kann so über die wirtschaftlichen Belange der Gemeinde hinaus eine Ausstrahlung auf die Lebensweise und die Werthaltungen der Gemeindeglieder selber entfalten. Daraus erwachsen auch Impulse für den Gemeindeaufbau. Das Kirchliche Umweltmanagement beruht auf der Europäischen Öko-AuditVerordnung EMAS (Eco Management and Audit Scheme) und wurde unter der Bezeichnung „Grüner Gockel“ an kirchliche Verhältnisse angepasst. Es ist in mehreren Landeskirchen in Deutschland bereits eingeführt, z. B. in der württembergischen, der badischen, der westfälischen und der Hannoverschen Landeskirche. In Bayern haben auf Initiative des Umweltbeauftragten und der Umweltberater ca. 20 Gemeinden und Einrichtungen das Zertifikat „Grüner Gockel“ erworben und befinden sich in einem Rezertifzierungsprozess. Das System ist vielfach erprobt, ausgereift und unmittelbar anwendbar.

Abbildung 4: Der Grüne Gockel – Zertifikat für Kirchengemeinden, die das Umweltmanagement durchführen

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Diese Bilanz, die noch ausführlicher ausfallen könnte, zeigt, dass wir nicht am Anfang der Bemühungen stehen, Umwelt- und Klimaverantwortung als Kirche engagiert wahrzunehmen. Freilich wird auch deutlich, dass unsere Anstrengungen noch wesentlich verstärkt werden müssen – auf allen Gebieten, in der Verkündigung, in der Umweltbildung und in der praktischen Umsetzung. Während wir bei Letzterer Hilfe von Ministerien, Fachbehörden und Umweltverbänden benötigen und auch bekommen, ist die Verkündigung und ethische Orientierung auf dem Feld von Umwelt- und Klimaverantwortung eine kirchliche Kernaufgabe, die von niemandem sonst in Gesellschaft und Staat wahrgenommen wird. Mit einem Schwerpunkttag „Schöpfung bewahren – mit Energie für gutes Klima“ während der Frühjahrstagung 2009 der Landessynode wurden deutliche Impulse in diesem Sinne gesetzt. Angesichts der Bedrohung, unter der die natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Erdball stehen, wage ich vorauszusagen, dass das 21. Jahrhundert in Frömmigkeit und Theologie ein Jahrhundert des Ersten Glaubensartikels sein und der christliche Schöpfungsglaube eine Renaissance erfahren wird.

Ein jedes nach seiner Art: Artenvielfalt in der Kulturlandschaft* Von Wolfgang Haber

„Kulturlandschaft“ und in jüngerer Zeit auch „Artenvielfalt“ genießen hohe gesellschaftliche Wertschätzung. Wegen ihrer Gefährdung oder Bedrohung sind sie auch zu häufig erwähnten umweltpolitischen Kernbegriffen geworden. Ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die von gesetzlichen Vorschriften über Regeln bis zu Fördermaßnahmen reichen, soll der Erhaltung und Sicherung dieser Werte dienen.

I. Bayerische Leistungen zur Erhaltung von Kulturlandschaft und Artenvielfalt Der Freistaat Bayern hat politische Marksteine gesetzt. Als erstes Bundesland hat er 1970 ein eigenes Umweltministerium eingerichtet und 1973 das in der Bundesrepublik gültig gebliebene „Reichsnaturschutzgesetz“ von 1935 (auf Landesebene) völlig novelliert. Planung, Pflege und Gestaltung der Landschaft erhielten im neuen Gesetz – neben dem Schutz der Natur – erstmals einen eigenen Stellenwert. Es veranlasste auch die erste systematische Erfassung und Kartierung schutzwürdiger Biotope und schuf damit eine wesentliche Grundlage zur Erhaltung der Vielfalt wildlebender Pflanzen- und Tierarten, lange bevor das Wort „Artenvielfalt“ den heutigen umweltpolitischen Rang erlangte. Die am Lehrstuhl des Verfassers entwickelte „Biotopkartierung“1 machte die Bedeutung des Begriffs „Biotop“ im Naturschutz bewusst, ohne den keine Pflanzen- oder Tierart überleben kann. Besonders wertvolle Biotope mit seltenen Arten erhielten den Status von Schutzgebieten. Doch viele Bestandteile der Kulturlandschaft und Biotope drohten zu verschwinden, weil sie von traditionellen, aber unrentabel gewordenen bäuerlichen Bewirtschaftungen abhingen. Zu deren Aufrechterhaltung führte das bayerische * Teile dieses Beitrages sind mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (Laufen) dem Artikel „Naturschutz in der Kulturlandschaft – ein Widerspruch in sich?“ entnommen, der in den Laufener Spezialbeiträgen 1 / 2008, S. 1 – 11, erschienen ist. 1 Haber, Wolfgang: Die Biotopkartierung in Bayern, in: Schriftenreihe Deutscher Rat für Landespflege 41 / 1983, S. 32 – 37.

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Umweltministerium besondere Förderprogramme ein, darunter das Wiesenbrüterprogramm zum Schutz der Vogelwelt der Wiesen und Weiden und den sog. Erschwernisausgleich für aufwändige Pflegemaßnahmen. Die aus solchen „Vertragsnaturschutz“-Programmen gezahlten Gelder verbesserten die Einkommen vor allem kleinerer bäuerlicher Betriebe und wurden gern angenommen. Dies veranlasste das Landwirtschaftsministerium Mitte der 1980er-Jahre zur Aufstellung eines umfassenden Kulturlandschaftsprogramms, mit dem Bayern erneut eine Vorreiterrolle begründete. Es zeigte, wie Landschaftserhaltung und Naturschutz miteinander verknüpft werden können und die dazu erforderliche bäuerliche Arbeit honoriert wird. In diesem Rahmen entstand in Mittelfranken durch lokale Initiative der erste Landschaftspflegeverband, in dem Landwirtschaft, Naturschutz und Verwaltung gleichrangig Maßnahmen entwickeln und durchführen – das erste Beispiel einer wirksamen Partizipation. Aus ihm ist der angesehene Deutsche Verband für Landschaftspflege hervorgegangen. Diese beispielhaften Maßnahmen erfreuen sich allgemeiner Zustimmung und wurden auch von den anderen Bundesländern übernommen. Bayern genießt ja wegen seiner vielfältigen, abwechslungsreichen Kulturlandschaft mit ihren Flussauen, Mittelgebirgen, Hügelländern, Acker- und Grünlandgebieten, Teichgebieten, Mooren bis zum Alpenvorland und den bayerischen Alpen einen weithin reichenden Ruf als Touristenland. Die landschaftliche Schönheit und der Reichtum der Natur haben daher auch eine namhafte wirtschaftliche Bedeutung, und die Gelder zur Erhaltung, Pflege und Entwicklung der Kulturlandschaft einschließlich ihrer naturbetonten Bestandteile und der in sie eingebetteten Schutzgebiete, Nationalund Naturparke sind gut angelegt.

II. Mängel und Gefährdungen – und ihre Ursachen Trotz dieser Erfolge haben sich Kulturlandschaft und Artenvielfalt in vielen Gebieten zu ihrem Nachteil verändert, und weitere Verschlechterungen zeichnen sich ab. Diese betreffen vor allem die Erzeugung erneuerbarer Energie mittels großflächigem Anbau von „Energiepflanzen“ wie Mais, Chinaschilf oder Holzplantagen sowie auch Windrotoren- und Solarzellen-Feldern.2 Die dafür beschlossenen gesetzlichen Grundlagen und staatlichen Förderungen widersprechen den ebenfalls öffentlich geförderten Maßnahmen zur Erhaltung von Kulturlandschaft und Artenvielfalt, könnten sogar deren bisher erzielte Erfolge wieder aufheben. Andererseits sind die Landwirte – als die in der Kulturlandschaft tätigen und von ihrer Nutzung lebenden Menschen – mit eben diesen Maßnahmen oft unzufrieden. Zwar verdanken sie den dafür geschaffenen Förderprogrammen einen nicht ge2 Die Auswirkungen erneuerbarer Energien auf Natur und Landschaft. Schriftenreihe des Deutschen Rats für Landespflege 79 / 2006 – Energie aus Biomasse: Ökonomische und ökologische Bewertung, Rundgespräche der Kommission für Ökologie 33 / 2007, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München.

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ringen Teil ihrer Einkommen, beklagen aber die damit verbundenen Auflagen und bürokratischen Kontrollen. Darüber hinaus fürchten sie, dass mit der 2008 ausgebrochenen großen Finanz- und Wirtschaftskrise, in der die Politik andere Ausgabeprioritäten setzt, diese Förderungen gekürzt oder gar beendet werden könnten. Dann wären ihnen Einkommensverbesserungen durch die Erzeugung energetisch nutzbarer Biomasse umso willkommener. Der Titel dieses Beitrags „Ein jedes nach seiner Art“ stimmt zwar positiv und scheint einvernehmliche Lösungen zu bewirken. Aber wenn es um die Anwendung vor Ort geht, also um einen einzelnen konkreten Fall, dann entstehen Probleme und Konflikte: Wer ist „ein jedes“, was ist „seine Art“? Als Landschaftsökologe bin ich dazu oft um Rat oder Entscheidungsvorschläge ersucht worden. Bei meinen Bemühungen zur Zusammenführung unterschiedlicher Standpunkte stieß ich auf prinzipielle Gegensätze, die gerade die anfangs genannte Wertschätzung von Kulturlandschaft und Artenvielfalt betreffen. Schon die Begriffe und ihre Bedeutungen sind umstritten. In „Kulturlandschaft“ stecken die Worte Kultur und Land. Wann und wie wird aus Land aber Landschaft? Und wieso ist bei uns der Naturschutz für die Landschaft zuständig, wo doch Natur das Gegenstück zur Kultur ist? Was hat Artenvielfalt mit Kulturlandschaft zu tun? Wie definiert man diese Begriffe, um sich mit ihnen zu verständigen und sie in praktische Maßnahmen vor Ort umzusetzen? Aus über 50-jährigen Erfahrungen in der wissenschaftlichen Arbeit mit Natur, Landschaft und Umwelt möchte ich mit meinem Beitrag Antworten auf die genannten Fragen finden. Dazu muss ich weit ausholen, denn als letztendliche Grundlage aller damit verbundenen Probleme und Konflikte habe ich den uralten Stadt-Land-Gegensatz erkannt, der die Gesellschaft beherrscht und nicht ausgeräumt, sondern nur gemildert werden kann. In den folgenden Abschnitten will ich seine Geschichte schildern, auch weil deren Kenntnis den Gegensatz verständlich macht und den Umgang mit ihm erleichtern kann.

III. Vom Leben der Menschen in der Natur zum Wirtschaften gegen die Natur Diese Geschichte verläuft schrittweise und beginnt in ferner Vergangenheit, nämlich als – in Mitteleuropa vor rund 6.500 Jahren – die Menschen vom Sammeln und Jagen in der wilden Natur, also von Naturnutzung, zur bäuerlichen Landnutzung übergingen und das Land stückweise in Kultur (Agri-Kultur) nahmen, rodeten, bepflanzten, besiedelten oder ihr Vieh darauf weideten. Das erforderte die Beseitigung, Zurückdrängung oder Abwehr der das Land bedeckenden „wilden“ Natur, die damit kultiviert wurde. Denken und Handeln der Bauern sind daher von Anfang an durch einen prinzipiellen, nicht überwindbaren Natur-Kultur-Gegensatz geprägt, der die Natur geradezu als Feind betrachtet. Sie drang ja immer wieder in das ihr abgerungene Land vor, um es sozusagen zurückzuerobern – in Form von Unkräutern, Schädlingen, Parasiten oder „Raub“tieren, die zu bekämpfen waren.

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Dass die frühen Bauern je auf den Gedanken eines Naturschutzes gekommen sein könnten, ist nicht vorstellbar. Landwirtschaft, die nun unwiderbringlich zur menschlichen Nahrungsgrundlage geworden war, ist mit „wilder“ Natur nicht vereinbar. Das gilt noch heute und ist Bestandteil der zuvor genannten Konflikte, z. B. über das Zulassen von „Wildnis“. Die Grundeinstellung eines Bauern muss, selbst wenn er „ökologisch“ wirtschaftet, stets gegen diese Natur gerichtet sein, auch wenn er sich ihre Grundprozesse, z. B. die Photosynthese, zunutze macht. Als mit Agri-Kultur, vor allem mit Ackerbau, mehr Nahrung erzeugt wurde, als die Bauern zur Selbstversorgung benötigten, konnten diese Überschüsse der Versorgung von Menschen dienen, die nicht selbst Nahrung erzeugen mussten oder wollten. Sie wurden also von den Bauern „miternährt“. Diese Menschen verließen die Bauernhöfe und ließen sich in gemeinschaftlichen Siedlungen als einer neuen, „gebauten Umwelt“ nieder. So entstand die neue Gruppe der Nicht-Landwirte, die – befreit von den ständigen Mühen der Nahrungserzeugung – in den Siedlungen ihr Leben ganz anders als die Bauern gestalten und organisieren konnte und Handwerk, Gewerbe und Handel, Erziehung und Bildung, Religion, Politik und Verwaltung entwickelte. Das geschah vor allem in größeren Siedlungen, die über die noch bäuerlich geprägten Dörfer hinaus zu Städten heranwuchsen.

IV. Von der Landkultur zur Dominanz der Stadtkultur: der Stadt-Land-Gegensatz Aus der Agri-Kultur entstand damit die Stadtkultur als neue menschliche Entwicklungsstufe. Sie bestimmte von nun an die weitere zivilisatorische Entwicklung, blieb aber von der Nahrungsversorgung durch die Landwirte, genauer gesagt von deren Überschüssen, abhängig. Daraus ergab sich eine unumkehrbare Teilung der Menschheit in Nahrungserzeuger und Nahrungsverbraucher, die den zuvor erwähnten, unüberbrückbaren Stadt-Land-Gegensatz und mit ihm auch prinzipiell gegenteilige Einstellungen zur Natur, zu Land und Boden hervorgebracht hat. Die Agrarkultur blieb im Niveau hinter der Stadtkultur zurück, erfuhr sogar deren Geringschätzung („bäuerliches Benehmen!“), obwohl die Städter – in Erkenntnis ihrer Abhängigkeit von den Bauern – von ihnen stets eine ausreichende, verlässliche Nahrungsmittelerzeugung erwarteten und sie dazu, wenn nötig, auch anwiesen, belehrten oder förderten. Die Bauern wurden umgekehrt von den Städtern abhängig, weil ihre wirtschaftliche Existenz nunmehr vom Tausch oder Verkauf ihrer Produkte bestimmt wurde und andererseits auch von den in den Städten erzielten technisch-organisatorischen Fortschritten profitierte. Hier liegt der Ursprung sowohl der intensiven Landwirtschaft als auch der ihr gewidmeten Agrarpolitik, die es beide ohne eine städtische Gesellschaft, ohne Stadt-Land-Gegensatz nicht gäbe und die damit auch für die Zukunft bestimmend bleiben. Durch die – wegen der wachsenden städtischen Ansprüche – sich immer mehr ausweitende Landbewirtschaftung und -nutzung schufen die Bauern mit der Zeit

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ein Nutzungsmuster mit charakteristischer Ordnung (Eigenart) und meist auch großer Vielfältigkeit, auch wenn sie die Nutzungen als solche, vor allem die Ackernutzungen, in sich möglichst einheitlich zu machen versuchten. Dieses Muster zu erhalten und zu entwickeln, forderte von den Bauern aber auch ständige, oft mühsame körperliche Anstrengungen, da sie auf Handarbeit, unterstützt von Zugtieren und einfachen Geräten, angewiesen waren und sich gegen die wilde Natur durchsetzen mussten. Die räumliche Anordnung und Gestaltung der Nutzflächen war außer von naturräumlichen Gegebenheiten insbesondere von Zweckmäßigkeit bestimmt. Das Muster auch „schön“ zu finden, kam den Bauern vermutlich nicht oder nur selten in den Sinn.

V. Die Entstehung des „landschaftlichen Blicks“ – Außen- und Innensicht Genau dies taten aber gebildete Städter, die aus der bereits hoch entwickelten Stadtkultur des ausgehenden Mittelalters „aufs Land“ hinausblickten oder -gingen und es mit Muße betrachteten. Die von ihnen dabei auch emotional empfundene Anregung beruhte aber nicht auf den vom Land erfüllten Zwecken (Ackerbau, Viehweide, Holzerzeugung), sondern auf der Gestaltung oder räumlichen Anordnung der Landnutzungen. Diese bilden ein „Muster“ oder Mosaik, das als interessant, anmutig oder einfach „schön“ wahrgenommen wird (wahrnehmen heißt auf Griechisch aisthanomai, wovon „Ästhetik“ abgeleitet ist). Maler haben solche Empfindungen in Gemälden festgehalten und für deren Bezeichnung das Wort „Landschaft“ gewählt, das bis dahin nur die Bedeutung einer Region oder einer sie bewohnenden menschlichen Gemeinschaft hatte. Mit dem neuen ästhetischen Inhalt ist „Landschaft“ bei dafür aufgeschlossenen Menschen bekannt geworden, die Gefallen und Freude an ihrer Schönheit und Harmonie empfinden. Ihr „landschaftlicher Blick“ verankerte sich in den Köpfen und wurde zur Tradition in der Stadtkultur.3 Daher ist das Wort Kulturlandschaft im Grunde eine Tautologie, auch wenn es den kulturellen Gehalt als Wert besonders betont. Aber der landschaftliche Blick wurde auch zu einem neuen geistig-kulturellen Bestandteil des Stadt-Land-Gegensatzes, denn er stellt eine „Außensicht“ auf das Land dar, die der „Innensicht“ seiner Bewohner und Nutzer nicht entspricht.4 Die Bauern sehen ihr Land als Lebens- und Wirtschaftsgrundlage, das sie daher auch niemals „Landschaft“ nennen. Es ist mit Besitz- und Nutzungsrechten verbunden, die eine besondere Bindung an das Land bewirken. Mit ihm identifizieren sich die 3 Haber, Wolfgang: Kulturlandschaft zwischen Bild und Wirklichkeit, in: Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 215 / 2001, S. 6 – 29; ders.: Naturschutz und Kulturlandschaften – Widersprüche und Gemeinsamkeiten, in: ANLiegen Natur (vormals: Berichte der ANL) 2 / 2007, S. 3 – 11. 4 Stremlow, Matthias: „Heimat“ – ein brauchbarer Begriff für den Landschaftsschutz?, in: Anthos 1 / 2008, S. 60 – 61.

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Bauern, wurden darin „heimisch“ und sicherten oder verteidigten es auch gegen die wilde Natur, Feinde und Konkurrenten. Sichtbarer Ausdruck dafür sind die festen, meist noch mit Einfriedigungen umgebenen Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Unsere Sprache hat dafür eigentümliche Doppelbezeichnungen geprägt wie z. B. „Haus und Hof“, „Grund und Boden“, „Land und Leute“. Landbesitz oder Nutzungsrechte werden vererbt und erzeugen so das Gefühl einer Verantwortung sowohl für das Land als auch für nachfolgende Generationen. Einer der Grundgedanken der Nachhaltigkeit ist hier angelegt. Solche gewachsenen rechtlichen Bindungen der Nutzer an ihr Land sind jedoch der von der Stadt auf das Land gerichteten „genießenden“ Außensicht, die „Land“ zu „Landschaft“ macht, fremd. Sie empfindet die Landschaft eher als öffentliches Gut, das auf die Privatnützigkeit kaum Rücksicht nimmt – und auch hierin liegen bis heute wirksame Probleme und Konflikte begründet. In dem landschaftlichen Blick verschwamm auch der für die Bauern so bestimmende Natur-Kultur-Gegensatz. Den Stadtmenschen der anbrechenden Neuzeit dürfte fast alles, was außerhalb der damaligen dicht gebauten, ummauerten Städte lag, auch als natürliches Leben erschienen sein. Grünende und blühende Pflanzen, auch wenn sie vom Menschen gezüchtet und angebaut sind, vom Getreidehalm über die Wiesenblume bis zum Waldbaum, Tiere aller Arten von der Kuh über den Singvogel zur Biene, alles sehen die Städter als Natur an. Damit wird die bäuerliche Kulturlandschaft in deren Köpfen zur Natur. Landschaft und Natur verschmelzen zu zwei Seiten einer Münze. Die wilde Natur hingegen wurde auch von den Städtern als „Unkultur“ empfunden, gemieden und gefürchtet.

VI. Die konkret gestaltete und die wissenschaftliche Landschaft Seit dem Beginn der Neuzeit ist das Interesse gebildeter Menschen an Bildern schöner ländlicher Landschaften lebendig geblieben. Es sollte sich aber nicht nur auf Gemälde beschränken, sondern auch in der Wirklichkeit erlebt werden, und so schufen Landschaftsarchitekten – als eine neue und aus dem Gartenbau erwachsene Profession – im 18. Jahrhundert in England die ersten bewusst gestalteten Landschaften zur parkartigen Aufschmückung von Landgütern und -schlössern. Ihr Vorbild lieferte wiederum die Landnutzung, und zwar die idyllisch von Baumund Strauchgruppen durchsetzten, kurzrasigen englischen Schafweiden. Die Landschaftsparke oder -gärten beruhten zwar auch noch auf einer bildhaften Gesamtwirkung, aber waren wie „betretbare“ Bilder, in denen der landschaftliche Blick sich konkret verwirklichte. Für das Verständnis des Begriffes „Landschaft“ ist dies wesentlich: Denn seitdem verbindet er, oft gar nicht bewusst, das „Bild in den Köpfen“ mit dessen Projektion auf die Realität des Landes oder einer Gegend. Die Landschaftsparke dienten ihrerseits als Gestaltungsvorbild für die in die jetzt rasch wachsenden Städte eingefügten Freiräume als Stadtparke und Grünanlagen. Wieder bietet Bayern ein erstes Beispiel mit dem berühmten Englischen Garten in

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München. Darüber hinaus regten diese Landschaftsgestaltungen sogar Pläne zu einer umfassenden, auch soziale und wirtschaftliche Aspekte einbeziehenden „Landesverschönerung“ an, wie sie – wiederum in Bayern – visionär von dem Architekten Gustav Vorherr entworfen,5 aber leider nicht verwirklicht wurden. Zur gleichen Zeit erwachte auch das Interesse der – im Zeitalter der Aufklärung – entstehenden Naturwissenschaften an der Landschaft. Alexander von Humboldt begründete die Geographie mit der Beschreibung des Gesamteindrucks seiner vielen Entdeckungsreisen und verwendete auch dafür den bildhaften Begriff Landschaft, wobei er ausdrücklich auch die ästhetischen Aspekte berücksichtigte. Diese ganzheitliche Sicht ging allerdings mit der naturwissenschaftlichen Spezialisierung verloren, welche die Landschaft analytisch in ihre Bestandteile zerlegte und deren Funktionen zu erklären versuchte. Ästhetik und Naturgenuss sind dem Forschergeist eher fremd. Ganzheitlichkeit wurde in der modernen Naturforschung zu einem fragwürdigen, ja unwissenschaftlichen Begriff, der auch, wie ich als Landschaftsökologe oft zu spüren bekam, die Berechtigung einer „Landschaftswissenschaft“ als Naturwissenschaft in Zweifel zieht. In deren Verständnis ist „Landschaft“ ein Raumgebilde der niederen Quadratkilometer-Dimension. Die städtische Sicht verbindet sie stets mit Vorstellungen von Weite, Offenheit und Überschaubarkeit und identifiziert sie daher mit dem landwirtschaftlich genutzten ländlichen Raum, was auch ausgedehnte Wälder ausschließt. Diese Sicht kommt in Landschaftsgemälden ebenso wie in Landschaftsparken und -gärten zum Ausdruck. In einem natürlicherweise von Wäldern bewachsenen Land kann solches „Offenland“ nur durch bäuerliche Acker- und Grünlandnutzung entstehen und erhalten werden. Man spricht daher auch von „gewachsener Kulturlandschaft“. Die Wissenschaft, die den Begriff Landschaft aus der Kultur übernahm, hat seinen Inhalt erweitert und kennt daher auch Stadt-, Industrie-, Bergbau-, Wald-, Gebirgs- oder Steppenlandschaften. Das Wort „Kulturlandschaft“ hat den Gegenspieler „Naturlandschaft“ erhalten. So ist Landschaft ein vieldeutiger Begriff geworden,6 mit dem umzugehen schwierig ist.

VII. Modernisierung der Landnutzung und Schwinden von Kulturlandschaft Die Wirklichkeit der Landnutzung entfernte sich indessen immer mehr von den Idealen der Landschaftsbilder und -parke, denen sie ohnehin nicht überall entsprochen hatte. Davon abgesehen erfüllte sie auch ihre vorrangige gesellschaftliche Funktion, nämlich die sichere Ernährung der nichtlandwirtschaftlichen Bevölke5 Däumel, Gerd: Gustav Vorherr und die Landesverschönerung in Bayern, in: Beiträge zur Landespflege 1, Stuttgart 1963, S. 332 – 376. 6 Kirchhoff, Thomas / Trepl, Ludwig (Hrsg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009.

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rung, immer schlechter. Hungersnöte waren eine fast normale Begleiterscheinung des Lebens, und eine ihrer Hauptursachen (neben Kriegen, Epidemien, Missernten wegen ungünstigen Wetters während der „Kleinen Eiszeit“) war die überkommene Art der Landbewirtschaftung, die nur auf die Erfahrung der Bauern – ohne wissenschaftliche Basis – gegründet war, daher Fehlentwicklungen zur Folge hatte und im Zusammenhang mit unzweckmäßigen Besitz- und Nutzungsstrukturen eine insgesamt sinkende Produktivität zur Folge hatte. Die sogenannte vorindustrielle Landwirtschaft wird heute oft verklärt, war aber in Wirklichkeit eher degradierend und ausbeuterisch als nachhaltig. An anderer Stelle beschreibe ich ausführlich,7 dass und warum gerade damit Artenvielfalt und Schönheit oft gesteigert wurden. Als im 18. Jahrhundert mit dem Wechsel der Energieversorgung vom nachwachsenden, aber knapp gewordenen Holz zur fossilen Kohle das technisch-industrielle Zeitalter begann, die Bevölkerung zunahm, die Städte mit Fabriken, Wohnungen und Verkehr wuchsen, stieg auch der Nahrungsbedarf in Menge und Qualität stark an. Das überkommene Landnutzungssystem konnte ihn nun erst recht nicht mehr decken. Darüber hinaus veranlasste die Anziehungskraft der Städte mit ihren neuen Verdienstmöglichkeiten eine „Landflucht“, welche die Zahl der Bauern und Landarbeiter ständig verminderte, den verbleibenden aber umso mehr Leistung abverlangte. Sinkende Ernten mit Verteuerungen der Produkte verursachten Armut und Not, die durch Getreideeinfuhren nur wenig gelindert werden konnten. Eine gesellschaftlich und politisch unverzichtbare, verlässliche, Hunger ausschließende Nahrungsmittelproduktion erzwang daher eine grundlegende Reform der Landwirtschaft. Sie wurde, weil die Landwirte dazu nicht imstande waren, zur staatlichen Aufgabe – mit Gesetzen und Anordnungen, intensiver fachlicher Anleitung und erheblichen Eingriffen in die alten Wirtschaftsweisen, vor allem Aufteilung der Allmendeweiden, Bauernbefreiung, Urbarmachungen, Meliorationen und Flurbereinigung, oft gegen großen Widerstand der als nun erst recht als „rückständig“ angesehenen Bauern.8 Die Reformen profitierten von ersten neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Grundlagen der Landwirtschaft, vor allem der Düngung und Viehfütterung. Diese ermöglichten zusammen mit erstem Maschineneinsatz auch eine weitere flächige Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzung und zugleich deren Intensivierung, um mehr Kulturland zu gewinnen und besser zu nutzen. Für alle diese staatlichen Maßnahmen wurden eigene Verwaltungen geschaffen, womit übrigens Bayern begann: Es erließ dafür bereits 1723 das bayerische „Kulturedikt“, mit dem sich der Name „Landeskultur“ einbürgerte9 und das Wort „Kultur“ 7 Haber, Wolfgang: Landwirtschaft, in: Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, hrsg. von Werner Konold, Reinhold Böcker und Ulrich Hampicke, Kap. VII-2 (erscheint 2010). 8 Beck, Rainer: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003. 9 Schlosser, Franz: Ländliche Entwicklung im Wandel der Zeit. Zielsetzungen und Wirkungen, Materialien zur Ländlichen Entwicklung in Bayern, Heft 36, München 1999.

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dabei auf den alten Sinngehalt der Kultivierung des Landes oder Bodens zurückführte – aber nicht um seine Schönheit, sondern um seine Produktivität zu steigern. Die Reformierung und Förderung der Landwirtschaft zur Ernährungssicherung war vorrangiger politischer Wille und erreichte ihr Ziel. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es in Mittel- und Westeuropa (außer in Kriegszeiten) keine Hungersnöte mehr! Dazu trugen aber auch vermehrte Einfuhren von Nahrungsmitteln aus dem Ausland bei. Als diese immer billiger wurden, geriet die heimische Landwirtschaft, deren Produkte teurer waren, in existenzielle Bedrängnis. Da der Staat sie nicht nur erhalten, sondern auch wirtschaftlich stärken wollte, erhob er Einfuhrzölle, führte Preiskontrollen ein und entwickelte ein umfassendes System zur Stützung der Landwirtschaft. „Agrarpolitik“, deren erste Ansätze schon im Mittelalter liegen, wurde endgültig zu einem eigenen, einflussreichen Politiksektor und verhalf der Landwirtschaft zu einer volkswirtschaftlichen Sonderstellung, die ihr stets Vorrechte verschaffte. Die uralten Gegensätze zwischen Natur und Kultur, Stadt und Land wurden nicht, wie es schien, gemildert, sondern verschärft. Denn die „rückständigen“ Landwirte errangen mit staatlicher Stärkung und Ermutigung ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den Städtern.

VIII. Das Erwachen des Naturschutzes und seiner Probleme In den wachsenden Städten entwickelte sich bei sicherer Ernährung, guter materieller Versorgung und verbesserter Hygiene ein bisher ungekanntes Wohlstandsniveau. Aus der Aufklärung war ein selbstbewusstes Bürgertum hervorgegangen, in dessen gebildeten Schichten einerseits der technokratisch-ökonomische Fortschritt (einschließlich der Landnutzungsreformen) wurzelte, andererseits aber auch, vor allem bei empfindsameren Gemütern, Kritik an dessen Nachteilen erwachte. Im Zeitalter der Romantik10 fanden Schönheit und Harmonie der ländlichen Landschaft, wenn auch in Verkennung ihrer Wirklichkeit, einen neuen Höhepunkt der Bewunderung im Gefühl heimatlicher Verbundenheit. Aber gerade diese schwanden mit der Modernisierung und Rationalisierung der Land- und Forstwirtschaft immer mehr dahin. Aus dieser Verlusterfahrung entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts im städtischen Bildungsbürgertum die Bewegung des Heimatschutzes, aus dem bald auch der Naturschutz hervorging. Dies war ein im Grunde nicht zutreffendes Wort, denn nicht die Natur, sondern Vielfalt, Eigenart und Schönheit einer Kulturlandschaft waren bedroht und verlangten Schutz. Allerdings verschwanden mit ihr auch viele die Natur verkörpernde Pflanzen- und Tierarten und ihre Lebensgemeinschaften, was als „landschaftliche Natur“ bezeichnet wurde. In der Einstellung zur Landschaft war der Schutzgedanke neu, denn bisher war sie bewundert und verehrt, in den Landschaftsparken und in den Plänen der „Lan10

Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.

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desverschönerung“ auch verbessert und gestaltet worden. Die staatliche „Landeskultur“ ermangelte nicht nur solcher Ziele, sondern beseitigte mit ihrer vereinheitlichenden Tendenz auch viele noch vorhandene ästhetische und gestaltende Landschaftsbestandteile. Der Naturschutz wollte dies verhindern und fand damit in der städtischen Gesellschaft rasch viel Zustimmung. Sie hatte aber keine klaren Vorstellungen darüber, welche Art und Intensität der – für die Nahrungsversorgung unverzichtbaren – Landnutzung mit Naturschutz vereinbar war. Außerdem enthält „Schutz“ die Erwartung, dass das Geschützte unverändert bleiben würde. Die der Natur innewohnende Veränderungs- oder Entwicklungstendenz, in der nichts beständig ist, war damals kaum bekannt und bewirkte eine statische Einstellung zur Natur, an welcher der Naturschutz trotz späterer wissenschaftlicher Erkenntnisse über Evolution und Sukzession bis heute festhält. Die Popularität der Naturschutzidee verschaffte ihr in kurzer Zeit so viel politisches Gewicht, dass der Naturschutz schon 1906, zuerst in Preußen, zur Staatsaufgabe erhoben wurde.11 Aber die neuen staatlichen Naturschutzstellen erhielten im Vergleich zur personell und finanziell viel mächtigeren Landwirtschaftsverwaltung nur eine Minimalausstattung und keine Gesetzesgrundlage. Sie blieben daher ohne Einfluss auf die massiv weiter betriebene Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft. Daher musste sich der Naturschutz auf einzelne Schutzobjekte als „Naturdenkmale“ beschränken, für die er vor allem seltene und schöne Pflanzenund Tierarten und ihre Vorkommen auswählte. Hier liegt der Ursprung der für den Naturschutz bestimmend gebliebenen Artenschutzorientierung. Zugleich entstand ein neuer Konfliktherd mit den ländlichen Grundbesitzern, welche die naturschutzbedingten Einschränkungen ihrer Nutzungs- und Verfügungsrechte ohne Ausgleich nicht hinnehmen wollten. Im Hintergrund stand dabei die aus der städtischen Außensicht stammende Auffassung der Landschaft als öffentliches Gut.

IX. Naturschutz zwischen Weltkriegen und Diktaturen, Agrarpolitik und Umweltschutz Die Hungererfahrungen des Ersten Weltkriegs, der ohnehin viele Naturschutzaktivitäten zunichte gemacht hatte, stärkten den Primat der Landwirtschaft weiter. Zwar gab die Weimarer Republik von 1919 dem Naturschutz sogar den Rang eines Verfassungsziels, aber erst 1935 wurde ein deutschlandweites („Reichs“-)Naturschutzgesetz erlassen. Es sollte laut § 1 „dem Schutz und der Pflege der heimatlichen Natur in allen ihren Erscheinungen“ einschließlich der „Landschaft“ (§ 19) 11 Frohn, Hans-Werner / Schmoll, Friedemann (Bearbeiter): Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906 – 2006, Naturschutz und Biologische Vielfalt, Heft 35, Bonn 2006; Frohn, Hans-Werner: Naturschutz und Staat 1880 – 1976, in: Jetzt ist die Landschaft ein Katalog voller Wörter – Beiträge zur Sprache der Ökologie (= Heft 5 / 2007 der Reihe „Valerio“ der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt), hrsg. von Bernd Busch, Göttingen 2007, S. 34 – 41.

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dienen. Damit wurde der Naturschutz für die Kulturlandschaft zuständig. Der Widerspruch zwischen ihrer dynamischen Pflege und Entwicklung und einem statischen Schutz der „Natur“ wurde aber nicht erkannt. Dieser blieb weiter auf den Arten- und Gebietsschutz (mit einem erweiterten Naturdenkmal-Ansatz) ausgerichtet, dem die Einzelbestimmungen des Gesetzes galten. Das autarkieorientierte nationalsozialistische Regime förderte entgegen dem Gesetz erneut die Landwirtschaft: Es setzte z. B. den Reichsarbeitsdienst zur Urbarmachung der letzten nordwestdeutschen Moore ein, und auf den artenreichen Bergwiesen der Rhön ließ es Bauernhöfe errichten. Die dem Naturschutz innewohnende Heimatliebe und Landverbundenheit nützte das Regime bedenkenlos für seine perverse rassistische „Blut und Boden“-Ideologie aus. Kurz danach brachte der Zweite Weltkrieg dem Natur- und Landschaftsschutz wiederum erhebliche Rückschläge, und in der Wiederaufbauzeit fand er, obwohl das Naturschutzgesetz weiter galt, keine große Beachtung, zumal seine Verfechter und Träger unter den geänderten politischen Bedingungen des nunmehr geteilten Landes ihre Rolle neu bestimmen mussten. Sein Hauptgegenspieler, die Landwirtschaft, ging aber ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg infolge der Erfahrungen der Versorgungsmängel und -nöte in Ansehen und Aktivitäten gestärkt aus der Katastrophe hervor. Erneut erhielt sie umfangreiche staatliche Stützung und Förderung, dieses Mal aber – weit über die Beseitigung der Kriegsfolgen hinaus – mit einem bisher nicht gekannten, konzentriert administrativ-organisatorischen Aufwand. Eine neue Welle umwälzender, alle bisherigen Maßstäbe sprengender Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft veränderte in beiden deutschen Staaten ungeachtet der gegensätzlichen politischen Systeme in nur wenigen Jahrzehnten unter Einsatz aller technischen, chemischen und biologischen Mittel die überkommene Struktur und das Erscheinungsbild der Agrarlandschaft grundlegend und weithin irreversibel. Kennzeichnende Schlagworte sind Maschinisierung, Chemisierung, Technisierung, Aufgabe der kleineren Bauernhöfe und weitere „Landflucht“, Flurbereinigung, Wege- und Gewässerausbau, weitere Vereinheitlichung der Acker- und Grünlandwirtschaft.12 Die Zuständigkeit für die Agrarpolitik ging immer mehr in übernationale Verantwortung über, im Westen auf die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw. Union (EU), im Osten, also für die DDR, auf den sozialistischen Block, der eine Verstaatlichung der Landwirtschaft mit Großbetrieben, riesigen Feldern und Massentierhaltungen betrieb. In der EG blieben die Bauernhöfe zwar eigenständig, gerieten aber in wachsende Abhängigkeit von staatlichen Stützungs- und Fördergeldern. Der Naturschutz war gegen diese Entwicklung im ländlichen Raum weitgehend machtlos. In den weniger produktiven, für die Intensivierung ungeeigneten Gebieten konnten durch private Initiative zwar viele Naturparke entstehen, die aber mehr dem ländlichen Tourismus als dem Naturschutz dienten. Doch die landwirtschaftliche Intensivierung und Vereinheitlichung führten zu zunehmenden Umweltschä12

Schlosser: Ländliche Entwicklung im Wandel der Zeit (siehe Fußnote 9).

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den: Belastungen des Grundwassers, der Flüsse und Seen durch überschüssige Nährstoffe und Pestizide, Ammoniak-Einträge in die Luft aus der Gülledüngung, zunehmende Erosion und Verdichtung der Ackerböden. Sie motivierten aber nicht den Naturschutz, sondern brachten in den 1960er-Jahren den Umweltschutz hervor, wobei „Umwelt“ in erster Linie auf die Menschen, ihre Gesundheit und Ernährung und weniger auf die Natur bezogen war. Die Öffentlichkeit schenkte diesen Umweltgefährdungen mehr Aufmerksamkeit als dem – gleichfalls von landwirtschaftlichen Intensivierungen verursachten – verstärkten weiteren Schwund von naturbetonten Biotopen und von vielen freilebenden Pflanzen- und Tierarten. Umweltschutz wurde zum Konkurrenten des Naturschutzes. Die schon traditionelle Privilegierung der Landwirtschaft gegenüber dem Naturschutz setzte sich fort. In den seit den 1970er-Jahren novellierten Naturschutzgesetzen setzte die Agrarpolitik sog. Landwirtschaftsklauseln durch, nach denen eine (nicht definierte) „ordnungsgemäße“ Landwirtschaft nicht als Eingriff in Natur und Landschaft galt und ihre Intensivierung fortsetzen konnte.13 Erst 1998 wurden diese Klauseln aufgehoben. Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) von 1976 brachte zwar eine Stärkung und Verbesserung des Naturschutzes, die in der Praxis jedoch – nicht nur wegen der Landwirtschaftsklauseln – hinter den Erwartungen zurückblieb. Nach § 1 unterteilte das Gesetz ihn in die vier Einzelziele (Wortlaut nach der novellierten Fassung von 2002): 1. Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts, 2. Regenerationsfähigkeit und nachhaltige Nutzungsfähigkeit der Naturgüter, 3. Tier- und Pflanzenwelt einschließlich ihrer Lebensstätten und Lebensräume, 4. Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie Erholungswert von Natur und Landschaft, die zu schützen, pflegen, entwickeln und wenn nötig wiederherzustellen sind. In der Konkurrenz dieser Ziele setzte sich wiederum das Ziel Nr. 3 als Naturschutz „im engeren Sinne“ durch, jetzt noch verstärkt durch die Erkenntnis, dass immer mehr Arten, auch weltweit, bedroht sind oder gar aussterben, und zwar vor allem durch die Ausweitung und Intensivierung der Landnutzung – also auch gegen Ziel Nr. 4.

X. Der Siegeszug der Biologischen Vielfalt (Biodiversität) Diese auch emotional aufwühlende Erkenntnis führte 1992 zu internationalen Gegenmaßnahmen. Die Vereinten Nationen beschlossen eine Konvention über Biologische Vielfalt, definiert als genetische, Arten- und Ökosystemvielfalt, um sie zu 13 Haber, Wolfgang: Naturschutz in der Landwirtschaft, in: Zwischen Wissenschaft und Politik – 35 Jahre Gutachtenarbeit des Sachverständigenrats für Umweltfragen, hrsg. von Christian Hey und Hans-Joachim Koch, Berlin 2009, S. 143 – 152.

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schützen, zu nutzen und die daraus erzielten Gewinne gerecht zu verteilen.14 Die EU erließ die „Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen“ (FFH-Richtlinie), die den Schutz von für die EU bedeutsamen Arten und Lebensräumen (also nicht der gesamten biologischen Vielfalt) vorschreibt.15 Die Arthabitate und Lebensräume werden zu einem Netzwerk „Natura 2000“ verknüpft. Sie gehen von rein ökologischen Befunden ohne Berücksichtigung von Landnutzungen oder Grundeigentum aus und durchbrachen damit erstmalig den bisherigen Vorrang der Landwirtschaft. Heftiger Widerstand der Grundbesitzer und Landnutzer war die Folge, was die Gegensätze zwischen Landwirtschaft und Naturschutz weiter verschärfte. Andererseits hatte die EU-Agrarpolitik, ebenfalls 1992, aber ohne Abstimmung mit der FFH-Richtlinie, in einer grundsätzlichen Reform ihre bisherige einseitige, umweltbelastende und immer teurer werdende Förderung der Produktion aufgegeben und um eine Agrarumweltpolitik erweitert, welche die Gegensätze zu mildern begann. Biodiversitätskonvention und FFH-Richtlinie werden gegenüber der für den starken Artenrückgang hoch sensibilisierten Öffentlichkeit vor allem mit Argumenten zur Erhaltung hoher Artenvielfalt und großer Artenzahlen verfochten. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die zu diesem Zweck geschaffenen Schutzflächen oder -gebiete einschließlich des Natura 2000-Netzwerks in eine hauptsächlich aus Nutzflächen zusammengesetzte Kulturlandschaft eingebettet sind, in der sie sich „behaupten“ müssen und von der sie auch abhängen. Die Nutzflächen sind jedoch durch die landwirtschaftliche Modernisierung immer größer und einheitlicher geworden und drohen damit nicht nur den Wert der Kulturlandschaft herabzusetzen, sondern auch den Zustand der Schutzflächen zu verschlechtern. Erhaltung und Förderung der Artenvielfalt erfordern daher, dass auch die sie umgebenden Nutzflächen in Ausmaß, Verteilung und Nutzintensität wieder in das Vielfaltsprinzip einbezogen werden, ohne damit einer rationellen Landnutzung zu widersprechen. Die Kulturlandschaft kann ja nicht zwecks Erhaltung von Artenvielfalt in einen großen zoologischen und botanischen Garten umgewandelt werden. Artenvielfalt ist heute ein wertgebendes Kennzeichen der Kulturlandschaft, und beide sind als wertvolle Bestandteile eines guten menschlichen Lebens anerkannt. Doch die Artenvielfalt in Mitteleuropa ist schon seit fast 250 Jahren, und seit Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt und dann auch weltweit, dramatisch zurückgegangen und muss nun sowohl einen sicheren Platz in der Kulturlandschaft erhalten als auch wieder erhöht werden. Dies ist an zwei Voraussetzungen gebunden: an die Verfügbarkeit von Land und an das Ausmaß der Artenvielfalt. Land ist eine nicht vermehrbare, aber ständig stärker nachgefragte und beanspruchte Ressource. Weil die Zahl und die Ansprüche der Menschen steigen, neh14 Haber, Wolfgang: Biologische Vielfalt zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: Denkanstöße 7 / 2009 (Biodiversität), S. 16 – 34. 15 Haber, Wolfgang: Zur Problematik europäischer Naturschutz-Richtlinien, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt 72 / 2007, S. 95 – 110.

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men Ausdehnung und Intensität der Landnutzungen zu, und das kann letztlich nur auf Kosten der Artenvielfalt gehen. Doch Land ist in sich ebenfalls vielfältig und daher für menschliche Zwecke unterschiedlich geeignet – hier besser für ein Weizen- oder Energiepflanzenfeld, dort eher für einen artenreichen Magerrasen. Davon muss bei den Zweckzuweisungen an das Land ausgegangen werden. Aber diese sind ihrerseits wieder verschiedenartig, vor allem auch in ihren gesellschaftlichen Prioritäten, und diese hängen wieder von den jeweiligen Lebensumständen oder Befindlichkeiten einer Gesellschaft ab. Naturschutz ist nun einmal vom Wohlstand abhängig. Fehlt oder sinkt er, dann erhält die Landnutzung als Wirtschafts- und Ernährungsgrundlage und aus sozialen Antrieben Vorrang. Bei Artenzahl und -vielfalt wissen wir weder etwas über Umfang und Grenzen noch über ihren „Bedarf“ oder alle sie bestimmenden Einflussfaktoren. Wir kennen ihre Brennpunkte (hot spots), aber nicht einmal die Wissenschaft kann ermitteln, welches Maß an Verminderung der Artenvielfalt lebensbedrohlich ist, wie viel wir davon brauchen und wie sie zusammengesetzt sein muss. Hinzu kommt, dass der Wert von Arten aus ökologischer wie aus gesellschaftlicher Sicht ganz verschieden beurteilt wird und wissenschaftlich nicht einmal genau erfasst werden kann.16 „Charismatische“, emotional bewegende Arten wie Wölfe, Bären, Adler oder Störche, alte Eichen oder Frauenschuh-Orchideen sind gegenüber Feldhamstern oder Fledermäusen bevorzugt – ganz zu schweigen von unscheinbaren, wenig bekannten „niederen“ Tier- und Pflanzenarten, von denen viele aber für die Funktion des Naturhaushalts unentbehrlich sind und wirklich gebraucht werden. Es besteht für die Artenvielfalt also ein fundamentaler Unterschied zu Land oder Klima. Bei beiden kann man eine zahlenmäßige Gefahrenschwelle angeben, deren Unter- oder Überschreitung zu vermeiden ist (Fläche pro Kopf, Grad der Erwärmung). Daher fühlen sich die Menschen mehrheitlich von Landverlust oder Klimawandel viel stärker bedroht als vom Schwund der Arten, den sie eher beklagen als wirklich fürchten. Das städtische Naturbild und sein landschaftlicher Blick sind mit wachsender Distanz zur ländlichen Natur sehr einseitig geworden. Die „Dienstleistung“ eines Getreidefelds, nämlich Lieferung der wichtigsten menschlichen Nahrungsgrundlage, zählt offenbar weniger als die Bedeutung der das Feld umgebenden Hecke für die Artenvielfalt oder für die biologische Schädlingsbekämpfung. Natur wird also auf freilebende Pflanzen- und Tierarten und ihre Biotope beschränkt. Selbst ein sich als „angewandte Ökologie“ bezeichnender Naturschutz scheint auszublenden, dass Landwirtschaft, auch wenn sie ökonomisch beherrscht und betrieben wird, ein elementares ökologisches Bedürfnis erfüllt. Geschieht dies unzureichend, schwindet auch die Bereitschaft zum Naturschutz.

16 Scherner, Erwin Rudolf: Realität oder Realsatire der „Bewertung“ von Organismen und Flächen, in: Schriftenreihe für Landschaftspflege und Naturschutz 43 / 1995 (Biologische Daten für die Planung – Auswertung, Aufbereitung und Flächenbewertung), S. 377 – 410.

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XI. Differenzierte Landnutzung zur Verwirklichung von „Ein jedes nach seiner Art“ Es gibt jedoch einen Ausweg aus diesen Dilemmata, die ich schon lange vor der heutigen Zuspitzung der Situation voraussah und mich bereits 1971 zu dem Konzept der „Differenzierten Landnutzung“ (DLN) veranlasst haben. Es kombiniert in den landwirtschaftlichen Produktionsgebieten Nutzungsvielfalt in Form begrenzter Feldgrößen und obligatorischen Fruchtwechsels mit einem Biotopverbund, für den durchschnittlich mindestens 10% der Fläche zu reservieren sind.17 Dazu wird das verfügbare Land nach Zweck und Eignung gemäß dem Vielfaltsprinzip neu eingeteilt, wie es seit langem in der Flurbereinigung bzw. ländlichen Neuordnung unter Wahrung von Besitz- oder Nutzrechten, wenn auch mit anderen Zielen, geschieht. Wenn die Felder mit Rainen oder Hecken eingefasst werden, die ein (ungleichmaschiges) Netzwerk bilden, ferner von Teichen, Bächen oder Gräben (mit Pufferstreifen) durchsetzt sind, kann in solchen Biotopen auch in Produktionsgebieten eine gewisse Vielfalt von Pflanzen und Tieren existieren, und die strukturelle Vielfalt dieser Elemente bereichert nicht nur die Kulturlandschaft, sondern macht sie erst zu einer solchen. Die weniger für Produktion geeigneten Standorte sind für großflächige Schutzgebiete, Natur- oder Nationalparke zu reservieren. Jede Landnutzung, vor allem die existenziell wichtige land- und forstwirtschaftliche Nutzung, ist, wie bereits in den Abschnitten davor ausführlich dargelegt, auf Schaffung möglichst rationeller, d. h. gleichmäßiger, die Vielfalt mindernde Bewirtschaftungsbedingungen ausgerichtet. Dieser grundsätzliche Nachteil kann aber durch Vielfalt von Nutzungen und Intensitäten mittels DLN nachhaltig aufgewogen werden. Sie kann technisch-rational, sozioökonomisch geprägte Entscheidungen über Land- oder Flächennutzung auch mit Gestaltqualitäten und ästhetischen Gesichtspunkten verbinden, um bei allem ökonomischen Nutzen auch eine ganzheitliche „Landschaftskultur“ hervorzubringen. Was im modernen Industrie- und Städtebau an Gestaltung möglich ist, kann auch in der Landnutzung geschehen. Vom alleinigen Festhalten an den Vorbildern der Vergangenheit mit der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft muss sich die Landschaftsgestaltung freilich lösen. Sie wird immer zwei Gesichter haben, von denen eines zum „Künstlichen“, das andere zum Naturbetonten weist. Seit seinem Bekanntwerden ist das DLN-Konzept von vielen Beratungsinstanzen der Umwelt und Raumordnung und auch von Agrar- und Naturschutz-Fachleuten 17 Haber, Wolfgang: Landschaftspflege durch differenzierte Bodennutzung, in: Bayerisches Landwirtschaftliches Jahrbuch, Sonderheft 1 / 1971, S. 19 – 35; ders.: Grundzüge einer ökologischen Theorie der Landnutzungsplanung, in: Innere Kolonisation 24 / 1972, S. 294 – 298; ders.: Das Konzept der differenzierten Landnutzung – Grundlage für Naturschutz und nachhaltige Naturnutzung, in: Ziele des Naturschutzes und einer nachhaltigen Naturnutzung in Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), Bonn 1998, S. 57 – 64; ders.: Nutzungsdiversität als Mittel zur Erhaltung von Biodiversität, in: Berichte der ANL 22 / 2000, S. 71 – 76.

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immer wieder befürwortet und empfohlen worden, wurde aber von Agrarpolitik und Landwirtschaft bisher nicht aufgegriffen. Andere Wissenschaftler haben es ergänzt, so Erz, der die unterschiedlichen Flächenzuweisungen für den Umgang mit Land und Natur in seinem bekannten Dreiecksschema veranschaulichte.18 Auch Plachter und Reich greifen darauf zurück, die für die Vielfalt der Natur und der unterschiedlichen Landschaftsgestaltungen sechs Landschaftsleitbilder vorstellten.19 Ringler hat es zum Bestandteil seines wegweisenden Landschaftspflegekonzepts für Bayern gemacht.20 Wegener hat ein ganzes Buch über Naturschutz in der Kulturlandschaft sowie Schutz und Pflege von Lebensräumen herausgegeben.21 Das DLN-Konzept eignet sich optimal zur Umsetzung des Mottos „Ein jedes nach seiner Art“. Freilich darf sich nach meiner Überzeugung „Ein jedes“ und „Art“ nicht nur auf die Vielfalt der freilebenden Pflanzen und Tiere mit ihren Biotopen beziehen, sondern muss auch Eigenart, Lebensart, Art und Weise, beteiligte Menschen als Befürworter und Gegner einbeziehen. Ein Weizen- oder Maisfeld ist Bestandteil der Kulturlandschaft und damit ihrer Vielfalt, kann aber selbst nur sehr begrenzt Artenvielfalt verkörpern, weil dies nicht seine Funktion ist. Auch der Landwirt, der das Feld nutzt und daraus Einkommen erwirtschaftet, gehört zur Kulturlandschaft, in der die Bauern zu den eher abnehmenden „Arten“ gehören. Er verdient daher Schutz „nach seiner Art“, und dafür sorgt die Agrarpolitik. Die Agrarumweltpolitik kann ihn, wenn sie sich für die Kulturlandschaft einsetzt und mit dem Naturschutz zusammenarbeitet, auch zur Erhaltung der Artenvielfalt im Sinne der Biodiversitätskonvention und von Natura 2000 verpflichten und aus ihren reichen Geldmitteln dafür honorieren. Das geschah bis Ende 2008 noch unzureichend. In allen grundsätzlichen Konfliktsituationen wird sich die in unserer demokratisch-liberalen Gesellschaftsordnung maßgebende Mehrheit der Menschen weiterhin mehr für die Nutzung als für den Schutz der Natur entscheiden. Wenn der Schutz der Natur aber durch Differenzierung oder Diversifizierung der Nutzung in einem notwendigen Umfang, wenn auch regional verschieden, gewährleistet werden kann, dürfte dem Motto „Ein jedes nach seiner Art“ entsprochen sein. Dynamik von Natur und Mensch bedingen einander. 18 Erz, Wolfgang: Naturschutz. Grundlagen, Probleme und Praxis, in: Handbuch für Planung, Gestaltung und Schutz der Umwelt, Band 3, hrsg. von Konrad Buchwald und Wolfgang Engelhardt, München 1980, S. 560 – 637. 19 Plachter, Harald / Reich, Michael: Großflächige Schutz- und Vorrangräume: Eine neue Strategie des Naturschutzes in Kulturlandschaften, in: Veröffentlichungen des Projekts Angewandte Ökologie (PAÖ) 8 / 1994, S. 17 – 43. 20 Ringler, Alfred: Einführung. Ziele der Landschaftspflege in Bayern, in: Landschaftspflegekonzept Bayern, Band 1, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen und von der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege, München / Laufen 1995. 21 Wegener, Uwe (Hrsg.): Naturschutz in der Kulturlandschaft. Schutz und Pflege von Lebensräumen, Stuttgart 1998.

Lebensgemeinschaft Mensch, Tier und Pflanze – Ein Plädoyer für die Erhaltung der Biodiversität Von Ludwig Sothmann

Das Beziehungsdreieck Mensch, Tier und Pflanze braucht als integralen Bestandteil das Biotop, den Lebensraum, um als Lebensgemeinschaft Bestand und Zukunft zu haben. Für diese Zukunft müssen wir arbeiten. Wir müssen sie entschlossen gestalten und in die Hand nehmen, um ein Überleben der Arten und Lebensräume – auch um ihrer selbst willen – und um eine erlebniswerte Zukunft für kommende Generationen möglich zu machen. Denn wir heutigen Menschen sind zwei epochalen Herausforderungen, zwei miteinander in Beziehung stehenden, von Menschen gemachten Noxen ausgesetzt, die das Leben auf dem Blauen Planeten radikal verändern und gefährden werden: der Klimaerwärmung und dem Verlust an Biodiversität. Wir haben es verlernt, im Einklang mit den natürlichen Systemen zu leben, wir haben über viele Jahrzehnte die Erde als mehr oder weniger unbegrenzte Verfügungsmasse für die Expansion unserer Ansprüche benutzt. Wir haben dabei die Regenerationskraft der Erde weit überschritten, weil wir ihre natürlichen Belastungsgrenzen nicht beachtet haben. Mit dem Klimawandel und dem Verlust an natürlicher und züchterischer Vielfalt, mit der Gefährdung und Zerstörung zahlreicher charakteristischer Lebensräume stehen uns massive sozioökonomische und ökologische Verwerfungen bevor, wenn es nicht gelingt umzusteuern, Schöpfungsverantwortung zu leben. Denn wir alle wissen, ohne die natürliche Vielfalt der Arten und Lebensräume gäbe es uns nicht. Das heißt, die Entwicklung der Menschheit war und ist existenziell abhängig von der Vielfalt der Arten und ihrer Nutzung durch uns. Das klingt banal, aber wir handeln nicht danach. Deshalb erscheint es notwendig, immer wieder daran zu erinnern, was trotz aller Fixierung auf wirtschaftliche Parameter unsere wahren Lebensgrundlagen sind. Diese essenziellen Faktoren menschlichen Lebens sind die Ressourcen, die uns die Natur als Lebensräume und nach langen evolutiven Prozessen als Arten zur Verfügung stellt. Wir haben immer nur einen kleinen Teil dieser Biodiversität genutzt. Der Rest war solange unwichtige Verfügungsmasse, bis er knapp wurde und die menschliche Expansion und Entwicklung gebremst hat oder neue Entdeckungen neue Nutzungsmöglichkeiten erschlossen haben. In dieser traditionellen, utilitaristischen, aber beschränkten Wahrnehmung der Biodiversität durch die Menschheit liegt eine der Schwierigkeiten, größere gesellschaftliche Akzeptanz für das Ziel herzustellen, die Vielfalt an Arten und Lebens-

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räumen zu erhalten. Die Potenziale der Biodiversität sowie die unersetzbaren Ökosystemleistungen für Kultur, Entwicklung, Zivilisation und Lebensqualität gilt es zu vermitteln und zu erhalten. Nachhaltige Lebens- und Nutzungsformen müssen als zukunftsfähiges Politikprinzip etabliert werden. Eine solche Strategie ist ohne den Erhalt der natürlichen Vielfalt nicht tragfähig.

I. Grundlage des Lebens: Biodiversität Wir leben an der Schwelle zu einem Zeitalter der Biologie, in dem die Biowissenschaften und die Biotechnologie die entscheidenden Schlüsselfunktionen für Entwicklung und Wohlfahrt der Gesellschaft haben werden. Und trotzdem ist es unglaublich schwierig – man denke nur an Natura 2000 oder die wenig konkreten Beschlüsse der CBD-Konferenz (9. UN-Konferenz zur Biologischen Vielfalt) im Mai 2008 in Bonn –, die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Umgang mit der natürlichen Vielfalt zu schaffen. Der Biodiversität als Wert, der die Weltgemeinschaft trägt, fehlt noch weitgehend die Anerkennung. Dies muss sich ändern, und dies wird sich auch ändern. Die aktuellen Probleme wie Klimaänderung und die Verknappung traditioneller Ressourcen, allen voran die der Grundnahrungsmittel, einschließlich des trinkbaren Wassers, denen sich die Gesellschaft derzeit stellen muss, werden mithelfen, die Akzeptanz zu schaffen bzw. die Notwendigkeit verständlich werden zu lassen, dass wir ohne die Sicherung der Biodiversität nicht menschenwürdig leben und langfristig nicht überleben können. Dazu sind erhebliche Anstrengungen nötig. Zukunftssicherung muss eine Querschnittsaufgabe sein, und sie kostet Geld. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die man aber im Naturschutz, in der Biodiversitätssicherung erst durchsetzen muss, zumal die bekannten Nutzergruppen solchen Entwicklungen eher Widerstände entgegenbringen. Als Beispiel sei die Diskussion der Ausgleichs- und Ersatzregelung seit Mitte 2008 im Rahmen der Formulierung des Umwelt-Gesetz-Buches (UGB) genannt. Diese Widerstände existieren, obwohl derzeit dramatische Veränderungen stattfinden, die einfach ablaufen zu lassen in hohem Maße selbstzerstörerische Qualität für kommende Generationen hätte. Zu nennen ist da das globale Bevölkerungswachstum mit weiterem Flächenund Nahrungsbedarf sowie der Entwicklungsboom in den Schwellenländern mit verändertem Konsumverhalten – unserem Standard angenähert – und daher mit massiven Auswirkungen auf Umwelt und Nachhaltigkeit.

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II. Leben ist langfristig nur innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen dieser Erde möglich Bei uns im Land hat der Flächenverbrauch allen politischen Erklärungen und wohlklingenden Pakten zum Trotz wieder zugenommen. Die Fraktion der problemresistenten „Weiter-so- Ideologen“ meint, bayerische Identität definiere sich über die PS-starken Automobile aus München oder Ingolstadt und glaubt, mit einer gewissen Bio-Treibstoffzugabe langfristig tragbare Lösungen zur Klimaproblematik und zur naturverträglicheren Mobilität gefunden zu haben. Da ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland bis vor kurzem nachwachsende Rohstoffe viel zu unkritisch gesehen wurden. Der Landwirt als Energiewirt galt und gilt ohne geregelte Orientierung am Gemeinwohl als positive Option für die Zukunft. Das alles heißt doch, dass wir endlich ernst damit machen müssen, die Entwicklung unserer Zivilisation innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen dieses Planeten neu zu organisieren. Nur so können wir beispielsweise die anstehende globale Nahrungsmittelkrise lösen. Es ist bekannt, dass gegenwärtig durch menschliches Handeln wildlebende Arten, aber auch Nutztierrassen und Kulturpflanzensorten mit sich beschleunigender Tendenz aussterben. Das Dramatische an dieser Situation ist die derzeitige Geschwindigkeit des Artensterbens, die in einem hundert- bis tausendfach schnelleren Tempo abläuft als in den natürlichen Prozessen des Werdens und Vergehens. Für eine erlebenswerte Zukunft von uns und unseren Kindern ist eine Strategie zur Sicherung der Biodiversität ohne Alternative. Eine solche Strategie gilt es durchzusetzen und in breitem Umfang umzusetzen. Weil wir dabei möglichst viele Menschen mitnehmen wollen, muss klar sein, warum.

III. Soziale und ethische Gründe sprechen für die Biodiversität Die Bürger reagieren in der Zwischenzeit sensibler auf Vorgänge, die sich in ihrem Umfeld vollziehen. Es fällt auf, dass in vielen Regionen durch Nutzungsintensivierung und Anbau nachwachsender Rohstoffe der Verlust an landschaftlicher Schönheit fortschreitet. Dieser Vorgang ist nicht ohne Auswirkung auf unsere Lebensqualität, unsere Empfindungen und er hat letztlich auch wirtschaftliche Bedeutung. Natürlich wollen wir keine museale Landwirtschaft. Es ist aber wenig sinnvoll, in einem Hochlohnland wie der Bundesrepublik eine Primärproduktion wie die Landwirtschaft schwerpunktmäßig am Weltmarkt auszurichten. Dabei muss Strukturvielfalt genauso auf der Strecke bleiben wie Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Wir brauchen vielmehr eine Landnutzung, die ganz wesentlich dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Wenn man bedenkt, dass sich die Einkommen in der Landwirtschaft zu deutlich über 60 % aus Subventionen der Steuerzahler ergeben, ist dies

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keine unbillige Forderung, zumal eine reich strukturierte, ästhetische Kulturlandschaft eine Ressource von hohem Rang darstellt, die zu ganz wesentlichen Teilen die sogenannten weichen Standortfaktoren mitbestimmt. Der multifunktionalen Landwirtschaft muss also die Zukunft gehören und sie muss den daran teilnehmenden Landwirten ein sicheres Auskommen garantieren. Alle Menschen brauchen positive Naturerfahrung, um psychisch gesund zu bleiben, ihre soziale und kreative Kompetenz zu stärken und um Aggressionen abzubauen. Wir müssen in der Landschaft regionale Identität erleben können, um Verbundenheit mit Natur und Landschaft zu entwickeln, aus der wiederum Verantwortung für die uns anvertraute Schöpfung wächst. Die Ressource Kulturlandschaft ist Voraussetzung für naturnahen, nachhaltigen Tourismus und bedingt damit einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor in Bayern, der – Tourismus allgemein – mit einem Umsatz von 24 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche schlägt, aber in hohem Maße von landschaftlicher Qualität abhängig ist. Kein Mensch kann sich entspannen oder will Urlaub machen, wo er möglicherweise noch eingehüllt in Güllewolken zwischen kilometerlangen Raps- und Maisschlägen spazieren gehen soll. Es muss daher unser Ziel sein, den Gemeinwohlwert, besonders des Offenlandes, zu erhöhen. Dazu müssen fachliche Vorgaben entwickelt werden, deren Umsetzung über eine entsprechende Modulation der Fördermittel attraktiv gemacht werden muss. So kann letztlich dem in unserer Verfassung verankerten, mehr philosophischen Ansatz, die biologische Vielfalt aufgrund ihres eigenen Wertes, also aus ethischen Gründen zu erhalten, besser Rechnung getragen werden.

IV. Ökologische Gründe Wir alle leben von den Leistungen unserer natürlichen Systeme. Das heißt, wir müssen schon aus Gründen der Zukunftssicherung und der Entwicklungsmöglichkeiten kommender Generationen versuchen, intakte Öko-Systeme zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Nach Jahrzehnten der Naturzerstörung und Veränderung ist das keine leichte Aufgabe. Diese weltweite Herausforderung konkretisiert sich bei uns in der Sicherung möglichst aller charakteristischen mitteleuropäischen Arten und Lebensräume, auch wenn ihre Funktion im Naturhaushalt oder ihr Nutzen für die Menschheit noch nicht bekannt ist. Wir tragen ausschließlich die Verantwortung dafür, dass die Arten, die hier bei uns den Schwerpunkt ihrer weltweiten Verbreitung haben, sicher überleben können. Das trifft besonders für die von der dominierenden Primärvegetation unseres Landes, den verschiedenen Buchenwaldlebensgemeinschaften abhängigen Formen zu. Verantwortung haben wir natürlich für alle Endemiten wie das Bayerische Löffelkraut, die Bayerische Quellschnecke oder das Bodenseevergissmeinnicht, aber auch für Arten wie Rotmilan, Sommergoldhähnchen, Sumpfmeise, Mittelspecht, Misteldrossel oder Ringeltaube, die jeweils mit mehr als 20 % ihres welt- bzw. europäischen Bestandes in Deutschland leben.

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Die globale Erwärmung setzt der natürlichen Vielfalt massiv zu. Immer öfter werden Arten und Gemeinschaften durch Arealverschiebung nicht schnell genug oder aus Gründen des Reliefs nicht weiter nach oben ausweichen können. Allgemein gilt, je höher die genetische Vielfalt innerhalb der Arten ist, umso eher können diese sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Anfang des Jahres 2008 ist in Brüssel der von Huntley, Green und Mitarbeitern erarbeitete Klimaatlas der Europäischen Brutvögel vorgestellt worden. Die Wissenschaftler haben, auf Klimamodellen aufbauend, ein Szenario erarbeitet, wie die Vogelwelt Ende dieses Jahrhunderts aussehen könnte. Die Studie sagt voraus, dass sich bei einer Erwärmung um 2 – 2,5 °C bis 2100 die Brutgebiete durchschnittlich um 550 Kilometer nach Nordosten verschieben werden und die Bestände um mindestens 20 % abnehmen. Manche Arten überleben diese Veränderungen, verbunden mit anderen Gefährdungsfaktoren vermutlich nicht. Die Studie betont, dass das Schutzgebietssystem Natura 2000 gegenwärtig der wichtigste Baustein ist, diese dramatische Entwicklung abzupuffern, vorausgesetzt, dass diese Gebiete besser geschützt, besser gemanagt und untereinander und mit anderen Schutzgebieten besser vernetzt werden – übrigens ein wichtiges Ziel der bayerischen Biodiversitätsstrategie. Vögel sind wohl die mobilsten Arten überhaupt und können auf Veränderungen besser reagieren als andere. Anders als bei den Vögeln haben Chris Thomas und Kollegen in einer im Fachjournal Nature vorgelegten Studie hochgerechnet, dass bis zum Jahre 2050 insgesamt 15 – 37% aller Pflanzen- und Tierarten, bedingt durch den Klimawandel, aussterben könnten. Diese Prozesse lassen sich nicht einfach heilen, aber hohe genetische Vielfalt innerhalb der Arten kann die Schadwirkung abpuffern.

V. Ökonomische Gründe zur Sicherung der Biodiversität Der Verlust an Biodiversität trifft uns alle. Das gilt für die natürliche Vielfalt ebenso wie für die durch klassische Züchtungen entstandene Rassen- und Sortenvielfalt, die letztlich auch ein Spiegel unserer Kultur ist. Die Food and Agriculture Organisation der UN (FAO) sieht in der genetischen Erosion von Nutzarten ein gravierendes Problem für die Zukunft der Menschheit. Im Bericht „Tiergenetische Ressourcen“ wird diese gefährliche Entwicklung mit Zahlen unterlegt. 7.616 verschiedene Schweine-, Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelrassen wurden untersucht. 20 % davon stehen direkt vor dem Aussterben, zwei Drittel sind ausschließlich lokale Rassen mit hoher genetischer Anpassung an die entsprechenden Naturräume, aber ohne große Überlebenschancen. Durch die Konzentration auf wenige Nutzarten sind wir dabei, dieses „Grüne Gold der Gene“ leichtfertig zu verspielen. Je industrialisierter, je massenfixierter Landwirtschaft betrieben wird, umso weiter ist dieser Verarmungsprozess fortgeschritten. Hochleistungsrassen sind global

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auf dem Vormarsch. Nur 15 Tierrassen machen weltweit 90 % aller Nutztiere aus. Die Eignung für eine bestimmte Region wird nicht mehr züchterisch erreicht, sondern technisch durch Klimaanlagen, Bewässerungen, Kunstlicht, Kraftfutter, Antibiotika und Tranquilizer hergestellt. So ist es möglich, dass die Holsteiner Kuh in 128 Ländern der Erde verbreitet ist. 84 % aller in Deutschland gehaltenen Rinder gehören nur vier Rassen an, obwohl rund 100 Rinderrassen in Europa vorhanden wären. Das Verhängnisvolle daran ist, dass ausgestorbene Rassen für immer verlorengegangene Gene bedeuten, die für zukünftige Züchtungen und notwendige Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen wie z. B. der Klimawandel dringend gebraucht würden. Bei pflanzlichen Nutzsorten ist das Bild eher noch schlimmer. So sind in Indonesien zwischen 1985 und 2000 alleine 1500 lokal angepasste Reissorten ausgestorben. Bäuerliche Intelligenz hat uns an die jeweiligen Naturräume optimal angepasste Züchtungen geschenkt. So gibt es zahllose Kulturarten. Man spricht weltweit beim Weizen von 780.000 Sorten, davon sind über 3.000 klar beschrieben. Beim Reis sind es etwa 5.000 Sorten, beim Mais noch einmal deutlich mehr. Aber schon vor 20 Jahren wurde in Deutschland mehr als 60 % allen Winterweizens aus fünf Sorten produziert, die sich noch dazu aus dem gleichen Elternstamm ableiten. Die durch die Klimaerwärmung dringend notwendigen Möglichkeiten zur Anpassung an veränderte Umweltbedingungen oder neue Krankheitserreger nehmen drastisch ab, wenn diese Sortenvielfalt verlorengeht. Theoretisch gibt es beispielsweise 3.250 Apfelsorten. Von dieser Vielfalt ist selbst im guten Fachgeschäft kaum noch etwas zu finden.

VI. Biodiversität als Grundlage für die globale Arzneimittelversorgung Wir sind also mitten in einem dramatischen Prozess der Ausdünnung von Kulturarten, den es genauso einzubremsen gilt wie die Verarmung an wildlebenden Pflanzen und Tieren. Am einleuchtendsten lässt sich die auch materielle Bedeutung der Biodiversität für die Menschheit wohl an pharmazeutischen Wirkstoffen erklären, die zum Teil als reine Pflanzeninhaltsstoffe oder tierische Produkte, zumeist aber als Derivate im medizinischen Einsatz sind. Deutschland gehört in der Pharmaforschung und im Export von Arzneimitteln weltweit zu den großen Drei. Trotzdem beruhen rund 50 % der gebräuchlichen Medikamente bei uns auf Heilpflanzen bzw. deren Inhaltsstoffen. In Entwicklungsländern reicht dieser Anteil oft über 90 % hinaus. Der weltweite Umsatz pflanzlicher Arzneimittel liegt bei rund 20 Milliarden Dollar jährlich. Dass unter den aus pflanzlichen oder tierischen Grundstoffen entwickelten Arzneimitteln hochpotente, aus der modernen Medizin nicht wegzudenkende Medikamente sind, sei an einigen Beispielen erläutert.

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Mindestens jeder zehnte Erwachsene in Mitteleuropa hat heute erhöhte Cholesterinwerte bzw. ein ungutes HDL-LDL-Verhältnis. Vor 20 Jahren war dies eine klare Disposition für schwere Herz-Kreislauferkrankungen, möglicherweise für Schlaganfall und Herzinfarkt. Heute hat diese Krankheit viel von ihrem Schrecken verloren, weil sie mit Statinen effektiv behandelt werden kann, einer Wirkstoffklasse, die aus den Inhaltsstoffen des unscheinbaren Pilzes Aspergillus terreus entwickelt wurde. Zu den hochpotenten Arzneimitteln der modernen Medizin, die sich aus Wirkstoffen der Natur herleiten lassen, gehören beispielsweise die Taxole aus der pazifischen Eibe, die zu den potentesten Mitteln bei Ovarialkarzinom und metastasierendem Brustkrebs zählen. Die Wirkstoffe Vinblastin und Vincristin, beide wurden aus dem madagassischen Immergrün entwickelt, sind häufig verordnete Medikamente bei Leukämie im Kindesalter. Das Grundgerüst einer ganzen Stoffklasse von blutdrucksenkenden Mitteln mit Zusatzwirkung bei Herzinsuffizienz, die sogenannten Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer (ACE-Hemmer), leiten sich aus dem Gift einer brasilianischen Viper ab. Es gibt Immunsuppressiva, die in der Leber-Transplantationsmedizin erfolgreich eingesetzt werden und aus einem Pilz der Gruppe Tolypocla hergeleitet sind. Dass, vom Penizillin beginnend, sehr viele Antibiotika aus Pilzen oder pflanzlichen Wirkstoffen stammen, ist seit dem Thriller „Der dritte Mann“ schon fast Allgemeingut geworden. Spannende Entwicklungen stecken noch mitten in der Forschung. Ein Alkaloid aus dem Speichel eines Andenfrosches (Epipedobates) wirkt vermutlich 200 Mal stärker als Morphium und – so hofft man – ohne dessen atemdepressiver Nebenwirkung. Dies bedeutet eine völlig neue Perspektive in der Schmerztherapie. Mit dem Nervengift der Kegelschnecke könnte ein ähnlich starkes Schmerzmittel entwickelt werden. Als letztes Beispiel eine interessante Entwicklung, über die Mitte 2008 die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rubrik „Wissen“ berichtet hat. Mit den Fäden einer tropischen Radspinne ist man vielleicht bald in der Lage, abgerissene periphere Nervenbahnen bei Menschen wieder zu schließen und so Lähmungen zu heilen. Dazu pfropft man ein Stück eines Gefäßes, das mit diesen Spinnenfäden gestopft ist, auf den Nervenstumpf. Der Nerv beginnt zu wachsen und die Lücke zu schließen. Tierexperimente waren bereits erfolgreich.

VII. Große Potenziale für die Zukunft 5.000 Pflanzenarten wurden auf ihre pharmakologischen Wirkstoffe hin untersucht. Mindestens 25.000 – 40.000 Arten werden erhebliche Potenziale für Heilzwecke zugeordnet. Allein deswegen muss Biodiversität erhalten werden. Die Fäden der tropischen Radspinne haben zudem unglaubliche mechanische Eigenschaften. Sie lassen sich auf das 300-fache dehnen und sind fünfmal so reiß-

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fest wie ein Stahl gleicher Dicke. Kein Wunder, dass man an anderer Stelle versucht, mit entsprechenden Seidenproteinen, die man von Bakterien produzieren lässt, Fäden zu spinnen, um sie technisch einzusetzen. Dieses Beispiel leitet zu einem weiteren Nutzfeld der Biodiversität über, der Bionik. Diese boomende Entwicklung nützt Baupläne der Natur, um technische Probleme zu lösen oder vorhandene Lösungen zu verbessern. Das reicht von der Stabilität und dem aerodynamischen Zuschnitt von Flugzeugflügeln bis in den Bereich der Nanotechnologie, wenn es zum Beispiel um Beschichtungen von Werkstoffen geht, wobei man die abweisenden Effekte von Lotosblättern nachahmt. Anfang 2008 haben es Rußpartikelfilter für Dieselfahrzeuge zu ungewöhnlicher Aufmerksamkeit gebracht. Auch bei ihnen hat die Bionik, nämlich die Kleinstruktur bestimmter Vogelfedern bei der Entwicklung der Filterlamellen eine wichtige Rolle gespielt. Alles Gründe, auch für Menschen ohne Naturbezug, die Biodiversität und deren Nutzungsmöglichkeiten durch uns als Zukunftschance zu begreifen und sich deswegen für deren Schutz einzusetzen oder Schutzmaßnahmen wenigstens zu tolerieren. Diese sind dringend notwendig, allein wenn man bedenkt, dass 72,5 % der bei uns vorkommenden Lebensraumtypen gefährdet sind. Das ist die traurige Spitzenposition in Europa. Eigentlich sind wir durch die Biodiversitätskonvention, durch die Göteborgvereinbarung der EU zum Natur- und Artenschutz von 2001, die CBD-Arbeitsprogramme der Vertragsstaatenkonferenzen verpflichtet, die Vielfalt der Arten- und Lebensräume zu schützen, auch um sie nachhaltig nutzen zu können. Die Weltgemeinschaft ist im Wahrnehmen dieser Aufgabe, selbst nach der Bonner Konferenz, immer noch viel zu zurückhaltend.

VIII. Die bayerische Biodiversitätsstrategie Im Frühjahr 2007 hat das Bundesumweltministerium einen ersten Entwurf einer nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt in die Verbände-Anhörung gegeben. Innovativ wurden einzelne Lebensraumbereiche abgehandelt. Die Kapitel beginnen jeweils mit einer Vision für die Zukunft dieser Großbiotope, dann folgen konkrete Ziele, meistens innerhalb eines Zeithorizontes bis 2020, gelegentlich 2015 oder noch früher. Diese Ziele werden fachlich begründet und ergänzt durch einzelne Vorhaben, die angestrebt werden. Es werden Aktionsfelder benannt, Leuchtturmprojekte angesprochen (wie zum Beispiel das Grüne Band) und ein Organisationsmodell für die Berichterstattung, basierend auf Monitoring-Konzepten von Indikatorarten wird vorgeschlagen. Das Bundeskabinett hat diese Strategie am 7. November 2007 beschlossen. Qualität und Erfolg jeder Strategie misst sich am Umfang ihrer Zielerreichung. Erfolge stellen sich leichter ein, wenn der räumliche Rahmen überschaubar, das Aktionsfeld auch in verwaltungs- und abwicklungstechnischem Rahmen umsetzungsfreundlich bemessen ist. Es ist daher wahrscheinlich der nachhaltigste Erfolg

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der Regierungszeit des Ministerpräsidenten Dr. Beckstein, dass der bayerische Umweltminister Dr. Bernhard durch seine Naturschutzabteilung im Ministerium eine auf den Freistaat bezogene Biodiversitätsstrategie entwickelt hat. Sie wurde mit allen betroffenen Gruppen diskutiert. Es war das politische Geschick Bernhards, die Strategie ohne wesentliche Abstriche durch alle Anhörungen und Diskussionen gebracht zu haben. Sie wurde letztlich vom Kabinett einstimmig gebilligt und vom Ministerpräsidenten zusammen mit seinem Umweltminister am 1. April 2008 öffentlich vorgestellt. Dabei hat der Ministerpräsident betont, „dass es grob fahrlässig wäre, dem Rückgang der biologischen Vielfalt tatenlos zuzusehen und damit Zukunftschancen zu gefährden.“ Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist ein urchristlicher, urkonservativer Wert von höchster Gemeinwohlwirkung, aber auch von höchster Aktualität.

IX. Was ist geplant? Die Kernpunkte unserer bayerischen Biodiversitätsstrategie „Natur. Vielfalt. Bayern.“ sind anspruchsvoll. Sie sind eine Messlatte für die soziale und zukunftssichernde Kompetenz unserer Gesellschaft. Wir müssen alles daran setzen, die zeitlichen, qualitativen und quantitativen Vorgaben dieses Konzeptes zu erfüllen. Diese zukunftssichernde Gemeinschaftsaufgabe braucht Ideen, kostet aber auch Geld. Folgende Schritte sind geplant, die letztlich alle Investitionen für die Wohlfahrt unseres Landes und seiner Bürger sind: a) Bis zum Jahr 2020 sollen alle Arten, für die Bayern eine besondere Erhaltungsverantwortung hat, langfristig überlebensfähige Bestände erreichen. b) Auch bis 2020 sollen sich wenigstens die Hälfte aller Rote Liste-Arten in der Gefährdungssituation um mindestens eine Stufe verbessert haben. Das gilt auch für heimische Nutztierrassen und Kulturpflanzen. c) Bis 2020 soll die biologische Vielfalt in den Agrarökosystemen deutlich erhöht werden. Den typischen Arten der Kulturlandschaft muss das sichere Überleben ermöglicht werden. Für die Waldökosysteme gelten vergleichbare Ziele und Vorgaben, mit positiven Aussagen zur Wildnis in bestimmten Räumen. d) Unsere Gewässer sollen – auch entsprechend der Wasserrahmenrichtlinie der EU – ökologisch durch das Zulassen möglichst starker Eigendynamik verbessert werden. Dabei spielt die Durchgängigkeit eine große Rolle. Ein günstiger Erhaltungszustand aller wassergebundenen Lebensraumtypen und Arten, auch in der Aue, soll wenigstens in allen Natura 2000-Gebieten gewährleistet sein. e) Bis 2015 sollen für diese Gebiete Managementpläne erarbeitet sein, um deren Bedeutung für Arten- und Lebensraumsicherung nachhaltig zu stärken. f) Allen Lebensraumtypen, für die Bayern eine herausgehobene Verantwortung hat, gelten besondere Schutzanstrengungen.

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g) Um gerade in Zeiten des Klimawandels den Biotopverbund als wesentliche Grundlage vieler Schutzstrategien zu gewährleisten, sollen Bayern-Netz-Natur und Natura 2000 effizient vernetzt werden, wobei vor allem die verarmte Feldflur durch ausreichend neue Strukturelemente aufgewertet werden muss.

X. Wie können diese Ziele erreicht werden? Die Strategie bedeutet einen Wandel im gewohnten Umgang mit Natur und Landschaft und in Konsequenz daraus auch eine Änderung unseres Lebensstils hin zu mehr Nachhaltigkeit. Unsere Gesellschaft muss eine große Akzeptanzoffensive für die Vielfalt des Lebens starten. Dies muss ganz bewusst liebevoll nicht nur in die Köpfe, sondern auch in die Herzen der Menschen gebracht werden. Der Umweltbildung kommt dabei eine zentrale Rolle zu, die flankiert sein sollte von einer Öffnung der Lehrpläne, der Erwachsenenbildung und der Forschung für dieses Thema. Parallel zu diesem bildungspolitischen Auftrag muss klar gemacht werden, dass die Sicherung der natürlichen Vielfalt nicht Aufgabe der primären Hauptakteure, also der Landwirte und der Naturschützer allein sein kann, sondern vielmehr sichergestellt wird, dass sich alle gesellschaftlichen Kräfte dieser Aufgabe annehmen, also auch alle Ressorts der Bayerischen Staatsregierung, die Industrie, das Handwerk und Gewerbe, die Verwaltung, der Tourismus, der Sport, der Freizeitbetrieb, kurz wir alle. Das Spektrum an Maßnahmen ist breit gefächert. Das bayerische Konzept hat, wie schon erwähnt, zeitliche und quantitative Vorgaben gemacht. Dies ist richtig. Wir müssen also Wege finden, dass diese Vorgaben, anders als bei der GöteborgVereinbarung der europäischen Staaten von 2001, auch eingehalten werden. Wir brauchen daher ein Umsetzungskonzept, eine „road map“, aus der klar hervorgeht, wer was in welchem Zeitrahmen macht, wo die Haushaltsmittel herkommen, was sich kofinanzieren lässt, wie die Effizienz und wie der Erfüllungsgrad überprüft werden, mit welchem Nachdruck ggf. notwendige Korrekturen durchgesetzt werden und so fort.

XI. Sonderprogramm Biodiversität Damit sich Erfolge einstellen können, brauchen wir möglichst schnell ein „Sonderprogramm Biodiversitätssicherung“. Nicht weil Sonderprogramme gerade in Mode sind wie beispielsweise für die Geldinstitute in der Bankenkrise oder für die Automobilindustrie, die die Zukunft verschlafen hat. Wir müssen „Natur.Vielfalt.Bayern“ um unserer aller Zukunft Willen in Wert setzen, und zwar bald. Das hat seinen Preis. Es wird nicht lange dauern, bis man die Zukunftskompetenz unserer Regierung daran messen wird, ob sie für die nachhaltige Wohlfahrt ihrer Bürger ein solches Sonderprogramm „Biodiversität“ aufgelegt und mit ausreichend Finanzmitteln ausgestattet hat.

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XII. Konkrete Maßnahmen Wenn man nach dem Best-Practice-Verfahren vorgeht, stehen Artenhilfsmaßnahmen (AHP) weit oben auf der Agenda. Nach einer Anlaufphase waren praktisch alle Artenhilfsprogramme erfolgreich. Mit den jeweiligen Leuchtturmarten wird im Regelfall einer ganzen Lebensgemeinschaft geholfen. Zudem können AHPs den sperrigen Begriff „Biodiversitätssicherung“ gut verdeutlichen. Diese Maßnahmen kommen bei den Menschen gut an. Bayern ist auf diesem Gebiet führend. Dieser Vorsprung kann und soll ausgebaut werden. Wenn wir Lebensvielfalt wieder entwickeln wollen, muss die Feldflur eine zentrale Stelle in unserem Maßnahmenkatalog einnehmen, auch weil fruchtbarer Boden eine nur sehr bedingt erneuerbare Ressource ist und wir wissen, dass wichtige Komponenten der natürlichen Vielfalt eine weitere Phase der Intensivierung nicht überstehen werden. Verschärfend kommt hinzu, dass Flächenstilllegung und Bracheprogramm ausgelaufen sind. Die bisherigen Erfolge dieser Agrarprogramme für die Biodiversität werden gegenwärtig von nachwachsenden Rohstoffen überwuchert und erstickt. Es gibt viele Möglichkeiten, die Agrarlandschaft unter dem Gesichtspunkt der Arterhaltung aufzuwerten. Ein Netz von Ackerwildkrautreservaten ist nach den zuvor erwähnten agrarpolitischen Entscheidungen der letzten beiden Jahre unverzichtbar. Auch moderne Ansätze wie das Lerchenfensterprogramm oder der Wiesenweihenschutz sind mit und neben dem Vertragsnaturschutz auszuweiten und vor allem fachlich und inhaltlich weiterzuentwickeln. Wichtig erscheint mir gerade beim Vertragsnaturschutz, dass wir offen sein müssen, die Wirksamkeit der Programme zu steigern, sie naturraumtypisch zu qualifizieren, sie wirtschaftlich attraktiv für die Landwirte zu gestalten. Wir dürfen nicht weiterhin aus verwaltungs- und kontrolltechnischen Gründen bei diesen Programmen hinter deren Möglichkeiten für die Artensicherung zurückbleiben. Ein Aspekt, der dringend politischer Klärung bedarf. Es muss uns in Bayern des Weiteren gelingen, genügend viele und große Lebensräume, in denen die Biodiversitätssicherung grundsätzlich Vorrang haben soll, zu sichern und gut miteinander zu vernetzen. BayernNetzNatur war eine der wichtigsten und erfolgreichsten Maßnahmen des staatlichen Naturschutzes im letzten Jahrzehnt, weitgehend umgesetzt von den Naturschutzverbänden, teilweise mit Mitteln aus den Zweckerträgen der Glücks-Spirale. Es gilt jetzt, die BayernNetzNaturFlächen mit dem europaweiten System Natura 2000 zu verknüpfen und durch weitere Trittsteine zu ergänzen. Dieses Netz ist nach Meinung aller Fachleute ein unverzichtbares Element jeder arten- und lebensraumsichernden Strategie. Diese Verbindungsstrukturen müssen besonders in Zeiten des Klimawandels als dringend notwendige Wanderachsen weiterentwickelt werden.

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XIII. Wieder Maß nehmen an der Dynamik der Natur Wir müssen aber auch den Waldnaturschutz vorantreiben, einschließlich der Verständigung auf Wildnisgebiete im Wald, auch außerhalb der Nationalparks. Betrachten wir die besonders bedrohten Arten unserer Fauna und Flora, so sind dies häufig Spezies, die besondere Ansprüche haben, die beispielsweise durch ihren engen Bezug zu Buchenwaldgesellschaften auffallen, also Arten, für die wir auch aus globaler Sicht eine besondere Erhaltungsverantwortung haben. Das sind allein 450 essenziell an Buchenwälder angepasste Käferarten. Viele dieser Kostbarkeiten sind auf sehr reife Systeme angewiesen, teils abhängig von Zerfallsphasen. Sie sind integriert in den komplexen Mechanismus eines steten Wandels natürlicher Systeme. Sie zu erhalten, setzt voraus, dass wir im System Mensch, Tier und Pflanze partiell Wildnis zulassen. Das heißt, es muss Räume geben, wo wir Natur Natur sein lassen, indem wir die typische Dynamik nicht unterdrücken. Alle sogenannten Urwaldreliktarten, das reicht vom Eremiten, dem Mittelspecht, der Bechsteinfledermaus über viele Pilze und andere Destruenten hin zur Vielfalt der Hochmoore, der Umlagerungsstrecken dealpiner Flüsse, alle diese Schöpfungen der Natur sind bei uns besonders bedroht und gefährdet. Kein Wunder, denn unsere Zivilisation hat seit über zwei Jahrhunderten konsequent Wildnis beseitigt, Moore trockengelegt, Umtriebszeiten in den Wäldern verkürzt, Flüsse begradigt, Auen denaturiert usw. Wir haben Funktionalität und Ertragsdenken in den letzten Winkel getrieben und dabei ganz – oder sagen wir fast ganz – vergessen, dass es zur Kultur einer Gesellschaft gehört, in bestimmten Bereichen Wildnis bewusst zuzulassen, nicht überall, aber auch nicht nur begrenzt auf die Kernzonen einiger Nationalparke. Die Dynamik natürlicher Systeme ist ein Schutzgut an sich. Wildnis stellt sich ein, wenn wir auf wenigen Prozenten der Landesfläche bewusst auf Nutzung und Gestaltung verzichten. Nur so hat unsere Gesellschaft die Chance, Dynamik als eine Grundeigenschaft aller lebendigen Systeme zu erleben, an ihr wieder Maß zu nehmen, staunen zu lernen und sich von der unglaublichen Fülle der Natur faszinieren zu lassen. Wildnisentwicklungsgebiete und letztlich Wildnis stellt sich ein, wenn wir, verteilt über unsere Wälder, Bäume und Baumgruppen uralt werden, sterben und zerfallen lassen. Wildnis heißt, Eigendynamik von Auen und Fließgewässern zuzulassen. Wildflusslandschaften gehören genauso dazu wie intakte Moore oder die extrem mageren Dünen des Fränkischen Beckens, die letzten Relikte der Gipssteppen in unserem Land und vieles mehr. Das ist der Kronschatz der bayerischen Landschaften. All diese Lebensräume sind unverzichtbar, wenn wir die Vielfalt erhalten wollen. Das „Grüne Gold der Gene“ liegt eben nicht bei Monsanto, sondern in diesem Tafelsilber unserer natürlichen Ausstattung. Wildnis gibt uns wieder eine Vorstellung davon, dass wir Teil der Natur sind. Aus dieser Empfindung erwächst eine Bescheidenheit in Verantwortung für kommende Generationen und für unsere Mitgeschöpfe. Weit über ihre funktionale Bedeutung für den Artenschutz hinaus hilft uns Wildnis mit ihrer spirituellen Kraft, die Jahrhundertherausforderung anzunehmen und

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zu bestehen, die da heißt: die Vielfalt der Arten auf diesem Globus zu erhalten. Der dringend notwendige Erfolg auf diesem Feld macht unsere Gesellschaft reicher, glücklicher und menschlicher. Die Biodiversitätssicherung wird uns nicht geschenkt. Wir müssen dafür arbeiten, möglicherweise sogar hart arbeiten. Aber es ist ein Einsatz von höchster Allgemeinwohlwirkung für uns und unsere Kinder.

Intakte Umwelt und menschliches Wohlbefinden: Das Konzept Environmental Health Von Günther Wess HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Herr Professor Wess, das Helmholtz Zentrum München ist das Deutsche Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt. Welche Aufgaben stellt sich das Zentrum? GÜNTHER WESS: Gesundheit und Umwelt werden immer wichtigere Themen mit großem sozialen und sozioökonomischen Einfluss. Wir erkennen zunehmend, dass Umwelt und genetische Prädisposition jedes Einzelnen bei der Manifestation von Krankheiten in komplexen Zusammenhängen gesehen werden müssen. Gerade vor dem Hintergrund des globalen Wandels von Natur und Ökonomie sowie der weltweiten Bevölkerungszunahme wird dieser Aspekt immer bedeutsamer, da wir mit stark veränderten Umweltbedingungen konfrontiert werden. Dies führt zum Anstieg bestimmter Erkrankungen. Nach Prognosen der Welt-Gesundheitsorganisation, WHO, ist zwischen 2004 und 2030 mit einem massiven Anstieg von Krankheiten zu rechnen, die eine starke umweltabhängige Komponente haben.

Quelle: WHO: Preventing disease through healthy environment.

Abbildung 1: Erkrankungen mit starkem Umweltanteil werden in den nächsten 20 Jahren massiv zunehmen. Beispielhaft sind Diabetes und COPD markiert.

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Das Zusammenspiel zwischen der individuellen Veranlagung und den Einflüssen der Umwelt zu verstehen sowie im nächsten Schritt die gewonnenen Erkenntnisse aus Forschungsprojekten bis zur Anwendung am Patienten weiterzuentwickeln, das sind die Ziele des Helmholtz Zentrums München. Wir definieren in diesem Kontext die Umwelt noch breiter und beziehen auch diejenigen Einflüsse mit ein, die durch das menschliche Verhalten, v. a. den Lebensstil des Einzelnen, bedingt sind. Nur wenn es gelingt, aus dieser Einsicht heraus Ursachen, Einflussfaktoren und Pathomechanismen zu beschreiben, wird die Grundlagenforschung dem Ziel näherkommen, das sie sich bereits seit Jahren gestellt hat: die Grundlagen für die Entwicklung neuer Medikamente zur ursächlichen und wirksamen Behandlung von Krankheiten zu schaffen. Für unsere Forschung spielt der Erhalt einer intakten Umwelt die tragende Rolle, denn sie trägt entscheidend zur Gesundheit bei. Als Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt verflechten wir diese beiden Themen zu einem Forschungsbereich, der im Englischen prägnant als „Environmental Health“ bezeichnet wird.

Abbildung 2: Environmental Health – Verflechtung von Genetik, Umweltfaktoren und persönlichem Lebensstil

HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Was befähigt das Zentrum zur Bearbeitung dieses Forschungsfokus? GÜNTHER WESS: Das Zentrum ist nicht nur im Bereich der Gesundheitsforschung breit aufgestellt, sondern auch im Bereich der Ökosystemforschung. Wir beschäftigen uns viel mit den Grundlagen des menschlichen Lebens: Wasser, Boden und Pflanzen. Daneben untersuchen wir die komplexen Wechselwirkungen von abiotischen und biotischen Komponenten in terrestrischen Ökosystemen und deren Einfluss auf die Qualität von Pflanzen und Wasser. Wichtig ist hierbei nicht nur die

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Funktion und Aktivität von Organismen und mikrobiellen Gemeinschaften in ihrer jeweiligen Umwelt, wir versuchen zudem, durch Aktivierung der pflanzlichen Immunität und mikrobiellen Funktionen den Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft zu reduzieren. Eine intakte Umwelt ist die entscheidende Lebensgrundlage des Menschen. Uns ist wichtig, auf diesem Weg die Gesundheitsforschung zu unterstützen. Durch unseren andersartigen und interdisziplinären Ansatz erzielen wir mehr Relevanz für diese große gesellschaftliche Herausforderung. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Inwiefern trägt die Kombination der Disziplinen aus Umwelt- und Gesundheitsforschung dazu bei, hier mehr Relevanz zu erzielen? GÜNTHER WESS: Die Verknüpfung der biomedizinischen Forschung mit der Umweltforschung ist einzigartig in Europa. Sie ermöglicht es uns, den Schwerpunkt in die Analyse grundlegender Prozesse der Krankheitsentstehung, der Schädigung sowie der Abwehr- und Kompensationsfähigkeit des Organismus zu legen. Unser indikations- und disziplinübergreifender Ansatz wird auf der Basis der Fortschritte in der Gesundheits- und Umweltforschung weiterentwickelt. Nur dadurch, dass wir über exzellente Forschung sowohl im Gesundheits- wie auch im Umweltbereich verfügen, können wir die Gebiete zu einer international wettbewerbsfähigen, interdisziplinären Schnittstelle verbinden, die dann durch Synergien Mehrwert schafft.

Abbildung 3: Synergien durch Kombination von Umwelt- und Gesundheitsforschung

Diese Untersuchungen können auf der Grundlage der breiten wissenschaftlichen Expertise des Helmholtz Zentrums München vor allem mit den Bereichen Biologie, Chemie, Physik und Medizin erfolgreich durchgeführt werden. Die Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Fachrichtungen arbeiten eng zusammen: Genund Umweltforscher mit Immunologen, Informatikern und Medizinern. Dies ist eine deutschlandweit einzigartige Kombination, die durch die unterschiedlichen Ansätze auch die Entstehung neuer Ideen fördert. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir nur gemeinsam die komplexen Zusammenhänge zwischen äußeren Einflüssen und Gesundheit wirklich entschlüsseln können. Mit Hilfe von Mausmodellen können wir die molekularen Mechanismen erblich bedingter Erkrankungen aufklären und entwicklungs- und neurobiologische Fragestellungen beantworten. Im nächsten Schritt sollen funktionale Module biologischer Systeme identifiziert und aufgeklärt und schließlich eine mathematische

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Modellierung und die Simulation von Krankheitsprozessen erreicht werden. Dabei ist der Beitrag von Biomathematik und Bioinformatik unverzichtbar. Diese Modelle und der systembiologische Blickwinkel können neben dem Verständnis der Systeme z. B. auch dabei helfen, die Ursachen unerwünschter Arzneimittelnebenwirkungen aufzuklären oder sie sogar vorherzusagen und so die Entwicklung von neuen Arzneimitteln wesentlich zu unterstützen. Zur Wertschöpfung trägt auch der translationale Forschungsansatz des Zentrums bei: Durch die enge Verknüpfung der Grundlagenwissenschaft mit der klinischen Forschung können Beobachtungen und Erkenntnisse beider Seiten rasch ausgetauscht und weiter bearbeitet werden. Diese Zusammenarbeit realisieren wir mit dem Konzept der Klinischen Kooperationsgruppen: Das sind Forschungsgruppen, in denen Mediziner und Naturwissenschaftler gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Sie sind an Kliniken lokalisiert und haben direkten Zugang zu Patienten. Andererseits sind sie auch an ein Institut des Helmholtz Zentrums München angebunden und haben somit direkten Zugang zu neuesten Technologien und der Forschungsinfrastruktur des Zentrums. Dieses Konzept verbindet uns mit den Universitäten und Kliniken, schafft das Verständnis für klinisch relevante Fragestellungen und unterstützt so unser Ziel, unsere Forschungsergebnisse für die Menschen nutzbar zu machen.

Abbildung 4: Die translationale Forschung verbindet experimentelle Wissenschaft und klinische Forschung

HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Wie erforschen Sie grundlegende Fragestellungen? GÜNTHER WESS: Da Menschen nicht unter definierten Bedingungen leben und nicht rund um die Uhr überwacht werden können, ist der Einfluss von Umweltfaktoren nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Es ist also in bestimmtem Umfang notwendig, entsprechende Tierversuche durchzuführen. Für viele der großen Volkskrankheiten gibt es mittlerweile Maus-Modelle, mit deren Hilfe wir viel über die molekularen Mechanismen lernen können. Vor einigen Jahren wurde an unserem Zentrum ein innovatives Konzept entwickelt, das mittlerweile weltweit Anerkennung gefunden hat und anderen Institutionen als Vorbild gilt: die sog. Deutsche Mausklinik. Hierbei handelt es sich um eine Plattform, die es ermöglicht,

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Maus-Modelle unter vielerlei Gesichtspunkten systematisch zu untersuchen. Jede dieser Untersuchungen wie z. B. des Herz-Kreislauf-Systems, des Nervensystems, der Lungenfunktion und immunologischer Reaktionen wird von Experten des jeweiligen Fachgebiets geleitet. So können wir kompetent auch unerwartete Effekte von Genausfällen und -mutationen entdecken. Allerdings halten wir die Mäuse hier in einer keimfreien Umgebung und können daher nur die grundlegenden Funktionen von Organen und Zellen erfassen. Um die Entstehung von Krankheiten untersuchen zu können, müssen wir die Mäuse – wie die Menschen im „echten Leben“ – bestimmten Umweltfaktoren aussetzen. Dies setzen wir mit der Weiterentwicklung der Mausklinik, der sog. Deutschen Mausklinik II, um. Wir haben hierfür die nach heutiger Meinung wichtigsten Faktoren ausgewählt: Ernährung, sportliche Aktivität, Immunität (das schließt sowohl Infektionen wie auch Allergene ein), psychosozialen und oxidativen Stress sowie die Exposition mit Partikeln als potenzielle Noxen durch Luftverschmutzung. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, können wir die verschiedenen Untersuchungen kombinieren. Die Deutsche Mausklinik II wird daher zum Verständnis des komplexen Zusammenspiels von (Wirts-)Suszeptibilität, Umweltfaktoren und Gesundheit beitragen und so einen elementaren Beitrag zur Verbesserung der Krankheitsprävention leisten. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Wie untersucht man diese Einflüsse am Menschen? GÜNTHER WESS: Wir adressieren solche Fragen mit epidemiologischen Studien. Hierzu haben wir unter anderem eine große Kohorte, „Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg“, KORA, in der die Bevölkerung analysiert wird. Hier werden auch Umweltmessungen durchgeführt, um Wetter, Staubbelastung in der Luft und weitere Parameter aufzuzeichnen. Wir begreifen das Klima als wichtigen Umweltfaktor. Die Aerosol-Messstation, die unsere Institute für Epidemiologie und Ökologische Chemie in Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum Umwelt und dem Lehrstuhl Festkörperchemie der Universität Augsburg betreiben, wurde als „Leitprojekt 2006 des Kompetenzzentrums Umwelt“ ausgezeichnet. Die so gewonnenen Daten werden dann z. B. mit der Häufigkeit von Herzinfarkten in Relation gesetzt. Eine vergleichbare Studie, die von Forschern unseres Zentrums in Kooperation mit der amerikanischen Umweltbehörde „Enviromental Protection Agency“, EPA, durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass Feinstaubbelastung zu Gefäßschäden und -entzündungen führen kann. Diabetiker mit Übergewicht und einem hohen Blutzuckerspiegel sind hiervon besonders betroffen. Ob dies an der erhöhten Entzündungsneigung der Diabetiker liegt, ist nicht ganz klar – hier müssen wir weiter forschen. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Sie sprechen vom Zusammenspiel von Umwelt und individueller Veranlagung bei der Entstehung von Krankheiten. Trifft das auf alle menschlichen Erkrankungen gleichermaßen zu?

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GÜNTHER WESS: Die bekannten Erkrankungen sind nach unserem heutigen Kenntnisstand durch sehr unterschiedliche Anteile von Umwelt, Verhalten und Genetik verursacht. Es gibt Krankheiten, die rein genetisch bedingt sind und sich sicher manifestieren, wenn die entsprechende Kodierung im Genom vorliegt. Bei diesen Erkrankungen braucht es zum Teil nur ein Gen – sie werden dann als monogenetisch bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die Zystische Fibrose oder Mukoviszidose, die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung in der weißen Bevölkerung. Die Erkrankung kommt durch das Fehlen einer einzigen Aminosäure – des Phenylalanin 508 – im Cystic Fibrosis-Transmembrane Regulator (CFTR)-Protein zustande. Das CFTR-Protein, das in der Zellmembran für den Chloridtransport zwischen dem Zellinneren und dem Zelläußeren verantwortlich ist, ist durch die Mutation in seiner Funktion gestört, so dass sich zäher Schleim vor allem in der Lunge und der Bauchspeicheldrüse bildet. Dadurch wird die Funktion dieser Organe stark beeinträchtigt. Zystische Fibrose ist nicht heilbar. Therapiert wird daher rein symptomatisch. Die mittlere Lebenserwartung mit Mukoviszidose liegt heute bei ca. 35 Jahren – früher sind die Betroffenen bereits im Kindesalter gestorben. Das ist einer der großen Fortschritte, die mit interdisziplinärer Forschung bereits erzielt werden konnten. Das andere Extrem bilden Erkrankungen, die im Wesentlichen durch Umwelteinflüsse zustande kommen, wie z. B. Intoxikationen. Um die Belastung des Menschen durch Chemikalien aus der Umwelt zu untersuchen, haben wir zusammen mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) 2006 die Informationsstelle Human-Biomonitoring an unserem Zentrum eingerichtet. Hier sammeln wir u. a. Informationen darüber, welche Chemikalien sich in welcher Menge im menschlichen Körper ablagern. Durch den Vergleich mit Referenzwerten können wir Aussagen über die Belastung der gesamten Bevölkerung oder auch besonderer Gruppen treffen. Auch Infektionskrankheiten haben eine starke Umweltkomponente. Beim Thema Infektionen kann man die Synergieeffekte zwischen Gesundheits- und Umweltforschung gut zeigen: Viele Infektionen werden durch verunreinigtes Grund- und in der Folge auch Trinkwasser übertragen. Ein Schwerpunkt unserer Umweltforschung ist es, Nachweismethoden für solche Verunreinigungen zu entwickeln und damit einen Beitrag zur Prävention zu leisten. Zwischen diesen Extremen reihen sich die verschiedenen Erkrankungen ein. Wir wissen bisher wenig darüber, welche molekularen Grundlagen eine Erkrankung auslösen, welche Umweltfaktoren eine Rolle spielen und wie sie diesen Einfluss ausüben. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Welche Erkrankungen interessieren Sie besonders? GÜNTHER WESS: Wir haben uns auf ein Spektrum von Krankheiten fokussiert, die wesentlich durch Umweltfaktoren und Lebensbedingungen bedingt sind und zu denen in unserem Zentrum bereits wissenschaftliche Expertise besteht. Wir konzentrieren uns auf chronische Erkrankungen und umwelt-assoziierte Pathomechanis-

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Abbíldung 5: Umwelt und Genetik tragen in unterschiedlichem Ausmaß zur Krankheitsentstehung bei. Die genauen Beiträge sind bislang noch nicht ausreichend untersucht und individuell unterschiedlich ausgeprägt.

men. Aus der Aufklärung dieser Zusammenhänge erwarten wir innovative Ansätze in Bezug auf Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheitsprozessen. Ein besonderer Akzent liegt auf dem Gebiet der Lungenerkrankungen. Beispiele unserer Forschungstätigkeit sind z. B. die Wirkung von Nanopartikeln auf die Lunge und den Gesamtorganismus. Wir forschen aber auch an Entstehungsmechanismen anderer wichtiger respiratorischer Erkrankungen wie den chronisch obstruktiven und interstitiellen Lungenerkrankungen, deren Therapie die Volkswirtschaft mit mehreren Millionen Euro jährlich belastet. Zusätzlich werden wir einen Schwerpunkt im Bereich der Stoffwechselstörungen aufbauen und uns dabei besonders auf den Diabetes mellitus konzentrieren. Durch unsere mechanistisch geprägte Forschung leisten wir darüber hinaus Beiträge zum Thema Neurodegeneration und zum Verständnis von Störungen der Immunantwort. Im immunologischen Bereich betreiben wir erfolgreiche translationale Forschung: Unser Zentrum hat entscheidend zur Entwicklung neuer immun-therapeutischer Strategien beigetragen, die der Behandlung maligner Tumorerkrankungen und chronischer Virusinfektionen dienen. Hierbei konzentrieren wir uns überwiegend auf Tumorerkrankungen des blutbildenden Systems, also Leukämien. Die neuen Therapieformen wurden ermöglicht durch die Aufklärung des Einflusses von viralen Genen und tumor-assoziierten genetischen Änderungen auf Proliferation, Differenzierung und Transformation von blutbildenden Zellen, aber auch durch die Analyse von zellulären und molekularen Mechanismen der Immunregulation. Darauf aufbauend können in den nächsten Schritten durch in vitro-Studien

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und Tiermodelle Ansätze für eine gezielte Modulation des Immunsystems zur Tumorbekämpfung entwickelt werden.

Abbildung 6: Bereiche, in denen das Helmholtz Zentrum München bereits Beiträge zur Gesundheitsforschung leistet.

HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Das Helmholtz Zentrum München ist aus der „Gesellschaft für Strahlen-Forschung“, GSF, hervorgegangen. Erhalten Sie Ihre Strahlenkompetenz? GÜNTHER WESS: Wir sind Kompetenzzentrum für Strahlenschutz. Damit ist die Beratung von Bevölkerung und Politik eines unserer Aufgabengebiete. Das nehmen wir sehr ernst. Im Bereich der umwelt-assoziierten Pathomechanismen hat die Strahlenforschung bei uns weiter ihren Platz. Aber wir gehen auch hier mit der Zeit und versuchen uns translational und auf den Menschen auszurichten. Hierfür möchte ich Ihnen kurz zwei Beispiele nennen: Hohe Strahlenbelastungen entstehen primär nicht durch die radioaktive Strahlung hier auf der Erde, sondern vor allem bei Flugreisen. In der Flughöhe wirkt die kosmische Strahlung durch die geringere Atmosphärendichte sehr viel intensiver. Um die Belastung während des Fluges zu überwachen, haben Mitarbeiter an unserem Zentrum zur Entwicklung des Programms EPCARD beigetragen, das Dosisberechnungen für jeden Flug durchführen kann. Ein Flug von Frankfurt nach San Francisco schlägt immerhin mit 0,1 mSv zu Buche – das ist ein Zehntel des Grenzwertes der jährlich zugelassenen Strahlendosis der Allgemeinbevölkerung und die gleiche Belastung, die beim Röntgen des Kopfes in Folge eines Schädelbruchs entsteht. Die hohe Belastung, die durch bildgebende Verfahren wie Röntgen oder Computertomographie bzw. Bestrahlungen in der Tumortherapie entsteht, wird durch den medizinischen Nutzen in Kauf ge-

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nommen. Dennoch gibt es in unserem Institut für Strahlenschutz nicht zuletzt deswegen eine Arbeitsgruppe, die sich mit Möglichkeiten der Dosisreduktion bei der Computertomographie beschäftigt. Ein neues, bei uns am Zentrum entwickeltes Verfahren ermöglicht es, die Dosis um die Hälfte zu verringern und zugleich die Qualität der Aufnahmen zu verbessern – also dem Patienten in zweifacher Hinsicht zu Gute zu kommen. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Sie hatten erwähnt, dass die Umwelt bei der Entstehung vieler Krankheiten eine entscheidende Rolle spielt. Können Sie dafür weitere Beispiele nennen? GÜNTHER WESS: Lassen Sie mich das am Verlauf des Lebens eines Menschen erläutern. Je nach Lebensalter sind unterschiedliche Umwelteinflüsse besonders wichtig. Bereits im Mutterleib ist der sich entwickelnde Embryo verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. Schon lange ist bekannt, dass das Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft positive wie negative Einflüsse auf das Kind hat. Denken Sie daran, dass Alkoholgenuss die Entwicklung des Fötus durch seine zelltoxische Wirkung stark beeinträchtigt. Weitere wichtige Einflüsse, die wir heute kennen, sind unter anderem die soziale Herkunft, durch die Schwangerschaft ausgelöster Bluthochdruck ebenso wie Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft. Wir wissen heute, dass solche Einflüsse sogar über Generationen erhalten bleiben können. Man spricht in diesem Kontext von epigenetischer Programmierung oder von „Fetal Programming“. Hier möchte ich besonders betonen: Die Entdeckung epigenetischer Effekte hat zu einem Paradigmenwechsel geführt. Das sind Effekte, die unabhängig von der DNA-Sequenz vererbt werden. Die DNA wird hierbei durch Methylierung oder Acetylierung chemisch modifiziert. Sowohl im Tiermodell wie auch beim Menschen konnte gezeigt werden, dass die frühen Umwelteinflüsse hormonelle Schlüsselsysteme grundlegend programmieren. Das betrifft so zentrale Mechanismen wie Größenwachstum, Stoffwechsel, Stressverträglichkeit und Fortpflanzung. In diesem Zusammenhang ist auch die „Hypothese des sparsamen Phänotyps“ entstanden, die besagt, dass Unterernährung während der Schwangerschaft und / oder kurz nach der Geburt das Risiko einer späteren kardiovaskulären oder Typ-2-Diabetes-mellitus-Erkrankung erheblich steigern kann. Die Unterversorgung mit Nährstoffen in der Schwangerschaft führt zu kleineren Körpergrößen, geringerem Stoffwechselumsatz und reduzierter körperlicher Aktivität – dieser „Spar-Phänotyp“ bleibt ein Leben lang erhalten. Dies gilt vor allem für Kinder, die in den sozialen Randgruppen der Überflussgesellschaft westlicher Industrienationen aufwachsen. Bei der Entstehung des Typ 2 Diabetes mellitus spielt neben dem Lebensstil – die Stichworte sind „Überernährung, Unterbewegung“ – aber auch die genetische Ausstattung eine wichtige Rolle. Wichtig wird vor allen Dingen sein herauszufinden, welche Mechanismen Umwelt und Genom verbinden. Bisher gibt es keine effiziente Behandlung – wir können bestenfalls Symptome lindern. Seit ein paar Jahren

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wird der früher als „Altersdiabetes“ bezeichnete Typ 2 vermehrt bereits im Teenageralter beobachtet, auch begünstigt durch den exzessiven Anstieg der Adipositas in weiten Bevölkerungskreisen. Die WHO sagt ein weltweites, epidemieartiges Ansteigen der Inzidenz über die nächsten 15 Jahre voraus. Wir benötigen dringend Forschung, die die Zusammenhänge aufklärt und so dazu beiträgt, neue Behandlungs- und Präventionsstrategien zu finden. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Welche Einflüsse wirken überwiegend in den ersten Lebensjahren? GÜNTHER WESS: In den ersten Lebensjahren spielt die Ernährung für verschiedene Erkrankungen eine entscheidende Rolle. Dies gilt z. B. für die spätere Entwicklung von Diabetes mellitus, denn in dieser Zeit wird das Essverhalten sozusagen eingeübt. In diesem Kontext scheinen kulturelle wie soziale Einflüsse eine große Rolle zu spielen: Die Einstellung der Eltern ist mit entscheidend. Ein weiteres wichtiges Thema im Kindesalter sind Allergien. Es handelt sich um ein gutes Beispiel für Erkrankungen, die durch die Kombination aus genetischer Vorbelastung und Umweltfaktoren ausgelöst werden. Kinder von allergischen Eltern haben ein höheres Risiko, ebenfalls unter Allergien zu leiden. Es hat den Anschein, dass vor allem drei Faktoren vererbt werden: die Allergieneigung selbst, welche Organe betroffen sind und die Schwere der Ausprägung. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Was ist über den Beitrag von Umweltfaktoren bei der Allergieentstehung bekannt? GÜNTHER WESS: Darüber, welche zusätzlichen äußeren Faktoren notwendig sind, damit die Erkrankung ausbricht, gibt es verschiedene, zum Teil widersprüchliche Aussagen. Man vermutet, dass die Luftverschmutzung durch Ruß, Staub, Ozon und Abgase eine Entstehung von Atemwegserkrankungen und Allergien unterstützt. Aber auch Infektionen könnten Allergierisiken steigern. Es wurde gezeigt, dass Magen-Darm-Infekte im Kindesalter die Entstehung von Kuhmilch-Unverträglichkeiten wahrscheinlicher machen. Zudem scheint ein früher Kontakt mit möglichen Allergenen das Risiko der Allergieentstehung zu erhöhen. Kinder, die vor einer Pollensaison geboren werden, leiden häufiger unter Pollenallergien. Kinder, die in den ersten sechs Monaten mit Kuhmilch ernährt werden, erkranken in der Folge häufiger an Magen-Darm- und Hautallergien. Entsprechend gibt es Hinweise darauf, dass Stillen von Babys im ersten Lebensjahr das Allergierisiko signifikant senkt. Allergien gehören zu denjenigen Krankheiten, die in den westlichen Industrienationen klar auf dem Vormarsch sind. Schätzungen belaufen sich auf 25 – 30 % der Bevölkerung, die von Allergien betroffen sind – die Tendenz ist steigend. Manche Experten gehen davon aus, dass die steigende Schadstoffbelastung in der Luft zu diesem Anstieg beiträgt.

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Lange wurde auch darüber diskutiert, inwiefern eine zu saubere Umgebung zu Allergien beiträgt oder sie verhindern kann. Vielleicht kennen Sie die sogenannte „Schmuddelkindtheorie“. Sie besagt, dass das Immunsystem trainiert werden muss und übersaubere Wohnungen eher dazu führen, das Allergierisiko zu steigern. Die Wahrheit zwischen sauber und „schmuddelig“ scheint in der Mitte zu liegen. Zwar fördert die hohe Schadstoffbelastung, der wir vor allem in Städten ausgesetzt sind, die Entstehung von Allergien, andererseits ist für die Entwicklung des Immunsystems der Trainingseffekt entscheidend. Das Aufwachsen in einer allergenreichen Umgebung (Landwirtschaft) und ein gehäuftes Auftreten von Atemwegsinfekten im Kindesalter sollen zu einer verminderten Allergieentstehung führen. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Welche Fragen der Allergieentstehung werden am Helmholtz Zentrum München bearbeitet? GÜNTHER WESS: Im Bereich der Allergieforschung gibt es am Helmholtz Zentrum München interessante Aktivitäten. In den letzten Jahren sind probiotische Milchprodukte wegen ihrer positiven Effekte auf das Immunsystem stark propagiert worden. Allerdings hat die Verwendung lebender Mikroorganismen den Nachteil, dass sie keine definierten pharmakologischen Eigenschaften und damit keine definierte pharmakologische Wirkung besitzen. In Kooperation mit dem Umweltbereich sollen aus Bakterien potenzielle Wirkstoffe isoliert und auf ihre allergie-protektive Wirkung getestet werden. Wir hoffen, mit diesem Ansatz innerhalb weniger Jahre Möglichkeiten zur aktiven Prävention von Allergien zu finden. Dieses Projekt illustriert beispielhaft den wissenschaftlichen Mehrwert, den wir durch die Verbindung von Gesundheits- und Umweltforschung erzielen können. Ein anderes Projekt befasst sich mit der häufigsten chronischen Erkrankung bei Kindern, dem Asthma. Bei Kleinkindern manifestiert sich Asthma meist als obstruktive Bronchitis: 30 % der Säuglinge und Kleinkinder, die mindestens einmal an einer obstruktiven Bronchitis litten, entwickeln Asthma, meist zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr. In knapp der Hälfte der Fälle bildet sich die Erkrankung beim Heranwachsen zurück. Die Häufigkeit von Asthma bei Kindern in Deutschland liegt bei etwa 10 %, bei Erwachsenen entsprechend bei 5 – 6 %. Asthma führt als chronisch entzündliche Erkrankung zur Verdickung der Bronchialschleimhaut und durch periodisch auftretende Verengung der Bronchien zu zum Teil lebensbedrohlicher Atemnot. Wenn wir davon ausgehen, dass die steigende Schadstoffbelastung der Luft zumindest zu einer Reizung der Atemwege führt, ist nicht verwunderlich, dass die Prävalenz von Asthma vor allem in den Industriestaaten stark ansteigt. In den USA stiegen die Fallzahlen zwischen 1980 und 1994 um 75 %! Mit dem Asthmaprojekt, das von einer Klinischen Kooperationsgruppe bearbeitet wird, wollen wir die epigenetischen Ursachen von Asthma erforschen und eine pränatal einsetzbare Prävention entwickeln, d. h. wir wollen bereits vor der Geburt vermeiden, dass ein Kind Asthma entwickelt. Damit könnten wir erheblich zum

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Wohlbefinden ganzer Familien beitragen, denn besonders chronische Krankheiten belasten nicht nur das betroffene Kind, sondern auch das Sozialgefüge der gesamten Familie. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Könnten Sie noch etwas zu den hauptsächlichen Einflüssen im Teenager- und Erwachsenenalter sagen? GÜNTHER WESS: Die Lunge bleibt ein gegenüber Umwelteinflüssen empfindliches Organ: Neben den bereits erwähnten Strahlen sind dies vor allem Luftschadstoffe. Feinstaub und Rauchen sind erhebliche Risikofaktoren für verschiedene Lungenerkrankungen. Dass das Rauchen das Risiko für die Entwicklung eines Lungenkrebses steigert, gehört zum Allgemeinwissen. Beim Feinstaub wissen wir weitaus weniger über Wirkung und Folgen der Exposition. Hier sind gerade die ultrafeinen Partikel wie diejenigen im Dieselruß in den letzten Jahren nicht nur in den Medien, sondern auch in der Forschung an unserem Zentrum stark thematisiert worden. An unserem Institut für Experimentelle Pneumologie wurde nicht nur gezeigt, welche Reaktionen die Feinstaubbelastung im Organismus hervorruft, sondern auch, dass die ultrafeinen Partikel sich über die Lungenbläschen in das Blut und auf diesem Weg im gesamten Organismus verteilen. Welche Risiken durch die insgesamt steigende Belastung entstehen, ist bisher nicht ganz klar. Es gibt Hinweise darauf, dass eine hohe Feinstaubbelastung zu einem geringeren Geburtsgewicht führen könnte. Auch im Bereich der Nanopartikel brauchen wir weitere Forschungsaktivitäten, um zu fundierten Kenntnissen über biologische Abläufe und mit den Partikeln verbundene Risiken zu kommen.

Abbildung 7: Die Lunge ist ein Organ, das gegenüber Umweltfaktoren besonders exponiert ist.

HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Welche Erkrankungen betreffen Menschen im mittleren und höheren Lebensalter? Wie steht es mit psychiatrischen Erkrankungen? Hat die Depression einen starken Umweltanteil?

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GÜNTHER WESS: Depressionen stellen eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Nach Voraussagen wird ihre Inzidenz weiter zunehmen. Je nach Art der Depression sind unterschiedliche Ausmaße des Umweltanteils bekannt. Die klassische Form der Depression scheint nach heutiger Kenntnis keine wesentliche Umweltkomponente zu haben, sondern überwiegend durch endogene Verschiebungen im Neurotransmitter-Haushalt zu entstehen. Dennoch kennt man durch die Umwelt begünstigte Formen wie die Winterdepression, die in den letzten Jahren zunehmend als Erkrankung anerkannt wird. Außerdem wird gerade in den Industrieländern ein starker Anstieg depressiver Erkrankungen beobachtet. Die Ursachen dafür sind noch unklar, aber wohl im sozioökonomischen Umfeld zu sehen. Psychosozialer Stress (in Form von gestiegener Beanspruchung und Unsicherheit durch die persönliche und berufliche Situation) wird heute nicht nur als Risikofaktor für Depression, sondern auch für kardiovaskuläre Erkrankungen weltweit erkannt. Bei der Demenz gibt es ebenfalls Zusammenhänge mit den Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. Demenzen als neurodegenerative Erkrankungen liegen ebenfalls teilweise im Verhalten begründet. Man sieht heute erste Ansätze, um das Auftreten von Demenzen möglicherweise zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. In jedem Fall scheint ein in physischer, sozialer und intellektueller Hinsicht aktives Leben in den mittleren und späten Jahren das Risiko signifikant zu senken. Unsere Forschungsgebiete sind in diesem Bereich allerdings eher die mechanistischen Grundlagen verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen wie z. B. der Parkinson’schen Krankheit und der Depression. Wichtiges Thema ist zudem die Neuro-Regeneration, also das Wiederherstellen von Nervengewebe mit Hilfe von Stammzellen. Mit diesen Themen wird sich das Helmholtz Zentrum München – innerhalb eines Münchner Verbundes – als Partner am Nationalen Demenzforschungszentrum beteiligen. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Können Sie uns zum Abschluss des Gesprächs noch einen Ausblick geben? GÜNTHER WESS: Aus den Beispielen konnten Sie erkennen, wie groß die Bedeutung von Umwelt und Verhalten für die menschliche Gesundheit ist. Hierfür gibt es den international etablierten Begriff „Environmental Health“, für den es im Deutschen leider keine angemessene Übersetzung gibt. Über die einzige Möglichkeit „Umweltbedingte Erkrankungen“ geht Environmental Health weit hinaus. Nach der Definition der WHO sind all diejenigen physikalischen, chemischen, und biologischen Faktoren einbezogen, die eine Person umgeben. Environmental Health umfasst zudem die Untersuchung und Kontrolle derjenigen Faktoren, die auf die Gesundheit Einfluss nehmen könnten. Zentrales Anliegen ist es, Krankheiten zu vermeiden – also vor allem an der Prävention zu arbeiten – und darüber hinaus zu Umweltbedingungen beizutragen, die die Gesundheit positiv beeinflus-

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sen bzw. ihre Schädigung vermeiden, die immer durch eine schleichende und langfristige Beeinträchtigung entsteht. Wir sehen es als die große Herausforderung der nächsten Jahre an, die verschiedenen Bereiche zu einem großen Bild zu verbinden. Mit den bestehenden Synergien wollen wir in den dargestellten Forschungsschwerpunkten die zukünftige Medizin in Richtung Personalisierung, Individualisierung und Prävention mitgestalten. Damit leisten wir – in Übereinstimmung mit der Mission der HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren – unseren Beitrag zur Entwicklung der Medizin der Zukunft. HANNS-SEIDEL-STIFTUNG: Herr Professor Wess, wir danken Ihnen für dieses interessante Gespräch.

Auf der richtigen Spur? Forschung und Wissen über unsere Natur und Umwelt am Beispiel der „Grünen Gentechnik“ Von Ernst-Ludwig Winnacker Der eine fragt: Was kommt danach? Der andre fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich Der Freie von dem Knecht Theodor Storm

Forschung und Wissensstand über Natur und Umwelt haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert. Ursache hierfür ist die Entwicklung der Biologie zu einer quantitativen Wissenschaft, weg von der „Botanisiertrommel“ zum Versuch, ihre Grundlagen zu verstehen. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Aufschwung der Molekularen Biologie, also der Wissenschaft über die Bausteine des Lebens. Ihre wesentliche Erkenntnis ist, dass das ganze Leben und die Geschichte des Lebens auf diesem Globus nur eine einzige Art von Erbgut kennt, das wiederum nur aus einem einzigen Satz von vier chemischen Bausteinen besteht, die sich in beliebigen Kombinationen zu langen Ketten zusammen bauen lassen. Diese Abfolge von Buchstaben ist allerdings mehr als das, sie ist eine Schrift. Ihr Code, der in den 50erJahren entziffert wurde, gilt ausnahmslos für alle lebenden Organismen und auch für alle, die jemals gelebt haben. Die Natur hat ihn also nur ein einziges Mal erfunden. Er gilt für das Erbgut von Bakterien genauso wie das von Menschen. Darwin hätte sich über diese Einsicht gefreut. Was codiert der genetische Code? Er ist eine Lesevorschrift für Eiweißbestandteile, sogenannte Proteine, also die Bausteine lebender Organismen, angefangen bei den Fingernägeln, über den Herzmuskel bis hin zu Enzymen, die den Energiestoffwechsel von lebenden Zellen ermöglichen. Wer die Zusammensetzung der Proteine in einer Zelle verändern will, muss also die entsprechenden Gene gezielt verändern. Dies ist seit etwa 40 Jahren mit der Erfindung der Gentechnik möglich. Mit dieser in den USA entwickelten Technik lässt sich das Erbgut beliebiger Organismen isolieren, analysieren, in Stücke zerlegen und wieder zusammenfügen. Längst hat diese Technik die Grundlagenforschung in den gesamten Biowissenschaften erobert. Eine Anwendung, die mit Natur und Umwelt zu tun hat, ist die sog. Grüne Gentechnik.

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Unter dem Begriff der Grünen Gentechnik wird all das zusammengefasst, was mit der gezielten Übertragung von Genen in das Erbgut von Pflanzen, darunter auch Nutzpflanzen, zu tun hat. Auch hier steht für den Biologen die Forschung im Vordergrund. Gelegentlich geht es aber auch um Anwendungen, die allein deshalb erarbeitet werden, um sie im Freiland einzusetzen. Die Züchtungsforschung bei Pflanzen kennt zahllose Technologien, was mit dem bloßen Pfropfen von Bäumen beginnt, sich über die Hybridzüchtung bei Mais, Soja, Baumwolle oder Zwiebeln, bis hin zur Grünen Gentechnik fortsetzt. Anders als in all den anderen Techniken erlaubt die Gentechnik die Übertragung oder Modifikation einzelner Abschnitte des Erbguts, also einzelner Gene; man spricht dann von gentechnisch-modifizierten oder GM-Pflanzen. Kommerziell in der Anwendung sind vor allem sogenannte Bt-Pflanzen (Mais, Baumwolle) mit Genen, die ein Insektengift produzieren, oder Pflanzen, die eine Herbizid-Toleranz bewirken. Inzwischen werden diese GMPflanzen weltweit auf über 114 Millionen Hektar angepflanzt (zum Vergleich: Deutschland nutzt ca. 2,7 Millionen Hektar Land für die Landwirtschaft insgesamt), mit Steigerungsraten von etwa 10 % pro Jahr. Dennoch ist die Kritik am Einsatz von GM-Pflanzen weit verbreitet, mit dem Ergebnis, dass sie gerade in Europa keinerlei kommerzielle Rolle spielen. Unternehmen machen sogar Reklame damit, dass sie keine GM-Pflanzen in ihren Produkten einsetzen. Woher diese zum Teil maßlose Kritik, die sich sogar in Gewalttätigkeiten niederschlägt? Es geht um Sicherheit, um Fragen der Biodiversität und um die intensive Landwirtschaft überhaupt. Über die Sicherheit gentechnisch veränderter Pflanzen und ihrer Produkte ist unendlich viel geforscht worden. Weder ist in den vergangenen 30 Jahren ein Superunkraut aufgetreten noch sind Menschen zu Schaden gekommen. Ständig werden immer neue Studien erdacht, wobei vor allem die Systembiologie eine zunehmende Rolle spielt, also der Versuch, mit Daten aus der Genomforschung bestimmte biologische Vorgänge zu simulieren und damit auch vorauszusagen. Dennoch wird man niemals wirklich nachweisen können, dass ein bestimmter Vorfall oder ein bestimmtes Verhalten keinesfalls eintreten wird. Die Wirklichkeit unseres täglichen Lebens ist ohnehin eine andere. Irgendwann, wenn die Frage nach den denkbaren Folgen einer technischen Entwicklung hinreichend untersucht und beantwortet erscheint, werden die Bedenken hintan gestellt, wird ein Arzneimittel oder eben eine Sorte zugelassen. In Sachen Grüner Gentechnik ist dieser Zustand längst eingetreten, wenn nicht überschritten. Aber es geht nicht nur um physische Sicherheit oder gesundheitliche Unbedenklichkeit, sondern auch um eine Reihe anderer Punkte. Man hat den Eindruck, dass Gentechnik letztlich für all die tatsächlichen und vermuteten Risiken und Probleme der Landwirtschaft insgesamt steht, obwohl Gentechnik diese eher vermindert. Einige Beispiele: Die Treibhausgasbilanz der Landwirtschaft ist insgesamt schlecht. Sie verbraucht mit einem Anteil von 16 % mehr als der gesamte Verkehrssektor inklusive Flugverkehr. Dabei spielen Herstellung und Verteilung von Pflanzenschutzmitteln eine signifikante Rolle. Dass der Einsatz von GMPflanzen den Einsatz dieser Mittel erheblich (20 – 50 %) reduziert und damit deren

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Beitrag zur Bilanz der Treibhausgase, wird von den Aktivisten meist nicht geglaubt. Bauern und Landwirte hätten jedoch längst vom Einsatz der GM-Pflanzen Abstand genommen, wenn sie dadurch keine finanziellen Vorteile eben durch das Einsparen von Pflanzenschutzmitteln erreicht hätten. Die Biodiversität ist natürlich ein großes Problem, da die intensive Landwirtschaft an sich deren größte Gefährdung ist. Auch hier behaupten Aktivisten, der Einsatz von GM-Pflanzen würde das Problem wegen der mit ihnen verbundenen landwirtschaftlichen Methoden noch vergrößern, obwohl inzwischen sichere Daten dafür vorliegen, dass die Insekten im Umfeld von Bt-Baumwolle oder Bt-Mais sehr viel zahlreicher sind als auf nicht-GM Feldern, die mit Insektiziden behandelt werden. Auch der Verlust an Natürlichkeit wird beklagt und dabei suggeriert, dass die klassische Landwirtschaft „natürlich“ sei. Allerdings sollte uns klar sein, dass alle unsere Nutzpflanzen ausnahmslos domestizierte Pflanzen sind, die seit Jahrtausenden aus Urformen züchterisch verbessert werden. Denn Pflanzen sind in der Regel giftig, oft sehr giftig, da sie vor ihren Feinden nicht weglaufen können und sich ihrer nur auf diese Weise erwehren können. Diese Gifte müssen durch Züchtung aus den Nutzpflanzen entfernt werden. Das ist mehr oder weniger gut gelungen. Dank der Fortschritte der Genomforschung wissen wir übrigens heute sehr genau, was an den Nutzpflanzen anders ist als an ihren Urformen. Dies bestärkt uns in der Hoffnung, in Zukunft diese Veränderungen gezielt noch weiter zu treiben, um Ausbeuten zu erhöhen oder Salz- und Stresstoleranzen von Nutzpflanzen zu verbessern. Auch diese Entwicklungen werden von Risikoforschung begleitet sein müssen. Das ist keine Frage. Andererseits leben in den trockensten Regionen dieser Welt schon heute mehr als zwei Milliarden Menschen, die ernährt werden wollen. Viel Kritik in diesem Umfeld entsteht auch aus Unsicherheit und purem Neid. Mit Unsicherheit wird generell allem Neuen begegnet, so auch den GM-Pflanzen. Die GM-Aktivisten machen sich dies zunutze, zumal die bisherigen Anwendungen den Verbrauchern nur sehr indirekt von Nutzen sind. Bei der Roten Gentechnik war das anders. Die Verwendung von Insulin zur Behandlung der Zuckerkrankheit ist jedermann präsent und einleuchtend, der in seinem Umfeld einen entsprechenden Patienten kennt. Treibhausgase und deren Reduktion oder Sorgen um die Artenvielfalt sind erst seit Neuestem von öffentlichem Interesse. Neid ist in unserem Lande eine Untugend, die uns vor allem in der Medizin und der Landwirtschaft begegnet. Man denke nur an die Diskussion um Ärztegehälter, um Arzneimittelpreise und um die Preise landwirtschaftlicher Produkte. Sie können nicht billig genug sein, wenn man sich an die Debatten um die Milchpreise erinnert. Das Problem ist vielleicht, dass wir zu wohlhabend sind, dass wir uns landwirtschaftliche Produkte überall auf der Welt kaufen und dass wir es uns leisten können, Wildkräuter in Handarbeit zupfen zu lassen. Dass die überwiegende Mehrheit der 6,5 Milliarden Menschen dies sich nicht im Entferntesten leisten kann, wird gerne ignoriert.

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Gerade deshalb muss aber in der Landwirtschaft insgesamt etwas geschehen. Es hat wenig Sinn, den Esel, die Gentechnik, zu schlagen, wenn man den Herrn meint. In der EU werden 50 % des verzehrten Gemüses aus Ländern mit Wassermangel importiert. 30 % unserer Lebensmittel erreichen uns überhaupt nicht, weil sie nicht perfekt aussehen. Wegen des erwarteten Bevölkerungsanstiegs auf ca. neun Milliarden Menschen müssen bis 2050 etwa doppelt so viele Nahrungsmittel hergestellt werden wie heute. Gleichzeitig lebt schon heute etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, wo sie nicht in der Lage ist, selbst zur Lebensmittelerzeugung beizutragen. Schließlich hat die Diskussion um Bioenergie und die daraus erfolgte Herstellung von Bioethanol aus Mais die Lebensmittelpreise derart erhöht, dass im Jahre 2008 ca. 40 Millionen mehr Menschen an Hunger gestorben sind als in den zurückliegenden Jahren. Statt sich in gleichermaßen end- wie sinnlosen Diskussionen um Abstände zwischen GM-Feldern zu verzetteln, wäre es angebracht, einmal grundsätzlich über die Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit, Artenvielfalt und Welternährung nachzudenken. Sie scheinen derzeit unvereinbar, müssten es aber nicht sein, wenn nur die richtigen Anreize gegeben würden. Neue Methoden der Pflanzenzüchtung, darunter die Gentechnik, werden vor diesem Hintergrund in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Grüne Gentechnik wurde in Deutschland zu Anfang der 80er-Jahre erfunden, und zwar vom belgischen Wissenschaftler Josef („Jeff“) Schell am Max-PlanckInstitut für Züchtungsforschung in Köln-Vogelsang. Es könnte dieser Erfindung so ergehen, wie der Fax-Maschine oder dem MP3 Player: Die Erfindung fand hier in Deutschland statt, die Umsetzung erfolgt dann im Ausland. Hoffen wir darauf, dass sich auch auf diesem Felde das Diktum von Max Planck bestätigt: Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus. Die Wissenschaft hat im Umfeld der Gentechnik, und auch der Grünen Gentechnik, außerordentlich verantwortungsvoll gehandelt. Warum sollte sie dies nicht auch in der Zukunft tun?

Wissen und Handeln in Sachen Energie, Umwelt, Klima – Herausforderungen an Wissenschaft und Politik Von Ulrich Wagner

I. Einleitung Die versuchte Ursachenanalyse und die gelegentlich hilflos anmutenden Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise 2009 machen eines deutlich: Es ist unendlich schwierig, als Teil eines gewachsenen – bislang relativ anstandslos funktionierenden – hochkomplexen Systems Wirkungen und Zusammenhänge vieler Faktoren objektiv zu erfassen und zu beurteilen. In einer vergleichbaren Situation steht die Gesellschaft in Sachen Energieversorgung, Umweltschutz und Klimavorsorge allerdings in einem schon Jahrzehnte andauernden Prozess der Bewusstwerdung und Handlungsfindung. Die Lösung solcher multikriterieller Probleme gelingt erfahrungsgemäß nur durch eine starke Abstrahierung der Fakten und Zusammenhänge und vor allem durch eine klare Definition von Zielen und Visionen. Im Falle der Energieversorgung ist zwar die Faktenlage einigermaßen gesichert, jedoch gibt es große Unsicherheiten bezüglich der Zusammenhänge und Rückkopplungen im System. Für die Umsetzung von Maßnahmen sind ein großer technischer Sachverstand erforderlich, ein klarer Fokus auf die Ziele der Nachhaltigkeit und schließlich politischer Mut für die Umsetzung von Visionen. Im folgenden Beitrag werden die Ausgangssituation zum Thema Ressourcen-, Umwelt- und Klimaschutz kurz dargestellt, wesentliche Ziele und Kriterien erörtert, die Rollen von Wissenschaft und Politik angesprochen und Folgerungen für eine noch effektivere Zusammenarbeit dieser Akteursgruppen gezogen.

II. Ausgangssituation Das Energiewirtschaftsgesetz beinhaltet seit Jahrzehnten die Versorgungssicherheit, die Umweltverträglichkeit sowie die Kosteneffizienz als wesentliche Kriterien. Dies sind in der Tat die tragenden Faktoren. Hinzu kommt natürlich eine wünschenswerte breite Akzeptanz aller eingesetzten Technologien. Seit Jahrzehnten gab es immer wieder andersartige Anlässe zu energiepolitischem Handeln. Die befürchtete Kohleknappheit der 1950er-Jahre, die Ölpreiskrisen in den 1970er-Jahren, Waldsterben und bodennahes Ozon in den 1980er-Jahren sowie der Treibhaus-

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effekt seit den 1990er-Jahren haben jeweils große Impulse für die energiepolitische Diskussion und entsprechende Gesetzgebungen gegeben. Auch wenn dadurch in einzelnen Bereichen durchaus positive Effekte erzielt wurden, so hat diese ereignisgesteuerte Politik stets den Nachteil, nur Symptome zu bekämpfen. Es fehlen übergreifende Vorgaben und Regeln zur Optimierung des Systems. Die heutige Struktur des Energiebedarfs in Deutschland und weltweit hat sich über viele Jahrzehnte entwickelt. Sie ergibt sich aus länderspezifisch gesellschaftlichen, demographischen, technologischen und politischen Faktoren. Basis ist eine Tausende von Milliarden Euro schwere technische Infrastruktur, vom Endgerät beim Kunden über die Systeme für Transport, Verteilung und Speicherung von Energie bis hin zu den Großanlagen im Energieumwandlungsbereich. Abbildung 1 zeigt die Energieanwendungsbilanz für Deutschland nach Sektoren und Anwendungsarten. Veränderungen dieser Struktur erfolgen nur mit extrem langen Zeitkonstanten.

Abbildung 1: Endenergiebedarf in Deutschland 2007, nach Sektoren und Anwendungsarten

So hat sich der industrielle Energieverbrauch seit Jahrzehnten kontinuierlich reduziert, allerdings nicht nur aufgrund von Effizienzsteigerungen in Fertigungsanlagen, sondern ganz wesentlich durch die Verlagerung energieintensiver Produktion in andere Länder mit günstigeren Energie- und Personalkosten. Der Energieaufwand für die Herstellung von Industrieprodukten für den Gebrauch in Deutsch-

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land ist natürlich nach wie vor gegeben, aber jetzt eben an anderen Stellen der Erde. Der Energieverbrauch für die Raumheizung in privaten Wohngebäuden ist über viele Jahrzehnte konstant geblieben. Hier wurde der erhebliche technische Fortschritt der Heizungstechnologie kompensiert durch den kontinuierlich steigenden Zuwachs an beheizter Wohnfläche pro Person und durch gestiegenes Komfortbedürfnis. Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass sich Struktur und Entwicklung des Energiebedarfs nicht nur aus technischen Parametern ableiten lassen, sondern von gesellschaftlichen, konjunkturellen und politischen Rahmenbedingungen mit beeinflusst werden. Entsprechend ist die gegebene Energieinfrastruktur eines Staates nicht beliebig und schon gar nicht beliebig schnell durch gesetzliche Vorgaben änderbar. Die Zeitkonstanten der Nutzung energietechnischer Anlagen liegen im Bereich von zehn Jahren (z. B. Kleingeräte) bis 50 Jahren (z. B. Kraftwerke). Damit beträgt die Nutzungsdauer viele Legislaturperioden, die Beschlüsse von heute zeigen erst viele Jahre später Wirkung. Diese Zeitverzögerung steht im Widerspruch zum großen Erfolgsdruck von Politikern (und Wissenschaftlern), die sich häufig einen schneller messbaren Erfolg wünschen und darauf angewiesen sind.

III. Ziele und Kriterien nachhaltigen Wirtschaftens Laut Brundtland-Definition verlangt Nachhaltigkeit die Übernahme der Verantwortung für unser Tun und seine Folgen, denn auch die nachfolgenden Generationen haben einen Anspruch auf die heute von uns genutzten Ressourcenformen.

1. Energieressourcenschonung Die statischen Energiereserven von Öl und Gas weisen Reichweiten von 50 Jahren (Öl, Gas) bis über 200 Jahren (Kohle) auf. Sie sind abhängig vom Umfang der Explorationstätigkeit der Energieunternehmen, die wiederum von der Energiepreisentwicklung gesteuert wird. Steigen die Energiepreise an, so nehmen ohne weiteres Zutun die verfügbaren Energiereserven zu; verbindliche Angaben über den Peak-Oil sind daher kritisch zu werten. Für einen nachhaltigen Ansatz ist die Frage, ob die Öl-Reichweite noch 50 oder doch 100 Jahre beträgt, ohnehin kein entscheidendes Kriterium. Nachhaltigkeit kennt kein Verfallsdatum. Fakt sind die Endlichkeit der Ressourcen und unsere Verantwortung, möglichst viel davon für unsere Nachkommen zu erhalten.

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2. Emissionsminderung Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehen derzeit die energiebedingten CO2-Emissionen und der anthropogen verursachte Treibhauseffekt. Dabei ist es im Sinne nachhaltiger Lösungen unmaßgeblich, ob die heutigen Treibhausgasemissionen zu 50 oder 80 % anthropogen verursacht werden. Entscheidend ist die sichere Erkenntnis, dass es einen Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Treibhausemissionen gibt. Zu wenig Bedeutung wird im Übrigen den anderen, für die menschliche Gesundheit nicht minder bedeutenden Schadstoffemissionen gegeben, z. B. im Verkehrssektor.

3. Sicherheit und Zuverlässigkeit Neue Energietechnologie kommt nur dann zum Einsatz, wenn die gewohnten Maßstäbe der Versorgungssicherheit und Zuverlässigkeit mindestens erhalten bleiben. Das betrifft z. B. den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien in der Stromversorgung, der neue Rahmenbedingungen der Kraftwerksvorhaltung, der Netzkapazitäten und ggf. auch zentraler Speichersysteme mit sich bringt. Die Potenziale eines verbraucherseitigen Lastmanagements – zentral oder objektgesteuert – bleiben aus Kosten- und Akzeptanzgründen begrenzt.

4. Wirtschaftlichkeit / Vermeidungskosten Energieeinsparung und Umwelt- sowie Klimaschutz sind bis auf wenige Ausnahmen nicht zum Nulltarif erzielbar, sondern mit mehr oder weniger hohen Mehrausgaben verbunden. Darüber müssen sich alle Akteure im Klaren sein und dürfen dies auch nicht verschweigen. Besonders wichtig ist daher ein verantwortungsvoller Umgang mit den erforderlichen Zusatzmitteln (auch Geld ist eine begrenzte Ressource), die entsprechend den Vermeidungskosten möglicher Maßnahmen priorisiert werden müssen.

5. Flächen- und Materialverbrauch Im Sinne einer ganzheitlichen Bewertung politischer Handlungsoptionen wird der Flächen- und Materialverbrauch von Energietechnologie immer wichtiger. Auch hier geht es um die Verwendung begrenzter Ressourcen, seien es die Versiegelung von Flächen durch Kraftwerke, die Überflutungsgebiete durch Wasserkraftnutzung, die optische Belastung durch Windparks oder die Verwendung von (im wahrsten Sinne des Wortes) Seltenen Erden in Energiesparlampen.

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6. Potenziale und Akzeptanz Ein wichtiges Leitkriterium für die Entwicklung neuer Energiespartechnologien ist deren flächendeckendes Einsatzpotenzial. Die aufwändige Entwicklung effizientester Energietechnologie nutzt wenig, wenn sie aus technischen, ökonomischen oder ideologischen Gründen nicht eingesetzt wird. Hierbei spielt auch die öffentliche Akzeptanz eine wesentliche Rolle, wie das Beispiel der Kernenergienutzung eindrucksvoll zeigt. Die Komplexität der Fragestellung nach einem Energiesystem, das die Kriterien Ressourcenschonung, Umweltschutz, Klimavorsorge und Volkswirtschaft ausgewogen berücksichtigt, wird qualitativ in Abbildung 2 dargestellt. Mit „+“ sind im Sinne von Nachhaltigkeit tendenziell positive Faktoren gekennzeichnet, „–“ bedeutet entsprechende Nachteile.

Synergien und Zielkonflikte

EnergieUmweltressourcen schutz

Klimaschutz

Volkswirtschaft

Energieeinsparung

+

+

+

+

Erneuerbare Energien

+

o

+

-

Erdgas

-

+

+

-

Kohle

+

-

-

+

CO2-Abtrennung

-

-

+

-

Kernenergie

+

-

+

+

Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik Prof. Dr.-Ing. U. Wagner

Abbildung 2: Synergien und Zielkonflikte ausgewählter energiepolitischer Handlungsoptionen

Dabei schneidet die Energieeinsparung, also die Vermeidung von Energieverbrauch durch bewusstes Handeln und den Einsatz effizienterer Technologie, erwartungsgemäß in allen Bereichen am günstigsten ab. Erneuerbare Energien sind vorteilhaft für Energieressourcen und Klimaschutz, Konflikte treten beim Umweltschutz auf, z. B. wegen des erheblichen Flächenverbrauchs oder Rückstaus von Fließgewässern, die Volkswirtschaft wird (zumindest bei heutigen fossilen Ener-

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gieträgerpreisen) deutlich stärker belastet. Die wegen der niedrigeren CO2-Emissionsfaktoren vielfach propagierte Substitution fester und flüssiger Energieträger durch Erdgas ist positiv für Umwelt- und Klimaschutz, schont allerdings weder die Energieressourcen noch die Ökonomie. Genau komplementär hierzu verhält sich der Einsatz von Kohle: Von diesem Energieträger gibt es die größten weltweiten Reserven und Ressourcen zu vergleichsweise günstigen Kosten, allerdings um den Preis erhöhter Aufwendungen für Umweltschutz und höherer CO2-Emissionen. Die vieldiskutierte CO2-Abtrennung ist zwar für den Klimaschutz von Vorteil. Deutlich höherer Brennstoffeinsatz im Kraftwerk, große umweltrelevante Unsicherheiten bei der Endlagerung und höhere volkswirtschaftliche Kosten stehen dagegen. Die Kernenergie schließlich schont fossile Energieressourcen und liefert einen großen Beitrag zur CO2-Reduzierung bei vergleichsweise günstigen Kosten, allerdings um den Preis der politisch noch nicht abgesicherten Endlagerung und der geringen Akzeptanz in der Bevölkerung. Aus diesen qualitativen Zusammenhängen wird deutlich, dass eine genaue Kenntnis und Beschreibung aller systembildenden Komponenten erforderlich ist, um Mit- und Gegenkopplungseffekte im System zu verstehen. Selbst wenn das gelungen ist, müssen die Entscheidungsträger noch eine Gewichtung der einzelnen Faktoren festlegen, was teilweise zu erheblichen Zielkonflikten (z. B. Energieeffizienz kontra Naturschutz im Falle Wasserkraftnutzung) und zu deutlichen Verschiebungen im Energie- und Technologiemix führen kann. Faktenlage und Problemstellung sind also sehr komplex. Doch damit nicht genug: Mit der Lösung dieser Probleme ist ein mindestens ebenso kompliziertes Netzwerk aus politischen Akteuren befasst: die Kyoto- und Folgebeschlüsse zur Senkung der globalen CO2-Emissionen, ein Konglomerat von Gesetzen zur Einsparung von Energie- und zur CO2-Minderung auf EU-Ebene, das Integrierte Energie- und Klimaprogramm der Bundesregierung mit vielen einzelnen Facetten, weitere Vorgaben und Programme auf Ebene der Bundesländer und Kommunen bis hin zu den Zielen lokaler Agenden. Abbildung 3 mag einen kleinen Eindruck der Vielfalt, aber auch der fehlenden Abstimmung und Koordination gesetzgeberischer Maßnahmen allein auf der Ebene von EU und Bund geben. Die vielschichtigen, multidimensionalen Problemstellungen einer nach den Kriterien von Ressourcenschonung, Umweltschutz und Klimavorsorge optimierten Energieversorgungsstruktur erfordern hochkomplexe Instrumente, jedoch nicht ebensolche Gremienkonstrukte zu ihrer Lösung. Auslösendes Moment für den Verbrauch von Primärenergieträgern ist die weltweit stetig steigende Nachfrage nach Energiedienstleistungen. Am anderen Ende der Kette steht die zuverlässige und preiswerte Deckung des Energiebedarfs, heute vor allem durch fossile Primärenergieträger. Umweltschäden und Treibhauseffekt sind unmittelbar daraus resultierende Folgeeffekte. Übergeordnetes Kernziel muss daher die Schonung der Energieressourcen sein, weil es gleichzeitig auch zur Bewältigung der Umwelt- und Klimafragen beiträgt.

Wissen und Handeln in Sachen Energie, Umwelt, Klima

Deutschland

Öko Steuer (1999)

Selbstverpflichtung (2001)

EnWGNovelle (2005)

KernenergieNovelle (2002) TEHG / ZuG (2004)

KWKG (2000)

KWKModG (2002)

PVVorschaltG (2003)

KWKGesetz

BImSchV

EEG EnEV(2006)

EEGNovelle (2004)

EEG (2000)

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EnEV

BImSchG

IEKP

Biomasseverordnung GasnetzzugangsV EnWG EEWärmeG

BiomasseVO (2001)

EU

2.ErdgasBinnenmarkt RL(2003) VO Stromhandel (2003) EE-RL (2001)

2.ElektrizitätsBinnenmarktRL (2003)

VO Gas (2003)

Emissionshandels-RL (2003)

RL Besteuerung Energieerzeugnisse (2003)

Entwurf Energieeffizienz (2003)

Entwurf Versorgungssicherheit (2003)

KWK-RL (2004)

Zeit Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik Prof. Dr.-Ing. U. Wagner

Abbildung 3: Energiepolitische Instrumente auf Bundes- und EU-Ebene

IV. Wissen und Handeln heute Angesichts der komplizierten Systemstrukturen gibt es einen Hang zu linearen, eindimensionalen Lösungsvorschlägen, gerne aus einem Pauschalpaket aus erneuerbaren Energien, Kraft-Wärme-Kopplung und flächendeckenden Maßnahmen zur Energieeinsparung zusammengesetzt. Jede dieser Techniken hat ihren Platz und ihre Vorzüge, jedoch lassen sich diese nicht ohne Weiteres zu einem neuen System aggregieren. Im Gegenteil: Bei unkritischer massiver Anwendung wird schnell der Punkt maximaler Effizienzsteigerung überschritten. Die Energieversorgung allein mit erneuerbaren Energien ist nicht zwangsläufig effizienter mit konventionellen Energieträgern. Dezentrale, anwendernahe Technologien haben zwar ihre Rolle im System, sind aber als monovalente Versorgungsstruktur ebenso wenig geeignet. Es gibt zahlreiche Studien wissenschaftlicher Institute zur zukünftigen Energieversorgungsstruktur mit den Schwerpunkten erneuerbare Energien, Kraft-Wärme-Kopplung, CO2-Sequestrierung, Kernenergienutzung, Mikro-KWK, Brennstoffzellen und einiges mehr. Vorausgesetzt, dass diese Technologien jeweils technisch und ökonomisch korrekt beschrieben werden und zu einem Gesamtsystem realistisch vernetzt werden, verbleiben immer noch genügend Stellschrauben, das Ergebnis in weiten Grenzen variieren zu lassen (z. B. langfristige Entwicklung der Energiepreise, Annahmen über die technischen Einsatzpotenziale, etc.).

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Der Wissenschaft kommt daher bei der Erstellung von Szenarien zur Politikberatung eine große Verantwortung zu. Sie kann zwar die Zukunft ebenso wenig voraussehen wie die Politik, aber sie kann technische sowie energie- und volkswirtschaftliche Zukunftsszenarien und Sensitivitäten aufzeigen. Dies sind wichtige Hilfen für energiepolitische Entscheidungsträger. Auf diese unterstützende Aufgabe sollte sich die Wissenschaft auch beschränken, wenn sie nicht Gefahr laufen möchte, durch einseitige Festlegung der Rahmenbedingungen nach dem Geschmack der aktuellen Politik tendenziöse Ergebnistrends vorzugeben. Es ist kein Geheimnis, dass sich auch mit einwandfreien Simulationen die Bandbreite der Ergebnisse erheblich variieren lässt. Ein bedeutender Faktor in der Systemanalyse ist die geeignete Wahl des regionalen und zeitlichen Bilanzraumes: Mit Blick auf die lange Nutzungsdauer energietechnischer Systeme müssen mehrere Jahrzehnte modelliert werden. Regionale Lösungen greifen zu kurz und bilden allenfalls den Wettbewerb der Kommunalpolitiker um begrenzte Ressourcen biogener Energieträger oder günstiger Standorte für Windkraftanlagen ab, sind aber weit davon entfernt, ein globales Optimum mit überregionalen Lösungen aufzuzeigen. Schließlich werden sich auch die Preise regional erzeugter Energieträger an den Weltmarktpreisen für Öl und Gas orientieren. Das sind die Gesetze der Marktwirtschaft. Ein gewichtiges Leitkriterium sind die Vermeidungskosten für Primärenergie bzw. CO2-Emissionen. Auch Geld ist eine knappe Ressource und muss mit maximalem „Wirkungsgrad“ eingesetzt werden. Es lassen sich nicht beliebig schnelle Fortschritte mit beliebig viel Geld erreichen. So wird z. B. die Entwicklung der Kernfusion für technische Zwecke wahrscheinlich noch weitere Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Den Vorwurf, mit gleichem Fördermittelansatz für die erneuerbaren Energien könnte man in der Summe mehr erreichen, kann man nicht gelten lassen, solange die Kernfusion die einzige vorstellbare Form einer zusätzlichen Ressourcennutzung darstellt.

V. Was kann man besser machen? Für die Lösung der oben genannten mehrdimensionalen Spannungsfelder ist eine Energie-, Umwelt- und Klimapolitik aus einem Guss erforderlich, auch als Basis für eine langfristig angelegte Forschungs- und Förderpolitik. Zuständigkeitsund Interessenskonflikte zwischen den politischen Akteuren auf Bundes-, Länderund EU-Ebene sowie weltweit müssen ausgeräumt werden. Die Politik muss sich Beratung nur von technologisch und politisch unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen einholen. Die oben dargestellten komplexen Zusammenhänge lassen sich in vier einfachen technischen Regeln zusammenfassen: – Dezentralisierung der Effizienz, d. h. Förderung der Energieeffizienz in allen Anwendungen beim Endnutzer;

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– zunehmende Zentralisierung der Emissionen in großen hocheffizienten Energieumwandlungsanlagen; nur in einem Großkraftwerk lassen sich die Schadstoffe und Treibhausgase effizient vermeiden bzw. abtrennen und ggf. transportieren und speichern; im Falle von Kleinerzeugungssystemen wird dies nie sinnvoll möglich sein. – Eine möglichst breite Diversifizierung der Primärenergieträgerstruktur ist die energiepolitische Basis für eine langfristige Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Energieversorgung. Eine Bewertung nur von physikalischen Energiemengen, z. B. beim Vergleich des Verbrauchs von Benzin- und Elektrofahrzeugen, greift zu kurz, weil die unterschiedlichen Qualitäten der eingesetzten Energieträger nicht zum Tragen kommen. – Die Energieversorgung und deren Effizienzsteigerung müssen kostengünstig erfolgen, weil ohne diese Voraussetzung das Umsetzungspotenzial und die Akzeptanz extrem niedrig sind und im Falle konjunktureller Flauten der zusätzliche Kostenaufwand für Umwelt- und Klimaschutz nicht getragen wird.

Folgende Handlungsmaximen gelten für die Akteure aus Politik und Wissenschaft: – keine Überbestimmung der Ziele. Heute bestehen vielfältige, teilweise nicht kompatible Zielvorgaben zur Einsparung von Primärenergie, Endenergie, CO2Emissionen sowie z. B. Quoten zum zukünftigen Einsatz erneuerbarer Energien nebeneinander. Solche Widersprüche finden sich schon innerhalb des Integrierten Energie- und Klimaprogramms der Bundesregierung, mit nicht abgestimmten Teilzielen, wie Anteile regenerativer Stromerzeugung (25 – 30 %), Verdoppelung des KWK-Stromes auf 25 %, Anteil erneuerbarer Wärmeerzeugung in Gebäuden 14 %, Reduzierung des Energieverbrauchs von Gebäuden in zwei Stufen um jeweils 30 %, Einspeisung von Biomethan in das allgemeine Erdgasnetz und vieles mehr. Erforderlich ist die konsequente Unterstützung nur eines Zieles, nämlich der oben begründeten Schonung fossiler Primärenergieressourcen. – Zu fordern ist eine unbedingte Technologieoffenheit. Es sollen die erklärten Einsparziele gefördert werden und keine festgelegten Einspartechnologien. Eine frühzeitige Förderung bzw. Ausschluss einzelner Technologien durch Politik und Wissenschaft ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit, weil somit möglicher technischer Fortschritt der nächsten Jahrzehnte nicht in Erwägung gezogen wird. Das trifft z. B. für die massive Windenergie- und Photovoltaikförderung zu, bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kernenergie.

Unter Anwendung dieser Vorgaben muss eine Maßnahmenstrategie mit unterschiedlichen zeitlichen Horizonten entwickelt werden, die sich auch in der Forschungspolitik abbilden muss: – kurzfristige Maßnahmen, z. B. flächendeckende Programme zur Gebäudemodernisierung;

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– mittelfristige Programme, z. B. Erneuerung und Umbau leitungsgebundener Systeme (Strom und Gas) oder die Entwicklung alternativer Antriebstechniken für PKW; – langfristige Visionen, z. B. der Einsatz von Wasserstofftechnologie als Basis für eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien oder der Aufbau eines weltumspannenden Global-Link-Systems zur verstärkten Nutzung von Solarstrom.

VI. Fazit Es lohnt sich nicht, über Details von im Prinzip bekannten Fakten und Zusammenhängen zu streiten: Die Begrenztheit der Energieressourcen, der zu erwartende Anstieg von globalem Energieverbrauch und Energiepreisen, der anthropogene Anteil am Treibhauseffekt oder die Notwendigkeit von Ressourcen-, Umwelt- und Klimaschutz sind im Prinzip akzeptierte Fakten. Abbildung 4 (S. 121) zeigt eine überschlägige Abschätzung der Entwicklung von weltweitem Energieverbrauch (bei maximal 12 Mrd. Erdenbürgern) und seiner Deckung: Es kommt nicht darauf an, diese Kurven möglichst exakt zu quantifizieren, eindrucksvolle Beispiele von Fehlprognosen aus der Vergangenheit gibt es schon genügend. Tatsache ist, dass der Großteil der Weltbevölkerung noch lange nicht den Lebensstandard der heutigen Industriestaaten erreicht hat. Also werden diese Menschen weiter danach streben, westliches Niveau bei Energiedienstleistungen zu erreichen, mit entsprechender Zunahme des Ressourcenverbrauchs und der Emissionen. Entscheidend für Politik und Wissenschaft ist also das Bewusstsein, in einem weltweiten System „kommunizierender Röhren“ von Energiequellen und -senken zu leben, was besonders durch die Ursachen- und Folgenanalyse von Treibhausgasemissionen deutlich wird. Die bestehenden und zukünftigen Energieversorgungsstrukturen und deren Rückwirkungen auf Umwelt und Klimaeffekt müssen weiter untersucht und besser verstanden werden. Dies erfordert noch mehr als bisher die Zusammenarbeit vieler Disziplinen aus Ingenieurswissenschaften, Betriebs- und Volkswirtschaftlern, Soziologen, Juristen und anderen. Als Teil des Systems werden wir vielleicht nie alle Zusammenhänge und Folgen unseres Handelns verstehen und voraussagen können. Was zählt, ist der Anspruch, lokale Entscheidungen heute nach bestem Wissen und Gewissen so zu treffen, dass sie auch mit Blick auf das globale Energiesystem langfristig standhalten. Die oben genannten technischen Regeln, Handlungsmaximen und Maßnahmenstrategien setzen einen Rahmen, der jeder Variante der realen Entwicklung gerecht wird. Politische, wissenschaftliche und natürlich auch industrielle Akteure sollten sich in der Anwendung von Fakten und Regeln üben anstelle der Diskussion von Meinungen.

Wissen und Handeln in Sachen Energie, Umwelt, Klima

Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik Prof. Dr.-Ing. U. Wagner

Abbildung 4: Globale Energiesituation – mögliche Bedarfsentwicklung und seine Deckung

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Neues Gold? Agrarrohstoffe für Ernährung und Energie Von Ilse Aigner

Agrarrohstoffe sind in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt geraten. Weltweit steigt die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen. Das Bewusstsein für den Wert von Agrarrohstoffen steigt. Wie Edelmetalle und andere Rohstoffe wurde das „Neue Gold“ zum Spekulationsobjekt an den Börsen der Welt.

I. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Wie reagieren wir darauf? Nach einer Prognose der Vereinten Nationen (VN) wächst die Weltbevölkerung selbst in einem mittleren Szenario von derzeit über 6,5 Mrd. bis zum Jahr 2050 auf über 9 Mrd. Menschen. Diese Menschen mit Nahrung zu versorgen ist eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit. Das ist weltweit erkannt worden. Die Staats- und Regierungschefs der Welt haben sich mit der Millenniumserklärung von 2000 daher das Ziel gesetzt, bis 2015 den Anteil der Hungernden und die Armut weltweit zu halbieren. So lauteten auch die Beschlüsse der Welternährungsgipfel 1996 und 2002. Gleichzeitig wird sich der globale Primärenergieverbrauch bis zum Jahr 2030 gegenüber 1990 mehr als verdoppeln. Auch Energie ist ein Lebens-Mittel. Denn wie Wasser und Nahrungsmittel braucht die heutige Gesellschaft Energie. Dies gilt für Industriestaaten gleichermaßen wie für Entwicklungs- und Schwellenländer. Wer Wohlstand sichern oder schaffen will, benötigt eine zuverlässige Versorgung mit Strom, Wärme und Treibstoff. Die derzeit dominierenden fossilen Energieträger sind endlich und verstärken zudem den bereits begonnenen Klimawandel. Alternativen sind zwingend notwendig. Die erneuerbaren Energien gehören zu diesen Alternativen. Und dies nicht nur in Europa. Weltweit entfielen im Jahr 2000 30% der gesamten genutzten Biomasse auf die industrielle Verwendung und die Bioenergie (einschließlich Brennholz). Der weltweite Zugang zu den Ressourcen ist allerdings ungleichmäßig verteilt. Verteilungskonflikte um Nahrung, Wasser und Energie können Staaten destabilisieren und zu einem Problem der internationalen Sicherheit werden. Die Versorgung

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der Menschheit muss daher sichergestellt werden. Gleichzeitig erfordern die Bewältigung der Folgen des Klimawandels und seine Begrenzung gewaltige Anstrengungen in kurzer Zeit. Die Bewahrung der natürlichen Vielfalt der Erde ist eine weitere Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Dies sind wesentliche Rahmenbedingungen, unter denen die Politik entscheidende Weichen für die Zukunft der Menschheit stellen muss. Die Bundesregierung hat daher im Jahr 2008 eine hochrangige Ressortarbeitsgruppe zu Fragen der Versorgung mit Agrarrohstoffen eingerichtet, bei deren Arbeit mein Ministerium in erheblichem Maße mitgewirkt hat und deren Ergebnisse notwendige Handlungen aufzeigen. Wie stellt sich nun die weltweite Versorgungssituation dar? Nach einem starken Anstieg sind die Preise zwar momentan wieder gesunken. Die realen Preise für Getreide, Reis und Ölsaaten werden nach Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jedoch im Durchschnitt der nächsten zehn Jahre etwa 20 bis 30 % höher liegen als im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre. Zugleich ist mit deutlich größeren Preisschwankungen zu rechnen als in der vergangenen Dekade. Ein neuerlicher Realpreisanstieg ist auch für Energie anzunehmen. Die qualitative Nachfrage nach Lebensmitteln hat sich in der jüngeren Vergangenheit verändert. Dies zeigt sich insbesondere in einer deutlichen Verlagerung hin zu mehr Fleischverbrauch. Der Pro-Kopf-Fleischkonsum in China hat sich nach Einschätzung des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährungspolitik (IFPRI) aufgrund gestiegener Einkommen im Zeitraum 1990 bis 2005 verdoppelt. Und mehr Fleisch bedeutet mehr Futtermittel. Der im weltweiten Vergleich hohe Verzehr tierischer Lebensmittel (Milcherzeugnisse, Fleisch, Eier) in den Industrieländern erfordert seit jeher einen hohen Einsatz von Futtermitteln. Die Europäische Union (EU) ist hier Nettoimporteur (rund 32 Millionen Tonnen Futtermittel ohne Getreide). Auch das globale Bevölkerungswachstum von jährlich etwa 80 Millionen Menschen führt zu einem starken Anstieg der allein mengenmäßigen Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln. Die Food and Agriculture Organisation der Vereinten Nationen (FAO) rechnet mit einem globalen jährlichen Anstieg des Bedarfs an Agrarprodukten (Nahrungs-, Futtermittel sowie nachwachsende Rohstoffe) um 1,6 % bis 2015 und danach um 1,4 % bis 2030. Bislang hat die Agrarproduktion im Wesentlichen mit der Bevölkerung Schritt gehalten. Trotzdem gibt es in Teilen der Welt bereits jetzt Hunger, dies ist heute vornehmlich Verteilungsfragen geschuldet. Zukünftig wird sich die Schere zwischen der wachsenden Weltbevölkerung und der Agrarproduktion aber weiter öffnen, wenn wir nichts dagegen tun. In vielen Entwicklungsländern wurde der Agrarsektor in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt. Investitionen in die Landwirtschaft und die ländlich agra-

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rische Infrastruktur wurden nicht in ausreichendem Maße getätigt. Die geringe Produktivität ist strukturell bedingt und wird durch einen Mangel an guter Regierungsführung, aber auch durch innere oder regionale Konflikte, Krankheiten und Naturkatastrophen verschärft. Viele afrikanische Länder, die vor 20 Jahren noch regelmäßig Agrarprodukte exportiert haben, sind aufgrund einer Vernachlässigung des Agrarsektors heute zu Nettonahrungsmittelimporteuren geworden. Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach Agrarrohstoffen für die Bioenergieerzeugung, vor allem nach Zucker, Mais, Maniok, Ölsaaten und Palmöl. Der Anbau für Biodiesel und Bioethanol auf geschätzten bisher nur 1,9 % (2007, FAO) der Weltackerfläche kann regional ein weiterer Faktor für einen Preisanstieg bei Agrarerzeugnissen sein. Die Erzeugung auf dieser Fläche liegt allerdings unterhalb der jährlichen Schwankungen der Erntemengen, z. B. infolge der Witterung. Außerdem entstehen bei der Biokraftstoffherstellung in erheblichem Maße Nebenprodukte, die für die Verfütterung eingesetzt werden. Zukünftig, je nach Szenario und Modellannahmen unterschiedlich, kann jedoch der geplante Ausbau der Biokraftstoffnachfrage ohne Mobilisierung von nachhaltig nutzbaren Flächenreserven, Produktivitätssteigerung und Reststoffnutzung einen stärkeren Einfluss auf die Preise für bestimmte Agrarerzeugnisse gewinnen. Genaue Einordnungen sind jedoch sehr schwierig. Die Schätzungen und Prognosen unterscheiden sich je nach Szenario und zugrunde liegenden Annahmen erheblich. Die OECD (2008) schätzt den Preiseffekt der Bioenergienachfrage auf die Weizenpreise 2013 bis 2017 auf rund 8 %, auf die Grobgetreidepreise auf rund 11% und auf die Ölsaatenpreise auf rund 6 %. Das IFPRI (2008) hingegen schätzt schon den aktuellen Einfluss (2007) des Agrarkraftstoffverbrauchs auf die Preisbildung, ca. 10 % bei Weizen und ca. 20 % bei Mais. Steigende Treibstoffpreise machen die energetische Verwertung von Agrarrohstoffen generell attraktiver. Der Anbau von Energiepflanzen kann kurzfristig und regional unterschiedlich zulasten der Lebensmittelerzeugung ansteigen. Die Bioenergie ist jedoch – anders als z. T. tendenziös dargestellt („Tank oder Teller“) – nicht der Preistreiber schlechthin, sondern nur ein Faktor unter mehreren. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass auch die Klimaveränderung einen verstärkten Einfluss auf die Produktion von Agrarrohstoffen hat. Wetterextreme, die Verringerung von Niederschlagsmengen und Verschiebung von Regenzeiten führen vor allem auf der Südhalbkugel zu Wasserknappheit, weniger nutzbarer Fläche und einer verringerten Produktivität der Landwirtschaft. Neben Bodenverlusten durch Wüstenbildung, Versalzung, Erosion und Nährstoffverarmung vermindert auch der Flächenverbrauch für Siedlungen und Infrastruktur weltweit die Agrarfläche. In Entwicklungsländern der Tropen und Subtropen werden zukünftig überwiegend Ernterückgänge erwartet. In einigen Ländern Afrikas könnten sich die Erträge aus der vom Regen abhängigen Landwirtschaft bis 2020 um bis zu 50 % reduzieren. Auch die Abnahme der Biodiversität kann zu einer Bedrohung für die Ernährungssicherheit werden. Die Pflanzenzüchtung ist auf das Reservoir von Wild-

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pflanzen angewiesen, um neue Eigenschaften zu finden und in Kulturpflanzen einzubringen. Auch die weltweite Verbreitung nur weniger Kultursorten vermindert die Biodiversität. Allerdings werden potenzielle Agrarflächen derzeit nicht genutzt. Global gesehen gibt es somit trotz klimabedingter Verluste und des Verbrauchs landwirtschaftlich nutzbaren Landes noch Raum für weiteres Ertragswachstum. Steigende Agrarpreise bieten einen Anreiz, nutzbare Flächenreserven zu mobilisieren und in die Landwirtschaft zu investieren. Dies gilt auch für Entwicklungsländer. Zusammengefasst können wir bei Agrarrohstoffen also tatsächlich von „Neuem Gold“ sprechen. Denn das Aufkommen ist begrenzt, Agrarrohstoffe werden wertvoller. Was also ist zu tun, um die globale Versorgung mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen zu verbessern? Wir dürfen die Programme zur Verbesserung der globalen Ernährungssicherung nicht allein auf den Agrarbereich und die konkrete Armutsbekämpfung konzentrieren. Wir müssen bei allen Maßnahmen auch die Wechselwirkungen zwischen umwelt- und wirtschaftspolitischen und sozialen Fragen auch mit Blick auf das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, den Klimawandel sowie die Sicherung der Energie- und Wasserversorgung beachten. Kurzfristig geht es darum, akute Not zu lindern, humanitäre Hilfe zu leisten und Maßnahmen zur Beruhigung der Agrarmärkte zu ergreifen. Gleichzeitig müssen in den Entwicklungsländern mittel- und langfristig wirkende strukturelle Maßnahmen ergriffen werden, um die Produktion von Nahrungsmitteln zu erhöhen. Dazu bedarf es breit angelegter Programme zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durch Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft sowie zur wirtschaftlichen und sozialen Stärkung der ländlichen Räume in den Entwicklungsländern und einer Intensivierung der damit korrespondierenden Forschung. In diesem gesamten Prozess ist die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer in besonderem Maße gefordert. Wir müssen die Hilfen der internationalen Gemeinschaft vornehmlich darauf richten, die Regierungen in den Entwicklungsländern zu unterstützen, ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen und strukturelle Hindernisse abzubauen.

II. Was bedeutet das nun konkret? Wir müssen weltweit Rahmenbedingungen der landwirtschaftlichen Produktion unterstützen, die Preissignale bei den Produzenten ankommen lassen, wirtschaftlich tragfähige Erzeugung ermöglichen, die sich in wachsenden Einkommen niederschlagen. Dazu gehören aber auch Maßnahmen zur Gewährleistung und Verbesserung der Rechtssicherheit, Aufbau effizienter Verwaltungsstrukturen, Instrumente zur Schaffung von Markt- und Preistransparenz sowie an der Armutsbekämpfung orientierte sozialpolitische Maßnahmen.

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Daneben muss die globale Produktion von Agrarrohstoffen direkt gesteigert werden. Dies erfordert Investitionen. Landwirtschaftliche Geräte, Saatgut, Treibstoff, Dünge- und Pflanzenschutzmittel und Bewässerungstechnik müssen beschafft werden. Effiziente Lagerungs-, Vermarktungs- und Beratungsstrukturen sowie der Zugang zu günstigen Krediten und Finanzdienstleistungen sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung erfolgreicher bäuerlicher Strukturen und regionaler dauerhafter Wertschöpfungsketten. Eine begleitende Beratung der Investitionstätigkeiten auf der betrieblichen Ebene unterstützt die Investitionskraft und ermöglicht in erster Linie eine bessere Einschätzung der Rentabilität der Investitionen. Begleitet werden muss dies durch den Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur der ländlichen Regionen. Ein verbesserter Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Für die Stärkung der Eigenversorgung der Entwicklungsländer und ihre verbesserte Teilhabe an den regionalen und internationalen Agrarmärkten kann z. B. der Anschluss ländlicher Gebiete an das Fernverkehrsnetz erforderlich sein. Auswirkungen von Maßnahmen auf andere Politikfelder (wie z. B. Umweltauswirkungen) sind dabei jeweils im Blick zu behalten, um eine insgesamt nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Dies wirkt zugleich der Landflucht und der Entwicklung hin zu wachsenden Elendsvierteln in den Großstädten der Dritten Welt entgegen. Wir, die Geberländer, sind gefordert, mit Zuschüssen und Krediten die Investitionen in die Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung mit klaren Zielvorgaben für die Reduktion von Hunger und Armut zu fördern. Diese Strategien sollten die Investitionserfordernisse wie den politischen Handlungsbedarf definieren sowie die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dieser Strategien ist die effektive Beteiligung des Privatsektors und der Zivilgesellschaft. Dafür bedarf es der eigenverantwortlichen Steuerung der Strategieentwicklung und des Umsetzungsmonitorings durch die Regierungen der Entwicklungsländer. Ein wesentlicher Baustein zur Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft ist die Agrarforschung. Dies gilt vor allem für die Entwicklungsländer. Um die Ertragssteigerungen erreichen zu können, sind Forschungsanstrengungen entlang der gesamten landwirtschaftlichen Produktionskette inklusive der Zulieferindustrien notwendig. Insbesondere müssen die Potenziale der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen, z. B. im Hinblick auf größere Stresstoleranz und Widerstandsfähigkeit, höhere Nährstoffdichte und die bessere Nutzung von Nährstoffen, deutlich verbessert werden. Zur Erreichung dieser Ziele sollten neben der klassischen Züchtung auch Methoden der modernen Pflanzentechnologie in Betracht gezogen werden. Dazu gehört für mich auch ein verstärkter internationaler Dialog zu Chancen und Grenzen einer verantwortungsvollen Nutzung der grünen Gentechnik. Die Bundesregierung wird ihre Unterstützung für die nationale und internationale Agrarforschung und den Wissens- und Technologietransfer ausbauen. Wir

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müssen unser Know-how bündeln und es anderen zur Verfügung stellen. Im Rahmen der Hightech-Strategie wird die Bundesregierung das Innovationsfeld Pflanze, das die großen Wertschöpfungsbereiche „Pflanze als Nahrungs- und Futtermittel“, „Pflanze als Energielieferant“ und „Pflanze als nachwachsender Rohstoff“ umfasst, strategisch weiterentwickeln. Eine wichtige Aufgabe im Kampf gegen die Knappheit von Agrarrohstoffen kommt auch der Ausbildung zu. Durch die Ausbildung von Fachkräften der Entwicklungsländer an unseren Hochschulen für den Einsatz in ihren Heimatländern und durch gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte kann der Wissensund Technologietransfer unterstützt werden. Zugleich wird die agrarwissenschaftliche Kompetenz in den jeweiligen Kooperationsländern gestärkt. Landwirtschaftliche Ausbildung und Beratung vor Ort müssen gefördert werden. In Deutschland gibt es genug Fläche für die Produktion von Nahrungsmitteln und Biomasse. Um unsere Klimaschutzziele zu erfüllen, sind wir jedoch zusätzlich auf den Import von Biomasse aus Drittstaaten angewiesen. Auch für Entwicklungsländer ergeben sich danach Chancen durch die Erzeugung von nachwachsenden Rohstoffen für Industrie und Energie, aber nicht nur für den Export. Das stärkt auch dort den ländlichen Raum hin zu einer größeren Multifunktionalität. Aus der globalen Nachfragesteigerung nach Nahrungsmitteln, nachwachsenden Rohstoffen und Bioenergie resultiert eine zunehmende Konkurrenz um den Boden. Ein verantwortungsbewusster Ausbau der Bioenergie muss daher ökonomische Effizienz und ökologische und soziale Nachhaltigkeit beachten. Bioenergie soll die Abhängigkeit von Importen fossiler Energieträger verringern, einen Beitrag zum Klimaschutz leisten und Einkommen für Bäuerinnen und Bauern schaffen. Gleichzeitig ist die weltweite Flächenreserve endlich. Ökologisch wertvolle Flächen müssen geschützt werden. Neben der Förderung der Produktivität nachhaltiger Landwirtschaft sind deshalb weitere Maßnahmen erforderlich. Ziel ist, den Konkurrenzen zwischen Biomasseproduktion für energetische und stoffliche Nutzung und der Nahrungs- und Futtermittelerzeugung einerseits sowie den ökologisch wertvollen Flächen andererseits von vornherein entgegenzutreten. Wo Konflikte nicht auszuräumen sind, hat für mich die Ernährungssicherung eindeutig Vorrang. Die Erzeugung von Biomasse in der EU erfolgt nachhaltig. Es darf jedoch nicht sein, dass für die Erzeugung von Biomasse in Drittländern z. B. tropische Regenwälder gerodet oder ökologisch wertvolle Feuchtgebiete trockengelegt werden. Daher brauchen wir verbindliche Nachhaltigkeitsstandards und effektive Zertifizierungssysteme. Die Bundesregierung setzt sich auf nationaler, EU- und internationaler Ebene für entsprechende Regelungen ein. Die Kriterien müssen sowohl ökologische und soziale Aspekte wie auch die Frage der Flächenkonkurrenz umfassen. International engagiert sich die Bundesregierung vor allem in der FAO und der Global Bioenergy Partnership (GBEP) für umfassende Nachhaltigkeitsanforderun-

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gen. Sie hat sich zudem erfolgreich dafür eingesetzt, dass in der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) die Biodiversitätsaspekte solcher Nachhaltigkeitsanforderungen bearbeitet werden. Die Bundesregierung wird auch die bilaterale Zusammenarbeit nutzen, um hier Fortschritte zu erreichen. Ein Beispiel dafür ist das Deutsch-Brasilianische Energieabkommen, das auch die Zusammenarbeit bei Nachhaltigkeitsfragen zum Inhalt hat. Die Bundesregierung unterzieht neben anderen Politikfeldern auch die Bioenergiepolitik einem Monitoringprozess, um die jeweiligen Instrumente und möglichen Auswirkungen auf eine nachhaltige Entwicklung zu überprüfen. Ein Aspekt sind auch denkbare oder tatsächliche Nutzungskonkurrenzen. Hier spielen möglicherweise die sogenannten „neuen Biokraftstoffe“ oder „Biokraftstoffe der zweiten Generation“ eine besondere Rolle. Sie können aus Restoder Abfallstoffen hergestellt werden. Es gibt aber noch offene Fragen zu Ökonomie und Ökologie. Die Forschung wird helfen, diese Fragen zu beantworten. Aber auch bei den „Biokraftstoffen der ersten Generation“, wie etwa Biodiesel oder Ethanol aus Getreide, besteht noch Optimierungspotenzial und damit einhergehend Forschungsbedarf. Zur Klärung der noch offenen Fragen rund um die Bioenergie wird auch die Arbeit des im Jahr 2008 von der Bundesregierung gegründeten Deutschen Biomasseforschungszentrums in Leipzig beitragen. International berät die Bundesregierung im Rahmen ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Partnerländer bei der Entwicklung von angepassten Bioenergiequellen für die ländlichen Räume, bei der Verbesserung angepasster und diversifizierter Landnutzungssysteme und bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur nachhaltigen Biomasseproduktion. Die globale Klimaschutzpolitik ist untrennbar mit der Produktion von Agrarrohstoffen verbunden. Hierfür sind internationale Vereinbarungen für ein Post-KyotoAbkommen ebenso unverzichtbar wie die Umsetzung der nationalen und europäischen Klimaschutzziele. International ruhen hier viele Hoffnungen auf der neuen US-Regierung. Eine Steigerung der weltweiten Agrarproduktion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Die VN-Steuerungsgruppe für die Millenniumentwicklungsziele (MDG) schätzt den Bedarf für eine deutliche Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung allein in Afrika auf 8 – 10 Mrd. US-Dollar jährlich. Insgesamt gehen die VN von einem jährlichen Bedarf von rd. 15 – 20 Mrd. US-Dollar aus. Die FAO veranschlagt für mittel- bis langfristige Maßnahmen einen Zusatzbedarf von 1,7 Mrd. US-Dollar, die z. B. als Hilfen für Saatgut und Düngemittel in Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen und hohem Nahrungsmittelnettoimport ausgegeben werden sollen. Diese Schätzungen verdeutlichen die großen finanziellen Herausforderungen, vor denen die nationalen Regierungen der betroffenen Länder und die internationale Gebergemeinschaft stehen.

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Die Bundesregierung leistet ihre Unterstützung sowohl im bilateralen, europäischen und multilateralen Rahmen. Der Bundeshaushalt und die weitere Finanzplanung geben dabei den finanziellen Handlungsspielraum vor. Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung gehören im 10. Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) mit einem Gesamtvolumen von 22,7 Mrd. Euro von 2008 – 2013 zu den bedeutenden Ausgabenposten. Der EEF ist schwerpunktmäßig in Afrika, aber auch in den karibischen und pazifischen Staaten, tätig. Die Verbesserung der Welternährung ist auch eine der zentralen Aufgaben, die sich die G-8-Staaten gestellt haben. Im April 2009 fand die erste G-8-Agrarministerkonferenz der Geschichte statt. Diese forderte die Stärkung der kleinbäuerlichen Betriebe und die Aufwertung der ländlichen Räume. Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass es große politische und finanzielle Anstrengungen bedeutet, die wachsende Menschheit mit Agrarrohstoffen zu versorgen und so die Zukunft der Weltgemeinschaft zu sichern. Aber ein Scheitern wäre fatal. Denn unsere Erde gibt es nur einmal.

Die Tugend des Vorausdenkens: Klimaschutz für Mensch und Natur Von Hartmut Graßl

I. Das Klima bestimmt unseren Wohnort Unsere zentralen Überlebensparameter sind gleichzeitig die wichtigsten Klimaparameter. Diese Aussage gehört leider bei vielen Menschen nicht zum Standardwissen. Wir können nur dort in größerer Zahl leben, wo die Sonne für ausreichend Wärme sorgt, Süßwasser vom Himmel fällt oder in einem Fluss vorbeiströmt und dann die Pflanzen mit Sonnenenergie, Wasser, Kohlendioxid und wenig Nährstoffen unsere Nahrung schaffen. Gleichzeitig sind die Strahlungsflussdichte der Sonne, die Wolken und der aus ihnen fallende Niederschlag sowie die vom nicht pflanzlichen Leben abgegebenen Spurengase der Atmosphäre wie Kohlendioxid, Methan und Lachgas sowie die geringe Helligkeit der Pflanzen die zentralen Klimaparameter. Es stimmt also, wenn ich sage: (Rasche) Klimaänderungen greifen das Leben an. Die natürlich vorkommenden, oft schleichenden Klimaänderungen haben deshalb immer wieder Gruppen von Menschen meist nach Hungerkatastrophen zur Wanderung gezwungen, manchmal auch ausgelöscht oder vor Ort aufblühen lassen.

II. Zeitskalen der natürlichen Klimaänderungen Die Rekonstruktion der Klimageschichte, die uns während der letzten Jahrzehnte für Zeitskalen bis zu vielen Millionen Jahren gelungen ist, hat unser Wissen zu natürlichen Klimaänderungen stark verbessert. So können wir z. B. die Temperatur bei der Bildung von Schneeflocken aus den Schichten im Grönländischen Inlandeis für Jahrtausende zurück an den Jahresschichtungen eines Sauerstoffisotops erschließen. Der Kohlendioxidgehalt der Paläoluft kann aus den im Inlandeis der Antarktis abgeschlossenen Luftbläschen bereits mindestens 650.000 Jahre zurückverfolgt werden. In den in Tiefseesedimenten begrabenen Kalkschalen von Kleinlebewesen erkennen wir den Einfluss der Nachbarplaneten Venus, Jupiter und Saturn auf die Bahn der Erde um die Sonne. Denn die Form und Lage dieser Bahn im Raum bestimmt fast periodisch seit Millionen von Jahren den Takt für intensive Vereisung und Zwischeneiszeiten. In jeweils etwa 96.000 Jahren ändert sich die Ellipse der Erdbahn um die Sonne von fast kreisförmig bis zu einer Exzentrizität

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von 0,06 und zurück zur fast kreisförmigen Bahn. Auch die Intensität der Jahreszeiten wird von den Nachbarplaneten moduliert, weil auch die Neigung der Drehachse der Erde zur Bahnebene um die Sonne von diesen erzwungen in ca. 40.000 Jahren zwischen 21,8 und 24,5 ° (zurzeit 23,5 °) hin und her schwankt. Und in ca. 23.000 Jahren wandert der sonnennächste Punkt der Erdbahn einmal durch das Kalenderjahr, weil sich die Lage der Bahnellipse im Raum systematisch ändert. Sucht man nach den raschesten globalen Klimaänderungen der vergangenen Million Jahre, dann sind es die Übergänge von den jeweiligen Enden intensiver Vereisung in die Zwischeneiszeiten, als in etwas weniger als 10.000 Jahren die großen Eisschilde über Nordeuropa und Nordamerika bei einem mittleren globalen Temperaturanstieg von höchstens 5 °C fast vollständig abschmolzen und der Meeresspiegel im Mittel um etwa 120 m anstieg. Regional beschränkte Klimaänderungen können viel schneller ablaufen, so z. B. die starke Schwächung der Nordatlantischen Drift (umgangssprachlich bekannt als „Golfstrom“), die den nordeuropäischen Raum besonders trifft und öfter innerhalb von Zeitabschnitten mit starker Vereisung für Jahrhunderte und Jahrtausende jeweils eine starke Abkühlung von einigen Grad und Jahrhunderten Dauer in Skandinavien und Nordwesteuropa brachte, jeweils nach einigen Jahrhunderten mit einer nachfolgenden raschen Wiedererwärmung. Das letzte derartige Ereignis fand vor ca. 12.000 Jahren statt, als ein riesiger Schmelzwassersee auf dem nordamerikanischen Kontinent sich sehr rasch über den Lorenzstrom in den Nordatlantik entleerte, dabei das Ozeanwasser an der Oberfläche ansüßte und somit die Tiefenwasserbildung im Spätwinter in der See um Grönland stoppte, wodurch kein kompensierender Strom relativ warmen Wassers nordwärts mehr nötig war. Auch die größte Wüste der Erde, die Sahara, ist erst vor ca. 5.500 Jahren aus einer Trockensavanne vergleichsweise rasch, in einigen Jahrhunderten, zu einer hyperariden Wüste geworden, weil der sonnennächste Punkt der Erdbahn in das Winterhalbjahr der nördlichen Erdhälfte rückte und so der afrikanische Sommermonsun geschwächt wurde. Denn die weniger Sonnenlicht als die Wüste zurückstreuende Vegetation wurde bei wachsender Trockenheit heller und konnte ihre Aufgabe, durch verstärkte Absorption von Sonnenenergie und höhere Verdunstung von Wasser den weiter nordwärts ausgreifenden Monsun zu erhalten, damit nicht mehr erfüllen. Wie stark Schwankungen der Helligkeit der Sonne bei Zeitskalen von Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden Klima änderten, ist wegen noch fehlender eindeutiger Rekonstruktion der Helligkeit der Sonne nicht so klar. Erst seit 1978 wissen wir über die Helligkeitsänderungen durch direkte Satellitenmessungen Bescheid. Sie ergaben eine Schwankung um ein Promille im etwa elfjährigen Sonnenzyklus (höher bei vielen Flecken auf der Sonne) mit nicht entdeckbaren Schwankungen in diesem Rhythmus der wichtigsten Klimaparameter an der Erdoberfläche, wohl jedoch mit nachgewiesenen Effekten in der Atmosphäre oberhalb

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20 km Höhe. Überhaupt ist die Erdatmosphäre gegenüber anderen Planetenatmosphären etwas Besonderes.

III. Die Besonderheit der Erdatmosphäre: Treibhauseffekt durch Spurengase Venus, Mars und Erde sind bezüglich Größe und Zusammensetzung der Planeten selbst einander recht ähnlich, haben aber sehr unterschiedliche Atmosphären. Alle drei Lufthüllen enthalten Kohlendioxid, dominant als Treibhausgas mit 95 bzw. 97 Volumenprozent bei Mars und Venus, als Spurengas und nur zweitrangiges Treibhausgas mit nur zwischen 0,02 und 0,03 % für die Erde in den vergangenen Hunderttausenden von Jahren. Der Luftdruck an der Oberfläche der Planeten unterscheidet sich für Mars, Erde und Venus im Verhältnis 1:100:6.000. Während Venus ständig mit Wolken aus Schwefelsäuretröpfchen eingehüllt ist, hat Mars fast keine und nur dünne Wolken und die Erde ist zu etwa 60 % von oft mächtigen Wolken bedeckt. Alle für das Klima an der Erdoberfläche sehr wichtigen Bestandteile der Atmosphäre zusammen erreichen nur 3 % der Masse der Atmosphäre. Grob nach Bedeutung für das Klima gereiht sind es Wasserdampf, flüssiges Wasser und Eis in Wolken, Kohlendioxid, Ozon, Aerosolteilchen, Lachgas und Methan. Wegen dieser großen Rolle der kleinen Beimengungen handhaben der Mensch und das Leben insgesamt einen sehr großen Hebel, mit dem globale Klimaänderungen ausgelöst werden können. Alle genannten Gase sind Treibhausgase, d. h. sie absorbieren Wärmestrahlung weit stärker als Sonnenstrahlung, so dass bei ihrer Zu- oder Abnahme die Erdoberfläche wärmer oder kälter wird, weil langfristig jeder Planet einen ausgeglichenen Energiehaushalt anstrebt; absorbierte Sonnenstrahlung und emittierte Wärmestrahlung sind dann gleich. Von den genannten fünf Gasen sind drei sogenannte langlebige Gase, d. h. ihr Konzentrationsabfall bis ca. 37 % (dies entspricht 1 / e, wenn e = 2,78 die Basis des natürlichen Logarithmus ist) bei fehlenden weiteren Quellen beträgt mindestens einige Jahre. Die langlebigen natürlich in der Atmosphäre vorkommenden Gase und ihre Lebensdauer bei zusätzlichen Quellen sind: Kohlendioxid (CO2) mit mehr als 100 Jahren, Distickstoffoxid (N2O, auch Lachgas genannt) mit 120 Jahren und Methan (CH4) mit nur etwa 10 Jahren. Steigt die Konzentration von CO2 an, so muss das Klimaänderungen über mindestens Jahrhunderte verursachen, weil auch langsamer reagierende Klimasystemkomponenten wie der tiefe Ozean und Eisgebiete sich nur verzögert anpassen. Daher ist Klima nie stabil, weil es immer einen veränderlichen – externen oder internen – Einflussfaktor (Sonne, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Kontinentaldrift usw.) gibt. Unsere gegenwärtige geologische Epoche, das Holozän, das etwa seit 11.000 Jahren anhält, ist durch besonders geringe Schwankungen der mittleren globalen Temperatur an der Erdoberfläche von unter ein Grad gekennzeichnet. Meist waren globale Klimaänderungen in der jüngeren Geschichte der Erde viel stärker. Die gegenwärtige Zusammensetzung

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der Atmosphäre, vor dem wesentlichen Eingriff des Menschen, führt zu einer Oberflächentemperatur, die um etwa 30 – 33 ° höher liegt gegenüber einer Atmosphäre ohne diese fünf Treibhausgase. Die angegebene Spanne geht wesentlich auf die Variation der Helligkeit des Planeten zurück, die bei der Berechnung eingesetzt wird. 30 ° folgen, wenn die heute bekannte Helligkeit verwendet, und ca. 33 °, wenn die einer Erde ohne Ozean und Leben (Vergleichsmaßstab ist dann der Mond mit sehr ähnlicher Gesteinshülle) angesetzt wird.

IV. Einflussmöglichkeiten des Menschen Der für viele offensichtlichste Einfluss der Menschheit auf das Klima ist die Abgabe von Abwärme in die Umwelt bei den vielen Millionen Verbrennungsstellen in Häusern, Fabriken, Kraftwerken und Automobilen. Zur Überraschung für die Laien ist dieser Einfluss global sehr gering, lediglich in sehr großen Städten nicht vernachlässigbar. Das gesamte Energieversorgungssystem der Menschheit führt zu einer mittleren globalen Leistungs- oder Energieflussdichte von nur 0,03 Watt pro Quadratmeter (Wm-2). Dies ist äquivalent zu einer Reduktion der Helligkeit des Planten um 0,0001 oder 0,01%. Der zweite anthropogene Zugang in das Klimasystem ist die Veränderung der Rückstreufähigkeit von Oberflächen durch Entwaldung, Ackerbau auf Steppenflächen, Siedlungsbau, Verkehrswege usw. Diese Eingriffe sind regional nicht vernachlässigbar, im globalen Maßstab jedoch noch weit entfernt von einer wesentlichen Einflussnahme, aber mit einer global gemittelten Strahlungsflussdichteänderung von ca. -0,16 Wm-2 – dem Betrag nach schon um fast eine Größenordnung bedeutender als die Abwärme. Das negative Vorzeichen entsteht durch die bei Eingriffen im Mittel heller werdenden Oberflächen, wodurch weniger Sonnenenergie absorbiert und damit eine geringe Abkühlung angestoßen wird. Der dritte, zunächst nicht offensichtliche anthropogene Zugang ist nicht nur der bedeutendste, sondern auch der über Jahrhunderte andauernde und wahrlich globale, nämlich die veränderte Zusammensetzung der Atmosphäre. Er betrifft alle langund kurzlebigen Treibhausgase, aber auch die Trübung der Luft und dadurch modifizierte Wolken. Warum er so bedeutend ist, soll ein kleines Zahlenbeispiel zeigen: Steigt die Konzentration des Lachgases (N2O) um nur etwa 15 % von 0,28 auf 0,32 Millionstel Volumenanteile (ppm), dann ist durch den damit erhöhten Treibhauseffekt der Atmosphäre die Strahlungsbilanz des Planeten Erde um +0,16 Wm-2 gestört, wodurch für den Ausgleich dieser Störung eine Erwärmung der Oberfläche angestoßen wird. Also führt diese winzige Änderung der Zusammensetzung der Atmosphäre dem Betrag nach zur gleich großen klimaändernden Wirkung als alle Landnutzungsänderungen seit Beginn der Industrialisierung zusammen.

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V. Der durch uns Menschen erhöhte Treibhauseffekt Es ist fast jede Tätigkeit des modernen Industriemenschen mit der Emission von Spurengasen verbunden. Im Beruf, im Urlaub, in der Schule, beim Sport oder bei der Freizeitgestaltung wird direkt oder indirekt zumindest Kohlendioxid, sehr häufig auch Methan und öfter zusätzlich auch Lachgas emittiert. Der Energiekreislauf unseres Körpers ist auf die Verbrennung von nur wenigen 100 g Kohlenwasserstoffen pro Tag beschränkt. Es kommen jetzt aber unsere Energiesklaven hinzu, bei einer Leistung von ca. 5 kW pro Deutschem sind es also 50 Sklaven pro Person (weil die Leistung eines leicht arbeitenden Menschen etwa 100 Watt beträgt), die fast alle von fossilen Brennstoffen gespeist werden. Die fast totale Abhängigkeit der Industriegesellschaft einschließlich der Landwirtschaft von Erdöl, Erdgas und Kohle macht jeden Bürger zum Emittenten, wie sehr er sich auch im persönlichen Bereich bemüht zu entkoppeln. Die Masse des gasförmigen Abfalls von ca. 9 Tonnen CO2 pro Jahr eines normalen deutschen Bürgers entspricht je nach körperlicher Arbeit einer Leistung von 100 bis 200 Watt, führt aber nur zur Emission von 700 g CO2 pro Tag. Da der Kohlenstoff in der Nahrung vorher von den Pflanzen aus der Atmosphäre geholt wurde, muss dieses „Nullsummenspiel“ in unsere Betrachtungen nicht einbezogen werden, wohl jedoch das Verbrennen aus fossilen Lagerstätten, das seit Jahrmillionen Gestapeltes jetzt um etwa den Faktor 1 Million gegenüber der Bildungsrate beschleunigt in die Atmosphäre zurückführt. Die Masse des gasförmigen Abfalls eines Bürgers ist weit über die des festen Mülls gestiegen, obwohl Letzterer im Bewusstsein des Normalverbrauchers viel eher präsent ist. Die CO2-Emissionen pro Kopf für die Mitgliedsländer der Europäischen Union, die keineswegs zu den besonders hohen Emittenten unter den Industrienationen gehören, liegen aber wegen des weit überdurchschnittlichen Wohlstandes dennoch mit etwa 8 Tonnen CO2 pro Jahr beträchtlich über dem globalen Mittel. Die innereuropäischen Unterschiede sind noch groß, haben aber die Tendenz zur Angleichung. Die weltweiten Emissionen seit Beginn der Industrialisierung um ca. 1750 haben zu einem erhöhten Treibhauseffekt und damit zu einer mittleren globalen Erwärmung geführt. Das in der Wissenschaft hierfür verwendete Maß heißt Strahlungsantrieb. Es gibt in Einheiten einer Strahlungsflussdichte, also Wm-2, an, wie stark der Strahlungshaushalt des Planeten am Oberrand der durchmischten unteren Atmosphäre, ca. 10 km hoch bei uns und ca. 16 km am Äquator (also über den höchsten dichten Wolken), allein durch das Hinzufügen oder die Reduzierung eines Treibhausgases oder durch die Luft trübende Teilchen gestört worden ist. In der unten wiedergegebenen Abbildung 1 sind alle acht von uns Menschen signifikant veränderten Anteile an der Atmosphäre aufgeführt. Die wesentliche Schlussfolgerung, hier genommen aus dem vierten bewertenden Bericht des zwischenstaatlichen Ausschusses über Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change = IPCC) aus dem Jahre 2007, lautet, auf Abbildung 1 aufbauend:

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„Das Verständnis der erwärmenden und kühlenden anthropogenen Einflüsse auf das Klima hat sich seit dem Dritten Sachstandsbericht (TAR) verbessert und zu einem sehr hohen Vertrauen geführt, dass der globale durchschnittliche NettoEffekt der menschlichen Aktivitäten seit 1750 eine Erwärmung war, mit einem Strahlungsantrieb von +1,6 [+0,6 bis +2,4] Wm-2.“1 Also ist es höchstwahrscheinlich, dass wir Menschen zu Klimamachern geworden sind.

Quelle: IPCC4, AG I, Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger, 2007, http: // www.ipcc. ch / graphics / graphics / ar4-wg1 / jpg / spm2.jpg. Anmerkung: Schätzungen und Bandbreiten des global gemittelten Strahlungsantriebs (SA) im Jahr 2005 für anthropogenes Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Lachgas (N2O) und andere wichtige Faktoren und Mechanismen, zusammen mit der typischen geographischen Ausdehnung (räumliche Skala) des Antriebs und der Beurteilung des Grades des wissenschaftlichen Verständnisses (GDWV). Der Nettobetrag und die Bandbreite des anthropogenen Strahlungsantriebs sind ebenfalls angeführt. Deren Berechnung benötigt die Summierung von asymmetrischen Unsicherheitsabschätzungen der einzelnen Faktoren und kann deshalb nicht durch einfache Addition durchgeführt werden. Für weitere hier nicht aufgeführte Strahlungsantriebe wird das GDWV als sehr niedrig eingeschätzt. Vulkanische Aerosole wirken als zusätzlicher natürlicher Antrieb, sind aber aufgrund ihres episodischen Charakters in dieser Abbildung nicht berücksichtigt. Der Bereich für geradlinige Kondensstreifen schließt andere mögliche Effekte des Luftverkehrs auf die Bewölkung nicht ein.

Abbildung 1: Komponenten des Strahlungsantriebs

1 Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC (Hrsg.): Klimabericht, Teil 4, Arbeitsgruppe I, Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger 2007, in der Übersetzung des BMU, Berlin 2007.

Die Tugend des Vorausdenkens: Klimaschutz für Mensch und Natur

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VI. Die Folgen des erhöhten Treibhauseffektes Abbildung 1 stellt ja klar, dass die soeben als anthropogen beschriebene globale Erwärmung noch höher ausfallen würde, wenn nicht die erhöhte Trübung der Luft durch ihre abkühlende Wirkung gleichsam maskierend eingriffe. Da die Effekte der im Mittel erhöhten Lufttrübung nur sehr schwer einzuschätzen sind, gibt es trotz der recht genau bestimmten mittleren globalen Erwärmung von 0,76  0,15 °C seit 1900 weiterhin eine große Unsicherheit über die Empfindlichkeit des Klimasystems, z. B. ausgedrückt in Erwärmung bei einer Verdopplung des vorindustriellen CO2-Gehaltes von 280 auf 560 ppm. In IPCC2 ist dafür zum ersten Mal der wahrscheinlichste Wert, nämlich 3 °C, genannt worden. Unter 1,7 °C wurde als sehr unwahrscheinlich (nur 5 % Eintrittswahrscheinlichkeit) bezeichnet, aber auch 4,5 °C wäre mit ähnlich geringer Wahrscheinlichkeit noch möglich. Da die Erwärmung stark unterschiedliche regionale Muster zeigt, mit besonders hohen Werten im Inneren der Kontinente und in Gebieten mit schwindendem sommerlichen Meereis und auch die Wirkung der Konzentrationsänderung der langlebigen Treibhausgase breitenabhängig ist, ist eine regional stark unterschiedliche Niederschlagsänderung die Folge. Aus meiner Sicht ist die in Abbildung 2 für ein Szenario ohne dezidierten Klimaschutz gezeigte Niederschlagsänderung, gemittelt über die letzten drei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, die bedrohlichste Abbildung im vierten bewertenden Bericht der Arbeitsgruppe Klimawissenschaft des Zwischenstaatlichen Ausschusses über Klimaänderungen der Vereinten Nationen.3 Ich fasse sie wie folgt zusammen: Wer schon bisher ausreichend Wasser hat, der bekommt noch etwas mehr. Wer schon heute an Wassermangel leidet, der bekommt noch etwas genommen. Die anthropogenen Klimaänderungen belasten die wenig dazu Beitragenden und schonen eher die Verursacher, so dass die Umverteilung des Lebenselixiers Süßwasser die Ungerechtigkeit der Ressourcenverteilung noch erhöht. Die mittlere globale Erwärmung stößt einen mittleren Meeresspiegelanstieg an, der überwiegend durch die Wärmeausdehnung des Meerwassers getragen wird und bisher nur zu etwa 40 % vom Verlust an Eis auf dem Lande herrührt. Seit 1992, mit dem Beginn sehr genauer Abstandsmessungen zwischen Radarsatelliten und der Ozeanoberfläche, ist der Meeresspiegelanstieg mit  3,1 mm pro Jahr höher als bisher, nachdem für das 20. Jahrhundert durch Pegelmessungen insgesamt „nur“ eine mittlere Anstiegsrate von + 1,8 mm pro Jahr bestimmt worden war. Viele Millionen Menschen an den Flachmeerküsten sind damit auch bei unveränderter Sturmstärke immer extremeren Sturmfluten ausgesetzt und die Flucht in das Hinterland wird ihnen in den meist dicht besiedelten Gebieten verwehrt.

2 3

Ebd. Ebd.

Abb. 2: Projizierte Änderungsmuster der Niederschläge

Anmerkung: Relative Änderungen der Niederschläge (in Prozent) für den Zeitraum 2090 – 2099 im Vergleich zu 1980 – 1999. Die Werte sind Multimodell-Mittel, basierend auf dem SRES-A1B-Szenario für Dezember bis Februar (links) und Juni bis August (rechts). Flächen, für welche weniger als 66 % der Modelle bezüglich des Vorzeichens der Änderungen übereinstimmen, sind weiß; solche, für welche mehr als 90 % der Modelle bezüglich des Vorzeichens der Änderungen übereinstimmen, sind punktiert.

Quelle: IPCC4, AG I, Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger, 2007, http: // www.ipcc. ch / graphics / graphics / ar4-wg1 / jpg / spm7.jpg.

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Die Tugend des Vorausdenkens: Klimaschutz für Mensch und Natur

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Die Veränderung mittlerer Klimaparameter wird von uns Menschen kaum wahrgenommen, die gleichzeitig veränderte Häufigkeitsverteilung der Abweichungen vom Mittelwert jedoch wohl, weil in den Ausreißern dieser Verteilungen die Wetterextreme stecken. Es ist ein Faktum, dass z. B. die Niederschlagsmenge pro Ereignis in fast allen Regionen zugenommen hat, sogar dann, wenn die jährliche Gesamtmenge nicht zugenommen oder gar leicht abgenommen hat.

VII. Wirkung der anthropogenen Klimaänderungen Da Klima unsere Lebensgrundlage kräftig mitbestimmt, wirken Klimaänderungen tief in die Gesellschaft hinein. Zurzeit steigt die Waldgrenze bergwärts und polwärts, wärmeliebende Pflanzen können sich ausbreiten, kälteliebende müssen sich zurückziehen, Krankheitsüberträger wie Gnitzen, Mücken, Zecken breiten sich ebenfalls bergwärts und polwärts aus, viele Zugvögel verkürzen ihre Zuglänge und ändern Winter- wie Sommerquartiere. Fischpopulationen verlassen bisherige Fanggebiete. Alle Lebewesen erobern neue Heimaten, sofern die Klimaänderungsrate die natürlich vorgegebene maximale Wanderungsgeschwindigkeit nicht übersteigt und auf den Kontinenten die annähernd naturnahe Vegetation noch vorhanden ist. Alles zusammen führt zur Aussage der Arbeitsgruppe II von IPCC:4 Wenn der Anstieg der mittleren globalen Temperatur 1,5 – 2,5 °C überschreitet, ist ein erhöhtes Aussterberisiko für ca. 20 – 30 % aller bisher untersuchten Tier- und Pflanzenarten wahrscheinlich. Die beiden größten Umweltprobleme, nämlich Verlust biologischer Vielfalt und globale Klimaänderungen, sind also miteinander gekoppelt und der Klimawandel verstärkt den durch Habitatzerstörung und Einwanderung fremder Arten schon galoppierenden Artenschwund weiter. Naturschutz in bisherigen Schutzgebieten könnte so bald nicht mehr angemessen sein. Die Änderungen in Nationalparks zu beobachten reicht nicht. In Wirtschaftswäldern z. B. können die Bäume durch kluges, vorausschauendes Wirtschaften in einigen Jahrzehnten besser an die Klimaänderungen angepasst sein als im Nationalpark nebenan. Auf die Biosphärenreservate kommt eine große Aufgabe zu. Diese Aussage enthält implizit, dass die Klimaänderungen der kommenden Jahrzehnte schon vorprogrammiert sind. Was bleibt für die Klimaschutzpolitik?

VIII. Randbedingungen einer Klimaschutzpolitik Da Ozeane und Eisgebiete die volle Reaktion auf den erhöhten Treibhauseffekt um Jahrzehnte bis Jahrhunderte (wie z. B. für den Meeresspiegelanstieg) verzögern, ist jegliche Klimaschutzpolitik erst in Jahrzehnten wesentlich wirksam. Aber 4 Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC (Hrsg.): Klimabericht, Teil 4, Arbeitsgruppe II, Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger 2007, in der Übersetzung des BMU, Berlin 2007.

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sie muss jetzt eingeleitet werden, um für Zeitskalen menschlicher Gesellschaften irreversible Klimaänderungen wie z. B. das Abschmelzen des Grönländischen Inlandeises noch zu verhindern. Diese extreme Herausforderung an die Politik ist bisher Hauptgrund für die geringe Bereitschaft zu einer global koordinierten Klimaschutzpolitik, denn wir Menschen neigen dazu, erst nach einer Katastrophe wirklich aktiv zu werden. In Vorsorge Maßnahmen zu ergreifen, die „nur“ auf Warnungen der Wissenschaft reagieren, ist zwar auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 beschlossen worden, aber der einzige größere politische Block, der sich daran nicht nur verbal, sondern zum Teil auch in der Tat hält, ist die Europäische Union. Die jetzt immer eindeutiger werdenden Klimaänderungen steigern die Bereitschaft zur Aktion, die wegen des Zuspätkommens immer zugleich zu Klimaschutzmaßnahmen auch Anpassungsstrategien an nicht mehr zu Verhinderndes enthalten muss. Am besten sind Anpassungsmaßnahmen, die zugleich solche des Klimaschutzes bereits mitenthalten. Ein Beispiel sind Aufforstungen im Oberlauf von Flüssen zur Senkung der Hochwasserschäden im Unterlauf, die gleichzeitig den Kohlenstoffspeicher „terrestrische Biosphäre“ vergrößern und somit anthropogenen Kohlenstoff aus der Atmosphäre holen und dabei zusätzlich die biologische Vielfalt erhöhen können, sofern naturnahe Wälder und keine Monokulturen entstehen. Eine weitere zentrale Randbedingung ist der von allen gewollte ökonomische Fortschritt der Entwicklungs- und Schwellenländer. Sie erhöht den Energiehunger und erschwert dadurch Klimaschutz. Bis 2050 benötigt die Menschheit etwa doppelt so viel Energie und sie muss die Emissionen von Treibhausgasen insgesamt etwa halbieren, soll die mittlere globale Erwärmung  2 °C bis 2100 betragen. Also ist insgesamt der Faktor 4 durch erhöhte Energieeffizienz und eine systematische Abkehr von fossilen Brennstoffen gefordert. Effizienzsteigerung beim Umgang mit Energie und rasch mehr erneuerbare Energieträger sind somit gleichzeitig notwendig.

IX. Säulen einer Klimaschutzpolitik Klimaschutz meint hier nur die Dämpfung der anthropogenen Klimaänderungsrate, die bereits weit höher ist als die natürliche Änderungsrate, denn sonst hätte IPCC nicht den hier noch einmal auf Englisch wiederholten Satz formuliert: „The understanding of anthropogenic warming and cooling influences on climate has improved since the Third Assessment Report, leading to very high confidence that the global net effect of human activities since 1750 has been one of warming, with a radiative forcing of 1.6 (+ 0.6 to 2.4) Wm-2.“5

Allen Regierungen ist damit bekannt, dass eine global koordinierte Klimapolitik im Rahmen der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) dringend notwendig ist. Auch der Bericht des früheren Chefökonomen der Weltbank, Sir 5

IPCC4, Workgroup I, Summary for Policymakers, 2007.

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Nicholas Stern, an die britische Regierung vom Oktober 2006 hat unmissverständlich klargestellt, dass ein „weiter so“ im Energiesystem zu um Faktoren höheren Belastungen der Weltwirtschaft führt als eine frühe und global koordinierte Klimaschutzpolitik. Die seit dem 1. Januar 2008 für die Zeit bis 31. Dezember 2012 laufende Abrechnungsperiode des Kyoto-Protokolls war ja nur ein erster kleiner Schritt mit Verpflichtungen für die Industrieländer als Hauptemittenten von im Durchschnitt 5,2 % Emissionsreduktion, gemessen an den Emissionen des Jahres 1990. Dennoch passt er sich ein in das sicherlich auf lange Sicht notwendige Schema der Angleichung und Reduktion aller Treibhausgasemissionen eines Menschen in allen Ländern, prägnant von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel als Emissionsgerechtigkeit im Herbst 2007 in Kyoto angesprochen. Das oft „Schrumpfung und Konvergenz“ genannte Schema drückt ein allgemeines Recht eines jeden Erdenbürgers zur Emission aus, die langfristig pro Person unter eine Tonne CO2 pro Jahr sinken müssten. Wissenschaftler haben berechnet, dass bei Einhaltung des EU-Zieles, eine Erwärmung um mehr als 2 °C seit Beginn der Industrialisierung zu vermeiden, schon im Jahre 2050 die weltweiten Treibhausgasemissionen auf weniger als die Hälfte schrumpfen und Ende des 21. Jahrhunderts bei dem genannten Wert unter einer Tonne angelangt sein müssten.6 Da die EU das Ziel < 2 °C im Jahr 2002 als Ziel ihrer Klimapolitik erklärt hat, gibt es seit Januar 2005 einen EU-weiten Emissionshandel, so dass zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte große CO2-Emittenten bei Überschreitung erlaubter Emissionsmengen für ihre CO2-Emissionen bezahlen müssen. Darüber hinaus hat der Europäische Rat schon im März 2007 auf den vierten bewertenden Bericht der Arbeitsgruppe Klimawissenschaft des IPCC vom Februar 2007 mit zwei bindenden Beschlüssen sowie einem neuen Ziel reagiert: Bis 2020 müssen der CO2-Ausstoß um 20 % gegenüber 1990 für die EU 27 gemindert werden und mindestens 20 % der Endenergie aus erneuerbaren Energien stammen. Gleichzeitig soll bis 2020 die Effizienz der Energienutzung um 20 % gesteigert werden. Zusätzlich hat die 13. Vertragsstaatenkonferenz der UNFCCC auf Bali für das Nachfolgeprotokoll zum Kyoto-Protokoll bis zur 15. Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen als Richtlinie vorgegeben: 25 – 40 % CO2-Emissionsminderung der Industriestaaten bis 2020, Einbeziehung der Schwellenländer in erste Maßnahmen (z. B. sollte der Energiezuwachs wesentlich kleiner als das Wirtschaftswachstum sein) und Teilfinanzierung von Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel in Entwicklungsländern, mitgespeist aus Erträgen des Emissionshandels der Industrieländer.

6 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung – WBGU (Hrsg.): Energiewende zur Nachhaltigkeit, Berlin 2003.

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X. Folgen für die Energieinfrastruktur Die Erreichung dieser Ziele der Regierungen gelingt nur mit einer fast völligen Umstellung der Energieinfrastruktur fast aller Länder. Wir müssen uns von den fossilen Brennstoffen als zentraler Säule der Energieversorgung verabschieden, bevor diese zur Neige gehen und gleichzeitig die Nutzung erneuerbarer Energieträger hochfahren. Dies kommt einer neuen industriellen Revolution gleich. Welche wesentlichen erneuerbaren Energien stehen hierfür zur Verfügung? Gereiht nach physikalischem Potenzial, d. h. Energie pro Zeit- und Flächeneinheit, sind es: 1. Direkte Sonnenenergie mit einer Energieflussdichte von ca. 165 Wm-2 (in Deutschland ca. 115 Wm-2). 2. Kinetische Energie der Atmosphäre (Wind) und daraus abgeleiteter Wellenenergie mit < 3 Wm-2. 3. Wärmestrom aus dem Erdinneren (Geothermie) mit ca. 0,1 Wm-2. 4. Biomassebildung durch Pflanzen mit ca. 0,1 Wm-2. Für Deutschland mit einer Energieflussdichte von 1,5 Wm-2 für unser Energieversorgungssystem heißt das, dass Energie aus Biomasse (wie Holz und Biogas) ebenso wie Energie aus Geothermie nur relativ kleine Beiträge liefern können, auch wenn ein wohlgedüngter Maisacker 0,3 Wm-2 Bioenergie liefern kann. Damit sind für mich die wesentlichsten Forschungsanstrengungen klar vorgezeichnet: Nutzung der Sonnenenergie, ihre Speicherung und Steigerung der Energieproduktivität (d. h. mehr Euro Werte aus weniger kWh schaffen). Wer dabei wie Deutschland früh startet, kann – wie schon bei der Windenergienutzung – Marktführer werden. Klimapolitik wird dann neue Arbeitsplätze schaffen und nicht zur Bürde werden. Wir sollten Geld nicht für den Erhalt veralteter Strukturen versenken.

Herausforderung Klimawandel – Chancen und Risiken aus Sicht der Wirtschaft Von Randolf Rodenstock

Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung durch die Finanz- und die Klimakrise. Diese beiden zentralen Themen für die Zukunft der weltweiten Staatengemeinschaft sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn Wirtschaftsund Umweltpolitik sind keine Gegensätze. Die Märkte für Umwelt- und Klimaschutz werden in den nächsten Jahrzehnten massiv wachsen. Es lohnt sich, hier zu investieren. Was ist nun zu tun? Wie können wir Wachstum und Wohlstand in der Gesellschaft sichern und gleichzeitig Umwelt und Klima schonen?

I. Klimawandel – Herausforderungen und Folgen Aus meiner Sicht sind wir uns bisher der gesamten Komplexität der Fragestellungen und Probleme, die mit der Klimaveränderung auf uns zukommen, noch bei weitem nicht bewusst: Wer denkt schon daran, dass unsere Landwirtschaft vielleicht in 20 Jahren völlig andere Pflanzen anbaut als heute. Stichwort: „Zitrusfrüchte vom Chiemsee“. Die Verschiebung der landwirtschaftlichen Nutzpflanzen könnte sich aber auch aus einer wachsenden Nachfrage nach regenerativen Energiepflanzen ergeben. Die Frage lautet dann für die Landwirte: energetische Nutzpflanzen oder Futtermittel und Nahrungsmittel? Wer denkt schon daran, dass wir in den nächsten 20 Jahren den gesamten Gebäudebestand in Deutschland energetisch sanieren müssen? Die Stadtplanung wird sich durch den Klimawandel verändern. Zukünftig wird die Höhe der Energieeffizienz den Wert von Häusern maßgeblich mitbestimmen. Grundsätzlich geht es beim Thema Energie nicht nur um Effizienzsteigerung und einen neuen Energiemix mit verstärkt nachwachsenden bzw. regenerativen Energieträgern. Es geht auch geopolitisch um die Verfügbarkeit von Primär-Energie. Alle diese weitreichenden Zusammenhänge setzen ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein für die Verwendung von Energie voraus. Verglichen mit dem Bewusstseinswandel hinsichtlich des Umweltschutzes ist der Klimawandel eine noch viel größere Herausforderung: – Seit 1990 stieg die mittlere Temperatur in Europa um 0,95 °C, in Deutschland seit 1861 um 0,7 °C an.1

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– Das globale Abschmelzen der Gletscher trägt jährlich mit 0,8 mm zum Meeresspiegelanstieg bei. In Bayern sind voraussichtlich in 15 – 25 Jahren keine Gletscher mehr vorhanden. – Die Eisschilde Grönlands und der Arktis verlieren gegenwärtig Masse durch Schmelzen und Gletscherabbrüche und tragen jährlich zum Meeresspiegelanstieg bei. – Der Meeresspiegel ist seit 1993 durchschnittlich um 3 mm / Jahr, im 20. Jahrhundert insgesamt um 17 cm gestiegen. – Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist von ca. 280 ppm (parts per million) im Jahr 1750 auf 370 ppm im Jahr 2000 massiv angestiegen.

Entwicklungen lassen sich nicht rückgängig machen. Es lässt sich aber abschätzen, welch weiter Weg und welch große Aufgabe in Wirtschaft und Gesellschaft vor uns liegen. Dabei sind Umwelt- und Klimaschutz keine nationale Aufgabe.

Quelle: Gesamtverband des deutschen Steinkohlebergbaus, GVSt 10 / 2005.

Abbildung 1: Anteile der fossilen CO2-Emission nach Ländern für 2005

Die Verdoppelung der Energienachfrage und der Anstieg der Weltbevölkerung von heute 6 Milliarden auf 9 Milliarden im Jahr 2050 finden in den Entwicklungsund Schwellenländern statt. Wir sind davon dennoch betroffen, denn diese Entwicklung ist der äußere Rahmen, in dem wir die Klimaschutzziele erreichen müssen. Auch vor dem Hintergrund der enormen Wirtschaftskraft von Ländern wie China und Indien sind internationale Klimavereinbarungen unverzichtbar. Bis Ende 2009 will die internationale Staatengemeinschaft ein neues Klimaprotokoll verhandeln. Erfolgreich kann dies nur sein, wenn es gelingt, alle großen Länder ins Boot zu holen. 1 Aus: Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Auf einen Blick: Klimapolitik mit Augenmaß, http: // www.vbw-bayern.de / agv / vbw-Themen-Wirtschaftspolitik-UmweltPositionen_&_Argumente-vbwAuf_einen_Blick_Klimapolitik_mit_Augenmass-14289, Arti cleID_1109.htm, Stand: 3. 6. 2009.

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II. Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz Kann Klimaschutz wirtschaftlich sein? Aus volkswirtschaftlicher Sicht liefert die viel beachtete Studie „Stern-Report“ des ehemaligen Chefökonomen der Weltbank, Sir Nicholas Stern, Antworten.2 Er geht von einem globalen Temperaturanstieg von 5 – 6 °C bis zum Jahr 2100 aus, falls wir nicht entgegenwirken. Hieraus leitet Stern durch den Klimawandel direkt bewirkte Wohlstandseinbußen von 5 % des weltweiten Bruttosozialprodukts ab. Würde man die indirekten Folgen mit hineinrechnen, könnten es sogar bis zu 20 % sein. Sein Fazit: Die wirtschaftlichen Kosten eines Klimawandels wären viel höher als die wirtschaftlichen Einbußen, die durch ein rasches Eingreifen heute entstehen würden. Kosten, die uns also heute entstehen, verhindern weit größere Kosten morgen und übermorgen. Das ist ähnlich wie im Rentensystem: Wir dürfen unsere Lasten nicht auf den Schultern unserer Kinder abladen. Kann Klimaschutz in einem Unternehmen wirtschaftlich sein? Dieser betriebswirtschaftlichen Frage ist die McKinsey-Klimastudie „Kosten und Potenziale der Vermeidung von Treibhausgasemissionen in Deutschland“ nachgegangen, die die Initiative Wirtschaft für Klimaschutz des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V. 2007 in Auftrag gegeben hat. Mehr als 70 Unternehmen und Verbände haben hier ihr Fachwissen eingebracht. Damit hat die deutsche Industrie die weltweit erste Studie dieser Art für eine Bewertung von Kosten und Nutzen aller verfügbaren technischen Hebel zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen vorgelegt. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass mit den heute verfügbaren Technologien bis zum Jahr 2020 ein Viertel der Treibhausgasemissionen in Deutschland ohne zusätzliche Kosten vermieden werden kann. Zusammen mit der von der Bundesregierung geplanten Umstellung des Energiemix’ ist eine Senkung von über 30 % gegenüber 1990 machbar. Ein Beispiel für Energieeffizienz sind die Gebäude. Die Studie liefert hier ein beeindruckendes Beispiel: Rund 40 % des weltweiten Energieverbrauchs fällt in Gebäuden an und ist damit für 21% der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Innerhalb des Gebäudes stellen die größten Energieverbraucher die technischen Anlagen und Beleuchtungen dar, die zusammen 40 – 60 % der gesamten Energiekosten verursachen. Optimierte Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen könnten den Energieverbrauch um mehr als 40 % senken. Die Studie zeigt nicht bloß Optionen auf. Sie belegt ebenso die Wirtschaftlichkeit dieser Maßnahmen. Das heißt: Vieles, was dem Klimaschutz dient, ist auch wirtschaftlich sinnvoll.

2 Stern, Nicholas: The Stern Review on the Economics of Climate Change, 2006, http: // www.occ.gov.uk / activities / stern.htm.

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III. Die Rolle der Wirtschaft Die deutsche Wirtschaft stellt sich ihrer Verantwortung für den Klimaschutz. Die Politik hat mit den Klima- und Energiebeschlüssen auf europäischer und nationaler Ebene anspruchsvolle Ziele formuliert und den Druck auf die Wirtschaft erhöht. Wir haben den Ball angenommen. So haben wir in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt bei der Steigerung der Energieeffizienz: Zwischen 1991 und 2004 ist die Energieintensität über alle Produktionsbereiche hinweg (inkl. Dienstleistungen) um rund 22 % verringert worden.3 Besonders groß sind die Fortschritte bei der Herstellung von Kraftfahrzeugen mit über 25 % Reduktion des Energieverbrauchs, im Maschinenbau mit knapp 40 % und bei der Erzeugung von Sekundärrohstoffen durch Recycling mit über 65 %. In der Papierindustrie, einer der energieintensivsten Branchen, ist der Verbrauch von Energie seit 1955 um rund 70 % zurückgegangen, von gut 8.200 kWh auf 2.400 kWh. Im internationalen Vergleich wird deutlich, wie stark besonders die deutsche Industrie die Energieeffizienz gesteigert hat: Im Zeitraum 1990 bis 2004 haben die OECD-Staaten ihre Energieintensität4 um rund 13 % reduzieren können, die EU 155 nur um knapp 9 %, Deutschland hingegen um über 22 %. Jede weitere Effizienzsteigerung erfordert gerade in der deutschen Industrieproduktion große Anstrengungen, da sie von einem hohen Niveau aus erfolgt: In Deutschland sind gerade einmal 103 kg Öleinheiten Energie erforderlich, um 1.000 Dollar Wertschöpfung zu erzielen, in den USA sind es dagegen 176 kg Öleinheiten Energie und in Kanada sogar 256 kg Öleinheiten. Das heißt: Deutschland verfügt über die energieeffizienteste Industrieproduktion unter den wichtigsten Industrienationen. Die Unternehmen haben ohne staatliche Vorgaben – getrieben durch die hohen Energiekosten – den Energieverbrauch ganz entscheidend gesenkt. Dieser Erfolg muss auch von der Politik anerkannt werden. Die deutsche Wirtschaft ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung beim Klimaschutz. Ihre führende Rolle gründet sich vor allem auf die technischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten. Wir können durch die Verbreitung von hocheffizienten Technologien einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion der weltweiten Treibhausgasemission leisten. Denn die bayerischen und deutschen Unternehmen haben eine Vorreiterrolle. Sie tragen durch eine Vielzahl von technischen Lösungen zu ihrem Erfolg bei. Auch hier gibt es konkrete Beispiele: – So liefert die Bauwirtschaft Lösungen bei der Sanierung des Gebäudealtbestandes – durch die Installation von Wärmedämmsystemen oder den Einbau neuer 3 Alle Zahlen aus: Bardt, Hubertus: Steigerung der Energieeffizienz – Ein Beitrag für mehr Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit, (IW-Positionen 30) Köln 2007. 4 Energieindex gemessen am Produktionsindex, a. a. O. 5 EU vor der Osterweiterung.

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Fenster und Türen. Auch beim Kraftwerksneubau oder -rückbau ist das Knowhow der Bauwirtschaft wichtig. – Die Gebäudetechnik liefert die Technologie für effiziente Systeme bei Heizung, Lüftung, Klimaanlagen, Beleuchtungs- und Regelungstechnik. In Verbindung damit sind hoch entwickelte IT-Systeme notwendig zur Steuerung der Anlagen. – Die Elektrotechnik hilft durch komplexe Mess- und Steuersysteme, ein besseres Energiemanagement zu erreichen. Das gilt für Gebäude, aber auch für Fahrzeuge und industrielle Anlagen. Gerade bei PKW und LKW setzen die geplanten technischen Maßnahmen eine zunehmende Elektronisierung voraus. – Die Automobil-Zulieferer sind gefordert, Antriebssysteme, Leichtbau oder auch die Vernetzung von Fahrzeugen untereinander weiterzuentwickeln. – Schließlich ist die chemische Industrie an vielen Lösungen zur TreibhausgasVermeidung maßgeblich beteiligt – so zum Beispiel bei Dämmmaterialien für Gebäude, bei der Entwicklung von Enzymen für die Herstellung von Biokraftstoffen oder bei der Züchtung effizienter Energiepflanzen.

Auch die Bayerische Staatsregierung braucht starke und innovative Unternehmen, um ihr Klimaprogramm Bayern 2020 zu realisieren, insbesondere die energetische Sanierung der staatlichen Gebäude, den Ausbau des Hochwasserschutzes, den Umbau der Wälder und Schutzmaßnahmen im Bergwald sowie Klimaforschung und Technologieentwicklung. Alle diese Beispiele zeigen: Bestmöglicher Klimaschutz bei relativ geringen gesamtwirtschaftlichen Kosten kann nur mit den Unternehmen erreicht werden. Daher ist es wichtig, ihre Innovationskraft zu stärken.

IV. Politische Rahmenbedingungen Das im Dezember 2008 vom EU-Parlament beschlossene Klimaschutzpaket mit seinen Regelungen zum Emissionshandel bewertet die bayerische Wirtschaft als große Herausforderung. Durch die zusätzlichen Ausgaben bleiben diesen Firmen weniger Mittel für Investitionen. Der Schlüssel für eine hohe Wirksamkeit von richtig betriebenem Klimaschutz sind aber Innovationen der Unternehmen in hocheffiziente Technologien. Jegliche Einschränkungen von Investitionsanreizen sind falsch. Wir brauchen vielmehr langfristig kalkulierbare, international gültige technische, rechtliche und steuerliche Rahmenbedingungen. Unser Ziel muss es sein, wirtschaftverträglichen Klimaschutz weltweit zu ermöglichen und in einem internationalen Klimaschutzabkommen festzuschreiben. Um die Dimension deutlich zu machen: Eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von Deutschland um 31% heißt, jährlich 379 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente zu vermeiden. Allein der Anstieg der CO2-Emissionen aus fossiler Energienutzung von 2005 bis 2006 in China lag laut der niederländischen Environmental

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Assessment Agency bei knapp 500 Millionen Tonnen. Unsere Anstrengungen haben global betrachtet eher symbolische Wirkung. Aus diesem Grund sollten die internationalen Klimaschutzinstrumente einfacher anwendbar werden. Die flexiblen Instrumente des Kyoto-Protokolls, Joint Implementation (JI) und Clean Development Mechanism (CDM), geben den Entwicklungsländern nicht nur klimafreundliche Technologien, sondern sind grundsätzlich hervorragende Instrumente, um den Export deutscher Technologien zu fördern. Es ist notwendig, diese Mechanismen zu entbürokratisieren, so dass sie als effiziente und schnelle Instrumente marktwirtschaftlich genutzt werden können. Für ein klimaverträgliches Wirtschaftswachstum sind aus Sicht der bayerischen Wirtschaft auch innovationsfreundliche Rahmenbedingungen erforderlich. Eine reine Grenzwertdiskussion ist nicht zielführend. Wichtig sind vielmehr Rahmenbedingungen, die die Entwicklung neuer Märkte für klimafreundliche Technologien und Innovationen stärken. Dazu gehören steuerliche Anreizsysteme für den Einsatz und die Entwicklung klimafreundlicher Produkte – gemeint als Anschubanreize, nicht als Dauersubvention – und die Intensivierung der Forschungspolitik. Vor allem darf Energieforschung nicht nur Grundlagenforschung bedeuten, sondern muss sich auch auf anwendungsbezogene Forschung erstrecken. Wichtig ist es darüber hinaus, die Forschungsprogramme der EU, des Bundes und der Länder aufeinander abzustimmen. Dazu gehört es auch, einen breiten Energiemix anzustreben. Die Diskussion um CO2-arme Kraftwerkstechnologie muss offen geführt werden. Wir dürfen in diesem Zusammenhang die Nutzung der Kernenergie nicht tabuisieren. Kernkraftwerke nach deutschen Standards sind die sichersten der Welt – und sauber. Der geplante Ausstieg ist ökologisch und ökonomisch widersinnig. Die in der McKinsey-Studie errechneten Vermeidungskosten würden bei einer Verlängerung der Laufzeiten um 4,5 Milliarden Euro pro Jahr geringer ausfallen. Ohne Kernenergie wird Klimaschutz schwieriger. Gleichzeitig muss die Erforschung erneuerbarer Energien intensiviert werden. Unser Ziel muss es sein, sie mittelfristig wettbewerbsfähig und unabhängig von staatlicher Förderung zu machen. Dazu gehört schließlich die schnelle Umsetzung von Infrastrukturprojekten. Das betrifft Projekte für die Stromversorgung ebenso wie solche für die Verkehrsinfrastruktur. Fließender, staufreier Straßenverkehr ist auch CO2-sparender Verkehr. Das Gleiche gilt für den Luftverkehr. Durch ein verbessertes Flugverkehrsmanagement – Stichwort „Single European Sky“ – lassen sich nach Schätzungen 6 – 12 % (bis zu 18 Mio. t) CO2 im Jahr vermeiden.

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V. Fazit Ich bin davon überzeugt: Wir haben in Deutschland eine Schlüsselposition, die eine große Chance für das Klima und unsere Unternehmen darstellt. Wir müssen zeigen, wie Wohlstand und wirkungsvoller Klimaschutz in Einklang gebracht werden können. Das wird auf die anderen Industriestaaten ausstrahlen, aber auch den Entwicklungsländern Mut machen. Eine alleinige Fokussierung auf möglichst strenge Grenzwerte würde dem Klimaschutz einen Bärendienst erweisen. Denn die Folge sind steigende Energie- und Produktionskosten im Inland – und ein Abwandern der Unternehmen in Länder mit niedrigeren Umweltschutzauflagen. Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen im 21. Jahrhundert, der wir uns alle stellen müssen. Die Wirtschaft hat diese Herausforderung aktiv angenommen. Wir können bereits Lösungen anbieten und verstärken erfolgreich unsere Forschungen in klimaschonende Technologien. Speziell in Bayern bieten wir der Staatsregierung unsere aktive Mitarbeit darin an, Klimaschutz-Ziele praktikabel auszugestalten. Dieses Angebot steht in der guten Tradition des „kooperativen Umweltschutzes“, der im Freistaat seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. Die erforderlichen Maßnahmen zum Klimaschutz müssen kosteneffizient ausgestaltet werden, um die starke Position unserer Unternehmen im weltweiten Wettbewerb zu erhalten. Wir müssen genau kalkulieren, wie viel Klimaschutz wir uns leisten können, ohne soziale Verwerfungen zu riskieren. Das heißt, jeder eingesetzte Euro und jede Maßnahme müssen möglichst viel Nutzen für den Klimaschutz bringen – und dürfen nicht dem reinen Populismus dienen. Wir haben in Deutschland schon viel erreicht, dürfen in unseren Anstrengungen jetzt aber nicht nachlassen. Dabei muss uns klar sein: Ohne weltweites Committment werden wir das Klima nicht nachhaltig schützen können. Deswegen setzt sich die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) für ein internationales Klimaabkommen ein. Beim Klimawandel spüren wir Globalisierung hautnah. Diese Herausforderung der Menschheit müssen wir im Schulterschluss von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft meistern. Wir sind dazu bereit.

Wer soll das bezahlen (und versichern)? Klimawandel und Wetterkatastrophen Von Gerhard Berz

Die Schadenbelastungen aus Wetterkatastrophen nehmen weltweit drastisch zu. Die Ursachen sind in erster Linie steigende Bevölkerungs- und Wertekonzentrationen, gerade auch in stark exponierten Regionen, und eine erhöhte wirtschaftliche und technische Verwundbarkeit. Gleichzeitig gewinnt der rasch voranschreitende Klimawandel immer größeren Einfluss auf die Häufigkeit und Intensität von Wetterextremen. Dadurch nehmen auch die Schadenpotenziale außergewöhnlicher Wetterkatastrophen stark zu. In dieser kritischen Situation kommt es darauf an, das von der Menschheit ausgelöste Klima-„Experiment“ durch eine radikale Verringerung der Treibhausgasemissionen rasch in den Griff zu bekommen. Da der Klimawandel aber auf absehbare Zeit nicht mehr zu stoppen, sondern bestenfalls zu verlangsamen ist, müssen zugleich umgehende, nicht zuletzt auch finanzielle Vorsorgemaßnahmen zur Anpassung an die erwarteten neuen Klimaverhältnisse und ihre Auswirkungen ergriffen werden. Für die Versicherungswirtschaft bedeutet dies ein erheblich erhöhtes Schadenrisiko, sie verfügt aber gleichzeitig über zahlreiche Möglichkeiten, selbst aktiv und effektiv zum Klimaschutz beizutragen.

I. Katastrophentrends und ihre Ursachen Die Zunahme der Schäden aus Naturkatastrophen, die seit Jahrzehnten weltweit beobachtet und von der Versicherungswirtschaft akribisch dokumentiert wird, zählt zu den ersten und stärksten Indizien für die Auswirkungen der globalen, von der Menschheit verursachten Umweltveränderungen. Darüber herrscht breiter Konsens sowohl in Wissenschaft und Wirtschaft wie auch in der Politik, den Medien und nicht zuletzt in der Bevölkerung. Dabei spielt die augenscheinliche Häufung von Wetterkatastrophen wie Stürmen, Überschwemmungen, Unwettern, Hitzewellen und Waldbränden eine wesentliche Rolle. Der Grund liegt darin, dass sie fast immer auf außergewöhnliche, oft sogar nie zuvor registrierte Extremwerte meteorologischer Größen wie Temperatur, Niederschlag und Wind zurückzuführen sind. Das spiegelt sich besonders deutlich in den Statistiken und Analysen der Naturkatastrophen wider, welche die Münchener Rück seit vielen Jahren auf der Basis

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ihrer detaillierten weltweiten Erhebungen veröffentlicht.1 Hier zeigt sich beispielsweise, dass von rund 18.000 Naturkatastrophen, die zwischen 1980 und 2008 ausgewertet wurden (siehe Abbildung 1), nur knapp 15 % Erdbeben und Vulkanausbrüche waren, also Naturereignisse, die ihren Ursprung in der Erdkruste haben. Auf sie hat der Mensch, nach allem was wir wissen (und hoffen können), keinen Einfluss – von ein paar Bergbau- oder Stausee-induzierten Erdbeben vielleicht abgesehen. Der ganz große Rest, nämlich etwa sechs von sieben Naturkatastrophen, entstammt der Atmosphäre – und hier haben wir allen Grund zu der Befürchtung, dass sich der globale Klimawandel gerade auf die Wetterextreme immer stärker auswirken wird. Wetterextreme in all ihren Ausprägungen am oberen und unteren Rand der Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind besonders kritisch. Sie treten nur selten auf und wir sind deshalb schlecht darauf eingestellt, weil uns die praktische Erfahrung fehlt. Deshalb ist es regelmäßig sehr schmerzhaft, wenn – bildlich gesprochen – „der Schwanz der Wahrscheinlichkeitsverteilung zuschlägt“. Das zeigt sich bei den Schadenwirkungen dieser Extremereignisse, ob bei den Opferzahlen, von denen weit über die Hälfte auf Wetterkatastrophen entfällt, oder den volkswirtschaftlichen Schäden (fast 80 %) und ganz besonders den versicherten Schäden (über 90 %); dort schlägt sich die besonders hohe Versicherungsdichte bei Sturmschäden nieder. Vergleicht man die Zahlen der vergangenen Jahrzehnte (siehe Tabelle 1), wird die ganze Dramatik offenbar: Große Wetterkatastrophen traten in den vergangenen zehn Jahren mehr als doppelt so häufig auf wie noch in den 1960er-Jahren. Die volkswirtschaftlichen Schäden stiegen – inflationsbereinigt – auf das mehr als Siebenfache, die versicherten Schäden sogar auf das 29-fache. Die Versicherungswirtschaft hat also aus großen Wetterkatastrophen heute alle paar Monate im Mittel so hohe Schadenbelastungen zu verkraften wie in den ganzen 1960er-Jahren zusammen – schon hochgerechnet auf heutige Werte. Diese Schadenzunahme geht zum überwiegenden Teil auf eine Reihe sozioökonomischer Faktoren zurück: – Die unverminderte globale Bevölkerungszunahme ist der „Motor“ der Entwicklung: Bis Mitte des Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung, wenn keine unvorhersehbaren Einschnitte passieren, um weitere 3 Mrd. Menschen auf über 9 Mrd. anwachsen. – Verstädterung und steigender Lebensstandard führen in den meisten Regionen der Welt dazu, dass sich immer mehr Menschen und materielle Werte auf engstem Raum konzentrieren, insbesondere in den großen Ballungsräumen, den sog. Megacitys. Hier schlummern die größten Zeitbomben. Während es im Jahr 1950 auf der Welt etwa 80 Millionenstädte gab und davon die Mehrzahl in den Industrieländern lag, sind es heute über 400 Millionenstädte, von denen rund 300 in der Dritten Welt liegen. 1

Münchener Rück: Topics Geo. Naturkatastrophen 2008, München 2009.

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Abbildung 1a) und 1b): Naturkatastrophen 1980 – 2008, prozentuale Verteilung weltweit

– Viele dieser Großstädte liegen in stark exponierten Regionen, z. B. an den Küsten und ganz besonders am sog. „ring of fire“ rings um den Pazifik, wo sich der größte Teil der weltweiten Erdbeben- und Vulkantätigkeit abspielt und die mit Abstand meisten tropischen Wirbelstürme auftreten. Aber auch in Deutschland

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konzentrieren sich Siedlungs- und Industriegebiete in bekannten Überschwemmungszonen. – Moderne Gesellschaften und Technologien sind anfälliger geworden. Das haben die „Mega“-Katastrophen der letzten Jahre wie der Hurrikan „Katrina“ 2005 in New Orleans und das Erdbeben von Kobe 1995 deutlich gemacht. Dabei gilt insbesondere Japan als eines der am besten auf Erdbeben und andere Katastrophen vorbereiteten Länder der Welt. Trotzdem blieb die Bevölkerung vor Ort tagelang ohne Wasser, Strom, Gas, Telefon und Verkehr. Die Menschen waren ganz auf sich selbst und auf die Hilfe der Nachbarn zurückgeworfen und mussten bei winterlichen Temperaturen im Freien campieren und Trinkwasser aus Regenpfützen löffeln. Ein psychischer Schock für das ganze Land, verbunden mit der bangen Frage, was denn passieren wird, wenn sich ein großes Erdbeben wie das von 1923 im zehn Mal größeren Tokio heute wiederholt. – Steigende Versicherungsdichte ist der Grund dafür, dass die versicherten Schäden rund vier Mal so schnell wie die volkswirtschaftlichen Schäden gestiegen sind. – Und schließlich kommt man nicht an den Folgen der globalen Umweltveränderungen vorbei. Überall auf der Erde hinterlässt die Menschheit immer größere Spuren. Ob es die Überfischung der Meere, die Übernutzung der Wasserressourcen, die Zerstörung der Böden, die Abholzung der Urwälder oder die Verringerung der Artenvielfalt ist – wo man auch hinsieht, verändert und zerstört die Menschheit zunehmend die Umwelt. Der menschgemachte Klimawandel hat dabei eine besondere Dimension, weil er sich wirklich global und gleichzeitig auf viele Generationen nach uns auswirkt. Tabelle 1 Große Wetterkatastrophen 1950 – 2008 – Dekadenvergleich

© 2009 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft GeoRisikoForschung, NatCatSERVICE – Stand: 1 / 2009.

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II. Klimawandel und Wetterextreme Die Veränderungen in Exponierung und Vulnerabilität reichen nicht aus, die ganze Zunahme der Katastrophenschäden zu erklären. Das hat die Münchener Rück in ihrem Millenniumsbericht zur Entwicklung der Naturkatastrophen im letzten Jahrtausend nachgewiesen.2 Im Gegenteil: Immer mehr Indizien weisen darauf hin, dass die globalen Umweltveränderungen, allen voran der Klimawandel, zunehmend die Häufigkeit und Intensität von Wetterkatastrophen beeinflussen. So misst auch der vierte Statusbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change3 dem Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und der Häufigkeit atmosphärischer Extremereignisse herausragende Bedeutung bei. Denn genau hier werden die Folgen des globalen Klimawandels besonders stark sichtbar: Schon eine relativ kleine Verschiebung der Mittelwerte kann – bei gleichbleibender Form der Wahrscheinlichkeitsverteilung, z. B. der Normalverteilung in Gestalt der Gaußschen Glockenkurve – dazu führen, dass sich die Überschreitungswahrscheinlichkeiten kritischer Schwellenwerte drastisch erhöhen. Das machte zum ersten Mal die Analyse von Sommertemperaturen in Mittelengland deutlich, die in ihrer Aussagekraft unübertroffen ist (siehe Abbildung 2). Hier wurden die Auswirkungen eines moderaten Anstiegs der Mittelwerte um 1,6 °C bis Mitte dieses Jahrhunderts untersucht. Aus Versicherungssicht kann das Ergebnis schon beinahe als Katastrophenszenario bezeichnet werden. Denn der außergewöhnlich warme und trockene Sommer 1995 ließ die in England weit verbreiteten Lehmböden großflächig austrocknen und damit schrumpfen. Die Folge war, dass an zahllosen Gebäuden Setzungsschäden entstanden. Der englische Versicherungsmarkt musste dafür mehrere hundert Millionen Britische Pfund Entschädigungen zahlen; in der Summe über die insgesamt zu warmen 1990er-Jahre waren es sogar mehr als eine Milliarde Britische Pfund. Selbst eine scheinbar harmlose Verschiebung von saisonalen Mitteltemperaturen kann also enorme wirtschaftliche Konsequenzen haben. Der Hitzesommer 2003 in West- und Mitteleuropa hat das auf dramatische Weise bestätigt: Die großräumig mehr als 3 °C (teilweise sogar bis zu 6 °C) höheren Mitteltemperaturen verursachten riesige Waldbrände und Dürreschäden in der Landwirtschaft, große Einnahmeausfälle in der Flussschifffahrt und krisenhafte Engpässe bei der Elektrizitätsversorgung. Die nach aktueller Schätzung etwa 70.000 zusätzlichen Todesfälle – eine ungeheuere Zahl, die großenteils der Hitzebelastung alter und kranker Menschen zuzuschreiben ist – machen dieses extreme Witterungsereignis zu einer der größten Naturkatastrophen in Europa seit Jahrhunderten. Vor der Gefahr außerordentlicher 2 Münchener Rück: Topics 2000 – Millenium: Jahrtausendrückblick Naturkatastrophen, München 2000. 3 IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change): Climate Change 2007, Synthesis Report. Summary for Policymakers, Cambridge 2007.

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Ein hoher Temperaturwert wie der von 1995, der um 2 °C über dem „alten“ Mittelwert von 1961 – 1990 lag und nach der früheren (blauen) Wahrscheinlichkeitsverteilung eine Überschreitungswahrscheinlichkeit von nur 1,3 % p.a. hatte, würde bei einer nur 1,6 °C höheren Mitteltemperatur um 2050 etwa 25-mal wahrscheinlicher werden. Aus einem 75-Jahre-Ereignis würde damit ein 3-Jahre-Ereignis, also schon fast ein Normalfall.

Abbildung 2: Mehr Extremwerte bei sich veränderndem Klima

Hitzewellen war seit langem gewarnt worden – die Gesetze der Statistik ließen keinen Zweifel daran. Ebenso war vorherzusehen, dass wir in unserem gemäßigten, ausgeglichenen mitteleuropäischen Klima erhebliche Probleme haben würden, uns an eine derartige Ausnahmesituation anzupassen. Aber es wird keine Ausnahme bleiben: Der ausgeprägte Temperaturanstieg des vergangenen Vierteljahrhunderts hat nach klimatologischen Untersuchungen die Wahrscheinlichkeit eines Hitzesommers wie 2003 um das 20-fache nach oben schnellen lassen. Setzt sich der Erwärmungstrend fort, dann könnte ein derartiger Sommer in der 2. Hälfte des 21. Jahrhunderts mehr oder weniger zum Normalfall werden. Eisverkäufer, Biergartenwirte, Getränkeindustrie und Klimaanlagenhersteller werden das gerne hören. Aber andere Bereiche der Wirtschaft, insbesondere die Land-, Forst- und Energiewirtschaft, müssen sich auf erhebliche Probleme einstellen, für die sie sich schon jetzt geeignete Anpassungs- und Vorsorgestrategien überlegen sollten. Noch kritischer als die Verschiebung der Wahrscheinlichkeitsverteilung kann eine Veränderung ihrer Form sein, wenn also z. B. die gesamte Variabilität größer wird.

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Die Verteilungskurve wird dann breiter und am oberen Ende treten nicht nur viel mehr „normale“, sondern auch extreme Hitzeereignisse auf, wie sie bisher unbekannt sind. Auf der „kalten“ Seite ändert sich hingegen wenig, dort sind also weiterhin Frostereignisse zu erwarten. Hinweise darauf, dass sich die Verteilungskurve verbreitert, gibt es vor allem beim Niederschlag, wo sich saisonale Verschiebungen sowohl zu sehr hohen als auch zu sehr niedrigen Niederschlagssummen abzeichnen. So deuten Klimadaten und -modelle beispielsweise in den gemäßigten Breiten auf einen signifikanten Trend zu wärmeren, feuchteren Wintern und heißeren, trockeneren Sommern hin. Beides kann sich ungünstig auswirken: Der stärkere Niederschlag im Winter, der in niedrigen Lagen überwiegend als Regen fällt, läuft rasch über die Flusssysteme ab und erhöht dadurch die Überschwemmungsgefahr. Das wachsende Niederschlagsdefizit im Sommer kann, wie der schon vorher besprochene Hitzesommer 2003 als „Blick in die Zukunft“ gezeigt hat, große Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft stark tangieren, zeitweise sogar praktisch paralysieren. Gleichzeitig sind heißere Sommer meist auch unwetterträchtiger: Durch die Überhitzung werden konvektive Prozesse in der Atmosphäre verstärkt und es verschärfen sich die Gegensätze zwischen kontinentalen und maritimen Luftmassen, da Letztere der Erwärmung aufgrund der thermischen Trägheit der Ozeane hinterherhinken. Die Kaltfronten, in denen die kühlere Meeresluft immer wieder auf das Festland vorstößt und dort die Hitzelagen beendet, beziehen aus diesen Luftmassengegensätzen ihre Energie und überziehen das Land mit Gewittern, Hagelschlägen, Sturzfluten und Starkwinden. Eine Auswertung von Daten, die ein deutsches Blitzmessnetz über mehrere Jahre registriert hatte, ergab einen deutlichen, exponentiellen Zusammenhang mit den mittleren Sommertemperaturen. Der außergewöhnlich warme Juni 2003 brachte es dann sogar auf 900.000 Blitze. Eine drastische Zunahme ist deshalb bei den Blitz- und Überspannungsschäden zu erwarten, die den Versicherern seit langem Kummer bereiten und die aufgrund der aufwändigeren und empfindlicheren elektronischen Geräte immer kostspieliger werden. Die heftigeren Sommergewitter bringen außerdem stärkere Sturzfluten mit sich. Trotz tendenziell geringeren Sommerniederschlägen können dabei lokal und kurzzeitig außerordentlich hohe Regenmengen niedergehen. In Städten und Gemeinden überfordern sie dann häufig die darauf nicht ausgelegten Kanalisationsnetze. In hügeligem oder bergigem Gelände lösen sie plötzliche Überflutungen sowie Muren und Erdrutsche aus. Die zunehmende Niederschlagsvariabilität erhöht also im Sommer sowohl das Trockenheits- als auch das Überschwemmungsrisiko – ein auf den ersten Blick paradox erscheinender Trend. Heiße Sommer und milde Winter führen zu einem immer stärkeren Zurückschmelzen der Alpengletscher mit erheblichen Konsequenzen für die Abflussverhältnisse in den Alpentälern ebenso wie in allen unseren großen Flüssen, die in den Alpen entspringen. Hier haben wir starke saisonale Abflussschwankungen zu erwarten: erhöhte Werte im Winter und Frühjahr, stark verringerte im Sommer und Herbst. Durch den Anstieg der Schnee- und (Perma)Frostgrenze werden zudem vermehrt Erdrutsche, Muren, Felsstürze und Gletscherseeausbrüche auftreten.

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Im Winter zeichnet sich andererseits eine Verstärkung der Sturmgefahr in Westund Mitteleuropa ab. Steigende Temperaturen verhindern hier im Flachland immer öfter eine großflächige Schneedecke, wie sie früher in den strengeren Wintern regelmäßig auftrat. Über ihr konnte sich vielfach ein stabiles Kältehoch bilden. Das wirkte dann wie eine Barriere gegen die vom Nordatlantik heranziehenden Sturmtiefs und lenkte sie überwiegend in höhere Breiten ab, bevor sie die dicht besiedelten Küstenzonen Westeuropas treffen konnten. Je milder die Winter werden, desto weiter scheinen sich die kontinentalen Kältehochs nach Osten zurückzuziehen, so dass die Sturmtiefs jetzt häufiger und tiefer auf das Festland vorstoßen können. Das hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem in West- und Mitteleuropa zu einer Reihe gewaltiger Sturmkatastrophen geführt (z. B. die Orkane „Daria“, „Vivian“ und „Wiebke“ 1990, „Anatol“, „Lothar“ und „Martin“ 1999 sowie „Kyrill“ 2007). Neben den veränderten Zugbahnen (siehe Abbildung 3) erscheint auch eine erhöhte Sturmaktivität auf den Ozeanen plausibel. Sie könnte generell mit der Erwärmung der Ozeane und dem erhöhten Energieeintrag in die Atmosphäre zusammenhängen. Die Klimamodelle legen inzwischen mehrheitlich nahe, dass sich zumindest die Zahl sehr starker Sturmwirbel über dem Nordostatlantik erhöhen wird und sich die Region mit explosiven Sturmentwicklungen weiter nach Osten verlagert.

Abbildung 3: Mögliche Verlagerung der Zugbahnen von Tiefdruckgebieten in wärmeren Wintern

Bei Hurrikanen, Taifunen und Zyklonen ist die Indizienlage nach wie vor widersprüchlich: Eine Gruppe von Wissenschaftlern verweist auf die Wasseroberflächen-

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temperatur von 26 bis 27 °C, die als Voraussetzung dafür bekannt ist, dass sich tropische Wirbelstürme entwickeln können. Erwärmen sich die Ozeane, dann wird diese kritische Oberflächentemperatur über immer größeren Meeresgebieten und immer längeren Zeiträumen überschritten; das deutet auf eine steigende Anzahl von Wirbelstürmen hin. Eine andere Gruppe stützt sich auf Modellrechnungen und vertritt die Meinung, es sei eher mit einem Anstieg der potenziellen Intensität solcher Sturmwirbel zu rechnen. Sie belegt dies insbesondere mit den Beobachtungen der letzten Jahrzehnte im Nordatlantik, die dort eine deutlich erhöhte Anzahl vor allem der sehr starken Hurrikane zeigen. Eine dritte Gruppe hält schließlich den Einfluss der Klimaänderung für gering im Vergleich zu den starken natürlichen Schwankungen von Häufigkeit und Intensität, z. B. in Verbindung mit den pazifischen El-Nin˜o- / La-Nin˜a- oder den atlantischen NAO-Episoden (NAO: North Atlantic Oscillation). Dabei verweist sie auf die hohe Hurrikanaktivität im Nordatlantik während der 1950er- und 1960er-Jahre, die nach einer langen wesentlich ruhigeren Phase erst Mitte der 1990er-Jahre wieder erreicht, aber inzwischen auch deutlich übertroffen wurde. Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen: Wird durch den Treibhauseffekt mehr Energie in die untere Atmosphäre und die Ozeane geleitet, dann führt dies langfristig dazu, dass sich die Energieaustausch- und -verteilungsprozesse, wie sie auch die tropischen Wirbelstürme darstellen, intensivieren. Veränderungen der Meeresoberflächentemperaturen und der Meeresströmungen sowie der atmosphärischen Zirkulation werden sich zwangsläufig auf die Zugbahnen und Intensitäten der Wirbelstürme auswirken. Als Alarmzeichen kann das erstmalige Auftreten eines Wirbelsturms über dem tropischen Südatlantik vor der brasilianischen Küste im März 2004 angesehen werden. Dort waren die Wassertemperaturen bisher stets zu kalt für eine solche Entwicklung. Möglicherweise bestätigen sich jetzt die seit langem geäußerten Befürchtungen, dass die dicht bevölkerten Küsten Brasiliens einmal regelmäßig von Hurrikanen bedroht sein könnten. Ähnliche Befürchtungen für die Küsten Westeuropas erscheinen dagegen noch verfrüht, wenngleich in der außergewöhnlich heftigen und lang anhaltenden Hurrikansaison 2005 auch schon ein Hurrikan vor der portugiesischen Küste auftauchte. Fasst man die Verbindungen zwischen der globalen Erwärmung und verschiedenen Auswirkungen zusammen, ergibt sich eine lange Liste mehr oder weniger gut abgesicherter Veränderungen (siehe Tabelle 2), die schon heute in die mittel- und langfristigen Vorsorgeüberlegungen einbezogen werden sollten. Daneben existieren aber noch zahlreiche Rückkoppelungsmechanismen in der Atmosphäre, den Ozeanen, der Kryosphäre und den Böden, von denen die Wissenschaft bisher zum Teil noch recht unsichere Vorstellungen hat. Eines der größten Fragezeichen steht hinter den möglichen Reaktionen der Ozeane, die für das Fortschreiten der globalen Umweltveränderungen von entscheidender Bedeutung sein

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können. Überraschungen sind deshalb vorprogrammiert. Umso wichtiger erscheint es, dass die Menschheit das „Experiment mit dem Planeten Erde“, das bisher völlig außer Kontrolle abläuft, so rasch wie möglich in den Griff zu bekommen versucht. Andernfalls könnten die unmittelbaren Auswirkungen in Form von Naturkatastrophen und die langfristigen Folgen wie die Verschiebung von Klimazonen und der steigende Meeresspiegel zu einer existenziellen Bedrohung für große Teile der weiter wachsenden Weltbevölkerung werden. Tabelle 2 Klimawandel – Globaler Wandel Wissenschaftliche Absicherung Sehr gut  Zunahme der globalen Mitteltemperaturen in der unteren Atmosphäre und in den oberen Ozeanschichten  Abnahme der globalen Mitteltemperaturen in der Stratospäre  Zeitweise starke Ausdünnung der Ozonschicht in der polaren Stratosphäre (Ozonloch)  Abschmelzen der Inlandgletscher  Beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels Gut  Zunahme der milden, schneearmen Winter in Mitteleuropa  Zunahme der winterlichen Niederschläge in Mitteleuropa (Abnahme in Südeuropa)  Abnahme der sommerlichen Niederschläge in Mitteleurop (starke Abnahme in Südeuropa) Weniger gut  Zunahme extremer Winterstürme über dem Nordostatlantik und über West- und Mitteleuropa  Zunahme tropischer Wirbelstürme (Häufigkeit, Intensität, Entstehungsgebiete, Zugbahnen, saisonale Dauer)  Zunahme von Gewittern, Starkregen und Hagelschäden in mittleren Breiten  Ausweitung der Dürre- und Wüstenzonen in subtropischen Breiten

III. Klimaschutz und Anpassungsstrategien aus Versicherungssicht Diese Konsequenzen des Klimawandels erfordern umgehende Klimaschutz- und Anpassungsstrategien, die auch die Verantwortung der Industrieländer für die entstandene Klimaproblematik gegenüber den Ländern der Dritten Welt deutlich machen. Mit Blick auf die sich zuspitzende Verknappung und Verteuerung fossiler Energieträger liegen dabei alle Energiesparstrategien „auf der sicheren Seite“ und sind gleichzeitig der wichtigste und am schnellsten umzusetzende Beitrag zum Kli-

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maschutz. In einer umfassenden Studie des früheren Chefökonomen der Weltbank, Nicholas Stern,4 wurden die Kosten eines ungebremsten Klimawandels auf 5 – 20 % der globalen Wirtschaftsleistung pro Jahr geschätzt, während nachhaltige Klimaschutzmaßnahmen nur etwa 1 % pro Jahr kosten würden. Dass sich Klimaschutz „rechnet“, steht aus ökonomischer Sicht also völlig außer Frage. Die Versicherungswirtschaft hat die Plausibilität und gleichzeitig die Brisanz dieser Veränderungen längst erkannt.5 Früher als andere Wirtschaftsbereiche hat sie schon Anfang der 1970er-Jahre auf die Gefahren eines globalen Klimawandels als Folge des ungebremsten Ausstoßes von Treibhausgasen hingewiesen. Sie hat damit auch hier wieder ihre außergewöhnliche Sensibilität für jedwede Änderungen ihres Risikoumfelds unter Beweis gestellt. Der Klimawandel stellt für die Versicherungsbranche ein klassisches Änderungsrisiko dar, dessen Auswirkungen durch bewährte Versicherungstechniken abgefedert werden können. Die bisher übliche Prämienkalkulation, die auf den Schadenerfahrungen der Vergangenheit basiert, also retrospektiv angelegt ist, muss bei dem beobachteten starken Schadenzunahmetrend zwangsläufig zu Verlusten führen und deshalb von einer nachhaltig konzipierten, prospektiven Abschätzung des Prämienbedarfs abgelöst werden. Eine Sonderrolle kommt der breiten Einführung risikogerechter Selbstbehalte zu. Sie reduzieren nämlich nicht nur die Höhe der auszuzahlenden Schäden und die Anzahl der administrativ zu bewältigenden Schadenmeldungen ganz erheblich, sie motivieren vor allem auch die Kunden zur Schadenvorsorge. Schadenvorsorge und -minimierung sind unabdingbare Anpassungsstrategien in einem veränderten Klima und nur sie können den gefährlichen Katastrophentrend abmildern oder vielleicht sogar langfristig stoppen. Trotz der überwiegend negativen Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft darf nicht übersehen werden, dass die Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Wetterkatastrophen auch neue Marktpotenziale eröffnet. Die Innovationsbereiche in den Versicherungsunternehmen können hier attraktive neue Produkte entwickeln. Für Unternehmen, die sich geschickt positionieren (z. B. mit Hilfe von Umfeldanalysen und Alleinstellungsmerkmalen), können die Auswirkungen des Klimawandels interessante Chancen eröffnen. Denn die Nachfrage nach Naturgefahrendeckungen wird weiter deutlich steigen. Da Länder der Dritten Welt von den Auswirkungen des Klimawandels besonders stark betroffen sind, die Ursachen dafür aber in erster Linie von den Industrieländern zu verantworten sind, wurde bei den Klimaverhandlungen im Dezember 2008 in Posen der Vorschlag einer Klimaversicherung eingebracht, der Ausdruck einer globalen Solidarität bei der Finanzierung der klimabedingten Schäden ist. Der VorStern, Nicholas: The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge 2007. Münchener Rück: Edition Wissen: Wetterkatastrophen und Klimawandel. Sind wir noch zu retten?, München 2004. 4 5

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schlag wurde von der Munich Climate Insurance Initiative (MCII), in der Versicherungsexperten und Vertreter der Weltbank, von Forschungsinstituten und von Nichtregierungsorganisationen kooperieren, entwickelt und soll nun als wichtiges Anpassungsinstrument in dem Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll, über das Ende 2009 in Kopenhagen verhandelt wird, verankert werden.6 Die Versicherungswirtschaft hat auch längst erkannt, dass sie selbst einen wesentlichen Beitrag zum Schutz des globalen Klimas leisten kann, und sie hat hierzu inzwischen zahlreiche Initiativen entwickelt (siehe Tabelle 3), die sie u. a. in Kooperation mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP)7 und dem Bankensektor vorantreibt. Dabei kann sie besonders wirkungsvolle Motivierungsinstrumente einsetzen, nämlich finanzielle Anreize. Die größte Wirkung geht aber vermutlich von einer Umsteuerung der riesigen Vermögensanlagen aus, weg von umweltschädlichen „Dinosaurier“-Industrien und hin zu nachhaltig umweltfreundlichen Wirtschaftsbereichen. Wie kaum ein anderer Wirtschaftsektor wird sie davon auch selbst profitieren können. Tabelle 3 Klimaschutzvereinbarungen der UNEP Finance Initiatives  Aufklärung und finanzielle Motivation von Kunden und Behörden  Förderung klima„freundlicher“ Versicherungsprodukte  Nutzung von Ökoaudits für die Umwelthaftpflichtversicherung  Berücksichtigung von Umweltaspekten bei Vermögensanlagen  Förderung von Klimaschutzprojekten  Ökobilanz für den eigenen Geschäftsbetrieb und Grundbesitz  Absicherung von Risiken des Emissionshandels  Klimaversicherung für die Dritte Welt (MCII)

IV. Resümee Naturkatastrophen nehmen weiter an Zahl und Ausmaß zu. Es wird nur schwer möglich sein, die sozioökonomischen Trends und die Auswirkungen des globalen Klimawandels in absehbarer Zeit so in den Griff zu bekommen, dass diese Zunahme gestoppt wird. Verstärkte Vorsorgemaßnahmen können allerdings den Zunahmetrend verlangsamen und die Folgen abmildern. Die Versicherungswirtschaft kann hier nicht nur finanziellen Schutz vor den Schadenwirkungen des Klimawandels bieten, sondern auch aktiv und effizient zum Klimaschutz beitragen. 6 Höppe, Peter / Gurenko, Eugene: Scientific and Economic Rationales for Innovative Climate Insurance Solutions, in: Climate Policy 6/2007, S. 607 – 620. 7 United Nations Environment Programme (UNEP) Finance Initatives: Climate Risk to Global Economy. CEO briefing, 2003.

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Weitere Literatur Berz, Gerhard: Naturkatastrophen und Klimaänderung. Befürchtungen und Handlungsoptionen der Versicherungswirtschaft, in: Wetterkatastrophen und Klimawandel. Sind wir noch zu retten?, hrsg. von der Münchener Rück, München 2004, S. 98 – 105. – Wie aus heiterem Himmel? Naturkatastrophen und Klimawandel, München 2010 (im Druck). Dronia, Horst: Zum vermehrten Auftreten extremer Tiefdruckgebiete über dem Nordatlantik in den Wintern 1988 / 89 bis 1990 / 91, in: Die Witterung in Übersee 3 / 1991, S. 27. Emanuel, Kerry A.: The Maximum Intensity of Hurricanes, in: Journal of the Atmospheric Sciences 7 / 1988, S. 1143 – 1155. Münchener Rück: Hurrikane – stärker, häufiger, teurer. Assekuranz im Änderungsrisiko, München 2006.

Umwelt und Tourismus Von Otmar Bernhard

Bei dem Titel „Umwelt und Tourismus“ stellt sich einem sofort die Frage: Ist das nicht ein Gegensatz, kann sich das ergänzen, oder bedingt das eine gar das andere? Meiner Meinung nach schließen sich Umwelt und Tourismus keineswegs aus. Allerdings ist es richtig, dass der Tourismus den Nutzungsdruck auf die Umwelt und die Natur dadurch erhöht, dass Infrastrukturmaßnahmen ergriffen und damit Flächen verbraucht werden, die Lärmbelästigung, Luftverschmutzung und generell die Abfallberge zunehmen. Hier hilft nur ein gezieltes Gegensteuern und Aufklären, denn ein vernünftiger Umgang mit der Natur und Wissen über die Natur lassen Gefahrenpotenziale, die durch den Tourismus für die Umwelt bestehen, ausschließen bzw. auf ein verträgliches Minimum reduzieren. Viele Sportarten wie z. B. Rad fahren, Wandern, Mountainbiken, Bergsteigen, Rafting oder Skilaufen werden in der freien Natur ausgeübt. Diese Sportarten bedingen in der Regel einen Wochenendtourismus und wären ohne die Natur gar nicht möglich. Durch infrastrukturelle Maßnahmen werden die natürlichen Flächen genutzt bzw. verbraucht. So gewährleistet eine maßvolle Pistenpräparierung z. B. beim Alpinski die Ausübung der sportlichen Aktivität, ohne dabei der Natur zu schaden. Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass an bestimmten Stellen Beschneiungsanlagen sogar dem Schutz der Natur dienen. Bei der Gesamtkostennutzenanalyse muss natürlich wiederum bedacht werden, dass diese Anlagen viel Wasser verbrauchen, einen hohen Energieeinsatz erfordern und in gewissem Maße auch Lärm hervorrufen, der für scheue Tierarten ein Problem sein kann. In den nächsten Jahren wird uns in Bayern der Wintertourismus noch intensiver beschäftigen, da der Klimawandel die Ausübung klassischer Wintersportarten immer stärker beeinflussen wird. Alternativen müssen jetzt ausgebaut werden. Umwelt und Natur sind ganz eindeutig ein Tourismusmagnet. Vom reinen Städtetourismus abgesehen, punkten Ferienorte und Ferienregionen vor allem mit ihren Naturschönheiten und ihrer Landschaft. Alpen und Berge laden zum Wandern und Bergsteigen ein, Seen zum Baden, zum Segeln und zum Relaxen. Die Vielfalt von Natur kurbelt den Tourismus an. Regionale Besonderheiten sind in der Regel dafür ausschlaggebend, in einer bestimmten Region die Ferien zu verbringen. Tourismus ist Regionalmarketing. Die Natur ist ein Teil dieses Marketings und ganz entscheidend imagebildend, denn die Umwelt und die Natur schaffen Attraktionen für eine Region. Außerdem sind regionale Wirtschaftskreisläufe ohne Tou-

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rismus kaum denkbar. Natur und Umwelt schaffen somit eine regionale Wertschöpfung. Das Rhönschaf oder das Altmühltaler Lamm sind mittlerweile nachgefragte Marken geworden, die weithin bekannt sind. Die Menschen wollen die Gegend sehen, in der diese Produkte ihren Ursprung haben. Gleichzeitig wird damit ein Beitrag zum Erhalt der gewachsenen Landschaftsräume geleistet. Typische Landschaftsformationen bleiben nur auf diese Weise erhalten und verbuschen nicht. Die regionalen Besonderheiten werden durch die Touristen in ihrem Bekanntheitsgrad weiter gestärkt. Arbeitsplätze in den ländlich geprägten Regionen sind heute oftmals ohne Tourismus kaum noch denkbar. Gut 24 Milliarden Euro beträgt der Umsatz der Tourismusbranche in Bayern. 560.000 Menschen haben direkt eine Erwerbsquelle im Tourismus, dazu kommen noch Einzelhandel und Transportwesen. Der Tourismus nutzt bzw. benützt zwar eine Region und Landschaft, er macht sie aber auch attraktiv und erhält sie damit im wahrsten Sinne des Wortes lebenswert. In einem 2008 veröffentlichten Gutachten von Prof. Dr. Hubert Job, Lehrstuhlinhaber an der Universität Würzburg, wurde deutlich, dass z. B. der Nationalpark Bayerischer Wald eine zentrale Säule des Tourismus für den Bayerischen Wald ist. Der Nationalpark ist eindeutig die am häufigsten besuchte Attraktion der Region und fast die Hälfte der rund 750.000 Besucher im Jahr 2007 ist gerade wegen des Nationalparks in die Region gekommen. Auch im Berchtesgadener Land ist der Nationalpark nach wie vor ein Tourismusmagnet und hilft den Tourismus in der Region zu halten. Dies macht auch deutlich, dass Tourismus nicht nur in der Kulturlandschaft floriert, sondern Menschen gerade auch die unberührte Natur, die Wildnis, suchen. Naturschutzgebiete und Naturparks dienen häufig der Naherholung, sind aber auch Anziehungspunkte für Ortsfremde. Der sog. sanfte oder Ökotourismus schafft mit Natur- oder Biohotels, Wellnessangeboten und natürlichen Heilmethoden einen ganz neuen Absatzmarkt. Dieses recht neue Marktsegment im Tourismus ist ohne die umgebende Landschaft und damit die Natur überhaupt nicht denkbar. Der beschriebene Trend ist zur Stärkung der regionalen Identität insbesondere in Naturparks und Biosphärenreservaten von Vorteil. Das Erfolgsmodell Urlaub auf dem Bauernhof bringt Stadtmenschen und vor allem Kinder in Kontakt mit Land und Nutztieren. Diese Urlaubsform macht der städtischen Jugend Natur erst erlebbar und stärkt damit ganz eindeutig das Verständnis für die Umwelt und ist somit Umweltbildung im besten Sinne des Wortes. Umweltstationen – mittlerweile gibt es 43 in Bayern anerkannte Stationen – nehmen die regionalen Besonderheiten der Natur, Landschaft und Heimat vor Ort auf und stärken damit weiter die identitätsstiftenden Elemente einer Region. Der Klimawandel stellt die Natur und den Tourismus gleichermaßen vor neue große Herausforderungen, wobei Anpassungsstrategien in beiden Feldern erforderlich sind. Es wird für die Zukunft eine bleibende Aufgabe sein, sich auf diese neuen Gegebenheiten und Trends einzustellen.

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Die Sehnsucht des Menschen nach frischer Luft, freier Landschaft, also im weitesten Sinne Natur, die Sehnsucht nach Einfachheit der Lebensweise und damit häufig auch nach vollwertiger Ernährung ist sinnstiftend für das menschliche Dasein. Das wird manchmal vielleicht überlagert und verdrängt, aber ist in uns angelegt und wird durch entsprechende Auslöser immer wieder auch angeregt und hervorgehoben. Diese ethisch-spirituelle Dimension des Themas Umwelt und Tourismus ist aktuell wieder besonders im Kommen. Die gerade beschriebenen Biohotels, die auch auf biologische Bauweise und erneuerbare Energien setzen, sind längst aus einer Nischensparte herausgewachsen. Ein wahrer Boom ist entstanden. Die Arbeitsplätze im Tourismus in den ländlich geprägten Regionen werden damit auch zukunftsfähig gemacht. Durch Regionaltourismus, also Tourismus im ländlichen Raum, wird ein Beitrag zur Biodiversität geleistet. Artenvielfalt, der Umgang mit fremden Arten, die Sensibilität des Gleichgewichts der Natur werden erlebbar und für viele erstmals erkennbar. Es gilt hier der alte Spruch: Nur was man kennt, das schützt man. Nur wenn man um die Bedrohung des Gleichgewichts weiß, kann man einen Ausgleich schaffen, Verantwortung übernehmen, schützen und erhalten. Tourismus in der Natur bedeutet auch Rücksichtnahme lernen, Rücksicht auf andere Menschen, aber auch auf die Natur selbst. Ohne Erfahrung und Umgang mit der Natur bleibt die Umwelt etwas Fremdartiges. Tourismus kann das Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur reduzieren, macht den Menschen sich selbst als Teil der Natur erfahrbar und erlebbar. Der Mensch lernt im Umgang mit Natur und Umwelt, dass er zwar das Recht hat, die Erde zu nutzen, aber nicht auszubeuten. Nachhaltiges Denken, nachhaltiges Wirtschaften und nachhaltiges Handeln werden durch den Umgang mit der Natur und das Beschäftigen mit der Natur verständlicher und begreifbar. Bayern pflegt im Umweltschutz seit Jahrzehnten die Kooperation mit denen, die die Natur und Umwelt nutzen. Zuallererst steht dabei, Verständnis zu fördern und Rücksicht einzufordern. Nicht mit Verboten und Geboten, sondern mit Einverständnis und Freiwilligkeit soll das hohe Gut Umwelt und Naturschutz, das in Bayern auch Verfassungsrang hat, bewahrt und lebenswert erhalten werden. Umweltschutz kann Regionen auch erst Tourismus bringen. Klassisches Beispiel hierfür ist das Fränkische Seenland. Ohne Anlage dieses gewaltigen Wasserreservoirs und der Rekultivierung wäre dieses Erholungsgebiet und damit Tourismus an der Fränkischen Seenplatte nie entstanden. Artenhilfsprogramme für Adler, Falken, Störche haben Touristenattraktionen erst geschaffen. Der Erhalt von Streuobstwiesen sowie die Beweidung von Flächen schaffen und erhalten typische Landschaften. Gartenschauen ziehen Touristen an, rekultivieren alte Industrieflächen und schaffen dauerhaft Naherholungsflächen. Die Sommeraktion Bayern Tour Natur ist mittlerweile zu einer der größten Umweltbildungsaktionen geworden, in der ehrenamtlicher Naturschutz und amtlicher Naturschutz zusammenwirken, um die Attraktivität Bayerns und die stillen Schön-

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heiten in ihrer ganzen Vielfalt und Breite für seine Bürger darzustellen. Die Prämierung zu „Bayerns schönsten Geotopen“ verfolgt ähnliche Ziele. Gerade durch die Vielfalt der Landschaften hat sich Bayern zum Tourismusland Nr. 1 in Deutschland entwickelt. Umwelt und Tourismus sind also kein Gegensatz, sondern ein Wechselspiel mit Vorteilen für alle, wenn bestimmte Regeln des Ausgleichs und der Rücksichtnahme eingehalten werden. Der Mensch kann nirgendwo sonst so sehr wie in seiner Freizeit und in seinem Urlaub die Natur als Basis seiner Existenz begreifen. Mit der Erholung in der Natur wird auch die Basis für Nachhaltigkeit und damit den Erhalt von Natur und Umwelt in der Zukunft gelegt.

Bodenschutz aus der Sicht eines o¨kologisch orientierten Unternehmens Von Claus Hipp

Die Bildung von neuen lebens- und leistungsfähigen Böden dauert nach der Zerstörung lange Zeit. Vieles beeinträchtigt unsere Böden. Folgende Faktoren wirken sich zerstörend aus: – Zersiedelung – nach dem 2. Weltkrieg wurde in Bayern die gleiche Bodenfläche durch Zersiedelung zerstört wie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte auf bayerischem Gebiet. – Chemische Belastung durch Industrie und Landwirtschaft mit Langzeitfolgen für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Bodens und damit der Bevölkerung. – Physikalische Belastung durch unsachgemäße Bearbeitung (schwere Maschinen und Bodenbearbeitungsgeräte, die die empfindlichen Bodenkomplexe zerstören mit der Folge, dass vermehrter Einsatz von Chemie zur Aufrechterhaltung der Ertragskraft erforderlich wird) oder durch Bearbeitung zum falschen Zeitpunkt. – Einsatz falscher Dünger, falscher Fruchtfolge und falscher Bodenbearbeitung, dadurch Verlust von organischer Substanz und damit der Leistungsfähigkeit des Bodens. – Beeinträchtigung des Grundwassers durch falsche Bodennutzung.

Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss immer im Auge behalten werden nach dem Grundsatz „gesunder Boden – gesunde Pflanze – gesundes Tier oder gesunder Mensch“. Ein gesunder Boden verliert seine Leistungsfähigkeit nicht, sondern er kann sie sogar steigern. Nachhaltigkeit wirkt sich auch in der Energiebilanz aus. Die ökologische Landwirtschaft erzielt einen Energieüberschuss, während die konventionelle Landwirtschaft mehr Energie in die Erzeugung von landwirtschaftlichen Gütern steckt, als sie aus ihnen herausholt.

I. Ursprünge der ökologischen Landwirtschaft Vor 160 Jahren verbrannte Justus von Liebig (1803 – 1873) Pflanzen, löste deren Asche in verschiedenen Säuren und Laugen auf und fand einige Grundstoffe, unter anderem Stickstoff. Im Jahre 1840 kam die Agrikulturchemie auf, in der die orga-

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nische Chemie in Anwendung auf Ackerbau und Physiologie dargestellt wird. Das war der Beginn des chemisch-technischen Agrikultur-Zeitalters. Schon viel früher vertrat Albrecht Thaer (1752 – 1828) in weiser Voraussicht die Meinung, dass die Nahrung der Pflanzen aus den im Boden befindlichen organischen Stoffen bestehe. Er war der Begründer der Humustheorie, er schaffte die Drei-Felderwirtschaft ab, war Mediziner und hat durch praktische Arbeit vorausschauend richtig gehandelt. Seine Anschauungen wurden erst viel später wissenschaftlich belegt: So zum Beispiel durch Artturi Ilmari Virtanen (1895 – 1973), der bewies, dass die höheren Pflanzen sehr gut bestimmte organische Stickstoff-Verbindungen, und zwar solche, die tatsächlich in Böden vorkommen, verwerten, ohne dass diese Verbindungen zuerst durch die Tätigkeit der Mikroorganismen unter Bildung von Ammoniak zersetzt werden müssen. Dr. Peter Müller stellt in seiner Doktorarbeit (Basel 1963) fest: Mais in steriler Lösung wächst, wenn Vitamin B 12 dazugegeben wird. Vitamin B 12 wird im Bodenleben erzeugt. Beispiele aus der Geschichte wie aus Ägypten und von den Azteken belegen, dass pro Hektar weit mehr Menschen ernährt wurden, als uns heute mit all unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen der chemisch-technischen Landwirtschaft möglich ist. Die Begründung, dass Gentechnik in der Landwirtschaft nötig sei, um die Menschen in Zukunft zu ernähren, ist damit widerlegt.

II. Bio-Landbau: Bodenbearbeitung als natürlicher Prozess Mein Lehrer war Dr. Hans Müller aus der Schweiz, der zusammen mit Dr. H. P. Rusch aus Deutschland den organisch-biologischen Landbau entwickelt hat. BioLandbau bedeutet Anbau mit der natürlichen Hilfe von Bakterien, Algen, Pilzen, Würmern, Käferlarven. Das Zusammenwirken der Kleinstlebewesen mit dem mineralischen Gerüst von Sand und Ton ergibt die Verlebendigung des Bodens, die Bodenfruchtbarkeit, die sichtbar wird in der Krümelstruktur. Die Bodenfruchtbarkeit wurde zu einem neuen Lebens-Leistungsbegriff, im Unterschied zum leblosen Qualitätsbegriff der chemischen Bodenanalyse. Unter einem Bodenkrümel versteht man die innige Verbindung der zerklüfteten, oberflächenreichen, winzigen Tonteilchen mit den ebenso zerklüfteten, zerfaserten Resten der organischen Substanzen zu einer Art Schwamm mit einer Fülle winziger Hohlräume. Die Krümel sind das tragende Gerüst der Lebendverbauung. In diesen Hohlräumen befindet sich Luft, ohne die die Kleinstlebewesen – Bakterien, Pilze – nicht leben können, ferner wird Wasser gespeichert, das in Dürreperioden als Reserve herangezogen werden kann. In diesem Wasser der Krümel werden auch gelöste Salze, die sogenannten „Schwarmionen“ festgehalten, die von den Pflanzen je nach Bedarf entnommen werden können. Die Voraussetzung des organisch-biologischen Landbaus liegt daher in der Erzielung einer umfangreichen – womöglich tiefgründigen – Krümelstruktur. Um sie

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zu erringen und zu erhalten, genügt es nicht, Düngesalze und Spritzmittel wegzulassen, sondern man muss die Bakterien immer wieder gut und oft füttern. In einer Handvoll Muttererde leben Milliarden von Bakterien. Daneben kommt der Bodenbedeckung eine große Bedeutung zu. Die Krümelstruktur verursacht durch ihren schwammartigen Aufbau eine ungeheuere innere Oberfläche im Boden, die bei gesunden Böden bis zu 20 Quadratkilometer auf einen Quadratmeter Boden betragen kann. Diese heiß begehrte Krümelstruktur ist jedoch nicht in allen Bodenschichten vorhanden. Die Erde ist ungefähr 12.000 km dick. Auf dieser gewaltigen Masse nimmt sich die fruchtbare Rindenschicht (10 – 30 cm) verschwindend dünn aus, und doch wird ohne sie jedes Leben auf der Erde undenkbar. Diese Rindenschicht trägt den Namen „Muttererde“ daher ganz zu Recht. Diese Muttererde ist in mehrere Schichten gegliedert. In diesen Schichten vollzieht sich der Weg von der oben aufgebrachten organischen Substanz – Blätter, Gras, Stallmist usw. – bis zum Edelerzeugnis Dauerhumus, der als Teil der Krümel den Pflanzen als unmittelbare Nahrung dient. Der Boden wächst von oben nach unten. Wenn wir einen Haufen organischer Substanzen liegen lassen, so tritt zunächst ein Fäulnisprozess ein, in dessen Verlauf Giftstoffe entstehen, welche die überaus empfindlichen Teilungs- und Fruchtbarkeitsprozesse im Zellkern hemmen und schädigen. Bei reichlichem Luftzutritt ist dieser Fäulnisprozess je nach Temperatur in relativ kurzer Zeit, ca. 2 Wochen, im Sommer in wenigen Tagen, beendet. Dann schließt sich ein Verrottungsprozess ohne Giftentwicklung an. Bleibt jedoch die organische Substanz, wie z. B. Stapelmist, dauernd unter Luftausschluss, so hält auch die Fäulnisperiode ebenso lange an. Nach der giftigen, kurzen Fäulnisperiode folgt die Verrottung, das heißt der weitere Abbau der organischen Substanzen nicht nur durch Bakterien, Algen, Pilze, sondern vor allem durch Kleinsttiere wie Würmer, Asseln, Käfer, Tausendfüßler usw. In dieser oberen Bodenschicht geht es sozusagen drunter und drüber, einer frisst den anderen, und das, was der andere übrig lässt, bis nichts mehr da ist, was dieser Mikrofauna als Nahrung dienen könnte. In diesem Stadium wird alles gefressen, was die Zellen an Kleinsttiernahrung zu bieten haben. Es ist ein Durchgangsstadium zur Humusbildung, das den Namen „Zellgare“ trägt. In dieser Schicht des ständigen Durchwühlens und tierischer Völkerwanderungen können weder die Wurzelbakterien noch die Haarwurzeln der Pflanzen richtig gedeihen. In dieser oberen Abbau-Schicht der Zellgare finden die Pflanzenwurzeln noch nicht die Hauptnahrung, die sie benötigen. Diese wird erst aufgeschlossen durch das Heer von Bakterien und den mit den Haarwurzeln in Gemeinschaft lebenden Wurzelbakterien, die in der nächsttieferen Schicht die von

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den Kleinsttieren übrig gelassenen organischen Substanzen bis auf den letzten Rest, das Plasma, abbauen. Am Ende des Abbauprozesses steht dieselbe Urform des Lebendigen, die am Anfang war. Hier verklebt sich nun das übrig gebliebene, schwammige Plasma mit den zerklüfteten Tonkristallen zu den Dauerkrümeln. Die obere Schicht des vornehmlich tierischen Abbaus, die Zellgare, geht mehr oder minder nahtlos über in die untere Schicht der Plasmagare, des vorwiegend bakteriellen Abbaus des Plasmas bis auf die letzten Reste der lebenden Substanz, der Kleinsubstanz, die erhalten bleibt und den Haarwurzeln als unmittelbare, sofort aufnehmbare Nahrung dient. Die Natur leistet sich nicht die Verschwendung der höchstorganisiert lebenden Substanz bis zu ihrer restlosen Vernichtung durch die Mineralisation. Sie lässt es gar nicht so weit kommen, sondern baut die derart erhaltenen Lebensträger wieder zu neuem Plasma um. In der Plasmagare, dem Dauerhumus, dieser bakteriellen Aufarbeitungszone, liegt gleichsam der Brennpunkt des Kreislaufs des Lebens, der Nahtstelle zwischen Tod und Leben. Wichtig ist dabei die Aufgabe des Regenwurms. Er gräbt sich seine Gänge und Röhren oft sehr tief in den Untergrund und ist unser bester Untergrundlockerer und Durchlüfter tiefer Schichten. Er hat zudem die wunderbare Eigenschaft, in seinem Magen die organischen Speisereste mit der mitgefressenen Erde zu dem besten, nährstoffreichsten und bakterienreichsten Naturdünger zu verkleben, den wir kennen. Die Anwesenheit von Regenwürmern ist deshalb ein Qualitätsmerkmal im organisch-biologischen Landbau. Das Grundgesetz organisch-biologischer Bodenbearbeitung ist, die verschiedenen Bodenschichten so wenig wie möglich zu vermischen.

III. Gentechnik in der Landwirtschaft Eingriffe in das Programm einer Pflanze werden nur unter kurzfristiger KostenNutzen-Analyse für diesen Pflanzenanbau gesehen, aber nicht im Schöpfungsbezug, nicht unter langfristigen Gesichtspunkten. Die langfristigen Auswirkungen von Genmanipulation bei Pflanzen können wir noch nicht beurteilen. Persönlich überblicke ich es nicht und habe Angst, dass Veränderungen in der Natur in Gang gebracht werden, die für die nächsten Generationen hochproblematisch werden können. Vor 40 – 50 Jahren wurden wir wegen des Bio-Anbaus angegriffen und unsere Bedenken genau von den gleichen Stellen abgetan, die auch heute Bedenken gegen gentechnisch veränderte Pflanzen abtun, nämlich Politik, Wissenschaft, Teile der Landwirtschaft und Teile der Großindustrie. Die Ereignisse haben uns Recht gegeben. Ich sehe keinen Grund, heute anders als vor 50 Jahren zu handeln. Philosophische Grundüberlegungen sind heute besonders vonnöten. Es gibt in der Pflanze ein Prinzip, das auf die Elemente, aus denen die Pflanze besteht und die darin wirkenden physikalischen und chemischen Kräfte in bestimm-

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ter Weise einwirkt, d. h. es gibt eine Pflanzenseele (so Aristoteles und Thomas von Aquin). Sowohl die Struktur wie auch die Tätigkeit ist in den einzelnen Teilen der Pflanze auf eine höhere, einheitliche Tätigkeit hingeordnet, deren Ziele die – Vervollkommnung, – Entwicklung und – Erhaltung, d. h. die Ernährung, das Wachstum, die Fortpflanzung eines Ganzen

sind. Die Ernährung, das Wachstum, die Erzeugung neuer Individuen zielen nicht bloß darauf hin, dass der Bestand der Pflanze für die Gegenwart, sondern hauptsächlich auch, dass er für die Zukunft gesichert ist. Durch ihre genetische Vielfalt bewegt und vervollkommnet sich die Pflanze. Die Pflanzenseele besitzt ein Vermögen, sich zu ernähren, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Die Pflanze, wie jedes körperliche Lebewesen, wächst nicht durch Juxtaposition (z. B. Kristall), d. h. durch Anlagerung neuer Stoffe von außen her, sondern durch Intusception, d. h. durch Anhäufung des Stoffes von innen her. Die vollkommeneren Lebewesen, deren Organismus aus Zellen besteht, wachsen durch Zellteilung. Wenn wir die Schöpfung aus Habgier verändern, um mehr zu haben, ohne Rücksicht, was wir dabei für einen Schaden anrichten, dann tun wir Unrecht. Durch den passiven Vorgang der zufälligen Mutationen kann sich die Pflanze den äußeren Umständen anpassen, sie kann sich über Generationen hinweg ändern, verbessern. Guter Boden ist die Voraussetzung. Auch vor 50 Jahren versuchten die offiziellen Stellen der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Landwirtschaft den Verbrauchern Bedenken gegen die Anwendung gewisser chemischer Stoffe in der Landwirtschaft zu nehmen. Es hieß, anders könnte die Bevölkerung nicht ernährt werden. Verschwiegen wurde Liebigs letztes Werk. Verschwiegen wurde, dass die alten Ägypter und die Azteken 15 Personen pro Hektar ernährten und die USA heute 1 Person pro Hektar. Damals vertraten wir, die Verfechter der ökologischen Landwirtschaft, eine Außenseiter-Meinung und warnten. Unsere damaligen Warnungen waren begründet. Wer heute die gleichen Mittel wie damals in der Landwirtschaft einsetzt, bekommt es mit dem Gericht zu tun (z. B. Atracin). Die offiziellen Stellen von damals sind heute mit anderen Menschen besetzt. Unser heutiges Problem mit dem Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft sehe ich genauso. Es gibt Warner, es gibt Beschwichtiger und es gibt verunsicherte Verbraucher. Wir sind in erster Linie für die Verbraucher da und haben deren Interessen zu wahren und zu vertreten. Die anderen sogenannten wichtigen Argumente müssen sich unterordnen. Mehr Produktion und Resistenzen gegen Pestizide führen zu noch stärkeren Resistenzen, damit zu Unkraut in fremden Kulturen (z. B. Raps, mittels Gentechnik verändertes Gras). Wenn wir das alles beachten, dann brauchen wir keine zusätzlichen Hilfsmittel. So werden wir gesunde Pflanzen in natürlicher genügender Menge erhalten und das viel kostengünstiger. Nur dürfen wir nicht die

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Schöpfungsordnung der Pflanzen an die Unordnung, die wir in 150 Jahren in vielen Böden angerichtet haben, anpassen. Ein gesunder Boden ist die Voraussetzung für gesunde Pflanzen. Gesunde Pflanzen sind die Voraussetzung für gesundes Vieh und beides für gesunde menschliche Nahrungsmittel. Wenn wir die Schöpfungsordnung der Pflanzen verändern, um sie der Unordnung mancher Böden anzugleichen, gehen wir einen riskanten Weg und verzichten auf einen wichtigen Hinweis: auf den Gesundheitszustand. Wir sollten uns um gesunde Böden kümmern. Wie, das ist wissenschaftlich erforscht und ohne Risiko möglich.

Bildung ist aller Umweltschutz Anfang Von Hans Fendt

I. Zielsetzung „Nur der, der viel weiß, soll spekulieren!“ Konrad Lorenz

Umweltschutz war lange Zeit im Bereich der Spekulation und wird es wohl auch in Zukunft bleiben: Wie viel Öl dürfen wir noch verbrennen, ohne dass es dramatische Klimaveränderungen zur Folge hat? Sind wir Menschen überhaupt verantwortlich oder kommen die Einflussfaktoren aus dem Weltall? Verbreiten sich genmanipulierte Pflanzen ungewollt? Wenn ja, welche Einflüsse hat das auf die Artenvielfalt? Wie wirken sich Pflanzenschutz und intensive Düngung langfristig auf Bodenleben und Artenvielfalt aus? Brauchen wir überhaupt so viele Arten, oder lässt sich ein Gleichgewicht auch mit weniger genstabilisierten Arten erhalten? Fragen über Fragen! Aus diesen wenigen Sätzen wird deutlich, dass nachhaltiger Umweltschutz eine fundierte Wissensbasis benötigt, die auch von breiten Bevölkerungsschichten verstanden und akzeptiert werden muss. Nachhaltiger Umweltschutz geht deshalb weit über kurzfristige Erfolgsbilanzen hinaus. Nur mit Wissen über Auswirkungen und Folgen können wir dieser Aufgabe gerecht werden. Diese Zusammenhänge wurden bereits 1992 in Rio postuliert und über die Forderung nach einer „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ bekräftigt. 2004 haben die Vereinten Nationen die Dekade „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen und die UNESCO mit der Durchführung beauftragt. Da außerdem alle Ressourcen auf unserem Globus unterschiedlich verteilt und zudem endlich sind, erfordert eine nachhaltige Nutzung einen partnerschaftlichen Umgang mit allen Ländern. Nicht-partnerschaftliche Nutzung führt zu gnadenloser Ausbeutung mit weitreichenden Folgen für die Umwelt – Zustände, die wir partiell immer wieder vorgeführt bekommen, z. B. beim Abholzen der Regenwälder, bei unkontrolliertem Pestizideinsatz, bei der Überfischung der Weltmeere usw. Damit wir den Ernst der Lage erkennen und diese Zusammenhänge besser verstehen, müssen wir viel wissen. Nur daraus begründet sich die von Konrad Lorenz als Spekulation bezeichnete „Gestaltungskompetenz“ mit kreativen Visionen und innovativen Ergebnissen.

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Dennoch bleibt die Frage: Führt Wissen allein bereits zu nachhaltigem Handeln? Nach jüngeren Erkenntnissen muss diese Frage leider mit nein beantwortet werden. Meistens wird unser Handeln doch von kurzfristigen Erfolgsbilanzen dominiert – eine wahre Herausforderung für die Bildung. Die Schulentwicklung hat das erkannt und beherzigt seit geraumer Zeit den überlieferten Goethe-Spruch: „Man treibt die jungen Leute herdenweise in Stuben und Hörsälen zusammen und speist sie in Ermangelung wirklicher Gegenstände mit Zitaten und Worten ab. Die Anschauung, die oft den Lehrern selber gefehlt, mögen sich die Schüler hintendrein verschaffen.“ Es gehört eben nicht viel dazu, um einzusehen, dass dies ein völlig verfehlter Weg ist. Deshalb bedarf Bildung und im Besonderen Bildung für nachhaltige Entwicklung einer Doppelstrategie: vom Handeln zum Wissen und über das Wissen wieder zum Handeln bzw. zum Gestalten. So logisch diese Folgerung erscheint, steckt doch in ihrer wirkungsvollen Umsetzung ganz erheblicher Handlungsbedarf. Wie bekommt Umweltschutz den Wert, mit dem auch kurzfristige Erfolgsbilanzen zu toppen sind? Lernpsychologisch betrachtet geht das nur über positive Erfahrungen, positive Erlebnisse in der Natur und mit der Natur. Um Werte anzuerkennen und als erstrebenswerte Ziele zu akzeptieren, ist es außerdem hilfreich, wenn diese Werte mit Anerkennung in Verbindung gebracht werden können. Durch Anerkennung steigt Motivation und Leistungsbereitschaft um ein Vielfaches. Selbst bei leistungsschwachen SchülerInnen haben sich durch Anerkennung, ganz besonders durch Anerkennung von außerschulischer Seite, gravierende Leistungssteigerungen ergeben. Folgende Wirkungskette konnte aus den Modellversuchen „Partizipation in der lokalen Agenda“ als Ergebnis festgestellt werden: Partizipation > Anerkennung > Motivation > Leistung. Mitgestaltung und Mitverantwortung führt in aller Regel nach redlichem Bemühen zu Anerkennung, dadurch steigen Motivation, Leistungsbereitschaft und letztendlich auch die Leistung. Hierbei können externe Partner der Schule wie z. B. Bürgermeister, Gemeinderat, Bauhof, ortsansässige Firmen eine wichtige Rolle übernehmen. Für das Umweltverhalten entscheidend ist, dass positive Umwelterfahrungen neben monetärer Belohnung frühzeitig als erstrebenswerte Ziele anerkannt werden.

II. Umweltschutz heute Neben den sichtbaren Vermeidungsstrategien bei Müllvermeidung, der Gewässerreinhaltung, optimiertem Pestizid- und Düngemitteleinsatz bedarf Umweltschutz heute auch veränderter Nutzungs- und Verbrauchsgewohnheiten, d. h. „Nut-

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zen statt Verbrauchen“. Effizienter Umgang mit Ressourcen, nachhaltige Hege und Pflege – im Bereich der Energie bedeutet das Energie einsparen, die Effizienz steigern und fossile Energieträger durch erneuerbare Energien substituieren (E-E-E). Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen Zusammenhänge erkannt, Werte und Einflussfaktoren definiert und persönliche Bilanzen wie CO2-Bilanz, ökologischer Fußabdruck erstellt werden. Umweltschutz heute erfordert antizipatorische Systemanalyse, politische Partizipation, Gestaltungskompetenz und die Fähigkeit, global zu denken und lokal zu handeln. Um all die als notwendig anerkannten Schritte in die Wege zu leiten, muss man auch wissen, wie man „einen Schneeball ins Rollen bringen“ kann. Bundespräsident Horst Köhler fordert in diesem Zusammenhang eine Umstrukturierung unseres Wirtschafssystems hin zu einer ökosozialen Marktwirtschaft. Neben Geld und sozialen Bedürfnissen gibt uns die Ökologie einen Rahmen vor, der nicht mehr grenzenlos ist. Nur wenn wir diese Grenzen erkennen, akzeptieren und rechtzeitig gegensteuern, können wir „die Erfolgsgeschichte homo sapiens auf Kurs halten“. Da die erkannten Wirkungsmechanismen bei der Klimaveränderung, beim Meeresspiegelanstieg, bei der Wüstenbildung, bei der Gletscherschmelze usw. meist sehr langwierig sind und über Generationen hinausreichen, bedarf es einer starken Motivationskraft, vieler Hoffnung, reichlicher Zuversicht und einer mehrheitlich anerkannten Wertebasis, um die notwendigen Weichenstellungen rechtzeitig in die Wege zu leiten. „Gott sei Dank“ sind wir heute mit Hilfe elektronischer Unterstützung besser in der Lage, mit Modellbildung, Szenarientechnik und Visualisierung geplante Entwicklungsschritte auszuloten. Ganz besonders zu beachten gilt es dabei allerdings, dass weit entfernt liegende Horrorszenarien nicht abschrecken, sondern Kräfte eher lahmlegen. Ähnlich wie beim Staatshaushalt müssen auch die ökologischen Hypotheken auf die Zukunft unserer Kinder einfach beziffert und ausgewiesen werden. Somit ist Umweltschutz heute eine der zentralen Herausforderungen. Wir müssen – nachhaltigere Wirtschaftssysteme planen und organisieren, die Hoffnung und Zuversicht wecken statt Gewalt und Terror initiieren, – Chancen, Risiken und Grenzen ausloten und nachhaltige Entwicklungen antizipieren, – politische Partizipation anstoßen und zulassen sowie – Entwicklungen kritisch überwachen und fortlaufend evaluieren.

Getreu nach dem Motto: „Wer die Zukunft im Blick hat, sieht die Gegenwart mit anderen Augen.“

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III. Neue Wege in der Umweltbildung Mit den neuen Richtlinien für die „Umweltbildung an bayerischen Schulen“ bekommt Umweltbildung diese neue Dimension: Leitziel ist eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development). In ihr überschneiden sich ökologische Fragen, ökonomische Herausforderungen mit Aspekten sozialer Entwicklung in der „Einen Welt“. Die Teilbereiche hängen zusammen und sollten deshalb in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Zu den zentralen Zielen von Umweltbildung gehört es, Kinder und Jugendliche zu befähigen, dass sie altersgerecht am gesellschaftlichen Leben teilhaben (Partizipation) und es mitgestalten können (Gestaltungskompetenz). Umweltbildung hat den ganzen Menschen mit seinen Gefühlen, seinem praktischen Können und seinem Sachverstand im Blick. Kinder und Jugendliche sollen Verständnis für die vielfachen, wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Mensch und Umwelt erwerben. Ein wesentliches Ziel ist die Verbindung von Lernen und Handeln. Lebensstile sollen hinterfragt und über Konsumgewohnheiten und ihre Auswirkungen neu nachgedacht werden. Die Menschen sollen erkennen, dass – sie Umweltschäden mit verursachen und von ihren Auswirkungen betroffen sind, – eine intakte Umwelt zum persönlichen Wohlbefinden beiträgt und – dies einen Wert darstellt, der nicht immer kostenfrei zu bekommen ist, und – um Interessensausgleiche ständig gerungen werden muss.

Umweltbildung soll zur demokratischen Mitwirkung bei Lösungsbemühungen im lokalen Bereich anleiten und gleichzeitig die Sicht für globale Herausforderungen schärfen. Sie hat heute eine nachhaltige Entwicklung zum Ziel, indem sie den respektvollen Umgang mit der Schöpfung fordert und ein emotional verankertes Verständnis für Natur und Mitwelt zu Grunde legen will. In der Gestaltung des Schulalltags sollen Schülerinnen und Schüler die Verwirklichung nachhaltiger Verhaltensweisen erleben und erfahren, die nach Möglichkeit von ihnen selbst angeregt, geplant und durchgeführt werden. Konkrete Maßnahmen sollten immer wieder auf ihre Wirkung und Qualität überprüft und neuen Gegebenheiten angepasst werden. So kann Umweltbildung auch zum Bestandteil und Motor der inneren Schulentwicklung werden. Neben den Zielen und der thematischen Gliederung erhalten die Richtlinien eine Reihe von Ideen zur praktischen Umsetzung. Unter anderem sollen hierbei folgende didaktische Prinzipen zur Geltung kommen: – Gestaltungskompetenz und Partizipation, um vernetzte Zusammenhänge zu analysieren, zu bewerten und danach zu gestalten. Sie gehören zu jenen Qualifikationen, mit denen Menschen ihr Leben im Rahmen von Gemeinschaften aktiv mitgestalten können;

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– Kommunikation für eine konstruktive Zusammenarbeit mit argumentativer Auseinandersetzung, Empathie, Kritikfähigkeit und Kritikbereitschaft; – Handlungsorientierung zum Erleben nachhaltiger Prozesse mit entsprechender Rückmeldung als Anerkennung für Engagement und Erfolg und – vorbildlich praktiziertes Umweltbewusstsein im Schulleben, um Kinder und Jugendliche zu „guten Gewohnheiten“ zu ermutigen wie z. B. konsequente Mülltrennung, verantwortlicher Gebrauch von Energie und Wasser, umweltbewusste Ernährung und nachhaltiger Konsum.

1. Alters- und schulartspezifische Aspekte In der Grundschule wird das Fundament für verantwortungsbewusstes Handeln in Umwelt und Natur gelegt, deshalb sollte die heimische Umgebung selbst so oft wie möglich Lernort sein. Dabei reflektieren Kinder ihre Erlebnisse, erkennen erste Zusammenhänge und entwickeln eine Wertschätzung für die Natur. An weiterführenden Schulen ermöglichen einerseits die verschiedenen Fächer eine Vertiefung fachlicher Aspekte, andererseits ist eine fächerübergreifende Bezugnahme und Verknüpfung geboten, um Zusammenhänge zu erkennen und Wissenstransfer auf andere Aufgabenstellungen leichter zu ermöglichen. An der Berufsschule stehen inhaltlich und methodisch vor allem umweltrelevante Handlungsfelder des jeweiligen Ausbildungsberufes im Vordergrund. 2. Konkrete Wege der Umweltbildung Inhalte der Umweltbildung finden sich in jedem Unterrichtsfach, doch ein fundiertes und wirkungsvolles Verständnis komplexer Umweltphänomene lässt sich besonders durch fächerübergreifende Maßnahmen erreichen – vom Seitenblick, über informelle Gespräche bis hin zu feststehenden Absprachen für den Unterricht oder mit gemeinsamen Veranstaltungen, die mit Schülern zusammen geplant und organisiert werden. Alle Schülerinnen und Schüler sollen jedes Schuljahr an mindestens einem fächerübergreifenden Projekt teilnehmen. Besonders wertvoll in der Umweltbildung sind Methoden, die Schüler zu selbst bestimmtem Lernen führen und zur Partizipation befähigen. Im Idealfall bearbeiten sie selbst gestellte Aufgaben und präsentieren die selbst zu verantwortenden Ergebnisse. In jeder Schulart bieten sich Chancen für praktisches Lernen. Etwas selbst herzustellen, vermittelt intensive Lernerfahrung und intensives Erfolgserlebnis. Ob man z. B. einen Solarkocher, eine Solarwarmwasseranlage, eine Trockenmauer oder einen Lehmbackofen selbst hergestellt hat – die praktischen Erfahrungen vermitteln Gestaltungskompetenz in ihrer ureigensten Bedeutung. Unterstützungsangebote und Erfahrungen von Eltern lassen sich hierbei besonders gut integrieren.

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Die in der folgenden Graphik dargestellten Themenbereiche (vgl. Richtlinien) sind mit den jeweils angemessenen didaktischen Instrumentarien in den verschiedenen Altersstufen umzusetzen:

Ökologische, ökonomische und soziokulturelle Bedeutung Strukturwandel,Denkmalpflege

3.2 Natur- und Kulturlandschaft

Landentwicklung, Flächenverbrauch, Zersiedelung

Themenbereiche und Inhalte 09.06.04 - v7

Nachhaltige Nutzung von Energie und Rohstoffen Gesunde Ernährung

Belastung von Klima, Boden, Wasser, Luft, Lärm - Grenzwerte

3.3 Sicherung der Lebensgrundlagen

Trinkwasser Schädigungspotentiale, Selbstreinigungskräfte, Vor- und Nachsorge

Richtlinien für die Umweltbildung an bayerischen Schulen vom 22. Januar 2003 Nr. VI/8-S4402/7-6/135 767

Abbildung 1: „Umweltbildung = Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“

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& Lebenswerter Schulhof Renaturierung von Ökosystemen Bachpatenschaften & Natur als Erlebnis und Erfahrungsraum

Hecke, Wiese, Wald Streuobstwiese

3.1 Bedeutung und Schönheit der Natur, Artenvielfalt, Ökosysteme

Freiluftklassenzimmer Kunst Natur als Gegenstand von Dichtung, bildender Kunst und Musik Ökosysteme und Artenvielfalt EInflüsse, Veränderungen und Wirkungszusammenhänge Schutz und Regeneration Mitverantwortung und Mitgestaltung

3.4 Als staatliche Aufgabe

Tierschutz, Artenschutz, Verbraucherschutzu Umweltschutz auf verschiedenen politischen Ebenen

3.5 Als Aufgabe des Einzelnen und der Gesellschaft

Folgen persönlicher Lebensgestaltung Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen Mobilität

& Stoffkreisläufe Ökobilanzen, Ökomanagement

3.6 Als Leitlinie der Wirtschaft

Aspekte nachhaltigen Wirtschaftens Systemanalyse Umweltschutz 3.7 In Forschung und Technik

Umweltkompetenz, nachhaltige Entwicklung, Technikfolgenabschätzung Biodiversität

Nachhaltige Entwicklung

Eine-Welt-Partnerschaften

Fairer Handel Ch@t der Welten

3.8 In der Verantwortung für die Eine Welt

Konventionen der Staatengemeinschaften Bevölkerungsentwicklung und soziale Bedingungen Natur und Umwelt aus verschiedenen Blickrichtungen Umweltflüchtlinge, Asyl- und Einwanderungspolitik Wert-, Sinn- und Glaubenserfahrung Ehrfurcht, Dankbarkeit und Ambivalenz des Fortschritts

3. 9 Als ethische Herausforderung

Antropologische Aspekte und kulturelle Identität Wertvorstellungen und eingeschliffene Verhaltensweisen Ziel- und Interessenskonflikte

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Das Umweltaudit kann als möglicher Prozess der inneren Schulentwicklung verstanden werden. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler in altersgemäßer Weise einbezogen und mit anderen Personen in der Schule (Lehrer, Verwaltung, Sachaufwandsträger, Eltern) für das Umweltaudit Verantwortung tragen, verschiedene umweltrelevante Bereiche gemeinsam überprüfen (Gebäude, Energie- und Rohstoffverbrauch, Arbeitsmittel usw.) und Verbesserungsmöglichkeiten finden. Danach werden erreichbare Ziele formuliert, Maßnahmen überlegt und durchgeführt. Am Ende schließt sich eine erneute Überprüfung an. Arbeitsgemeinschaften mit umweltpädagogischem Schwerpunkt (z. B. schulische Agenda-Gruppe, Arbeitskreis Energiemanagement, Eine-Welt-Initiative) stellen für die Schüler ein attraktives Angebot zwischen Pflichtunterricht und Freizeit dar. Hier bietet sich die Chance, über längere Zeiträume an einer Aufgabe zu arbeiten, Entwicklungen zu initiieren und mitzugestalten. Bei Exkursionen und Unterrichtsgängen sollen Schülerinnen und Schüler durch vor- und nachbereitende Arbeitsaufträge aktiv in die Planung, Durchführung und Auswertung einbezogen werden. Mehrtägige Studienfahrten und Aufenthalt in Schullandheimen, Jugendherbergen und Jugendbildungsstätten bieten sehr gute Möglichkeiten, um verschiedene Umweltaspekte zu erörtern. Angefangen bei der Auswahl des Ziels über die Organisation der Rahmenbedingungen bis hin zur Programmgestaltung können Lehrer zusammen mit Schülern tätig werden.

3. Rahmenbedingungen schulischer Umweltbildung Die Umweltbildung sollte im Schulprogramm verankert werden, z. B. mit einem ökologisch ausgerichteten Schulprofil, mit Umweltaudit, durch Mitwirkung in der lokalen Agenda oder durch Kontakte mit Schulen aus aller Welt. Jede Schule sollte Inhalte und Wege der Umweltbildung dauerhaft in die tägliche Praxis integrieren, um die Akzeptanz der Inhalte und die Handlungskompetenz der Schüler zu fördern. Bildung für nachhaltige Entwicklung kann nur gelingen, wenn sie als schulische Gemeinschaftsaufgabe verstanden wird, die vom ganzen Kollegium und der Schulleitung immer wieder initiiert und mitgetragen wird. An jeder Schule soll eine Koordinierungsgruppe für Umweltbildung eingerichtet werden, um fächerübergreifende Maßnahmen und Projekte zu koordinieren und außerschulische Partner zu integrieren. An größeren Schulen haben sich eine Gruppe aus drei Lehrkräften sowie Schüler- und Elternvertreter bewährt, die sich im Rahmen des Schulforums regelmäßig austauschen. Durch die Kooperation mit außerschulischen Partnern können Kräfte gebündelt und zusätzliche Informations- und Beratungsangebote aus dem ökologischen, ökonomischen und sozialen Bereich in den Schulalltag integriert werden. Als Kooperationspartner kommen Behörden, Umwelt- und Naturschutzverbände, soziale, kul-

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turelle und kirchliche Institutionen, Umweltstationen und Wirtschaftsunternehmen in Frage. Damit wird dann auch deutlich, dass Umweltbildung (BNE) eine Gesellschaftsaufgabe ist, bei der der Schule zwar eine wichtige Rolle zukommt, diese damit jedoch nicht alleingelassen werden darf.

4. Gezielte Fördermaßnahmen In allen künftigen Lehrplänen sind Grundsätze, Inhalte und Methoden der Umweltbildung schulart- und jahrgangsgerecht verankert, die parallel dazu in allen Phasen der Lehrerbildung und Lehrerfortbildung thematisiert werden. Die Schulaufsicht fördert und überprüft die Umsetzung der in den Richtlinien genannten Grundsätzen und Rahmenbedingungen. Bei der dienstlichen Beurteilung werden Aktivitäten aus dem Bereich der Umweltbildung in angemessener Weise gewürdigt. Staat und Gesellschaft stellen über ihre Organe aktuelle Informationen und Materialien zur Verfügung. Beispiel zur Bearbeitung einer komplexen Themenstellung anhand einer graphischen Lern- und Organisationshilfe (Advance Organizer) – das Energie-Flussdiagramm (vergl. nachfolgende Graphik ). Letztendlich hat alle Energie außer der Atomenergie ihren Ursprung in der Sonne: – die fossilen Energieträger, vor Jahrmillionen als Biomasse eingelagert, und – die heute erzeugte Biomasse, verwendet als direktes Brennmaterial, als Biosprit oder in der Biogasanlage vergorene Grünmasse wie Mais, Getreide usw.

Die Graphik zeigt diesen Energiefluss vom Ursprung der Sonne (in gelber Farbe dargestellt) bis hin zum menschlichen Verbrauch über verschiedene Wege, die den CO2-Kreislauf mehr oder weniger belasten. In grüner Farbe sind die CO2 neutralen Energiequellen wie Photovoltaik, Solarthermie, Wind, Wasser, Wellen und die Biomasse dargestellt. In roter Farbe werden die Wege aufgezeigt, die zusätzliches CO2 in die Atmosphäre bringen wie die Verbrennung von Fossilien oder die Veredelung der Biomasse zum Nahrungsmittel Fleisch. Dabei sind die Knackpunkte als Explosionspunkte verdeutlicht.1 Der Advance Organizer ist eine vorbereitende Organisationshilfe für selbst organisierte Lernprozesse. Als Lernlandkarte stellt er eine der eigentlichen Themenbearbeitung vorgeschobene Lernhilfe dar und dient der Visualisierung der Lerninhalte im Kontext komplexer Zusammenhänge. Der Organizer erleichtert die Verknüpfung und Zuordnung des neu erworbenen Fachwissens mit schon vorhandenem Vorwissen oder den zu aktivierenden Grundlagen, indem eine allgemein gedankliche Struktur angeboten wird. Die Elemente 1

Siehe hierzu die Original-Farbgraphik unter: www.alp.dillingen.de/umweltbildung.

Abbildung 2: Energie-Flussdiagramm

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des Advance Organizers sind Bilder, Graphiken, Begriffe und kurze Texte, die nach den Prinzipien einer Präsentation strukturiert und zusammengefügt werden. Lernpsychologisch betrachtet ist es eine „Lernlandkarte“ mit einer übersichtlichen Darstellung von Ankerplätzen für entweder neu erworbenes Wissen oder für noch zu bearbeitende Fragestellungen. Ein Organizer kann zum Einstieg in eine Thematik als Grobstruktur vorgegeben werden (Advance Organizer) oder im Laufe einer Themenbearbeitung die hierzu entwickelte Denkstruktur darstellen (Post Organizer), wie sie, in bestimmten Situationen von Schülern selbst entwickelt, auch als Lernzielkontrolle geeignet erscheint. In jedem Falle stellt er die wesentlichen Inhalte, Zusammenhänge und Ergebnisse zu einem Themenkomplex in konzentrierter abstrakter Form in einer Graphik übersichtlich dar. Die Graphik kann entweder in Papierform auf ein großes Blatt aufgeklebt oder mit Hilfe elektronischer Werkzeuge wie PowerPoint, MindManager usw. rechnerbasiert erstellt werden. Im zweiten Fall liegt ein großer Vorteil in der Möglichkeit zur direkten Verlinkung mit weiterführenden Dokumenten, die entweder selbst erarbeitet oder aus anderen Quellen recherchiert wurden. Dabei können diese Dokumente auf dem eigenen Rechner liegen oder mit einem direkten Link ins Internet verbunden werden. Der Organizer dient zur Visualisierung der Lerninhalte im Sinne einer nichtlinearen Didaktik und ist damit eine gute Grundlage für selbst organisierte Lernprozesse. Ein Organizer kann wachsen, im Laufe des Erkenntnisprozesses von Schülern erweitert oder neu strukturiert werden. So verstanden kann er als motivierendes Werkzeug weitaus mehr leisten als eine alphanumerisch gegliederte Inhaltsübersicht. Mit anderen Worten: Bilder, Begriffe, Graphiken und kurze Texte erfüllen eine strukturierte Inhaltsübersicht mit Leben – eine Methode, die auch beim Gedächtnistraining angewendet wird und mit vielen Hintergrundaktivitäten wie Schülerreferaten, Seminararbeiten, Schulprojekten usw. verknüpft werden kann.

IV. Fazit und Ausblick Damit Bildung aller Umweltschutz Anfang ist, muss Umweltbildung „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ (BNE) sein. Diese beiden Begriffe bauen logisch aufeinander auf, doch bedarf die Verknüpfung weiterer Überlegungen: 1. Die Umweltbildung ist stark praxis- und erfahrungsorientiert und beschäftigt sich in den meisten Fällen ganz konkret mit der Gegenwart – mit Tieren, Pflanzen, Luft, Wasser, usw. Mit der Inanspruchnahme aller Sinne lebt sie vom Aus-

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probieren und Erfahren und von dem zeitnahen Zusammenspiel zwischen Ursache und Wirkung. 2. BNE fordert Weitblick, vernetztes Denken sowie das Ausloten von Chancen und Risiken für die Zukunft. 3. Dazu sind (Gestaltungs-)Kompetenzen notwendig, die weit über die klassischen Erkundungs-, Hege- und Pflegeaktivitäten, ja selbst über die künstlerischen und musischen Aspekte der Umweltbildung hinausgehen. 4. Doch kann BNE auf den Erfahrungen der Umweltbildung aufbauen. Positive Erlebnisse aus einem ökologischen, sozialen und materiellen Umfeld stärken Hoffnung und Zuversicht in die eigenen Kräfte und ermöglichen Antizipation in die Zukunft. 5. Stehen diesem natürlichen Entwicklungsmuster unmittelbar zu erreichende Vorteilsnahmen einer schnelllebigen Wohlstandsgesellschaft gegenüber, muss die Politik mit einem entsprechenden Ordnungsrahmen entgegenwirken. 6. Um nachhaltige Entwicklungen voranzubringen, ist also in die Zukunft gerichtetes politisches Denken und Handeln gefragt – die Auseinandersetzung um den besseren Weg, um die richtigen und zukunftsfähigen Entscheidungen, trotz teilweise gegensätzlicher Interessen und Handlungskonzepte. 7. Der Kompromiss als häufig einzige Handlungsalternative rückt in den Mittelpunkt. Das eigentliche Ziel ist jedoch ein Konsens auf hohem Niveau. 8. Erschwert wird die Situation durch die langen Zeithorizonte, die zum Teil über die eigene Lebenszeit hinausreichen. Vermutlich liegt darin die Antwort auf die Frage, warum Wissen allein noch kein nachhaltiges Handeln inspiriert – eine wahrlich didaktische und methodische Herausforderung: Wie können wir heute Handlungsanreize schaffen, um Mechanismen in Gang zu setzen, deren Wirkung wir nur sehr viel später oder vielleicht selbst gar nicht mehr erleben werden? Eine starke Motivationskraft ergibt sich aus Anerkennung, berechtigten Hoffnungen und Zukunftsperspektiven, die durch Modellbildung und Szenarientechnik heute weit besser antizipiert werden können. Bildung ist gelungen, wenn diese positiven Erlebnisse als Werte anerkannt und in individuelle Verhaltensmuster übernommen werden.

Interview über Nachhaltigkeit und die Deutsche Bundesstiftung Umwelt Von Theo Waigel

HENNING KAUL: Mit der vorliegenden Publikation möchte ich den Beitrag der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Bayern zur Umweltpolitik vorstellen. Ich habe dazu 23 Autoren, denen ich während meiner Abgeordnetenzeit begegnet bin, gewinnen können. Jetzt freue ich mich ganz besonders über unser Gespräch, weil Sie ja zu einer Zeit die Bundesstiftung Umwelt installiert haben, als die Notwendigkeit des Umweltschutzes noch nicht von jedem akzeptiert war. Was hat Sie damals veranlasst, diese Umweltstiftung ins Leben zu rufen, in einer Zeit, die von großen politischen Schwierigkeiten geprägt war? Sie haben trotzdem mit dem vorhandenen Geld der Umwelt Gutes getan. THEO WAIGEL: 1989 war ein spannendes Haushaltsjahr. Wir hatten damals die Chance, einen fast ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, und waren ziemlich sicher, dass wir 1990 den Haushalt ausgeglichen oder vielleicht sogar einen kleinen Überschuss erreicht hätten. Und normalerweise vergibt ein Finanzminister nicht die Reserven, die er hat, sondern steckt jeden Zusatzgewinn, der ihm bei den Steuereinnahmen zu Gute kommt, in die Haushaltskonsolidierung, um die schwarze Null zu erreichen. Ich habe mir dabei allerdings Gedanken gemacht, ob man die Privatisierung von Salzgitter, die ein schwieriges, aber erfolgreiches Unterfangen war und schließlich mit einem Erlös von fast 2,5 Milliarden DM abgeschlossen werden konnte, gegen Ende des Jahres zur Senkung der Nettokreditaufnahme verbuchen oder ob man daraus etwas Dauerhaftes machen sollte, so dass man immer, wenn man an die Privatisierung von Salzgitter denkt, auch an etwas Besonderes erinnert wird. Mir schwebte ein revolvierender Fonds vor. Im Gespräch mit meinem damaligen Staatssekretär, Hans Tietmeier, der später als Kuratoriumsvorstand eine wichtige Rolle bei der Stiftung spielte, kamen wir auf die Idee, eine Stiftung für Umwelt zu gründen. Aber nicht nur ganz allgemein, sondern vor allen Dingen, um dem Mittelstand bei der Bewältigung umweltpolitischer Probleme zu helfen und aus dem Mittelstand kommende innovative neue Methoden für den Umweltschutz zu fördern. Und das haben wir dann auch durchgesetzt. Bundeskanzler Helmut Kohl hat zugestimmt, wir haben die Voraussetzungen für eine Stiftung geschaffen und ich weiß nicht, ob ich das ein Jahr später im Parlament oder im Kabinett noch hätte durchsetzen können. Denn die Anforderungen der Deutschen Einheit waren ein Jahr spä-

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Theo Waigel

ter einfach gewaltig und lagen im zweistelligen Milliardenbereich, später machten sie sogar jedes Jahr zwischen 100 und 150 Milliarden DM im Bundeshaushalt aus. Wir haben die Stiftung gegründet und die entsprechenden Schritte eingeleitet und umgesetzt – und es hat mich nie gereut. Tietmeier hat sich dann als Vorsitzender des Kuratoriums über viele Jahre hinweg intensiv damit beschäftigt, hat vor allen Dingen, auch das möchte ich nicht vergessen, das Geld zu einem sehr günstigen Zinssatz hervorragend angelegt, so dass also über die ganzen Jahre hinweg jedes Jahr ein beträchtlicher Erlös zu verbuchen war, mit dem man eine Reihe von Projekten fördern konnte. Wir haben die Stiftung allerdings nicht dem Umweltminister übergeben, sondern am Anfang im Bundesfinanzministerium belassen, d. h. der aufsichtsführende Minister war der Bundesfinanzminister. Das war etwas egoistisch, denn wir wollten in dem trockenen Finanzministerium auch etwas Schönes haben. Dem Umweltminister hat es nicht ganz gefallen, aber insgesamt war er froh, dass natürlich ein so beachtliches Kapital umweltpolitischen Maßnahmen zufloss. HENNING KAUL: Darf ich da kurz einhaken. Es gab doch sicher auch noch persönliche Überlegungen, dass Sie sich ausgerechnet für das Thema Umwelt interessiert haben? THEO WAIGEL: Obwohl Umwelt vielleicht damals 1989 / 90 noch nicht die Priorität von heute hatte, wollten wir schon ein Beispiel setzen. Und hier war ich geprägt durch die Bayerische Umweltpolitik seit 1970, die vorbildlich war. Wir hatten in Bayern das erste Umweltministerium in ganz Europa, auch wenn das am Anfang von einigen kritisch gesehen wurde. Später hat sich niemand mehr darüber beschwert und es hat sich durchgesetzt, dass diese nachhaltige Umweltpolitik notwendig ist. Der aus Bayern eingeführte Begriff der Nachhaltigkeit hat dann nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in anderen Politikbereichen Eingang gefunden. Heute spricht man z. B. von einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik und von einer nachhaltigen Finanzpolitik. Nachhaltigkeit ist zu einem Grundprinzip der Freundschaft zwischen den Generationen geworden. Damals galt sie natürlich vor allen Dingen der Umweltpolitik, denn man ist mit der Umwelt sicher in den vergangenen Jahrzehnten nicht so sorgfältig umgegangen, wie das notwendig gewesen wäre. Und das war ein neuer Akzent im Umweltschutz mit Auswirkungen auch im mittelständischen Bereich. Die ganz großen Firmen wie z. B. Siemens können ihre Forschungen zur Erzielung einer Nachhaltigkeit und Ähnlichem selber betreiben. Aber für die mittelständischen Unternehmen ist es nicht ganz einfach, sich an dem Wettlauf um die rechte Nachhaltigkeit zu beteiligen. Uns war es wichtig, diesen Unternehmen einen Anreiz zu bieten. Deswegen wurde auch der Umweltpreis initiiert, der von der Größenordnung einer der attraktivsten ist. Das hat dann dazu geführt, dass der Bundespräsident jedes Jahr bei der Preisverleihung dabei ist, sie im Fernsehen übertragen wird und sie eine hohe öffentliche Resonanz hat. Damit haben wir meiner Meinung nach der Umweltpolitik einen bleibenden Dienst erwiesen. Und unter

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den Preisträgern – und ich habe das ja einige Male mitverfolgt – waren fabelhafte Persönlichkeiten mit ihren jeweiligen Erfindungen und Innovationen. Und gerade aus dem Mittelstandsbereich sind viele neue Ideen zur Umweltpolitik entwickelt worden, nicht nur von einigen Großunternehmen. Allein das Kuratorium der Umweltstiftung, in dem der ganze Bereich der Umweltpolitik vertreten ist, leistet durch die Beobachtung des Natur- und Umweltschutzes einen wichtigen innovativen Beitrag. Es gibt dort keine Flügelbildungen und keine besonderen Auseinandersetzungen. Die Ernennung von Fritz Brickwedde zum Hauptgeschäftsführer der Stiftung war ein Glücksfall. Er hat seine Aufgaben in einer ausgezeichneten Art und Weise unorthodox angepackt und ist erfolgreich. Wir haben schon eine Fülle von Projekten, nicht zuletzt auch in Bayern, unterstützen und durchführen können. Was den Sitz anbelangt, und das gebe ich ganz ehrlich zu, hätte ich ihn gerne nach Augsburg verlegt. Aber das wäre nicht fair gewesen, denn das Kapital wurde in Niedersachsen erwirtschaftet. Auf einen Vorschlag des damaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht hin haben wir die Zentrale in Osnabrück eingerichtet und ich glaube, dass dies der Stadt und der Region gut getan hat. Es wäre schön gewesen, wenn ich sie in meine Heimat hätte verlegen können, aber das war nicht vertretbar. Was mir noch an der Idee der Stiftung gefallen hat: Die Stiftung war in ihren Entscheidungen nicht so gebunden wie die Titel im öffentlichen Haushalt. Hier muss das Geld einen langen Weg gehen, es muss veranschlagt werden, der Finanzminister muss zustimmen und dann schließt sich das parlamentarische Verfahren an. Die Stiftung hingegen kann im Rahmen einer öffentlichen Stiftung des privaten Rechts relativ unkompliziert handeln. Außerdem hat es mir gefallen, dass die Stiftung ihren Auftrag umfassend gesehen hat, nicht nur in der traditionellen Umweltpolitik, was Boden, Wasser und Luft anbelangt. Ich denke da an unsere ersten Projekte, die wir in Bayern gefördert haben, z. B. an die Ringkanalisation um die oberbayerischen Seen. Es war eine tolle, großartige Leistung, dort etwas zu tun, wo der Staat noch nicht aktiv war. Auf allen neuen Kirchen und auch bei älteren Kirchen, wo dies noch möglich war, wurden Photovoltaikanlagen errichtet. Damit werden zukunftsweisende Energiekonzepte gefördert. Die Stiftung war aber auch bereit, überall dort, wo Umwelteinflüsse negativer Art bereits stattgefunden haben, z. B. an schönen Barock- und Rokokokirchen, zur Restaurierung beizutragen, unter der Voraussetzung, dass neue Restaurierungsmethoden gefunden wurden, um den alten Zustand eines solchen Gebäudes wieder herzustellen. Ich habe mal gehört, dass dies dem früheren Umweltminister Trittin nicht ganz gefallen haben soll, dass so viele Kirchen bevorzugt wurden. Ich halte es jedenfalls für unterstützenswert, dass die Stiftung auch auf diesem Feld tätig geworden ist. Später hatten die Finanzminister – ich glaube, es war auch unter der Zeit von Hans Eichel – nicht mehr so viel Kraft, die Stiftung zu behalten, und sie haben sie an den Umweltminister abgegeben. Ich will nicht sagen, dass sie dort schlechter aufgehoben ist. Aber ich muss ehrlich sagen: Ich hätte sie lieber im Finanzministerium behalten. Und es war auch immer eine interessante Aufgabe für das Finanzministerium.

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HENNING KAUL: Herr Dr. Waigel, Sie waren als CSU-Spitzenpolitiker und als Finanzminister der Ideengeber für die Stiftung. Dies steht im Gegensatz zu unseren bisher gemachten Erfahrungen, nämlich dass die Finanzminister die Wünsche aus dem Umweltbereich meistens zusammenstreichen, seien sie nun begründet oder unbegründet. Es bleibt sicher ein absolutes Novum, dass seit Ihrer Initiative nicht wieder zum Vorteil der Umwelt eine solche riesige Maßnahme im Bund durchgeführt wurde. Können Sie sich erinnern, wie es im Kabinett zugegangen ist, als Sie diesen Vorschlag gemacht haben? Ich kann mich noch entsinnen, dass die Privatisierung von Salzgitter damals ein gesellschaftspolitisches Ereignis in Deutschland war, das zwar später Nachahmer gefunden hat, aber heftigst und kontrovers diskutiert wurde. THEO WAIGEL: Ich habe die Privatisierungspolitik von Stoltenberg fortgesetzt. Ich will Stoltenberg dabei bewusst erwähnen. Er hat in den 80er-Jahren mit der Privatisierungspolitik begonnen und ordnungspolitisch hielt ich das für richtig. Die Firma musste nur, bevor sie privatisiert wurde, so gut sein, dass sie attraktiv war und auch einen entsprechenden Kaufpreis brachte. Das war bei Salzgitter der Fall: Das Finanzministerium leistete eine ausgezeichnete Vorarbeit. Wir haben das konsequent weiter verfolgt, so dass eigentlich die Abteilung Privatisierung aufgelöst werden konnte, weil alles, was zur Privatisierung anstand, gelöst war. Erst danach kam die deutsche Wiedervereinigung und das größte Privatisierungsprojekt, das wir überhaupt in der deutschen Geschichte gehabt haben. Ich war natürlich 1989 in einer etwas besseren Situation, weil in der Tat die Haushaltspolitik sich durch die Konsolidierungspolitik von 1982 bis 1988 / 89 positiv entwickelt hatte. Wir waren kurz vor dem Ziel, einen ausgeglichenen Haushalt darstellen zu können. Der Anlass der Privatisierung gab mir die Möglichkeit, etwas anderes zu machen. Der Leiter der Wirtschaftsabteilung der Frankfurter Zeitung, Dr. Barbier, heute Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, hat damals einen kleinen Kommentar geschrieben mit dem Titel: Ein Geniestreich. Auch diesen überzeugten Marktwirtschaftler hat das imponiert. Ich wollte mit einem so großen Betrag, ich glaube, es war der größte Brocken, den wir in der Privatisierung damals erzielt haben, etwas Bleibendes schaffen, etwas, was sich nicht an der Substanz verzehrt. Und da bot sich die Umweltpolitik an. Das war auf jeden Fall interessanter als alles andere. Mein damaliger Staatssekretär Tietmeier hat nicht nur als Fiskalist, sondern auch in Ideenkategorien gedacht, als christlich orientierter Nationalökonom. Und das hat uns bewogen, in die Richtung Stiftung zu gehen. Ein paar Widerstände gab es, weil der eine oder andere das Geld bei sich ansiedeln wollte. Ich will ganz ehrlich sein: Ich sagte damals, entweder bleibe das Geld im Finanzministerium oder es werde nicht ausgeschüttet. Wir wollten das selbst unbürokratisch erledigen, und zwar auch deswegen, weil wir verhindern wollten, dass mit den Projekten der Bundesstiftung Umwelt andere Mittelansätze gekürzt werden. Die Gefahr besteht immer: Wenn man über eine Stiftung etwas macht, meint der Staat, seine Mittel zurückführen zu können. Genau das wollten wir nicht und das ist uns gelungen.

Interview über Nachhaltigkeit und die Deutsche Bundesstiftung Umwelt

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HENNING KAUL: In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise und der Ängste um den Arbeitsplatz hört man jetzt immer öfters, dass die Belange des Umweltschutzes, die eigentlich als gesellschaftspolitisch etabliert galten, wieder in Frage gestellt werden. Man verhielte sich wieder so, dass später wieder Reparaturkosten anfielen. Könnten Sie uns einen Ratschlag für die Zukunft geben? THEO WAIGEL: Ich glaube, wenn man in Zeiten der Krise bei Dingen, die notwendig für die Zukunft sind, spart, begeht man einen verhängnisvollen Fehler. Denn man wird die Konsequenzen später noch viel teurer bezahlen müssen, als wenn man jetzt die notwendigen Kosten dafür aufwendet. Das gilt für die Umwelt, das gilt aber auch für Bildung und es gilt auch im Finanzbereich. Und was die Bereiche Umwelt und Klima angeht, haben wir ohnehin viel zu lange über unsere Verhältnisse gelebt. Und man kann heute auch ökonomisch darstellen, dass sich ein vorsorgender Schutz der Umwelt lohnt. Wenn man sich an die Regeln eines fairen internationalen Wettbewerbs hält, schafft das auf die Dauer mehr Arbeitsplätze, als wenn man glaubt, sich mit Tricks oder ähnlichen Dingen kurzfristig einen Erfolg verschaffen zu müssen. So verstehe ich auch meine neue Position als Compliance-Monitor bei Siemens. Und die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Forschung geben uns heute so viele Möglichkeiten, im Vorsorgebereich produktiv tätig zu sein, dass wir nicht zurückschrauben müssen. Vielmehr muss man bereit sein, Prioritäten auch in der Finanzpolitik und der ökonomischen Politik so zu setzen, dass sie dem Schutz der Umwelt dienen. Zurückschrauben wäre eine Todsünde an den nächsten Generationen. Es gilt hier die Freundschaft zwischen den Generationen oder das Prinzip Jonas: Geh mit deiner Welt so um, dass du sie unversehrt der nächsten Generation überlassen kannst. Das gilt auch in einer wirtschaftlichen Krise. Manches, was man heute in der Krise einzusparen glaubt, kostet dann fünf oder zehn Jahre später das Doppelte oder das Dreifache. Das wäre ein falsches Sparen. Und wie schnell sich die Dinge ändern, sieht man nicht nur am Bundeshaushalt, sondern das sieht man auch am Bayerischen Landeshaushalt. Auf einen Schlag ist die so ersehnte schwarze Null weg, ohne dass einer der Politiker was dafür kann. HENNING KAUL: Diese Aussage von Ihnen, Herr Dr. Waigel, tut einem Umweltpolitiker gut, da sich Ihr Name mit einer soliden Finanzpolitik verbindet. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.

Reparatur und Vermeidung von Umweltsünden – nur ein finanzielles Problem? Fragen an den Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt Von Fritz Brickwedde

HENNINg KAUL: Was waren bei der Gründung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt die Förderschwerpunkte und wo liegen sie heute? FRITZ BRICKWEDDE: Mit der Aufnahme der Fördertätigkeit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt im Jahr 1991 wurden die ersten „Leitlinien für die Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt“ entwickelt. Da die Gründung der DBU in die Zeit der Wiedervereinigung fiel und die Ex-DDR von hohen Umweltbelastungen und immensen Umweltschäden geprägt war, war das oberstes Ziel, schnell dort zu helfen, wo es am Nötigsten war. Im Zentrum eines Sofortprogramms standen die Umweltberatung des neuen Mittelstandes und die Beseitigung der massiven Umweltschäden am national bedeutenden Kulturgut Ostdeutschlands. Weiter stand der Aufbau von Umweltbildungseinrichtungen im Vordergrund. Ebenso wurde ein Stipendienprogramm für Promotionsstudenten ins Leben gerufen. Weitere inhaltliche Schwerpunkte waren Wasserkraftnutzung, Ökologische Siedlungsplanung sowie die Förderschwerpunkte ökologisches Bauen, Holz und Bioabfallverwertung. Im September 1998 verabschiedete das Kuratorium neue Förderleitlinien. Diese bauten erstmals auf dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auf und nannten in der Präambel die Grundsätze für die Förderung. Sie gliederten sich in zwölf Förderbereichen in die Abschnitte Umwelttechnik, Umweltforschung / Umweltvorsorge und Umweltkommunikation. 1999 wurde die gemeinnützige Tochtergesellschaft der DBU „Zentrum für Umweltkommunikation gGmbH“ (ZUK) ins Leben gerufen und hierfür 2001 das Tagungszentrum errichtet. Hier werden die Ergebnisse innovativer Projekte verbreitet, um über Multiplikation größere Umweltentlastungseffekte zu erreichen. Zusammen mit Projektpartnern sind DBU und ZUK auf Fachmessen, publizieren Bücher, Broschüren und Faltblätter und stellen die Projektergebnisse im Internet dar. Im September 2000 wurde durch das Kuratorium die Satzung der DBU um den Anstrich „Bewahrung und Wiederherstellung des nationalen Naturerbes (Vorhaben

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Fritz Brickwedde

mit gesamtstaatlicher Bedeutung)“ ergänzt und dem Thema Naturschutz somit eine größere Rolle eingeräumt. Unter dem Gesichtspunkt rückläufiger Fördermittel hat das Kuratorium im März 2004 die Förderleitlinien erneut überarbeitet und gestrafft. Sie gliedern sich nun in neun Förderbereichen in die Abschnitte Umwelttechnik, Umweltforschung und Naturschutz sowie Umweltkommunikation und Kulturgüterschutz. Damals wie heute ist der produktionsintegrierte Umweltschutz für kleine Unternehmen Hauptaufgabe der Stiftung. Die Aufnahme des Naturschutzes in die Förderleitlinien ermöglichte der DBU im Jahre 2007 die Gründung einer weiteren gemeinnützigen Tochtergesellschaft, der DBU Naturerbe GmbH. Diese hat die Aufgabe, 46.380 Hektar gesamtstaatlich repräsentativer Flächen des Nationalen Naturerbes vom Bund zu übernehmen. Damit leistet die DBU einen deutlichen Beitrag zum langfristigen Erhalt des Nationalen Naturerbes und zum Schutz der biologischen Vielfalt in Deutschland. HENNINg KAUL: Wie viele Projekte konnte die Stiftung bis heute mit welchen finanziellen Mitteln fördern? FRITZ BRICKWEDDE: Seit 1991 hat die DBU über 7.300 Projekte mit einem Fördervolumen von fast 1,3 Milliarden Euro unterstützt. HENNINg KAUL: Wie pflegt die Stiftung die Zusammenarbeit mit den Umweltministerien der Länder und des Bundes sowie den Natur- und Umweltverbänden? FRITZ BRICKWEDDE: Der Stiftung ist sehr an einer konstruktiven Zusammenarbeit und einem regelmäßigen Austausch mit den Umweltministerien von Bund und Ländern sowie den Natur- und Umweltverbänden gelegen, stellen sie doch wichtige Schaltstellen und Kooperationspartner in einer Vielzahl von Förderprojekten der DBU dar. Dieser wichtige Austausch ist zum einen durch die entsprechenden Vertreter im Kuratorium der DBU gegeben: Vertreten sind immer ein Staatssekretär des Bundesumweltministeriums, Mitglieder des Umweltausschusses des Deutschen Bundestags, der niedersächsische Umweltminister sowie mindestens ein Vertreter der Natur- und Umweltverbände. Hierdurch besteht schon auf höchster organisatorischer Ebene ein direkter Kontakt. Auch wird das Bundesumweltministerium regelmäßig um Stellungnahmen zu Förderanträgen gebeten, so dass auch auf direkter fachlicher Ebene eine Zusammenarbeit stattfindet. Des Weiteren pflegt die DBU Kontakte zu den Umweltministerien der Länder. Dies geschieht durch die Begegnung auf übergreifenden Veranstaltungen, aber auch durch die direkte Kontaktaufnahme im Rahmen von DBU-Förderprojekten oder bei der Neuernennung von Umweltministern. Auch mit den großen Naturund Umweltverbänden findet ein regelmäßiger Austausch statt, besonders im Zu-

Reparatur und Vermeidung von Umweltsünden

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sammenhang mit Förderprojekten der Stiftung oder auch im Rahmen der Übernahme von Flächen des Nationalen Naturerbes. Regelmäßig werden bilaterale Gespräche zwischen Verbandsvertretern und dem Generalsekretär oder Mitarbeitern der Stiftung geführt. HENNINg KAUL: Wer ist berechtigt, Anträge zur finanziellen Förderung für welche Projekte zu stellen? FRITZ BRICKWEDDE: Entsprechend dem Gesetz zur Errichtung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt sollen die Ziele durch die besondere Berücksichtigung kleiner und mittlerer Unternehmen erreicht werden. Im Vordergrund steht die Förderung von Umweltpionieren mit innovativen Ideen. Damit soll der großen Verantwortung, die der Mittelstand für den Umweltschutz trägt, Rechnung getragen werden. Ausdrücklich erwünscht sind Verbundvorhaben zwischen kleinen und mittleren Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Darüber hinaus können auch Projekte von Institutionen, Verbänden und Interessengruppen, die in ihrer Funktion als Multiplikatoren wichtige Vermittler für die Umsetzung von Ergebnissen aus Forschung und Technik in die Praxis sind, unterstützt werden. Förderfähig sind Vorhaben, die sich klar vom gegenwärtigen Stand der Forschung und Technik abgrenzen und eine Weiterentwicklung darstellen (Innovation), für eine breite Anwendung geeignet sind und sich unter marktwirtschaftlichen Konditionen zeitnah umsetzen lassen (Modellcharakter), neue, ergänzende Umweltentlastungspotenziale erschließen (Umweltentlastung) sowie der Bewahrung und Wiederherstellung des nationalen Naturerbes dienen. Für die Förderentscheidungen ist auch der Grad der Umweltentlastung maßgeblich. Deshalb unterstützt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt zusätzliche Maßnahmen zur übergreifenden Verbreitung und Bündelung von Projektergebnissen geförderter Vorhaben. HENNINg KAUL: Herr Dr. Brickwedde, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Nicht Herr, nicht Knecht: Umweltschutz ist Handeln im Einklang mit der Natur Von Henning Kaul

Am 8. Dezember 1970 fasste der Bayerische Landtag auf Vorschlag von Ministerpräsident Alfons Goppel den Beschluss, ein Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen zu gründen. Einzig die Mitglieder der FDP und ein Abgeordneter der SPD stimmten dagegen. Goppel begründete den Beschluss folgendermaßen: „Die Lebensgrundlagen für künftige Generationen können nur durch erhebliche staatliche Leistungen gesichert und verbessert werden. . . . Die Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen durch die zunehmende Technisierung der Welt und den unkontrollierten Egoismus der Einzelnen lässt es nicht zu, den Umweltschutz heute noch von Ministerien gesondert unter den verschiedensten Teilaspekten wahrzunehmen. Auch hier ist die Zusammenfassung bei einem möglichst von Fachüberlegungen unabhängigen Ministerium notwendig. Da die Landesentwicklung ohnehin weitgehend auch die Umweltfragen erfasst, bietet es sich an, die Zuständigkeit dem neuen Geschäftsbereich zu übertragen.“

Dr. Max Streibl, der spätere Ministerpräsident, war der erste Umweltminister Bayerns. Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident von 1993 bis 2007, war als junger Beamter im neuen Ministerium von der Herausforderung der Aufgabe so begeistert, dass ihm „kein Schreibtisch zu groß war, um ihn nicht im Handumdrehen mit Akten zu füllen“. Das im Freistaat gegründete „Umweltministerium“ war weltweit ohne Vorbild. Erst 1971, mit der Vorlage des ersten Umweltprogramms, beginnt der Schutz der Umwelt auch Eingang in die Politik der Bundesregierungen zu nehmen. In der Bundesrepublik Deutschland machten sich die Umweltauswirkungen des wirtschaftlichen Wachstums (Wirtschaftswunder) mit seinen Rohstoff intensiven Industrien wie Chemie, Stahl, Kohleverstromung und Automobilfabrikation bemerkbar. Vor Ort, also hautnah, nahmen die Menschen Wasserverunreinigungen, Abfälle, Luftverschmutzung und Lärm wahr. Es galt also, die Umweltsünden der zurückliegenden Jahrzehnte zu reparieren, wie es Alois Glück in seinem Buchbeitrag beschreibt. Dazu wurde bereits 1970 die Gesellschaft zur Beseitigung von Sondermüll gegründet und 1973 wurde das Bayerische Naturschutzgesetz und das Bayerische Abfallgesetz vom Landtag verabschiedet.

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Die parlamentarische Begleitung des Ministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen fand entsprechend der politischen Querschnittsaufgabe durch verschiedene Ausschüsse statt. Erst ab 1974 konstituierte sich ein eigener „Ausschuss für Landesentwicklung und Umweltfragen“. Von 1974 bis 1986 saß dem Ausschuss Alois Glück vor, der spätere Staatssekretär im Umweltministerium, CSU-Fraktionsvorsitzende und Landtagspräsident. Von 1986 bis 1987 folgte ihm Erwin Huber, der spätere CSU-Generalsekretär, Staatskanzleichef, Finanz- und Wirtschaftsminister. Ihm folgte bis 1990 Dr. Herbert Huber, der danach zum Staatsekretär im Umweltministerium berufen wurde. Mit meinem Einzug in den Bayerischen Landtag 1986 wurde ich Mitglied im Umweltausschuss und von 1990 bis 2008 durfte ich 18 Jahre lang über vier Wahlperioden den Ausschuss leiten. Bedingt durch das schlechte Abschneiden der CSU bei der Landtagswahl im September 2008 musste die CSU-Fraktion nach 34 Jahren den Vorsitz im Ausschuss für Umwelt und Verbraucherschutz an die Fraktion Bündnis 90 / Grünen abgeben. Schwerpunktthemen von Gesetzesinitiativen, Anträgen, Berichten und Anhörungen des Ausschusses waren in den Wahlperioden seit 1974 in der: 8. Wahlperiode von 1974 bis 1978 – Raumplanungsgesetz, Erstellung eines Landesentwicklungsprogramms – Nutzung der Kernenergie, Betrieb von Kernkraftwerken und Behandlung von eventuellen Störfällen – Sonderförderung für die Umstellung auf umweltfreundliche Energiearten – Inbetriebnahme eines landesweiten vollautomatischen lufthygienischen Überwachungssystems – Gründung der „Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege“ als erste Naturschutzakademie in der Bundesrepublik – Sondermüllbeseitigung in Bayern – Gründung der Naturschutzwacht – Richtlinien über die Errichtung von Naturparks – Einrichtung des Nationalparks Berchtesgaden – Installation eines landesweiten Bioindikatorenmessnetzes – Auswirkungen der Trockenperiode 1976 – Umweltprogramm der Staatsregierung

9. Wahlperiode von 1978 bis 1982 – Kernkraftwerke und ihre Sicherheit – Inbetriebnahme des weltweit ersten Kernreaktorfernüberwachungssystems – Großflughafen München II – Erdgasversorgung in Bayern

Nicht Herr, nicht Knecht: Umweltschutz im Einklang mit der Natur

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– Kiesabbau – Änderung des Bayerischen Naturschutzgesetzes – Abfallverwertung – Standortsuche für eine Wiederaufarbeitungsanlage von ausgebrannten Kernbrennstäben – Wiesenbrüterprogramm – Gründung des Bayerischen Naturschutzfonds – Rhein-Main-Donau-Kanal

10. Wahlperiode von 1982 bis 1986 – Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms – Wiesenbrüterprogramm – Saurer Regen und Waldsterben – Abgaskatalysator, bleifreies Benzin und Tempolimit – Luftverschmutzung und Luftreinhaltung: Bayerische Smog-Verordnung – Aufnahme des Natur- und Umweltschutzes als Staatsziel in die Bayerische Verfassung – Novellierung des Tierschutzgesetzes – Müllverbrennung – Wasser- und Geschiebeführung an der Isar – Wassersparen, Energiesparen – Reaktorunfall von Tschernobyl

11. Wahlperiode von 1986 bis 1990 – Beseitigung von 5.000 t radioaktiv verseuchtem Molkepulver – Chemische Fabrik Marktredwitz, Beseitigung der Altlast – Ozonschicht und Klimaveränderung – Änderung des Jagdgesetzes – Arten- und Biotopschutzprogramm – Leitlinien für die Gründung von Landschaftspflegeverbänden – sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energieversorgung – Fluglärm – Pseudo-Krupp – Bayerisches Abfallwirtschaftsgesetz mit den Prioritäten: Vermeidung und Verwertung – Reduzierung der Einwegverpackungen – Schutz der Alpenregion durch die Alpenkonvention

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– endgültige Beendigung des Genehmigungsverfahrens für die Wiederaufarbeitungsanlage von abgebrannten Kernbrennstäben in Wackersdorf – Gründung der Gesellschaft zur Altlastensanierung – Tierversuche – Grüne Gentechnik und Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen – Klärschlammentsorgung

12. Wahlperiode von 1990 bis 1994 – Volksbegehren „Das bessere Müllkonzept“ – Bayerisches Bodenschutzprogramm – Schließung und Neunutzung militärischer Liegenschaften – Herstellung und Einsatz von MOX-Brennelementen in Bayern – umweltschonendes Bauen – Dioxine und Furane: Entstehung und Verbreitung – Veränderung in der Abfallentsorgung durch das „Duale System Deutschland“ – Freiwilliges Ökologisches Jahr – Tempolimit und Tempozonen 30 – Forschungsreaktor Garching – Beschneiungsanlagen – Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen – erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe – öffentlicher Personennahverkehr – Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms

13. Wahlperiode von 1994 bis 1998 – PCP- und Lindan-belastete Forsthäuser – Erweiterung Nationalpark Bayerischer Wald – Pfand für Getränkedosen und Mehrwegverpackungen – Artenschutz für Kormoran, Biber und Gänsesäger – europäische Wasserpolitik – Nutzung der Windkraft – Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie – Elektrosmog und Mobilfunk – wegen verbesserter Luftqualität ersatzlose Streichung der Bayerischen SmogVerordnung – Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes – Klärschlammentsorgung außerhalb der Landwirtschaft

Nicht Herr, nicht Knecht: Umweltschutz im Einklang mit der Natur

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– Wasserqualität der Fließgewässer und Renaturierung der Isar – Tiertransporte – Umweltbildung

14. Wahlperiode von 1998 bis 2003 – Bayerisches Bodenschutzgesetz – Umweltskandal durch verfüllte Kiesgruben am Main – Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms – Auswirkungen von Mobilfunk auf Rinder, „Rinderstudie“ – Kampfhunde – Einzelhandelsgroßprojekte und Factory Outlet Center – Umweltverträglichkeitsprüfungen – Antibiotika und hormonelle Substanzen im Trinkwasser, in Fließgewässern und Lebensmitteln – Hochwasser 1999 – Abwasser-Richtlinie – Klimaschutz und Energiemix – Kernkraftwerk Temelin – Verpackungsverordnung und Dosenpfand – Umbau der Bayerischen Forstverwaltung

15. Wahlperiode von 2003 bis 2008 – Verlagerung der Zuständigkeit für die Landesentwicklung vom „Umweltministerium“ in das „Wirtschaftsministerium“ – Neuorganisation der Sondermüllentsorgung – Grüne Gentechnik und Erprobungsanbau – Hochwasserschutzprogramm 2020 – Förderung der erneuerbaren Energien und Novelle des Erneuerbare-Energie-Gesetzes – staatliche Ernährungsberatung – Auswertung der Bundesstudie zu möglichen Auswirkungen des Mobilfunks auf menschliches Wohlbefinden – Organisation der Lebensmittelkontrolle

Die Vielfalt dieser in den zurückliegenden Legislaturperioden behandelten Themen zeigt die Politikbereiche übergreifende Querschnittsaufgabe von Landesentwicklung, Natur- und Umwelt- sowie Verbraucherschutz auf. Sie machen aber auch die Unterschiede deutlich, die die Erkenntnisse über Problembereiche von den Möglichkeiten der Handlungsebenen trennen.

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Ergänzend zu den oben genannten Themen der Parlamentsberatungen möchte ich einige Besonderheiten der Bayerischen Umweltpolitik gesondert darstellen.

I. Subsidiarität In diesen Spannungsfeldern haben wir immer versucht, nach dem Prinzip der Subsidiarität, lokale Umweltprobleme auch auf lokaler Ebene zu lösen – dies im Bewusstsein, dass aus der Summe gleichartiger lokaler Fehlverhalten regionale und schließlich auch globale Umweltprobleme entstehen können. Lokale Umweltprobleme werden durch sozio-ökonomische Prozesse verursacht. Deshalb war und ist es weiter wichtig, dass jede politische Entscheidungsebene, entsprechend dem Auftrag der Charta von Rio aus dem Jahr 1992, handelt. Danach müssen zur Erzielung einer nachhaltigen Entwicklung die drei Faktoren Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichrangig bewertet werden.

II. Umweltpartnerschaften Umweltpolitik alleine reicht nicht aus, um nachhaltige umweltverträgliche Ziele zu erreichen. Vielmehr kommt es darauf an, dass Notwendigkeiten des Natur- und Umweltschutzes in andere Politikbereiche mit aufgenommen werden. Nur so sind negative Umweltauswirkungen bereits vor deren Entstehung zu vermeiden. Deshalb wollten wir in Bayern nach 1970 so schnell als möglich die Reparaturphase mit den Erlassen von immer mehr Verboten und Verordnungen verlassen, um über freiwillige Vereinbarungen und Pakte mit Industrie, Handwerk und Handel deren Verantwortung und Sachverstand mit einzubringen. Dieser Weg, weg vom verordneten Umweltschutz und hin zum freiwilligen und selbst verantworteten Schutz unserer Umwelt, setzt sich nun immer mehr durch. Ein solches Erfolgsmodell ist der Umweltpakt Bayern. Bayern soll sich auch im 21. Jahrhundert ökonomisch, ökologisch und sozial zukunftsfähig entwickeln. Dazu verpflichten sich bereits im dritten Umweltpakt seit 1995 Unternehmen gegenüber dem Staat, indem sie über rechtliche Vorgaben hinaus Leistungen im Umweltschutz erbringen. Die Staatsregierung bietet dafür eine Entlastung der Bürokratie und praktische Hilfe für die Umsetzung der Maßnahmen. Diese freiwilligen Vereinbarungen wurden bei ihrer Einführung von vielen belächelt. Doch finden sie mittlerweile Nachahmer in ganz Europa. Erfolge sehen wir in der Landwirtschaft, an den publizierten Umweltbilanzen der Unternehmen und an den Umweltpartnerschaften. Das Einhalten von Umweltstandards und das Erbringen zusätzlicher Umweltleistungen führt zu Innovationen, zur Rohstoffschonung, zur Abfallvermeidung, zu finanziellen Entlastungen und zur Steigerung des menschlichen Wohlbefindens.

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Es verbessert die Umweltqualität vor Ort und steigert die Standortqualität. Heute wird der Feststellung nicht mehr widersprochen, dass Umweltverschmutzung ein Zeichen wirtschaftlichen und persönlichen Fehlverhaltens ist.

III. Naturschutz Bayerns größter Reichtum sind seine vielfältigen Natur- und Kulturlandschaften von der Rhön bis zu den Alpen. Die darin lebenden Tiere und Pflanzen zu erhalten, ist ein Herzstück bayerischer Umweltpolitik. Dieser Schutz der Umwelt beginnt 1973 mit dem Bayerischen Naturschutzgesetz und den Aufgaben der Landschaftsplanung, der Landschaftspflege sowie den Vorgaben für die Naturverträglichkeit von Bauvorhaben und für die Erholung in der freien Natur. Zur besseren Beurteilung wurde 1974 erstmals eine Biotopkartierung durchgeführt. Für jeden Landkreis wurde daraus ein Arten- und Biotopschutzprogramm erarbeitet. Artenhilfsprogramme für bestimmte Tier- und Pflanzenarten wurden erstellt. Als Ergebnis kann festgehalten werden: In Bayern gibt es heute zwei Nationalparke, 17 Naturparke und über 700 Landschaftsschutzgebiete. Damit sind 13,5 % der Landesfläche in unterschiedlicher Weise geschützt. Mit Vertragsnaturschutzprogrammen und Kulturlandschaftprogrammen fördern wir Naturschutz und Landschaftspflege. Durch die schon erwähnte topographische Vielfalt und die daraus resultierende Vielfalt von Pflanzen und Tieren sowie durch die unterschiedlichen Geotope fühlen wir uns in Bayern in besonderer Weise dem Schutz- und Fördergedanken für die belebte und unbelebte Natur verbunden. Um unsere Anstrengungen auf ihre Ergebnisse hin überprüfen zu können, sie zu überwachen und transparent darstellen zu können, haben wir im Freistaat ein flächendeckendes Mess- und Beobachtungssystem für Boden, Wasser, Luft und Energie geschaffen. Da alle Vorgänge in unserer Umwelt physikalischer und chemischer Natur sind, lassen sie sich reproduzierbar messen und dokumentieren. So erkennen wir Fehlverhalten rechtzeitig und erhalten Daten zum Vergleich mit anderen Regionen und Ländern. Alle diese Daten stehen interessierten Bürgern als Drucksachen und im Internet, nach den Vorgaben des bayerischen Umweltinformationsgesetzes, zur Verfügung.

IV. Wasserwirtschaft Trinkwasser als Lebensmittel Nr. 1 sowie alle Fließgewässer haben von Anfang an die besondere Aufmerksamkeit des Umweltschutzes – gilt es doch, 100.000 km Fließgewässer und 9.500 Trinkwasserbrunnen zu schützen. 99 % der Bevölkerung in Bayern werden durch öffentliche Wasserversorgungsanlagen versorgt.

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Im Flächenstaat Bayern sind 95,5 % aller Haushalte über 87.000 km Abwasserkanäle an 2.823 Kläranlagen angeschlossen. Die Gewässergütekarte für unsere großen Fließgewässer weist kein Gewässer mehr als „stark verschmutzt“ aus.

V. Energieversorgung Die Grundlage allen erfolgreichen Wirtschaftens ist eine umweltverträgliche, sichere und bezahlbare Energieversorgung. Deshalb widmeten alle Parteien des Bayerischen Landtags über alle Legislaturperioden hinweg ihre besondere Aufmerksamkeit diesem Thema. Heute ist Bayern das Bundesland mit dem umweltfreundlichsten Energiemix. So speist sich der Primärenergieverbrauch zu 3,4 % aus Stein- und Braunkohle, zu 43 % aus Öl, zu 18,4 % aus Erdgas, zu 27 % aus Uran und zu 8,2 % aus erneuerbaren Energien. Für die Versorgung mit Elektrizität sorgen zu 66 % Kernkraftwerke, zu 17 % Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke und zu 17 % Anlagen zur Umformung erneuerbarer Energien. Die Endlichkeit der und die Importabhängigkeit von den Speicherenergien Kohle, Öl, Gas und Uran zwingen uns zum Umbau der Energieversorgung hin zur vermehrten Nutzung der Tagesenergie Sonne in all ihren Erscheinungsformen sowie der Erdwärme. Diese verstärkte Nutzung der erneuerbaren Energien ist verbunden mit einer immer größer werdenden Anzahl von dezentralen Energieumwandlungsanlagen, die, intelligent vernetzt, in die bestehenden Verbundsysteme einspeisen. Parallel zur vermehrten Nutzung erneuerbarer Energien muss ein sparsamer und effizienter Umgang mit Energie einhergehen. Das technische Potenzial zum Energiesparen durch eine Steigerung der Energieeffizienz beträgt bis zu 40 %. Dass doppelter Wohlstand bei halbem Ressourcenverbrauch möglich ist, zeigen die Konzepte von „Faktor 4“. Die dafür notwendigen Technologien, auch für die Speicherung der Sonnenenergie in ihren verschiedenen Formen, sind die Herausforderungen zukünftiger Wissenschafts-, Wirtschafts- und Energiepolitik.

VI. Klimaschutz Anzeichen einer Klimaveränderung können wir in Bayern schon seit Jahren beobachten. Der Frühling setzt immer früher ein, die Gletscher schmelzen, manche Standort bekannte Pflanzen- und Tierart wird durch Wärme liebende Konkurrenten aus anderen Regionen verdrängt. Wetterextreme nehmen zu. Das bei der Nutzung fossiler Brennstoffe freigesetzte Kohlendioxid gilt als Verursacher des Klimawandels. Bayerns Anteil am globalen CO2-Ausstoß liegt nur bei 0,3 %. Und mit 7 t pro Kopf ist Bayern das Bundesland mit dem geringsten

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CO2-Ausstoß. Trotzdem haben wir im Jahr 2000 ein Klimaschutzkonzept auf den Weg gebracht, mit dem bis 2010 der Ausstoß von CO2 auf 6,4 t pro Kopf verringert werden soll. Mit dem aus dem Klimaschutzkonzept abgeleiteten Klimaprogramm 2020 wurden Klimabündnisse mit dem Bayerischen Landkreistag, den Kirchen und dem Bund Naturschutz für eine Klima-Allianz geschlossen. Die alarmierenden Ergebnisse des vom IPPC (International Plant Protection Convention) im Frühjahr 2007 herausgegebenen 4. Weltklimaberichts waren auch Anlass, mit dem Klimaprogramm 2020 die Doppelstrategie aus Reduktion und Anpassung auszubauen. So sollen die Nutzung erneuerbarer Energie bis 2020 verdoppelt und alle Potenziale der Energieeinsparung ausgeschöpft sowie die Energieeffizienz verbessert werden. Dass diese Maßnahmen auch aus ökonomischen Gründen notwendig sind, zeigen die Investitionen des Freistaates für den wegen der sich häufenden Hochwasserereignisse notwendigen Hochwasserschutz. Hier investiert der Staat bis 2020 2,3 Mrd. A.

VII. Politikberatung In meinem Vorwort habe ich schon die Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft und wissenschaftlichen Einrichtungen als Politikberater erwähnt. Ich empfehle dem geneigten Leser dazu auch die Beiträge in diesem Buch. Die Gespräche mit Wissenschaftlern waren mir bei meiner parlamentarischen Arbeit unentbehrliche Begleiter ebenso wie die Veröffentlichungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. International anerkannte wissenschaftliche Einrichtungen für Naturschutz, Landschaftspflege, human- und immissionsökologischer Forschung, Forschung im Bereich der Solarenergie in all ihren Formen, Strahlenschutz, Umweltbegleitforschung bei den nachwachsenden Rohstoffen, Abfallforschung, Forschung für Mobilitätsund Antriebstechnologien und für weitere umweltrelevante Bereiche stehen uns in Bayern in erfreulicher Vielfalt zur Verfügung. Nur Wissenschaft und Forschung kann uns helfen, die richtigen Entscheidungen für die Landesentwicklung, den Schutz der Umwelt und den Verbraucherschutz zu finden. Bayern ist durch seine gezielt geförderte Wissenschaftslandschaft unter den Wissenschaftsministern Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Prof. Dr. Wolfgang Wild, Prof. Dr. Hans Maier und Dr. Thomas Goppel für Antworten auf weitere Fragen aus der Politik gut vorbereitet. Im Höchstmaß erfreulich ist für mich nach 22 Jahren parlamentarischer Arbeit für den Schutz und den Erhalt einer natürlichen Umwelt, dass die Umweltdaten in Bayern ohne Ausnahme eine klare Tendenz zum Besseren aufweisen. Im Höchstmaß unerfreulich ist für mich, dass es uns trotz dieser Verbesserungen nicht gelungen ist, diese Erfolge unserer Umweltanstrengungen auch als Kom-

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petenzzuweisung an die CSU, wie Innere Sicherheit, Wirtschaft, Familie und Bildung, in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren. Das lag sicher auch an der unzureichenden entsprechenden öffentlichen Darstellung und Bewertung durch unsere politische Führung. Wie ich bereits zu Beginn meines Beitrages erwähnte, entsteht oft aus der Summe lokaler Umweltsünden ein globales Umweltproblem. Also beginnt der Schutz der Umwelt zwar vor der Haustür, aber er kann dort nicht enden, wenn er wirksam werden soll. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, ausgelöst durch völlig überzogene Gewinnerwartungen, ist ein Warnschuss auch für unser Verhalten gegenüber unserer Umwelt. Sollten durch unser Fehlverhalten Kreisläufe in der uns umgebenden Natur kollabieren, wären sie, im Gegensatz zur Finanz- und Wirtschaftskrise, nicht mehr durch Geld zu reparieren. Deshalb ist die derzeitige ökonomische Krise auch eine Chance für eine Veränderung hin zu einem nachhaltigen ökologischen Verhalten. Wir können die derzeitige Krise nicht durch ein zurück zum ungebremsten Rohstoffverbrauch und zur Mobilität um jeden Preis lösen. Jede künftige ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung wird untrennbar mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Aufgabe aller Politikfelder verbunden sein, wenn sie zukunftsfähig sein will. Es ist alle wissenschaftlichen und technologischen Anstrengungen wert, aus der Krise diesen Weg zu einem ökologisch verträglichen Wohlstand für Deutschland und Europa einzuschlagen. Würden die Völker der sog. Zweiten und Dritten Welt schon heute unseren von ihnen angestrebten Lebensstil übernehmen können, überstiege die Belastung der Erde ihre ökologische Tragfähigkeit um das Doppelte. So bräuchten wir heute schon mehr als eine Erde. „Unsere Erde gibt es“ aber „nur einmal“. Deshalb muss es das Ziel einer zukunftsfähigen Weltgemeinschaft sein, wieder innerhalb der Regenerationsfähigkeit des globalen Naturkapitals zu wirtschaften. Bayern kann zwar die dazu notwendige Politik nicht bestimmen, aber es kann, wie bisher, ein nachahmenswertes Beispiel geben, indem es nicht immer die bequemen, aber stets die nachhaltigen Wege einschlägt.

Autorenverzeichnis Aigner, Ilse, MdB Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin Bernhard, Otmar, Dr., MdL Staatsminister a.D. für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, München Berz, Gerhard, Prof. Dr. Honorarprofessor für Meteorologie an der Ludwig-Maximilinas-Universität München, ehem. Leiter der Geo-Risiko-Forschung, Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Brickwedde, Fritz, Dr. Ing. E. h. Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, Osnabrück Fendt, Hans, Dipl. Ing. (FH), StD Akademie für Lehrerfortbildung, Dillingen Friedrich, Johannes, Dr. Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München Glück, Alois Präsident des Bayerischen Landtags a.D., stellvertretender Vorsitzender der Hanns-SeidelStiftung, München Graßl, Hartmut, Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Meteorologie, Vorsitzender Bayerischer Klimarat, Hamburg Haber, Wolfgang, Prof. em. Dr. Dr. h.c. Lehrstuhl für Landschaftsökologie an der Technischen Universität München Hipp, Claus, Prof. Dr. Unternehmer und Landwirt, Pfaffenhofen, Ehrenpräsident der Industrie- und Handelskammer München und Oberbayern Kaul, Henning, Dipl. Ing. (FH) Vorsitzender des Umweltausschusses im Bayerischen Landtag von 1990 bis 2008, Alzenau Merkel, Angela, Dr., MdB Bundeskanzlerin, Berlin Niebler, Angelika, Dr., MdEP Vorsitzende im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie im Europäischen Parlament von 2005 bis 2009, Brüssel

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Autorenverzeichnis

Rodenstock, Randolf Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, München Seehofer, Horst Bayerischer Ministerpräsident, München Sothmann, Ludwig Vorsitzender des Landesbundes für Vogelschutz in Bayern, Hilpoltstein Wagner, Ulrich, Prof. Dr. Ing. Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik, Technische Universität München Waigel, Theo, Dr. Bundesminister für Finanzen a.D., Rechtsanwalt, München Wess, Günther, Prof. Dr. Wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer des Helmholtz Zentrums München, Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt Winnacker, Ernst-Ludwig, Prof. Dr. Generalsekretär des Europäischen Forschungsrats, Brüssel; ehem. Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Wolf, Notker, Dr., OSB Abtprimas der benediktinischen Konföderation, Rom Zehetmair, Hans, Dr. h.c. mult. Staatsminister a.D., Senator E.h., Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung, München