Unentschiedenheit und Selbsttötung: Vergewisserungen der Suizidalität 9783666491245, 9783525491249

126 84 822KB

German Pages [208] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Unentschiedenheit und Selbsttötung: Vergewisserungen der Suizidalität
 9783666491245, 9783525491249

Citation preview

%

Jann E. Schlimme (Hg.)

Unentschiedenheit und Selbstto¨tung Vergewisserungen der Suizidalitt

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber abrufbar. ISBN 978-3-525-49124-9 ’ 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: l Hubert & Co, Gçttingen Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

Inhalt

Jann E. Schlimme: Ist das Merkmal der Unentschiedenheit notwendig, um Suizidalitt zu verstehen? Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . .

7

Manfred Wolfersdorf: Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Thomas Schramme: Rationaler Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Almut Furchert: Verzweiflung zum Tode? Selbsttçtung, Sprung, Entschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Jçrn Ahrens: Ein Tod wider das Gesetz. berlegungen zu einer Soziologie des Selbstmords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Gerit Langenberg-Pelzer: Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Bert Theodor te Wildt: Suizidalitt im Cyberspace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Bernhard Kchenhoff: Suizidalitt und freier Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Borut kodlar: Spre mein Leben nicht mehr! Bitte fr mich entscheiden! Schizophrenie und Suizidalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Jann E. Schlimme: Sich selbst tçten wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Jann E. Schlimme

Ist das Merkmal der Unentschiedenheit notwendig, um Suizidalitt zu verstehen? Eine Einleitung

»Wie lange noch dasselbe?« lsst Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) den lebensberdrssigen Menschen fragen und meint damit nicht, dass einem das Leben langweilig oder eintçnig geworden ist. Es geht ihm vielmehr darum, dass das Leben nicht mehr zu bieten hat, als es gerade bietet. Anders gesagt: Das Leben bietet sich selbst – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Daran kann der Mensch nichts ndern. Jedoch: Wie sich dieses Leben er lebt, ist damit noch nicht gesagt. Der Mensch kann sich seines Lebens freuen, er kann seines Lebens berdrssig sein. Und so kann es durchaus sein, dass einem Menschen nur noch der eigene Tod als das radikal Andere im Leben verblieben ist, nur noch der Tod eine nderung seines Erlebens verspricht. Der Mensch kann dieses Versprechen sozusagen einfordern, er kann sich selbst den Tod geben. Auch wenn er nicht mit Sicherheit sagen kann, was der Tod bringen wird. Hat er sich einmal dieser Mçglichkeit der Selbsttçtung vergewissert, kann ihm diese Mçglichkeit als Mçglichkeit – solange er seiner bewusst ist – nicht genommen werden. Wann aber, in welcher Verfassung und in welcher Situation ist es an der Zeit, sich den Tod zu geben? Gibt es klare, eindeutige, unabweisbare Umstnde, Anlsse oder Grnde, wann sich das Leben zu nehmen ist? Oder kann diese Entscheidung gar nicht generell und allgemeinverbindlich getroffen werden, da der Tod eben jeden immer nur ganz persçnlich betrifft? Oder ist – suizidal geworden –

8

Jann E. Schlimme

die Entscheidung gar nicht eindeutiger, klarer und einfacher, sondern nur schlicht dringlicher geworden? Ganz offensichtlich ist diese Frage keine einfache Frage. Wenn sie sich stellt, fordert sie uns heraus und erfordert von uns, dass wir uns unserer selbst vergewissern. Denn einmal beantwortet, kann sie weitreichende Folgen haben: Den Tod kann einem keiner mehr nehmen. Dies meint nicht, dass persçnlich immer nur elaborierte Diskurse Antwort auf diese Frage geben kçnnen – manchmal steht der Mensch schlicht zu sehr unter Druck und ist viel zu verzweifelt fr sophistische Gesprche. Dann muss es schnell gehen, vorgefertigte Antwortrume sind gewnscht und fr alle Seiten ist es gut, schon einmal darber nachgedacht zu haben. Auch wenn die Frage dadurch nicht leichter geworden ist, die Verzweiflung drngt: Ist es an der Zeit? Karl Jaspers (1883–1969) kommentierte die Gedanken von Friedrich Nietzsche (1844–1900) zur Frage »Wann ist der rechte Zeitpunkt?« mit der Feststellung: »Das aber ist, wenn der Zeitpunkt tatschlich bestimmt werden sollte, entweder nur in allgemeinsten, unbestimmten Wendungen zu sagen – deren Anwendung im Einzelfall, wenn sie argumentierend vollzogen wrde, wohl das Ergebnis htte, dass es stets noch nicht oder jederzeit schon die rechte Zeit sei.« In diesem Sinne wird sich Nietzsches Rede von der rechten Zeit selbst zum Geheimnis. Was nun? Das Phnomen der Suizidalitt wird im Wesentlichen durch vier Merkmale verstndlich. Ohne sie wrde es uns schwerfallen, Suizidalitt als Suizidalitt zu erkennen. Diese sind: a) die Notwendigkeit, um sich selbst als sterbliches Wesen – also um den eigenen Tod – zu wissen; b) die Verzweiflung des suizidalen Menschen im Hier und Jetzt; c) der Suizid erscheint dem suizidalen Menschen als Befreiung, ja, als seine letzte Rettung; d) der »Tod auf eigene Veranlassung« ist in aller Regel kulturell unerwnscht. Die entscheidende Frage aber ist damit fr den einzelnen, insbesondere den verzweifelten und suizidalen Menschen nicht beantwortet: Leben oder Tod, Sein oder Nicht-Sein? Im Gegenteil: Sie stellt sich ihm erst. Wenn aber aus der Verfassung der Suizidalitt heraus spontan keine generell klare Aussage darber gelingt, ob es nun richtig oder falsch wre, sich das Leben zu nehmen,

Eine Einleitung

9

kçnnten wir prfen, ob diese Schwierigkeit, sich zu entscheiden, als ein weiteres wesentliches Merkmal der Suizidalitt verstanden werden muss. Das Furchtbare an der Suizidalitt wre dann genau diese »Unentschiedenheit«, dieses Sich-nicht-entscheiden-Kçnnen. Erst darin wird Suizidalitt dann zu einem Phnomen, das sich wesentlich um die Entscheidung ordnet. Diese gewaltige, lebensentscheidende Frage »Tod oder Leben?« ist nicht neu. Die Schwierigkeiten einer generellen Antwort sind es auch nicht. Gewçhnlich wird dieses Merkmal der »Unentschiedenheit« im Diskurs zur Selbsttçtung und Suizidalitt aus dem Rampenlicht gedrngt, wird von der Bhne mit scheinbar klaren und eindeutigen, im Normalfall lebensbejahenden Antworten verscheucht. ber die Hintergrnde des Bemhens, diese Unentschiedenheit im kulturellen Diskurs erst gar nicht auftreten zu lassen, kann gertselt werden. Vielleicht weil das entscheidungsoffene Nachdenken ber den eigenen Tod durch Suizid das Gefhrlichste ist, was sich der Mensch selbst im Denken zu bieten hat. Denn vielleicht haben auch wir keine exzellente und gltige Antwort darauf, warum es sich lohnt, am Leben zu bleiben. Und vielleicht denken wir schon deshalb nicht gern an den Tod, da er uns sowieso frher oder spter ereilt. Die Offenheit dieser suizidalen Frage mag als eine Versuchung wahrgenommen werden. Vielleicht aber gilt es auch in unseren »suizidprophylaktischen« Zeiten schlicht als anrchig, diese Frage in ihrer Offenheit berhaupt zuzulassen. Zugegeben, diese Frage ist in ihrer schonungslosen und unverhllten Klarheit allerdings gefhrlich. Sie ist schrecklich und fhrt uns zugleich in Versuchung. Das konsequente Nachdenken ber diese Frage und das Ausloten verschiedener Antworten, ohne die Offenheit der Frage zu verhllen, ist seinerseits suizidal. Diese gedankliche Wanderung ber den schmalen Grat der Suizidalitt ist ein intellektuelles Spiel mit dem Feuer. Daneben aber gibt es auch ganz handfeste Schwierigkeiten mit diesem Merkmal. Denn Unentschiedenheit als Unentschiedenheit ist konzeptgemß schlecht zu fassen: Kaum glaubt man sie gefasst zu haben, guckt sie einen von der anderen Seite an. Die Buchbeitrge gehen auf sehr eigenstndige Weise an das Thema »Selbsttçtung und Unentschiedenheit« heran und leuchten

10

Jann E. Schlimme

es in den unterschiedlichsten Facetten aus. Da steht der Zweifel an der Rationalitt der Suizidbegrndung ebenso im Raum wie die letztverbliebene, nur noch verzweifelt zu nennende Entschiedenheit, mit der sich in den Tod geworfen wird. Da findet sich Unentschiedenheit, welche von Haltlosigkeit im Gemeinsamen und fehlender Geborgenheit im Anderen spricht. Und es findet sich Unentschiedenheit als permanente Haltlosigkeit des Denkens und fehlende Verlsslichkeit der Interpretation. Es stellen sich Fragen nach dem Sich-entscheiden-Kçnnen und dem Fr-einen-entschieden-Werden. Bei dieser Vielfalt bleibt es dem Leser vorbehalten, sich zu entscheiden, ob ihm die Vielgestaltigkeit der Suizidalitt als Phnomen, welches sich wesentlich um eine Entscheidung ordnet, verstndlich wird. Letzteres ist hier beabsichtigt. Mit seiner Darstellung des psychiatrisch-psychologischen, am klinischen Alltag orientierten Krisenkonzepts der Suizidalitt erçffnet Manfred Wolfersdorf den Band. Im Interesse einer Suizidprophylaxe versucht dieses Modell zu beantworten, was den Menschen an die Mçglichkeit der Selbsttçtung nher heranfhrt, was ihn hohlwegartig auf eine letztendliche »Lçsungsmçglichkeit« der Selbsttçtung zufhrt. Die Annahme des Krisencharakters der Suizidalitt, der letztlichen berwindbarkeit der Verzweiflung des suizidalen Menschen und die psychologische Kenntnis lebensgeschichtlicher und beziehungsgebundener Aspekte dieser Verzweiflung erçffnendabei den Raum fr die sichernde Frsorge der Suizidprophylaxe. Diese sichernde Frsorge der Gesellschaft fr den einzelnen Menschen erlaubt, wie Wolfersdorf zeigt, dass suizidales Verhalten auch als ein Mittel der Beziehungsgestaltung und des Versuchs der Beziehungssicherung zur Verfgung steht. Dies gilt insbesondere auch im Miteinander von Patienten und Therapeuten, so dass sich Unentschiedenheit hier nochmals anders zeigt. Wie Wolfersdorf argumentiert, kçnnen die wechselvollen Verhaltensweisen des suizidalen Menschen – kçnnen diese Ungewissheit, wie sich der suizidale Mensch denn nun entscheiden wird, und das Ringen des anderen um ihn als Menschen – auch als die erlebte Unsicherheit in der Beziehung selbst verstanden werden. Die Frage, ob es denn berhaupt eine Entscheidung zur Selbst-

Eine Einleitung

11

tçtung geben kçnne, die wir als rational zu klassifizieren htten, stellt anschließend Thomas Schramme . Selbsttçtung kann heutzutage nicht mehr schlicht aus moralischen Grnden abgelehnt werden. Wenn die individuellen Fhigkeiten zur Selbstbestimmung des Suizidwilligen gegeben sind, msste dann nicht die Entscheidung zur Selbsttçtung akzeptiert werden? Schramme rekurriert bei seinen berlegungen somit auf die zentrale Frage berhaupt: Warum ist der Tod ein bel und das Leben ein Gut fr den Menschen? Der Tod zeigt sich als ein nichtkomparatives bel, so dass fr den Menschen die Frage nach der Gte des Lebens bleibt. Wenn ein Mensch zum jetzigen Zeitpunkt nach kompetenter berlegung fr sich und in Zukunft den Verlust jeglichen Lebenssinns feststellt, kann seiner Entscheidung zur Selbsttçtung eine weitgehende Rationalitt nicht abgesprochen werden. Bei aller diskutablen Rationalitt der Entscheidung bleibt dennoch eine Ungewissheit, da schließlich zu keinem Zeitpunkt prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dass Lebenssinn wieder erlangt werden kçnnte. So zeigt sich hier die Unentschiedenheit darin, dass die Entscheidung zur Selbsttçtung eine Art von Wette auf die Zukunft ist, eine Zukunft, die der Suizidwillige zwar als sinnlos erachtet, gelebt zu werden, die aber dennoch letztlich ungewiss bleibt und Lebenssinn bereithalten kann. Die Verzweiflungsanalysen des dnischen Philosophen Søren Kierkegaard stehen bei Almut Furchert im Zentrum. Zentrales Denkmittel wird der »Sprung« als qualitativer bergang im Selbst, fr Kierkegaard die Tat zur personalen Freiheit und insofern selbst ein Phnomen, das sich um die Entscheidung ordnet. In der Verzweiflung aber bleibt der »Sprung« aus. Jedoch kann sich der Mensch fr die Selbsttçtung als einen solchen »Sprung« entscheiden, so dass der eigene Tod durchaus als Tat zur personalen Freiheit erscheinen kann. Jedoch gibt es auch eine Verzweiflung, in der der Mensch in einer Unentschiedenheit im kierkegaardschen Sinne verharrt. Aus dieser Unentschiedenheit fhrt auch die Selbsttçtung nicht heraus, denkt Furchert Kierkegaards Analysen weiter. Denn hier versteht sich die Selbsttçtung als Flucht davor, sich selbst als stete Aufgabe gegeben zu sein, als Mensch immer wieder Grenzsituationen aushalten zu mssen. Damit bleibt dieser

12

Jann E. Schlimme

Mensch, obwohl er sich fr seinen Tod entschieden hat, in der Unentschiedenheit stecken. Eine soziale Analyse der Selbsttçtung unternimmt Jçrn Ahrens und zeigt dabei, dass eine Selbsttçtung immer auf der prekren Bruchstelle von gesellschaftlicher Souvernitt und Selbstbestimmung des Subjekts geschieht. Die Selbsttçtung ist diejenige soziale Devianz, die im Sinne sozialer Herrschaft nicht regulierbar oder diskursiv einholbar ist. Hier begibt sich das Subjekt in eine anomische Differenz zum Sozialen, in welcher es auch sich selbst aufgibt. Ahrens weist damit nicht nur den Tod an zentraler Stelle der Vergesellschaftung nach, sondern auch, dass die Selbsttçtung als ein »Triebmittel« gesellschaftlicher Wandlungen niemals vollstndig sozial abgewehrt werden kann. Auch da, wo die Selbsttçtung an der brgerlichen Konzeption von Subjektivitt und Tod scheitert, ist er ihr doch noch ganz verbunden. Dieses kann auch als eine Unentschiedenheit verstanden werden. Denn einerseits gelingt zwar in der Selbsttçtung der Triumph des Subjekts ber die Vergesellschaftung, welche es als seine zweite Natur abzulegen scheint – doch andererseits zeigt sich gerade darin, dass dies nur im eigenen Tod gelingt, dass es eben ein solches Außerhalb der Vergesellschaftung fr den Menschen gar nicht gibt. Die Anerkennung dieses doppeldeutigen, niemals eindeutig entscheidbaren sozialen Ortes der Selbsttçtung ist auch der Preis, den der einzelne Mensch fr seine Modernitt zu entrichten hat. Auf dem Weg in diese Moderne war in der extrem bewegten und auch uneinheitlichen Zeit der Jahrhundertwende von 1900 die Selbsttçtung von Schlern und Jugendlichen ein auch kulturell intensiv thematisiertes Phnomen. Gerit Langenberg-Pelzer befragt exemplarisch zwei bedeutende Romane dieser Zeit auf die in ihnen sich zeigende Suizidalitt, die Selbsttçtung der Protagonisten und den gesellschaftlichen Raum, in dem dieses geschieht. Sowohl in Frank Wedekinds »Frhlings Erwachen« (1891) als auch in Hermann Hesses »Unterm Rad« (1906) erfasst Langenberg-Pelzer die Geborgenheit und Teilnahme der jugendlichen Protagonisten in ihrer Gemeinschaft als bedeutend, denn es zeigt sich: Einerseits haben die jugendlichen Schler das Ideal ihrer Gemeinschaft so restlos bernommen, dass sie es als eigenes an sich selbst anlegen,

Eine Einleitung

13

jedoch wiederholt daran scheitern – andererseits aber spren sie nur zu deutlich, dass sie eben gerade nicht in diese Gemeinschaft aufgenommen sind und einer anderen Gemeinschaft bedrften, die ihnen jedoch in keiner Weise zugnglich wre, da sie fraglich noch gar nicht besteht. Die Unentschiedenheit kann hier darin gesehen werden, dass der einzelne Mensch sowohl von der Gemeinschaft aufgenommen als auch gerade nicht in der Gemeinschaft aufgenommen ist, und zeigt sich so als ein permanentes und fundamentales In-Frage-Stellen des Geborgenseins. Diese Frage stellt sich auch fr die neuartigen (»postmodernen«) Gemeinschaften des Cyberspace. Bert Theodor te Wildt geht nicht primr auf virtuelle Selbsttçtungen im Cyberspace ein, auch wenn zuweilen jahrelange Rollenspielidentitten (»Avatare«) durch eine rollengespielte Selbsttçtung verlassen werden. Vielmehr geht es ihm um die neuartige Qualitt, dass sich zuvor vçllig unbekannte Menschen ber diese ausnehmend persçnliche Frage »Tod oder Leben?« austauschen und sogar zum gemeinsamen Handeln verabreden kçnnen. Letzteres ist selten, der Austausch darber in Suizidforen ist hingegen sehr hufig. Diese »rein geistigen« Beziehungen kçnnen jedoch – neben der Gefahr einer Vertiefung der Suizidalitt – genau diejenigen ausreichend tragfhigen Gemeinschaften darstellen, die zu diesem Zeitpunkt berhaupt vom suizidalen Menschen in seine persçnliche Nhe gelassen werden kçnnen. Die neuartige Qualitt dieser Gemeinschaften ist jedoch unabdingbar daran gebunden, dass die gesellschaftliche Souvernitt nicht machtvoll in sie eingreift. Professionelle Suizidhilfeforen erçffnen sich so nur als alternative Gemeinschaften gegenber unabhngigen Suizidforen. Hieraus formuliert sich die Aufforderung an die gesellschaftliche Souvernitt, hier vor allem vertreten durch die Psychiatrie, diese Doppeldeutigkeit und Unentschiedenheit des sozialen Ortes der Selbsttçtung anzuerkennen, welche durch die Mçglichkeit zur Selbsttçtung immer wieder in die Kultur eingetragen wird. Aber kann berhaupt von einer Entscheidung gesprochen werden, wenn sich ein Mensch – zumal noch ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung – selbst tçtet? Dieser grundlegenden Frage geht Bernhard Kchenhoff nach und erçffnet zugleich den

14

Jann E. Schlimme

Zusammenhang zur aktuellen neurowissenschaftlichen Debatte. Kçnnte der Mensch, der sich selbst tçten will, gar keine Entscheidungen selbst verantworten, so wre die Unentschiedenheit ein Nichts-entscheiden-Kçnnen. Der Mensch wre dann von vornherein entscheidungsunfhig und nur Spielball fremder Mchte. Und dies nicht nur in der Szuizidalitt, sondern generell. Kchenhoff zeigt die notwendigen qualitativen und quantitativen Differenzierungen auf, die eben gerade auch im Hinblick der Urteilsund Selbstbestimmungsfhigkeit des Menschen anzunehmen sind, und schlussfolgert, dass eine fundamentale Unfhigkeit zum Entscheiden-Kçnnen auch des suizidalen Menschen nicht angenommen werden kann. Sicherlich gilt, dass nur infolge einer prinzipiellen Entscheidungsfhigkeit des suizidalen Menschen Unentschiedenheit berhaupt als ein wesentliches Merkmal der Suizidalitt verstanden werden kann. Kchenhoff zielt darber hinaus konkret auf die Frage, die sich in der Schweiz in den letzten Jahren stellt und an dem Thema einer »freien Willensentscheidung« festzumachen scheint: dem assistierten Suizid. Auch in dieser Debatte, so Kchenhoff, spricht sich erneut die Unentschiedenheit aus, die den Suizid in seiner kulturellen Verortung auszeichnet und aus rztlicher Sicht eine besonders prekre Herausforderung darstellt. Einer ganz anderen Herausforderung stellt sich Borut kodlar in seinem Beitrag zur Phnomenologie der Suizidalitt schizophren erkrankter Menschen. Dabei stellt er zunchst ein phnomenologisches Verstndnis des schizophrenen Erlebens vor, welches an den drei Merkmalen des Hyperreflektierens, des Verlusts der natrlichen Selbstverstndlichkeit und der erheblichen Begrenzungen und Verdeckungen des Vertrauen-Kçnnens und des gemeinschaftlichen Erleben-Kçnnens orientiert ist. Vor diesem Hintergrund nun entwickelt kodlar ein Verstndnis der Suizidalitt des schizophrenen Menschen und weist auf, dass die Selbsttçtung eben nicht nur einen tiefgreifenden Zusammenhang mit der Einsamkeit und der selbstwahrgenommenen Beschrnkung gemeinschaftlicher Erlebnisse beziehungsweise dem steten Zweifel und dem erlebten Verlust eigener Wertigkeit gegenber anderen Menschen hat. Vielmehr kann er zeigen, dass die Schwierigkeit,

Eine Einleitung

15

berhaupt noch bestimmten Umstnden oder Eigenarten eine auch affektiv sprbare und dauerhafte Bedeutung beimessen zu kçnnen, von besonderer Bedeutung fr ein Verstndnis der Suizidalitt schizophren erkrankter Menschen ist. Denn wenn eine eigene Entscheidung gar nicht mehr getroffen werden kann, da die Zuschreibung von entscheidungswichtigen Bedeutungen nicht mehr gelingt, dann kann auch die Entscheidung Leben oder Tod nur noch dem Zufall berlassen werden. Wie kodlar ausfhrt, kann diese Unentschiedenheit in der Suizidalitt schizophren erkrankter Menschen aus dem phnomenologischen Verstndnis des schizophrenen Erlebens heraus verstanden werden. Diese Unentschiedenheit bleibt also keineswegs unverstndlich, sondern fordert uns vielmehr auf, uns dem schizophrenen Menschen nicht zu verweigern, sondern ihm ausdauernd zur Seite zu stehen. Abschließend entwickelt Jann E. Schlimme eine Phnomenologie der Suizidalitt. In diesem innenperspektivischen Verstndnis bricht die Unentschiedenheit der Suizidalitt umfassend auf, ohne wahrhaft eindeutig gefasst werden zu kçnnen. Unentschiedenheit entzndet sich ursprnglich am Tod selbst, der dem Menschen unabweisbar geschenkt ist und zugleich von ihm aktiv ergriffen werden kann. So oszilliert der suizidale Mensch um die Frage »Leben oder Sterben?«. Der Tod in seiner unverlierbaren radikalen Alteritt des Lebens zeigt sich sowohl als Vernichter als auch Retter, er kann schon immer beides zugleich sein. Die suizidale Unentschiedenheit zeigt sich ganz besonders in denjenigen Suizidversuchen, in denen es der suizidale Mensch einer »grçßeren Macht« anheim stellt, ob er ins Leben oder in den Tod gerettet wird. Hier nmlich hlt sich die Unentschiedenheit der Suizidalitt noch bis in die (versuchte) Selbsttçtung durch und fhrt uns gerade so die gewaltige Offenheit der Frage »Leben oder Tod?« vor Augen. Wie Schlimme argumentiert, wird gerade hierdurch deutlich, dass sich ein tiefergehendes Verstndnis der Suizidalitt diesem Merkmal der Unentschiedenheit zu stellen hat. Sicherlich kann eingewandt werden, dass es bereits eine Entscheidung ist, am Leben zu bleiben, auch wenn man zugleich intensiv ber die Selbsttçtung nachdenkt. Dem ist zuzustimmen. Im Namen aller Autorinnen und Autoren wnsche ich allen Nutze-

16

Jann E. Schlimme

rinnen und Nutzer des Buches, dass auch sie sich ebenfalls fr das Leben entscheiden kçnnen. Allerdings ist zuzugeben, dass diese Entscheidung in bestimmten psychischen Verfassungen erheblich verunsichert sein kann. In diesen Verfassungen bricht diese eigenartige Widersprchlichkeit, diese eigentmliche Hin- und Hergerissenheit auf, die mit der Frage »Leben oder Tod?« verbunden ist. Insofern kann diese Unentschiedenheit, welche Suizidalitt wesentlich auszuzeichnen scheint, immer auch als eine Ver-Unsicherung der Entscheidung fr das Leben verstanden werden. Zwar wird dadurch diese Unentschiedenheit nicht aufgelçst, allerdings wird sie als Frage und Aufgabe fr diesen Menschen kenntlich. So entpuppt sich die Unentschiedenheit der Suizidalitt nicht zuletzt als diejenige Herausforderung, welche das Leben als Leben an jeden Einzelnen von uns als Menschen stellt, da wir uns als Menschen eben auch den Tod geben kçnnen. Dieses Buch begann als Einfall »im Kopf« des Herausgebers, nahm jedoch nur durch den kontinuierlichen Austausch sowohl mit den Autoren – die ja letztlich den Einfall thematisch ausformuliert haben – als auch mit weiteren Personen und durch ganz persçnliche Untersttzung konkrete Gestalt an. Als solche sind in alphabetischer Reihenfolge zu nennen: Uwe Blanke, Susanne Bçdeker, Catharina Bonnemann, Roger Breyer, Wolfgang Dillo, Michael Dmpelmann, Hinderk M. Emrich, Thomas Fuchs, Karsten Gçmann, Christiane Grubert, Horst Haltenhoff, Patricia Hogrefe, Rolf Khn, Malick Mboob, Andreas Schinkel, Hermann Schlimme, Lucie Schlimme, Udo Schneider, Yvonne Unna, Andrea Werner, Christiane Wieder und Erich Wulff. Ganz besonders mçchte ich meinem Vater Eckhard Schlimme fr die ungefragte und deshalb so gefragte Hilfe Dank sagen. Und nicht zuletzt mçchte ich Gnter Presting und Ulrike Kamp vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Gçttingen, fr die entspannte, kompetente und verlssliche Untersttzung danken, die sie seit den ersten »Einfllen« diesem Buch gegeben haben.

Manfred Wolfersdorf

Suizid aus klinischer psychiatrischpsychotherapeutischer Sicht

Von Paul Federn (1929) stammt die klassische Formulierung der Suizidprvention und des interaktionellen Aspektes bei der Suizidalitt: »Kaum jemals bringt jemand sich um, solange eine Person, die fr den Gefhrdeten maßgebend ist, mit dem sich sein berIch identifiziert oder die sein ber-Ich gebildet hat, oder eine Person, die er liebt, ihn, so wie er ist, am Leben erhalten will, und das unter allen Bedingungen«. Damit ist das Grundprinzip jeglicher Suizidprvention im psychosozial-medizinischen Bereich umfassend definiert: Es geht immer wieder – neben Aspekten psychischer Krankheit – um Beziehung zwischen Personen und es geht um Verantwortung fr diese Beziehungen. In diesem Kontext haben sich Suizidalitt und Suizidprvention im psychosozial-medizinischen Bereich und insbesondere im engeren Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung immer bewegt. Ein kurzer Blick auf einige klassische Literatur zur Suizidologie zeigt dies: Lind (1999) diskutiert die Vernderung der Sichtweise von Suizidalitt im 18. und 19. Jahrhundert als Ausdruck des aufklrerischen Diskurses ber Suizidalitt als Akt menschlicher Willensfreiheit beziehungsweise als Ausdruck einer Krankheit, Willemsen (2002) stellt die verschiedenen Ansichten zum Thema Suizid und Suizidalitt von Seneca bis Franz Kafka zusammen und beleuchtet dabei die unterschiedlichen Aspekte, Croitoru (2003) zeigt die historischen Wurzeln des Suizidattentats auf, hnlich wie Wolfersdorf und Wedler (2002) Texte zum Terroristen-Suizid und zum Amok zusammenstellen und fragen, ob unser Verstndnis von Suizidalitt im Kontext aktueller politischer oder religiçser Selbsttçtungsattentate oder auch im Kontext

18

Manfred Wolfersdorf

des interkulturellen Vergleichs (Schonauer, 2007) gendert werden muss. Kay Redfield Jamison, die große Dame der amerikanischen Erforschung und Behandlung affektiver Stçrungen, Psychologin und selbst bipolar affektiv erkrankt, bezieht eine eindeutige »Krankheitsposition«, vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens, in ihrem Buch »Wenn es dunkel wird. Zum Verstndnis des Selbstmordes« (2000). Jamison untersucht zwar das Phnomen des Suizides aus vielen Richtungen, letztendlich jedoch auch als ein subjektives, und gibt, wegen der eigenen Betroffenheit, ein Pldoyer fr ein Krankheitskonzept von Suizidalitt ab, die als krankhafte Verhaltensweise auf der Basis einer psychischen Stçrung wie Depression, bipolarer affektiver Erkrankung oder auch Schizophrenie zu verstehen ist. Damit ist das Spannungsfeld von Suizidalitt angesprochen.

Suizidalitt – ein Spannungsfeld Definiert man »Suizidalitt«, so kann man diese als die Summe aller Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen bezeichnen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder auch durch Handelnlassen von anderen Menschen oder durch eigenes passives Unterlassen von lebenserhaltenden beziehungsweise lebensrettenden Maßnahmen den eigenen Tod anstreben oder als mçglichen Ausgang einer Handlung in Kauf nehmen (Wolfersdorf, 1995). Dabei ist Suizidalitt grundstzlich allen Menschen mçglich, tritt jedoch hufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf, was wir heute als »medizinisch-psychosoziales Paradigma« bezeichnen. Grundstzlich ist Suizidalitt also eine menschliche Mçglichkeit, eine menschliche Denk- und Verhaltensmçglichkeit, und per se keine Krankheit. So unterliegt Suizidalitt allen Beeinflussungs- und Wahrnehmungsmçglichkeiten und deren Stçrungen, wie die menschliche Psyche berhaupt: traumatische, tragisch-schicksalhafte, krankheitsbedingte, sozial bedingte und anderes mehr. So ist konsequenterweise nach den Faktoren zu fragen, die Menschen nher an Suizidali-

Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht

19

tt, das heißt die Beendigung einer fr sie belastenden und nicht mehr ertragbaren Situation und Problematik durch Selbsttçtung, heranfhren. Damit ist man wieder bei psychischen Erkrankungen und psychosozialen Krisen, bei die Lebensqualitt beeintrchtigenden Faktoren, welche den Menschen nher an die Verhaltensweise Selbsttçtung bringen. Menschen kçnnen also durch belastende Faktoren, durch psychosoziale Krisen, durch psychische Erkrankung eine Aktualisierung und Verstrkung von Suizidideen sowie eine Einengung im Sinne einer hohlwegartigen Zufhrung der eigenen Handlungsfreiheiten auf eine letztendliche Lçsungsmçglichkeit Selbsttçtung erfahren. Damit ist das Spannungsfeld von Suizidalitt (Wolfersdorf et al., 2002a, b) definiert: Suizidalitt im Rahmen psychischer Erkrankung, im Rahmen psychosozialer Krisen und Lebensbelastungen, auf der anderen Seite Suizidalitt als kulturell determinierter Opfertod (z. B. bei der Selbstverbrennung oder beim Sichtçtenlassen vor dem Hintergrund religiçser Ideen) oder in der Kombination von Suizid und Homizid als Selbsttçtung und Mord/Totschlag (z. B. Terroristensuizide) oder auch als rituelle Selbsttçtungen, etwa im Rahmen des Stammesschutzes, als Selbsttçtung des alten kranken Mannes bei Eskimostmmen oder Reitervçlkern, als stille Suizide in Pflegeeinrichtungen, wobei hier auch die »aktive Euthanasie« bei kranken oder alten Menschen eingeordnet werden kann. In den letzten Jahren wurde diskutiert, ob es neue Formen suizidalen Verhaltens gibt beziehungsweise ob diese hufiger auftreten, zum Beispiel der altruistisch erweiterte Suizid, die Geisterfahrersuizide, die Kamikazesuizide, die Rachesuizide oder auch die »murder-suicide«, wobei es hierzu keine ausreichende Datenbasis gibt. Dass Suizidmethoden unter Einbeziehung anderer gegen deren Willen in die eigene Selbsttçtungshandlung (also Mord und Selbsttçtung) durch Flugzeuge oder durch PKW (Kamikazesuizide, Geisterfahrersuizide) heute hufiger sind, hngt wahrscheinlich damit zusammen, dass es diese Mçglichkeiten erst seit dem letzten Jahrhundert gibt. Fassen wir das Spannungsfeld von Suizidalitt nochmals bersichtartig zusammen, so ergeben sich also mindestens die folgenden zehn unterscheidbaren Typen:

20

Manfred Wolfersdorf

– Freizeitrisikoverhalten – autoaggressives Verhalten mit suizidaler Intention beziehungsweise Inkaufnahme der Selbsttçtung – suizidales Verhalten als Ausdruck einer Selbstwertkrise (narzisstische Krise) – suizidales Verhalten als Ausdruck einer Wendung der Aggression gegen sich selbst – altruistisch erweiterter Suizid (Mitnahmesuizid) – fremdaggressiv erweiterter Suizid (z. B. Geisterfahrer) – Opfer-Suizid (fr andere Menschen oder eine berzeugung sich tçten lassen) – Massensuizid (Tçtung/Selbsttçtung) – Mçrder-Suizid (»murder-suicide«, Kamikaze-Selbstmord u. .) – so genannter Freitod (Selbsttçtung in Abwesenheit psychischer, somatischer, sozialer Not) Vor dem Hintergrund dieses breiten differentialdiagnostischen (und damit auch differentialtherapeutischen) Ansatzes von Suizidologie als Querschnittsfach – gesttzt durch die Themen der heutigen Suizidforschung: Epidemiologie, Biologie, neue Formen von Suizidalitt wie Terroristensuizide, Suizidformen von Randgruppen, psychodynamische Suizidforschung, Internet, neue Medien und Suizidalitt, geschlechtsspezifische Aspekte oder auch Psychopharmakotherapie – bleibt das klinisch-psychiatrische und -psychotherapeutische Verstndnis von Suizidalitt bei einem Krisen- und Krankheitskonzept suizidalen Verhaltens. Dies bedeutet bereits eine Einbeziehung modernen psychotherapeutisch-psychodynamischen Denkens in unser Verstndnis von Suizidalitt und damit die berwindung eines strengen psychopathologischen Krankheitskonzeptes. Diese Konzeption der suizidalen Krise steht nachfolgend im Zentrum der Diskussion (Wolfersdorf, 2000).

Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht

21

Suizidalitt: tiopathogenetische berlegungen Strukturelle Aspekte suizidalen Verhaltens (Wolfersdorf, 1995, 2000) sind Suizidideen (Ruhe- und Todeswnsche, konkrete Suizidideen und -phantasien; fluktuierend, zwanghaft auftretend, impulshaft einschießend) und suizidale Handlungen, wobei psychoreaktive Faktoren als aktuelle Auslçser (z. B. narzisstische Krnkung, Verlust und berforderungssituation, psychotisches Erleben) und das spezifische psychopathologische Erleben zum aktuellen Zeitpunkt der Belastung (vor allem Affektivitt und Kognitionen) eine bedeutsame Rolle spielen: Verzweiflung, Wut, tiefe Depressivitt, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektive, Psychopathologie im engeren Sinne wie beispielsweise imperative Stimmen, die zum Suizid auffordern. Hinzu gehçren aber auch der Verlust beziehungsweise der Verlust der Wirkung protektiver Faktoren, wozu vor allem soziale Bindungen in Familie, Partnerschaft, Elternschaft zhlen, aber auch die Gruppe, der man sich zugeordnet fhlt. Weitere protektive Faktoren sind soziale Normen wie Aggressionskontrolle oder Gesetze wie das Waffenverbot. Biologische Faktoren, womit heutzutage im Wesentlichen die Impulskontrolle auf serotonerger Basis, Antrieb beziehungsweise Antriebsstçrung und iatrogene Beeinflussung von Antrieb etwa durch Psychopharmaka gemeint sind, spielen eine weitere essentielle Rolle. Die drei großen tiopathogenetischen Hypothesen zur Suizidalitt lassen sich benennen als 1) eine individuelle lerngeschichtlich-biographische Hypothese, 2) eine biologisch-dispositionelle Hypothese und 3) eine gesellschaftlich-kulturelle (soziologische) Hypothese. Erstere geht aus von einem Zusammenhang zwischen Lern- beziehungsweise Lebensgeschichte, aktuellen Belastungen und deren Bewltigungsstrategien, Denkstilen der Selbstreflexion bezglich Zukunft und der Bewltigbarkeit belastender Ereignisse und definiert das Individuum als »Opfer seiner Psychologie und Lebensgeschichte«. Die biologisch-dispositionelle Hypothese geht von einer genetisch mitgegebenem oder frh in der Persçnlichkeitsent-

22

Manfred Wolfersdorf

wicklung erworbenen strukturellen neuronalen Stçrung im Zentralen Nervensystem aus, die dann im spteren Leben zu einer gestçrten beziehungsweise reduzierten Belastungs- und Anpassungsfhigkeit wie auch zu einer gestçrten oder unzureichend kontrollierbaren Antriebs-(Impuls-)Kontrolle fhrt; aktuelle Moderatorvariablen werden dann bedeutsam. Das Individuum gilt, grob gesprochen, als Opfer seiner Biologie. Die dritte wichtige Hypothese ist die soziologische, die das Individuum, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Belastungen letztlich suizidologisch fr unbedeutend erklrt und jeweilig gegebenen, erwnschten oder nicht erwnschten, hilfreichen oder nicht hilfreichen soziologischkulturellen Rahmenbedingungen subjektiv Suizidalitt fçrdernde oder hemmende Wirkung zuschreiben. Das Individuum gilt als Opfer der Kultur und Gesellschaft, in die es hineingeboren wurde. Im klinischen Alltag wird im Wesentlichen die in Abbildung 1 verwendete Konzeption der Suizidalitt als Ausdruck von Krise beziehungsweise als aus psychischer Erkrankung sich ergebende Denk- und Verhaltensweise verwendet. Im Rahmen dieses Krisenkonzepts gilt Suizidalitt vor einem psychodynamischen Hintergrund einmal als Ausdruck einer eigentlich gegen einen anderen gerichteten und nun gegen die eigene Person gewendeten Aggression (»Mord« am anderen in sich selbst, daher »Selbstmord«); Suizidalitt gilt als Folge einer existentiellen destruktiven frhen Beziehungserfahrung (von anderen todgewnscht gefhlt), als Ausdruck einer tiefen Selbstwertkrnkung der Person (oder auch eines Kollektivs; individuelle oder kollektive narzisstische Krise), als Versuch einer aktiven Objektsicherung unter Einsatz des eigenen Lebens oder auch im Sinne der chronischen Suizidalitt als Ausdruck innerseelischer Spannungsregulation. Das Modell der Krisenintervention ist das tragende Modell der Suizidprvention im gesamten psychosozial-psychotherapeutischen Feld. Diagnostisch nach der ICD-10 erlauben suizidale Handlungen in diesem Feld eindeutige Zuordnung zur F4-Gruppe (Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Stçrungen) oder auch F3-Gruppe (Affektive Stçrungen). Das Konzept von Suizidalitt als Ausdruck einer Erkrankung wird im Wesentlichen gesttzt durch die Epidemiologie – Kohor-

23

Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht Psychobiosoziale Ausgangsbedingungen

lebensgeschichtliche Entwicklung

Persönlichkeit bisher „psychisch gesund“

Psychische Krankheit Suizidalität fördernde Psychopathologie: Hoffnungslosigkeit, Bedrohtheitsgefühle, Wahn, Suizidabsicht

selbstdestruktive Stile der Konfliktbewältigung

Faktoren, die Suizidalität und Hoffnungslosigkeit fördern, bisherige Suizidalität, Modelle in Peergroup / Umfeld / Kultur

Auslöser: belastendes Lebensereignis, narzisstische Kränkung

Einengung von Erleben / Verhalten

Krise mit Suizidalität „Risiko-Psychopathologie“

Auslöser: belastendes Lebensereignis, narzisstische Kränkung

psychische Krankheit akute / chronische Suizidalität

Abbildung 1: Konzeption der Suizidalitt

tenstudien, psychologische Autopsien, Kontrollstudien – sowie durch die Ergebnisse aus der biologischen Suizidologie der letzten Jahrzehnte. Hierzu gehçren neben der Genetik vor allem die sehr konstanten Ergebnisse der Neurobiochemie und der Psychophysiologie. Neurobiochemisch wird bei Menschen mit Suiziden, insbesondere bei Mnnern, ein prsynaptisches serotonerges Defizit mit kompensatorischer Zunahme spezifischer Serotonin-Rezeptoren (sog. 5-HT2-Repeztoren) im prfrontalen Kortex gefunden, im Liquor eine reduzierte Menge eines spezifischen Serotonin-Abbausprodukts (5-HIAA), vor allem wiederum bei Suizid mit harter Methode und eher beim mnnlichen Geschlecht. Psychophy-

24

Manfred Wolfersdorf

siologisch lsst sich bei Menschen mit Suizid beziehungsweise mit suizidalen Handlungen mit harter Methodik zudem eine elektrodermale Hyporeaktivitt in elektrodermalen Habituationsexperimenten zeigen und damit eine deutlich verringerte Anpassungsfhigkeit, vor allem von Mnnern, an Orientierungsreize. Die Mçglichkeit der zentralen berstimulierung des Antriebs durch Psychopharmaka als ein Faktor von Suizidfçrderung ist seit Jahrzehnten immer wieder Thema in der Psychiatrie und Psychotherapie. Anderseits fhrt adquate Therapie psychischer Erkrankung mit Psychopharmaka auch zu einer deutliche Reduktion von Suizidalitt. Die extrem hohe Hufigkeit von psychischen Erkrankungen bei Menschen mit suizidalen Krisen, Suizidversuchen und Suiziden (ca. 90 %) sttzt die Auffassung, dass insbesondere Suizid, das heißt Verstorbensein im Rahmen einer suizidalen Handlung, im Wesentlichen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zu finden ist.

Anmerkungen zur Suizidprvention Suizidprvention basiert immer auf vier wichtigen Sulen, die sich als Herstellung einer hilfreichen Beziehung, als Diagnostik von Suizidalitt und zugrunde liegender psychischer Stçrung (Krise, Krankheit, kçrperliche Erkrankung mit Krise, schwierige soziale Situation mit Krise), als Auftrag der »sichernden Frsorge« und »kontrollierenden Kommunikation« sowie als Sicherstellung der Grundtherapie von Erkrankung unter Bercksichtigung von Suizidalitt sowie als psychopharmakologische und psychotherapeutische Intervention bei der akuten suizidalen Krise beschreiben lsst. Suizidprvention setzt dabei Wissen um suizidgefhrdete Menschen voraus (sog. Risikogruppen). Wichtig ist dabei auch die Kenntnis protektiver Faktoren, so dass die Einschtzung von Suizidalitt eine schwierige, aber wichtige therapeutische Aufgabe wird. An protektiven Faktoren sind zu nennen insbesondere eine positive Lebenszufriedenheit und eine soziale Untersttzung, aber

Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht

25

beispielsweise auch Schwangerschaft oder Religiositt. Aus der klinischen Erfahrung, weniger aber aus den derzeit vorhandenen Forschungsdaten, kann gesagt werden, dass ein Gefhl der Verantwortlichkeit fr die eigene Familie, insbesondere eigene Kinder zu Hause, und eine positive therapeutische Beziehung ebenfalls eine solche Form protektiver sozialer Untersttzung darstellen kçnnen. hnliches gilt fr die vorwiegend klinisch berzeugende Kenntnis, dass eine stabile Fhigkeit zur Realittsberprfung sowie positive Bewltigungs- und Problemlçsungsstrategien suizidprotektiv wirksam sind (vgl. APA, 2003) Problemgruppen fr die Suizidprvention sind dabei vor allem suizidgefhrdete Menschen, die keine Hilfe suchen und keine Zeichen setzen, also suizidale Menschen, die nicht offen mit ihrer suizidalen Not umgehen und die deswegen oft auch nicht gesehen wird. Solchen Menschen unterstellt man einen sehr eindeutigen und harten Todeswunsch. Eine weitere Problemgruppe sind Menschen, die ihre Suizidalitt verleugnen und bagatellisieren, als »Recht« und als Ausdruck einer Notsituation begreifen, auch Menschen, die Suizidalitt inszenieren und zur Gestaltung von Interaktion einsetzen. Weitere Problemgruppen sind suizidale Mnner, insbesondere ltere suizidale Mnner, die sich durch ein eingeschrnktes Hilfesuchverhalten auszeichnen; dann Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere mit schweren Depressionen, mit bipolaren affektiven Erkrankungen, mehrfach erkrankte paranoid-halluzinatorisch schizophren kranke Menschen, vor allem junge Mnner, weiterhin solche mit schweren Angststçrungen, mit Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen oder auch suchtkranke Menschen. Die suizidale Gefhrdung ist dabei am hçchsten bei der Depression in der akuten Erkrankungsphase, insbesondere bei der Ersterkrankung, bei der Schizophrenie bei jeder Wiedererkrankung, insbesondere bei den ersten 2 bis 5 Wiedererkrankungen, sowie beim Vorliegen suizidfçrdernder Psychopathologie, bei Suchterkrankungen eher gegen Ende des Suchterkrankungsverlaufs, wenn die sozialen Folgen auf den Betroffenen einstrzen. Dabei gibt es immer verschiedene Ebenen der Suizidprvention, eine individuelle oder patientenbezogene, wo es um die Bewlti-

26

Manfred Wolfersdorf

gung der aktuellen Situation und um das Handelns mit einem suizidgefhrdeten Menschen zu einem konkreten Zeitpunkt geht, und eine Ebene der berregionalen, der nationalen und internationalen Suizidprvention. Letztere Aktivitten haben zweifellos in den letzten Jahren deutlich zugenommen und auch das Bewusstsein der Politik erreicht. Auf nationaler und internationaler Ebene sind dies die folgenden Aktvititten: – Nationale Suizidprventionsprogramme (z. B. in Deutschland als »NaSPro« betitelt, zudem das Kompetenznetz Depression/ Suizidalitt, Awareness- und Interventionsprogramme); – Suizidprventionsprogramme im Rahmen anderer gesundheitspolitischer Aktivitten (z. B. spezifische Gesundheitsprogramme (www.gesundheitsziele.de) oder die Leitlinienentwicklung durch Fachgesellschaften u. a.); – Aktivitten nationaler und internationaler Gesellschaften/Vereine zur Suizidprvention (z. B. Deutsche Gesellschaft fr Suizidprvention – Hilfe in Lebenskrisen e. V. (DGS), Internationale Gesellschaft fr Suizidprvention e. V. (IASP), International Academy for Suicide Research e. V. (IASR); – Identifizierung erhçht suizidgefhrdeter Personen und Gruppen (z. B. depressiv Kranke, alte Mnner, Menschen nach Suizidversuch); – Definition allgemeiner Risikogruppen (z. B. psychisch Kranke, Menschen in Krisen, Menschen nach Suizidversuch); – Verbesserung des Erkennens von Suizidalitt in der hausrztlichen und fachrztlichen Versorgung; – Erarbeitung der Prinzipien von Suizidprvention/Krisenintervention (z. B. Diagnostik und Management, Psychotherapie, Psychopharmakotherapie, frsorgliche Sicherung und Kontrolle, ambulante und stationre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung); – Langzeitbehandlung (Psychotherapie, Prophylaxe) bei Suizidalitt und psychischer Erkrankung.

Suizid aus klinischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht

27

Abschlussbemerkung Das heutige Verstndnis von Suizidalitt und suizidalem Verhalten ist weit gespannt und bezieht kulturell-gesellschaftliche, religiçse, juristische, medizinisch-psychosoziale Aspekte ein. Aus medizinisch-psychosozialer Sicht ist die Situation weitgehend eindeutig: Die meisten Suizide geschehen auf der Basis einer psychischen Erkrankung, der Anteil der Suizide ohne nachweisbare psychische Erkrankung liegt deutlich unter 10 %; diese Suizide sind im Krankheitskontext zu sehen und (meist) Ausdruck einer krankhaften Vernderung von Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Person, der Umwelt und Zukunft, oft mit tiefem, psychischem Schmerz verbunden, der nur noch den Weg in die Suizidalitt zulsst. Der Großteil von Suizidversuchen, vor allem der jngeren Menschen, ist im Kontext von Beziehungserfahrungen anzusiedeln und zeigt konsequenterweise deshalb interaktionelle Zge und eine hçhere berlebenschance; dies bedeutet nicht »Unklarheit« oder gar »Erpressung, Agieren, Hysterie«, sondern Unsicherheit der Beziehung. Die suizidale Handlung wird zum Mittel der Beziehungsgestaltung und des Versuchs der Beziehungssicherung. Die medizinisch-psychosoziale Suizidologie bezieht ihre Legitimation der Suizidprvention aus dem Wissen um krankhafte und krisenhafte Lebens- und Umweltsituationen des betroffenen suizidalen Menschen. Im Bereich psychischer Erkrankung und Suizidalitt steht dabei oft das individuelle, subjektiv kaum lçsbar erscheinende Leid derart im Vordergrund des Erlebens, dass dranghafte Suizidalitt mit hohem Handlungsdruck entsteht. Dem muss von therapeutisch-pflegerischer Seite mit schtzend-frsorglichem Handeln entgegen getreten werden.

28

Manfred Wolfersdorf

Literatur American Psychiatric Association (APA). (2003). Practice Guideline for the Assessment and Treatment of Patients with Suicidal Behaviours. American Journal of Psychiatry, 160 (11), S1–60. Croitoru, J. (2003). Der Mrtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats. Mnchen u. Wien: Hanser. Federn, P. (1929). Selbstmordprophylaxe in der Analyse. Z. Pschoanal. Pd. 3, 379–389. Jamison, K. R. (2000). Wenn es dunkel wird. Zum Verstndnis des Selbstmordes. Berlin: Siedler. Lind, V. (1999). Selbstmord in der Frhen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schonauer, K. (2007). Suizidalitt im interkulturellen Vergleich. In F. M. Wurst, R. Vogel, M. Wolfersdorf (Hrsg.), Theorie und Praxis der Suizidprvention (S. 120–125). Regensburg: Roderer. Willemsen, R. (2002). Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, Literarische Texte. Kçln: Kiepenheuer & Witsch. Wolfersdorf, M. (1995). Suizidalitt – Begriffsbestimmung und Entwicklungsmodelle suizidalen Verhaltens. In M. Wolfersdorf, W. P. Kaschka (Hrsg.), Suzidalitt – Die biologische Dimension (S. 1–16). Berlin u. Heidelberg: Springer. Wolfersdorf, M. (2000). Der suizidale Patient in Klinik und Praxis. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Wolfersdorf, M. (2006). Therapie der Suizidalitt. In H. J. Mçller (Hrsg.), Therapie psychischer Erkrankungen (S. 1144–1163). 3. Auflage. Stuttgart: Thieme. Wolfersdorf, M., Neher, F., Franke, C., Maurer, C. (2002a). Suizidalitt. Schizophrene und affektive Psychosen. In T. Bronisch, P. Gçtze, A. Schmidtke, M. Wolfersdorf (Hrsg.), Suizidalitt (S. 175–201). Stuttgart: Schattauer. Wolfersdorf, M., Franke, C., Maurer, C., Dobmeier, M. (2002b). Krisenuntervention bei Suizidalitt. In T. Bronisch, (Hrsg.), Psychotherapie der Suizidalitt (S. 16–29). Stuttgart u. New York: Thieme. Wolfersdorf, M., Wedler, H. (Hrsg.) (2002). Terroristen-Suizide und Amok. Roderer: Regensburg. Wolfersdorf, M., Franke, C. (2006) Suizidalitt. Suizid und Suizidprvention. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 74: 400–14. Wolfersdorf, M., Schmidtke, A. (2006). Suizidalitt. In U. Voderholzer, F. Hohagen (Hrsg), Therapie psychischer Erkrankungen (S. 261–267). Mnchen u. Jena: Urban & Fischer.

Thomas Schramme

Rationaler Suizid

In der philosophischen Literatur zum Suizid werden hauptschlich zwei Fragen diskutiert. Erstens, ob und unter welchen Umstnden versucht werden sollte, einen Suizid zu verhindern. Da es dabei um potentielle Eingriffe in die individuelle Handlungsfreiheit geht, welche den Suizidwilligen vermeintlich nutzen, deckt sich diese Diskussion zu einem großen Teil mit der Auseinandersetzung ber den Paternalismus. Zweitens wird erçrtert, ob und unter welchen Umstnden wir die Absicht eines Suizidenten verstehen und nachvollziehen kçnnen. Diese Debatte zielt auf mçgliche Erklrungen beziehungsweise Begrndungen des Todeswunsches. Ein dritter Diskussionsstrang betrifft die Definition des Suizids, auf den ich hier aber nicht weiter eingehen eingehen werde (siehe hierzu bes. Mayo, 1983). Die beiden genannten Probleme stellen sich unabhngig voneinander, auch wenn es berschneidungen gibt. Es ist sicherlich naheliegend, die Antwort auf die Frage, ob man einen Suizidenten gewhren lassen sollte, durch eine mçgliche Rechtfertigung des Todeswunsches beeinflusst zu sehen. Doch es ist gleichwohl nicht zwingend, eine Intervention allein deshalb abzulehnen, weil man den Willen zum Tode fr nachvollziehbar hlt. Umgekehrt ist es nicht allein deshalb obligatorisch, einen Suizid zu verhindern, weil wir die Entscheidung zum Tode nicht verstehen kçnnen. Die beiden Themen kçnnen entsprechend fr sich diskutiert werden, was hier auch geschehen soll. Zum ersten Themenkreis, der moralischen Frage nach der Begrndung von Suizidvermeidung, scheint es mir inzwischen mçglich, von einer vorherrschenden Sichtweise zu sprechen. Ich werde diese referieren, mich allerdings im eigenstndigeren Teil dieses

30

Thomas Schramme

Artikels auf das zweite Thema konzentrieren und dabei die Frage stellen, ob es einen rationalen Suizid geben kann und welche Charakteristika notwendig sind, um ihn als solchen auszuzeichnen. Um diese Frage zu klren, werde ich auf das mindestens genauso alte philosophische Problem Bezug nehmen, was den Tod zu einem bel macht.

Sollen wir versuchen, einen Suizid zu verhindern? Lange Zeit wurde der moralische Aspekt des Suizids in Bezug auf den Handelnden diskutiert, weniger die Frage der moralischen Legitimitt eines Eingreifens in die beabsichtigte Handlung. Es wurde gefragt, ob der Suizidwillige eine moralisch falsche Handlung zu begehen beabsichtigt. Diese Diskussion ist nahezu vçllig abgeebbt, da bestimmte Prmissen, die einer moralischen Verdammung des Suizids zugrunde liegen, nicht mehr allgemein fr gltig erachtet werden. Drei dieser Prmissen mçchte ich nennen (vgl. Birnbacher, 2006). Erstens, der Suizid kann als moralisch verwerflich gelten, wenn unser Leben als Eigentum Gottes angesehen wird. Man verstçßt demnach gewissermaßen gegen Gottes Ansprche, wenn man sein Leben »wegwirft«. Obwohl diese Argumentation hufig mit dem Christentum in Verbindung gebracht wird, taucht sie auch in anderen Zusammenhngen auf, etwa in Sokrates’ Beweisfhrung gegen den Freitod im »Phaidon«. Die gleiche Argumentation findet sich beispielsweise auch bei John Locke (vgl. Lohmar, 2006). Hier sei eine kurze Bemerkung erlaubt, da Sokrates’ ablehnende Einstellung zum Suizid verwundern mag. Schließlich, so kçnnte argumentiert werden, trinkt er selber den Schierlingsbecher. Doch auch wenn Sokrates sich – »technisch« gesehen – selbst tçtet, indem er Gift trinkt, so ist doch deutlich, dass er nicht suizidal ist, da ihm der Wille zu sterben abgeht. Insofern kann argumentiert werden, dass er zwar freiwillig handelt, wenn er den Becher leert, dass er dies aber nicht aufgrund einer autonomen Entscheidung tut, da es nicht sein Wunsch ist zu sterben. Vielmehr ist er zum

Rationaler Suizid

31

Tode verurteilt worden und er fgt sich dem Urteil. Insofern ist die Todesart ein rein technischer Aspekt (vgl. aber Frey, 1978). Jedenfalls ist die Prmisse, unser Leben sei fremdes Eigentum, heutzutage kaum noch nachvollziehbar (so bereits Hume, 2000). Sie ist außerdem selbst keiner rationalen Begrndung zugnglich, sondern gerade auf den Glauben an Gott angewiesen. Da moralische Urteile aber strkeren Begrndungsansprchen ausgesetzt sind als bloße Glaubensurteile, berzeugt diese Argumentation nur noch wenige (zu religiçsen Argumenten gegen den Suizid s. Battin, 1982; Biggar, 2004). Zweitens kann der Suizid als ein Verstoß gegen moralische Pflichten gegen sich selbst verstanden werden. Immanuel Kants verdammendes Urteil beruht auf dieser Argumentation (Kant, 1797/1968, II., §§ 1–22). Ein grundstzliches Problem der Rede von Pflichten gegen sich selbst liegt allerdings in der Personalunion von Verpflichtendem und Verpflichteten und der damit einhergehenden mçglichen Entbindung von der unterstellten Pflicht. Wenn ich sterben will, dann kçnnte ich mich selbst von der Pflicht zur Erhaltung meines Lebens lossprechen. Kant sieht dieses Problem selbst und lçst es, indem er die Personalunion entzweit und das Vernunftwesen (homo noumenon ) vom Sinnenwesen (homo phaenomenon ) unterscheidet. Eine Person kann demnach als menschliches Vernunftwesen sich selbst als Sinnenwesen verpflichten. Dass diese Voraussetzung der Pflichten gegen sich selbst kaum berzeugt, liegt wohl auf der Hand. Doch werfen wir einen genaueren Blick auf Kants Argumentation gegen den Suizid. Der Mensch als autonomiefhiges Wesen ist Kant zufolge ein Zweck in sich selbst. Darauf grndet sich die Pflicht eines jeden, andere moralisch zu achten, sie beispielsweise nicht zu qulen. Gleichzeitig verbietet diese Eigenschaft des eigenen Daseins, nmlich Zweck in sich zu sein, der Person, ihr Leben zu beenden, um andere Zwecke zu erreichen, wie etwa die Verteidigung der persçnlichen Ehre oder die Vermeidung von Schmerzen. Dabei wrde sie sich selbst zu einem bloßen Mittel fr ihre Zwecke machen, was Kant zufolge einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Allerdings ist diese Interpretation des kategorischen Imperativs, das Instrumentalisierungsverbot, schwierig anzuwenden, da unklar

32

Thomas Schramme

bleibt, ob man sich bei einem Suizid tatschlich bloß als Mittel gebraucht. Ja, es ist sogar schwer zu verstehen, wie man sich selbst berhaupt als Mittel gebrauchen kann. Natrlich benutzt man den eigenen Kçrper gewissermaßen als Instrument, um seine Ziele zu erreichen. Aber wenn man aufgrund seines eigenen Willens handelt, ist es schwierig, hierin ein moralisches Problem zu sehen. Kant argumentiert bisweilen auch so, dass er die beabsichtigte Beendigung des eigenen Lebens als einen Verstoß gegen die Bedingungen der Moralitt ansieht. Dieses Argument beruht auf der Annahme einer selbstbezogenen Pflicht, die moralische Handlungsfhigkeit beziehungsweise die moralische Autonomie zu erhalten. Doch woher soll dieser Auftrag kommen? Er kann nicht von uns selbst herrhren, unserem eigenen Interesse entstammen, denn in diesem Fall kçnnten wir uns von dieser Pflicht wiederum selbst entbinden. Kant sieht ihre Quelle in einem Zweck der menschlichen Natur. Doch solche naturteleologischen Argumente sind unter modernen Bedingungen der Wissenschaftlichkeit nur schwer zu sttzen. Wir wissen, dass in der Natur keine zweckhaften Ablufe nachzuweisen sind, auch wenn es uns bisweilen so erscheint. Kants Argumentation zugunsten von Pflichten gegen sich selbst wird aus den genannten Grnden heutzutage kaum noch vertreten (vgl. aber Timmermann, 2006). Drittens kann argumentiert werden, ein Suizid richte sich gegen die Heiligkeit des menschlichen Lebens, die es zu schtzen gelte. Sein Leben zu beenden hieße demnach, die Unverletzlichkeit dieses Werts zu missachten. Wie schon die erste Argumentation leidet diese an einer ungedeckten Prmisse, nmlich der angeblichen Heiligkeit des Lebens. Wenn darunter nicht mehr als der intrinsische Wert eines jeden menschlichen Lebens verstanden wird, also ein Wert, der im Leben selbst liegt, dann fragt sich, ob damit jeder Suizid zu verurteilen wre. Den Eigenwert seines Lebens kann der Suizidwillige nmlich durchaus zugestehen, nur ordnet er diesen Wert anderen Werten – wie beispielsweise Leidensfreiheit – unter. Die Rede von der Heiligkeit des Lebens msste demnach als kategorischer Wert verstanden werden; dass also jedes vorzeitige Beenden des Lebens ein Verletzen dieses Werts darstellte und dieser nicht einfach gegen andere aufgerechnet werden drfe. Unabhn-

Rationaler Suizid

33

gig von der Schwierigkeit, die Quelle eines solchen Werts auszumachen, ohne erneut auf religiçse oder naturteleologische Prmissen zurckzugreifen, stellt sich die Frage, ob dem biologischen Leben, der bloßen Existenz, dieser kategorische Wert tatschlich zukommen kann. Die Werthaftigkeit muss wohl eher dem persçnlichen, gelebten Leben zukommen; doch diese Interpretation fhrt wiederum zu einer Auffassung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens, die durch einen Suizid nicht zwingend hinterfragt wird. Im Gegenteil, gerade Ideale oder Projekte, die den Wert des personalen Lebens ausmachen, kçnnen einen Todeswunsch hervorrufen, beispielsweise bei einer Person, der Unabhngigkeit ein Herzensanliegen ist und die nun Gefahr luft, durch eine degenerative Erkrankung von der Pflege anderer abhngig zu werden. Die moralische Verdammung des Suizids wird nicht nur deshalb kaum noch vertreten, weil diese drei Argumentationen scheitern, sondern auch, weil der Wert der individuellen Selbstbestimmung in der Moderne vorherrschend geworden ist. Als potentiell moralisch problematisch gelten grundstzlich nur Handlungen, die Interessen anderer tangieren kçnnen. Hingegen sind freiwillige Handlungen, die bloß selbstschdigenden Charakter besitzen, weitgehend freigestellt. Nun kann ein Suizid durchaus fr andere Menschen einen Schaden bedeuten, beispielsweise wenn die abhngigen Kinder dadurch in Not geraten. Unter diesen Umstnden kann also ein Suizid durchaus als moralisch verwerflich gelten, nur ist es dann nicht das Nehmen des Lebens an sich, was moralisch gesehen problematisch ist, sondern das potentielle Vernachlssigen der speziellen Pflichten gegenber abhngigen Personen. Liegen diese besonderen Umstnde nicht vor, dann kann ein Suizid auch nicht als moralisch falsch gelten. Zwar kçnnte man versuchen, die Trauer und mçglicherweise Wut der zurckbleibenden Freunde und Angehçrigen als mçglichen Schaden zu interpretieren, der durch einen Suizid hervorgerufen wird. Doch daraus kann man wohl keine generelle Erlaubnis zum Eingreifen ableiten, will man den Wert der Selbstbestimmung wirklich ernst nehmen. Und selbst wenn andere Personen durch einen Suizid Schaden erleiden kçnnten, msste man diesen gegenber dem Schaden abwgen, der dem Suizidwilligen durch paternalistisches Eingreifen zugefgt wrde.

34

Thomas Schramme

Fairbairn (1995) beispielsweise interpretiert den Schock und die Erschtterung der Personen, die einen toten Suizidenten finden, als Schaden, der den Suizid selbst moralisch tadelnswert macht (auch wenn er dem Suizidenten gleichwohl ein Recht zum Suizid zugesteht). Mir scheint dieses Argument wenig plausibel, da es die emotionale Reaktion anderer zum Kriterium der moralischen Bewertung macht. Wir wrden wohl kaum in analogen Fllen Piercings oder gravierende Kçrpermodifikationen fr unmoralisch erklren, nur weil sie bei Betrachtern zu Schockerlebnissen fhren kçnnen. Darber hinaus ergeben sich natrlich unterschiedliche Auswirkungen aufgrund der gewhlten Methode der Selbsttçtung und der persçnlichen Nhe zum Toten. Einen Fremden aufzufinden, der sich durch Medikamentenberdosis ums Leben gebracht hat, wird zweifelsohne im Normalfall weniger gravierende Erschtterungen hinterlassen, als mitzuerleben, wie sich ein guter Freund vor die U-Bahn wirft. Wesentlicher erscheint mir aber, dass die erwhnte Erschtterung eine kaum zu verhindernde Folge eines als solchen moralisch erlaubten Tuns ist. Grundstzlich gesprochen kçnnen schdliche Konsequenzen diese Handlungen sicherlich gleichwohl moralisch falsch werden lassen, allerdings nur, wenn diese Folgen in einer Abwgung berwiegen. Fr die meisten Flle von beabsichtigtem Suizid scheint mir diese Abwgung gegen eine moralische Verurteilung zu sprechen. Die vorherrschende Meinung besagt also, dass ein paternalistisches Eingreifen in selbstbestimmte Handlungen der Rechtfertigung bedarf. Es besteht eine Prsumtion fr die individuelle Freiheit zu tun was man will, gegen die sich paternalistische Bestrebungen zu stemmen haben. Natrlich impliziert die Respektierung der Freiheit nicht, automatisch alles zuzulassen, was jemand gerne tun mçchte. Wie bereits erwhnt, sind beispielsweise potentielle Schdigungen anderer zu bercksichtigen. Darber hinaus existieren andere guten Grnde fr Prvention: Ein Suizidversuch kann nmlich aufgrund falscher Informationslage geschehen, etwa wenn sich jemand schwer erkrankt whnt, aber kerngesund ist. Der Wunsch zu sterben kann außerdem durch fehlerhaftes Denken verursacht sein, beispielsweise wenn jemand glaubt, durch seinen Tod die Snden anderer reinwaschen zu kçnnen; ein Suizid

Rationaler Suizid

35

kann auch schlicht unberlegt sein, etwa wenn sich ein vom Freund verstoßener Jugendlicher von einer Klippe strzt. Welche moralischen oder solidarischen Rechte und Pflichten haben wir also als Außenstehende gegenber Suizidwilligen? Drfen oder mssen wir sie vielleicht sogar von ihrem Vorhaben abbringen? Drfen wir dabei unter Umstnden auch Zwang verwenden? Oder mssen wir gar – umgekehrt – Suizidwillige untersttzen, damit sie ihr Ziel erreichen kçnnen? Es ist diese Diskussion, die unter dem Stichwort des Paternalismus seit einigen Jahren diskutiert wird, insbesondere in der Medizinethik. Wenn ein Suizid tatschlich keiner anderen Person ernsthaften Schaden zufgen wrde und daher diese Form der Rechtfertigung einer Intervention verschlossen ist, bleibt also gleichwohl die Mçglichkeit, dass die individuellen Fhigkeiten zur Selbstbestimmung des Suizidwilligen gar nicht oder nur eingeschrnkt vorliegen. In diesen Fllen wre ein paternalistisches Eingreifen offensichtlich zu rechtfertigen. An dieser Stelle wird in der medizinethischen Diskussion der Begriff der Autonomie ins Spiel gebracht. Nur solchen Entscheidungen zum Tode ist Folge zu leisten, die autonom, im Sinne einer informierten Zustimmung geschehen. Dazu sind bestimmte formale Kompetenzen vonnçten, wie die Fhigkeit, Informationen verstehen, berlegen, bewerten, abwgen und sich entscheiden zu kçnnen. Den Todeswunsch eines inkompetenten Menschen, der also diese Entscheidung nicht urteilsfhig treffen kann, muss man nicht unbedingt Folge leisten. Sicherlich treten noch Bedingungen der Informiertheit und der Freiwilligkeit hinzu, wenn es um die informierte Zustimmung geht. Entsprechend muss beispielsweise ein durch eine Drohung erzwungener Todeswunsch genauso wenig respektiert werden wie einer, der auf fehlenden oder falschen Informationen beruht. Dies sind, wie die Kompetenzkriterien auch, formale Bedingungen, die erfllt sein mssen, um von einer autonomen Entscheidung zum Tode sprechen zu kçnnen. Obwohl gerade die Freiwilligkeit schwierige Fragen aufwirft, werde ich im Folgenden diesen Aspekt vernachlssigen. Mir reicht die meines Erachtens unmittelbar eingngige Annahme, dass ein Todeswunsch nicht grundstzlich aufgrund von inneren oder ußeren Zwngen gebildet wird, dass es

36

Thomas Schramme

also genuin freie Entscheidungen zum Tode geben kann. Weder sind alle Suizidwilligen psychisch krank noch werden sie alle von anderen zum Suizid verleitet. Ja, man kann sogar mit guten Grnden behaupten, dass selbst psychisch Kranke zu freien Entscheidungen zum Tode in der Lage sind (Hewitt u. Edwards, 2006). Dass eine Todesabsicht hufig durch ußere Umstnde wie beispielsweise eine schwere Erkrankung beeinflusst ist, ndert als solches jedenfalls nichts an ihrer Freiwilligkeit. Diese Kriterien der Kompetenz sind natrlich nicht unumstritten und es ist außerdem sehr schwierig, in Einzelfllen festzustellen, ob sie von einer bestimmten Person erfllt werden. Dennoch, sie zeichnen anhand rein formaler Kriterien Prozesse der berlegung als autonome Entscheidungen aus. Es ist keineswegs von vornherein ausgeschlossen, dass am Ende eines solchen Prozesses das Urteil steht, dass man sterben mçchte. Und diese Entscheidung gilt es dann fr andere anzuerkennen. Im medizinethischen Kontext heißt das blicherweise, die Entscheidung des Patienten anzuerkennen, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten. In unserem Problemhorizont lautet nun die Frage, ob auch der Entschluss einer Person, ihrem Leben aktiv ein Ende zu setzen, respektiert werden muss, wenn er den genannten Kompetenzkriterien gengt. Die Frage muss meines Erachtens deutlich bejaht werden, denn moralisch gesehen besteht kein Unterschied zwischen dem Tod, der durch Unterlassen von medizinischen Interventionen eintritt, und dem Tod, der durch eigenes Handeln erfolgt. Die Tatsache, dass wir passive Sterbehilfe zulassen, also die Entscheidung zum Tode respektieren, muss uns konsistenterweise dazu verpflichten, den Suizid grundstzlich fr moralisch zulssig zu erachten – solange er den genannten Kriterien der autonomen Entscheidung gengt. Nicht nur in normativer Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen passiver Sterbehilfe und dem Zulassen eines Suizids, sondern auch in begrifflicher Hinsicht kann die hnlichkeit der Flle dokumentiert werden, weil letztlich das Gewhrenlassen des Sterbens aufgrund einer informierten, autonomen Entscheidung einem Suizid durch Unterlassen gleichkommen kann. Schließlich kçnnte in vielen Fllen der Tod problemlos abgewendet werden, und daher verschwindet der Unterschied zwi-

Rationaler Suizid

37

schen dem aktiven Herbeifhren des eigenen Todes und dem Sterbenlassen. In Alltagsauffassungen ist ein Suizid meist an aktives Tun gebunden, das heißt, nur wenn sich jemand durch eigenes Zutun tçtet, gilt die besagte Handlung als Suizid. Doch gibt es durchaus eine Reihe von Beispielen, in denen Menschen sich nicht selbst tçten, aber dennoch einen Suizid begehen. Ein Lebensmder, der einen Polizisten angreift, um von ihm erschossen zu werden, oder der sich in ein Lawinengebiet begibt, um von einer Lawine begraben zu werden, bringt sich zwar nicht selbst ums Leben, vollzieht aber dennoch einen Suizid. Natrlich kommt nicht jeder Fall des Sterbenlassens aufgrund einer zurckgewiesenen Behandlungsoption einem Suizid durch Unterlassen gleich. Der Wunsch zu sterben gehçrt fr mein Verstndnis notwendig dazu. Ein Beispiel: Wenn ein Zeuge Jehovas eine lebensnotwendige Bluttransfusion zurckweist, handelt er nicht aufgrund eines Todeswunsches, sondern aus Respekt vor gçttlichen Geboten. Entscheidend fr einen Suizid ist also der Wunsch, zu Tode zu kommen und die Mçglichkeit, den Tod zu verhindern oder zumindest zu verzçgern, nicht die Todesart. Der Unterschied zwischen einem Fall, in dem ein Patient seiner Krankheit ihren Lauf lsst und keine medizinischen Interventionen mehr zulsst, und einem Fall, in dem ein Lebensmder sich umbringt, ohne direkt vom Tode bedroht zu sein, besteht darin, dass im ersten Fall viele den Todeswunsch fr nachvollziehbar halten, im zweiten nicht. Diesen vermeintlichen Unterschied gilt es im Weiteren nher zu beleuchten. Fr die Frage der Rechtfertigung einer Intervention spielt dieser Unterschied aber keine Rolle. Wenn eine Entscheidung, und sei sie noch so wenig nachvollziehbar, autonom getroffen wurde, dann muss sie respektiert werden. Unser fehlendes Verstndnis fr den Todeswunsch einer anderen Person mag uns ein Indiz einer mçglichen Inkompetenz dieser Person sein, diese Entscheidung zu treffen. Doch darf unser Unverstndnis nicht zum Kriterium der Inkompetenz werden. Autonomie zeigt sich nicht anhand des Inhalts der Entscheidung, sondern im Prozess der Urteilsfindung. Aus all dem hier Gesagten folgt natrlich keineswegs eine

38

Thomas Schramme

Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe oder der Beihilfe zum Suizid. Es ist nur gezeigt worden, dass wir unter den Prmissen der modernen Moraltheorie eine kompetente Entscheidung zum Tode akzeptieren mssen und eine andere Person nicht gegen ihren Willen im Leben halten drfen. Zu diesem Argumentationsschritt wre zweifelsohne mehr zu sagen, doch fehlt hier dazu der Raum. Sicherlich ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Willen des Suizidenten durchaus mçglich. Doch jemanden, der sich autonom fr den Tod entscheidet, per Zwang im Leben zu halten, ist selbst unmoralisch. Daraus folgt aber nicht, dass wir verpflichtet wren, ihm bei diesem Vorhaben zu helfen. Allerdings bin ich der Meinung, dass man auch diesen Argumentationsschritt durchaus rechtfertigen kçnnte, denn schließlich haben wir Hilfspflichten gegenber anderen Personen, die fordern, ihnen in Notsituationen zu helfen. Kçnnte es nicht eine solche Notsituation sein, sich nicht selbst ums Leben bringen zu kçnnen? An dem hier verteidigten Vorrang der formal verstandenen Autonomie vor anderen Gesichtspunkten wie dem Lebenserhalt hat sich in letzter Zeit vermehrt Kritik entzndet. Zum einen ist fraglich, warum der Selbstbestimmung ein solch hoher Wert zugesprochen werden muss beziehungsweise warum wir den Paternalismus fr so problematisch halten sollten. Zum anderen ist kritisiert worden, dass Autonomie nicht nur anhand der genannten Kriterien der Kompetenz, der Informiertheit und der Freiwilligkeit bemessen werden kçnne, sondern mehr erfordere, nmlich eine bestimmte Art des Vernunftgebrauchs. Die mangelnde Begrndbarkeit eines Todeswunsches wrde hier den Ausschlag geben kçnnen. Es kçnnte sich also zeigen, dass uns mit einem strker aufgeladenen Autonomiebegriff eben doch die Berechtigung in die Hand gespielt wird, Suizidversuche zu unterbinden, soweit es in unserer Macht steht. Ich mçchte im Folgenden zwar nicht diese Kritik am vermeintlich verkrzt verstandenen Autonomiebegriff thematisieren, aber zur Frage der Nachvollziehbarkeit beitragen, indem ich das Problem der Rationalitt eines Suizids angehe.

Rationaler Suizid

39

Kçnnen wir die Entscheidung zum Suizid verstehen? Besonders verstndliche Entscheidungen zum Tode liegen da vor, wo jemand mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unertrgliche Leidenszeit zu erwarten hat, paradigmatisch im Fall einer schweren Erkrankung. Auch wenn einige der Meinung sind, man drfe nicht deshalb schon einen Suizid dieser Person zulassen, so sei doch der Wunsch zu sterben verstndlich, ja sogar mçglicherweise gutzuheißen, weil der Tod im Interesse des Betroffenen sei. Erneut kann beispielhaft darauf verwiesen werden, dass in unserer Kultur der großen Akzeptanz des Sterbenlassens eine ebenso große Ablehnung des Suizids durch aktives Tçten entgegensteht. Die Grundlage fr unser Verstndnis liegt in der zu erwartenden oder bereits vorhandenen schlechten Lebensqualitt eines Suizidwilligens. Der Tod erscheint hier wie eine Erlçsung. Einige sprechen in diesen Fllen von »Bilanzsuizid«, da die Abwgung der Aspekte des derzeitigen Lebens negativ ausfllt. Insofern erscheint die Entscheidung zum Tod auch durchaus rational. Diese verbreitete Sichtweise ist allerdings erklrungsbedrftig; einige Implikationen sind in ihr versteckt, die nicht ohne weiteres berzeugen. So ist zunchst einmal unklar, wie man den Begriff der Lebensqualitt verstehen soll. Geht es um das bewusst erlebte Leiden, das den Todeswunsch verstndlich macht, oder um die objektiven Einschrnkungen durch eine Erkrankung? Ist Ersteres gemeint, dann handelt es sich um einen rein subjektiven Begriff der Lebensqualitt, und man wrde sich fragen, ob dann nicht generell der Todeswunsch anderer nachvollziehbar sein msste, denn fr den Suizidwilligen ist das Leben gewissermaßen per definitionem unertrglich, sonst htte er den Todeswunsch ja nicht. Wir halten aber dieses subjektiv erlebte Leiden nicht in jedem Fall fr hinreichend, den Todeswunsch zu rechtfertigen oder nachvollziehbar zu machen. Versteht man hingegen die Lebensqualitt in objektiver Weise als Eingeschrnktheit, dann muss man sich fragen, warum man dann nicht den fehlenden Todeswunsch unverstndlich findet, wenn dieselben Bedingungen vorliegen. Meines Erachtens kann man diese vermeintlichen Inkonsistenzen in unseren Urteilen zum einen damit erklren, dass wir ge-

40

Thomas Schramme

neigt sind, uns mit dem Betroffenen zu identifizieren und uns zu fragen, ob wir in seiner Situation genauso fhlen oder entscheiden wrden. Ergeben sich hier Konflikte, kommt zum anderen eine implizite Norm des Leidens zum Tragen, die festlegt, welche Einschrnkungen als ertrglich gelten kçnnen und welche nicht. Wir akzeptieren durchaus, dass einige Menschen viel Leid ertragen kçnnen, doch scheinen wir umgekehrt es fr unverstndlich zu halten, wenn jemand einen Zustand, welcher der allgemeinen Norm zufolge als ertrglich gelten kann, durch Selbsttçtung aus dem Weg gehen will. Dass er diesen Zustand unertrglich findet, wird nicht als Begrndung fr den Todeswunsch gelten gelassen. Es liegt wohl auf der Hand, dass beide impliziten berlegungen problematisch sind. Weder sollten wir die Verstndlichkeit einer Todesabsicht von unseren Stellvertreterurteilen abhngig machen – es geht nicht um unser Urteil – noch die subjektive Leidensfhigkeit einem Standard unterwerfen. Entscheidungen zum Suizid sind individuelle und persçnliche Entschlsse, die einer Normierung nicht zugnglich sind. Auch hier gilt wiederum, dass man einen Todeswunsch unter vermeintlich objektiv lebenswerten Umstnden (»Dir geht’s doch gut, stell dich nicht so an!«) als Indiz einer formalen Denk- oder emotionalen Stçrung, beispielsweise einer klinischen Depression, ansehen kann. Doch falls diese ausgeschlossen ist, kann man nicht einfach weiterhin die objektiven Lebensbedingungen einer Person zum Kriterium dafr nehmen, ob ihr Todeswunsch begrndet ist oder nicht. Ein weiteres, grundlegendes Problem der Vorstellung, der Tod kçnne in Situationen schwerwiegenden Leidens eine Wohltat darstellen, liegt in der fehlenden Mçglichkeit, ihn selbst in eine Kalkulation einzubeziehen. Die genannte Bewertung scheint zu unterstellen, dass man den Tod gewissermaßen als Nullpunkt auf einer Leidensskala verorten kann, wohingegen das gegenwrtige oder zu erwartende Leben unterhalb des Nullpunkts rangiert. Denn wie sollte sonst durch den Tod eine Verbesserung des Zustands – eine Wohltat – geschehen? Doch ist das berhaupt eine angemessene Sichtweise? Kann man das derzeitige Leben sinnvoll mit einem Zustand vergleichen, in dem man tot ist? Kann das Leben einen negativen Wert annehmen?

Rationaler Suizid

41

Ob und inwiefern der Tod ein bel darstellt und ob man einen Zustand, in dem man existiert, mit einem, in dem man nicht existiert, in Relation setzen kann, diskutiert die Philosophie seit Jahrtausenden. Ich mçchte zeigen, wie die Beschftigung mit diesen klassischen philosophischen Fragen aus mancher der bereits angedeuteten Sackgassen herausfhrt, die den Wunsch, nicht mehr weiterzuleben, umgeben. Es wird sich zeigen, dass die einer rationalen Suizidabsicht zugrunde liegende berlegung nicht von einer komparativen Sichtweise, einer Art Bilanzierung, geprgt sein muss, in der das Leben mit dem Tod verglichen wird, sondern in einer absoluten Perspektive auf das eigene derzeitige und prospektive Leben bestehen kann, in der es als sinnlos angesehen wird. Warum ist der Tod ein bel und das Leben ein Gut fr den Menschen? Gemeint ist mit dieser Frage, ob der Tod fr den vom Tod Betroffenen selbst schlecht ist, nicht, ob er fr Angehçrige, Freunde oder andere ein bel darstellt. Das Letztere ist ohne weiteres einleuchtend, das Erstere schwieriger zu zeigen, wie wir gleich sehen werden. Es ist im brigen auch nicht danach gefragt, ob der Sterbeprozess mit mçglicherweise einhergehenden Schmerzen fr den Betroffenen ein bel darstellen kann. Das wre eine triviale Frage. Zweifelsohne ist der Tod der Alltagsmeinung zufolge eines der schlimmsten bel fr den Menschen, doch gleichzeitig fragt sich, wie ein Ereignis schlecht fr uns sein kann, das wir gar nicht bewusst erleben kçnnen, da wir ja dann definitionsgemß nicht mehr leben. Natrlich gibt es Menschen, die an ein bewusst erlebtes Fortleben glauben. Doch will ich mich hier argumentativ auf der Grundlage dessen bewegen, was wissenschaftlich oder argumentativ geprft werden kann. Und tatschlich hatte Epikur bestritten, dass der Tod ein bel fr uns ist, weil er uns »nicht betrifft« (Epikur, 2000, S. 43; vgl. Warren, 2004). Seine Argumentation nutzt die weithin akzeptierten Prmissen aus, dass wir, wenn wir tot sind, kein Bewusstsein mehr besitzen und bel fr uns notwendigerweise erlebbar sein mssen. Epikurs Herausforderung kann auf mindestens zwei Arten begegnet werden. Erstens kann man seine Argumentation akzeptieren, aber festhalten, dass wir ja nicht wissen wollten, ob das Tot-

42

Thomas Schramme

Sein – der Zustand, in dem ein menschlicher Organismus sich nach seinem Ableben befindet – fr uns ein bel ist, sondern ob der Tod – das Ereignis unseres Lebensendes – schlecht fr uns ist. Zweitens kann Epikur gegenber darauf hingewiesen werden, dass der Tod die Verfolgung der guten Dinge des Lebens fr uns unmçglich macht. Der Tod ist demnach nicht positiv gesehen fr uns schlecht, in dem Sinne, dass wir ihn beispielsweise als unangenehm empfinden kçnnten, sondern negativ, weil er uns etwas nimmt, nmlich die praemia vitae, wie sie in der Tradition genannt werden (Nagel, 1984; Williams, 1978). Thomas Nagel (1984) hat außerdem den Einwand hervorgebracht, entgegen Epikurs Prmisse kçnnten bestimmte Ereignisse durchaus schlecht fr uns sein, auch wenn wir sie nicht als bel empfinden. Ein Mensch beispielsweise, der einen schweren Unfall erleide, durch den er auf die kognitiven Fhigkeiten eines Suglings zurckgeworfen wird, erleide durchaus einen Schaden, wenn er ihn aufgrund seiner Verletzung auch nicht als solchen wahrnehme. Dieses Gegenbeispiel scheint aber Epikurs Argument nicht zu treffen, weil es ihm darum ging zu zeigen, dass solche Zustnde nicht schlecht fr uns sein kçnnen, in denen prinzipiell kein Bewusstsein mehr vorhanden ist. Es geht also nicht um die Frage, ob der Betroffene de facto etwas als bel erlebt, sondern ob es berhaupt als solches erlebbar ist (Rosenbaum, 1986). Das Tot-Sein ist nach einer der Prmissen Epikurs, die wiederum von Nagel und vielen anderen geteilt wird, nicht erlebbar. Gegen Epikur kann also festgehalten werden, dass der Tod durchaus als bel gelten kann, wenn er auch nicht unter allen Umstnden als solches gelten muss. Die guten Dinge des Lebens machen es lebenswert; kçnnen sie nicht mehr erreicht werden, so das Argument, verliert das Leben den Wert gelebt zu werden und der Tod damit sein Charakteristikum, ein bel zu sein (Brandt, 1992; Feldman, 1992; McMahan, 2002). Diese Vorstellung passt zu der vorher geschilderten berzeugung, es kçnnte Situationen geben, in denen es fr jemand besser wre, tot zu sein als weiterzuleben. Doch mit dieser Argumentation wiederholt sich das Rtsel: Wie kann ein Zustand besser sein, in dem gar keine Person existiert? Wie sollen wir der Relation zwischen Leben und Tod Sinn verleihen?

Rationaler Suizid

43

Die von uns erreichte argumentative Situation ist nach wie vor unbefriedigend. Um einen mçglichen Suizid als nachvollziehbar oder gar rational zu bezeichnen, msste offenbar gezeigt werden, auf welche Weise der Tod zur Verbesserung der Situation einer Person beitragen kçnnte. Zwar wurde eine Erklrung gefunden, warum der Tod fr uns ein bel sein kann und auch hufig tatschlich ist, nmlich weil er uns der guten Dinge des Lebens beraubt. Aber es konnte nicht gezeigt werden, inwiefern der Tod fr uns gut sein kann, denn selbst wenn uns die praemia vitae nicht zugnglich sind, heißt das weder, dass das Leben ohne die guten Dinge einen negativen Wert htte, noch, dass der Tod gut fr eine Person mit diesem Leben wre. Das Leben ohne die guten Dinge des Lebens ist eben einfach nicht so gut wie ein sonst gleiches Leben mit ihnen. Es ist nicht deshalb schon ein Leben mit negativem Vorzeichen. Was uns also nach wie vor fehlt ist eine schlssige Begrndung des Wunsches, dem Leben ein Ende zu setzen. Eine gute Rechtfertigung wre der Hinweis, dass es dem Suizidwilligen durch seinen Tod besser gehen wird; doch genau das scheint eine geradezu unsinnige Behauptung, weil der Vergleich zwischen dem jetzigen Leben einer Person und der Situation, in der sie sich befinden wird, wenn sie tot ist, unmçglich erscheint (Devine, 1990). Mir geht es, nebenbei bemerkt, mit diesem Argument nicht um die vermeintliche Unmçglichkeit, sich den eigenen Tod vorzustellen, sondern um seine fehlende Bewertbarkeit beziehungsweise evaluative Vergleichbarkeit. Daher treffen bestimmte Gegenargumente hier nicht zu (vgl. z. B. Mayo, 1983, S. 321; Benn, 1993). Kann man nicht sagen, dass der Tod gegenber schwerwiegenden, dauerhaften Leiden das geringere bel ist und er daher unter bestimmten Umstnden gut fr einen Menschen sein kann? Ein Suizid wre unter diesen Bedingungen rational, weil er (schlimmeres) bel verhindert (Battin, 1982, S. 143). Auch wenn diese Sichtweise der alltglichen Auffassung und auch Redeweise sehr nahe kommt, scheint sie mir die genannten Schwierigkeiten nach wie vor zu enthalten. Es ist zweifelsohne richtig festzustellen, dass der Tod Leid beendet. Und es ist weiterhin eingngig, dass Leid unertrglich fr den Betroffenen sein und die einzige Mçglichkeit, es (schnell) zu beenden, darin bestehen kann, sich das Leben zu

44

Thomas Schramme

nehmen. Aber es ist nicht mçglich, sinnvoll zu behaupten, der Tod sei weniger schlimm als dieses Leid, denn der Tod ist keine Grçße, die sich vergleichen ließe. Und daher kommen wir in der Argumentation so nicht weiter. Doch ich glaube, dass der Schlssel zu einer besseren Erklrung des rationalen Suizids uns eigentlich schon vorliegt, denn wir hatten bereits gesehen, dass der Suizidwillige seine augenblickliche Situation als unertrglich ansieht. Entgegen der vorher genannten Analyse muss sein Todeswunsch aber nicht so verstanden werden, dass der Tod deshalb als solcher gut fr ihn wre oder es relativ gesehen besser fr ihn wre, tot zu sein. Der Tod ist fr ihn einfach ein Mittel, eine unertrgliche Situation zu beenden, er wird also nicht notwendigerweise selbst gutgeheißen oder abgewogen. Der Wunsch, sein Leben zu beenden, muss außerdem keineswegs die unplausible Prmisse enthalten, das eigene Leben habe einen negativen Wert oder seine Qualitt rangiere unterhalb einer Norm. Ja, der Todeswunsch muss gar keine Evaluation der eigenen Lebensqualitt implizieren, sondern kann ganz einfach als Ergebnis eines Urteils ber den Sinn des eigenen Lebens beziehungsweise ber dessen Abwesenheit erklrt werden (vgl. Tugendhat, 2001). Den Sinn des Lebens zu verlieren kann heißen, gelangweilt vom Leben zu sein, Beziehungen eingebßt zu haben, die das eigene Leben definieren, keine bergreifenden Ziele mehr zu besitzen, Projekte oder »kategorische Wnsche« (Williams, 1978) zu verfolgen oder im aktuellen Lebensvollzug weit von den eigenen Idealen abzufallen. Ein rationaler Suizid liegt dann vor, wenn jemand sich tçtet, der seinem Fortleben keinen Sinn mehr verleihen kann. An dieser Formulierung wird sich vermutlich Widerspruch entznden. Msste es nicht heißen: Ein rationaler Suizid liegt dann vor, wenn jemand sich tçtet, der seinem Fortleben zu Recht keinen Sinn mehr verleihen kann? Schließlich stellt die Auszeichnung der Rationalitt normative Ansprche, die es einzuhalten gilt. Doch meines Erachtens wrde die genannte Formulierung eine uneinlçsbare Forderung stellen, denn woher sollte der bençtigte Maßstab stammen? Ob jemand zu Recht sein Leben als sinnlos ansieht und auch in der Zukunft keine Hoffnung sieht, ihm neuen Sinn zu verleihen, ist selbst eine sinnlose Frage, denn nur die Person

Rationaler Suizid

45

selbst kann darber bestimmen. Es gibt nicht den Sinn des Lebens, den es zu entdecken glte und an dem man sein tatschlich gelebtes Leben messen kçnnte, sondern nur einen Sinn fr eine bestimmte Person (zu einer bestimmten Zeit), den sie ihrem Leben selbst verleiht oder entzieht. Natrlich sollen dabei die bereits im ersten Teil dieses Artikels genannten formalen Bedingungen der autonomen berlegung gewhrleistet sein; diese sichern auch die Rationalitt des Urteils. Wenn aber nach entsprechender kompetenter berlegung dem eigenen Leben noch nicht einmal ein wenigstens potentieller Sinn zugesprochen wird, dann kann der Todeswunsch als rational gelten. Susan Wolf (1997) ist der Meinung, dass man zwischen bedeutungsvollen (bzw. -volleren) und sinnlosen Weisen, sein Leben zu fhren, unterscheiden kann, indem man einen objektiven Maßstab des werthaften Ttigseins (worthwhile activity ) anlegt. Doch selbst wenn es eventuell denkbar ist, einen Maßstab zu finden, in dem man »von außen« diese Wertungen und Vergleiche vornehmen kann, bin ich ausschließlich an der Innenperspektive interessiert, nmlich ob das Leben fr die betroffene Person sinnvoll ist. Das impliziert nicht nur eine subjekt-relative Perspektive – es geht nicht um den Sinn, den andere Personen im Leben dieser Person finden –, sondern auch eine evaluativ subjektive Perspektive – es geht um den Sinn, den eine Person (in autonomer Weise) selbst ihrem Leben zu- oder abschreibt. Ich will natrlich nicht bestreiten, dass es Situationen gibt, in denen wir von außen betrachtet der Meinung sind, dass eine bestimmte Person ein bedeutungsvolles Leben fhrt, sie selbst das aber nicht so sieht. In diesen Situationen kçnnen wir den Todeswunsch entsprechend nicht nachvollziehen und werden versuchen herauszufinden, ob er auf formalen Denkfehlern oder Missinformationen beruht. Doch sollten wir uns hten, unser Verstndnis eines sinnvollen Lebens anderen aufzuzwingen. Gegenber dem vorher bezglich der Forderungen kompetenter berlegung Gesagten gilt es an dieser Stelle allerdings eine Ergnzung zu machen: Es scheint durchaus mçglich, dass Menschen, die zu autonomer berlegung fhig sind, dennoch zu Unrecht glauben, dass ihr Leben sinnlos sei. Dabei geht es nicht um die tri-

46

Thomas Schramme

viale Wahrheit, dass ihr Leben fr andere durchaus einen Sinn besitzen kann; diese Tatsache ndert nichts an der Rationalitt eines Todeswunsches, denn es geht um den Sinn des Lebens fr die betroffene Person selbst. Doch es ist mçglich, dass sich jemand irrationale Ideale setzt, an denen er dann scheitert (vgl. Buss, 2004). Setzt sich jemand nichttriviale Ziele, die fr ihn identittsstiftend sind, aber aufgrund unserer menschlichen Natur prinzipiell unerreichbar bleiben, dann handelt es sich um irrationale Ziele und der vermeintliche Verlust des Lebenssinns aufgrund der Unzulnglichkeiten gegenber diesen Idealen muss ebenso als irrational gelten. Doch diese Ergnzung der formalen Kompetenzkriterien stellt natrlich nicht die Mçglichkeit eines rationalen Suizids grundstzlich infrage. Buss (2004) hlt Verzweiflung, die sich aufgrund der eigenen Unzulnglichkeiten den persçnlichen Idealen gegenber einstellt, unter allen Umstnden fr irrational, weil sie auf der einen Seite die berzeugung impliziert, man kçnne das Ideal tatschlich erreichen, auf der anderen Seite aber ebenfalls die berzeugung, man kçnne es eben nicht erreichen. Meines Erachtens ist es aber grundstzlich mçglich, sinnvoll zu glauben, man selbst kçnnte einem Ideal (einigermaßen) gerecht werden und gleichzeitig zu realisieren, dass man es de facto nicht schafft. Die daraus mçglicherweise resultierende Verzweiflung scheint mir rational. Die hier vorgeschlagene Interpretation des rationalen Suizids als Selbsttçtung aufgrund des Verlusts von Lebenssinn kann Flle erklren, in denen Menschen sich umbringen wollen, obwohl ihre Lebensqualitt keineswegs beeintrchtigt ist – wenn sie beispielsweise weder schwer erkrankt sind noch unertrgliche Schmerzen erleiden. Sie kann auch weit verbreitete Flle erklren, in denen Menschen trotz gravierender Einschrnkungen der Lebensqualitt weiterleben wollen – eine Haltung, die in der komparativen Sichtweise Schwierigkeiten bereitet, da die Verbesserung der eigenen Situation als erstrebenswert und rational gilt und damit bei starken Einschrnkungen der Lebensqualitt eigentlich der Suizid vernnftig und empfehlenswert erscheint. Gleichwohl stellt die Lebensqualitt natrlich einen wichtigen Faktor bei der Herstellung oder dem Verlust von Lebenssinn dar. Wo Krankheit uns hindert,

Rationaler Suizid

47

die Dinge zu tun, die uns am Herzen liegen, da wird es schwieriger, dem Weiterleben einen Sinn abzugewinnen. Doch der Grund fr den Todeswunsch ist in diesen Fllen nicht die Krankheit oder die damit einhergehenden Beeintrchtigungen, sondern der Verlust von Lebenssinn. Da zu keinem Zeitpunkt prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dass man Lebenssinn wiedererlangen kçnnte, handelt der Suizident unter Wahrscheinlichkeitsbedingungen und es ist kein Wunder, dass seine berlegung selten in vollkommener Entschiedenheit endet, sondern vielmehr hufig von Ambivalenz geprgt bleibt. Denn bei seiner Entscheidung handelt es sich um eine Art von Wette auf die Zukunft; eine Zukunft, die der Suizidwillige als sinnlos erachtet, gelebt zu werden, die aber letztlich ungewiss bleibt. Diese Ungewissheit macht seine Entscheidung keineswegs irrational, wir handeln tagtglich unter diesen Bedingungen. Aber sie bietet ein Einfallstor fr paternalistische Bestrebungen, mag doch der Verlust des Lebenssinns revidierbar sein – im Gegensatz zur Unmçglichkeit der Linderung einer unheilbaren Krankheit. In der Tat scheint mir der persçnliche Sinn des Lebens eine Grçße zu sein, die in zwischenmenschlichen Beziehungen ausgebildet und erhalten wird. Insofern gibt es fr andere Menschen Mçglichkeiten, Suizidprvention zu leisten, indem sie versuchen, dem Suizidgefhrdeten Lebenssinn zu vermitteln. Doch um es noch einmal zu sagen, daraus allein ergibt sich keine Berechtigung, einen kompetenten Suizidwilligen per Zwang von seinem Plan abzuhalten. Eine Folge der nichtkomparativen Interpretation des rationalen Suizids, wie ich sie hier vorgeschlagen habe, liegt in der Zurckweisung der Idee des »Bilanzsuizids«. Selbst wenn man der Meinung ist, dass das Leben mehr Schlechtes als Gutes bereithlt, ja mçglicherweise nur noch bel, dann folgt daraus nicht, dass der Wunsch sein Leben zu beenden rational wre. Wenn allerdings der Wille zum Leben fehlt, weil man nach kompetenter berlegung keinen Sinn seines Lebens mehr sehen kann, dann fehlt die Voraussetzung, sein Leben weiterzuleben. Sich in solchen Situationen das Leben zu nehmen, ist nachvollziehbar. Ob wir den Suizid dann rational nennen wollen, ist mçglicherweise nebenschlich, aber mir scheint deutlich, dass wir ihn so nennen kçnnen.

48

Thomas Schramme

Literatur Battin, M. P. (1982). Ethical Issues in Suicide. Englewood Cliffs NJ: Prentice-Hall. Benn, P. (1993). My Own Death. The Monist, 73, 235–251. Biggar, N. (2004). Aiming to Kill: The Ethics of Suicide and Euthanasia. London: Darton, Longman and Todd. Birnbacher, D. (2006). Suizid und Suizidprvention aus ethischer Sicht. In D. Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse (S. 195–221). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brandt, R. (1992). The Morality and Rationality of Suicide. In R. Brandt, Morality, Utilitarianism, and Rights (S. 315–335). Cambridge: Cambridge University Press. Buss, S. (2004). The Irrationality of Unhappiness and the Paradox of Despair. Journal of Philosophy, 167–196. Devine, P. E. (1990). On Choosing Death. In J. Donnelly (Hrsg.), Suicide: Right or Wrong? (S. 201–205). Buffalo, NY: Prometheus Books. Epikur. (2000). Brief an Menoikeus. In Epikur, Briefe, Sprche, Werkfragmente (S. 41–51). Stuttgart: Reclam. Fairbairn, G. J. (1995). Contemplating Suicide: The Ethics and Language of Self Harm. London: Routledge. Feldman, F. (1992). Confrontations With the Reaper: A Philosophical Study of the Nature and Value of Death. Oxford: Oxford University Press. Frey, R. G. (1978). Did Socrates Commit Suicide? Philosophy, 53, 106–108. Hewitt, J. L., Edwards, S. D. (2006). Moral Perspectives on the prevention of suicide in mental health setting. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 13, 665–672. Hume, D. (2000). ber Selbstmord, Orig. 1755. In D. Hume, Die Naturgeschichte der Religion (S. 89–99). Hamburg: Meiner. Kant, I. (1797/1968). Die Metaphysik der Sitten. Akademie Ausgabe, Bd. VI. Berlin. Lohmar, A. (2006). Suizid und Moral. Zeitschrift fr philosophische Forschung, 60 (1), 59–84. Mayo, D. J. (1983). Contemporary Philosophical Literature on Suicide: A Review. In M. P. Battin u. R. W. Maris (Hrsg.), Suicide and Ethics, Special Issue. Suicide and Life-Threatening Behavior, 13 (4), 313–345. McMahan, J. (2002). The Ethics of Killing. Oxford: Oxford University Press. Nagel, T. (1984). Tod. In T. Nagel, ber das Leben, die Seele und den Tod (S. 15–24). Bodenheim u. Frankfurt a. M.: Athenum. Rosenbaum, S. E. (1986). How to be Dead and Not Care: A Defense of Epicurus. American Philosophical Quarterly, 23 (2), 217–25. Timmermann, J. (2006). Kantian Duties to Self, Explained and Defended. Philosophy, 81, 505–530. Tugendhat, E. (2001). ber den Tod. In E. Tugendhat, Aufstze 1992–2000 (S. 67–90). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rationaler Suizid

49

Warren, J. (2004). Facing Death: Epicurus and his Critics. Oxford: Oxford University Press. Williams, B. (1978). Die Sache Makropulos: Reflexionen ber die Langeweile der Unsterblichkeit. In B. Williams, Probleme des Selbst (S. 133–162). Stuttgart: Reclam. Wolf, S. (1997). Happiness and Meaning: Two Aspects of the Good Life. Social Philosophy and Policy, 14 (1), 207–225.

Almut Furchert

Verzweiflung zum Tode? Selbsttçtung, Sprung, Entschiedenheit

»Es gibt nur ein wirklich philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.« Aus: Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos

»Ich hoffe, dass man verstehen wird, dass ich mich nicht umgebracht habe, um andere zu verletzen, sondern um den inneren Frieden zu finden, den ich so verzweifelt brauche [. . .]« schreibt ein junger Mann in ein Internetforum, bevor er sich erschießt. Wollen wir das Phnomen Selbsttçtung verstehen, mssen wir zunchst die Verzweiflung verstehen, welche ein Selbst dahin bringt, sich zu tçten. Dabei kommt man gemeinhin nicht um den dnischen Existenzdenker Søren Kierkegaard (1813–1855) herum. Es soll versucht werden, seine Verzweiflungsanalysen, wie wir sie in seiner Schrift »Die Krankheit zum Tode« (1849) als einer der wichtigsten Beitrge zur philosophischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts finden, fr den Diskurs der Selbsttçtung fruchtbar zu machen und experimentierend weiterzudenken. Dazu wollen wir zunchst die psychologisch-medizinische »Behandler«-Perspektive fr eine Zeitlang verlassen. Denn solange wir symptomorientiert von Suizidalitt oder Dysfunktionalitt reden, sprechen wir ber die ußere Erscheinung und stehen in der Gefahr, die Innenperspektive menschlichen Erlebens an den Rand des Belanglosen, gar Illusorischen zu drngen. Reden wir aber von »Verzweiflung« wird deutlich, dass hilfreiches Verstehen alle mçglichen Perspektiven einschließen muss, welche sich um die verzwei-

Verzweiflung zum Tode?

51

felte Existenz bekmmern. In der Praxis gehen wir zudem nicht mit Suizidalitt um, sondern mit einem suizidalen Patienten; einem Menschen, der nicht mehr leben will, weil ihm sein Leben ausweglos, zu schwer oder sinnlos geworden ist. Interessanterweise hat seine kçrperliche Verfassung meist nur wenig zu tun mit seinem Wunsch zu sterben. Das Phnomen der Selbsttçtung weist uns vielmehr an die geistige Dimension des Menschen, die verzweifelte Innerlichkeit, die sich zwar hinter Symptomen verbergen, aber doch nicht aus der Summe von Symptomen erklren kann. In der Verzweiflung wird sich das Dasein selbst zur Frage, verliert sich Existenz oder wird sich durchleidend hell. Solche von Karl Jaspers als Grenzsituationen beschriebenen Grundmomente unseres Lebens reichen zu tief in das menschliche Dasein hinein, als dass wir ihnen allein mit ußeren Mitteln beikommen, sie behandeln kçnnten. Sie heben den Menschen aus der Masse heraus und stellen ihn vor die Grundfrage seines Lebens schlechthin, wie sie Camus im obigen Motto formuliert hat. Es ist kaum verwunderlich, dass sich der gemeinhin als »Vater der Existenzphilosophie« bekannt gewordene Søren Kierkegaard gerade um diesen Einzelnen sorgt, welcher diese Frage fr sein je eigenes Leben fortwhrend entscheiden muss. Solche Entscheidungen aber lassen sich fr Kierkegaard weder mit spekulativer Abstraktion noch quantitativer Approximation bewerkstelligen, sondern verweisen uns an etwas gnzlich anderes, einen qualitativen Sprung, der nur durch den Willensakt vom Selbst selbst gesetzt werden kann. Mit dem »Sprung« bezeichnet Kierkegaard also so etwas wie einen qualitativen bergang im Selbst, mit dem es die Gegenstze seiner Existenz zu verbinden versucht (vgl. auch Pieper, 2000, S. 129 ff.). Die Kategorie des Sprungs, die Kierkegaard ursprnglich Lessing entlehnt hat, ist dabei eingebettet in das aristotelische Verstndnis des Werdens. Dieses beschreibt Werden als eine zielgerichtete Bewegung von Mçglichkeit zur Wirklichkeit, um Sein im Dasein zu konkretisieren, Existenz zu verwirklichen. Søren Kierkegaard beschreibt das Werden des Individuums an anderer Stelle als eine »Bewegung von Zustand zu Zustand. Ein jeder Zustand wird durch einen Sprung gesetzt« (BA, 116). Auch Searle (2002) verteidigt die Idee der Freiheit im Sinne nichtdeterminierten Handelns,

52

Almut Furchert

indem er eine Lcke (»gap«) zwischen Handlungsgrund und Handeln postuliert (vgl. Gadenne, 2004, S. 130 f.). Intentionales Handeln ist demnach nicht einfache Folge eines Grundes, sondern einer Absicht, die, mit Kierkegaard gesprochen, erst durch den Sprung als Entscheidungshandeln realisiert wird. Bei der Betrachtung der Selbsttçtung bietet sich nun eine Analogie im doppelten Sinne an. Der »Sprung« in die Entscheidung wird fr den Selbsttçter gleichsam zum Sprung in den Tod. (Fortan wird also der Suizid mit dem »Sprung« in den Tod assoziiert, um die Analogie deutlich zu machen, was aber alle mçglichen Formen von Suizid einschließt.) Fr den suizidalen Menschen erscheint der Tod unter Umstnden als einzige Mçglichkeit, ber die entschieden werden kann. Dies macht eine Bewertung in Kategorien von »richtig« oder »falsch« fr ihn schwierig, wenn gar unmçglich. Fr den Helfer aus der Außenperspektive hingegen erscheint die Selbsttçtung gerade nicht als einzige und letzte Option und darum als eine weitestgehend auszuschließende Handlung. Eine solche Perspektive impliziert bereits den ethischen Vorrang des Lebens ber den selbst gewhlten Tod. Der Dialog mit dem intentionalen Selbsttçter stellt hier besondere Anforderungen an den Helfer und die Ethik des Helfens. Er tangiert die Frage, inwieweit wir seelisches Leiden als Ausdrucksformen des Selbst verstehen, und inwieweit es uns gelingt, anthropologische Grçßen von Freiheit und Entscheidung im medizinalisierten und funktionalisierten Therapiegeschehen wieder neu einzubeziehen. Denn der »Sprung« als Kategorie der Entscheidung ist mit Søren Kierkegaard immer schon die Tat personaler Freiheit. Zwischen Mçglichkeiten abzuwgen, sich zu entscheiden, ist die notwendige Aufgabe, um Dasein zu verwirklichen. Der Sprung des Selbsttçters wird damit gleichsam zur Besttigung und Beendigung dieser Freiheit. Er hat damit der Unentschiedenheit etwas voraus. Er hat sich entschieden. Er ist – womçglich mit letzter Lebenskraft – in den Tod gesprungen. Impliziert dies aber auch, dass die Freiheit des Verzweifelten in der Selbsttçtung liegt? Ist der Tod eine Mçglichkeit, ber die entschieden werden kann? Mit Pieper kann es kein Recht auf Suizid geben, da diesem dann auch eine Pflicht zur Selbsttçtung korrespondieren msste. Sie zhlt Suizid zu den er-

Verzweiflung zum Tode?

53

laubten, also mçglichen, aber nicht notwendigen Handlungen: »Erlaubte Handlungen sind moralisch indifferente, unentschiedene Handlungen.« Also: »Ich darf ein fr mich sinnlos gewordenes Leben beenden, aber ich bin nicht dazu verpflichtet, es zu tun« (Pieper 2005, S. 12). Hier sind wir an den ethischen Fragen angelangt, die ber Generationen, Kulturen und Religionen unterschiedlich gestellt und beantwortet wurden. Der Suizident indes schwingt sich mit seiner Entscheidung immer schon ber den Konsens der Allgemeinheit hinaus. Selbsttçtung zu verstehen und zu verhindern, hieße demnach, den Verzweifelten und seine verzweifelte Freiheit zu verstehen, die als Sprung in den Tod gewhlt wird. Ob Selbsttçtung damit als Ausdruck von Entschiedenheit oder ebenso als letzte Konsequenz verzweifelter Unentschiedenheit verstanden werden kann, wollen wir im Verlauf der Untersuchung zu klren versuchen.

Was es meint, ein Selbst zu sein Was verstehen wir aber nun unter einem Selbst und wie kann es derart verzweifeln, dass es sich selbst tçten will? Die grundlegende Prmisse der Anthropologie Kierkegaards, wie wir sie in »Die Krankheit zum Tode« (KT) von seinem Pseudonym Anti-Climacus dargelegt finden, lautet: »Der Mensch ist Geist« (KT, S. 9; vgl. einfhrend Ringleben, 1995; Theunissen, 1993; Gordon, 1987; Purkarthofer, 2005). Von dieser nun leitet sich alles weitere her: Geist ist das Selbst und »das Selbst ist ein Verhltnis, das sich zu sich selbst verhlt.« Das Selbst ist also nicht ein Festes, Bestehendes, sondern ein Werdendes. Ein Verhltnis. Dieses wiederum verhlt sich zu sich selbst als dem Verhltnis. Das ist das Selbstverhltnis. Wozu aber verhlt sich nun das Selbst? Hier fhrt AntiClimacus die zweite Prmisse ein: »Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis.« Das Selbst ist nun das, was sich zu sich selbst verhlt, also zu seiner eigenen Verfasstheit als Synthesis. Was heißt das? Ontologisch verstanden wre demnach das Selbst die Zusammensetzung aus Entgegengesetztem, genauer das Verhltnis zu dieser Zusammen-

54

Almut Furchert

setzung. Das Selbst ist also weder Freiheit noch Notwendigkeit allein, sondern das Verhltnis zu beiden, welches, indem es sich zu seiner Freiheit verhlt, sich gleichsam auch zu seiner Notwendigkeit verhlt. Erst wenn ein Mensch seine Begrenzungen erkennt und sich – nicht berlassend, aber doch bejahend – zu diesen verhlt, so lesen wir bei Jaspers, scheint auch seine Freiheit auf: »Das Freiheitsbewußtsein entfaltet sich in der Entgegensetzung gegen Notwendigkeit oder in der Einheit mit ihr« (Jaspers, 1956, S. 191). Der Geist steht also vor der schwierigen Aufgabe, diese innere Einheit zuwege zu bringen, indem er sich bestndig zu seiner aus Widersprchen zusammengesetzten Existenz verhlt oder sartrisch gesprochen, dazu »verdammt« ist, sich zu dieser seiner Selbstheit zu verhalten, ob er will oder nicht. Aus dieser Zusammensetzung des Selbst ergibt sich, dass wir es bei einem Verhalten immer schon mit einem Verhltnis zu tun haben, nicht einer bloßen Folge von ußeren Umstnden oder Gegebenen, sondern einer inneren Beziehungssetzung. Viktor Frankl (1905–1997), jdischer Psychiater und Holocaust-berlebender, hat dies als eigentliche Freiheit des Menschen bezeichnet, zu seinen Umstnden, seien sie noch so widersinnig, in Beziehung zu treten (Frankl, 2001, S. 219). Dieses Verhltnis erst, nicht der einfache Umstand, ist entscheidend fr die Selbstwirklichkeit. So verstanden ist auch die »Verzweiflung« nicht bloße Folge beschreibbarer Ursachen oder leiblicher Verfasstheit, sondern gerade die Weise, wie sich ein einzelner Mensch zu ihnen verhlt. Anti-Climacus’ Konzept vom Selbst hat also zwei Bestimmungsgrçßen: Geist und Freiheit (KT, S. 25). Ist das Selbst nicht Geist, so kçnnte es sich nicht zu sich selbst verhalten, sich zu sich selbst verhalten aber ist nicht ohne Freiheit mçglich. Wie gesehen ist das Selbstverhltnis die Einheit aus Gegenstzen. Diese Einheit ist nicht einfach, sondern eine Mçglichkeit, sie muss sich selbst werdend immer aufs Neue in die Wirklichkeit bringen, in der Zeit realisieren. Dabei kann das Selbst verzweifeln, sich verfehlen oder verlieren. Die »Not des Existierenden« ist ja gerade, so fhrt es Søren Kierkegaard an anderer Stelle aus, dass er aus Zeitlichem und Ewigen, Mçglichem und Notwendigem zusammengesetzt ist, »hineingestellt in die Existenz«. Kierkegaard

Verzweiflung zum Tode?

55

setzt hier seine Daseins-Dialektik der spekulativen Dialektik Hegels entgegen (vgl. AUN, S. 1–2). Versuchte Hegel die Widersprche der Existenz auf einer hçheren Ebene des Denkens aufzuheben, steht der Existierende im Sinne Kierkegaards gerade vor der Schwierigkeit, die Widersprche im je eigenen Dasein zu vermitteln. Dabei ist die Aufgabe gerade nicht, das eine gegen das andere aufzuheben, sondern sie einander gleichzustellen, »und das Medium, worin sie geeint werden, ist das Existieren « (AUN, S. 2, vgl. S. 1 ff. u. 52). Eine solche Aufgabe aber weist bereits ber das eigene Selbst hinaus, stellt einen unbedingten Anspruch. Denn indem sich das Selbst existierend zu sich selbst verhlt, verhlt es sich auch zu »demjenigen, welches das ganze Verhltnis gesetzt hat«. Mit Anti-Climacus deutet unser In-die-Existenz-gestellt-Sein, das sich in Heideggers Terminologie spter als Geworfensein findet, auf einen hçheren Seinszusammenhang hin, von dem wir uns erst existentiell als Selbst, als Geist, gegeben sind: »Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhltnis ist des Menschen Selbst, ein Verhltnis, das sich zu sich selbst verhlt, und, indem es sich zu sich selbst verhlt, zu einem Andern sich verhlt« (KT, S. 9). Htte nmlich das Selbst sich selbst gesetzt, so kçnnte es im Grunde gar nicht verzweifeln. Verzweifeln kann es aber, weil es nicht das Selbst sein will, als das es gesetzt ist, oder weil es ein anderes sein will, das nicht das selbige ist. Anti-Climacus spricht hier also nicht von einem reinen Selbstverhltnis, das sich in bloßer Selbstsorge selbst umkreist, sondern er stellt dieses Selbstverhltnis in ein maßgebliches Verhltnis, von dem es sich empfngt und an dem es Selbst werden kann. Kierkegaards Anthropologie steht und fllt also mit diesem dritten – das Selbstverhltnis begrndenden – Verhltnis. Gleichwie Martin Bubers Dialogphilosophie spter vom ewigen Du spricht, welches die Ich-Du-Begegnung transzendiert und damit erst wesentlich macht (vgl. Buber, 1999), findet das Selbstverhltnis bei Kierkegaard erst in der setzenden Macht seinen Grund und Bezugspunkt. Dies beschreibt Anti-Climacus daher auch als jenes Selbst, welches die Verzweiflung berwunden hat: »indem es sich zu sich selbst verhlt, und indem es es selbst sein will, grndet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat« (KT, S. 10). [Von hier aus entwickelt Anti-Climacus brigens auch

56

Almut Furchert

sein Sndenverstndnis im zweiten Teil seiner Abhandlung, indem er die Snde nicht theologisch-dogmatisch sondern als existentielles Missverhltnis in den Kontext der Daseins-Dialektik stellt: »Snde ist: vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen« (KT, S. 80).]

Das verzweifelte Selbst Verstehen wir das Selbst also als ein Verhltnis, das sich zu sich selbst als dem Zusammengesetzten verhlt, bestimmt Anti-Climacus nun die Verzweiflung [Fortvivlelse] als das Missverhltnis dieser Verhltnisse: »Verzweiflung ist das Mißverhltnis im Verhltnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhlt« (KT, S. 11). Verzweiflung ist damit eine immanente Mçglichkeit unseres Menschseins. Sie ist die »Krankheit im Geist« (KT, S. 8), also die Krankheit im Selbst, das wir zuvor als Geist bestimmt haben. Die Zusammensetzung des Selbst als leib-seelisches Wesen begrndet damit gerade die Mçglichkeit des Missverhltnisses, gleichermaßen in dieser Spannung zu werden oder am Werden zu verzweifeln. Aber ob das Selbst »verzweifelt, das liegt am Menschen selber [. . .]«, so Anti-Climacus weiter (KT, S. 11). Die Verzweiflung am Selbst ist daher keine geistige Einbahnstraße, die zwangslufig ins Nichts fhrt, sondern gleichwohl eine dialektische Mçglichkeit des Daseins, in der sich das Selbst verlieren aber auch erst finden kann. »Periissem nisi periisem« – ich wre zugrunde gegangen, wre ich nicht zugrunde gegangen – schreibt der junge Kierkegaard einst in sein Tagebuch (TB I, S. 309; Pap. IV A, S. 123). Mit diesem Zitat des deutschen Philosophen Hamann (1730–1788) bringt Søren Kierkegaard nicht nur seine persçnliche Erfahrung, sondern auch den wesentlichen Gedanken seiner Existenzdialektik auf den Punkt: im Zugrundegehen, im Durchgang durch die Verzweiflung, vermag ein Selbst auch zum Grund vorzudringen, von dem her es sich grnden und begrnden kann. Warum und wann aber ist die Verzweiflung nun die Krankheit zum Tode ? So verstanden wird Verzweiflung zur Krankheit, wenn ein Mensch gerade nicht zum Grund hindurch zu dringen vermag oder sich vielmehr in den vermeintlichen Ursachen verliert. Wh-

Verzweiflung zum Tode?

57

rend aber ein unheilbares Krebsleiden zum leiblichen Tode fhrt, verzweifelt die Krankheit im Geist gerade daran, dass nicht einmal der Tod sie von ihrem Leiden befreien kann. Die »Hoffnungslosigkeit« der Verzweiflung, so Anti-Climacus, ist ja, »noch nicht einmal sterben zu kçnnen« (KT, S. 14). So wie vormals Sokrates die Unsterblichkeit der Seele daraus beweisen wollte, dass die Krankheit der Seele die Seele nicht vernichten kann, versucht Anti-Climacus hier, das Unendliche im Menschen daran aufzuzeigen, »dass die Verzweiflung sein Selbst nicht zu verzehren vermag [. . .]« (KT, S. 17). Der Verzweifelte kçnnte sich demnach nur selbst aus dem Weg schaffen, indem er seine Leiblichkeit zerstçrt, sein In-der-Welt-Sein aufhebt. So wie die Verzweiflung den Menschen also nicht tçtet, ist ihre Fortdauer der Tod des Selbst mitten im Leben. Die Krankheit zum Tode meint also das innere Sterben, den geistigen Tod, von dem nicht einmal der leibliche Tod Erlçsung sein kann – oder in Anti-Climacus Worten: den »qualvollen Widerspruch«, »ewig zu sterben und doch nicht zu sterben« (KT, S. 14). Die Umgangssprache kennt fr dieses Daseinsgefhl den Ausdruck »lebendig begraben«. Der Begriff »Selbsttçtung« greift so verstanden eigentlich zu kurz. Denn wie tçtet sich ein Selbst, was schon gestorben, also lebendig begraben ist? »Im Grunde lsst man ja nur noch den Kçrper folgen«, erklrt eine junge TraumaPatientin ihren Suizidversuch, »alles andere ist ja schon tot.« So verstanden wre der Suizid nicht die berwindung der Verzweiflung, sondern die Beendigung eines in Verzweiflung erstarrten Daseins. Im Tod rettet sich das Selbst vor der Verzweiflung, ohne sich jedoch von ihr befreien zu kçnnen. Oder »kann der Dolch Gedanken tçten?«, fragt Søren Kierkegaard in einer Randnotiz mit den Worten eines dnischen Dichters (Pap. IV A, S. 48). Aus diesem Blickwinkel erst ist jene Verzweiflung verstndlich, auf welche Anti-Climacus alle Verzweiflung zurckfhrt, nmlich: »Verzweifelt sich selber los sein wollen« (KT, S. 16). Was aber heißt nun, sich selber los sein wollen und auf welche Weise kann dies geschehen? Dem Autor folgend kann das Selbst in allen denkbaren Formen des Selbstverhltnisses – der Synthese – ins Missverhltnis geraten, in seinem Verhltnis zum Selbst, zur eigenen Endlichkeit oder zur verborgenen Unendlichkeit verzwei-

58

Almut Furchert

feln. Anti-Climacus analysiert die Verzweiflung zunchst grundlegend auf der Ebene der Synthesestruktur Endlichkeit-Unendlichkeit beziehungsweise Mçglichkeit-Notwendigkeit. Daran anschließend beschreibt er die Verzweiflung unter drei Gesichtspunkten: a) »verzweifelt nicht zu wissen, dass man ein Selbst hat«, b) »verzweifelt nicht man selbst sein wollen, Schwachheit« beziehungsweise c) »verzweifelt man selbst sein wollen, Trotz«. Anti-Climacus selbst geht nur beilufig auf den Zusammenhang zum Suizid ein. Dabei nennt er den »Selbstmord« die »Empçrung wider Gott«, »derart aus dem Dasein auszubrechen« und erklrt das bisweilen »leichtsinnige Urteil« ber die Selbsttçtung damit, dass das Selbst hier nicht als Geist begriffen wird. So gedacht sei »Selbstmord das Gleichgltige, etwas, bei dem es jeder machen kann, wie es ihm beliebt, weil es niemand etwas angeht« (KT, S. 44). Wir wollen hier Anti-Climacus’ Verzweiflungsanalysen fr das Verstndnis der Suizidalitt weiterdenken. Dazu schlage ich – die wesentlichen Formen herausgreifend – drei mçgliche Betrachtungsweisen intentionaler Selbsttçtung vor: Zunchst soll sie als Verzweiflung unter der allgemeinen Perspektive Mçglichkeit-Notwendigkeit in den Blick kommen, wir wollen es (1) Suizid als Ausdruck fehlender Mçglichkeit oder Selbstrettung nennen. Unter dem Gesichtspunkt des Bewusstseins vom verzweifelten Selbst wollen wir die Form »verzweifelt nicht man selbst sein wollen« (»Schwachheit«) zu (2) Suizid als Selbstvernichtung weiterdenken. Dem folgt die Form »verzweifelt man selbst sein wollen« (»Trotz«) – hier (3) Suizid als Selbstbehauptung genannt.

Suizid als Ausdruck fehlender Mçglichkeit – Selbstrettung Diese Form der Verzweiflung krankt mit Anti-Climacus gesprochen am Verhltnis zur Wirklichkeit. Das Selbst verzweifelt, weil es keine Mçglichkeiten mehr sieht: »Wenn eine menschliche Existenz so weit gebracht ist, dass ihr die Mçglichkeit fehlt, dann ist sie verzweifelt, und zwar in jedem Augenblick, da ihr die Mçglichkeit fehlt« (KT, S. 42). Der »Sprung« des Selbsttçters ließe sich hier

Verzweiflung zum Tode?

59

als Flucht aus einer Wirklichkeit deuten, die – mçglichkeitsleer – Verzweiflung geworden ist. So verstanden impliziert dies eine zentrale Schlussfolgerung zur Prvention: Mçglichkeiten zu erschließen und damit Lebenswirklichkeit zugnglich zu machen, ber die entschieden werden kann. Denn wem jede Mçglichkeit fehlt, der hat seine Freiheit und damit seine Handlungsfhigkeit verloren. Ihm erscheint nur noch der Tod als Ausweg. Ist ein solcher Sprung in den Tod aber auch die Entschiedenheit zum Tode? »Ich wollte gar nicht wirklich tot sein, ich wollte nur nicht mehr da sein«, beschreibt die junge Trauma-Patientin ihre Intention, als sie als Kind mit einem Messer in den Wald lief: »Ich wollte schon leben, nur nicht mehr mit dem Leben, dass ich hatte – aber ich wusste mir nicht anders zu helfen.« Das junge Mdchen hatte verzweifelt keinen anderen Ausweg gesehen als den selbst herbeigefhrten Tod, um den vterlichen bergriffen zu entkommen. Die Verzweiflung der fehlenden Mçglichkeit will nicht den Tod, will nicht wirklich tot sein, sondern nur nicht mehr da sein, »das versaute Leben weghaben«, so die Patientin weiter. Es ist also das Da-sein, was derart zu Tode verzweifelt, dass die Angst vor dem Tod dazu wie eine Befreiung erscheint. »Innerlich war ich ja schon tot, war ich schon umgebracht worden«, sagt die Patientin 15 Jahre nach dem berlebten Suizidversuch. »Ich habe zwar gelebt, aber eigentlich war ich schon tot. Scheintot.« In diesem Selbstzeugnis wird der Rckbezug zum geistigen Tod mitten im Leben fasslich, wie wir ihn schon oben angedeutet haben. Der Suizid als letzte Mçglichkeit meint hier also weniger eine Entschiedenheit zum Tode als vielmehr die Entscheidung gegen das Leben, der Suizident will nicht in den Tod, sondern aus seinem Leben springen. Der Tod ist Rettung, aber nicht Ziel. Dabei scheint er eigenartig vertraut, weil man ja schon innerlich gestorben ist. Im beschriebenen Versuch, dem verzweifelten Dasein zu entkommen, liegt jedoch auch eine innere Kraft verborgen. Hier flackert der (berlebens)Wille auf, die Hilflosigkeit zu beenden, selbst zu handeln, um damit sein Leben aus den Fesseln einer zur Verzweiflung gewordenen Wirklichkeit zu befreien. Der Verzweifelte will sich sprichwçrtlich »das Leben nehmen«, es zurckerobern, es seiner qualvollen Wirklichkeit entreißen – sei es durch

60

Almut Furchert

den Tod. So kann er sich zwar in den Tod retten, nicht aber zum Leben befreien. Sein Wille zum Leben verkehrt sich angesichts der erdrckenden Wirklichkeit in den Willen zum Tode. Der Verzweifelte springt ins Unbekannte in der Hoffnung, sich so aus dem Leid seines Daseins herauszuretten. Bedeutet dies also, jener Selbsttçter ist nicht absolut verzweifelt, er hat eine Hoffnung? Demnach wre sein Sprung verzweifelter Versuch, sich in diese unbekannte Wirklichkeit zu bergen, der Tod sein Hoffnungstrger. Eine solche Hoffnung kçnnte sich auch appellativ, an das Leben gerichtet, ausdrcken. Der vermeintliche Selbsttçter kommuniziert sein Unvermçgen, Selbst sein zu kçnnen, sein zu drfen – aber auch die leise Hoffnung, dass da Hilfe sein kçnnte, ihm sein Leben zurckzugeben, die unbekannte Wirklichkeit fr ihn aufzuschließen. Hier wird die Suizidhandlung zum verzweifelten Appell der Hilflosigkeit, dass da ein Selbst ist, das zum Leben erweckt werden will. Anti-Climacus kennt fr diese Verzweiflung nur eine therapeutische Empfehlung: »Schaff Mçglichkeit, schaff Mçglichkeit, Mçglichkeit ist das Einzige, was erlçst – eine Mçglichkeit, dann schçpft der Verzweifelnde wieder Atem und lebt auf; denn ohne Mçglichkeit bekommt ein Mensch gleichsam keine Luft« (KT, S. 43). Wie aber msste eine solche Mçglichkeit aussehen, die vor dem Tode retten kann? Es muss zunchst eine konkrete Mçglichkeit sein, die dem Verzweifelten neben dem Sprung in den Tod eine neue Handlungsmçglichkeit aufschließt. Die vermeintliche Mçglichkeit muss also in die persçnliche Situation, die konkrete Wirklichkeit des Verzweifelten bersetzbar sein. Dies gelingt nur, wenn sie auch fr ihn eine Mçglichkeit darstellt. Vielleicht ist die Last zu groß, die Drohung zu mchtig, die Angst unberwindbar, die Mçglichkeit zwar vorhanden, aber nicht ergreifbar. Dann verblasst die Mçglichkeit im Abstrakten, kann nicht ergriffen werden. Die Mçglichkeit »fr mich« verdeutlicht hier – wie zuvor die Anthropologie des Selbst – die Bedeutung der Relationalitt. Fr Søren Kierkegaard bekommt Wahrheit an sich erst Bedeutung, wenn die Verhltnissetzung gelingt, wenn sie Wahrheit beziehungsweise Wirklichkeit fr mich wird. Insofern ist auch die Entscheidung ber die eigene Lebensmçglichkeit diesem »fr mich« unterstellt.

Verzweiflung zum Tode?

61

Der Mensch mag falsch liegen, mag kein Licht am Ende des Tunnels sehen, das durch gutes Zureden, erfolgreiche Heilbehandlung oder ganz von selbst nach kurzem wieder auftauchen kçnnte (Kafka). Doch niemand kann den anderen zwingen, das Licht zu sehen, das er nicht sehen kann. Auch die Mçglichkeit, die wir in der Suizidprvention schaffen kçnnen, bleibt dieser Beziehungssetzung unterworfen und damit relativ. Es ist hier nicht weniger als die professionelle und menschliche Kunst gefragt, Mçglichkeiten sichtbar zu machen, die vom Betroffenen als »Mçglichkeiten fr mich« wahrgenommen werden kçnnen. Dazu muss zunchst jedoch seine Ausweglosigkeit anerkannt werden. Unsere Frsorge kann helfen, die Verzweiflung aufzuweichen, so dass eine Option neben dem Sprung in den Tod sichtbar wird. Mit Heidegger gesprochen ist solche Frsorge nicht »einspringend-beherrschend«, sondern immer »vorspringend-befreiend« (Heidegger, 1993, S. 122–129). Unsere Frsorge kann also dem Verzweifelten insoweit vorausgehen, dass sie die Mçglichkeit fr ihn sieht, bis er sie selbst sehen kann. Die entscheidende Frage fr den an der fehlenden Mçglichkeit Verzweifelten bleibt aber: »ob er glauben kann, ob er glauben will«, so Anti-Climacus weiter. Denn dass da eine Mçglichkeit sei, kann er ja gerade nicht sehen, nicht wissen, sondern er muss es glauben. Dieser innere Kampf, wo jemand bis ans ußerte gebracht sein Leben aufgeben will, entscheidet sich daran, »ob er Mçglichkeit zuwege bringen wird, das heißt ob er glauben wird« (KT, S. 36). Das Ablassen vom bereits intendierten Suizid ist jedoch nicht nur eine Entscheidung gegen den Sprung aus dem Leben, sondern auch fr den Sprung zurck ins Leben. Das zweite scheint in der professionellen Begleitung oft weniger Beachtung zu finden. Sofern ein Suizident aber ein verzweifeltes Leben zu beenden sucht, ist dieses Leben nicht minder verzweifelt, wenn er durch die Erçffnung einer kurzfristigen Option davon abgehalten werden konnte. Besteht das Missverhltnis seiner Verzweiflung weiter, hlt dieses auch die suizidale Dynamik aufrecht. Dieses besttigt auch der Blick auf die Statistik, welche frheres suizidales Verhalten als bedeutsamen Prdiktor fr weiteres suizidales Verhalten ausweist (vgl. Diekstra, 1992, S. 15–44). Diese erste Betrachtung soll abschließen mit den Fragen zu zwei

62

Almut Furchert

besonderen Aspekten: 1. Kçnnte unter dieser Perspektive auch der Alters- oder Krankheitssuizid als Ausdruck fehlender Lebensmçglichkeit verstanden werden? Verzweifelt der alte oder schwer kranke Mensch an einer Wirklichkeit, die keine lebbaren Mçglichkeiten mehr fr ihn bereithlt? So verstanden scheint der selbstbestimmte Todeszeitpunkt die einzige Mçglichkeit, ber die angesichts nahender Todesqualen oder endloser Intensivmedizin noch entschieden werden kann. Dies wirft aber ein ethisches Dilemma auf: Wird nicht etwa durch so genannte Freitod-Begleitorganisationen (z. B. »Exit« oder »Dignitas« in der Schweiz oder »FinalExit« in den USA) eine Mçglichkeit erçffnet, die so bisher nicht zur Verfgung stand? Um wie viel freier – aber auch dringlicher – mag dem alternden oder unheilbar erkrankten Menschen die Wahl eines »angenehmen« Abschiednehmens vor dem Warten auf sein mçglicherweise qulendes Sterben erscheinen? Respektive wre zu fragen: Zeigt die Selbstbestimmung ber den Alters- oder Krankheitstod nicht auch eine Art kreatrliche Gegenwehr zu den lebensverlngernden Maßnahmen einer High-Tech-Medizin, welche den letzten Atemzug, das eigene Sterben immer mehr aus dem persçnlichen Lebensvollzug hinausgedrngt hat? Haben wir zu Anfang die Relationalitt der Lebensmçglichkeit verdeutlicht, wollen wir abschließend fragen, ob sich 2. auch Situationen denken lassen, wo einem Menschen subjektiv wie objektiv alle Lebensmçglichkeiten verschlossen sind. Aus den Vernichtungslagern des Zweiten Weltkrieges etwa wissen wir von Suiziden, die eine Lebenswirklichkeit beendeten, die faktisch kein menschenwrdiges Leben mehr bereithielt. Der gequlte Mensch verzweifelt hier an der wirklichen Welt und ihren Umstnden, die ihn aller Lebensmçglichkeiten beraubt hat. Wo Deportation, gewaltsamer Tod oder Entmenschlichung jede Lebenshoffnung zunichtemachen, kann Suizid zum einzig verbliebenen Ausdruck der Selbstbestimmung werden oder in den Worten Jaspers zur »entschiedensten Eigenstndigkeit« (Jaspers, 1956, S. 314). Es sei hier stellvertretend an den Theologen und Journalisten Jochen Klepper (1903–1942) erinnert, der sich gemeinsam mit seiner jdischen Frau im Dezember 1942 das Leben nahm, nachdem deren Ausreise in die Schweiz abgewiesen und der Deportationsbefehl einge-

Verzweiflung zum Tode?

63

troffen war. Kierkegaards »Schaff Mçglichkeit, schaff Mçglichkeit!« wurde hier zum ungehçrten Appell an eine Generation, die ihren Opfern diese Mçglichkeit schuldig geblieben ist.

Suizid als »Schwachheit« – Selbstvernichtung Whrend das Selbst, dem es an Mçglichkeit mangelt, nicht es selbst sein kann, wollen wir folgend das Selbst betrachten, welches trotz oder angesichts mannigfacher Mçglichkeiten verzweifelt nicht es selbst sein will. Gemeinhin verzweifelt ein Mensch »ber etwas «, so Anti-Climacus (KT, S. 15), wie ber das Irdische oder das Ewige, im Grunde aber verzweifelt er ber sich selbst: »ber sich selbst verzweifeln, verzweifelt sich selber los sein wollen ist die Formel fr alle Verzweiflung« (KT, S. 16). Was kann das heißen? Sein In-der-Welt-Sein nçtigt einen Menschen zu Entscheidungen, zu denen er sich nicht fhig fhlt. Das Da-Sein ngstigt ihn. Seine Angst ist sozusagen die Nebenwirkung der Freiheit, in Kierkegaards Worten: »der Schwindel der Freiheit« (BA, S. 6). Die Notwendigkeit zu entscheiden, Konsequenzen zu verantworten, ngstigt das Selbst, der Blick ins Ungewisse, die Angst vor dem Scheitern, lsst es »schwindeln«. Derart nicht (mehr) entscheiden kçnnend (oder wollend) berlsst sich das Selbst der Passivitt. »Ich weiß gar nicht, wie das geht, das Entscheiden«, formuliert es die junge Patientin, »ich will lieber weg sein als nicht zu wissen, was ich will.« Seines Lebens mde wird dem Selbst die Anforderung des Daseins an Wille und Entscheidung zur Qual. Verzweifelt lsst sich das Selbst selbst zurck, stirbt den stillen, inneren Tod. Ist es jedoch nicht mçglich, gnzlich aus der Umklammerung des Daseins zu fliehen, erscheint der Suizid als Ausflucht. Das verzweifelte Selbst kapituliert hier also nicht vor der mangelnden Mçglichkeit, es selbst zu sein, es flieht vielmehr vor der Notwendigkeit seines Selbstwerdens. Sich selbst werden heißt nmlich mit AntiClimacus gesprochen, »sich konkret werden« (KT, S. 26). Doch konkret werden will das an sich selbst verzweifelte Selbst gerade nicht. Warum aber will das Selbst nicht es selbst werden? Anti-Climacus spricht hier von der Verzweiflung der »Schwachheit«. Also

64

Almut Furchert

von einem Selbst, das sich auf irgendeine Weise bewusst oder unbewusst als schwach, nichtig oder bedeutungslos erfhrt; schwach geworden oder klein gemacht wurde. Verzweifelt versucht es, diese Schwche zu verbergen, sich nicht dazu zu verhalten: »es haßt gewissermaßen sich selber, [. . .] verzweifelt will es sozusagen von sich selbst nichts hçren« (KT, S. 62). So versucht es, sich selbst mitsamt seiner Schwachheit loszuwerden. Damit flieht der Verzweifelte jedoch immer tiefer in die »ohnmchtige Selbstverzehrung« hinein. Das ungeliebte Selbst hangt ihm an wie ein Bumerang. Je weiter er es von sich zu werfen versucht, desto schmerzhafter kommt es zu ihm zurck, nçtigt ihm sein Dasein auf. Seine Verzweiflung ist, zurck zu Anti-Climacus, »dass er nicht sich selbst verzehren kann, nicht sich selber loswerden kann, nicht zu Nichts werden kann« (KT, S. 14). In der Praxis treffen wir auf unzhlige Gesichter dieser Selbstverzehrung, manche davon avancieren mittlerweile zu Modeerscheinungen. Eine junge Frau, seit Jahren erfolglos auf Essstçrung behandelt, schrieb mir dazu: »Alles, was ich eigentlich wollte, war, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen.« Das verzweifelte Selbst will sich loswerden, sich ausscheiden wie unverdaute Nahrung, seine Nichtigkeit vernichten, sich selbst vergessen mitsamt seiner Schwachheit oder aufgezwungenen Pein, sich aushungern und davonstehlen, damit es endlich Ruhe hat. Was die Patientin jedoch wirklich aus sich herausbrechen wollte und nicht konnte, stellte sich spter als Missbrauchserfahrung heraus. Angesichts von Angst und Scham erscheinen Selbstverletzung oder -verzehrung zunchst als vermeintliche Selbstkontrolle, werden zuletzt aber zur schleichenden Selbstvernichtung, zum »Suizid auf Raten«. Das Selbst ist vor sich selbst auf der Flucht, vor seiner geschichtlichen Wahrheit, vor seiner scheinbaren »Schwachheit« und will oder weiß sich nicht dazu zu verhalten. Diese Selbstflucht lsst sich nun in zweierlei Richtung antreten: a) in die Welt hinein, b) aus der Welt hinaus. Folgen wir zunchst der Selbstflucht in die Welt hinein. Das Selbst geht auf in der Welt, oder besser gesagt: es versucht in der Welt unterzugehen, ein jemand zu werden, ein »man«. Damit flieht das Selbst vor der Selbstbegegnung, verflchtigt sich im End-

Verzweiflung zum Tode?

65

lichen, so dass es, mit Anti-Climacus gesprochen, »ganz und gar verendlicht wird« (KT, S. 48). Er nennt dies die Verzweiflung der Endlichkeit, da dem Selbst hier die Unendlichkeit abhanden gekommen ist (KT, S. 48 ff.). Anstatt ein Selbst zu sein ist es nun »eine Zahl geworden [. . .], ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr dieses ewigen Einerlei«. In der emsigen Beschftigung der Welt gelingt es dem Selbst dabei, sich selbst zu vergessen, gelingt es ihm, was weit leichter und sicherer ist, wie die anderen »eine Nachffung, [. . .] eine Ziffer zu werden, mit in der Menge«. Auf diesen Verlust des Selbst wird man in der Welt allerdings so gut wie gar nicht aufmerksam, polemisiert Anti-Climacus, vielmehr habe solch ein Mensch gerade die Geschmeidigkeit bekommen, »um sein Glck zu machen in der Welt« (KT, S. 30). Der Tod des Selbst mitten im Leben gehe so still und unsichtbar vonstatten, »als wre es rein nichts. [. . .] jeder andere Verlust, ein Arm, ein Bein, fnf Reichstaler, ein Eheweib usw., wird doch versprt« (KT, S. 29). Durch die Flucht in die Verendlichung wird die Verzweiflung der Schwachheit jedoch nicht behoben, sondern nur verstellt. Dem Dasein ist das Irdische gleichsam alles geworden, der unendliche Anspruch, ein Selbst, also ein Verhltnis aus beidem zu sein, zunchst scheinbar abgewehrt. Ein solcher Mensch ist gnzlich der Unmittelbarkeit verhaftet. Er »kennt sich selbst nicht, er kennt sich selbst ganz buchstblich allein am Rock« (KT, S. 52). So interpretiert er auch sein Leben und Leiden rein ußerlich, determiniert und unbeeinflussbar. Anti-Climacus fasst hierunter den verzweifelten Deterministen wie Fatalisten gleichermaßen (KT, S. 37). Erfhrt dieser nun einen »Schlag des Schicksals« kann er es nicht fassen, weil ihm »die Fassung fehlt«, so Søren Kierkegaard, als Climacus in seinem Hauptwerk »Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift« (AUN 2, S. 141 f.). Demnach verzweifelt der gnzlich unmittelbare Mensch nicht an dem Leiden als solchem, sondern weil ihm die »Fassung« dafr fehlt: »d. h. er verzweifelt, weil er es nicht fasst«. Seine Verzweiflung ist, zurck zur KT, das »reine Erleiden« (KT, S. 48 f.), er verzweifelt, weil er nicht handeln will in der Welt. Er erwartet daher auch die Hilfe von außen, will gesund gemacht werden, nicht aber zu sich selber kommen. Der solcherart Verzweifelte verhlt sich, in einem Bild Kierkegaards gespro-

66

Almut Furchert

chen, zu seinem Selbst wie zu einer Wohnung, die ihm widerwrtig oder gleichgltig geworden ist. Doch zieht er nicht aus, sondern bleibt im Keller wohnen. Derart »getraut er sich nicht, [. . .] zu sich selbst zu kommen, will er nicht er selbst sein« (KT, S. 54). Das Selbst kann sich also sinnbildlich gesprochen weder zum Auszug noch zum Neubezug seiner Wohnung, seines Leben, entscheiden. So welkt das Dasein in sich zusammen, ohne leben oder sterben zu kçnnen. Seine Unentschiedenheit wird zur Lebensmdigkeit, zur Suizidalitt. Diese kann sich freilich unendlich ausstrecken, solange der Mensch zwischen Leben und Tod auf der Stelle tritt. Der Gedanke an den Tod bringt Linderung, stellt einen Ausweg bereit, dem Ganzen ein Ende zu machen. Wendet sich die eigene Hilflosigkeit nun nach außen, kann Suizidalitt zum emotionalen Druckmittel werden. Das schwache Selbst lsst alle Verantwortung fahren, erwartet von einem Anderen, sein Leben zu leben, fr ihn zu entscheiden. Der Suizidgedanke wird zur permanenten Ausflucht, zum Ausdruck der Abhngigkeit von Hilfe und Zuwendung und nicht zuletzt zum »sicheren« Weg zurck in die Umsorgung der Psychiatrie. Diese Suizidalitt, die sich ganz vom Anderen abhngig macht, ist fr Angehçrige und Helfer besonders schwer zu tragen. Hier dem Betroffenen die Frage nach seinem Willen zu stellen ist gewagt, aber mitunter der einzige Weg aus der Unentschiedenheit. Die vorspringende Frsorge im heideggerschen Sinne wre hier gerade jene, welche dem Verzweifelten vorausgeht, jedoch nicht, um ihm seine Sorge abzunehmen, sondern sie ihm als solche erst zurckzugeben. Durch das »Wegrumen der Verdeckungen und Verdunklungen, [. . .], mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt«, soll dem entfremdeten Selbst geholfen werden, zu sich selbst zu kommen (Heidegger, 1993, S. 122 f.). Wie wird aber nun aus der Suizidalitt Suizid? Was bringt das verzweifelte Selbst dahin, die Selbstflucht aus der Welt anzutreten, aus seinem Leben zu springen? »Weil man mit sich selbst nicht mehr zusammenleben will«, so verdeutlicht es die junge Patientin, »weil man sich selber nicht mehr ertrgt.« Das Selbst also, das sich nicht mehr ertragen kann, dem die Last zu groß, die Brde zu schwer geworden ist, whlt hier den Tod als letzte Konsequenz. Es

Verzweiflung zum Tode?

67

flieht vor der Schwachheit seines eigenen Lebens, vor Scham, Angst, Schuld(en) oder »Verstrickungen« (Jaspers). Dabei ist der Suizid fr den Unentschiedenen die einzige Entscheidung, mit der er das Entscheiden vermeiden kann, oder wie Jaspers treffend ausdrckt, die einzige Handlung, »die von allem weiteren Handeln befreit« (Jaspers, 1956, S. 301). Solchermaßen entscheidet sich die Unentschiedenheit erst im Tode. Dieses letzte Aufbumen der verzweifelten »Schwachheit« kann bei der Behandlung depressiver Suizidalitt zum kritischen Moment werden. Hier vermag das zu sich kommende Selbst nun seine Ausweglosigkeit erkennen und whlt den Tod als letzte Mçglichkeit. Sein erstarkender Wille kann dabei auch in Trotz umschlagen und sich nun trotzig gegen sein Dasein stellen. Dies fhrt uns zur dritten und letzten Betrachtung der Verzweiflung, die Anti-Climacus »Trotz« genannt hat.

Suizid als »Trotz« – Selbstbehauptung Wollte sich die »Schwachheit« verzweifelt selbst loswerden, will der verzweifelte »Trotz« nun mit aller Macht er selber sein. Doch, so die kierkegaardsche Ironie: »Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst das er nicht ist [. . .]« (KT, S. 16). Was kann das heißen? Diese Verzweiflung geht dialektisch einen Schritt weiter, ist sozusagen erst eigentliche Verzweiflung, durch die sich ein Mensch als Geist zu Bewusstsein kommt. Whrend die uneigentliche Verzweiflung den verzweifelte Zustand des Geistes abgedrngt beziehungsweise verstellt hat, wird der Mensch in der eigentlichen Verzweiflung auf sich selbst in seiner grundgelegten Verfasstheit aufmerksam, erkennt sein Missverhltnis. Dergestalt ist diese Verzweiflung, so Anti-Climacus, auch der Wahrheit am nchsten, ist kritisches Moment, wo sich das Selbst gewinnen oder verlieren kann. Hier nun steht das Selbst, wie es Camus zu Anfang formuliert hat, vor der Grundfrage seines Lebens schlechthin, ob sein Leben wert ist, gelebt zu werden. »Ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach – Nichts«, so verdichtet Kierkegaard das Ringen um die Antwort auf das eigene Dasein in den Worten eines jungen Tagebuchschreibers in seiner Erzhlung »Die Wiederholung« (W,

68

Almut Furchert

S. 63): »Wo bin ich? Was will es sagen: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in dieses Ganze hineingenarrt und lsst mich nun da stehen? Wer bin ich? Wie kam ich in die Welt, warum wurde ich nicht befragt [. . .]?« Der sich bewusst werdende Geist erkennt hier die unauflçsbare Widersprchlichkeit seines Daseins, blickt, wie Camus es weiterfhren wrde, in den Abgrund des Absurden und sucht verzweifelt nach dessen Sinn und Gehalt. Anti-Climacus spricht hier auch von dem »nackten, abstrakten Selbst«, das erst durch die »unendliche Abstraktion von allem ußerlichen« gewonnen werden kann (KT, S. 54). Hat es doch nun ein Bewusstsein bekommen von einem unendlichen Selbst, das von der Mçglichkeit her da ist, das werden soll. Doch solcherart ungefragt ins Dasein gestellt will sich der Mensch nun nicht zu diesem seinem Sollen verhalten, nicht die Kluft berwinden, die sich vor ihm aufgetan hat. Wurde er schon ins Menschsein »hineingenarrt«, will er wenigstens ber sich selbst verfgen, sich selbst die Mçglichkeit geben, sein eigener »Anfang« sein. Whrend die »verzweifelte Schwachheit« nichts von ihrer Freiheit wissen wollte, will der verzweifelte »Trotz« nun nichts von seiner Notwendigkeit hçren, nichts von seinen Begrenzungen wissen. Trotzig will er sich lieber selber setzen, und damit, so Anti-Climacus, sein Selbst losreißen »von der Macht, die es gesetzt hat« (KT, S. 16). Auch hier kann die Verzweiflung in unterschiedliche Richtungen abbiegen: a) in die Verendlichung: Der Mensch flieht vor den aufkommenden Fragen seines Daseins zurck in die Anonymitt der Menge. Er versucht sein Selbst aus den Mçglichkeiten der Welt zusammenzusetzen, nach Anerkennung und Selbstverwirklichung zu streben, indem er, »stoisch« auf sich selber starrt (KT, S. 68 f.). Doch mit dieser »Selbstverdoppelung« arbeitet er sich nur immer tiefer in das Gegenteil hinein: Er »wird eigentlich kein Selbst«, stellt Anti-Climacus fest (KT, S. 69). Was aber wird er dann? Jener Mensch verfllt, indem er sich und Welt zum Maßstab gemacht hat, gnzlich der Relativitt seiner Endlichkeit, ihm ist so gesehen die Unendlichkeit abhanden gekommen. Ein solcher Mensch regiert wie ein »Kçnig ohne Land«, er baut sich »Luftschlçsser« und vollfhrt glnzende »Lufthiebe« (KT, S. 69 f.).

Verzweiflung zum Tode?

69

Er mag wohl bezaubern, dichten, gar die ganze Welt umschaffen, doch innerlich bleibt er eigentmlich unverndert, so verdeutlichte es Kierkegaard schon in seinen Climacus-Schriften (AUN). Sein Handeln ist ußerlichkeit, seine »Selbstverwirklichung« nur »Produziererei«. »Doch wesentlich existieren«, so Climacus weiter, »das ist die Innerlichkeit, und das Handeln der Innerlichkeit ist das Leiden. Denn sich selbst umzuproduzieren vermag das Individuum nicht, das wird ebenso wie das Sich-Produzieren Produziererei« (AUN 2, S. 141). Der Existenzdenker Søren Kierkegaard macht hier das Leiden selbst zum Bewegungsmoment der Innerlichkeit. Dabei versteht er Leiden ganz dialektisch in der Spannweite von Erleiden und Durchleiden, von Verzweiflung und Entfaltung. Die Qualitt und Folge des Leidens ist also nicht aus sich heraus, sondern aus der Art, wie ein Mensch sich zu ihm ins Verhltnis bringt, es innerlicht. Dem ganz der ußerlichkeit verhafteten Menschen mangelt es aber gerade an jener Innerlichkeit, die das Leiden zu fassen vermag. Weniger hingegen mangelt es ihm an Untersttzung fr seine »verkehrte Selbstbejahung«, die als »gut« versteht, »was ich eben bin«, so ergnzt Martin Buber spter (Buber, 1996, S. 204). Anstatt zu werden, was er gemeint ist, will solch ein Mensch sein Selbst erschaffen nach seinem Bilde, es »zu dem Selbst machen, das er sein will« (KT, S. 68). Solches »selbstische Sichbehaltenwollen« ist jedoch nicht minder ein verzweifeltes Missverhltnis: »Anstatt den Sprung ber den Abgrund zu wagen, klammert er sich kleinmtig an das, was ihm das einzig Sichere scheint: den Boden, auf dem er steht und festen Halt hat, den Leib« (Pieper, 2000, S. 130). Hier nun, in der Verendlichung, treffen sich das »trotzige« und das »schwache« Selbst wieder, gehen auf oder unter in der Welt. In einer Randnotiz nennt Anti-Climacus die verzweifelte Schwachheit auch die »Verzweiflung der Weiblichkeit« beziehungsweise den Trotz die »Verzweiflung der Mannheit« (KT, S. 47). Damit sollte weniger Klischees entsprochen als verschiedene Frbungen unterschieden werden, welche in der Betrachtung aktueller Suizidstatistiken durchaus sinnvoll sein kçnnten, um zum Beispiel den signifikant weiblichen Anteil erfolgloser beziehungsweise appellativer Suizidversuche vs. den mnnlichen Anteil erfolgreicher Suizi-

70

Almut Furchert

de verstehen zu helfen (vgl. als Kritik dazu Walsh, 1987, S. 121– 134). Whrend die »Schwachheit« also ihr Selbst in der Menge loszuwerden sucht, will sich der »Trotz« gerade gegen Gott und Welt behaupten. Doch letztlich gehen Konformismus wie Individualismus im Sinne Bubers am eigentlichen Selbstsein vorbei, sind nur unterschiedliche Gesichter derselben Verzweiflung (Buber, 1996, S. 204 f. u. 213). Anti-Climacus trifft mit seiner Beschreibung des verzweifelten Selbstverlustes wohl auch die Verzweiflung der modernen Menschen, die sich trotz aller Selbstumkreisung eigentmlich fremd bleiben: »Sie brauchen ihre Fhigkeiten, sammeln Geld und Gut, treiben weltliche Geschfte [. . .] werden vielleicht genannt in der Geschichte, aber sie selbst sind sie nicht, sie haben, geistig verstanden, kein Selbst, kein Selbst um des willen sie alles wagen wrden, kein Selbst vor Gott – wie selbstisch sie auch im brigen sein mçgen« (KT, S. 31 f.). Wie nun kann hier die Frage nach dem Sinn beantwortet werden, von dem her diese Form der Verzweiflung ihren Ausgang nahm? Aus Mangel an Unendlichkeit wird auch der Sinn ganz im Endlichen gesucht, gewissermaßen verendlicht, sein Surrogat aber verunendlicht. Im Versuch, sich zu »definieren«, hngt sich ein Selbst an ein irdenes Ideal, was ihm zum Maßstab und Sinn wird. Im besten Falle bleibt das Ideal bestehen, im schlechtesten Fall zerbricht es irgendwann, lçst sich auf wie ein Jugendkult, eine Ideologie, ein Weltreich. Gelingt keine Neudefinition, lçst sich auch das Selbst auf. Sein Suizid wird hier sinnbildlich zum Sprung aus der Leere, die die zerbrochene Lehre hinterlassen hat. Als Beispiele seien Jugendsuizide nach der Auflçsung einer Rockband angefhrt oder Selbsttçtungen nach dem Zusammenbrechen von Gesellschaftsordnungen, irregefhrten Glaubensformen oder Allmachts-Ideologien, wie unter anderem die Extrembeispiele aus den letzten Kriegstagen im »Fhrerbunker« auf erdrckende Weise vor Augen gefhrt haben. Solch ein Selbsttçter war und ist damit immer auch Spiegel der Gesellschaft. Er wirft der Welt ihren Schein vor, ihre Sinnlosigkeit oder Nichtigkeit. Er konkretisiert eine Form von Freiheit, die auch Angriff auf die Illusion allgemeiner Freiheit ist. Im berangebot der Mçglichkeiten offenbart er die zunehmende Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, diese in sinnvolle Wirklichkeit bersetzen

Verzweiflung zum Tode?

71

zu kçnnen. Der Suizid aus berdruss am Leben, aus Verzweiflung am sinnentleerten Dasein, kann hier Ausdruck der bis dato unbeantworteten existentiellen Fragen sein. Statistisch ist der Suizid die zweithufigste Todesursache junger Menschen nach Verkehrsunfllen. Jeder vierte Tod eines Menschen unter 30 Jahren ist ein Suizid (vgl. Fiedler, 2001). »Ich weiß einfach nicht mehr, wofr ich noch leben soll«, schreibt ein Jugendlicher seinen Eltern im Abschiedsbrief. Solche Suizide aus existentieller Frustration heraus zeigen gleichermaßen die Brisanz und Ohnmacht auf, mit den gestellten Fragen umzugehen. Sie verdeutlichen die Begrenztheit einer Hilfe, welche die existentiellen Kategorien von Sinn, Angst oder Einsamkeit zwar therapeutisch explorieren, nicht aber beantworten kann. Hier ist der Einzelne an die eigene Innerlichkeit verwiesen, deren mitunter krisenreiche Suche nach Sinn und Bedeutung nicht vorschnell pathologisiert beziehungsweise auf die rein ußerliche Erscheinung reduziert werden sollte. Die Kunst mag vielmehr darin bestehen, dem Fragenden zu helfen, seine Fragen als Meilensteine der Selbstwerdung zu ergreifen, oder in der poetischen Sprache Rilkes ausgedrckt, die »Fragen selbst liebzuhaben«: »Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden kçnnen, weil Sie sie nicht leben kçnnten«, so schreibt Rainer Maria Rilke 1903 an einen jungen Dichter, »Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmhlich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein« (Rilke, 1929, S. 23). Im professionellen Umgang mit suizidalen Krisen ist daher wohl beides von Nçten: das Wissen um unsere existentiellen Ungewissheiten und das Unterscheidungsvermçgen, wo diese in Verzweiflung oder Depression umzuschlagen drohen. Ein solcher Zugang vermag nicht zuletzt dem suchenden Menschen zurck in den Dialog und damit aus seiner Isolation oder Einsamkeit heraus zu helfen. b) Verunendlichung: Statt sich in der Welt zu behaupten kann der »Trotz« nun auch in die andere Richtung abbiegen. Der zu sich kommende Geist blickt hinter die Kulissen der Welt und deren vermeintliche Sicherheiten, offenbart die »Lge der sthetik«, die Unbefriedetheit und Geistvergessenheit reiner Endlichkeit. Er atmet das Dasein – »es riecht nach – Nichts«. Solchermaßen ange-

72

Almut Furchert

widert wendet er sich womçglich von der Welt ab, rettet sich ins »Phantastische«, in Allmachtsphantasien oder Grçßenwahn (KT, S. 28 u. 34). Hat das Selbst in der Verendlichung das Ewige verloren, mangelt es demjenigen, der selbst unendlich sein will, gerade an Endlichkeit. Sein Missverhltnis ist eigentlich ein Missverstndnis, so Anti-Climacus. Dieser Mensch will nur Geist sein, abstrakt und unendlich, nicht die Schwierigkeit auf sich nehmen, als endlicher Geist in der Zeit zu existieren. Dazu merkt Søren Kierkegaard in einem weiteren Tagebuch-Eintrag an: »Es wre vielleicht eine psychologisch richtige Erwiderung eines Selbstmçrders im letzten Augenblick bevor er sich erschçsse: Mit diesem Schuß tçte ich die Zeit, schlage ich die Zeit tot.« Als Tod eines Dichters hat solcherart nihilistischer Suizid Einzug in die Memoiren der Weltgeschichte gefunden. Hier ist der Suizid weder letzte Ausflucht vor einem zur Qual gewordenen Leben noch eigene Schwachheit, sondern selbst die Antwort auf die Daseinsfrage. Dieser Mensch whlt seinen Tod, um »einem Leben ohne Wrde, Menschlichkeit und Freiheit zu entrinnen«, so lsst es uns Jean Amry vor seinem Freitod wissen. Der Suizid wird hier – gleich dem »weil ich es will« Zarathustras – zum Freiheitsakt, um sich von der vermeintlichen Determiniertheit menschlichen Daseins zu erlçsen, die Grenzen von Zeit und Raum zu berwinden und sein Selbstsein im Schlussakkord des Todes zu zelebrieren: »wo unser Ich sich im Selbstauslçschen verliert und sich vielleicht zum ersten mal total verwirklicht« (Amry, 1976, S. 79). Ist der so genannte Freitod aber wirklich so frei, wie er vermeint? Statt sich seiner bedingten Freiheit handelnd im je eigenen Dasein zu vergewissern, setzt der Selbsttçter hier seine Freiheit absolut im Tode. Damit scheint er jedoch nicht aufmerksam geworden auf seine eigentliche Freiheit, so merkt Karl Jaspers kritisch an, welche sich gerade im eigenen Verhltnis zum Dasein stetig werdend verwirklicht: »Der Freiheit ungewiß mçchte ich mir beweisen, dass es sie gibt; noch unfhig, durch mein Selbstsein mich ihrer handelnd zu vergewissern, will ich sie objektiv als Mçglichkeit dargetan haben« (Jaspers, 1956, S. 187 f.). Der »Freitod« wrde so verstanden zum Ausdruck einer verzweifelten Freiheit, die sich erst im Tode ihrer selbst vergewissern kann.

Verzweiflung zum Tode?

73

Diese berlegungen implizieren wichtige Zugnge zur Hilfe beziehungsweise zu deren Grenze. Wo der Wille zum Tod entschieden ist, wo keine Erdenmçglichkeit mehr sinnvoll erscheint, lsst sich die Entschiedenheit meist nicht mehr aufbrechen. Wo die existentielle Frage bedacht wird, die Entscheidung aber noch offen ist, kann der Dialog versucht werden im Ernstnehmen der Fragen. Der sokratische Dialog ber Sinn und Unsinn des Lebens, ber Freiraum und Begrenzung, erhlt hier eine neue lebensrettende Bedeutung. In der Antwort auf die Daseinsfrage treffen sich bei Kierkegaard schließlich Anthropologie und Theologie. Denn wo sich der unendliche Geist seiner endlichen Gebundenheit vollends zu Bewusstsein kommt und am Paradox seines Daseins zu verzweifeln droht, kann mit Anti-Climacus gesprochen nur noch der Glaube retten (KT, 35). Dieser beginnt dort, wo der Verstand begreift, dass es nichts mehr zu begreifen gibt. Erst hier, wo ein Mensch vom sicheren Ufer des Wissens hinber ans Ufer des Nichtwissbaren springt, wagt er sich aus der Abstraktion des Unendlichen in die Konkretion der Begegnung, wird ihm das Unendliche zum Gegenber. Indem sich das Selbst nun aber glaubend in der Spannung zum Unendlichen verhlt, verhlt es sich auch zu seiner eigenen Endlichkeit. Damit verwirft es die typischen Ausflchte in Verendlichung oder Verunendlichung gleichermaßen. In der Konsequenz des kierkegaardschen Existenzdenkens ist dieser Glaube jedoch keinesfalls ein Sprung aus dem Leben heraus, nicht die Zerstçrung des Leib-Seele-Verhltnisses, sondern vielmehr die Erçffnung einer neuen Lebenswirklichkeit, eines verwandelten Existenzverhltnisses mitten im Leben: Denn »indem es sich zu sich selbst verhlt und indem es es selbst sein will, grndet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat« (KT, S. 47). Die in letzter Konsequenz theologische Anthropologie von Anti-Climacus ist nicht ohne Kritik geblieben. So kritisiert etwa Haim Gordon, dass Kierkegaards Konzept der Selbstwerdung nicht ohne Gottesverhltnis zu denken sei: »Accepting this understandig of despair would lead us to conclude all the Buddhists in the world together with atheists such as Karl Marx, Bertrand Russell, and Jean-Paul Sartre never became themselves« (Gordon, 1987, S. 250). Ob diese Kritik aber die metaphysische Offenheit

74

Almut Furchert

trifft, mit der Anti-Climacus hier von der unendlichen Macht spricht, zu welcher sich das Selbst in seiner je eigenen Weise verhlt oder nicht verhlt, wollen wir dahingestellt lassen, um einer letzten Frage Raum zu geben: Lassen sich mithilfe dieser dritten Perspektive auch Extrembeispiele wie etwa der terroristische Suizid oder der einspringende Tod unterscheiden? Die Bezeichnung einspringender Tod whle ich hier bewusst in Distinktion zum »altruistischen Suizid« und seiner Problematik und beziehe mich auf das biblische Bild des Freundestodes: »Niemand hat grçßere Liebe denn die, dass er sein Leben lsst fr seine Freunde« (Joh., 15, 13). Wie kçnnen wir also unterscheiden zwischen demjenigen, der sich etwa fr eine Sache in die Luft sprengt, und demjenigen, der sein Leben gibt, um einen anderen zu retten? Berufen sich nicht beide auf so etwas wie einen hçheren Sinn? Der Unterschied mag auch hier in der Verhltnissetzung liegen. Ein Mensch kann sich an seinem Verhltnis zum Unendlichen relativieren oder aber sich an ihm berauschen im Wunsch, selbst allmchtig – gottgleich – zu sein. Anti-Climacus beschreibt letztere Selbstberhçhung auch als ein »dmonisches Rasen«, wo sich das verzweifelte Selbst nun gegen das ganze Dasein empçrt (KT, S. 74). Wollten wir Formen des terroristischen oder erweiterten Suizids als jene »dmonische Verzweiflung« verstehen, hat sich die Verzweiflung hier am hçchsten potenziert. Im Hass wider das Dasein will sie gerade sie selber sein, will sich im »wahnwitzigen Trotz« nun der setzenden Macht »aufnçtigen, ihr sich auftrotzen, will aus Bosheit sich an sie halten« (KT, S. 74). Dabei will sich jener Mensch durch seine Tat selbst erschaffen, der Welt ihre Sinnlosigkeit und Ohnmacht und gleichzeitig seine Allmacht vorfhren. Angst und Schrecken verbreitend glaubt er den Einredungen, er kçnnte seinem Selbst mit seiner Tat Sinn und Grçße verleihen, gar unsterblich werden. Das Selbst hat sich hier so weit verloren, dass es ganz in der Suizidideologie aufgegangen ist. Durch die Tat kann es zum Sinnstifter und »Mrtyrer« werden, vielleicht ein einziges und letztes Mal von der Welt beachtet, sein Selbst gleichzeitig aus seinem unbehausten Dasein retten. Hier treffen wir auf Urbild und Zerrbild des Mrtyrers gleichermaßen, welches unter Umstnden Leben tausendfach retten oder zerstçren kann.

Verzweiflung zum Tode?

75

Im einspringenden Tod hingegen gibt sich ein Mensch, ungeachtet der Kenntnisnahme der Welt, um das Leben eines anderen zu retten. Es sei hier stellvertretend an den polnischen Franziskanerpater Maximilian Kolbe erinnert, der als Hftling im KZ Auschwitz seinen eigenen Tod im Austausch fr das Leben eines Familienvaters gab (vgl. http://www.maximilian-kolbe-werk.de). Hier – und womçglich nur hier – ließe sich der stellvertretende Tod in Kohrenz zu einem gelingenden Selbstverhltnis denken. Letztlich bleibt aber auch er fr den Außenstehenden unverstehbar, oder mit Jaspers gesprochen, »das Geheimnis des Einzelnen mit sich selbst, wie und in welchem Sinne er in Wahrheit ›ist‹« (Jaspers, 1956, S. 313).

Conclusion »Verstehende Psychologie aber muß sich bescheiden. Was im einzelnen Menschen wahr ist, sieht nur der Liebende.« (Karl Jaspers)

Wir haben versucht, Suizidalitt ausgehend von der Verzweiflungsanalyse des Anti-Climacus in ihren unterschiedlichen Facetten zu betrachten. Dabei haben wir die suizidale Verzweiflung als ein Phnomen kennengelernt, das die ganze Existenz zu erfassen und in letzter Konsequenz zu vernichten imstande ist. Verstehen wir den Suizid eines Menschen als Form der Selbstrettung (1), erscheint der Tod hier als einziger Ausweg. Das Selbst will sich selbst, aber weiß sich nicht zu helfen. Seine Entschiedenheit zum Tode ist damit eine verzweifelte. Die Mçglichkeit als Handlungsraum wird hier zum entscheidenden Moment. Kann eine Mçglichkeit aufgeschlossen, eine neue Lebensperspektive erçffnet werden, verliert der Tod seine Funktion. Im Fall der Selbstvernichtung (2) steht der Suizid als Ausdruck der Selbstflucht im Vordergrund. Das Selbst will sich nicht, will sich nicht selber helfen. Es flchtet vor den Anforderungen der Lebensfhrung, vor dem Aushalten der Grenzsituationen. Der Tod ist so verstanden die einzige Mçglichkeit, in der die Unentschiedenheit sich nicht selbst aufheben muss. Die dritte Form nun haben wir als Selbstbehauptung (3) be-

76

Almut Furchert

schrieben. Das Selbst will mit aller Macht es selber sein, sich gegen die Nichtigkeit des Daseins behaupten, notfalls im Tod. Fr den solcherart Entschiedenen wird der Tod selbst zum Sinntrger, verwirklicht er sich durch die Selbstschçpfung im Tode. Wie gesehen sind die berschneidungen der drei Perspektiven vielfltig. So kann der Mensch, wie auch die Anti-Climacus-Analysen zeigen, zu allen Aspekten seines Selbst in ein Missverhltnis geraten. Die Verzweiflung hat daher viele Gesichter, denn jede Existenz hat ihre eigene Verzweiflung. Die Kategorie der Entschiedenheit kçnnte helfen, zwischen den unterschiedlichen suizidalen Intentionen zu differenzieren. Dies hat wichtigen Einfluss auf die Weise der Hilfe. Kann man dem verzweifelt Entschiedenen (1) Mçglichkeiten erçffnen, die ihm bisher nicht zugnglich waren, ist die Flucht aus dem Leben nicht mehr einziger Ausweg. Die Selbstflucht als entschiedene Unentschiedenheit (2) scheint schwieriger aufzulçsen. In ihrer Indifferenz dem Leben gegenber kann sie dem Dasein die Antwort schuldig bleiben. Hier muss der Wille zum Leben gestrkt aber auch die Fhigkeit und Notwendigkeit zur Verantwortung zurckgegeben werden. Die dritte Form als Selbstbehauptung oder Weltflucht ist mit Søren Kierkegaard die dialektischste. Hier hat die Verzweiflung den hçchsten Grad an Selbstbewusstheit erreicht. Der Mensch wird sich selbst zur Frage, sucht nach Antwort und Sinn. Seine existentiellen Fragen ernst zu nehmen kann lebensrettend sein. Die entschiedene Entschiedenheit aber zieht sich in die Verschlossenheit zurck, zu der keine Hilfe mehr dringt. Wie aber nun kann jemand seine Verzweiflung berwinden, seine Daseinsfrage beantworten? Kierkegaard bietet dazu kein Rezept. Die Spannung des Selbstwerdens, in die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit gestellt, legt er dem Einzelnen als Aufgabe vor. Wie und ob die Antwort auf die je eigene Daseinsfrage gelingt, ob Verzweiflung im Selbstvollzug berwunden oder das Leben tçtend beendet wird, bleibt letztlich Geheimnis der einzelnen Existenz. Hier schließt sich der Kreis zur kierkegaardschen Kategorie des Sprunges als inneres Entscheidungshandeln, welches fr das Auge des Betrachters letztlich unsichtbar bleibt. In der Auseinandersetzung mit dem Suizid werden wir damit auch der Imper-

Verzweiflung zum Tode?

77

fektibilitt und Begrenztheit menschlichen Daseins gewahr in seiner Spannung zwischen Mçglichkeit und Wirklichkeit, Werden und Vergehen. Wie Kierkegaards Existenzdialektik nicht ohne den Leser auskommt, der sich zum Gelesenen in Beziehung setzt, fordert auch die Auseinandersetzung mit der Selbsttçtung unsere eigene Beziehungssetzung, die uns kein theoretisches Modell abnehmen kann. Ob man wie Albert Camus gegen das Absurde aufbegehren oder schlussendlich wie Jean Amry aus der Gewaltherrschaft der »Kausalketten« in den Tod fliehen mag oder aber wie Søren Kierkegaard ins Verhltnis der sich vor Gott selbst werdenden Existenz findet, bleibt Frage an einen jeden. Was bleibt zu tun? Wir kçnnen fragen, verstehen und klren helfen. Den Verzweifelten bis zu jenem Punkt hinleiten, »von dem aus er den persçnlichen Weg oder doch seinen Anfang zu erblicken vermag« (Buber, 1996, S. 128 f.). Dazu wird es neben Professionalitt von Bedeutung sein, inwieweit wir selbst einmal unserem Dasein in der Tiefe andchtig wurden und das eigene Tal der Verzweiflung durchwandert haben. Denn, so Kierkegaard: »im Verhltnis zum Existieren gibt es fr alle Existierenden einen einzigen Lehrmeister: die Existenz selbst« (TB I, S. 26; Pap. VI A, S. 140). Die junge Patientin brigens hat sich – ihrer Entscheidungsfreiheit ansichtig geworden – fr das Leben entschieden. Ihr bin ich zu Dank verpflichtet, von ihr habe ich gelernt.

Literatur 1. Schriften Søren Kierkegaards Gesammelte Werke (GW1). (1951–1969). E. Hirsch, H. Gerdes, HM. Junghans (Hrsg. u. bers.). Dsseldorf u. Kçln: Diederichs. Die Tagebcher. Bd. 1–5. (1962–1974). H. Gerdes (Hrsg., bers.). Dsseldorf u. Kçln: Diederichs. Papirer. 20 Bde, bzw. 16 Bde, 2. erw. Auflage. (1909–1948, 1968–1978). P. A. Heiberg, V. Kuhr, E. Torsting, N. Thulstrup, N. J. Cappelørn (Hrsg.), Kopenhagen: Gyldendal. Verwendete Siglen: AUN 1–2 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Bd. 1 und 2, GW1 10–11

78 BA KT Pap. TB 1–5 W

Almut Furchert Der Begriff Angst, GW1 7 Die Krankheit zum Tode [Sygdommen til Døden], GW1 17 Papirer Die Tagebcher 1–5 Die Wiederholung, GW1 14

2. Sekundrliteratur Amry, J. (1976). Hand an sich legen. Diskurs ber den Freitod. Stuttgart: KlettCotta. Buber, M. (1996). Buber fr Atheisten. Ausgewhlte Texte. Gerlingen: Schneider. Buber, M. (1999). Ich und Du. Stuttgart: Reclam. Camus, A. (1997). Unter dem Zeichen der Freiheit. Camus Lesebuch. Hamburg: Rowohlt. Diekstra, R. W. F. (1992). Epidemiology of suicide: aspects of definition, classification, and preventive policies. In P. Crepet, G. Ferrari, S. Platt, M. Bellini (Eds.), Suicidal Behaviour in Europe (pp. 15–44). Roma: John Libbey. Fiedler, G. (2001). Suizide, Suizidversuche und Suizidalitt in Deutschland. Daten und Fakten. http://www.uke.uni-hamburg.de/extern/tzs/online-text/daten-fakten-rev_2–2.pdf. Frankl, V. E. (2001). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Mnchen: Piper. Gadenne, V. (2004). Philosophie der Psychologie. Bern: Huber. Gordon, H. (1987). A Rejection of Kierkegaard’s Monism of Despair. Int Kierkegaard Commentary. Macon: Mercer University Press. Heidegger, M. (1993). Sein und Zeit. Tbingen: Niemeyer. Jaspers, K. (1956). Philosophie II. (3. Aufl.). Heidelberg: Springer. Pieper, A. (2000). Søren Kierkegaard. Mnchen: Beck. Pieper, A. (2005). Freiheit und Suizid. EXIT, 4, 12–13. Purkarthofer, R. (2005). Kierkegaard. Leipzig: Reclam. Rilke, R. M. (1929). Briefe an einen jungen Dichter. Leipzig: Insel. Ringleben, J. (1995). Die Krankheit zum Tode von Søren Kierkegaard. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Theunissen, M. (1993). Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Walsh, S. I. (1987). On »Feminine« and »Masculine« Forms of Despair. Int. Kierkegaard Commentary. Macon: Mercer University Press, 19, 121–134.

Jçrn Ahrens

Ein Tod wider das Gesetz berlegungen zu einer Soziologie des Selbstmords1

Tod und Selbstmord Das Interesse der modernen Suizidologie liegt nicht im Bereich einer Soziologie des Todes. Nach wie vor beeinflusst durch die Arbeiten Durkheims und Masaryks, steht die Suizidologie in der Tradition einer Interpretation des Selbstmords als Phnomen der Dcadence und der Degeneration. Das fin de sicle schuf eine breite medizinische Analogie zwischen diversen Erkrankungen, hauptschlich psychologischer Art, und gesellschaftlichen Faktoren als deren Ursache. In diese Deutungsmuster integrierten Durkheim und Masaryk ihre jeweiligen Interpretationen des Selbstmordes. Seit Masaryk wird die gesellschaftliche Selbstmordrate hauptschlich dazu genutzt, die Geschlossenheit einer Gesellschaft zu beurteilen; eine hohe Selbstmordrate soll also auf soziale Dekompositionsprozesse hinweisen. Masaryk argumentiert, »dass die krankhafte Selbstmordneigung der Gegenwart in letzter Instanz durch die Irreligiositt der Massen verursacht wird« (Masaryk, 1881/1982, S. 141). Durkheim schließt an diese Position an, wenn er die »steigende Flut der Selbstmorde« mit einer Krise der Zivilisation in Form einer krankhaften, kollektiven Melancholie in Verbindung bringt (Durkheim, 1987/1990, S. 437). Folglich besteht die praktische Absicht der Suizidologie in der Begrndung 1 berarbeitete Fassung des gleichnamigen Artikels in: Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift fr Sozial- und Kulturwissenschaften, Heft1/2000.

80

Jçrn Ahrens

einer sozialen Selbstmordprophylaxe. Zu diesem Zweck werden immer neu Kategorisierungen des Selbstmords und seiner vermeintlichen Motivationen erstellt. So gert der Selbstmord als gesellschaftliches Phnomen zum Indikator fr soziale Stabilitt respektive fr deren Pathologisierung. Hingegen hat Weichbrodt schon 1923 zurckgewiesen, »dass die Selbstmordhufigkeit ein Gradmesser der Kultur und Moralkraft eines Volkes sei [. . .]« (Weichbrodt, 1923, S. 41). Dessen ungeachtet aber gilt ausgelçst durch den Industrialismus selbst der Selbstmord nun als ein symbolischer Modus der Desintegration der Gesellschaft. Auffllig ist dabei zumindest die eilige Herauslçsung des Selbstmords aus einem wechselseitigen Verhltnis von Subjekt und Gesellschaft. Als sozial zu interpretierendes Phnomen gilt der Selbstmord nur unter einer anomischen Perspektive, die auf eine umfassende Prophylaxepraxis abzielt. In dieser Tradition stehende Arbeiten bemhen sich um eine ußerst differenzierte Klassifizierung der Selbstmordarten und -motive, lassen aber darber die soziale Analyse des Phnomens unbercksichtigt (vgl. z. B. Schobert, 1989; Lindner-Braun, 1990). An dieser Stelle soll der Versuch einer Analyse des Selbstmords als gesellschaftliches Phnomen unternommen werden (Ahrens, 2001). Ihr methodischer Ausgangspunkt liegt jenseits der auf Durkheim zurckgehenden Suizidologie. Die Normabweichung rechtfertigt sich darin selbst als Gegenstand eines soziologischen Interesses, das vor allem darauf gerichtet ist, die soziale Norm wiederherzustellen. Das Phnomen des Selbstmords wird im Allgemeinen aus einem gesellschaftlichen Blickwinkel untersucht, der soziale Devianz eindmmen mçchte und das abweichende Verhalten pejorativ beurteilt. Diesen Blickwinkel mçchte ich umkehren. Es liegt nahe, dass die vehemente Abwehr eines spezifischen sozialen Phnomens analytisch Aufschlsse ber Gesellschaft erlaubt. Unter der Prmisse, dass die Vergesellschaftung des Todes auch ein wichtiges Epistem der sich seit der Neuzeit herausbildenden brgerlichen Gesellschaften darstellt, bietet die Analyse der symbolischen Verortung des Selbstmords in der Gesellschaft die Mçglichkeit, soziale Begrndungszusammenhnge offenzulegen. Das im Selbstmord zum Ausdruck kommende, deviante Ver-

Ein Tod wider das Gesetz

81

halten ist in besonderer Weise normativ besetzt. Seine Devianz ist durch das soziale Gesetz nicht mehr zu ahnden. Hier steht der nomistische Souvern, verkçrpert durch das soziale Gesetz und die sich daraus konstituierende, soziale Figuration der vollzogenen Tat machtlos gegenber. Seine Abfuhr holt er sich in diversen Strategien zur Reglementierung des eigenen Todes und seiner berlebenden. Der Selbstmord aber ist nicht regulierbar. Zur Figur des Souverns sei ein kurzer Exkurs erlaubt: Sie leitet sich aus einer mittelalterlichen, profane und sakrale Macht vermengenden Auffassung her (Kantorowicz, 1994). Sie wirkt, obgleich profanisiert, relativ ungebrochen fort in der neuzeitlichen Sozialphilosophie von Hobbes bis Rousseau. Ihr theologisches Pendant findet sie in der Entwicklung vornehmlich der protestantischen Theologie etwa von Karl Barth, aber auch von Paul Tillich. Diese transzendent gehaltene Souvernitt, die ich, in Anlehnung an Carl Schmitt, den »sozialen Nomos« nenne (Schmitt, 1959; 1993; 1997), findet sich jenseits des Gottes im Allgemeinwillen, im Sittengesetz oder tautologisch im Begriff von Gesellschaft selbst. Sie findet ihre Initiale vor allem im Bild des Todes, von dem her sich das Leben und die Gesellschaft, also der soziale Kosmos, begrenzt (Belting, 1996). Die Gabe des Todes ist traditionell die Gabe des Souverns an die Einzelnen (Derrida, 1993; 1994). Daraus legitimiert sich seit dem Christentum eine Daseinspflicht, die das Leben an sich prinzipiell hçher bewertet, als das »gute Leben«. Dies markiert einen Begriff von Leben, das nicht den Subjekten selbst gehçrt, sondern das gestundet ist. Weil es eine Gabe ist, die nicht dem Subjekt selbst angehçrt, muss das Leben auch normativ richtig ausgefhrt sein. Indem der Tod diejenige Trope des gesellschaftlichen Ensembles darstellt, die nicht innerhalb des Sozialen selbst angesiedelt ist und auch nicht durch die die Gesellschaft bildenden Individuen antizipiert werden kann, bezeichnet er die Differenz des Sozialen zu sich selbst. Der Tod wirkt sozial begrndend und legitimierend, ohne dass ihm Sozialitt inhrent wre. Von ihm und der durch ihn symbolisierten Gewalt aus entfaltet sich die Teilung der Gesellschaft. Soziale Distributivitt findet ihr Ende im Tod, der unteilbar ist. Der Selbstmord geschieht auf der prekren Bruchstelle von No-

82

Jçrn Ahrens

mos und Autonomie. Jede andere soziale Devianz im Sinne sozialer Herrschaft bleibt regulierbar, da sie diskursiv einholbar bleibt. Das ist beim Selbstmord nicht der Fall. Hier begibt sich das Subjekt in eine anomische Differenz zum Sozialen, in welcher es auch sich selbst aufgibt. Die in der brgerlichen Gesellschaft stark ausgeprgte ethische Festlegung des Menschen auf das Leben als Faktizitt richtet ihr Interesse vorrangig auf die Bewahrung der gesellschaftlichen, nicht der individuellen Integritt. Das Allgemeine genießt jederzeit den Vorrang. »Das Apriori und die Gesellschaft sind ineinander. [. . .] [D]as Individuum ist nicht weniger in sich gefangen als in der Allgemeinheit, der Gesellschaft. Daher das Interesse an der Umdeutung von Gefangenschaft in Freiheit« (Adorno, 1997, GS 10.2, S. 750). Interpretiert man daher Gesellschaft vom devianten Phnomen des Selbstmords her, so besteht die Aussicht, die moralische Verurteilung des Selbstmords auf ihren Grund hin zu dekonstruieren. In diesem Sinne folgt man dem Diktum Adornos, die Reflexion auf Gesellschaft beginne dort, wo Verstehbarkeit ende (Adorno, 1997, GS 8, S. 12). Das bislang Unverstandene ist der Gegenstand gesellschaftstheoretischen Interesses. Zugrunde liegt die Prmisse, dass der Tod eine zentrale Stellung im Kontext von Vergesellschaftung einnimmt und dass auch unter profanisierten Vorzeichen ein transzendentes Weltverhltnis tradiert wird. Wenn das zutrfe, wrde die soziale Abwehr gegen den subjektiv verfassten Akt des Selbstmords deutlicher werden. Am Ende stnde eine vertiefte Einsicht in die symbolische Ordnung der Gesellschaft und ihrer Abwehr von Kontingenz, wie auch in die Reichweite des modernen Konzepts von Subjektautonomie. Insofern wird zunchst die ber das Motiv des Todes verlaufende Vergesellschaftungspraxis untersucht, die in eine bis heute wirksame Tradierung des Selbstmordverbotes einmndet. Daran schließt eine Betrachtung des Todes als sozialem Dispositiv an. Dieses Dispositiv wirkt als ein transzendentaler Rest auch in der modernen Gesellschaft fort. Hier nimmt der Selbstmord symbolisch eine Stellung ein, die das neuzeitliche Subjektivittskonzept anomisch gegen Vergesellschaftung wendet. Damit stnde das Bild eines anomischen Todes durch den Selbstmord gegen das

Ein Tod wider das Gesetz

83

Motiv des Erhalts der gesellschaftlichen Ordnung, woraus sich die andauernde Sanktionierung des Selbstmords begrndet.

Tod und Vergesellschaftung Die Analyse des Selbstmords als eines sozialen Zeichens zeigt die Bedeutung des Todes fr die Vergesellschaftungsprozesse auch in der modernen Gesellschaft an. Der Tod erweist sich als ein Skandal des Lebens, der sich vornehmlich ber die Erfahrung am Anderen Geltung verschafft (Macho, 1994). Das erfordert vor allem seine partielle Ausschließung. Erst gegenwrtig scheint der Tod, im Zuge seiner medizinischen und biotechnologischen Bemchtigung, seine Bedeutung als strukturelles Movens sozialer Institutionalisierung sowie als phantasmatisches Agens sozialer Unterwerfung unter eine jeweils gerechtfertigte Souvernitt zu verlieren. Schon frh hat Foucault auf diese Entwicklung verwiesen und an ihr ein neues Paradigma der Macht ber das Leben der Einzelnen festgemacht. Da so der Tod aufhçre, »dem Leben stndig auf den Fersen zu sein« (Foucault, 1983, S. 163), werde auch die Abwehr des Selbstmords sozial obsolet. Diese These wird endgltig da verifiziert, wo gezeigt wird, dass der Tod selbst im Zuge der Hirntoddiagnose und der Sterbehilfepraxis medizinisch und technologisch zum Verschwinden gebracht wird (vgl. Ziegler, 1977, S. 75 ff.; Manzei, 1997; Zirfas, 1998; Diemling, 1999; Lindemann, 1999). Allerdings kann die so konstatierte Entwicklung hin zu einer berwindung des Todes im Zuge einer mediko-technologischen Verwischung seines zeitlich klar bestimmbaren Eintretens im Hirntod nicht als ausgemacht gelten. Eher noch haftet ihr ein Zug des Scheinbaren an. Genauso existiert auch der gegenteilige Befund einer durch die Medikalisierung der Gesellschaft bewirkten, schleichenden Subsumtion der Gesellschaft unter das Prinzip einer Herrschaft des Todes (Baudrillard, 1991a, Kap. V; Mischke, 1996). Unter dieser Kuratel der Entfremdung muss Gesellschaft schließlich selbst zur Metapher des Todes werden. Wer die Bedeutung des Selbstmords im Ensemble von Gesellschaft verstehen will, darf deshalb nicht schlicht nach den Varia-

84

Jçrn Ahrens

blen seiner Kausalitt fragen, sondern muss den sozialen Diskurs befragen, worin der Selbstmord als soziales Phnomen beschlossen liegt. Dieser Diskurs ist der des Todes. Der Tod bildet ein bleibendes soziales Epistem und hat seinen festen Platz in der »Ordnung des Diskurses« (Foucault). Wo die transzendent begrndete Ordnung der Gesellschaft in ihrer Diskursordnung noch mittelbar einsichtig war, weil die Figur einer fernsten Souvernitt darin offenlag, schließt sie sich in ihrer profanisierten Form hermetisch ab (Foucault, 1978; 1991). Transzendent gehaltene Mchtigkeit verschwindet in der Abstraktion einer ortlosen Macht des Sozialen, die ihre Grenze und ihre Begrndung im Leben derjenigen Subjekte findet, vermittels derer sie sich konstituiert und perpetuiert. Die moderne Begrndung sozialer Normativitt verlngert eine ursprnglich sakrale Macht ber die Gesellschaft in die Profanitt hinein und sperrt Subjektivitt ab. Da die soziale Ordnung weiterhin quasi transzendent begrndet bleibt, bleibt auch die diskursive Grçße des Todes bestehen. Der Tod als souverne Gabe und als Grenze von Sinn und Dasein wird zwar sublimiert, bleibt aber prsent. Gerade fr die brgerliche Gesellschaft gilt, dass im Moment des Todes ein wesentlicher Vergesellschaftungsfaktor gesehen werden kann (vgl. Simmel, 1956; Ferber, 1963; Groethuysen, 1978; Nassehi u. Weber, 1989). Brgerliches Streben gilt einer manifesten und symbolischen Todesberwindung. Die demiurgische Kraft der modernen Gesellschaft, ihre Akkumulation auf der materiellen wie auf der semiotischen Ebene, zielt strker noch, als es Kultur sonst zu eigen ist, auf die letztliche berwindung des Todes, auf Unendlichkeit (Borkenau, 1991; Lyotard, 1994). In diesem Begehren nach dem Unmçglichen verschwindet der Tod aber gerade nicht, es findet auch keine Verdrngung statt. Vielmehr kreist Gesellschaftlichkeit zentral um eine Vergegenwrtigung des Todes. In diesem Sinne gewhrleistet der individuelle Tod auch das »ber-Leben« (P. Berghoff) des Allgemeinen. Zum Sinn des einzelnen Todes wird die Perpetuierung des Kollektivs, das durch seinen Fortbestand an der Ewigkeit teilhat, die dem Individuum verwehrt ist. Hinsichtlich einer sozialwissenschaftlichen Analyse von Gesellschaft fhrt es nicht weit genug, den Selbstmord, wie Durkheim

Ein Tod wider das Gesetz

85

dekretiert hat, schlicht als subjektive Anomie zu begreifen und sich ber die Analyse seiner Ursachen einer Praxis der Prophylaxe zu versichern. Der Ausschluss des Phnomens aus der Gesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit seinem Verstehen. Vielmehr sollte der Selbstmord als ein genuin soziales Phnomen verstanden werden, das aufgrund seines spezifischen sozialen Stellenwerts mehr ber die Gesellschaft aussagt, worin er geschieht, als umgekehrt. Die subjektive Entscheidung zum Selbstmord und dessen soziale Symbolik fallen in der Regel allerdings nicht in eins. Der Selbstmord, derart abstrakt betrachtet, gert zum Signifikanten der Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, zunchst den sozialen Ort des Selbstmords zu bestimmen. Dieser soziale Ort liegt im Imaginren der den Selbstmord ausschließenden Gesellschaft, wie auch im ihr eigenen Nomos; er besteht in der Verwerfung einer Anomie, die sich gegen eine durch den Tod fundierte soziale Souvernitt richtet. Die Ausschließung des Selbstmords aus dem Ensemble des Sozialen grndet sich weniger auf die Grnde der Selbstmçrder, sich selbst zu tçten, als auf ein nomistisch orientiertes Verstndnis von Gesellschaft, dessen Begriff des Lebens auf das engste mit einer spezifischen Vergesellschaftung des Todes verbunden ist. Die soziale Rezeption des Selbstmords weist dabei eine erstaunliche Kontinuitt auf. Whrend das Bild des Todes sich historisch verschiedenen Wandlungen und Interpretationsbrchen ausgesetzt sah, ist dies beim Selbstmord nicht unbedingt der Fall (Aris, 1982; Minois, 1996; Willemsen, 1989). Wohl hat es Vernderungen in Hinblick auf die sozialen Reaktionsformen auf den Selbstmord gegeben; seine maßgebliche Bedeutung ist aber seit der Definition durch die christliche Religion konstant. Die Abwehr des Selbstmords, als einer in die Gesellschaft von außen einbrechenden Anomie, deren Regelverstoß vor allem in der subjektiven Ablehnung des Lebens zu suchen ist, ist in nahezu identischer Weise von Augustinus bis zu Kant und in die Gegenwart zu verfolgen. Die Tradition, worin eine solche Vergesellschaftung des Todes steht, ist ganz offenbar religiçs gebunden. Die christliche Ablehnung des Selbstmords leuchtet noch unmittelbar ein, denn wenn das Leben ein Geschenk des souvernen Gottes ist, darf es auch

86

Jçrn Ahrens

nur durch diesen genommen werden (Augustinus, 1991; Thomas, 1985). Die Eigennahme des Todes bedeutet dann einen Verstoß gegen gçttliches Gesetz und gegen die ganze Schçpfung. Dagegen fllt es wesentlich schwerer, die Argumentation der aufklrerischen Philosophie gegen den Selbstmord nachzuvollziehen (Kant, 1993a; Hegel, 1986; Fichte, 1976). Das Verdikt gegen den Selbstmord bezeichnete letztlich den Bezug der Gesellschaft auf eine transzendente Souvernitt in Gestalt des Leben und Gesetz spendenden Gottes. Ungeachtet aller Skularisierungstendenzen hat sich auch innerhalb der modernen Gesellschaft diese Vergesellschaftung des Todes tradiert, da aus ihr ein bestimmtes Verstndnis von gesellschaftlicher Souvernitt hervorgeht. Sofern der Tod nmlich auch in der modernen Gesellschaft integraler Teil eines sozialen Nomos ist, der die symbolische Ordnung der Gesellschaft begrndet, der Tod also die ußerste Signatur einer fernsten Souvernitt der Gesellschaft bleibt, stellt der Selbstmord auch fr die profanisierte Gesellschaft weiterhin eine Grçße dar, die die Autoritt dieses Nomos unmittelbar angreift (vgl. Landsberg, 1973; Guillon u. Le Bonniec, 1982; Erlinghagen, 1994). In der praktischen und wissenschaftlichen Selbstmordprophylaxe geht es deshalb immer um die Einhegung eines anomischen Phnomens, das nicht unmittelbar wegen seiner subjektiven Konsequenz eines individuellen Todes, sondern aufgrund seiner symbolischen Konsequenz der Aufsprengung des sozialen Nomos sozial brisant ist. Um die bis in die Gegenwart nachwirkende, gesellschaftliche Ablehnung des Selbstmords zu verstehen, muss man also auf die Figur eines religiçs konnotierten Nomos zurckgehen. Die These ist, dass der Tod nicht nur religiçs eine wesentliche Vergesellschaftungsfunktion einnimmt. Als Grenze des Lebens erhlt der Tod eine zentrale Stellung in der Bestimmung der conditio humana und der Gesellschaft selbst. Aufgabe von Gesellschaft ist Sinnstiftung und die Gewhrleistung kollektiver und individueller Selbsterhaltung. Gesellschaft basiert stets auf einem grçßtmçglichen Prinzip der Homogenitt. Das zeigen besonders deutlich der Monotheismus und analog die neuzeitliche Vertragstheorie. Das deviante Subjekt erleidet hier den Ausschluss oder sogar den Tod. Auch in der an ein Konzept von Subjektautonomie angebundenen Phi-

Ein Tod wider das Gesetz

87

losophie der Aufklrung ist das nicht anders. Gesellschaftlichkeit bençtigt zu ihrer Legitimation eine spezifische Souvernitt. Von dieser aus ist Gesellschaft als symbolische Ordnung organisiert und legitimiert. Aus dieser spezifischen, in einen religiçsen Kontext eingebetteten Stellung des Todes innerhalb der kulturellen Organisation des Sozialen ergibt sich sein Verhltnis zur transzendenten wie auch zur profanen Souvernitt. Daraus folgt ein Verstndnis des Todes, das den Selbstmord als einen Akt des devianten, dem Gesetz entzogenen Todes zu sanktionieren gezwungen ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich die gesellschaftliche Interpretation des Selbstmords bis heute nicht wesentlich gegenber seiner Rezeption durch Augustinus oder Luther gendert. Zu vermuten ist daher, dass es zwischen dem notwendig zu vergesellschaftenden Tod als der unhintergehbaren Grenze des Lebens wie auch als fortbestehender, transzendenter Instanz im Profanen und einer sozialen Souvernitt eine Verbindung gibt. Diese sttzt sich zwar nicht mehr auf die Figur des Gottes, wohl aber auf ein Verstndnis des Lebens, das sich am Tode bricht. Zwischen dem Tod und dem Nomos der sozialen Souvernitt muss es eine urschliche Verbindung geben, aus der sich das tradierte Selbstmordverdikt herleitet. Die »Ideologie des Todes« (Herbert Marcuse) verpflichtet auf das Leben, wie es sich als Faktizitt prsentiert. Deshalb muss die deviante Handlung des Selbstmords auch dort noch geahndet werden, wo die religiçse Anbindung, die das Verbot des eigenen Todes plausibel macht, nicht mehr besteht.

Die Tradierung des Selbstmordverbots Noch bis ins 17. Jahrhundert hinein hat man Selbstmçrdern als Toten den Prozess gemacht, hat man sie fr ihr Vergehen regelrecht verurteilt, die Leichen gefoltert und posthum hingerichtet (Minois, 1996). Indem er mit dem Bann belegt ist, fllt der Selbstmord auf die Außenseite des sozialen Geschehens. Sozialer Bann ber eine Praxis ist stets Ausdruck von Herrschaft, wo sie sich in Gefahr weiß, denn es »gehçrt zum Mechanismus der Herrschaft,

88

Jçrn Ahrens

die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten [. . .]« (Adorno, 1997, GS 4, S. 70). So steht auch der Selbstmord im Zentrum eines sozialen Diskurses ber das Leben. Dass der Selbstmord nach wie vor unter ein moralisches, mithin auch unter ein juridisches Verdikt fllt, macht innerhalb einer skularisierten Gesellschaft keinen Sinn (Hume, 1984; Holbach, 1960; Casanova, 1994). Indem er es tut, wird offenbar, dass dem Tod nach wie vor seine Bedeutung innerhalb der Diskursivierung des sozialen Nomos zukommt. Das Moment des Todes wird zu einer zentralen kulturellen Instanz, um Menschen mit ihrem Dasein zu versçhnen. In diesem Sinne wird es unmittelbar mit dem Motiv einer unaufhebbaren, religiçsen Schuld gekoppelt. Die Todesangst bezieht sich deshalb nicht auf den Tod »als sicher zukommendes Ereignis und nicht auf seine Gewißheit, sondern auf die Ungewißheit des postmortalen Schicksals. Nur eines ist gewiß: das eigene Schuldigwerden« (Bahr, 1999, S. 105). Indem der Einzelne so »in der Schuld des Todes« (Bahr) steht, kçnnen die sozialen Normen greifen. Ein nicht deviantes, konformes Leben erspart zumindest die Marter nach dem Tod, die Augustinus in Aussicht stellt. Von Paulus ber Augustinus zu Thomas wird der Tod als »der Snde Sold« begriffen und, was die Gesetzmßigkeiten angeht, wonach die Welt nach dem Sndenfall eingerichtet ist, folgenreich definiert – eine Definition, die sich ber die Theologen der Reformation, die Philosophen der Aufklrung bis in die Gegenwart hinein fortsetzt. »So liefert der kçstliche Tod der Heiligen den Beweis, dass der Tod, einst als Sndenstrafe verhngt, nun dem Zweck dienen musste, desto reichlichere Frchte der Gerechtigkeit hervorzubringen. Doch ist der Tod nicht etwa deshalb als ein Gut zu betrachten, weil er durch Gottes Beistand, nicht aus eigener Macht, zu solchem Segen gewendet werden konnte, wie wir ihn uns noch einmal vor Augen stellen. Ihn, der einst Schreckmittel war, Snde nicht zu begehen, nimmt man nun willig auf sich, keine Snde zu begehen [. . .]« (Augustinus, 1991, S. 115). Das Versprechen auf Erlçsung vom Leiden durchs Fortleben nach dem Tode unter der Obhut Gottes, das Augustinus hier ins Feld fhrt, ist eine bloße Volte, die an der Substanz des Todes als Dispositiv nichts ndert. Zumal bei Augustinus bleibt der Tod als gegen die

Ein Tod wider das Gesetz

89

gesamte Gattung gerichtete Sanktion des Sndenfalls aufs engste verbunden mit der Erbsnde. Sein Schrecken ist nur durch Gehorsam zu besnftigen; wer dem Gesetz Folge leistet, dem wird der Tod nicht mehr Strafe, sondern Erlçsung sein. Was bleibt, ist die Drohgebrde der Hçlle. »Nicht als wre der Tod etwas Gutes geworden, der vorher ein bel war; sondern solch große Gnade gewhrte Gott dem Glauben, dass der Tod, der, wie man weiß, des Lebens Gegner ist, Mittel wurde zum Eingang ins Leben« (Augustinus, 1991, S. 112). Der Tod als Grenze des Lebens wird christlich besetzt durch die Macht des Souverns, der ihn berfhrt in ein anderes und wahreres Leben, welches an die Spezifik seiner Gebote gebunden ist. Auf diese Weise wird ihm die Herrschaft des Diesseits unaustilgbar eingeschrieben. Thomas von Aquin etwa, dem der Selbstmord unter die Todsnden fllt, spricht davon, dass Gott »uns sowohl durch das Gesetz unterrichtet, als durch die Gnade untersttzt« (Thomas, 1985, Bd. 2, S. 426). Gnade und Gesetz Gottes bilden eine Einheit im Bezug der Menschen auf Gott, der das Jenseits der Welt ist. Das Gesetz, das er stiftet, stellt eine Art Regel und Maß der menschlichen Handlungen dar, bezogen auf das Gemeinwohl. Dieser Prius des Gesetzes durch Gott, setzt sich fort und determiniert die soziale Agenda. Vom fernsten wie gewaltigsten Souvern her werden die Menschen auf das Gesetz ihres Daseins eingeschworen, welches seine Grenze wie auch den Fixpunkt seiner Mchtigkeit im das diesseitige Leben berschreitenden, monstrçsen Moment des Todes hat. Das Moment des Todes zeigt den Menschen an, wie sehr der Ort ihres Leidens dem Walten des Souverns obliegt. Von seiner Gnade her leiten sich die Verwerfung im Leben oder die Erlçsung im Tod ab. Erst wenn die Eigenliebe des einzelnen Subjekts gebrochen ist, ist auch der Weg frei zur Durchsetzung einer Unterordnung unter das Gesetz. Darin wird das Subjekt zugunsten eines Allgemeinen aufgegeben, das ber die Zeiten hinweg verbrgt wird. An solche Ideen schließt schließlich Kant in seiner Rechtfertigung einer Unterordnung an, die allen nutzen soll: »der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nçtig hat [. . .] Er bedarf also eines Herrn, der ihm den eigenen Willen bre-

90

Jçrn Ahrens

che, und ihn nçtige, einem allgemein-gltigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen« (Kant, 1993b, S. 40). Diese Analyse des Todes als Moment von Herrschaft hat fr die moderne Gesellschaft insbesondere Herbert Marcuse (1992) geleistet.

Der Tod als Dispositiv der Souvernitt Solche Einschreibung des Todes in das innerste Prinzip des sozialen Gesetzes und seiner Figuration von Herrschaft hinein, hat nur dort seinen Sinn, wo der einzelne Mensch und sein Daseinssinn ganz dem Gott angehçren, der das Dasein erst setzt. Dazu bedarf es der Figur des fernsten Souverns. Der Selbstmord kann nur dort verboten sein, wo es eine Souvernitt gibt, die noch ber das Leben selbst gebietet und es der Willkr anheim gegeben ist – das heißt dort, wo das Leben sich in letzter Konsequenz auf bloßes Dasein reduziert. Ein solches Dasein bemisst sich maßgeblich an den Kategorien von Funktionalitt und çkonomischer Effizienz. Es verußerlicht sich das Zur-Welt-Kommen, dessen Existenz von der Funktionalitt bergreift auf eine plurale »Konsubjektivitt« (Sloterdijk). Fr den Katholiken Helmut Erlinghagen steht fest, dass nur der mutige Mensch wirklich Mensch sei. »Ohne Mut ist dieses Geschçpf ein Unding, eine Miß-Existenz« (Erlinghagen, 1994, S. 111). Das verpflichtet freilich auch zum Weiterleben. Lebenssinn speist sich hier maßgeblich aus einer Ethik der Lebenspflicht. Das kann den Selbstmord nicht akzeptieren, der zum einen pflichtwidrig handelt und zum anderen die darauf grndende gesellschaftliche Ordnung verneint. Vorsichtiger gibt sich dagegen Decher, der konstatiert, dass Selbstmord in jedem Fall als Ausdruck der dem Menschen eigenen Freiheit gesehen wird. Er mçchte allerdings die Frage nicht entscheiden, »ob die Freiheit, die sich im Akt des Selbstmords bekundet, dem Menschen zusteht oder nicht« (Decher, 1999, S. 190). Im Bild vom Tode, der hinzunehmen ist, liegt die Reprsentation des Nomos der brgerlichen Gesellschaft, der jede berschreitung des Bestehenden verbietet. Als Grenze des menschlich Er-

Ein Tod wider das Gesetz

91

fahrbaren besetzt eine solche absolute Souvernitt den Endpunkt des Menschlichen berhaupt und besitzt damit Gewalt darber. Im Phnomen des Todes hlt sie das Instrument zur Reglementierung der Welt bereit. Leben, pointiert Gamm, »ist weniger Dasein zum Tode als Dasein vom Tode. Der Tod wird zum Grund lebendigen Wirkens« (Gamm, 1986, S. 69). In der brgerlichen Gesellschaft ist es gerade der der Metaphysik entkleidete Tod, der sich zum Dispositiv aufschwingt, dessen Macht das Leben zurichtet (vgl. Foucault, 1993). Das Gesetz, das er vertritt und das die Menschen aufs gehorsame Leben einschwçrt, bleibt bestehen. Bloß ist es nun ganz ohne Trost. Die »Krankheit zum Tode« (Kierkegaard) ist eine der profan gewordenen Gesellschaft. Die Menschen aber ersehnen und frchten gleichermaßen ihr Danach. Darauf verweist Adorno: »Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jher, schreckhafter der Tod. Daran, dass er sie buchstblich in Dinge verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, der Verdinglichung inne, der von ihnen mitverschuldeten Form ihrer Beziehungen« (Adorno, 1997, GS 4, S. 361). Der Tod als dasjenige, was das menschliche Dasein begrenzt, lsst zugleich den Horizont offen hinsichtlich der Hoffnung auf eine Transzendierung des Selbst. Die Grenze gibt es immer nur gemeinsam mit der Sehnsucht nach ihrer berschreitung. Doch die ist nicht leichthin zu bekommen. Es bedarf der Legitimation oder der Fhrung; ansonsten fllt sie unters Verbot. Diese Grenze sucht der Selbstmord zu berschreiten, indem er den Tod seinem Subjekt als Aktion einverleibt. Dennoch hebt er damit nicht den Tod als Grenze des Subjekts auf, sondern das Subjekt selbst. Immer bleibt der Selbstmord »ein Modus des Sterbens, der nur Zeit und Form des Todes bestimmt, seine unaufhebbare Fremdheit jedoch nicht tangiert und dadurch im letzten auch nicht seine absurde Kontingenz« (Burger, 1991, S. 105). Im Gegenteil berantwortet sich das Subjekt im Selbstmord dieser Kontingenz geradezu mimetisch. Der Selbstmord als zwar selbst gewhlter, aber dennoch nicht zu domestizierender Tod, offenbart die soziale und kontingente Gewalt des Todes. »Das ›Stirb und Werde‹«, so Landsberg, »wird ein gelebtes Gesetz, und der Tod zeigt sich nunmehr als die einzigartige End-

92

Jçrn Ahrens

gestalt der inneren Zweiheit von Werden und Schwinden in unserer Existenz« (Landsberg, 1973, S. 90). Das Gesetz des Todes, auch in dieser emphatischen Fassung, kann sich nur als eines erhalten, das das Bestehende auf ein ganz Anderes, Jenseitiges hin transzendiert, welches von der Welt erlçst, in die man sich ein Leben lang dreingefgt hat. Die Diskursivierung des Todes als Scheitelpunkt des Nomos durch den Gott, verweist die Menschen noch hier auf die fraglose Hinnahme ihres Daseins, indem sie als Preis dafr die Hoffnung auf ein Unendliches nhrt. Doch auch dies Unendliche gibt es nur per Gehorsam gegen den Souvern, wie man bereits bei Augustinus gewahr wird. Das ewige Leben, das eines des Gottes ist, kann es auch nur in der Nhe zu diesem geben, das heißt als Folgsamkeit. Denn wenn die Seele zwar lebt, das aber in ewiger Pein, weil sie die Strafe fr ihre Sndhaftigkeit erfhrt, »so ist das eher ewiger Tod zu nennen als ewiges Leben. Denn kein Tod ist mchtiger und schlimmer als der Tod, der nicht stirbt« (Augustinus, 1991, S. 314). Zusammengenommen fungieren Nomos und Tod als soziale Regulatoren. Abgelçst vom Kontext seiner religiçsen, metaphysischen Grundierung, wirkt das Todesdispositiv auch innerhalb der profanisierten Gesellschaft als dasjenige fort, worin alles Leben sein Ende, seine Begrenzung und vor allem die Legitimation seines Daseins findet. In der Welt zu sein legitimiert sich von dem Punkt her, der dem Individuum die Welt entreißt, indem er sie ihm gibt. »Was sich in der modernen Gesellschaft als Rationalitt darstellt, ist ganz einfach die Form, die Herstellung ußerer, notwendiger Zusammenhnge [. . .] Die moderne Pseudo-Rationalitt ist eine geschichtliche Gestalt des Imaginren« (Castoriadis, 1990, S. 268). Im Tod nimmt das Imaginre seinen Ausgangspunkt. Vehement wird daran gearbeitet, dass der Tod außerhalb der Reichweite des Einzelnen und der Selbstmord unterm Verdikt bleibt. Fr Kant bleibt der Selbstmord, auch wenn der Prius auf der sittlichen »Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst« liegt, eindeutig ein Verbrechen. Dagegen liege der grçßere Mut des Subjekts darin, den Tod als das das Leben bersteigende nicht zu frchten und seine Persçnlichkeit in der Verrichtung seiner Pflichten zu finden. Die sittliche Pflicht, die die soziale ist, wird

Ein Tod wider das Gesetz

93

hier zum Gesetz richtigen Daseins. Den Gedanken einer freien Willkr kann Kant berhaupt nur fassen, indem er diese rckbindet an eine durch Gesetze regulierte Pflicht zum Wohlverhalten. Der Geist ist im Selbst und das Selbst steckt in der Pflicht. »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist« (Kant, 1993a, S. 555). Genauso gibt es nach Hegel nicht das Recht, sich selbst zu tçten, was eine Entußerung der »umfassenden Totalitt der Ttigkeit, das Leben« ist, die dem Subjekt selbst nur partiell gehçrt. Prinzipiell bleibt der Einzelne »ein Untergeordnetes, das dem sittlichen Ganzen sich weihen muss« (Hegel, 1986, S. 151). Auch bei Hegel obwaltet das Gesetz ber den Eigensinn des Subjekts und markiert seine Macht im Recht auf den Tod. Der sich selbst genommene Tod, als Vollendung von Autonomie kann nicht erlaubt werden, da er radikal das Gesetz geltender Souvernitt missachtet, mithin das Gesetz außer Kraft setzt als ein Vergehen, das nicht mehr zu ahnden ist, und es in eine Ohnmacht gegen das untergeordnete Subjekt berfhrt. Freiheit kann es dann nur als objektive geben. Sie erstellt sich als eine vom Allgemeinen herkommende, worin sie in der Lage ist, Partikularitten abzuwerfen. Hegel versucht mit einer derart gefassten, objektiven Freiheit offensichtlich den Begriff von Freiheit berhaupt im Profanen zu verankern, ohne den transzendenten Hintergrund aufzugeben. Objektive Freiheit ist die der Macht selbst. Den Fixpunkt solcher Macht findet das Allgemeine schließlich im Tod, dem »absoluten Herrn« (Hegel). Die Furcht vor ihm schickt die individuellen Bewusstseine wieder unter die Ordnung und dadurch auch »zu ihrer substantiellen Wirklichkeit zurck« (Hegel, 1973, S. 438).

Der transzendentale Rest Innerhalb der profanisierten Gesellschaft ist das Phnomen des Todes nur als ein Rest an religiçser Erfahrung zu deuten. Als Dispositiv innerhalb der Moderne kann er nur deshalb wirksam wer-

94

Jçrn Ahrens

den, weil alle Skularisierung – die den Tod als Jenseits nicht mehr zu frchten bruchte, sondern ihn nur als ein Ende subjektiver Handlungsmchtigkeit she – den einstmals religiçsen Nomos nie wirklich zu suspendieren wusste und ihn sich deshalb einverleiben musste. Die brgerliche Gesellschaft selbst ist latent religiçs fundiert (Berman, 1990, insb. Kap. 2, 4 u. 8). Selbst wenn sie ihren Gott in sich hineingenommen hat, kann sie seine Gesetze doch nicht berschreiten. Als sozial konstruierte bleibt die Wirklichkeit bildhaft. Um real zu werden, bençtigt sie einen nomistisch gefassten Kanon des Gesetzes, worin sich die symbolische Ordnung in eine profan lebbare verwandelt. Diese Wirklichkeit des Gesetzes muss sich von dem Punkt her erschließen, der sich ihr am absolutesten versagt – vom Tod her. Gerade auch deshalb ist der Selbstmord ein Zeichen der grçßten Devianz. Er richtet sich gegen ihre Wirklichkeit, indem er die Kontingenz ihrer Rnder und Gesetze offenbar macht. Die religiçs konnotierte Form des Nomos bleibt bis in die Reformation hinein vorherrschend, wo die Ausformulierung des Naturrechts beginnt. Die Reformatoren selbst waren noch berwiegend Vertreter eines ganz Gott anheim gegebenen Nomos-Begriffes und der entsprechenden Auslegung des Todesgedankens. Luther etwa insistiert darauf, Gott habe »die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, den Leib zu berwachen, ihn zu pflegen, damit er gesund sei und lebe. Wer dieselben nicht gebraucht, obwohl er sie hat und es kann, ohne seinem Nchsten zu schaden, der lßt seinen Leib selbst verkommen und sehe zu, daß er nicht als Selbstmçrder vor Gott dastehe. [. . .] [Denn] will mich mein Gott dennoch haben, so wird er mich wohl finden; ich habe doch so getan, wie er mir zu tun aufgegeben hat, und bin weder an meinem eigenen noch an anderer Leute Tod schuldig« (Luther, 1983, S. 181 f.). Fr Luther vollzieht sich das Leben unter der Ordnung des Gottes, der allein es ist, welcher dem Leben den Tod im Sinne einer Heimholung zufgen darf. Naturrecht und aufkeimender Rationalismus setzen schließlich eine profane Souvernitt instand, die die Macht ber die Welt an die Menschen selbst delegiert. Doch bleibt auch dieser profanisierte Nomos, was seine Begrndungsmchtigkeit angeht, transzendent gebunden. Macht

Ein Tod wider das Gesetz

95

ber die Welt besitzt nur das berweltliche. Das sedimentiert sich fortan in der Lehre vom allgemein Rechten, beispielhaft bei Rousseau, zunchst aber bei Bodin und Montesquieu. Die Crux brgerlicher Aufklrung und ihrer Subjektautonomie liegt in ihrem Konzept einer zunchst ungebundenen Vernunft, die, autonom geworden, den Gott hinter sich lsst. Doch Vernunft braucht ihre Bindung und der freie Wille braucht seine Grenze, um Gesellschaft als Institution zu erhalten. Besonders Kant hat das in seinen Bemhungen um eine Begrndung von Ethik erkannt. Wenn nicht in Gott fundiert, so entsteigt Sittlichkeit doch einer so eindeutigen wie transzendenten Autoritt der Kausalitt, die ihrer Souvernitt nach den Platz des Gottes einnimmt. Sie gibt das Gesetz und begrndet fr die Subjekte jeweils Strafe und Schuld. Soziale Heteronomie ist nun niemals eine, die von ihren Subjekten unabhngig wre. Wo sie soziale Macht produziert, da durchfließt sie ihre Subjekte auch produktiv. Dass auch solche Heteronomie durch die Todeserfahrung vermittelt ist, hat Kojve am Verhltnis von Herr und Knecht aufgezeigt. »Der Knecht, der – durch die Furcht des Todes hindurch – das (menschliche) Nichts erfasst, das den Grund seines (natrlichen) Seins ausmacht, versteht also sich selbst und damit den Menschen besser als der Herr« (Kojve, 1996, S. 66). Die Ordnung aber kann die Eigenmchtigkeit des je Einzelnen gegen das Allgemeine nicht ertragen. Sie bedroht diese in ihrem Bestand und in ihrer Definitionsmchtigkeit darber, was Welt sei und wie sie zu funktionieren habe. Der Tod enthllt innerhalb einer Gesellschaft, die scheinbar Subjektautonomie als ihrem Leitbild huldigt, dass die Synthese des Besonderen mit dem Allgemeinen bloße Ideologie bleibt. Die Gabe des Todes, ber welche die Instanz sozialer Souvernitt verfgt, ist deshalb ein Versprechen und eine Unterwerfung zugleich. Sie stiftet sowohl die Beziehung zur Transzendenz des Anderen, das heißt zu Gott, als auch dessen Verfgungsgewalt ber das Leben der Sterblichen. »Der gegebene Tod wre dieses Bndnis der Verantwortung und des Glaubens. Diese exzessive ffnung ist Bedingung dafr, dass es Geschichte gibt« (Derrida, 1994, S. 335). Die tritt erst ein, wenn das Moment des Todes als das Mal der Zeitlichkeit und der Handlungsmchtigkeit registriert wird.

96

Jçrn Ahrens

Der Dienst an Gott verifiziert gçttliche Mchtigkeit und lsst die Menschen sich in das Verdikt von Sterblichkeit und Selbsterhaltung einfgen, die nach dem Sndenfall die conditio humana kennzeichnen. Dienst an Gott als diejenige Praxis, der Schuld gerecht zu werden, die als Erbschuld nie abzudienen sein wird, ist damit nicht weniger als ein Aufschub des Todes, der, als Strafe verhngt, einen jeden holen wird. »Der Umgang mit Schuld, der echte Gemeinschaft stiftet, liegt in wahrhaftiger Selbstdurchleuchtung, in ›Reinigung‹ und Wiedergutmachung« (Schwan, 1997, S. 52). Die »Instanz metaphysischer Schuld«, worauf laut Schwan solche Praktiken bezogen sind, sei allein Gott. Darin liegt die Verbindung von Nomos und Gott ber das Fakt des Todes, als einer den Menschen eingeborenen Sterblichkeit. Karl Barth schreibt dieses Motiv ungebrochen fort: zum »Menschen« kommt der Mensch allein durch demtigen Dienst an Gott, der den Eigensinn vergessen macht. »Entscheidend ist das Tun des Gesetzes: die Verwirklichung der von Gott gebotenen Mçglichkeit, also der Inhalt, die Bedeutung, der Sinn der Haltung, die der Mensch einnimmt, und dieser Sinn wird ihm von Gott zugesprochen oder nicht zugesprochen, er ist Gottes und nicht des Menschen Sinn in dem, was der Mensch ohne oder mit Gesetz ist und lebt« (Barth, 1989, S. 43). Dieses Verhltnis ist eines im Tode; der Tod ist das Scharnier zwischen dem Gott und der menschlichen Verwiesenheit auf das Leben. Was Barth derart fr die protestantische Theologie ausfhrt, gilt fr die katholische nicht weniger: den Tod zu durchleiden heißt dort, »einen persçnlich je verschieden intensiven Luterungsvorgang im Augenblick des Todes« zu erfahren (Boros, 1973, S. 179). Dieser Augenblick konzentriert in sich das Gesetz und das Maß des Gehorsams; er entscheidet ber den subjektiven Tod. Der Nomos des Gottes, der durch den Tod hindurch spricht, ist einerseits universal, whrend er andererseits in der Abwehr seines eigenen Mediums besteht. »Wenn der Tod uns zum Gericht wird auf Grund der verlorenen Gottunmittelbarkeit, dann dient alles seiner Abwehr, was uns diese verlorene Gottverbundenheit zurckgibt« (Kçberle, 1973, S. 189). Das geschieht natrlich in der Hauptsache im und durch den Glauben. Der wieder ußert sich in

Ein Tod wider das Gesetz

97

der Befolgung des durch den Gott gesetzten Nomos, im Gehorsam des Subjekts vor dem Souvern des Lebens. Hegels Konstellation von Herr und Knecht weist dieselben Markierungen auf. Nur indem der Knecht dem berlegenen wie souvernen Herrn dient, vermag er zum Selbstbewusstsein zu gelangen, das immer ber die Kategorie der Herrschaft und ihres internalisierten Gesetzes vermittelt bleibt. »Die Todesdrohung verflssigt das Selbst; sie selber wird zur dezentrierenden Mitte der Subjektivitt« (Gamm, 1986, S. 66). Der Dienst ist Aufschub des Todes. Allein das Wagnis des Lebens gibt den wirklichen Bescheid auf die Souvernitt des Subjekts. Hegelsches Selbstbewusstsein, das der Welt sein Gesetz setzen will, befindet sich in einem Dilemma. Die Anerkenntnis des Herrn, die sich ber den unterworfenen Knecht vollzieht, und damit nicht durch einen Menschen im emphatischen Sinn, bleibt gebunden an die Drohung des Todes, die gegen den Knecht verhngt ist. Der lebt fortan in »animalischer Furcht des Todes« (Kojve), und diese Furcht legt ihn wiederum fest auf den Gehorsam gegen seinen Souvern: »Der Mensch ist Knecht geworden, weil er die Furcht des Todes gekannt hat. [. . .] Er hat sich selbst als Nichts erblickt, er hat begriffen, dass seine ganze Existenz nur ein ›aufgehobener‹ Tod war [. . .]« (Kojve, 1996, S. 65). Das hegelsche Modell ist die getreue bersetzung der Theodizee in brgerliche Autoritt. Vor allem in ihm verifiziert sich jener transzendentale Rest, der am Grund auch der skularisierten Gesellschaft wirkt. Der Tod als Konstituens des Menschen ist von Anfang an konnotiert mit dem Topos der Strafe (vgl. Augustinus, 1991, Bd. 2, S. 109). Der Mensch ist sterblich, weil er schuldig ist; der Tod selbst wre in dieser Perspektive nicht notwendig, htte es nicht die Austreibung aus dem Paradies gegeben. Mithin gert das Fakt des Todes derart zum integralen Bestandteil eines kosmischen Nomos, der den Menschen in Gott gegeben ist. Zwar ist der Tod der des Menschen; er gehçrt aber dem Gott an, der ihn verteilt und nach eigenem Ermessen zuteilt. Christlich kann der Tod nur noch durch den fernsten Souvern in Gott, oder durch dessen profane Verwalter, gegeben werden; er kann nicht mehr auf legitime Art und Weise genommen werden. Damit wird der Selbstmord un-

98

Jçrn Ahrens

mçglich. In dieser Enteignung des Todes durch den Gott liegt aber auch ein Rest an Hoffnung auf individuelle Erlçsung beschlossen. Das Mittel der Strafe kann sich unter Umstnden der Bewhrung umkehren in ein Mittel des Heils.

Anomie und Subjektivitt des Selbstmords Unter diesem Gesichtspunkt konstatiert Herbert Marcuse eine »unzertrennliche Verknpfung von Tod und Unfreiheit«, denn: »keine Herrschaft ist perfekt ohne die Todesdrohung und das anerkannte Recht, den Tod auszuteilen« (Marcuse, 1992, S. 112). Insofern kommt dem Tod eine transzendentale Funktion von zentraler sozialer Bedeutung zu. Abgeleitet aus einer christlichen, seit der Reformation jedoch speziell protestantischen Tradition, gert das Motiv des Todes im gesellschaftlichen Kontext zu einem Existential subjektiver Unterwerfung unter die Herrschaft der bestehenden Institutionen. »Mit dem Tod als existentialer Kategorie bekommt das Leben die Bedeutung, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, statt: gelebt zu werden« (Marcuse, 1992, S. 113). Der religiçs fundierte Lebenssinn berzeichnet noch den homo oeconomicus der Neuzeit. An diese Bewertung schließt Ferber an, wenn er feststellt, dass ein kommunizierbares memento mori in sich ein kritisches Moment trge, da es »sehr nachdrcklich eine Distanz zum Hier und Jetzt« stifte und auf dessen kontingenten, keineswegs notwendigen Charakter verweise (Ferber, 1963, S. 343). Ein sozial antizipierbares Verhltnis zum Tod wrde demnach dazu beitragen, die Fraglosigkeit sozialer Herrschaft zu relativieren. Jedoch wirke die »Privatisierung der Todeserfahrung« dem entgegen und verfestige so die Akzeptanz gegenber dem Bestehenden (Ferber, 1963, S. 357 f.). Das bedeutet allerdings keine gesellschaftliche Verdrngung des Todes, sondern dessen Konzentration auf das private Verhltnis des Einzelnen zu sich selbst. Am gesellschaftlichen Phnomen »Tod« erweist sich der Individualisierungsprozess keineswegs als emanzipativ, sondern als akklamativ. Marcuse fasst das in die Wendung, der Mensch sei »nur dann frei, wenn er den Tod besiegt hat, wenn er sein Sterben als das selbstgewhlte Ende seines Lebens zu bestimmen vermag« (Marcuse, 1992, S. 108).

Ein Tod wider das Gesetz

99

Im Akt des Selbstmords liegt mçglicherweise ein Schritt hin zu einer solchen Selbstbestimmung. Zumindest hat Jean Amry das so gesehen. Fr ihn gilt der Selbstmord auch als Beweis darauf, dass »der Mensch wesentlich sich selbst gehçrt« (Amry, 1976, S. 115). Deshalb charakterisiert Amry die Fhigkeit zum bewussten und berlegten Selbstmord als ein »Privileg des Humanen«, worin sich die Freiheit des Subjekts gegenber der Welt bezeugt. Der soziale Ort des Selbstmords befindet sich demnach offensichtlich in der Negation radikaler Anomie sowie in der nicht weniger negativen Allegorie des Selbstmords auf diejenige Gesellschaft, die ihn verwirft. Als eine Figur, worin sich das gesellschaftliche Verhltnis symbolisch reprsentiert, bezeichnet der Selbstmord die Bruchstelle zwischen Nomos und Anomie. Indem die brgerliche Gesellschaft einen ursprnglich religiçsen Nomos-Begriff skularisiert, stellt sie auch den Fortbestand einer auf Tod und Leiden grndenden Ideologie des Lebens fest. Die Position der Bruchstelle nimmt der Selbstmord ein, weil er die absolute Negation anzeigt. Kein Horizont bleibt hier mehr offen, der eine Versçhnung vom devianten Subjekt zum angegangenen Allgemeinen hin gewhrleisten kçnnte. Der Selbstmord ist die festgestellte Anomie, die das Gesetz zerreißt und es in diesem Riss dennoch nicht aufhebt. Er zieht kein anderes Gesetz nach sich, sondern der Riss selbst wird institutionalisiert. So mutiert der Selbstmord zur Reprsentation eines »unglcklichen Bewusstseins« (Hegel). Er ist in sich zerrissen und diese Zerrissenheit lsst er in der Welt, die der Selbstmçrder verlsst. Das Gesetz ist berschritten, doch die Revolte bleibt aus, sie folgt nicht dem Fanal, das sie voranschickte. Dennoch bezeichnet der Selbstmord die Verwerfung des Nomos schlechthin. Wo es einen sozialen Nomos gibt, da muss der Selbstmord auch verboten sein. Der Begriff des Gesetzes, so Deleuze, trage sich nicht von selbst, es sei denn durch Gewalt, »und er braucht als Idee ein hçheres Prinzip sowie eine weiterreichende Folge« (Deleuze, 1997, S. 232). Deleuze schließt in dieser Bestimmung des Gesetzesbegriffes an Kant an und ist damit dem auch hier zugrunde liegenden Verstndnis von Gesetz und Nomos nahe. Dieser hegemoniale, soziale Diskursivitt entfaltende Nomos, ist von Nietzsche in einem Satz charakterisiert worden: »Alles Le-

100

Jçrn Ahrens

bendige ist ein Gehorchendes« (Nietzsche, 1993, S. 147). Soziales Leben entfaltet sich unter dem Obdach nomistischer Gewalt, und wer diese Gewalt ableugnet, unterliegt der Sanktionsgewalt der Souvernitt, mithin der Todesstrafe. Das unterstreicht die These, Gesellschaft grnde sich auf ein soziales Verstndnis der Schuld (Benjamin, 1965; Bataille, 1994; Taubes, 1996). Wer sich dem Nomos einfgt, nimmt die Schuldbarkeit in Kauf: »Wer dem Gesetz gehorcht, ist und fhlt sich deshalb nicht auch schon gerecht. Er fhlt sich im Gegenteil schuldig« (Deleuze, 1997, S. 234). Der Selbstmord ist auch gegen diese Schuld gerichtet, indem er das Leben verweigert. In einer letzten Verschwendung seiner selbst, steigert er das Leben zum Tode und verwirft es, wie das Leben den Selbstmord verwirft. Der Akt der Selbsttçtung wird so zur eigenen Sinnsetzung eines zu sinnlosem Tod bestimmten Lebens. Konfliktorisch ist der Selbstmord nicht nur, weil er die Konfrontation mit dem Sittengesetz nicht scheut, sondern insbesondere weil er seine Oppositionsfigur, den Nomos, durch dessen berbietung verschwinden zu lassen droht. Das ist der Gestus des nietzscheanischen Todes: der Tod, »der mir kommt, weil ich es will«. Dieser anomische Tod beansprucht schließlich die Freiheit fr sich. Der freie Tod will der Tod sein, der nicht gemaßregelt ist, der dem Subjekt allein angehçrt und deshalb bereits wieder in eine Aura subjektiver Sakralisierung bergeht. In ihrer radikalisierten Form findet Autonomie ihr Ende im Selbstmord – der einzigen und letzten Freiheit ungeteilter Subjektivitt. Maffesoli hat bemerkt, Anomie sei »der Motor jeder Gesellschaft« (Maffesoli, 1986, S. 18). Damit hat er auch eine Lanze fr die Anomie des Selbstmords gebrochen. Der aber zielt auf die konstituierende Figur von Sozialitt ab und wendet das zur Freiheit des Todesstoßes gegen sich selbst. Freiheit bleibt eine Maxime gesellschaftlicher Organisation und des Lebens der Subjekte darin. Im Tod bleibt sie im besten Falle indifferent. Wenn der Tod die Negation des Daseins und seiner Verfasstheit bedeutet, dann bedeutet die Tat des Selbstmords, neben ihrer anomischen Qualitt, auch die Negation dieser Anomie, weil sie sie nur im Tod zustande bringt und nicht sozial wird. Wer eine Existenz im Widerruf nicht ertragen kann, dem stehen Glck und Freiheit im eigenen

Ein Tod wider das Gesetz

101

Tode nher. Die eigene Todesgabe verkehrt den Sinn des Sozialen, den der soziale Nomos unter sich hlt. Der Selbstmord manifestiert einen Eigensinn des Sterbens, das nicht zu warten gewillt ist. Niemandem wrden die sozialen Konsequenzen des Selbstmords Spaß bereiten, fhrt Foucault aus. Und doch gehe es darum, im Selbstmord gerade die Macht des Solipsismus zu betonen, selbst wenn dieser sein Subjekt noch vor dem Sterben symbolisch aus der Welt nehme – »man muss daran arbeiten, um daraus ein Werk ohne Zuschauer machen zu kçnnen, ein Werk, das allein fr mich da ist« (Foucault, o.J., S. 57). Diejenige Anomie, die tatschlich eine Option auf Freiheit in sich zu tragen beansprucht, muss aber im Leben bleiben. So wird der Selbstmord zum Opfer seines eigenen Paradoxes. Indem er den Nomos bricht, wird er weltlos. Wenn die »Erschaffung des Menschen«, mit Hannah Arendt gesprochen, an die Fhigkeit des Handelns und an das »Prinzip des Anfangs« gebunden ist und als solche »mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfllt« (vgl. Arendt, 1992, S. 166), dann bricht der Selbstmord, der all dies anomisch einlçst, es auch ab. »Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins« (Arendt, 1992, S. 167). Im Sterben kann es kein Handeln und kein Subjekt mehr geben. Der Anfang, den der Selbstmord als Handlung setzt, ist das Ende allen subjektiven Handelns und jeder Freiheit. Als unabgeschlossenes Handeln bezeichnet der Selbstmord auch die unabgeschlossene und somit eigentlich erfolglose Revolte (Camus, 1959; 1972), die zugleich aber das Vergesellschaftungsverhltnis durch den Tod transparent macht (vgl. Ahrens, 1998).

Autonomer Tod versus Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung In der gesellschaftlichen Reaktion auf den Selbstmord geht es deshalb nicht vorrangig um diesen selbst. Vielmehr steht der Tod im Vordergrund. Der Selbstmord ist bloß ein Zeichen des anwesenden Todes. In diesem Sinne spricht Baudrillard vom Tod als einer

102

Jçrn Ahrens

»Metapher der Reversibilitt«, die eingebettet ist in die soziale Simulationspraxis. »Die ganze Simulation ist ein Feld des Todes, des latenten, des verborgenen, des simulierten Todes. Und hier sollte auch ein radikaler Gegensatz beschworen werden. Aber damit ist nicht der Tod in seiner konventionellen Gestalt gemeint: keine dstere Todesstimmung, nicht der persçnliche Tod als Drama des Individuums; ich nehme den Tod vielmehr als eine Metapher« (Baudrillard, 1983, S. 66). Dass der Selbstmord, bezogen auf das Vergesellschaftungsverhltnis des Realen eine Metapher ist, ist jedoch nur mçglich, weil diese auf die konkrete Figur des Todes respektive des Selbstmords bezogen bleibt. Sozialitt stellt sich maßgeblich auch ber ein Bild des Todes her, das sich in den verschiedenen kulturellen Institutionen reprsentiert. Gerade durch die diversen Anstrengungen, ihn auszuschließen und zu ritualisieren wird der Tod sukzessive zum sozialen Primat. Dieses Primat zeigt sich insbesondere an den Thesen, die eine soziale Verdrngung des Todes oder seine sozial unerhebliche Kommunizierbarkeit behaupten. Zwar argumentiert Mischke, dass die moderne Medizin die Einzelnen ihrem Tod entfremde, die metaphysischen Bedrfnisse verweigere und suggeriere, es strbe niemand mehr (Mischke, 1996, S. 236 ff.). In diesem Argument wird aber unterschlagen, dass gerade in einer Gesellschaft, die sich auf Profanitt grndet, der Tod ein permanentes Menetekel des Sinnlosen darstellt und insofern auch immer gegenwrtig ist. Das Bestreben, ihn technologisch zu domestizieren, hat seinen Grund daher gerade in seinem nicht abstellbaren Schrecken. hnliches gilt fr das Argument von Nassehi und Weber, nach dem es ein »konstitutives Merkmal moderner Wirklichkeitsbildung« sei, den Tod aus den »kollektiv-symbolischen Sinnzusammenhngen« herauszudrngen (Nassehi u. Weber, 1989, S. 302). Sie denken, dass der Tod verdrngt werden msse, da er dem Prinzip einer individuellen Autopoiesis widerspreche (Nassehi u. Weber, 1988, S. 385). Jedoch verluft die soziale Institutionalisierung des Lebens eher ber eine Vergesellschaftung des Todes. Todesangst und das daraus erwachsende Todesdispositiv bestimmen maßgeblich das Selbstverstndnis der brgerlichen Gesellschaft. Dieses Primat des Todes kann dann, das ist paradox genug, nur im Selbstmord gebrochen werden, der den Tod auf sich

Ein Tod wider das Gesetz

103

selbst zurckfhrt und ihn aus den Leben und Sozialitt konstituierenden Praxen des symbolischen Tausches herausnimmt. Im Tod erscheint dem Einzelnen noch immer jener »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg) als ein die Existenz bedrohender Schrecken. Entweder aber der Schrecken wird in der sozialen Institution vernichtet, oder der Schrecken vernichtet das Individuum. Im Selbstmord wirkt deshalb zweierlei Angst. In ihm artikuliert sich zunchst die Angst davor, einmal sterben zu mssen. Sie wird berwunden, indem man sich aus eigener Kraft den Tod gibt und die Dimension des Fatums negiert. Sodann findet sich die Angst vor der Welt und vor dem Zwang zum Weiterleben, die in den eigenen Tod fhren. Diese einander entgegengesetzten ngste nhren den Selbstmord. Am Tod, so Adorno, erfhren die Menschen ihre eigene Verdinglichung: »dass sie immer schon Tote waren« (Adorno, 1998, S. 212). Die Angst vor dem Tod ist auch die Angst, nie wirklich gelebt zu haben. Diese Angst wird im Selbstmord einer Auflçsung zugefhrt. So sehr der Selbstmord einen Akt der Selbstermchtigung reprsentiert, stellt er auch einen der Selbsterlçsung dar. Sich selbst den eigenen Tod zu geben, ist Ausdruck eines radikal skularisierten Eudmonismus. Selbstmord wird damit eine subjektive Erlçsungshandlung, indem er die Transzendenz des Todes und des daran geknpften Diskursverhltnisses aufkndigt und den Tod in eine rein profane Anomie berfhrt. Subjektive Souvernitt im Augenblick des selbst gegebenen Todes kommt profanem Erlçsungshandeln gleich. »Wie jeder Erlçsungsversuch ist Selbstmord ein – religiçser Akt« (Cioran, 1995, S. 207), schreibt Cioran und zeigt im Satz schon das Paradox an, das sich schon darin offenbart, dass ausgerechnet der religiçs verfemte Selbstmord hier zum Brgen von Religiositt erhoben wird. Der Selbstmord kann als derjenige Akt gelten, der das Selbst vergçttlicht, indem er es umbringt. Jenseits des bloßen Ich lsst er nichts mehr gelten; vielmehr ist der Selbstmord die absolute Anfechtung gegen jede Geltung einer das Subjekt entmchtigenden Instanz. Sowohl Nomos als auch Metaphysik sind im Selbstmord verworfen durch einen Akt negativer Anerkennung, der sie an ihr Ende fhrt. Die absolute Autonomie des Menschen als Subjekt ist

104

Jçrn Ahrens

die Zelebration des Nichts im selbst gegebenen Tod. Darin scheint die Tragik der Subjektivitt auf, in Gesellschaft nicht sein zu kçnnen, aber ohne sie genauso der Negation zu verfallen. Subjektivitt kann niemals mehr sein als eine Hypostase des Selbst. Sie bleibt nur durch die institutionellen Krfte einer Vergesellschaftung gewhrleistet, die diskursiv durch die Subjekte hindurch geht. Der Mensch als Subjekt bleibt eine Konsequenz der sozialen Institutionen, die er schuf und die im Laufe ihrer Geschichte selbst einem Verwandlungsprozess unterlagen. Die vermittelnde Instanz des Sozialen zerstçrt der Selbstmord, indem sein Subjekt sich selbst zerstçrt, und damit wendet er auch die ihm inhrente, revoltierende Negation gegen sich selbst. Die absolute Negation wendet sich in letzter Konsequenz gegen sich selbst und vernichtet damit sowohl das Vermittelnde der sozialen Institution, als auch sich selbst. Im Urteil Merleau-Pontys ist darin schlicht ein »Rckgang zur Positivitt« zu sehen, da die absolute Negation genau jener Dialektik verlustig geht, derer es bedarf, um »falsche Evidenzen zu erschttern« (Merleau-Ponty, 1994, S. 126). Zwar befindet sich der Selbstmord in einer dialektischen Situation der Subjektivitt zwischen sozialer Vermittlung durch die Institution und den Diskurs sowie der Sehnsucht nach Authentizitt. Doch diese Dialektik als handelnde Ermchtigung des Subjekts lçst er nicht ein. Sein Solipsismus beraubt ihn derjenigen sozialen Anbindung, die seine Handlung erst verifizieren kçnnte. Indem er seine Anomie zur absoluten Negation steigert, verliert er auch die Welt, die den Tod kennt, den er sich selbst gibt. Die Todesgabe des Selbstmords bleibt referenzlos, weil der Selbstmord seine berbietung nicht mehr in diejenige Ordnung einbringt, die er mit seiner Gabe zu berbieten sucht. Sein Selbstopfer scheitert an sich selbst, weil es sich gegen denjenigen sozialen Kontext wendet, worin das Opfer eigentlich firmiert. Weder zeigt sich in ihm eine kathartische Gewalt, die die Gesellschaft schlussendlich zusammenhlt – im Gegenteil legt es der Selbstmord, indem er die subjektive Verfgbarkeit der souvernen Autonomie zu demonstrieren beabsichtigt, auf deren Dekomposition an –, noch ließe sich behaupten, dass seine Todesgabe ein beziehungsstiftendes Band des Sozialen darstellt. Als solipsistische, weltlose Inszenie-

Ein Tod wider das Gesetz

105

rung macht der Selbstmord die Handlung selbst schon zur Simulation eines Realen, das nur ber die eigene Suggestion verbrgt bleibt. Das Imaginre ist hier verschwunden und der Simulation geopfert. »Die Anomie«, so Baudrillard, »ist keine Abweichung, sie ist ein Verstoß gegen ein determiniertes System« (Baudrillard, 1991b, S. 30). Sie stellt das Gesetz an sich daher nicht in Frage. Im Gegenteil ist die Erhaltung des Gesetzes ebenso an die Mçglichkeit der Anomie gebunden, wie die Bewahrung des Selbst an das Gesetz gebunden bleibt. So macht sich der Selbstmord selbst zum sozialen Souvern, der den imaginren Ort absoluter Autonomie einnimmt. Er widerlegt sich aber selbst durch seinen Tod, als Konsequenz der Autonomie. Absolute, Souvernitt und Gewalt ber den Nomos verbrgende Subjektautonomie muss in ein Verhltnis zum Tode fhren. Wo nur noch Selbst ist, kann keine Soziabilitt, kann kein »Zwischen« (Lvinas) mehr sein. Der Selbstmord ist asozial in dem Sinn, dass er Sozialitt deformiert. Darin liegt ein wesentlicher Aspekt seiner sozialen Brisanz und deshalb muss er fr eine geordnete Gesellschaft unter dem Verdikt bleiben. Subjektivitt findet in ihm ihre radikale Fortfhrung. Er zeigt aber gleichzeitig dessen Unmçgliches, da solche Subjektivitt so endlos wie tçdlich ist, das heißt in letzter Konsequenz unmenschlich. Gleichzeitig bekundet der Selbstmord allerdings im offenen Gesetzesbruch auch einen tiefen Ernst dem sozialen Gesetz gegenber. Der Bruch des Gesetzes zollt ihm auch Anerkennung. Wo die scheinbare Affirmation allzu leicht zum Betrug mutiert, wie man seit dem prometheischen Opferbetrug weiß, da erkennt die Konfrontation dessen Gltigkeit doch auch rckhaltlos an. Dass die Anomie fr das Gesetz unter anderem auch ein unverzichtbarer Bestandteil ist, zeigt sich so auch. Die Anomie des Selbstmords endet sich gegen eine soziale Herrschaft ber Subjektivitt, doch seine Revolte zielt auf das Gesetz und berfhrt ihn in eine paradoxe Situation. Jedoch bleibt die Erhaltung des Selbst unmittelbar auch an die Erhaltung des Gesetzes gebunden. Dies ist ein Erfordernis der Intersubjektivitt des Handelns. Das rechtfertigt dann auch das Mittel der Strafe im sozialen Prozess und verunmçglicht die absolute Hypostase der Sub-

106

Jçrn Ahrens

jektautonomie, wie sie sich letztlich auch im Selbstmord findet (Palmer, 1999, S. 220 ff.). Indem der Selbstmord das Gesetz bertritt, erhebt er schon die bertretung zum Gesetz. Nicht gegen das Gesetz selbst wendet er sich, sondern gegen eines, das nicht seine Freiheit beinhaltet. Hier wird Anomie zum Gesetz. Sptestens in dem Moment, wo der Selbstmord subjektiv zu sich kommt, vollzieht er am Subjekt, was er am Sozialzusammenhang durchbricht: die Einhegung von Kontingenz und die Herstellung von Homogenitt. Der eigene Tod ist die einzige Weise, Kontingenz knftig auszuschließen; die Auslçschung des Subjekts bezeichnet die einzige Mçglichkeit von Homogenitt als Identitt. Der Tod ist die absolute Negation; seine Grenze ist nicht sozialisierbar und nicht subjektivierbar. Wer sich den Tod gibt, kann nur ganz bei sich sein und damit der Illusion von Individualitt erliegen. Den eigenen amphibolischen Charakter kann das Subjekt nicht mehr erkennen, das sich selbst den Tod gibt. Der Selbstmord, der das Leben abschneidet, holt die Kontingenz radikal in die Soziabilitt zurck. Er macht deutlich, dass es gerade aufgrund der Mortalitt als grundstzlichem Bestandteil der conditio humana eine abgeschlossene Struktur von Schicksal nicht geben kann, sondern dass Gesellschaft und Subjektivitt, gerade weil sie miteinander verzahnt sind, wesentlich kontingent bleiben. Deshalb muss, wo Kontingenz ist, auch Tod sein. Erst in der Kontingenz des Daseins kommt Endlichkeit als Anthropogem zu sich und findet ihr Bild im Tod, der sich die Menschen holt. Der Selbstmord verdichtet dieses Bild zum sozialen Akt der Auflçsung; hier tritt die Kontingenz ber die subjektive Handlungsmchtigkeit in die Gesellschaft ein und ist ihrer Transzendenz entkleidet. Nur fr sich selbst transformiert das sich tçtende Subjekt Kontingenz in Fatum. Wo es Kontingenz innerhalb des Sozialen reprsentiert, entzieht es sich ihr wiederum. Darin zeigt sich dann auch, dass die Wirklichkeit durch das Auftreten des Ereignisses nackt und brutal, und nicht etwa gestaltbar ist. Im Kern des Sozialen liegt immer die Angst vor der Wirklichkeit bloß. Demnach lge die Schuld des Selbstmords vorrangig in der Offenbarung einer traumatischen Realitt, die in dieser Schrfe nicht aushaltbar ist. Der Tod, als das einzig gltig gltige Fatum kann, weil er das un-

Ein Tod wider das Gesetz

107

gekannte Fatum ist, auch nur der einzige wirkliche Reprsentant einer im Sozialen anwesenden Kontingenz sein. Freilich stçrt die Anerkenntnis von Kontingenz jede Organisation von Gesellschaft und jede soziale Souvernitt. Von daher stammt das Phantasma einer gltigen Ordnung der Dinge, welche transzendent verbrgt ist und dem Wandel trotzt. Wo der Selbstmord an der Verfasstheit einer brgerlichen Konzeption von Subjektivitt und Tod scheitert, da ist er ihr doch noch ganz verbunden. Im Selbstmord dominiert das Begehren des Subjekts ber die Vergesellschaftung. Sein Subjekt will zurck zur eigenen Natur als Subjekt, die zweite Natur des Sozialen mçchte es ablegen. Aber der Selbstmord zeigt auch, dass es ein Außerhalb der Vergesellschaftung nicht geben kann, außer im Tod. Die Unterwerfung unter den sozialen Diskurs, der fr das Subjekt im Subjekt spricht, ist auch der Preis, der fr Modernitt zu entrichten ist. Der Selbstmord bezeichnet das subjektive Streben ins Unendliche und dessen Negation als Verschwinden. Er vollendet in sich die Illusion von Subjektautonomie, um sie im selben Augenblick in der Selbstauslçschung aufzugeben. Er benennt die Heteronomie des Gesetzes, welches hinter den scheinbar freien Individuen steht, und fllt ihr doch wieder anheim. In seinem Phnomen wird man der Brchigkeit eines Realen gewahr, das der Tod begrenzt und dessen ganzes Streben dennoch auf seine Suspendierung ausgeht. Wenn der Selbstmord als symbolische Reprsentation so zur Allegorie auf seine Gesellschaft wird, dann bildet er doch auch eine Allegorie, die so widerspenstig ist, dass sie sich der Gesellschaft bis hin zu ihrer Rezeption gnzlich entzieht.

Literatur Adorno, T. W. (1997). Gesammelte Schriften (GS). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1998). Metaphysik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ahrens, J. (1998). Der Selbstmord und seine ffentlichkeit. kultuRRevolution, 36, 61–67. Ahrens, J. (2001). Selbstmord. Die Geste des illegitimen Todes. Mnchen: Wilhelm Fink.

108

Jçrn Ahrens

Amry, J. (1976). Hand an sich legen. Diskurs ber den Freitod. Stuttgart: KlettCotta. Arendt, H. (1992). Vita activa. Mnchen: Piper. Aris, P. (1982). Geschichte des Todes. Mnchen: Dtsch. Taschenbuchverlag. Augustinus, A. (1991). Der Gottesstaat. 2 Bd. Mnchen: Dtsch. Taschenbuchverlag. Bahr, H. D. (1999). Die selbstverschuldete Sterblichkeit. sthetik und Kommunikation, 104, 99–110. Barth, K. (1989). Der Rçmerbrief. Zrich: Theologischer Verlag Zrich. Bataille, G. 1994). Die Erotik. Mnchen: Matthes & Seitz. Baudrillard, J. (1983). In: Der Tod der Moderne. Eine Diskussion. Tbingen: Konkursbuch. Baudrillard, J. (1991a). Der symbolische Tausch und der Tod. Mnchen: Matthes & Seitz. Baudrillard, J. (1991b). Die fatalen Strategien. Mnchen: Matthes & Seitz. Belting, H. (1996). Aus dem Schatten des Todes. Bild und Kçrper in den Anfngen. In C. v. Barloewen (Hrsg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen (S. 72–136). Mnchen: Diederichs. Benjamin, W. (1965). Zur Kritik der Gewalt und andere Aufstze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berman, H. J. (1991). Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Borkenau, F. (1991). Ende und Anfang. Stuttgart: Klett-Cotta. Boros, L. (1973). Der Tod in katholischer Sicht – Tod als letzte Entscheidung. In W. Bitter (Hrsg.), Alter und Tod – annehmen oder verdrngen? (S. 169–179). Stuttgart: Klett-Cotta. Burger, R. (1991). Die Aufhebung des Todes oder Die Dialektik der Grenze. In R. Burger, Abstriche. Wien: Sonderzahl. Camus, A. (1959). Der Mythos von Sisyphos. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Camus, A. (1972). Tagebcher 1935–1951. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Casanova, G. (1994). ber den Selbstmord und die Philosophen. Frankfurt a. M.: Campus. Castoriadis, C. (1990). Gesellschaft als imaginre Institution. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cioran, E. M. (1995). Gedankendmmerung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Decher, F. (1999). Die Signatur der Freiheit. Ethik des Selbstmords in der abendlndischen Philosophie. Lneburg: Zu Klampen. Deleuze, G. (1997). Sacher-Masoch und der Masochismus. Frankfurt a. M. u. Leipzig: Insel. Derrida, J. (1993). Falschgeld. Zeit geben I. Mnchen: Wilhelm Fink. Derrida, J. (1994). Den Tod geben. In A. Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin (S. 331–445). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Diemling, M. (1999). Hirntot oder lebendig? Im Diesseits einer medizinisch-technologischen Todesdefinition. In J. Riegler, C. Lammer, B. Ossege, M. Stecher (Hrsg.), Puppe. Monster. Tod. Wien: Turia und Kant.

Ein Tod wider das Gesetz

109

Durkheim, E. (1987/1990). Der Selbstmord. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erlinghagen, H. (1994). Selbstmord und Lebenssinn im Atomzeitalter. Bodenheim u. Frankfurt a. M.: Athenum. Ferber, C. v. (1963). Soziologische Aspekte des Todes. Zeitschrift fr evangelische Ethik, 6, 338–360. Fichte, JG. (1976). Die Bestimmung des Menschen. Leipzig: Reclam. Foucault, M. (1978). Dispositive der Macht. Berlin: Merve. Foucault, M. (1983). Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1991). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer. Foucault, M. (1993). Die Geburt der Klinik. Frankfurt a. M.: Fischer. Foucault, M. (o. J.). Ein ganz harmloses Vergngen (S. 55–59). In M. Foucault, Von der Freundschaft. Berlin: Merve. Gamm, G. (1986). Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne. Bodenheim u. Frankfurt a. M.: Athenum. Groethuysen, B. (1978). Die Entstehung der brgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Guillon, C., Le Bonniec, Y. (1982). Gebrauchsanleitung zum Selbstmord. Eine Streitschrift fr das Recht auf einen frei bestimmten Tod. Frankfurt a. M.: Robinson. Hegel, G. W. F. (1973). Phnomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1986). Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Holbach, PT. de. (1960). System der Natur. Berlin: Aufbau-Verlag. Hume, D. (1984). ber Selbstmord. In: D. Hume, Die Naturgeschichte der Religion. Hamburg: Meiner. Kant, I. (1993a). Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VIII. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, I. (1993b). Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht. Werkausgabe Bd. XI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kantorowicz, E. (1994). Die zwei Kçrper des Kçnigs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Mnchen: Dtsch. Taschenbuchverlag. Kojve, A. (1996). Hegel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kçberle, A. (1973). Der Tod in protestantischer Sicht. In W. Bitter (Hrsg.), Alter und Tod – annehmen oder verdrngen? (S. 180–190). Stuttgart: Klett-Cotta. Landsberg, P. L. (1973). Die Erfahrung des Todes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lindemann, G. (1999). Die Praxis des Hirnsterbens. In C. Honegger, S. Hradil, F. Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? (S. 588–604). Teil 2. Opladen; Leske + Budrich. Lindner-Braun, C. (1990). Soziologie des Selbstmords. Opladen; Westdeutscher Verlag. Luther, M. (1983). Antwort auf die Frage, ob man der Todesgefahr entfliehen soll. Auswahl in 5 Bd. Bd. 1. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt. Lyotard, J.-F. (1994). Der/Das berlebende. In D. Kamper, C. Wulf, (Hrsg.), An-

110

Jçrn Ahrens

thropologie nach dem Tode des Menschen (S. 437–462). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Macho, T. (1994). Vom Skandal der Abwesenheit. In D. Kamper, C. Wulf (Hrsg.), Anthropologie nach dem Tode des Menschen (S. 417–436). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maffesoli, M. (1986). Der Schatten des Dionysos. Frankfurt a. M.: Syndikat. Manzei, A. (1997). Hirntod, Terztod, ganz tot? Frankfurt a. M.: Mabuse. Marcuse, H. (1992). Die Ideologie des Todes. In H. Ebeling (Hrsg.), Der Tod in der Moderne. Bodenheim u. Frankfurt a. M.: Athenum. Masaryk, T. G. (1881/1982). Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation. Mnchen: Matthes & Seitz. Merleau-Ponty, M. (1994). Das Sichtbare und das Unsichtbare. Mnchen: Wilhelm Fink. Minois, G. (1996). Geschichte des Selbstmords. Dsseldorf u. Zrich: Artemis. Mischke, M. (1996). Der Umgang mit dem Tod. Berlin: Reimer. Nassehi, A., Weber, G. (1988). Verdrngung des Todes – Kulturkritisches Vorurteil oder Strukturmerkmal moderner Gesellschaften? Soziale Welt, 4, 377–396. Nassehi, A., Weber, G. (1989). Tod, Modernitt und Gesellschaft. Opladen; Westdeutscher Verlag. Nietzsche, F. (1993). Also sprach Zarathustra. KSA 4. Mnchen u. a.: Dtsch. Taschenbuchverlag u. De Gruyter. Palmer, G. (1999). Prskription und Deskription. In G. Palmer, C. Nasse, R. Hasske, D. C. v. Tippelskirch (Hrsg.), Torah-Nomos-Ius (S. 220–242). Berlin: Vorwerk 8. Schmitt, C. (1959). Nomos – Name – Nahme. In S. Behm (Hrsg.), Der bestndige Aufbruch (S. 92–105). Festschrift fr Erich Przywara. Nrnberg: Glock & Lutz. Schmitt, C. (1993). Politische Theologie. Berlin: Duncker & Humblot. Schmitt, C. (1997). Der Nomos der Erde. Berlin: Duncker & Humblot. Schobert, K. (1989). Der gesuchte Tod. Warum Menschen sich tçten. Frankfurt a. M.: Fischer. Schwan, G. (1997). Politik und Schuld. Die zerstçrerische Macht des Schweigens. Frankfurt a. M.: Fischer. Simmel, G. (1956). Zur Metaphysik des Todes. In G. Simmel, Brcke und Tr. Stuttgart: Kçhler. Taubes, J. (1996). Vom Kult zur Kultur. Mnchen: Wilhelm Fink. Thomas von Aquin (1985). Summe der Theologie. 3 Bd. Stuttgart: Krçner. Weichbrodt, R. (1923). Der Selbstmord. Berlin: S. Karger. Willemsen, R. (Hrsg.) (1989). Der Selbstmord in Berichten, Briefen, Manifesten, Dokumenten & literarischen Texten. Mnchen: Dtsch. Taschenbuchverlag. Ziegler, J. (1977). Die Lebenden und der Tod. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand. Zirfas, J. (1998). Jenseits des Lebens – diesseits des Todes? Ein Memento Vitae zum berleben des hirntoten Menschen. Paragrana, 2, 209–227.

Gerit Langenberg-Pelzer

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 19001

1900 – zwischen Endzeitstimmung und Aufbruch in die Moderne Selten hat es eine Zeit von weniger einheitlichem Charakter gegeben als die Zeit um 1900, deren Eckdaten durch den Beginn der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. 1888 und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 markiert werden. Das Verhltnis zwischen den Generationen war aus dem Gleichgewicht geraten, apokalyptische ngste, Trauer, Melancholie, Weltflucht und Endzeitstimmung traten neben den Glauben an den Fortschritt, Zukunftsorientiertheit, Optimismus und Aufbruchsdenken. Neben einem hohen Entwicklungsstand von Wissenschaft und Technik, Bildung und Kultur fanden sich unbersehbare Symptome der Dekadenz, des geistigen und moralischen Verfalls, der Verliebtheit ins Detail bei gleichzeitigem Verlust einer umfassenden Perspektive. Eine Epoche der Ambivalenz zwischen Sinnverlust und Suche nach Sicherheit fand mit dem Ersten Weltkrieg ihr Ende.

1 Die hnlichkeiten des Artikels (z. B. in Thema, Abfolge der Unterkapitel, Werkauswahl und Ergebnissen) mit der Dissertation von Joachim Noob »Der Schlerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende« (Oregon/ USA, 1997), verçffentlicht in Deutsch beim Universittsverlag Winter (Heidelberg, 1998), lassen sich – wie mit Hinweis auf die bereits 1995 verçffentlichte Dissertation der Verfasserin deutlich wird, auf deren 5. Kapitel sich der aktuelle Artikel sttzt – nur dadurch erklren, dass Noob unzitierte Anleihen bei der Verfasserin aufnahm.

112

Gerit Langenberg-Pelzer

Auch in der Kunst entwickelten sich derart unterschiedliche Stilrichtungen gleichzeitig, dass man diesen knstlerischen Pluralismus ohne genauere Spezifizierung mit dem Begriff »Beginn der Moderne« etikettiert. Doch bei aller Divergenz auffallend hufig tritt ein bestimmtes Motiv in den Werken sehr unterschiedlicher Schriftsteller auf: das des Selbstmords. Der »Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurckzufhren ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte« (Durkheim, 1973, S. 27), war zwar um 1900 nichts Neues, trat aber zur Jahrhundertwende statistisch gesehen erheblich hufiger auf als in frheren Zeiten (Brockhaus, 1903). Obwohl dem Selbstmçrder im Allgemeinen eine ausgeprgte sittliche und moralische Verachtung entgegengebracht wurde, wurde um 1900 erstmals der Versuch unternommen, die angestiegene Zahl der Suizide in Zusammenhang mit den Lebensumstnden zu bringen: »Diese Zunahme erklrt sich wohl in erster Linie aus dem immer schroffer und rcksichtsloser auftretenden Kampfe um das Dasein und aus der Ruhelosigkeit und Hast des Lebens, die unserem ›nervçsen‹ Zeitalter eignet« (Brockhaus, 1903). Lebensberdruss und Geisteskrankheit standen unter den angenommenen Ursachen fr den Selbstmord an erster Stelle und korrespondierten mit einem allgemeinen »Endzeitbewusstsein als Syndrom des dekadenten Fin de sicle« (Kafitz, 1987, S. 36).

Der Selbstmord als literarisches Motiv Literarisch hatte die Darstellung der Motive, die zum Selbstmord eines Protagonisten fhren, mit Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« im 18. Jahrhundert einen ersten Hçhepunkt erreicht. Werthers Selbstmord reiht sich ein in eine große Zahl von durchweg intentionalen Selbsttçtungen in der Weltliteratur, die seit der Antike das Selbstmordmotiv als ein ideales Motiv zum Abschluss oder zur Pointierung einer dramatisch-tragischen Handlung gebraucht hatte. So bezeichnet von Matt den Selbstmord gar als eines von insgesamt drei Themen der Literatur, derer

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

113

sind: »Hochzeit, Mord und Wahnsinn. Fr das dritte, Wahnsinn, kann auch das Wort Suizid stehen« (von Matt, 1991, S. 25). Seit der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts stellten Frauenfiguren die dominierenden Suizidanten in der Literatur dar, von der Anna Karenina Tolstojs bis zu den Frauen bei Ibsen oder Fontane, und das, obwohl laut Statistik bis ins 20. Jahrhundert hinein das Verhltnis weiblicher zu den mnnlichen Suizidanten etwa 1: 3 betrug. Erst die (fast ausschließlich mnnlichen) Kinder und Jugendlichen der Jahrhundertwende wurden hnlich quantitativ bestimmend in der suizidalen Figurengestaltung. Insbesondere um 1900 wurde das Motiv des Selbstmords sehr differenziert zur Funktionalisierung unterschiedlichster Intentionen eingesetzt, vor allem aber zur Darstellung des Spannungsverhltnisses zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedrfnissen. Damit fllt der Hçhepunkt der literarischen Gestaltung des Selbstmords in der deutschen Literatur zeitlich gesehen mit dem Beginn der Suizidforschung zusammen. 1897 erschien die erste bahnbrechende Arbeit zur Erforschung der Selbstmordproblematik, »Le suicide« von Emile Durkheim, in der dieser erstmals den Ansatz verfolgte, Selbstmordhandlungen als ein gesellschaftlich verursachtes Verhalten zu betrachten und in ein kausales Verhltnis zum Krisenbewusstsein der Jahrhundertwende zu stellen. So ist Dçrner durchaus zuzustimmen, wenn er in seiner Einleitung zu Durkheim festhlt: »Dass Handlungen ohne normative Regulierung (anomisch) derart ausweglos miteinander kollidieren, dass Vernichtung des anderen oder Selbstvernichtung als einzig verbleibende Alternative gesehen wird, gehçrt zum epochaltypischen Erleben« (Dçrner, 1973, S. XI). Einen anderen Ansatz als die in Nachfolge Durkheims entstandenen sozialdeterminierten Theorien verfolgten sozialpsychologische Anstze, die den Selbstmord als Resultat des Zusammenwirkens interner, persçnlichkeitsbedingter und externer, gesellschaftsbedingter Umstnde interpretierten, sowie psychoanalytische Erklrungsanstze wie der von Sigmund Freud 1916, in dessen Nachfolge Karl Menninger drei »Idealtypen« des Selbstmords klassifizierte: Selbstmord als Wunsch zu tçten; Selbstmord als Wunsch getçtet zu werden; und Selbstmord als Wunsch zu sterben. 1974 ergnzte Erwin Ringel

114

Gerit Langenberg-Pelzer

die psychoanalytischen Theorien um den Begriff des »prsuizidalen Syndroms«, das heißt die seelische Verfassung des Selbstmordgefhrdeten, die drei Elemente hat: ein Gefhl der Einengung, eine gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression und Selbstmordphantasien. Er differenzierte die zur Suizidhandlung fhrenden Stadien in: Erwgung, ambivalente Auseinandersetzung zwischen Lebenserhaltung und Lebensnegierung und Entschluss zur Tat (Ringel, 1982, S. 33–51). Fr die Untersuchung des hufig auftretenden Suizids jugendlicher Protagonisten in der Literatur der Jahrhundertwende sind insbesondere die Befunde der Forschung zum Zusammenhang von Selbstmord und Adoleszenz, vor allem im Zusammenhang mit der Institution Schule, aufschlussreich (vgl. Lubrich, 1985).

Das Schulsystem um 1900 und der Schlerselbstmord Der Bildungsprozess als Werdegang eines Individuums, als Entwicklung von der Jugend bis zur Reife, wurde in der deutschen Literatur bereits in langer Tradition thematisiert; dabei spielten aber nicht institutionalisierte Bildungs- und Erziehungsmethoden, sondern ein freier Entwicklungsprozess in der »Schule des Lebens« die dominierende Rolle. Erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Institution Schule selbst zum Thema. Dabei begegneten die meisten Schriftsteller der Schule mit Distanz und Abneigung, erteilten ihr sogar in der zu ihrer Zeit bestehenden Form eine eindeutige Absage, indem sie die Diskrepanz zwischen Schulsystem und kindlichen Bedrfnissen aufzeigten und oft genug sogar das Kind an den Bedingungen des Erziehungsund Bildungssystems psychisch und physisch scheitern ließen bis hin zum Selbstmord als letzter Lçsung in ausweglos erscheinenden Situationen. Im Schulsystem um 1900 war das humboldtsche Bildungsideal einer kodifizierten, institutionalisierten und verwalteten »allgemeinen Bildung« gewichen; als Maßstab fr die Beurteilung eines Schlers galt das Erreichen des Klassenziels, also eine von der Persçnlichkeit abstrahierte Leistung. Insbesondere das Gymnasi-

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

115

um, das auf die Universitt vorzubereiten hatte, litt unter einer permanenten Verstrkung und Vereinseitigung des Leistungsprinzips, wobei das Urteil ber die »Reife« einer Person zum Urteil ber die Person schlechthin wurde, so dass diese sowie die unterrichtenden Lehrer alle Bemhungen in den Dienst der Absolvierung des Endexamens stellten. Die Schule entwickelte sich zu einer »Stoffschule, Buchschule, Lernschule« (Scheibe, 1978, S. 72) unter dem Diktat des Lehrstoffs und des Lehrplans, in der alle Macht beim Lehrer lag. Die unzureichend ausgebildeten Lehrer – denn das seit 1810 existierende »examen pro facultate docendi« prfte lediglich die fachliche Qualifikation – vernachlssigten die physische und psychische Konstitution der Heranwachsenden auf strfliche Weise, was oft zu gesundheitlicher und nervlicher berforderung der Schler fhrte. So stellte Herbart in seinen »Pdagogischen Schriften« 1919 fest: »berhufung mit huslichen Arbeiten, unntze Schreibereien, die bis spt abends dauern (wohl gar bis in die Nacht) und die zu allen Unterschleifen des Abschreibens verleiten, sind nichts Seltenes« (Herbart, 1919, Bd. III, S. 151). Der Persçnlichkeit des Heranwachsenden setzte die Schule mçglichst rigide Grenzen, um so ihrer Sozialisierungsfunktion im Dienste des monarchischen Reiches nachzukommen und die Schler zu angepassten, der Pflicht verhafteten Staatsdienern zu erziehen, wodurch sie zur »Konservierungsanstalt« (Vçlpel, 1977, S. 34) fr die bestehenden Gesellschaftsstrukturen wurde. Der Schler hatte sich dem Leistungsprinzip zu beugen; versagte er, so wurde die Schulniederlage oft durch einen strafenden Liebesentzug der Eltern zum traumatischen Erlebnis verstrkt. Dass dabei Generationen von Schlerpersçnlichkeiten gebrochen wurden und unzhlige Talente verkmmerten, war ein dem System immanentes Resultat. Daher verwundert es nicht, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Berichte ber Schlerkrisen huften. Es wurde eine steigende Zahl von Schlerselbstmorden verzeichnet, die am Beginn des 20. Jahrhunderts des çfteren zum Thema wissenschaftlicher Kongresse wurden. Die Ermittlung der Ursachen ergab als hufigste Grnde harte und als ungerecht empfundene Behandlung, Furcht vor Strafen, Angst vor Prfungsversagen (Scheibe, 1978, S. 68). Die Schwedin Ellen Key, die mit ihrem

116

Gerit Langenberg-Pelzer

Buch »Das Jahrhundert des Kindes« 1900 die Kinderpsychologie als Wissenschaft zu etablieren begann, sprach offen von »Seelenmorden in den Schulen« (Key, 1908) und stellte das Schlerdasein dar als »physisches und psychisches Leiden [. . .], das in nicht wenigen Fllen zur Tragçdie, zum Selbstmord fhrt« (Scheibe, 1978, S. 68). Sie prangerte als einen der hufigsten Grnde fr den Entschluss zum Suizid die Angst vor oder die Folge aus einer kçrperlichen Zchtigung an und forderte eine Ablçsung des alten Systems durch eine Schule, die das Kind und seine Persçnlichkeit in den Mittelpunkt stellt – eine pdagogische Bewegung vom Kinde aus. Neben der massiv einsetzenden Bildungskritik Ende des 19. Jahrhunderts ist es vor allem das Aufkommen der Jugendbewegung zwischen 1896 und 1901, insbesondere des sich zunehmend radikalisierenden »Wandervogels«, das reformerische Impulse fr das Schulsystem brachte, indem offen gegen die die gesellschaftlichen Strukturen stabilisierenden Institutionen von Elternhaus und Schule protestiert wurde. Auf der Suche nach geistiger Untersttzung ihrer Ideale stieß die Jugendbewegung bald auf die Literatur, und was kçnnte eindringlicher wirken als die Unkindlichkeit des alten Schulsystems daran zu demonstrieren, dass die sensibleren Naturen unter den mit ihm konfrontierten Schlern keinen anderen Ausweg aus den sie erdrckenden Zwngen finden als den Selbstmord? Zumal die Schule mehr leisten sollte, »als daß sie die jungen Leute nicht zum Selbstmord treibt« (Freud, 1910/1952 f., S. 62 f.).

Frank Wedekind: Frhlings Erwachen (1891) Die Literatur ab 1890 spiegelt in vielfltiger Weise die konfliktgeladene Situation der Jugend in Schule und Elternhaus wider, welche sich in der Mittelschicht von anderen Lebensaltern deutlich unterschied (vgl. Gillis, 1984, S. 116). Den zumeist aus dem Brgertum stammenden Literaten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war das starre, individuellen Begabungen und Ansprchen vçllig unangemessene autoritre Schulsystem

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

117

aus persçnlicher Erfahrung nur zu gut bekannt. Deshalb wurde die autobiographische Aufbereitung der eigenen schulischen Vergangenheit, die ber die literarische Selbstanalyse hinaus die Darstellung allgemeiner, berindividueller Probleme anstrebte, zum wichtigsten Anknpfungspunkt fr die vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts beraus zahlreich entstehende Schler- und Jugendliteratur. Bereits 1890/91 entstand das Drama, das den eigentlichen Auftakt zum »Sturm auf die Vter« (Minder, 1962, S. 74) bildete und unter der Regie von Max Reinhardt im November 1906 mit sensationellem Erfolg an den Berliner Kammerspielen uraufgefhrt wurde: Frank Wedekinds »Frhlings Erwachen«. Frank Wedekinds »Kindertragçdie« (Untertitel) steht am Anfang einer Reihe weiterer bekannter Werke der Jahrhundertwende, die ebenfalls das Bildungssystem und die dieses System stabilisierende Gesellschaft kritisieren. Hier wren zu nennen: Emil Strauß, »Freund Hein« (1902), dessen Protagonist ebenfalls den Selbstmord whlt, Arno Holz, »Der erste Schultag« (1889), Heinrich Manns Roman »Professor Unrat« (1905), Rilkes »Turnstunde« (1899), Robert Musils »Verwirrungen des Zçglings Tçrleß« (1906) sowie das Schicksal Hannos in Thomas Manns »Buddenbrooks« (1901). Wedekinds Stck prsentiert eine Zusammenstellung aller den Selbstmord eines jugendlichen Suizidanten konstituierenden Elemente und verbindet autobiographische Einflsse mit herber Kritik an der herrschenden Moral der Fin-de-sicle-Gesellschaft, aufbereitet mit typischer Jugendstil-Symbolik. Wedekind, dessen Schullaufbahn ihm und seinen Eltern bis zum Abitur grçßtes Kopfzerbrechen bereitete – wie sich aus Wedekinds Aufstzen »Autobiographisches« und »Betrachtungen des Spießbrgers vor der neuen Kantonsschule in Aarau a. d. 1908« ersehen lsst (vgl. Wedekind, 1969, S. 332–334 u. 271–276) –, erlebte den Selbstmord zweier Jugendlicher mit (Wedekind, Briefe 1924, S. 26), unter anderem den seines Klassenkameraden Moritz Drr, der zum Vorbild der Figur des Moritz Stiefel wurde. »Frhlings Erwachen« greift die Schwierigkeiten junger Menschen auf, sich in der differenzierten brgerlichen Gesellschaft mit ihren vielfach nicht einsehbaren Normen zurechtzufinden. Im Mittelpunkt steht das sexuelle Erwachen des pubertierenden Jugendlichen, dessen natrli-

118

Gerit Langenberg-Pelzer

cher Reifeprozess mit dem starren Moralkodex der brgerlichen Gesellschaft, reprsentiert durch Eltern, Schule und Kirche, kollidiert und der an der Divergenz zwischen gesellschaftlicher Konvention und individuellen Bedrfnissen scheitert. Der Schler Moritz Stiefel leidet unter den ersten Regungen seiner Sexualitt zu einer Zeit, da er sich ohnehin mit dem Zwang qult, die schulische Leistung erbringen zu mssen. Von seinen Eltern wird er massiv unter Druck gesetzt; sie haben ihm eine Erziehung zu Leistungsbereitschaft und Autorittsglubigkeit angedeihen lassen und ihm ein Wertesystem vermittelt, in dem allein Erfolg oder Misserfolg ber den Status eines Menschen und sein Recht auf (elterliche) Anerkennung entscheiden. Von seinen Eltern nicht zur Kritik erzogen, ist Moritz unfhig, das Leistungssystem in Frage zu stellen; er akzeptiert es unreflektiert als Maßstab fr sich und andere und hat damit, wie auch fast jeder seiner Schulkameraden, die schulischen Normen als eigene internalisiert. Die Folge sind ein gnadenloser Wettbewerb und das Fehlen jeglicher Solidaritt unter den Kameraden; die Schler verhalten sich bereits genauso inhuman wie die Erwachsenen, was auf die Eigendynamik und Unvernderlichkeit der gesellschaftlichen Verhltnisse ber Generationengrenzen hinaus deutet. Moritz bemht sich darum, sich nicht durch die drngenden Fragen der Sexualitt von seinem schulischen Lernpensum abhalten zu lassen, und verweist sie verschmt in den Bereich des Schuldhaften. Dies verhindert eine stabile Identittsbildung auf der Basis der bereinstimmung von Kçrper und Geist, wie sie seinem Freund Melchior Gabor mçglich ist; Moritz sprt zwar die Vorgnge in seinem Kçrper, ihm mangelt es aber an Verstndnis fr sie, symbolisiert durch das Motiv der Kopflosigkeit kurz vor seinem Selbstmord (Wedekind, 1971, S. 38) und in der Friedhofsszene (S. 64); dieses Motiv spiegelt sich auch in seinem Tod durch Kopfschuss wider. Da Moritz nur ber ein an ußeren Maßstben orientiertes und sehr labiles Selbstwertgefhl verfgt und Familie wie Schule ihre Anerkennung an das Erbringen der erwarteten Leistung knpfen, muss ein Versagen hinsichtlich dieser Erwartungen ihn jedes Halts berauben.

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

119

Seinem Selbstmord gehen zahlreiche Ankndigungen, als Hilferufe interpretierbar, voraus, unter anderem die Bitte an die verstndnis- und liebevolle Mutter seines Freundes Melchior, ihn bei seiner Flucht nach Amerika zu untersttzen, mit der Androhung, »im Fall [. . .] die Flucht nicht ermçglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen.« (S. 35) Dies wird von Frau Gabor allerdings als »momentane Fassungslosigkeit« abgetan und als »Erpressungsversuch« und »Wahl unlauterer Mittel« verurteilt (S. 35). Obwohl Moritz niemanden im Zweifel lsst ber die »Konsequenz, dass ich nicht strze, ohne das Genick zu brechen« (S. 24), werden seine Hilferufe nicht ernst genommen. Das deckt sich mit den Ergebnissen der Forschung zum Jugendselbstmord, die konstatiert, dass in mehr als 80 % der untersuchten Flle der Selbstmord zuvor verbal oder nonverbal angekndigt wurde; auch Moritz’ gescheiterter Versuch, vor der Selbsttçtung von zu Hause wegzulaufen, wird von der Forschung als hufig auftretend besttigt (Lubrich, 1985). Selbst kurz vor seiner Selbsttçtung sind Moritz die Maßstbe der Gesellschaft so prsent, dass er der Zurckbleibenden »ohne Bitterkeit« (Wedekind, 1971, S. 38) gedenkt, sie sogar fr das Leid, das er ihnen zugefgt hat, bemitleidet und sein eigenes Scheitern auf individuelle Ursachen zurckfhrt, »wodurch Schuldgefhle erzeugt werden, die verhindern, dass die erlittene Unterdrckung in Widerstand umschlgt« (Roth, 1975, S. 112). Mit seinem Selbstmord zieht er eine persçnliche Konsequenz aus der gesellschaftlich vermittelten Selbsterkenntnis: »Ich passe nicht hinein« (Wedekind, 1971, S. 37). Die Reaktionen seiner Umgebung beim Begrbnis »an der Mauer« (S. 63) bilden einen Querschnitt durch die verurteilenden Argumente der Selbstmordgegner und drcken zugleich die Ignoranz und den Egoismus der gesellschaftlichen Krfte gegenber den Nçten der Jugendlichen aus. Seine Schulkameraden, die sich von Moritz’ Selbstmord distanzieren, obwohl sie der Tçtungstechnik ein gewisses Interesse entgegenbringen, fassen zynisch zusammen: »Htte er die griechische Literaturgeschichte gelernt, er htte sich nicht zu erhngen brauchen!« (S. 50). In Rektor wie Lehrern entlarvt sich beim Umgang mit Moritz’ Selbsttçtung die selbstgerechte Scheinmoral der Gesellschaft, in-

120

Gerit Langenberg-Pelzer

dem Wedekind ihre ganze Sorge der Institution Schule gelten lsst, die es vor einer »Selbstmordepidemie« zu schtzen gelte (S. 43). Das Drama Wedekinds stellt die erste offensive Anklage der deutschsprachigen Literatur gegen Eltern und Schule wegen Versagens im Erziehungsprozess dar – viele andere werden folgen. Getreu seinem Ziel, »die alte Welt in ihren moralischen [. . .] Vorstellungen und Formen zu desillusionieren, zu zertrmmern« (Martens, 1971, S. 115), fordert Wedekind »die Abschaffung der Moral zugunsten einer neuen« (Medicus, 1982, S. 118).

Hermann Hesse: Unterm Rad (1906) Wie kaum ein anderes Werk der Schlerliteratur spiegelt Hermann Hesses 1903/04 in Gaienhofen verfasster und 1906 bei S. Fischer in Berlin erschienener Roman »Unterm Rad« den Einfluss eigener (Kindheits-)Erinnerungen auf die literarische Produktion wider. Ja, die Briefsammlung Hesses aus den Jahren 1890 bis 1892 (N. Hesse, 1973) liest sich wie eine autobiographische Begleitlektre zu dem Roman. Mit seiner Erzhlung ber das »Zerriebenwerden eines zwar begabten, aber nicht berragenden Schlers zwischen den Anforderungen einer unerbittlich auf Wissensanhufung bestehenden Schule und den Schwchen sowie Gefhrdungen seiner jugendlichen, zarten Natur« (Ries, 1970, S. 102) rechnet Hesse vor dem Hintergrund seines eigenen und des Schicksals seines Bruders Hans, dessen Vornamen er fr den Protagonisten seines Romans whlte, mit dem Schulsystem der Jahrhundertwende ab. Hesse whlte den Vornamen seines Bruders fr den Protagonisten des Romans mit Bedacht. Verstand er doch die Selbsttçtung seines Bruders im Zusammenhang mit dessen schulischem Werdegang (vgl. Hesse, Erinnerung an Hans, 211. In: Hesse, Werke Bd. 10. 1987, S. 199–249). Hermann Hesses eigene schulische Laufbahn begann an der Lateinschule in Gçppingen, deren Zweck es war, den Schler zwischen dem 7./8. und dem 13./14. Lebensjahr vor allem in der

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

121

Grammatik der alten Sprachen zu unterrichten und zu deren fester Beherrschung zu fhren. Bereits auf das zweite Schuljahr lsst sich der Bruch Hesses mit der Lehrerschaft zurckdatieren: »Die Kunst des Lgens und der Diplomatie verdankte ich dem zweiten Schuljahr, wo ein Przeptor und ein Kollaborator mich in den Besitz dieser Fhigkeiten brachten, nachdem ich vorher in meiner kindlichen Offenheit und Vertrauensseligkeit ein Unglck ums andere ber mich gebracht hatte« (Hesse, Lebenslauf, 1972, S. 25 f.). 1890 wechselte Hesse zum Gymnasium in Gçppingen, um hier auf das so genannte »Landexamen« vorbereitet zu werden, das einmal pro Jahr in Stuttgart stattfand und den Zugang zu einer der protestantischen Klosterschulen des Landes BadenWrttemberg regelte, an denen 14- bis 18-jhrige Knaben als Stipendiaten fr das Studium der evangelischen Theologie ausgebildet wurden. »Denn in schwbischen Landen gibt es fr begabte Knaben [. . .] nur einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins Tbinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder. Jahr fr Jahr betreten zwei Dutzend Landessçhne diesen stillen, sicheren Weg, magere, berarbeitete Neukonfirmierte durchlaufen auf Staatskosten die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens und treten acht oder neun Jahre spter den zweiten, meist lngeren Teil ihres Lebensweges an, auf welchem sie dem Staate die empfangenen Wohltaten heimbezahlen sollen« (Hesse, 1972, S. 9; vgl. dazu auch Hesse Notizen, 18. In: Eigensinn, 1972, S. 15–23). Ihr elitrer, durch eine strenge Auswahl der Schler geprgter Charakter, die traditionell asketische, nahezu klçsterliche Lebensweise und das besonders in fundiertem altsprachlichem Unterricht manifestierte »humanistische Bildungsideal«, dem Hesse allerdings vorwirft, »aus der germanischen Gegenwart nach Mçglichkeit ein rçmischgriechisches Traumbild zu machen« (Hesse, 1972, S. 58), begrndeten den hervorragenden Ruf dieser Seminare. Bereits bei der Betrachtung dieser Phase des schulischen Werdegangs fallen die Parallelen zwischen dem Lebenslauf Hesses und dem Hans Giebenraths, des Protagonisten des Romans »Unterm Rad«, auf. Dieser ist von Hesse weniger als »Charakter« dargestellt denn als »eine Folge von wechselnden psychologischen Stimmun-

122

Gerit Langenberg-Pelzer

gen, Gestimmtheiten, Unstimmigkeiten – je nach Situation« (Just, 1966, S. 102). In einer Retrospektive im spteren Verlauf des Romans wird auf die unbeschwerte und erfllte Zeit der vorschulischen Kindheit zurckgeblickt, die Hans Giebenrath in einem topographisch-sozialen Raum verbrachte, der den Schnittpunkt zweier Welten markiert: zwischen der Gerbergasse in der Welt der kleinbrgerlichen Mittelschicht seines Vaters und dem »Falken« im Milieu sozialer Randgruppen, wo das Leben unmittelbarer und intensiver, poetischer und imaginativer erfahren wird durch die »Direktheit stets bedrohter oder auch gescheiterter Existenzen« (Karst et al., 1976, S. 61). Im Rckblick erinnert sich Hans an Erlebnisse und Erfahrungen, die er in der Sphre der vom Leben Benachteiligten machte und die ihn in Berhrung mit Kriminalitt, Elend, Krankheit, Selbstmord und Tod, aber auch mit Freundschaft, Phantasie und Leidenschaft brachten. »Einem strengen vterlichen Gebot zum Trotz« (Hesse, 1972, S. 120) verschafften sie ihm soziale Bindungen, die ihm diese Zeit in der Retrospektive als verlorenes Paradies erscheinen lassen. Die Ansiedlung »echten« Lebens außerhalb des Sozialisationsraums vterlicher und schulischer Erziehung verweist jedoch darauf, dass Hesse seine Verwirklichung im rigiden Rahmen von Staat und Gesellschaft der Jahrhundertwende fr willensschwchere, sensiblere Naturen wie Hans Giebenrath fr unmçglich hlt. Hans wird – wie Hesse – in der Schule frs Landexamen vorbereitet, allerdings – anders als Hesse – als einziger Kandidat und damit Hoffnungstrger seines Heimatstdtchens Gerbersau. Wie Hesse widmet sich Hans bis an die Grenzen seiner physischen und psychischen Mçglichkeiten dem Erlernen des zum Bestehen des Examens notwendigen Stoffes, was durch den fehlenden kulturellen Hintergrund und damit den Mangel an Rstzeug fr die vom Vater Giebenrath fr seinen Sohn erstrebte Karriere zustzlich erschwert wird. Er verzichtet dabei auf nahezu jede Freizeit und Abwechslung, fr die der ausgefllte Tagesplan ohnehin keine Muße vorsieht, der sich fr den etwa 12-jhrigen Schler auf einen zwçlf- bis vierzehnstndigen Arbeitstag siebenmal pro Woche summiert. Die geistige Anspannung und die einseitige, im Sitzen sich er-

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

123

schçpfende kçrperliche Haltung, verbunden mit unzureichenden Muße- und Schlafzeiten, werden fr Hans Giebenrath wie fr Hesse auch whrend der so genannten »Vakanzen« fortgesetzt. Das muss bald zu vçlliger psychischer und physischer Erschçpfung fhren, was sich bei Hans unter anderem darin ußert, dass er stndig unter offensichtlich psychosomatischem »Kopfweh« (S. 12) zu leiden hat und in seiner Konzentrationsfhigkeit empfindlich gestçrt ist. Nebenbei bemerkt kann hierin natrlich eine biographische Analogie zu Hesse gesehen werden. Zudem beherrscht der Gedanke an die bevorstehende Prfung Hans’ Denken und Handeln, er ist auf das Landexamen als einzige Zukunftsperspektive fixiert. Er hat dieses Ziel internalisiert und verfolgt es mit einem Ehrgeiz, der ans Pathologische grenzt, getrieben von einem Bildungsdnkel, der ihn davor zurckschrecken lsst, »einer von den gewçhnlichen armseligen Leuten [zu] sein, die er verachtete und ber die er absolut hinaus wollte« (S. 28). Das Bestehen des Landexamens wird fr Hans zum Maßstab fr sich selbst und sein Ideal vom knftigen Leben; er akzeptiert die Norm der schulischen Leistungserfllung als Aussage ber den Wert oder Unwert einer Person. Das Einzige, was ihn deshalb nach bestandener Prfung anficht, ist die Tatsache, nicht Bester geworden zu sein (S. 29). Bei aller faktischen und chronologischen Parallelitt legt Hesse in seinem Roman besondere Betonung auf das Herausarbeiten hintergrndiger psychologischer und sozialer Motivationen fr Hans Giebenraths Verhalten und Befindlichkeit. Es handelt sich bei »Unterm Rad« um eine »kreative Autobiographie« in dem Sinne, dass Hesse seine »persçnlichen Erfahrungen [. . .] so umgestaltet, dass sie zur Projektion eines bestimmten Bildes oder beispielhaften Modells werden« (Freedman, 1982, S. 13). Genaue Beobachtung und Analyse eigener Krisen dienten ihm als Mittel, die Krisen seiner Zeit, ja einer ganzen Epoche widerzuspiegeln. So skizziert er sorgfltig die ber Hans’ Leben letztlich entscheidenden erwachsenen Personen als Reprsentanten gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen seiner Zeit: der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, durch diese geprgt und diese wiederum prgend, der Schule, die fr Hesse »eine geistige Einstellung und eine

124

Gerit Langenberg-Pelzer

charakteristische Verhaltensweise, die untrennbar mit der staatlichen Erziehung verknpft sind« (Kayser, 1970, S. 117), kennzeichnet, und der Kirche. Bezeichnenderweise werden der Romananfang und das Ende gestaltet durch das Auftreten der Figur des Vaters Giebenrath, eines Urtyps des kleinbrgerlichen »Philisters« (Hesse, 1972, S. 7) der Jahrhundertwende; die Klammer der Vaterwelt, die auf solche Weise symbolisch geschlossen wird, ist es, aus der Hans sich zeit seines kurzen Lebens nicht befreien kann und die die Wurzeln fr Hans’ sptere Hilflosigkeit anderen Autoritten gegenber legt, bedingt durch seinen Hang zu Unterordnung, bedingungslosem Gehorsam und Pflichtbewusstsein. Ein ausgleichendes mtterliches Element, das Gemt und Gefhl bercksichtigen wrde, fehlt ganz, da Hans’ Mutter frh verstorben ist. Giebenraths aufflligstes Merkmal ist seine Unaufflligkeit, und seine Durchschnittlichkeit impliziert, dass eine »Gesellschaft, welche die jedes Individuationsmerkmals entbehrende Person Joseph Giebenraths als vollgltiges Mitglied respektiert, ihrerseits aus solchen ›Un-Personen‹ zusammengesetzt sein muss« (Ries, 1970, S. 99). Die Personifizierung einer ganzen Gesellschaftsschicht in der Figur des Vaters lsst die Geschichte um den Sohn exemplarisch werden. Fr seinen einzigen Sohn hegt Vater Giebenrath einen fr das kleinbrgerliche Milieu der Kaufleute und Handwerker charakteristischen Lebenstraum: den vom sozialen Aufstieg in die Sphre der Beamten (Hesse, 1972, S. 9) mittels der Absolvierung des Gymnasiums und anschließenden Studiums, denn »in seinem schwerflligen Kopf lebte dunkel das Ideal so vieler beschrnkter Leute, aus seinem Stamme einen Zweig ber sich hinaus in eine Hçhe wachsen zu sehen, die er mit dumpfem Respekt verehrte« (S. 50). Da Hans unglcklicherweise alle Voraussetzungen an Intelligenz und Schulleistungen fr eben diese Laufbahn mitbringt, wird der Vater zum ersten und entscheidenden Faktor der Fremdbestimmung ber das Leben seines Sohnes. Ihm schließen sich schnell Lehrer und Pfarrer an, da sie Hans als geeignetes Objekt ausgespht haben, um eigene Profilierungsschte, Geltungsbedrfnisse und Selbstverwirklichungsdrnge zu befriedigen. »Damit war seine Zukunft bestimmt und festgelegt« (S. 9). Doch die Vertreter der Institutionen, die sich den wehrlosen Schler fr ihre

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

125

Zwecke nutzbar machen, sind ihrerseits ebenfalls Instrumente in den Hnden einer bergeordneten Macht, des Staates, in dessen Auftrag sie der Aufgabe nachkommen, »stille, mßige und staatlich anerkannte Ideale« (S. 46) im Schler fest zu verankern und »ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundstzen zu einem ntzlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren vçllige Ausbildung alsdann die sorgfltige Zucht der Kaserne krçnend beendigt« (S. 47). In diesem Sinne sind sie mit Hans Giebenrath als angepasstem, untergeordnetem und folgsamem Produkt ihrer Erziehung sehr zufrieden. Damit wird Hans aber eine ußerst brchige soziale Existenz geschaffen; sein ganzes Selbstwertgefhl ist abhngig davon, dass er den ber sein Leben bestimmenden Autoritten zu Willen ist und ihre Erwartungen erfllt, um so die fr die Entwicklung eines Selbstbewusstseins notwendige Besttigung und Anerkennung zu ernten. Hans bleibt somit die Mçglichkeit versagt, sich selbst als Subjekt seiner Handlungen zu begreifen und zu entwickeln. Seine Persçnlichkeit definiert sich ausschließlich ber das Erreichen der ihm von außen gesteckten Ziele, das ihn mit »stolzem Selbstgefhl« (S. 46) erfllt; ihr Verfehlen muss alles, was er ist und darstellen mçchte, in Frage stellen, so dass er unter massiven Versagerngsten leidet. Der Traum vom sozialen Aufstieg wird zu seinem einzigen Lebensziel, der Einsatz, um es zu erreichen, zum einzigen ihm sinnvoll erscheinenden Lebensinhalt, ohne dass ihm allerdings die Grnde hierfr einsichtig sind: »Warum eigentlich? Das wusste er selber nicht« (S. 41). Der Fluss wie auch andere Symbole seiner verlorenen Kinderzeit wecken zwar Wehmut und Kummer in Hans, doch da er diesen Gefhlen nicht weiter auf den Grund geht, um ihre Ursachen zu erforschen, kann er sie nicht in angemessener Weise verarbeiten und ausleben, um sich Erleichterung zu verschaffen. Vielmehr reagiert er, obwohl ihm eigentlich danach ist, als »msse [er] sich hinwerfen und heulen« (S. 16), mit hilfloser Aggressivitt, die sich verbittert und zerstçrerisch gegen seine Erinnerungsstcke wendet (S. 16), als kçnne er so die Ursachen seines Kummers beseitigen. Damit bleibt die Kindheit unbewltigt. Doch noch ist der Glaube an die Erreichung des Lebensziels in

126

Gerit Langenberg-Pelzer

der Lage, ihn fr die entgangenen Freuden der unbeschwerten Kindheit zu entschdigen, noch darf er hoffen, durch die Erfllung der Leistungsnormen in einen »Kreis hçherer Wesen« aufsteigen und »etwas anderes und Besseres« (S. 17) sein zu drfen als das ihn umgebende Mittelmaß. Und das trotz aller Prfungssorgen bestandene Landexamen scheint ihn in dieser Haltung zu besttigen, auch wenn die »Todesangst« (S. 28), die Hans vor seinem Versagen empfindet, bereits auf den existenziellen Zusammenhang zwischen seinem Leben und dem schulischen Erfolg hindeutet. Belohnt wird die bestandene Prfung mit Mußezeit, die Hans wie »Freiheit« (S. 27) erscheint und die er am Fluss verbringt, der so als positiver, vitaler Gegenpol seines Schuldaseins fungiert, ohne dass er sich der Tatsache bewusst ist, dass die Kinderzeit fr ihn unwiederbringlich verloren ist. »Der Schler steht zwischen einem gewaltsam zerstçrten Nichtmehr und einem Nochnicht, zwischen verlorener Harmonie und Selbstverwirklichung im Raum der Schule. Diesem Dazwischen vermag die Schule nicht zu gengen« (Bertschinger, 1969, S. 132). Nach der »Vakanz«, die allerdings von Gerbersaus »Bildungselite« dazu missbraucht wird, Hans durch zahlreiche Extralektionen so gut vorbereitet nach Maulbronn zu entsenden, dass sein Vorsprung anderen Schlern gegenber zu ihrem Ruhme gereichen kann, beginnt fr Hans der nchste, fr das Erreichen seines Lebensziels entscheidende Abschnitt seiner schulischen Laufbahn: Er tritt als Seminarist in Maulbronn ein, wie auch Hesse es 1891 tat. Doch obwohl Hesse zunchst durchaus positiv von seinen Maulbronner Eindrcken berichtete und lediglich ber die Masse an Arbeit und die gewçhnlichen Schwierigkeiten in Mathematik und griechischer und lateinischer Komposition klagte, mssen im Inneren des Pubertierenden eruptive Prozesse stattgefunden haben, die ihm die Schulzeit unertrglich machten und ihn empfindlich unter den Missstnden einer rein formalen Erziehung leiden ließen; rckblickend erinnert er sich: »Im Seminar fingen meine Nçte an. Die Not der Puberttszeit traf zusammen mit der der Berufswahl, denn es war mir schon damals durchaus klar, dass ich nichts anderes als ein Dichter werden wollte« (Hesse, Notizen, 1972,

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

127

S. 18). Dieser Unentschiedenheit zwischen Pflichtgefhl und innerer Berufung gab Hesse schließlich Ausdruck mit seiner spektakulren Flucht aus Maulbronn, bei der er vom Mittag des 7. Mrz 1892 bis zum Mittag des folgenden Tages hungrig und frierend eine lange Wegstrecke zurcklegte, bevor er nach einer Begegnung mit einem Landjger nach Maulbronn zurckgebracht wurde, wo er fr dieses Missverhalten eine Karzerstrafe abzusitzen hatte. Den Zustand emotionaler Zerrissenheit und Exaltation und den Widerstreit der Wnsche, zum einen dem Willen der Autoritten zu gengen, zum anderen aber sich selbst zu verwirklichen, personifiziert Hesse in »Unterm Rad«, indem er der Figur Hans Giebenraths in Maulbronn die des Hermann Heilner hinzufgte. So schreibt Hesse 1953 in seinen »Begegnungen mit Vergangenem« hierzu: »In der Geschichte und Gestalt des kleinen Hans Giebenrath, zu dem als Mit- und Gegenspieler sein Freund Heilner gehçrt, wollte ich die Krise jener Entwicklungsjahre darstellen und mich von der Erinnerung an sie befreien, und um bei diesem Versuche das, was mir an berlegenheit und Reife fehlte, zu ersetzen, spielte ich ein wenig den Anklger und Kritiker jenen Mchten gegenber, denen Giebenrath erliegt und denen ich einst selber beinahe erlegen wre: der Schule, der Theologie, der Tradition und Autoritt« (Hesse, 1987, GW 10, S. 347–357). Damit wendete Hesse erstmals das fr sein weiteres Werk so prgende »Prinzip der polaren Spaltung« (Stolte, 1971, S. 44) an, mit dem er die antagonistischen Seiten eines Charakters auf mehrere Figuren verteilt, deren Wesenszge sich einerseits widersprechen, andererseits aber ergnzen. Heilner, dessen dichterische Ambitionen ihn zu einer Parallelfigur Hesses werden lassen und der wegen seiner rebellischen Natur und seines Aufbegehrens gegen jede Unterordnung und erzwungenes Wohlverhalten ebenso dazu tendiert, Einzelgnger zu bleiben, und der scheue, zurckhaltende, einsame Hans finden aufgrund ihres gemeinsamen Außenseitertums in einer leicht homoerotisch geprgten Beziehung zu dem »ungleichsten« (S. 73) aller unter den Seminaristen entstehenden Freundespaare zusammen. Dabei unterminiert Heilner Schritt fr Schritt Hans’ bisheriges Lebens- und Schaffensideal, »vorwrtszukommen, berhmte Exami-

128

Gerit Langenberg-Pelzer

na zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine romantische und gefhrliche« (S. 79), indem er ihm neue Einsichten ber Schule, Mitschler und Lehrer vermittelt, und fungiert so als Katalysator der Desintegration. Da seine Ziele keine Verbindlichkeit fr den ihm in seinem Wesen diametral entgegengesetzten Hans haben kçnnen, legt er unabsichtlich aber auch den Grundstock fr dessen schwere Identittskrise. Auch die Drohung des Ephorus, dass Hans bei einem Nachlassen seines Arbeitseifers »unters Rad« (S. 93) kme, ndert nichts daran, dass seine Freundschaft mit Heilner zum einzig wichtigen Lebensbezug wird. Damit bringt Hans sich allerdings in eine verhngnisvolle neue Abhngigkeit. Als Heilner aus Maulbronn flieht, ohne einen Gedanken an seinen Freund zu verschwenden, und unehrenhaft aus dem Seminar entlassen wird, ist auch das Ende von Hans’ schulischer Laufbahn besiegelt; den psychischen und physischen Spannungen ist seine fragile Konstitution nicht lnger gewachsen. Perspektivlos und still resigniert, fallengelassen von seinen ehemaligen Fçrderern und Antreibern, kehrt er nach Gerbersau zu seinem von ihm enttuschten Vater zurck, nachdem er – wie es Hesse selbst widerfuhr – von der Schulgesundheitsbehçrde fr nervenkrank erklrt wurde. Hesse zieht eine Zwischenbilanz von Hans Giebenraths gescheiterter schulischer Laufbahn, in der er die Verantwortlichen ausmacht und eindeutig fr schuldig befindet: »Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lenker der Jugend, vom Ephorus bis auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten sahen in Hans ein Hindernis ihrer Wnsche, etwas Verstocktes und Trges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurckbringen msse. Keiner [. . .] sah hinter dem hilflosen Lcheln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken. Und keiner dachte etwa daran, dass die Schule und der barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche Wesen so weit gebracht hatten. [. . .] Nun lag das berhetzte Rçßlein am Weg und war nicht mehr zu brauchen« (S. 109). Einen letzten Reiz gewinnt Hans seinem Leben nur noch durch den Entschluss zu sterben ab; angesichts des Todes, der fr ihn »beschlossene Sache« (S. 115) ist, bekommt er Freude an dem

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

129

Vorsatz, die ihm verbleibende Zeit »auszukosten, wie man es gern vor langen Reisen tut«, und schçpft aus diesem Gefhl ein letztes Mal »ein paar Tropfen der Lust und Lebenskraft« (S. 115), als er der ein paar Jahre lteren Emma begegnet und die Freuden und Qualen von erster Lust und Liebe empfindet. Hesse gestaltet Hans’ Liebeserlebnis in Anlehnung an seine Begegnung mit der sieben Jahre lteren Eugenie Kolb, die er 1892 in Bad Cannstatt kennen lernte und in die er sich verliebte. Als seine Liebe zurckgewiesen wurde, versuchte Hesse sich umzubringen und verblieb auch nach dem gescheiterten Versuch in tiefer Depression und Todessehnsucht. Hans fllt der ungezwungene Umgang mit Emma schwer, sicher auch, weil er in einer nur von Mnnern geprgten Welt aufwuchs. So erkennt er nicht, dass die im Liebesleben bereits Erfahrene in ihm nur ein kurzes Vergngen sieht, whrend sie fr ihn zur einzigen Grundlage seiner Existenz wird. »Solange eine libidinçs stark besetzte, zur Identifizierung geeignete Person den Gefhrdeten am Leben halten will, [. . .] findet er auch die Kraft, dem, der ihn [. . .] in den Selbstmord treibt, zu widerstehen« (Gottschalch, 1977, S. 126). Als Emma ohne Abschied Gerbersau verlsst, strzt Hans aus hçchstem Glck in tiefste Verzweiflung, die noch dadurch gesteigert wird, dass er in eine Mechanikerwerkstatt als Lehrling eintritt und damit sein sozialer Abstieg in aller Deutlichkeit dokumentiert wird. Bei einem Sonntagsausflug folgt der inneren Demontage auch die ußere, als er sich betrinkt. Als Hans Giebenrath, ein »Invalider mit sechzehn Jahren« (Freedman, 1982, S. 74), auf dem Heimweg von dem Zechgelage den Tod im Fluss findet, ist das »nur die versptete ußere Besttigung eines bereits abgeschlossenen Prozesses« (Hartmann, 1953, S. 67), in dem Hans schon nervlich, seelisch und geistig ermordet worden ist. Obwohl eigentlich ungeklrt bleibt, ob sein Tod auf die Folge eines Unfalls oder wirklich auf Selbstmord zurckzufhren ist, erscheint ein Suizid als Beendigung eines »kontinuierlichen Entwicklungsprozesses eines unverstandenen, unterdrckten Heranwachsenden, der schließlich [. . .] in Unselbstndigkeit und Verzweiflung an der Konfrontation mit der Realitt zerbricht« (Vçlpel, 1977, S. 56), wahrscheinlich, zumal Hesse in einem Brief 1934 selbst konstatier-

130

Gerit Langenberg-Pelzer

te, dass eine solche Tat »nur dann getan werden und gelingen [kann], wenn [. . .] eine Seele sich dauernd und hoffnungslos von ihren Quellen abgetrennt findet« (Hesse, Briefe, 1957, S. 578). Als Hans’ Leiche gefunden wird, sind »Ekel, Scham und Leid [. . .] von ihm genommen« (S. 164) und »der nicht ganz geschlossene Mund sah zufrieden und beinahe heiter aus« (S. 165). Im Tod hat er offenbar die Ruhe gefunden, nach der ihn verlangte. »Unterm Rad« stellt in jeder Hinsicht ein Pldoyer fr die sich frei entwickelnde Individualitt Heranwachsender dar: »Der einzelne, einmalige Mensch mit seinen Erbschaften und Mçglichkeiten, seinen Gaben und Neigungen ist ein zartes, gebrechliches Ding, er kann wohl einen Anwalt brauchen« (Hesse, unverçff., 1985, S. 5).

Zwischen Entfaltungsmçglichkeit und Orientierungslosigkeit? Auch wenn man einschrnkend bemerken muss, dass »eine derart komplexe psychische Dynamik wie die der suizidalen Handlung [. . .] ber eine Textanalyse nicht vollstndig beschreibbar« (Kolk, 1986, S. 63) sein kann, muss die auffllige Hufung von Selbsttçtungen Jugendlicher in der Literatur der Jahrhundertwende nachdenklich stimmen. Der Tod durch Selbstmord markiert ja nicht nur das Ende eines Lebenswegs, sondern auch ein Stadium der Verkettung allgemeiner Umstnde mit einer bestimmten psychisch-seelischen Konstitution des Individuums, dem ein Weiterleben unertrglich oder in jedem Fall als schlechtere Alternative zum Tod erscheint. »Die Wahl steht nicht zwischen Tod und Leben, sondern zwischen Tod und Tod bei unterschiedlichen Modalitten« (Neuffer, 1992, S. 103). Beim Vollzug der suizidalen Handlung stehen (nicht nur) in den beiden Erzhlungen die sog. »harten« Methoden im Vordergrund, was die Schwere des persçnlichen Entschlusses unterstreichen soll, der zur Tat fhrt; so erschießt sich Moritz Stiefel, whrend Hans Giebenrath den Tod im Wasser sucht. Mehr Augenmerk als auf den Vollzug richten die Autoren aber auf die

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

131

Motivierung der Selbsttçtung; in keinem Werk der Jahrhundertwende, das die Handlung auf den Selbstmord eines Protagonisten hin anlegt, wird ein Zweifel daran gelassen, dass die Selbsttçtung intentional erfolgt, aber zugleich eine Reaktion auf die Umstnde ist: Erst die Darstellung der prsuizidalen Befindlichkeit der Selbstmçrder verleiht den Werken Dynamik und Geschlossenheit. Wie die meisten suizidalen Figuren der Literatur um 1900 sind auch die jugendlichen Protagonisten bestimmt durch ihre psychische, oft auch physische Labilitt, ein instabiles Selbstbewusstsein und ein leicht zu erschtterndes Selbstwertgefhl. In ihnen unterliegt der unreflektierte Wunsch, in bescheidenem Rahmen ein persçnliches Glck zu verwirklichen, der mangelnden Kraft, sich gegen widrige Lebensumstnde zu behaupten. Die Selbsttçtungen lassen sich somit als sozialpsychologische Phnomene interpretieren, die sich aus dem Zusammenhang interner, persçnlichkeitsbedingter Faktoren auf Seiten des Suizidanten mit externen gesellschaftsbedingten Faktoren seines Umfelds ergeben. Der Klassifizierung Durkheims (1897) folgend, berwiegt bei den Jugendlichen auf den ersten Blick der Typ »egoistischer Selbstmord«, beruhend auf bermßiger Individuation des Einzelnen, der der Gesellschaft in Gestalt von Eltern und Lehrern den Gehorsam verweigert, dadurch aber seines Lebenssinns verlustig geht: »Je grçßer die Diskrepanz zwischen den Wnschen und den Mitteln zur Befriedigung dieser Wnsche einer Person ist, umso eher begeht diese Person Selbstmord« (Gores, 1981, S. 87). Der Selbsttçtung geht bei den jugendlichen Suizidanten eine »tief schmerzliche Verstimmung« voraus, »eine Aufhebung des Interesses fr die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfhigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefhls« (Freud, 1963, S. 429). Dabei vertritt nach Freud der Suizid »die ursprngliche Reaktion des Ichs gegen Objekte der Außenwelt« (Freud, 1963, S. 439), weil durch eine gewaltsame Stçrung der ußeren Besetzungen, wie sie bei den jugendlichen Suizidanten durchweg zu beobachten ist, die destruktiven Triebe, die sich im Laufe der Sozialisation nach außen gerichtet haben und im Normalfall neutralisiert sind, zu ihrem Ursprung, dem Selbst, zurckkehren und sich im Selbstmord entladen.

132

Gerit Langenberg-Pelzer

Doch auf den zweiten Blick ist erkennbar: Die literarische Abrechnung mit dem Schulsystem, das dem pubertierenden Schler keine andere Mçglichkeit der Entfaltung als diese Flucht in den Tod bietet, lsst keinen Zweifel daran, welche Missstnde es auszurumen gilt. Somit ist der in den Erzhlungen thematisierte Selbstmord der Jugendlichen zugleich auch ein altruistischer Selbstmord im Sinne Durkheims. Denn die von frhester Kindheit an vollzogene Internalisierung bertriebener gesellschaftlicher Ansprche, mit denen die Jugendlichen aufgewachsen sind, fhrt dazu, dass sie diese gesellschaftlichen Ansprche an sich selbst anlegen, nur um letztlich an ihnen zu scheitern – denn ber diese kollektiven Idealvorstellungen hinaus verfgen sie ber eine zu schwache Individualitt, als dass diese als berlebensgrund gegen das Scheitern aufgewogen werden oder als Basis fr eine dauerhafte Auflehnung gegen die kollektiven Normen ausreichen kçnnte. Inhalt und Intention der literarischen Werke bersteigen damit den unmittelbaren persçnlichen Zusammenhang mit den eigenen Schulerfahrungen der Autoren; durch die Schul- und Gesellschaftskritik stellen gerade die Werke, die den Schler- und Jugendselbstmord thematisieren, einen Ansatz bereit, etwas zur nderung der dargestellten Zustnde beizutragen. »So begriffen, steht das Werk gleichzeitig in der Abhngigkeit eines erfahrenen Schicksals und einer vorgestellten Zukunft. Nur die Dimension der Vergangenheit [. . .] zum Erklrungsprinzip zu whlen, heißt aus dem Werk eine Folgeerscheinung machen, whrend es doch fr den Schriftsteller so oft eine Weise ist, die Zukunft zu antizipieren« (Starobinski, 1975, S. 239). In diesem Sinne kritisiert Hesse mit dem Selbstmord Hans Giebenraths eine Welt, in der das Ich an seinem Widerspruch zur Gesellschaft scheitern muss, weil es sein diffiziles Innenleben vor der Außenwelt nicht schtzen kann. Er verurteilt eine erwachsene Umgebung, die dem Jugendlichen mit seinen altersspezifischen Problemen und Krisen das volle Recht auf Individualitt nicht zubilligt, sondern bestrebt ist, jedes persçnliche Merkmal zu zerstçren, das nicht zu ihrem unmittelbaren Nutzen beitrgt. Damit schließt sich Hesse dem Geist der Reformer um Ellen Key und den »Wandervogel« an, die eine radikale Vernderung der Einstellung der Erzieher sowie eine Re-

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

133

form aller Institutionen fordern, die das Kind enkulturieren sollen. Whrend Hesse auf die kathartische Wirkung von Hans’ Suizid hoffte und die Handlung neoromantisch-trnenselig komponierte (vom Ton des Romans distanzierte er sich spter), verzichtete Wedekind auf eine einseitige Funktionalisierung des Selbstmords Moritz Stiefels. Er erhebt zwar die aggressivste Anklage der Werke um die Jahrhundertwende, lsst aber sein Drama nicht mit dem anklagenden Blick aufs Grab, sondern mit einem Pldoyer fr das Leben enden. Bei keinem der untersuchten jugendlichen Suizide handelt es sich um Affekthandlungen aus augenblicklichen Gefhlslagen oder rauschhaften Zustnden heraus. Vielmehr geschehen die Selbsttçtungen in Orientierung an Zukunftsprojektionen, die die Basis fr eine Abwgung weiterer Lebenschancen, fr eine Negativbilanzierung des bisherigen Daseins und fr ein Gefhl, den notwendigen Schritt tun zu mssen, liefern. Auch wird nirgendwo die Frage gestellt, ob eine suizidale Handlung Rechtens sei. Ob der Selbstmord der Gesellschaft schade oder ntze, spielt im Unterschied zu der Frage, inwieweit die Gesellschaft dem Selbstmçrder Schaden zugefgt und seine Tat veranlasst habe, gar keine Rolle. Damit hat die Gesellschaft ihr Recht auf Anklage gegenber dem Suizidanten verwirkt. Der Suizid selbst bleibt in der Literatur moralisch indifferent, anders als die Umstnde, die zu ihm fhren; der Tod erscheint als der letzte, vor dem destruktiven Zugriff anderer geschtzte Kernbereich individueller Entfaltungsmçglichkeit. Allerdings lassen sich aus den literarischen Selbsttçtungen der jugendlichen Protagonisten um 1900 zwei Postulate ableiten: Die Gesellschaft sollte sich bemhen, mçglichst jeden Selbstmord zu vermeiden und die Hilferufe und depressiven Gemtslagen Jugendlicher ernst zu nehmen; gleichzeitig darf sie aber die Entfaltungsmçglichkeit und Entscheidungsautonomie des Einzelnen in suizidalen wie allen anderen Angelegenheiten nicht in einem existenzgefhrdenden Maße beschrnken. Diese Postulate galten um 1900 und sie gelten auch heute noch, in einer Zeit, die wieder von Aufbruchsstimmung wie Untergangsngsten geprgt ist und in der eine oftmals bertriebene Individuation zu Erscheinungen der Desintegration und Orientierungslosigkeit gerade junger Men-

134

Gerit Langenberg-Pelzer

schen fhrt – und diese Individuation wird zugleich als kollektiver gesellschaftlicher Anspruch propagiert, aus dem sich die Jugendlichen, da sie entscheidend von ihm geprgt sind, nur schwierig auf eine autonome Individualitt hin befreien kçnnen. So fhrt auch heute noch das Scheitern an Normen, die zunchst von außen an die Heranwachsenden herangetragen und im Laufe der Entwicklung als (vermeintlich) eigene internalisiert werden, zu einem Verlust an Selbstwertgefhl und in dessen Folge oft zur Flucht in den Suizid, wie es die jugendlichen Protagonisten bei Hesse und Wedekind erleben. Dies zeigt sich daran, dass auch heute noch Selbstmorde bei Jugendlichen an zweiter Stelle der Todesursachen stehen, wobei neben Liebeskonflikten und familiren Schwierigkeiten schulische Probleme, bewirkt durch Leistungsdruck, die berbewertung von Misserfolgen und dadurch hervorgerufene Versagensngste, zu den wichtigsten Motiven zhlen. Dafr zu sorgen, dass der junge Mensch seine Wnsche auch innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens verwirklichen kann, muss das wichtigste Anliegen der Erziehung bleiben.

Literatur Bertschinger, T. (1969). Das Bild der Schule in der deutschen Literatur zwischen 1890 und 1914. Zrich: Juris. Der Brockhaus. (1903). Wiesbaden: Brockhaus. Dçrner, K. (1973). Einleitung zu: Emile Durkheim, Der Selbstmord. Neuwied u. Berlin: Luchterhand. Durkheim, E. (1973) Der Selbstmord. Neuwied u. Berlin: Luchterhand. Freedman, R. (1982). Hermann Hesse – Autor der Krisis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1910/1952f.). ber dem Selbstmord, insbesondere den Schler-Selbstmord. G.W. Bd. VIII. London, S. 62 f. Freud, S. (1916–1917/1963). Trauer und Melancholie (S. 427–446). In S. Freud, Gesammelte Werke Bd. 10. 3. Aufl., London: Imago. Gillis, JR. (1984). Geschichte der Jugend. 2. Aufl. Weinheim u. Basel: Beltz. Gores, R. (1981). Suizid als Problemlçsung. Dsseldorf: Mannhold. Gottschalch, W. (1977). Schlerkrisen. Reinbek: Rowohlt. Hartmann, W. (1953). Das Motiv des Kindertodes in der neuen deutschen Erzhlkunst (Diss.). Erlangen. Herbart’s Pdagogische Schriften. (1919). Bd. III. Osterwieck: Zickfeldt.

Der Schler- und Jugendselbstmord in der deutschen Literatur um 1900

135

Hesse, H. (1957). Briefe. In H. Hesse, Betrachtungen und Briefe (S. 473–784). Berlin u. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1972). Unterm Rad. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1972). Biographische Notizen (S. 15–23). In H. Hesse, Eigensinn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1972). Kurzgefasster Lebenslauf (S. 24–45). In H. Hesse, Eigensinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1985). In: S. Unseld, Hermann Hesse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1987). Gesammelte Werke Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1987). Begegnungen mit Vergangenem (1953): S. 352. In H. Hesse, Gesammelte Werke. 10. Bd. (S. 347–357). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, H. (1987). Erinnerung an Hans (S. 199–249). In H. Hesse. Gesammelte Werke Bd. 10. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesse, N. (Hrsg.) (1973). Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Humboldt, W. von (1920). Gesammelte Schriften X. Berlin: Behr. Just, K. G. (1966). Fr und wider die Psychologie (S. 99–114). In K. G. Just, bergnge. Bern u. Mnchen: Francke. Kafitz, D. (Hrsg.) (1987), Dekadenz in Deutschland. Frankfurt u. a.: Peter Lang. Karst ,T. Overbeck, R., Tabbert, R. (1976). Kindheit in der modernen Literatur. Kronberg: Scriptor. Kayser, H. C. (1970). Bild und Funktion der Schule in der deutschen Literatur um die Wende zum 20. Jahrhundert (Diss. Washington 1969). Ann Arbor/Michigan: University Microfilms. Key, E. (1908). Das Jahrhundert des Kindes. 14. Aufl. Berlin: Fischer. Kolk, R. (1986). Beschdigte Individualitt. Heidelberg: Winter. Langenberg-Pelzer, G. (1995). Das Motiv des Selbstmords in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (Diss.). Aachen. Lubrich, S. (1985). Der Schlerselbstmord in der deutschsprachigen Literatur. Regensburg: Roderer. Martens, G. (1971). Vitalismus und Expressionismus. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. Matt, P. von (1991). Liebesverrat. Mnchen: Dtsch. Taschenbuchverlag. Medicus, T. (1982). Die große Liebe. Marburg: Guttandin & Hoppe. Minder, R. (1962). Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Frankfurt a. M.: Insel. Neuffer, M. (1992). Nein zum Leben. Frankfurt a. M.: Fischer. Ries, H. (1970). Vor der Sezession (Diss.). Mnchen. Ringel, E. (1982). Das Selbstmordproblem bei Schnitzler (S. 33–51). Literatur und Kritik XVII: 161/162. Roth, F. (1975). Frank Wedekind. Frhlings Erwachen (S. 104–137). In J. Berg, Erken, G., Ganschow, U., Roth, F., Schwab, L., Weber, R. (Hrsg.), Von Lessing bis Kroetz. Kronberg: Scriptor. Scheibe, W. (1978). Die Reformpdagogische Bewegung 1900 bis 1932. 6. Aufl. Weinheim u. Basel: Beltz.

136

Gerit Langenberg-Pelzer

Starobinski, J. (1975). Psychoanalyse und Literaturkritik (1964). In R. Wolff (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturkritik (S. 224–240). Mnchen: Wilhelm Fink. Stolte, H. (1971). Hermann Hesse. Weltscheu und Lebensliebe. Hamburg: Hansa. Vçlpel, C. (1977). Hermann Hesse und die deutsche Jugendbewegung. Bonn: Bouvier Herbert Grundmann. Wedekind, F. (1924). Gesammelte Briefe. 1. Bd.. Mnchen: Mller. Wedekind, F. (1969). Prosa. Berlin u. Weimar: Aufbau. Wedekind, F. (1971). Frhlings Erwachen. Stuttgart: Reclam.

Bert Theodor te Wildt

Suizidalitt im Cyberspace

»Am 29. September 1976 stiegen in meinem Heimatort Kamering bei Partenion, Krnten, der 17jhrige Mechanikerlehrling Jakob Pichler und sein gleichaltriger Freund, der Maurerlehrling Robert Ladinig, mit einem drei Meter langen Kalbstrick ber eine Holzleiter des Pfarrhofstadels zu einem Trambaum hinauf. Sie schlangen das Seil um ihn und verknoteten die beiden Seilenden hinter ihren linken Ohren. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hnde flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller sich im Kreis drehend, wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenen Augen zum Stehen.« Aus: »Menschenkind« von Josef Winkler, 1979/1994, S. 3

Wie sich aus dem vorangestellten Beispiel von Josef Winkler erschließen lsst, ist die Verabredung zum gemeinsamen Suizid keinesfalls ein Thema, das erst durch die digitale Interaktivierung des menschlichen Zusammenlebens, die suizidale Menschen immer leichter zueinander finden lsst, aktuell wird. Dieser Beitrag beschftigt sich mit der Frage, wie das vereinfachte Zueinanderfinden von potentiellen Suizidenten im Cyberspace unseren Umgang mit dem Thema Selbsttçtung verndert. Dabei geht es besonders um die Frage, welche Bedeutung die so genannte tragfhige Beziehung (Gçtze, 2000) noch fr eine Suizidprvention in der konkret-realen Welt hat, wenn sich in einer virtuellen Welt scheinbar zunehmend Beziehungsformen mit einem (selbst-)destruktiven Potential anbahnen. Indem es Darstellungs- und Kommunikationsmedien miteinander vereint und somit alle analogen Medien in einem virtuellen Raum konvergieren lsst und miteinander verbindet, bietet das Internet dem Menschen zwei grundstzlich neue Mçglichkeiten: Erstens scheint es bald jedem und allerorten einen Zugang zu je-

138

Bert Theodor te Wildt

der Dokumentation eines wissenschaftlichen oder kulturellen Ereignisses in Form von Informationen, Bildern, Musiken und so weiter zu geben. Zweitens ergibt sich aus der Interaktivitt des Cyberspace die Mçglichkeit, unter Aufhebung physischer, geographischer, historischer, nationaler und sozialer Bedingungen mit Menschen in Verbindung zu treten, die gleiche oder komplementre Bedrfnisse und Interessen verfolgen (Heim, 1998). Die Informationsdimension spielt fr das Thema Suizidalitt im Internet insofern eine Rolle, als dass sich jeder, der einen Zugang zum Internet hat, einfacher als je zuvor ber Suizidmethoden informieren kann. Informationsportale, die ebenso genau wie drastisch erklren, wie man sich besonders »einfach« suizidieren kann, sind ausgesprochen zahlreich. Dieser Sachverhalt lsst sich als letzte Konsequenz der Informationsgesellschaft lediglich zur Kenntnis nehmen, aber nicht mehr wirklich beeinflussen oder kontrollieren. Flle, bei denen sich Menschen mit aus dem Internet recherchierten Suizidmethoden das Leben nahmen, werden hier nicht als Internetsuizide im engeren Sinne gefasst, auch wenn dies von einigen Autoren so geschieht (Alao et al., 1999). Unbercksichtigt bleiben hier auch die vielen Foren, in denen vor allem Menschen mit Borderline- und Essstçrungen selbstschdigende Verhaltensweisen propagieren (Prasad u. Owens, 2001). Als paradigmatisch neu erscheint in diesem Zusammenhang vielmehr die Interaktivitt des Internets. Das Besondere an suizidalem Verhalten im Cyberspace ist gerade die Tatsache, dass sich mit Hilfe seiner interaktiven Mçglichkeiten in der Regel einander vçllig fremde Menschen zum Suizid verabreden. Im Folgenden soll mit Cybersuicidality beziehungsweise Suizidalitt im Cyberspace deshalb in erster Linie die Begegnung von zwei oder mehr suizidalen Menschen im Internet gemeint sein, wobei festzuhalten ist, dass sich suizidale Denk- und Verhaltensweisen im Cyberspace auf sehr unterschiedliche Weise manifestieren und somit auch nicht generell gleichsinnig zu beurteilen sind.

Suizidalitt im Cyberspace

139

Alte und neue Formen von Suizidpakten Unter einem Suizidpakt versteht man die Verabredung zweier oder mehr Menschen zur gemeinsamen Selbsttçtung was aller Wahrscheinlichkeit nach seit Menschen Gedenken vorkommt (Rajagopal, 2004). Suizidpakte haben bisher in der Regel Menschen geschlossen, die einander schon seit langem kennen, die sich im Rahmen einer besonderen partnerschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehung zueinander gemeinsam als isoliert gegenber grçßeren sozialen Zusammenhngen erleben und deren Beziehung durch chtung oder Krankheit bedroht ist (Rosen, 1981). In welchen Beziehungsformen sich Individuen von der Gesellschaft als derart unverstanden oder bedroht erleben, ist stark kulturabhngig: In den USA und England zum Beispiel sind es vor allem Ehepaare, in Indien Freunde und in Japan vor allem Liebespaare (Fishbain u. Aldrich, 1985). Zwei in England und Wales durchgefhrte Studien, deren Erhebungszeitrume 36 Jahre auseinander lagen, dokumentieren eine Abnahme vollendeter Suizidpakte von 27 % (Cohen, 1961; Brown, 1997). Im Schnitt fanden in der zweiten Untersuchungspopulation etwa ein Suizidpakt pro Monat statt. Insgesamt erfolgten weniger als 1 % der Suizide im Rahmen von Verabredungen (Brown u. Barraclough, 1997). In Japan, wo die Suizidrate traditionell hoch und das Internet besonders verbreitet ist, verdichten sich allerdings Hinweise darauf, dass Suizidforen einen katalysierenden Einfluss haben kçnnten (Lee, 2005). Doch weltweit fehlen grçßere Studien, die zeigen kçnnten, ob sich die Zahl der Suizidpakte, die durch das Internet verabredet werden, erhçht hat. Eine solche, die Suizidforen bercksichtigende Erhebung wre relativ schwierig, da dort verabredete Suizide selten gemeinsam vor laufender Webcam und sichtbar fr andere ausgefhrt werden, sondern hufig gemeinsam an verabredeten Orten. In manchen Fllen wird lediglich der Pakt im Internet geschlossen, der Suizid aber unabhngig voneinander umgesetzt. Ebenso wie die Zahl geschriebener Abschiedsbriefe die Suizidraten berschreitet, kann allein aufgrund der Abschiedsbotschaften in den entsprechenden Foren nicht auf die Zahl vollendeter Suizide geschlossen werden.

140

Bert Theodor te Wildt

In einer ausfhrlichen bersichtsarbeit aus dem Jahr 2003 fhrt Fiedler an, dass bis dato weltweit lediglich etwa 20 bekannt gewordene vollendete Suizidverabredungen im Internet dokumentiert sind und stellt dabei etwas lakonisch fest, dass man bei solchen Zahlen »weit von epidemischen Ausmaßen enfernt« sei, selbst wenn man die Dunkelziffern als relativ hoch einschtzen wrde (Fiedler, 2003, S. 44). Im Hinblick auf eine geschtzte Zahl von weltweit mehr als 100.000 Suizidforen (Dobson, 1999) erscheint diese Zahl in der Tat nicht als bengstigend. Im Einzelfall fllt es zumal schwer zu entscheiden, ob es erst im Cyberspace zu einer fatalen Verbindung gekommen ist oder ob der Entschluss zur Selbsttçtung fr beide Individuen ohnehin bereits feststand. Dementsprechend wird in den vielen Publikationen zu Suizidforen die Frage kontrovers diskutiert, ob vielleicht sogar mehr suizidale Internetnutzer durch die im Cyberspace zustande kommenden Bindungen von Suiziden abgehalten als hierin bestrkt werden (Fiedler u. Lindner, 2002). Tatschlich wird in den meisten Suizidforen die Frage bewusst offen gelassen, ob es um Selbsthilfe zum Leben oder zum Sterben geht. Es gibt jedoch auch beide Extreme, Foren also, die Menschen, die noch jeweils das andere – also entweder das Weiterleben oder den Tod – in Erwgung ziehen, geradezu gechtet werden. Eine Studie von Eichenberg und Pennauer (2003) untersuchte die Teilnehmer eines der damals grçßten Suizidforen (www.selbstmordforum.de) in Bezug auf Epidemiologie und Motivation. Die zur Hlfte weiblichen Teilnehmer waren jeweils zu mehr als zwei Drittel jnger als 25 Jahre, noch in der Ausbildung und ohne feste Partnerschaft. Mehr als die Hlfte nahmen schon lnger als 3 Monate am Forum teil. Offenbar ging es hier um wesentlich mehr als die Suche nach einem Suizidpakt-Partner. Tatschlich gab nur ein sehr geringer Prozentsatz der Teilnehmer an, dort einen solchen Partner zu suchen, und das, obwohl mehr als 53 % der Teilnehmer bereits mindestens einen Suizidversuch hinter sich hatten und mehr als 54 % angaben, schon einmal mitbekommen zu haben, dass sich ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin suizidierte. Vieles spricht also fr eine suizidprventive Wirkung der Suizidforen. Die Teilnehmer selbst schtzten ihre

Suizidalitt im Cyberspace

141

Suizidalitt im Vergleich zum ersten Besuch des Forums zum Erhebungszeitpunkt durchschnittlich als signifikant geringer ein, wobei 89 % sogar die Meinung vertraten, dass Suizidforen hilfreich sein kçnnten, Suizidgedanken zu berwinden. Die Autoren der Studie kommen zu dem naheliegenden Schluss, dass Suizidforen am Ende vermutlich eher suizidprventiv als suizidfçrderlich wirksam seien. Interessanterweise teilt diese Einschtzung die Mehrheit der Studien und bersichtsarbeiten in psychiatrischen und psychologischen Fachzeitschriften, die dies in der Regel damit begrnden, dass die Suizidforen letztlich immer auch ein Beziehungsangebot darstellen. Dies mag insbesondere fr ausgesprochen isoliert lebende Menschen gelten, die sich aufgrund psychischer Hemmungen oder physischer Behinderungen anderweitig kein Gehçr und keine Hilfe verschaffen kçnnen.

Die Suche nach dem Anderen oder dem anderen Leben im Cyberspace Was zieht den Menschen berhaupt ins Internet, wenn er dort nicht nach Informationen sucht oder dort Dinge plant, die er sich zwar einfacher, aber nicht prinzipiell anders organisieren kann? – Er sucht nach Beziehung im weitesten Sinne. Es geht ihm um eine virtuelle Begegnung, die nicht notwendigerweise nach kçrperlicher Nhe verlangt. Der Mensch scheint in der Parallelwelt des Cyberspace immer das Andere beziehungsweise den Anderen zu suchen, sowohl in sich selbst als auch in der Begegnung mit anderen Individuen. Es geht ihm dabei um die Suche nach einer alternativen Lebensform, die im Zweifel auch der Tod sein kann. Was aber sucht der Suizidale im Internet, wenn es ihm doch darum geht, sich aus der Menschengemeinschaft fr immer zu verabschieden? Die Botschaften und Diskussionen in Suizidforen sprechen eine deutliche Sprache. Sie sprechen aber eben in jedem Fall dafr, dass es sich hierbei keinesfalls einfach um digitale und interaktive Abschiedsbriefe und -rituale handelt. Allerdings dokumentiert sich auch in Abschiedsbriefen in der Regel noch ein Wunsch nach Beziehung, zum Beispiel die Sorge um das Leben

142

Bert Theodor te Wildt

der Zurckbleibenden, das Bedrfnis, eine Beziehung abschließend zu klren, im Guten wie im Schlechten, vielleicht auch der Wunsch, im Leben der anderen prsent zu bleiben und dies noch ein Stck weit ber den eigenen Tod hinaus. So oder so unterhalten die Lebenden fraglos eine, wenngleich virtuelle, Beziehung zu den Toten (te Wildt, 2006). Der aus dem Leben Scheidende muss jedoch davon ausgehen, dass mit seinem Tod auch jegliche Beziehung fr ihn erlischt. Insofern steckt in einem Abschiedsbrief immer auch eine gewisse Paradoxie. Dies gilt in besonderem Maße auch fr die Suche von potentiellen Suizidenten nach Gleichgesinnten im Internet. Wenn man sich Dokumentationen und Untersuchungen von Diskussionsprotokollen in Suizidforen anschaut, gewinnt man den Eindruck, dass sich die Betroffenen in der Regel in einem Ambivalenzstadium ihrer Suizidalitt befinden, so dass ihnen oft selbst nicht klar sein drfte, ob sie dort auf Hilfe zum Leben oder Sterben hoffen. Offenbar geht es also um eine unvoreingenommene Entscheidungshilfe, nicht in erster Linie um den Kontakt mit einem gleichgesinnten Erfllungsgehilfen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass mit der Kontaktaufnahme von Menschen in Suizidforen auch noch ein mehr oder weniger bewusster Beziehungswunsch und damit eine Lebenshoffnung verbunden ist. Suizidforen scheinen das letzte Feld zu bestellen, das das Leben vom Tod trennt. In ihrer Verzweiflung und Vereinsamung scheinen manche Menschen einander vielleicht nur noch an einem morbiden Ort wie virtuellen Suizidforen begegnen zu kçnnen. Nur dort mçgen sie sich in ihrer existenziellen Not noch verstanden und aufgehoben fhlen. Sich mit anderen lebensmden Menschen in der Mçglichkeit zu wiegen, aus dem Leben zu scheiden, erscheint aus der Außenperspektive wie der kleinste existenzielle Nenner im Seelischen, der noch ein (Zusammen-)Leben erlaubt. Was aber sind das berhaupt fr Bindungen, die im Cyberspace entstehen, und vor allem wie gestalten sich die Bindungen, die an einem so unwirtlich erscheinenden Ort entstehen, an dem sich Menschen treffen, die den Wunsch haben, zu sterben?

143

Suizidalitt im Cyberspace

Tragfhige und destruktive Bindungen im interaktiven Cyberspace »Ich werde, und das ist keine plçtzliche Entscheidung, bald Selbstmord begehen. Ich habe mir das lange berlegt. Mein Entschluss ist gefasst. Auch wenn sich das fr einige vielleicht ein bisschen seltsam anhçrt, ich mçchte es mit jemandem zusammen tun. Deshalb hier meine Frage: Mçchte jemand mit mir in den Tod gehen? Ihr braucht jetzt nichts zu sagen. Ich verstehe absolut, wenn sich hier keiner çffentlich dazu bekennen will, dass er die Schnauze voll hat von allem. [. . .] Aber ich will keine schlechte Stimmung machen, hier. Smile. Was ich sagen will ist, da sind ja normalerweise noch so viele Bande da, zwischen einem, der gehen will, und den anderen. Es gibt nicht viele Leute, die den hçchsten Akt des Lebensvollzugs begreifen, also verstehen, was »sich aus der Welt schaffen« heißt fr die Wrde eines Menschen. Normalerweise will einer ja so lange leben, bis er merkt, dass alle weg sind und er ganz alleine ist und immer war. Ich meine, einer unter uns hier wird alle anderen berleben. Und das ist todsicher. [. . .] Gut. Aber ihr seid ja alle da, weil ihr das Leben sein lassen wollt, frher oder spter. [. . .] Ja. Also wie gesagt, alle ernst gemeinten Antworten sind willkommen. Ihr kçnnt mir natrlich auch eine Mail schicken, und wir arrangieren das. Smile.« Aus: »norway.today« von Igor Bauersima, 2003, S. 11f.

Im Februar 2000 verabredeten sich eine junge sterreicherin und ein Norweger im World Wide Web zum gemeinsamen Suizid. Sie strzten sich von einer Klippe im norwegischen Fjord-Distrikt (Mehlum, 2000). Das Theaterstck »norway.today« von Igor Bauersima erzhlt die Geschichte des wohl bekanntesten im Internet verabredeten Suizids, findet aber zu einem anderen Ende. Die beiden Protagonisten scheinen sich am Ende doch fr das Leben zu entscheiden, weil sie sich in ihrer Verzweiflung verstehen und einander nher kommen. Ihr Suizidplan scheitert letztendlich aber auch an dem Versuch, mit Hilfe einer Videokamera Abschiedsbotschaften fr ihre Angehçrige aufzunehmen. Diese machen ihnen ihre Bindungen an konkret-reale Menschen bewusst. Die Abschiedsbotschaften sind letztlich auch wieder Vermittlungsversuche mit Hilfe moderner Medien. Hier vermittelt Bauersima ganz im Sinne gngiger psychiatrischer Anschauungen (Maltsberger, 2001) die Hoffnung, dass tragfhige Beziehungen Menschen davon abhalten kçnnen, sich das Leben zu nehmen. In der Psychiatrie und Psychotherapie ist das wichtigste Kriteri-

144

Bert Theodor te Wildt

um fr die Frage nach der Suizidalitt die Beziehung. Steht der Mensch in Beziehung zu mir als Therapeut, so die vorherrschende Meinung, dann wird sie oder er sich nicht das Leben nehmen, da sich zwischen ihm und mir ein Beziehungsraum aufspannt, in dem Verzweiflung und Lebensmdigkeit erlebt und ausgedrckt werden darf. Als Psychiater und Psychotherapeut fungiere ich mit meiner vorausgesetzten Lebensbejahung als Anker. Sind zwei Menschen suizidal und aufeinander bezogen, so liegt es nahe, dass sie einander darin untersttzen, aus dem Leben zu scheiden. In ihrer verstndnisvollen Bezogenheit bestrken sie sich gegenseitig in ihrem Mut und Entschluss zu sterben. Aber aus dieser Interaktion kann eben auch eine echte Beziehung entstehen, die am Ende tragfhig ist und einer Entscheidung zum Leben zuspielt. Was darber entscheidet, ob derartige Begegnungen im Internet, letztendlich zum Tod oder zum Leben fhren, ist letztlich die Kernfrage, um die es geht. Eine statistische Antwort ist bis auf Weiteres nicht in Sicht. Insofern kann ber diese Frage nur spekuliert werden. Wenn man bei der Beurteilung von konventionellen Suizidpakten von zwei einander nahestehenden Menschen der Argumentation der Beziehungsdimension folgt, dann ist zu erwarten, dass bei diesen der Bruch zwischen der sozialen Umwelt so radikal ist, dass er strker wirkt als die Kraft der Bindung der beiden Suizidenten an einander und an das Leben. Dies drfte in der Regel bedeuten, dass die Existenz ihrer Beziehung in der sozialen Umwelt aus moralischen, politischen, religiçsen oder çkonomischen Grnden keine Chance hat und dass die Zerstçrung der Beziehung fr die beiden Individuen mit einem Weiterleben nicht mehr vereinbar ist. Auch hier gibt es viele vorstellbare Szenarien (Haenel, 2001), die nicht allesamt gleichsinnig zu beurteilen sind: Die Wahl zum Beispiel eines interkulturellen, interreligiçsen oder homosexuellen Paares, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, weil ihre Beziehung in einer Gesellschaft gechtet oder sogar bestraft wird, lsst sich nur bedingt vergleichen mit dem Ehepaar, dass gemeinsam Suizid begeht, weil einer der beiden an einem tçdlichen Leiden erkrankt ist und eine solche Trennung als unertrglich antizipiert wird.

Suizidalitt im Cyberspace

145

Die Frage, ob eine Beziehung in einem Suizidforum zum Suizid fhrt, beantwortet sich – wenn man auch hier die so genannte tragfhige Beziehung (Gçtze, 2000) als das prventiv wirksame Moment schlechthin versteht – damit, inwieweit der Beziehungsabbruch zum Rest der konkret-realen Umwelt der suizidalen Individuen durch die virtuelle Beziehung im Netz aufgewogen werden kann. Obwohl es keine empirischen Belege hierfr gibt, ist zu vermuten, dass also zwei Menschen, die sich in der virtuellen Welt begegnen und sich in der realen Welt suizidieren, einen Beziehungsabbruch mit der sozialen Umwelt schon hinter sich und miteinander auch keine wesentliche Beziehungserfahrung gemacht haben. Bleibt die Beziehung vçllig anonym und ohne Nhe, dann mag der ursprngliche Beziehungsabbruch der jeweiligen Individuen zum Rest der Welt so existenziell sein, dass tatschlich die erlebte Gemeinsamkeit die Realisierung des Todeswunsches befçrdert. Der ausgehandelte Pakt, nicht so sehr die Begegnung an sich, mag dann den Suizid vielleicht sogar erst mçglich machen.

Die Sichtbarkeit suizidaler Kommunikation im Cyberspace Worin aber unterscheiden sich virtuell vermittelte Suizidhandlungen gegenber den herkçmmlichen Suizidpakten, abgesehen davon, dass sich die Suizidenten zuvor nicht bekannt sind? – In diesem Zusammenhang kçnnte auch die Frage aufgeworfen werden, ob der durch das Mediale gefçrderte Trend zur Selbstdarstellung auch eine sensationelle Zurschaustellung von Suizidalitt bewirkt, die am Ende als Multiplikator von konkreten Selbsttçtungen wirkt. Der Werther-Effekt, dessen Existenz zwar nicht unumstritten ist, gilt gerade auch fr die analogen Vorlufermedien des Internets (Becker et al., 2004). Gegenber dem Fernsehen, der unmittelbare Vorlufer des Internets, bietet das Internet jedoch eine ganz andere Art von Umgang mit ffentlichkeit. Hier ist in der Regel nicht eine Person Vorbild fr viele. Zumindest in den Selbsthilfe- und Suizidforen geht es eher um eine Begegnung in einem vergleichsweise intimen Rahmen und zumeist nicht um

146

Bert Theodor te Wildt

Selbstdarstellung. Das Cyberspace ist relativ unanfllig fr Inszenierungen im Sinne von Starkult und Heldenverehrung. Die symmetrische Beziehungsdimension der Interaktivitt hat die Asymmetrie des Starkults abgelçst. Und so ist auch die Zurschaustellung eines Weges in den Suizid eher eine private als eine çffentliche Inszenierung. Wir wissen darum, dass Goethes »Die Leiden des jungen Werther« einige Suizide nach sich zog, wrden aber nicht auf die Idee kommen, dieses Werk heute zu verbieten. Wir wrden auch nicht die Meldung unterschlagen, dass sich eine berhmte Persçnlichkeit suizidiert hat, weil zu befrchten wre, dass es Nachahmer geben werde. Es gibt zwar einen von der WHO propagierten Verhaltenskodex fr Journalisten (WHO, 2000), die Berichterstattung ber reale Suizide auf eine bestimmte Weise zu gestalten, da die Folge von Nachahmungssuiziden mittlerweile gut bekannt sind (Wassermann, 1984; Etzersorfer et al., 2001; Ziegler u. Hegerl, 2002), aber hier herrscht kein absolutes Tabu, das es einzuhalten gilt. Die Mçglichkeit, sich das Leben zu nehmen, gehçrt ebenso zur menschlichen Existenz, wie seine virtuelle Dimension. Das menschliche Dasein trgt ohnehin a priori eine geistige beziehungsweise virtuelle Dimension, insofern ist es auch eher sinnvoll, von virtueller und konkreter Realitt zu sprechen. Jedes Medium, jede Interaktion, insbesondere jedes Gesprch (auch das therapeutische) kçnnen einen Suizid begnstigen, bergen also eine potentielle Gefahr. Dies gilt ebenso fr das Cyberspace. Wenn nun diskutiert wird, dass man Suizidforen aus der Welt schaffen msste, dann wre das ebenso, als wrde man Gesprche ber Suizid verbieten, als msste man diese ausspionieren und ausschalten. Was das Internet letztendlich bewirkt, ist das Manifest- und Transparentwerden von Kommunikation. Gesprche und Diskussionen in Chats und Foren sind oft fr eine lange Zeit abrufbar und kçnnen auf diese Weise auch erforscht werden (Fekete, 2002; Schmidtke, 2003). Aber kann man dem Internet zum Vorwurf machen, dass darin Kommunikation erleichtert und sichtbar gemacht wird? Wenn wir Beziehung und Kommunikation ganz generell als Schutz vor selbst- und fremdgefhrdender Gewalt verstehen,

Suizidalitt im Cyberspace

147

kçnnte dem Internet kaum vorgeworfen werden, Gewalt gegen sich und andere zu fçrdern: »Ein besonderes Merkmal der Kritik an den Foren ist, dass sie sich auf die Diskussion suizidaler Befindlichkeiten insgesamt bezieht und sie diskriminiert. Nicht die Frage, warum Menschen in den Foren suizidale Befindlichkeiten diskutieren und sich tçten, wurde gestellt, sondern angeprangert, dass sie es offen ausdrcken und tun« (Fiedler, 2003, S. 45). Abgesehen von der Frage nach dem Jugendschutz, die spter noch einmal ausfhrlicher diskutiert wird, erscheint der Vorwurf, dass Gesprche von Erwachsenen ber ihre Verzweiflung und den Konsequenzen, die sie aus freiem Willen daraus in Erwgung ziehen, als geradezu absurd. Wenn man diesem Vorwurf konsequenter begegnen wollte, kçnnte man sagen, dass der Mensch seine Sublimationsfhigkeit, Abstraktionsfhigkeit und Introspektionsfhigkeit, die sich aus der Kommunikation heraus entwickeln und seine Entscheidungsspielrume ausmachen, schlechterdings als negativ bewerten kann, ohne sich als Gattung selbst in Frage zu stellen. Ansonsten msste die Gegenhypothese aufgestellt werden, dass in der momentanen medialen Entwicklung eher die Gefahr in einem Zuviel an Beziehung und Kommunikation zu sehen ist. Besteht im Sinne von Virilio (1993) durch die Beschleunigung eines bermaßes an Interaktivitt und Kommunikation ber die virtuelle Medialisierung von Welt vielleicht doch eine Gefahr fr den Menschen? Es ist zumindest in Erwgung zu ziehen, dass sich der postmoderne Mensch im Zustand einer gefhrlichen berbezogenheit befindet, die pathologische Verstndigungen und Bindungen fçrdert.

Annhrungen von Suizidalitt und Homizidalitt im virtuellen Raum hnlich wie in der Globalisierung eine Gefahr fr die Menschheit dahingehend gesehen wird, dass sie die Menschen auf besonders schnelle und çkonomische Weise einander nher bringe, kçnnte es sein, dass die Gefahr im Cyberspace gerade darin liegt, was es gegenber anderen Medien paradigmatisch auszeichnet, nmlich

148

Bert Theodor te Wildt

seine scheinbar unbegrenzten interaktiven Mçglichkeiten. Das Internet bringt Menschen mit gleichsinnigen oder komplementren Bedrfnissen zusammen, die sich sonst nicht begegnet wren. Solche Passungen kçnnen in hçchstem Glck und abgrndigster Gewalt ausarten. Ohne das Internet drfte es schwierig sein, jemanden zu finden, mit dem man sich dazu verabreden kçnnte, in Norwegen von einer Klippe in den Tod zu strzen. hnliches gilt fr fremdgefhrdende Unternehmungen: Ohne die globale Organisation ber das Internet wren die Ereignisse des 11. September 2001, die letztendlich auch Suizide implizierten, nicht in ihrer vernichtenden Konsequenz mçglich gewesen. Hier vereinen sich Suizidalitt und Homizidalitt, wobei dies auch bei anderen, nicht ber das Internet geplanten »Selbstmordattentaten« der Fall ist. Allerdings gibt es Flle, bei denen aggressive und depressive Dispositionen beziehungsweise mçrderische und suizidale Impulse auf fatale Weise zusammenkommen, die ohne die digitale Vermittlung kaum vorstellbar sind. Die Bedrfnisse des so genannten »Kannibalen von Rotenburg« harmonierten auf groteske Art und Weise mit denen seines vermeintlichen Opfers, der sich – wie angeblich viele weitere Kandidaten – im Internet als solches anbot. Die langgehegte Phantasie des einen war es, einen Menschen zu tçten und zu verspeisen, und die des anderen, getçtet und verspeist zu werden. Auch wenn man davon ausgehen muss, dass beide Menschen auf eine Art und Weise psychisch krank waren, so lsst sich nicht leugnen, dass sie sich ganz bewusst und ohne ußeren Zwang dafr entschieden haben, einander auf diese Weise einen leidenschaftlichen Wunsch zu erfllen. Kurz gesagt, ohne das Internet htten sich die beiden aller Wahrscheinlichkeit nach niemals gefunden. Und so schnell wre die Frage, vor die sie die Gesellschaft mit ihrer Tat stellen, niemals aufgeworfen worden. Auch bei der einvernehmlichen Tçtung geht es um die Frage, ob dies gestattet sein kann. Msste die Gesellschaft versuchen, dies zu verhindern, oder behindert sie Individuen in ihren Persçnlichkeitsrechten, wenn sie sie belauscht, bespitzelt und am Ende mit Hilfe der Polizei daran hindert, ihre Bedrfnisse umzusetzen? Die Frage, ob es sich hier um Mord, eine Tçtung auf Verlangen oder einen assistierten Suizid handelt, bringt letztlich eine juristische Ent-

Suizidalitt im Cyberspace

149

scheidung mit sich. Im Hinblick auf das zuknftige Verhalten hnlich veranlagter Individuen hat sie allerdings eine nicht unerhebliche Relevanz. Aus psychiatrischer Sicht ist hier die Passung von depressiver und aggressiver Konsequenz von besonderem Interesse. In diesem Zusammenhang mag sich zeigen, dass die Frage nach der Verstrkung selbst- und fremdgefhrdender Impulse durch Interaktionen im Internet gleichsam zu stellen und zu beantworten ist, zumal sich auch bei der Interaktion zwischen Suizidalen nicht nur selbst- sondern auch fremdgefhrdende Impulse manifestieren kçnnen. Letztendlich gibt es also viele verschiedene virtuelle Szenarien, die einen Suizid befçrdern oder implizieren kçnnen. Vielleicht kann hier auch von einem Kontinuum gesprochen werden, das deutlich macht, wie sich mancherorts Grenzen von Homizidalitt und Suizidalitt in der globalisierten realen und virtuellen Welt verwischen. Eine Zusammenfassung der bisher skizzierten Szenarien von Suizidalitt im Cyberspace kann versuchen, ein solches Kontinuum zwischen vermittelter Suizidalitt und Homizidalitt zu formulieren: Mit den analogen Vorlufermedien gemein hat das Internet die Fhigkeit, Nachahmungssuizide zu triggern (WertherEffekt). Wenngleich es Suizidpakte schon immer gegeben hat, ist das Besondere am Internet die Mçglichkeit, Doppelsuizide zwischen einander zuvor vçllig fremden Menschen zu vermitteln. Gruppensuizide im Rahmen von sektenartigen Verbindungen sind selten. Sie finden nach bisherigen Erkenntnissen nur in bereits vor dem Niedergang der Gruppe bestehenden Verbindungen statt. Wenngleich es bisher keine Dokumentation von durch das Internet vermittelten Fllen dieser Art gibt, wird befrchtet, dass sich hier eine besondere Gefahr abzeichnen kçnnte (Prass, 2000). Analog zur Abhngigkeit von einer Sekte kann es aber auch in einem virtuellen Suizidpakt dazu kommen, dass ein Forenteilnehmer von einem anderen, eventuell manipulativ agierenden Suizidalen abhngig wird und zum gemeinsamen Suizid verleitet wird, was dann dem Sachverhalt eines erweiterten Suizids nahekommt. Allerdings gibt es auch Berichte von Individuen, die Menschen unter Vorgabe falscher Tatsachen in Suizidforen zum Suizid verleiten, ohne selbst wirklich die Absicht zu haben, sich das Leben zu neh-

150

Bert Theodor te Wildt

men. Die Frage nach der gegenseitigen Abhngigkeit und der Freiheit des Willens, nach Manipulation und Autonomie, wird dann besonders kompliziert, wenn ber das Internet eine einvernehmliche Tçtung, die dem Bedrfnis beider Teilnehmer entspricht, arrangiert wird. Und am ußersten Ende des Kontinuums berwiegen schließlich homizidale Impulse, wenn so genannte Selbstmordattentter in der virtuellen Welt einen Mord an vielen Menschen planen und damit den eigenen Tod in Kauf nehmen, wobei allerdings auch die Frage aufgeworfen wird, ob Selbstmordattentter, wozu auch die jugendlichen Amoklufer an Schulen gehçren, neben ihren aggressiv-homizidalen Impulsen nicht tatschlich immer auch depressiv-suizidale Impulse haben. Der Einfluss von Kommunikation und Medien auf suizidale und homizidale Impulse ist kein internetspezifisches Phnomen, sondern bekanntermaßen fr alle Medien mehr oder weniger gltig. Alles dreht sich um die Frage, welche Macht virtuelle Lebensformen auf das menschliche Leben im Ganzen haben. Was Gewaltdarstellungen angeht, dreht sich die Diskussion in der Regel um die Frage, ob virtuelle Gewaltausbung zu einer Neutralisierung aggressiver Affekte dient oder ob sie diese eher kultiviert, steigert und zur real-konkreten Umsetzung drngt. Auch wenn Letzteres aus wissenschaftlicher Sicht aufgrund von zahlreichen Studien (Grossman, 1999) mittlerweile als bewiesen gelten kann – ohne dass die Gesellschaft hieraus ernsthaft Konsequenzen gezogen htte –, kein Mensch wird sich oder einem anderen Menschen das Leben nehmen, allein weil er im Cyberspace dazu verleitet wurde. Einfache Antworten gibt es in diesem Zusammenhang also nicht. Die Fragen nach der Zensur von interaktiven Gewaltspielen und von interaktiven Suizidforen stellt sich also gleichsinnig. Die Antworten hierauf mssen jedoch unterschiedlich ausfallen, da Mord und Suizid am Ende sowohl moralisch als auch juristisch unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen sind. Anders als organisierte pdophile, terroristische und kriminelle Subkulturen, ist die suizidale Subkultur nicht generell zu verurteilen und zu sanktionieren. So bleibt es bis auf Weiteres offen, ob nicht mehr Menschen, gerade weil sie im Cyberspace ihre depressiven und aggressiven

Suizidalitt im Cyberspace

151

Impulse ausdrcken, sublimieren und vielleicht auch transformieren kçnnen, vor Schlimmerem bewahrt werden. Wir sind dabei, dasjenige, was uns Menschen sowohl individuell als auch sozial am meisten zusammenhlt, zu verteufeln, wenn wir das Medium, welches unsere Kommunikation – letztlich unsere Bezogenheit untereinander und mit der Welt – dokumentiert und transformiert, in Generalverdacht bringen, Depression und Aggression zu fçrdern. Es wre schon seltsam, wenn wir zu dem Schluss kmen, dass wir an einem bermaß an Kommunikation und Beziehung leiden. Dachten wir doch, dass Kommunikation das Allheilmittel gegen individuelle Krisen und kollektive Kriege darstellt. Ist nicht dasjenige, was wir hier angreifen, wenn berhaupt, als Begleiterscheinung einer Entwicklung zu sehen, die in sich weder gut noch schlecht ist, die aber einer inneren Notwendigkeit entspringt und die wie jede menschliche Entwicklung, letztendlich nur zu bejahen ist? Die Gefahr des Cyberspace liegt vor allem in seiner Fhigkeit, komplementre und analoge Bedrfnisse miteinander zu koppeln, was aber vermutlich mindestens genauso viel Glck wie Leid erzeugt. Wir schtten das Kind mit dem Bade aus, wenn wir dem Menschen das nehmen, was ihn zum jetzigen Zeitpunkt mehr auszeichnet als alles andere, nmlich seine sich im virtuellen Raum manifestierende geistige Dimension, die die Grundlage fr die freie Willensentscheidung ist.

Suizidforen – Gefahren fr Kinder, Jugendliche und psychisch Kranke Am Ende reduzieren sich die Bedenken gegenber den Suizidforen im Hinblick auf zwei Populationen: Es besteht Grund zur Annahme, dass Individuen in abhngiger Disposition zu anderen Menschen im Internet manipuliert und zum Suizid verleitet werden kçnnen; dies betrifft Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Erkrankungen. Am Drngendsten stellt sich die Frage nach dem Bedarf, Suizidforen zu reglementieren, im Hinblick auf Kinder und Jugendliche,

152

Bert Theodor te Wildt

da ihre Beeinflussbarkeit beziehungsweise ihre Abhngigkeit von einer sie schtzenden Erwachsenenwelt besonders hoch ist. Wenn der so genannte Werther-Effekt berhaupt fr eine Bevçlkerungsgruppe als bewiesen gelten darf, dann fr Jugendliche unter 20 Jahren (Klostermann et al., 2004). Insofern ist die entscheidende Frage die, ob die Erwachsenenwelt ihre Freiheiten und Bedrfnisse wichtiger nimmt als das Wohl der Kinderwelt. Dies gilt sowohl individuell pdagogisch als auch kollektiv sozial, wenn sich eine Familie und die Gesellschaft, in der sie lebt, Spielregeln und Gesetze auferlegt, die zum Schutz der kindlichen Entwicklung dienen. Viele erwachsene Suizidenten achten darauf, dass sie das Ausmaß dessen, was ihr Suizid ganz konkret fr Angehçrige und Unbeteiligte an Leid bedeutet, mçglichst nicht noch durch die Art der Selbsttçtung verstrkt wird. Solche berlegungen werden bei der Wahl von Art, Ort und Zeitpunkt des Suizids nicht selten bercksichtigt. Wenn ein Suizid aus reiflicher berlegung erfolgt, was sich selbst die radikalsten Suizidforen in der Regel auf die Fahnen schreiben, kçnnte man von ihnen erwarten, dass sie eine besondere Sorgfalt darin an den Tag legen, andere, insbesondere Jugendliche, dabei nicht zu schdigen. Dies ist zum Beispiel dann nicht der Fall, wenn sie es ermçglichen, dass sich zwei Suizidenten per Webcam fr jeden potentiell sichtbar suizidieren. Wesentlich dramatischer ist es, wenn sich Jugendliche als Erwachsene ausgeben und sich dann tatschlich mit einem Erwachsenen auf einen Suizidpakt bis zum Ende einlassen. Da es vçllig illusorisch ist, das Internet wirklich kontrollieren zu wollen, gibt es nur zwei denkbare Lçsungen, die beide darauf hinauslaufen, dass die Erwachsenenwelt mehr Verantwortung fr Heranwachsende bernimmt, indem sie sich selbst Regeln auferlegt. Erstens kann man Erwachsenen, die sich Sorgen um ihre Kinder machen, nur raten, den Internetkonsum klar zu reglementieren. Angesichts der Suizidforen und Gewaltdarstellungen im Internet, die Jugendliche zwangslufig magisch anzieht, ist es sicherlich sinnvoll, diese berhaupt nicht im Netz unbeaufsichtigt surfen zu lassen, solange es keine sicheren Filtersysteme gibt. Ohnehin gilt fr das Internet dasselbe wie fr Computerspiele. Sie sind in aller

Suizidalitt im Cyberspace

153

Regel keine sinnvolle Beschftigung fr Heranwachsende (Spitzer, 2005) und sicherlich keine guten Babysitter. berhaupt hat die Vernachlssigung von Kindern und Jugendlichen vor Bildschirmen im Sinne einer sich ausbreitenden »Medienverwahrlosung« (Pfeiffer, 2004) beunruhigende Ausmaße angenommen. Zweitens sollte man von den Erwachsenen, die sich in Suizidforen bewegen, erwarten drfen, dass sie sich mit Hilfe eines so genannten adult-checks in Suizidforen zum Beispiel mit Hilfe einer Kreditkarte als volljhrig ausweisen, was es schon lngst fr Internetseiten mit pornographischen Inhalten gibt. Ein solcher routinemßiger adult-check kçnnte im Sinne einer »Ehrensache« eine Art Gtekriterium fr Suizidforen darstellen, die sich damit verpflichten, Jugendliche zu schtzen. Allerdings befrchten die Leiter solcher Foren, dass dies staatlichen und psychiatrischen Organen Tr und Tor çffnet, Menschen aufzuspren und aufzusuchen, nachdem sie eine Suizidankndigung in einem solchen Forum niedergeschrieben haben: »Besonders die Einschaltung der Polizei gilt als undenkbar. Ein solches Verhalten zerstçrt jede Vertrauensbasis und fhrt zu Verunsicherungen innerhalb der Foren- und Chat-Gemeinschaft« (m., 2003, S. 116). Demgegenber gilt in Depressions- und Suizidforen mit therapeutischem Anspruch von Anfang an die Vereinbarung, dass Suizidaufforderungen und Suizidankndigungen zu unterlassen sind oder zur Folge htten, dass die Polizei mit Hilfe der E-Mail-Adresse in die Lage gebracht wird, den Teilnehmer zu identifizieren und aufzusuchen (Hegerl, 2002). Um die Forenmaster unabhngiger Suizidforen dazu zu bringen einen adult-check einzufhren, bedrfte es des Versprechens seitens der Legislative, der Exekutive und der Psychiatrie, sich nicht einzuschalten. Damit mssten sich die psychiatrisch Ttigen fragen, ob nicht ein solches Forum einen privaten Raum darstellt, der sich zu Recht ihrem Verantwortungs- und Einflussbereich zu entziehen sucht. Gerade auch fr die Psychiatrie ist es wichtig, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Suizidalitt immer die Tatsache voraussetzen muss, dass die menschliche Existenz die Mçglichkeit der Selbsttçtung geradezu impliziert und dass es keine Mçglichkeit gibt, dieses Phnomen vollkommen zum Verschwinden zu

154

Bert Theodor te Wildt

bringen. Wenn wir dem Menschen eine Freiheit zusprechen, dann gerade auch die, sich das Leben nehmen zu kçnnen. Eine Psychiatrie, die den Suizid nicht als Mçglichkeit hinnehmen kann, ist unmenschlich. Dies zeigt sich schon in der individuellen Begegnung zwischen Psychiater und Suizidenten. Ein lebensmder Mensch ist nicht von einem Psychiater in seiner existenziellen Not zu erreichen, wenn dieser nicht akzeptieren kann, dass einen das Leben in den Tod treiben kann. Gerade aber wenn er den Menschen in seiner Verzweiflung, die ihn mit dem Leben entzweit, versteht, kann er ihn eventuell aus dieser Beziehungserfahrung heraus wieder fr das Leben gewinnen. Dies mag auch fr viele Menschen gelten, die im Cyberspace nach einem Kontakt mit anderen lebensmden Menschen suchen. Insofern wrde es nicht verwundern, wenn Suizidforen Menschen eher von einem Suizid abhalten als sie zu einem Suizid zu verleiten.

Umgang mit Suizidalitt im Cyberspace Es ist fr jeden Menschen der so genannten zivilisierten Welt prinzipiell mçglich geworden, jeden Winkel der konkret-realen Welt zu erreichen. Die Welt ist dadurch kleiner und berschaubarer geworden. Gleichzeitig ist die virtuelle Welt immer grçßer und unberschaubarer geworden. Die Nischen, in denen sich Parallelwelten und -gesellschaften bilden, werden immer zahlreicher. Dies gilt gerade auch fr Foren, die sich ganz bewusst der ffentlichkeit entziehen, um in ihren Interaktionen nicht behindert zu werden, also insbesondere fr Suizidforen. Durch sich verndernde Namen und Passwçrter kçnnen sich diese Subkulturen immer wieder in unerreichbare Enklaven des Cyberspace zurckziehen. Und es stellt sich die Frage, ob die betreffenden Gesellschaften wirklich daran interessiert sein kçnnen, die suizidale Subkultur zu kontrollieren. Mssen wir wirklich nach Suizidenten im Netz fahnden oder ist es nicht so, als wrden staatliche Organe dann dasselbe tun, wie wenn sie çffentliche Pltze abhçren lassen, um dort Verabredungen zum Suizid zu orten und zu verhindern? Darf es ein Abhçren beziehungsweise Ablesen geben – was beim Tele-

Suizidalitt im Cyberspace

155

fonieren undenkbar wre, zumal ja das Internet eine Mischung aus Telekommunikation und Bildmedien ist –, um Menschen aufzuspren und sie vom vermeintlichen Suizid abzuhalten? Da diese Fragen aus meiner Sicht mit Nein zu beantworten sind, wurde bei der Erstellung dieses Textes ganz bewusst darauf verzichtet, bei der Recherche persçnliche Kommunikationen in Suizidforen zu beobachten, um in diesem Zusammenhang als Psychiater nicht in die Verlegenheit einer Zwangsmaßnahme zu kommen. Hier wird die Meinung vertreten, dass die Psychiatrie nur versuchen kann, die bestehenden Suizidforen zu ergnzen und somit Alternativen zu bieten, was auch schon vielfltig gelungen ist (Bronisch, 2002; Lindner u. Fiedler, 2002; Schçmbs, 2003). Ihre Aufgabe besteht allerdings auch darin, die weitere Entwicklung im Blick zu behalten und zu untersuchen, da nicht auszuschließen ist, dass mit der immer raumgreifenderen Entwicklung der virtuellen Welt doch noch gravierende Gefahren entstehen, die momentan nicht auszumachen sind, etwa in Bezug auf Suizidwellen durch sektenartige Strukturen oder bestimmte im Internet propagierte Suizidweisen (Gallagher et al., 2003). Eine Entwarnung kann zum jetzigen Zeitpunkt – insbesondere im Hinblick auf Kinder und Jugendliche – nicht gegeben werden (Winkel et al., 2003). In einem grçßeren Zusammenhang betrachtet, scheint die Schaffung einer immer grçßer werdenden virtuell-immateriellen Parallelwelt die Frage nach dem freien Willen neu zu stellen, interessanterweise gerade in einer Zeit, in der diese Frage auch von den Neurowissenschaften aufgeworfen wird, also im Hinblick auf die konkret-reale physische Welt des Gehirns. Die sich von manchen Neurowissenschaftlern ergebende grundstzliche Infragestellung der Existenz eines freien Willens erscheint nicht nur in diesem Zusammenhang als absurd. Dies anzuerkennen, wrde jede weitere Diskussion ber das Thema dieses Aufsatzes erbrigen. Den freien Willen anerkennend, wird hier die Meinung vertreten, dass es Grenzen geben muss, in denen sich Staat und Psychiatrie in die suizidale Subkultur einmischen drfen. Eine moderate Haltung findet sich auch in den zahlreichen hier zitierten psychiatrischen Journal-Publikationen zum Thema. Die Forderung nach einer Zensur von Suizidforen wird vergleichsweise selten erhoben

156

Bert Theodor te Wildt

(Thompson, 1999). Dass es suizidale oder parasuizidale Subkulturen gibt, die ber die offene Auseinandersetzung mit dem (Frei-)Tod eine Identitt und Lebensqualitt beziehen, ohne suizidal oder homizidal zu entgleisen, kann man beispielsweise an einigen der in der Regel beraus friedlichen Jugendsubkulturen ablesen (Richard, 1995). Manchmal scheint eine Existenz in abgrndiger Nhe des Todes das Leben erst lebenswert zu machen, was sowohl fr die bewusste (Gothic-Szene, Existenzialismus etc.) als auch fr die unbewusste Auseinandersetzung (Suchtmittel, Extremsportarten etc.) mit dem Tod gilt. Den Teilnehmern von Diskussionen in Suizidforen ist aber wohl eine bewusste und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema kaum abzusprechen. Zumindest scheint ihnen das Internet, in dem suizidale Szenarien durchdacht, durchgespielt und diskutiert werden kçnnen, in der Ausbildung einer freien Willensentscheidung fr oder gegen einen Suizid zu untersttzen. Dies lsst sich zum Beispiel auch an dem Beispiel einer von einem Internet-Rollenspiel abhngigen jungen Frau dokumentieren, die den von ihr jahrelang verkçrperten Avatar Suizid begehen ließ – Cybersuizid im engeren Sinne also –, um wieder ins konkret-reale Leben zurckzufinden, wo sie sich, dann ihrer ursprnglichen Depression gewahr werdend, in psychiatrische Hilfe begab und ihre Lebensmdigkeit berwand (te Wildt et al., 2006). Aus dem bisher Gesagten ergibt sich zwangslufig die Feststellung, dass es keine Mçglichkeit gibt und auch nicht geben sollte, alle Suizidforen durchlssig zu machen fr die Suizidhilfeforen, also erreichbar fr eine sich im Netz ausbreitende Psychiatrie, die mit Hilfe der Exekutive versucht, vermeintlich willenlose Suizidwillige mit Worten oder staatlicher Gewalt davon zu berzeugen, sich das Leben zu erhalten. Die duale Existenz von unabhngigen Suizidforen und professionellen Suizidhilfeforen ist unabdingbar. Jede bergriffigkeit seitens der Psychiatrie kann eigentlich nur dazu fhren, die Menschen mit lebensmden Gedanken, immer tiefer in einen digitalen Untergrund zu fhren, wo sie immer unerreichbarer werden und fr jede Hilfestellung verloren sind. Das Cyberspace trgt ohnehin schon gengend Zge des orwellschen Big-Brother-Szenarios. Die Psychiatrie sollte Acht geben, dass sie

Suizidalitt im Cyberspace

157

sich nicht im bereifer und unter dem Deckmantel der Frsorge an einer staatlichen Verfolgung von Suizidalen beteiligt und damit in eine Zeit vor Amry (1976) zurckfllt, in der die Mçglichkeit des Suizids ein wahlweise moralisches oder religiçses Tabu war und dementsprechend auch geahndet wurde.

Literatur Alao, A. O., Yolles, T. C., Armenta, W. (1999). Cybersuicide: The Internet and Suicide. American Journal of Psychiatry, 156, 1836 f. Amery, J. (1976). Hand an sich legen: Diskurs ber den Freitod. Stuttgart: KlettCotta. Bale, C. (2001). Befriending in Cyberspace – Challenges and Opportunities. Crisis, 22, 10–1. Bauersima, I. (2003). norway.today. Frankfurt a. M.: Fischer. Becker, K., El-Faddagh, M., Schmidt, M. H. (2004). Cybersuizid oder Werther-Effekt online: Suizidchatrooms und -foren im Internet. Kindheit und Entwicklung, 1, 14–25. Bronisch, T. (2002). Suizidforen im Internet – Eine Stellungnahme zu Georg Fiedler und Reinhard Lindner. Suizidprophylaxe, 29, 107–11. Brown, M., Barraclough, B. (1997). Epidemiology of suicide pacts in England and Wales, 1988–92. British Medical Journal, 315, 286–7. Cohen, J. (1961). A study of suicide pacts. Medico-legal Journal, 29, 144–51. Dobson, R. (1999). Internet sites may encourage suicide. British Medical Journal, 319, 337. Eichenberg, C., Pennauer, J. (2003). Kriseninterventionsmçglichkeiten im und via Internet: Angebote und Mçglichkeiten. Psychotherapie im Dialog, 4, 411–5. Etzersdorfer, E., Sonneck, G., Voracek, M. (2001). A dose-response relationship of imitational suicides with newspaper distribution. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 35, 251. Fekete, S. (2002). The Internet – A New Source of Data on Suicide, Depression and Anxiety: A Preliminary Study. Archives on Suicide Research, 6, 351–61. Fiedler, G., Lindner, R. (2002). Suizidforen im Internet. Suizidprophylaxe, 29, 26–31. Fiedler, G. (2003). Suizidalitt und neue Medien. Gefahren und Mçglichkeiten. In E. Etzersdorfer, G. Fielder, M. Witte (Hrsg.), Neue Medien und Suizidalitt. Gefahren und Interventionsmçglichkeiten (S. 19–56). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fishbain, D., Aldrich, TE. (1985). Suicide pacts: international comparisons. Journal of Clinical Psychiatry, 46, 11–5. Gallagher, KE., Smith, D. M., Mellen, PF. (2003). Suicidal Asphyxation by Using Pure Helium Gas. Case Report, Review, and Discussion of the Influence of the Internet. The American Journal of Forensic Medicine and Pathology, 24, 361–3.

158

Bert Theodor te Wildt

Gçtze, P. (2000) (Hrsg.), Psychotherapie der Suizidalitt. Hamburg: Universittskrankenhaus Eppendorf. Grossman, D. (1999). DeGaetano. Stop teaching our kids how to kill. New York: Crown Publishers. Haenel, T. (2001). Suizid und Zweierbeziehung. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hegerl, U., Bussfeld, P. (2002). Psychiatrie und Internet: Chancen, Risiken und Perspektiven. Nervenarzt, 73, 90–95. Heim, M. (1998). Virtual Realism. New York: Oxford University Press. Klostermann, P., Ganswindt, M., Schneider, V. (2005). Suicide among adolescents and young adults. Forensic Sciences International, 147, 41–2. Lee, D. T. S., Chan, K. P. M., Yip, P. S. F. (2005). Charcoal burning is also popular for suicide pacts made on the internet. British Medical Journal, 330, 602. Lindner, R., Fiedler, R. (2002). Neue Beziehungsformen im Internet – Virtuelle Objektbeziehungen in der Psychotherapie. Nervenarzt, 71, 78–84. Maltsberger, JT. (2001). Treating the suicidal patient. Basic principles. Annals of the New York Academy of Sciences, 932, 158–68. m. (anonym). (2003). Online-Sizid-Foren und Chats. In E. Etzersdorfer, G. Fielder, M. Witte, (Hrsg.), Neue Medien und Suizidalitt. Gefahren und Interventionsmçglichkeiten (S. 112–23). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mehlum, L. (2000). The Internet, Suicide, and Suicide Prevention. Crisis, 21, 186–188. Pfeiffer, C. (2004). Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen. Medienverwahrlosung als Ursache von Schulversagen und Jugenddelinquenz? [Update vom 01.04.2004; Zugriff am 31.10.2006]. Abrufbar: http://www.kfn.de/medienverwahrlosung.pdf. Prasad, V., Owens, D. (2001). Using the internet as a source of self-help for people who self harm. Psychiatric Bulletin, 25, 222–5. Prass, S. (2000). Suizidforen im Internet. Eine neue Kultgefahr? Berliner Dialog, 3, 16–9. Rajagopal, S. (2004). Suicide pacts and the internet. British Medical Journal, 329, 1298–9. Richard, B. (1995). Todesbilder, Kunst, Subkultur, Medien. Mnchen: Wilhelm Fink. Rosen, BK. (1981). Suicide pacts: a review. Psychological Medicine, 11: 525–533. Schmidtke, A., Schaller, S., Kruse, A. (2003) Ansteckungsphnomene bei den neuen Medien – Fçrdert das Internet Doppelsuizide und Suizidcluster? In E. Etzersdorfer, G. Fiedler, M. Witte (Hrsg.), Neue Medien und Suizidalitt (S. 150–167). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schçmbs, G. (2003). Mit neuen Medien neue Zielgruppen erreichen. Wie man das Internet besser nutzen kann (anstatt es zu bekmpfen). In E. Etzersdorfer, G. Fielder, M. Witte, (Hrsg.), Neue Medien und Suizidalitt. Gefahren und Interventionsmçglichkeiten. (S. 233–47). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Spitzer, M. (2005). Vorsicht Bildschirm. Stuttgart: Klett-Cotta.

Suizidalitt im Cyberspace

159

Thompson, S. (1999). The Internet and its potential influence on suicide. Psychiatric Bulletin, 23, 449–51. Virilio, P. (1993). Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin: Merve. Wassermann, D. (1984). Imitation and suicide: a re-examination of the Werther effect. American Sociological Review, 49, 427–36. te Wildt, B. T. (2006). Elektronische Medien als Vermittler von Erinnerung und Sehnsucht. In C. Neuen (Hrsg.), Sehnsucht und Erinnerung. Leitmotive zu neuen Lebenswelten (S. 156–175). Dsseldorf: Walter. te Wildt, B. T., Kowalewski, E., Meibeyer, F. (2006). Identitt und Dissoziation im Cyberspace: Kasuistik einer dissoziativen Identittsstçrung im Zusammenhang mit Internet-Rollenspiel. Nervenarzt, 77, 81–84. Winkel, S., Groen, G., Petermann, F. (2003). Suizidalitt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Nutzung von Selbstmordforen im Internet. Zeitschrift fr Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 51, 158–75. WHO – Department of Mental Health. World Health Organization (2000). Preventing Suicide. A Ressource for Media Professionals. Geneva: World Health Organization, 1–9. Winkler, J. (1979/1994). Menschenkind. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ziegler, W., Hegerl, U. (2002). Der Werher Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen. Nervenarzt, 73, 41–49.

Bernhard Kchenhoff

Suizidalitt und freier Wille

Die Frage nach der Freiheit des Willens ist im Hinblick auf Suizidalitt von entscheidender Bedeutung. In diesem Beitrag wird diesen Fragen nachgegangen aus der Sicht der Psychiatrie. In diesem Kontext finden sich gegenwrtig zwei extreme Gegenpositionen: Auf der einen Seite wird von Seiten einiger Neurowissenschaftler die Willensfreiheit generell in Frage gestellt und fr eine Illusion erklrt. Damit wird auch bestritten, dass jemand aus freiem Willen sein Leben beenden wollen kçnnte. Auf der anderen Seite wird die Autonomie des suizidalen Patienten/Patientin betont. Eine Auffassung, die darin gipfelt, dass, zumindest in der Schweiz, von so genannten Sterbehilfeorganisationen nicht nur terminal somatisch Kranke in ihrem Sterbewunsch aktiv untersttzt werden, sondern zunehmend auch psychisch Kranke.

Zur Frage der Willensfreiheit Das Bestreiten des freien Willens von Seiten einiger Neurowissenschaftler tangiert uns als Psychiater deshalb, weil zunehmend fhrende Psychiater die Forderung erheben, dass die Grenzen zwischen Neurologie und Psychiatrie beseitigt werden mssten und dass die Psychiatrie innerhalb der Neurowissenschaften ihren eigentlichen Platz htte (vgl. z. B. Andreasen, 2001). In der Wiederaufnahme von berlegungen und Untersuchungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert wird dabei behauptet, dass es sich bei den psychischen Erkrankungen lediglich um Stçrungen des Gehirns handle. Aufgrund dieser aktuellen Entwicklungen in der Psychiatrie gilt es, die Positionen der Neurowissenschaftler zu bercksichtigen und zu diskutieren. Es ist erforderlich, genau zu prfen,

Suizidalitt und freier Wille

161

ob deren Annahmen wirklich von der Psychiatrie bernommen werden kçnnen. Bevor jedoch aus einzelnen experimentellen Untersuchungen zu weitreichende Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Willensfreiheit gezogen werden, gilt es, das Phnomen der Willensfreiheit zunchst begrifflich zu klren. Was verstehen wir unter Willensfreiheit, worin besteht sie? Denn die begrifflich-konzeptuelle Fassung der Willensfreiheit ist keineswegs eindeutig, wie auch die verschiedenen Kontroversen in der philosophischen Diskussion zeigen. Die Klrung des Begriffs aber stellt die Voraussetzung dar, ob die Willensfreiheit berhaupt – und gegebenenfalls wie – mit neurowissenschaftlichen Methoden geprft werden kann. Denn bisher lsst sich die Willensfreiheit nicht in einer operationalisierbaren Form fassen, die dann experimentell untersucht werden kçnnte. Die im Folgenden ausgefhrten berlegungen zur begrifflichen Klrung sttzen sich vor allem auf die philosophischen Argumente von Peter Bieri, Ansgar Beckermann, Michael Pauen und Ernst Tugendhat (vgl. a. Kchenhoff, 2006b) Sehr hufig wird unter dem freien Willen ein Wille verstanden, der vçllig unabhngig, unbedingt und durch nichts festgelegt ist. Unter dieser, und nur unter dieser Vorstellung wrde die Abhngigkeit des freien Willens von Gehirnprozessen als Beseitigung der Willensfreiheit erscheinen. Aber ein Wille, der vçllig frei wre, nicht verknpft mit dem eigenen Leib, der eigenen Lebensgeschichte, dem eigenen Erleben, den eigenen Intentionen und Lebensentwrfen, wre nicht mehr der Wille dieser konkreten Person, sondern er wre vçllig zufllig und damit ein Wille, der in Wirklichkeit unfrei wre (vgl. Bieri, 2001). Pauen hat Mindestanforderungen entwickelt, die erfllt sein mssen, um von personaler Freiheit sprechen zu kçnnen. Dazu gehçrt zunchst das Autonomieprinzip als Abgrenzung gegenber Zwngen und ußeren Einflussfaktoren. Pauen fasst dabei den Autonomiebegriff in einem sehr schwachen Sinne: »er [der Autonomiebegriff, B.K.] schließt nur aus, dass die Handlung von außen bestimmt ist« (Pauen, 2004, S. 62 u. 248). Um freie Handlungen darber hinaus von zuflligen Ereignissen abzugrenzen, hebt

162

Bernhard Kchenhoff

er zweitens das Urheberprinzip hervor, also dass die freien Handlungen einer Person als Urheber zugeschrieben werden kçnnen (S. 62). Beide Prinzipien fasst Pauen als Selbstbestimmung zusammen. Bei denjenigen Merkmalen, die das Selbst ausmachen, unterscheidet er zwischen den personalen Fhigkeiten, die eine Voraussetzung fr freie Entscheidungen und Handlungen darstellen, und den personalen Prferenzen, den »spezifischen berzeugungen, Wnschen und Dispositionen, die eine Person als ein ganz bestimmtes Individuum gegenber anderen Individuen auszeichnen« (S. 67). Beckermann nennt entsprechend drei Bedingungen, die im Wesentlichen erfllt sein mssen, um von einer freien Willensentscheidung sprechen zu kçnnen: »1. Es muss eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen geben; ich muss so oder so handeln bzw. mich so oder so entscheiden kçnnen. 2. Welche Wahl getroffen wird, muss von mir abhngen. 3. Meine Wahl darf keinem Zwang unterliegen« (Beckermann, 2005a, S. 112). Willensfreiheit beruht nach seinen weiteren Ausfhrungen auf der Fhigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu berlegen, was man in der jeweiligen Situation tun sollte, welche Grnde fr die eine oder andere Alternative sprechen. Eine Entscheidung sei dann frei, wenn sie so zustande gekommen ist, dass sie durch berlegungen des Handelnden, durch Abwgen von Grnden beeinflusst werden konnte. Und von Tugendhat werden zwei anthropologische Grundcharakteristika genannt, die beim Thema Willensfreiheit eine zentrale Rolle spielen: zum einen die Rationalitt, also das Vermçgen nach Grnden zu handeln, und zweitens der Zukunftsbezug, das Zeitbewusstsein (Tugendhat, 2007, S. 58). Nach seinen Ausfhrungen gehçrt zum freien Willen der Spielraum von Mçglichkeiten, das heißt, dass ich etwas anderes tun und wollen kçnnte, als ich es tatschlich tat und wollte. Zwei Arten von Spielrumen werden von ihm unterschieden, erstens der Spielraum des berlegens, des Abwgens von Grnden und zweitens der Spielraum eines strkeren oder schwcheren Ausgerichtetseins auf mein Ziel. Dabei habe ich das Bewusstsein: »es liegt an mir«, wie ich abwge, es liegt an mir, wie stark ich mich auf das Ziel konzentriere (Tugendhat, S. 61). Aber auch dieser Spielraum ist, wenn

Suizidalitt und freier Wille

163

mit Freiheit nicht Beliebigkeit gemeint ist, abhngig von meiner Beurteilung und meinen Grnden. Also gilt, wenn ich anders geurteilt htte, htte ich etwas anderes gewollt und getan. Die Neurowissenschaften versuchen, schon aus methodischen Grnden, alles, also auch das Bewusstsein, dass etwas von mir abhngt, mein berlegen, meine individuelle Bezogenheit auf eigene Ziele und mein Erleben in eine von Subjektivitt gereinigte Sprache zu bersetzen, also in eine Sprache, in der das Wort »ich« nicht vorkommt. Es gibt aber keine stichhaltigen Argumente und auch keine plausiblen Vorschlge, wie diese objektivierende Beschreibung, also die so genannte Drittpersonenperspektive, das eigene Erleben, die so genannte Erstpersonperspektive, ersetzen oder berflssig machen kçnnte. Auch die Rede von Grnden lsst sich nicht in eine kausale Sprache bersetzen. Mein Erleben, mein Abwgen von Grnden und das Bewusstsein, dass es an mir liegt, wie ich mich entscheide und welche Ziele ich auswhle, ist etwas nicht reduzierbar Subjektives (Tugendhat, 2007, S. 71). Wie stehen nun diese Ausfhrungen zu der berzeugung, dass in der natrlichen Welt die Naturgesetze gelten und dass weiterhin die Naturgesetze determinieren, was der Fall ist? Diese Fragen werden unter den Titeln Kompatibilismus und Inkompatibilismus abgehandelt. Dabei gehen die Inkompatibilisten davon aus, dass Freiheit und Determinismus nicht vereinbar, nicht kompatibel seien. Zwei Versionen lassen sich bei dieser Position unterscheiden: 1. Fr den strikten Deterministen, fr den auch alle Handlungen, berlegungen und Entscheidungen eindeutig determiniert sind, gilt, dass es keine Handlungs- und Willensfreiheit geben kann. 2. Fr den so genannten Libertarier gibt es neben der kausal geschlossenen natrlichen Welt die Willensfreiheit. Der genannte zweite Punkt, der zur vermeintlichen Rettung der Willensfreiheit ins Feld gefhrt wird, ist jedoch aus mehreren Grnden zu kritisieren und letztlich nicht haltbar. Unter anderem hat Beckermann (Beckermann, 2006, S. 293 ff.) verschiedene Einwnde geltend gemacht: Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die entscheidende und handelnde Person außerhalb des normalen Weltverlaufes steht und dass die Person ber eine eigene Kausalitt verfgt. Außerdem wren die freien Entscheidungen in diesem

164

Bernhard Kchenhoff

inkompatibilistischen Sinne rein zufllig und nicht, wie wir es fr uns in Anspruch nehmen wollen, frei. Nun wird aber gerade diese unplausible Fassung der Willensfreiheit von denjenigen Neurowissenschaftlern und Psychologen als Zielscheibe genommen, welche die Willensfreiheit bestreiten (Beckermann, 2006, S. 291 ff.; an der Heiden, 2006). Die fehlende Plausibilitt des inkompatibilistischen und libertarischen Ansatzes begrndet, inwiefern heute der kompatibilistische Ansatz bevorzugt wird. Der Kompatibilismus besagt, dass Willensfreiheit und eine deterministische Auffassung der Welt miteinander vereinbar sind. Diese Auffassung verwirft zunchst die in sich inkonsistente Vorstellung eines absolut freien Willens und geht von einem bedingten Willen aus. Die kompatibilistische Auffassung ermçglicht so auch das konstruktive Gesprch zwischen den Neurowissenschaften und der Philosophie. Dabei hilft die philosophische Arbeit der begrifflichen Klrung, eine berinterpretation empirischer Befunde zu vermeiden. Gleichzeitig schtzt sie vor einem inkonsistenten Verstndnis von Willensfreiheit und der anmaßenden Vorstellung, ein neues Menschenbild proklamieren zu kçnnen. Auf der Basis der begrifflichen Klrung dessen, was Willensfreiheit berhaupt bedeutet, beziehungsweise bedeuten kann, kçnnen dann die neurowissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Forschungen die faktischen Bedingtheiten dieses Willens untersuchen. Aber auch die Position des Kompatibilismus ist nicht unumstritten. Dies kann besonders gut an einigen berlegungen Bieris verdeutlicht werden. Fr ihn gibt es den Konflikt zwischen Determinismus und Freiheit gar nicht, da der »Kontrast zum Determinismus [. . .] der Indeterminismus [ist] und der Kontrast zu Freiheit [. . .] nicht Determinismus, sondern Zwang [ist]« (Bieri, 2005). Denn die verschiedenen Beschreibungsebenen, insbesondere die neurowissenschaftliche Beschreibung des Gehirns, die psychologische Beschreibung der Person sowie die Beschreibung aus der Erste-Person-Perspektive, haben ihre je eigene Logik, welche wir nicht durcheinanderbringen drfen, wenn wir uns nicht eines Kategorienfehlers schuldig machen wollen (vgl. Bieri, 2005). Meines Erachtens bleibt dann nur mehr eine sehr schwache Form des Kompatibilismus brig: Determinismus und Freiheit wren dann

Suizidalitt und freier Wille

165

nur noch in dem Sinne vereinbar, dass beide Beschreibungsebenen fr sich gleichberechtigt nebeneinander stnden. Und es bliebe die Frage, ob diese Position dann noch als Kompatibilismus bezeichnet werden sollte. Die bisherigen berlegungen kçnnen um ein weiteres Argument ergnzt werden, das ich abkrzend als das Sprachargument bezeichne. Die berlegungen, die den freien Willensentscheidungen und willentlichen Handlungen vorausgehen, sind einerseits mit kçrperlichen Vorgngen korreliert, andererseits sind sie untrennbar an Sprache gebunden. Aber die sprachlichen ußerungen stehen insofern in einer Distanz zu ihren kçrperlichen Grundlagen, als sie sowohl vom Einzelnen wie auch im Gesprch mit Anderen nach eigenen Regeln der Syntax und der Semantik eingeschtzt und beurteilt werden. Wenn ich also zum Beispiel ein Argument vorbringe, so geht dies nicht ohne kçrperliche und neuronale Prozesse. Aber wie stark und schlssig das Argument ist, hngt nicht mehr von den Hirnprozessen ab, sondern von den gelernten Regeln, Bedeutungen und logischen Gesetzen, die erst zeigen, ob ein Grund berzeugend dargelegt wurde oder nicht. Die berzeugungskraft einer Begrndung ergibt sich nicht aus der Analyse der zugrunde liegenden Hirnprozesse. Von Bedeutung ist fr das Gesprochene auch der kommunikative Kontext, der hufig in einer zu sehr auf den Einzelnen ausgerichteten Perspektive vergessen oder unterschlagen wird. Denn erst in diesem kommunikativen Kontext entwickelt sich die Sprache. Auch wenn der Austausch von Grnden im Gesprch mit Anderen wiederum zu weiteren hirnorganischen Korrelationen bei mir wie beim Gesprchspartner fhren, so verursachen die diversen Hirnpotentiale und Neurotransmitterverschiebungen doch nicht den Argumentationsgang und dessen Triftigkeit. Aber auch meine willentlichen Entscheidungen sind explizit oder implizit an die Sprache gebunden. Um welche Entscheidungen geht es denn, fr die meine Annahme wichtig ist, dass sie von mir abhngen, dass ich fr sie verantwortlich bin und auch fr sie verantwortlich gemacht werde und deren Konsequenzen ich zu tragen habe? Es sind dies doch wesentliche Entscheidungen, die ich treffe und durch die ich mich selbst, zum Teil neu, bestimme.

166

Bernhard Kchenhoff

Im Einzelnen mag es schwierig sein, zu bestimmen, was als wesentliche Entscheidung angesehen werden kann. Es geht mir, nur um Beispiele zu nennen, um Entscheidungen der Art, wie sie bei der Berufswahl wichtig werden, oder um Entscheidungen fr oder gegen eine Beziehung und anderes mehr. Solche Entscheidungen brauchen hufig Zeit, kçnnen einen umtreiben und nicht dadurch gelçst werden, dass ich sie »dem Gehirn« anvertraue. Aus keiner einzigen Hirnmessung lsst sich vorhersagen, was am Ende dieses berlegungsprozesses wirklich herauskommt. Und doch sind die Entscheidungen dabei nicht zufllig. Dies gilt auch dann, wenn es Situationen geben mag, die einem die Entscheidung zwischen zwei Alternativen so schwer erscheinen lassen, dass man am liebsten wrfeln mçchte. Wesentliche Entscheidungen aber stehen im Zusammenhang mit meiner Lebensgeschichte, meiner kçrperlichen Ausstattung, meinen Vorlieben und Zielen. Sie sind an Sprache gebunden, an meine sprachlich bedingte und vermittelte Selbstvergewisserung, an die sprachliche Konstruktion und Rekonstruktion meiner Lebensgeschichte (rckblickend) und Lebensperspektive (vorausschauend). Ebenso ist die normative Beurteilung, ob ich denke, dass meine Entscheidung gut und richtig ist, eine sprachliche, wobei ich vorliegende Normen bernehmen oder auch in Frage stellen kann. Einen normativen Maßstab kann ich aber biologischen Prozessen nicht entnehmen. Diese Ausfhrungen zeigen, dass sich begrifflich die Willensfreiheit nicht einfach ad acta legen lsst. Auch empirisch finden sich keine Beweise, wie die inzwischen als erledigt anzusehende Debatte um die Deutungen der Experimente von Benjamin Libet (Libet et al., 1983; Libet, 1985) zeigen (Bennett u. Hacker, 2003; Brcher u. Gonther, 2006; Goschke u. Walter, 2006; Herrmann et al., 2005; Pauen, 2004; 2005; Rçsler, 2006). Wir kçnnen daher weiter von der bestehenden bedingten Willensfreiheit ausgehen. Was aus logischen und methodischen Grnden nicht haltbar ist, sollte uns als Psychiater und Psychiaterinnen nicht dazu verfhren, unseren eigensten Bereich, nmlich den Umgang mit dem persçnlichen Erleben und Leiden psychisch kranker Menschen, zu vernachlssigen.

Suizidalitt und freier Wille

167

Zur Autonomie des suizidalen psychisch Kranken Kriterien der Willensfreiheit in Bezug auf die Suizidalitt: a) Bei dem Suizidwunsch handelt es sich um den Wunsch einer Person, sein Leben zu beenden. Dieser Wunsch ist abhngig und bedingt von und durch die eigene Lebensgeschichte, die konkreten Lebensumstnde und die fehlende Hoffnung, das Leben unter den fr diese Person akzeptablen Bedingungen weiterfhren zu kçnnen. Von einem absolut freien Willen auszugehen, das heißt von einem Willen, der durch nichts bedingt ist, wre unsinnig und lebensfremd. b) Einen Suizidwunsch, der durch ußeren oder inneren Zwang herbeigefhrt wurde, wrden wir zu Recht als nicht freiwillig ansehen. Daher wird auch die Untersttzung eines in diesem Sinne unfreiwilligen Suizidwunsches von Befrwortern des assistierten Suizides verworfen und fr unzulssig gehalten. Die Abwesenheit von Zwang ist eine Voraussetzung fr freie Selbstbestimmung. c) Der Suizidwunsch muss auch eindeutig einer Person zugeschrieben werden kçnnen (Urheberprinzip). Nur als klar zuschreibbare Willensußerung kann auf ihn eingegangen werden, sei es in der Behandlung, sei es in der Beihilfe. Deshalb ist auch die gebruchliche Rede vom »erweiterten Suizid« begrifflich nicht wirklich haltbar. Denn es handelt sich in diesen Fllen vielmehr um die Tçtung eines oder mehrerer anderer und um eine Selbsttçtung. d) Um von freier Selbstbestimmung und einer freien Willensentscheidung sprechen zu kçnnen, muss die einzelne Person die Wahl haben, sich fr oder gegen den Suizid zu entscheiden. Sie muss also einen Spielraum von Entscheidungs- und Handlungsmçglichkeiten haben. Zu diesem Spielraum gehçrt es dann auch, die Mçglichkeit zu haben, vor einem drngenden Suizidwunsch innezuhalten und seine Entscheidung aufgrund von berlegungen abzuwgen. Dieser Spielraum findet sich nicht mehr, wenn das Denken ausschließlich auf den Suizid eingeengt ist. e) Zum konkreten Wunsch und der Absicht, sich aus freier Willensentscheidung zu suizidieren oder beim Suizid helfen zu lassen, gehçrt das Vermçgen, nach Grnden zu handeln. »Unser Wille ist frei, wenn er sich unserem Urteil darber fgt, was zu wollen in

168

Bernhard Kchenhoff

einer bestimmten Situation richtig ist. Und der Wille ist unfrei, wenn Urteil und Wille auseinanderfallen« (Bieri, 2001). Dies bedeutet, dass die suizidale Person in der Lage sein muss, ein rationales Urteil zu fllen, unbeeintrchtigt durch Stimmungsschwankungen und unbehindert durch Denkstçrungen. Die Grnde und Begrndungen fr den eigenen Wunsch und Willen, sich das Leben zu nehmen, sind also hinsichtlich ihrer Triftigkeit von jedem Einzelnen fr sich und/oder im Gesprch mit anderen prfbar und zu berprfen. Dazu gehçrt auch der normative Bezug, die Bewertung, was in bestimmten Situationen fr das aktuelle und zuknftige Wohl das Beste sei. Diese Beurteilungen sind bei suizidalen Personen, zum Beispiel in Trennungssituationen, oft beeintrchtigt durch die aktuelle Krnkung und Zurckweisung, so dass durch die Einengung des Denkens sowohl der Zukunftsbezug auf das weitere Leben wie auch die Fhigkeit, ein abwgendes Urteil zu fllen, verloren gehen. Anwendung auf die klinische Erfahrung: a) Der Wunsch, sich umzubringen, kann in unterschiedlicher Weise bedingt sein. Und es ist empirisch und klinisch klar, dass diese unterschiedlichen Bedingtheiten der Willensentscheidungen und -handlungen genau abgeklrt und unterschieden werden mssen. In der klinischen Praxis stellt sich nicht die dichotome Frage, ob der freie Wille als bedingt oder als unbedingt anzusehen ist, sondern es stellt sich konkret vielmehr die Frage, wodurch und in welchem Ausmaß er bedingt oder eingeschrnkt ist. Der Suizidwunsch tritt in der Mehrzahl der Flle im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung auf. So zeigte u. a. die Studie von Lçnnqvist, dass bei 90 % der nachtrglich sorgfltig recherchierten Suizide eine psychische Erkrankung nachweisbar war. In 40–70 % lag eine depressive Erkrankung vor, gefolgt von Suchterkrankungen und Psychosen (Lçnnqvist, 2000). Auch die Untersuchungen in reprsentativen Stichproben von Personen nach einem Suizidversuch oder von Angehçrigen von Menschen, die sich suizidierten, »zeigen, dass fast alle Suizidversuche und Suizide nicht auf dauerhaft festgehaltenen Einsichten und definitiven Entscheidungen beruhen, sondern auf vorbergehenden – wenn auch oft wie-

Suizidalitt und freier Wille

169

derkehrenden – Verzweiflungen psychisch Kranker oder psychisch Gesunder« (Ernst, 1985, S. 215). Auch wenn psychische Stçrungen mit organischen oder funktionellen Hirnvernderungen korrelieren, so kann doch allein aus deren Messung der Suizidwunsch nicht abgelesen werden. Nicht zuletzt infolge dieser fehlenden Mçglichkeit, ber Suizidgedanken und -absichten anders als durch den Betreffenden selbst etwas in Erfahrung zu bringen, gehçrt die explizite Frage nach Suizidgedanken und -absichten zu jedem psychiatrischen Abklrungsgesprch. b) Wie steht es mit der Mçglichkeit bei psychisch kranken Menschen, sich frei und ohne ußeren oder inneren Zwang zum Suizid zu entscheiden? Dies ist in jedem einzelnen Fall genau abzuklren, auch in gutachterlichen Stellungnahmen ber die Urteilsfhigkeit bei einem Menschen, der sich, wegen seines Wunsches nach Beihilfe zum Suizid, an eine Sterbehilfeorganisation wendet. Sehr hufig finden sich Suizidwnsche bei depressiv Erkrankten, weswegen die Suizidalitt in diesem Zusammenhang als Symptom gewertet wird. Je nach Verlauf und Dauer der Depression kann die Suizidalitt unterschiedlich lange anhalten. Den stimmungsbedingten Suizidwunsch eines Depressiven zu erfllen, wie es von Sterbehilfeorganisationen bereits gehandhabt wurde, kann damit eindeutig nicht durch die vermeintlich freie Willensentscheidung gerechtfertigt werden. Denn die Fhigkeit zu urteilen und nach besten Grnden zu handeln wird durch die depressive Stimmungslage, Schuldgefhle, erlebte Wertlosigkeit etc. verzerrt und verunmçglicht. Darber hinaus ist ein Charakteristikum bei depressiven Menschen, dass die Zeitordnung gestçrt ist. Die von Tugendhat herausgestellte Zukunftsoffenheit als allgemeines Kriterium fr die Willensfreiheit bedarf einer Ergnzung und Przisierung bei der Anwendung auf psychisch Kranke. So muss die Stçrung der Zukunftsbezogenheit erweitert werden, wie dies M. Theunissen in seiner eingehenden und ußerst differenzierten Analyse der Vernderungen der gelebten und erlebten Zeit bei Depressiven ausgefhrt hat (Theunissen, 1991). Denn mit der Versperrung der Zukunft ist sekundr die berwltigung durch das Vergangene verbunden (S. 245). Das heißt, angewendet auf den konkreten Fall

170

Bernhard Kchenhoff

des suizidal Depressiven, dass er sich, bei versperrtem Zukunftshorizont, ausgeliefert fhlt und eingeengt ist zum Beispiel auf die traumatisch erlebte Trennung, auf Selbstvorwrfe, die sich bis zum Schuldwahn steigern kçnnen. Eine Folge kann dann sein, dass der Depressive keine Mçglichkeiten mehr fr eine andere Lebensperspektive sehen kann und die Selbsttçtung (ohne oder mit Beihilfe) als endgltiger Schlusspunkt oder als berechtigte Bestrafung gesucht wird. Diese Einengungen und Verzerrungen der Zeitdimensionen erlauben es dann nicht mehr von einer ungetrbten, freien Willensentscheidung zu sprechen. Bei Patienten mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, die zum Beispiel unter formalen Denkstçrungen leiden oder unter befehlenden Stimmen, die sie zu einem Suizid auffordern, ist es unmittelbar einleuchtend, dass sie in ihrem Vermçgen beeintrchtigt sind, aufgrund rationaler berlegungen frei zu entscheiden. Ebenso gilt dies fr Personen, die unter einem inneren Zwang stehen, wie beispielsweise Suchtkranke oder persçnlichkeitsgestçrte Patienten mit selbstverletzendem Verhalten. Bei diesen Stçrungen findet sich wohl meistens eine Handlungsfreiheit, aber keine Willensfreiheit. Denn die Handlungsfreiheit, dass ich tue, was ich tun will (z. B. Drogen zu nehmen), die nur durch ußeren Zwang eingeschrnkt werden kann, sagt noch nichts aus, ob Willensfreiheit besteht, also ob das Wollen selbst auch innerlich frei ist (ob also das Verlangen nach Drogen auch wirklich gewollt ist). H. Frankfurt unterscheidet deshalb das Wollen 1. Stufe (das unmittelbare Wollen und Wnschen) vom Wollen 2. Stufe, die eigene Stellungnahme zu dem unmittelbaren Wollen (Frankfurt, 1971). Die hufig anzutreffenden suizidalen Handlungen bei Suchterkrankten oder Menschen mit Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen kçnnen deshalb bei fehlender Beeinflussbarkeit der unmittelbaren Wnsche, also der Einschrnkung des Wollens 2. Stufe, nicht als freiwillig angesehen werden. Diese Beispiele ließen sich anhand weiterer psychischer Erkrankungen fortsetzen.

Suizidalitt und freier Wille

171

Die Autonomie des psychisch Kranken und der assistierte Suizid Aktuell zugespitzt hat sich die Frage ber die freie Willensentscheidung noch dadurch, dass inzwischen der assistierte Suizid zunehmend bei psychisch Kranken diskutiert wird und zum Einsatz kommt (Kchenhoff, 2006a; Strnad et al., 1999; Frei et al., 1999). Grundannahme ist dabei, dass dem psychisch Kranken in gleicher Weise wie dem somatisch Schwerkranken die autonome Willensentscheidung zum Suizid nicht aus paternalistischen Grnden abgesprochen werden drfe. In der Schweiz ist nach Artikel 115 StGB die Suizidbeihilfe legal, solange sie nicht aus selbstschtigen Motiven erfolgt. Der Artikel 115 lautet: »Wer aus selbstschtigen Beweggrnden jemanden zum Selbstmord verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgefhrt oder versucht wurde, mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefngnis bestraft.« Diese Gesetzeslage fhrt dazu, dass die Beihilfe zum Suizid, wie sie unter anderem von Sterbehilfeorganisationen durchgefhrt wird, in der Regel mangels selbstschtiger Beweggrnde straflos bleibt. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Diskussion innerhalb der Schweiz, sondern dieses Thema beschftigt, bei unterschiedlicher Gesetzeslage, die Experten und die Betroffenen weltweit. Es ist hier nicht der Raum, die ethische Debatte argumentativ umfassend auszubreiten (vgl. u. a. Rehmann-Sutter et al., 2006; Bron, 2003; Fuchs u. Lauter 1997). Es geht an dieser Stelle jedoch darum, dass im Hintergrund dieser Debatte die Annahme einer autonomen Willensentscheidung der suizidwilligen psychisch kranken Person steht. Autonomie wird hier begrifflich bestimmt als das Recht der Person, wesentliche Bereiche des eigenen Lebens selbststndig und eigenverantwortlich zu planen, zu entscheiden und zu gestalten. Dazu gehçrt auch der Anspruch, dass man das Ende seines Lebens bestimmen mçchte. Hier treten auf den ersten Blick die Auffassungen derjenigen Neurowissenschaftler, die die Willensfreiheit und damit die Fhigkeit zur eigenen Entscheidung und Selbstbestimmung bestreiten, in vçlligen Gegensatz zu der Auffassung derjenigen, fr die Autonomie einen zentralen Wert darstellt. Schaut man aber genauer

172

Bernhard Kchenhoff

hin, so zeigt sich eine berraschende bereinkunft. So wie einige Neurowissenschaftler die Willensfreiheit bestreiten, weil sie darunter den unbedingten freien Willen verstehen – eine Auffassung, die, wie oben gezeigt wurde, unsinnig ist –, so besteht auf der anderen Seite der Eindruck, dass viele, die die Autonomie in das Zentrum ihres Menschenbildes stellen, eine unbedingte Autonomie im Auge haben und die vielfltigen Abhngigkeiten und Bedingtheiten ausblenden. Es muss daher in gleicher Weise geprft werden, inwieweit die bedingte Autonomie durch psychische Erkrankungen eingeschrnkt ist, insoweit dass nicht mehr einfach von Selbstbestimmung gesprochen werden kann. Hier kommen die bereits im Zusammenhang der Diskussion ber die Willensfreiheit ausgefhrten Kriterien zur Geltung wie die Abwesenheit ußerer Zwnge, die Fhigkeit, vor Entscheidungen innezuhalten, um nach Abwgen der Grnde die Wahl zu treffen, was zu tun das Beste sei. Es sind also Differenzierungen zwischen verschiedenen Graden der Einschrnkung der Urteils- und Selbstbestimmungsfhigkeit vorzunehmen. Dieser Differenzierungsnotwendigkeit entziehen sich aber sowohl diejenigen Neurowissenschaftler, die die Willensfreiheit generell bestreiten, wie auch diejenigen, die auf Autonomie pochen unabhngig von zum Beispiel krankheitsbedingten Einschrnkungen.

Ausblick Bercksichtigt man die eingangs gemachten berlegungen zur Willensfreiheit und die klinischen Erfahrungen mit suizidalen psychisch kranken Personen, so ergibt sich, dass der Suizidwunsch weder als Ausdruck eines autonomen, unbeeintrchtigten Wunsches noch als Ausdruck einer unbeeintrchtigten freien Willensentscheidung angesehen werden kann. Auf der anderen Seite darf psychisch Kranken nicht generell die Fhigkeit zu einer freien Willensentscheidung fr jede ihrer Handlungen und Entscheidungen abgesprochen werden. Es bedarf statt dessen einer sorgfltigen Abklrung bei jeder einzelnen psychisch erkrankten Person, inwieweit die freie Selbstbestimmung, das berlegen und Handeln auf-

Suizidalitt und freier Wille

173

grund des eigenen Urteils in der konkreten Situation beeintrchtigt ist. Dies hat besonders bei vorhandener Suizidalitt zu erfolgen, da es sich dabei um eine lebensentscheidende Frage mit potentiell irreversiblen Folgen handelt.

Literatur Andreasen, N. (2001). Brave New Brain. Oxford: Oxford University Press. Beckermann, A. (2005a). Biologie und Freiheit. In H. Schmidinger, C. Sedmark (Hrsg.), Der Mensch – ein freies Wesen? (S. 111–124). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Beckermann, A. (2005b). Haben wir einen freien Willen? www: philosphieverstaendlich.de. Beckermann, A. (2006). Neuronale Determiniertheit und Freiheit. In K. Kçchy, D. Stederoth, (Hrsg.), Willensfreiheit als interdisziplinres Problem (S. 289–304). Freiburg: Alber. Bennett, MR., Hacker, PMS. (2003). Philosophical Foundations of Neuroscience. Blackwell Publishing. Bieri, P. (2001). Das Handwerk der Freiheit. Mnchen: Hanser. Bieri, P. (2005). Untergrbt die Regie des Gehirns die Freiheit des Willens? In C. Gestrich, T. Wabel, (Hrsg.), Freier oder unfreier Wille? (S. 20–31). Berliner Theologische Zeitschrift Beiheft. Bron, B. (2003). Beihilfe zum Suizid – ethische, juristische und psychiatrische Aspekte. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 71, 579–589. Brcher, K., Gonther, U. (2006). Zum Verhltnis von Willensfreiheit und Neurobiologie. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 74, 194–202. Ernst, K. (1985). Wen befreit die Freiheit zum Suizid? In H. J. Braun (Hrsg.), Selbstaggression, Selbstzerstçrung, Suizid (S. 195–218). Zrich: Artemis. Frei, A., Schenker, T., Finzen, A., Hoffmann-Richter, U. (1999). Beihilfe zum Suizid bei psychisch Kranken. Nervenarzt, 70, 1014–1018. Frankfurt, H. (1971). Freedom of the Will and the Concept of a Person. Journal of Philosophy, 68, 5–20. Fuchs, T., Lauter, H. (1997). Der Fall Chabot. Assistierter Suizid aus psychiatrischer Sicht. Nervenarzt, 68, 878–883. Goschke, T., Walter, H. (2006). Autonomie und Selbstkontrolle – Bausteine fr eine naturalistische Konzeption von Willensfreiheit. In K. Kçchy, D. Stederoth (Hrsg.), Willensfreiheit als interdisziplinres Problem (S. 103–142). Freiburg: Alber. Heiden, U. an der (2006). Die Struktur der Willensfreiheit und ihre cerebralen Entsprechungen. In K. Kçchy, D. Stederoth (Hrsg.), Willensfreiheit als interdisziplinres Problem (S. 319–345). Freiburg: Alber.

174

Bernhard Kchenhoff

Herrmann, CS., Pauen, M., Min, BK., Busch, NA., Rieger, JW. (2005). Eine neue Interpretation von Libets Experimenten aus der Analyse einer Wahlreaktionsaufgabe. In CS. Herrmann, M. Pauen, JW. Rieger, S. Schicktanz (Hrsg.), Bewusstsein (S. 120–134). Mnchen: Wilhelm Fink. Kchenhoff, B. (2006 a). Suizidbeihilfe fr Menschen mit psychischen Krankheiten? In Ch. Rehmann-Sutter, A. Bondolfi, J. Fischer, M. Leuthold (Hrsg.), Beihilfe zum Suizid in der Schweiz (S. 257–262). Bern: Peter Lang. Kchenhoff, B. (2006 b). Willensfreiheit und psychische Erkrankung. In M. Heinze, T. Fuchs, F. Reischies (Hrsg.), Freiheit des Willens – nur eine Illusion? (S. 195–206). Berlin: Parodos. Libet, B., Gleason, CA., Wright, EW., Pearl, DK. (1983). Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness-potential). Brain, 106, 623–642. Libet, B. (1985). Unconcious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action. The Behavioral and Brain sciences, 8, 529–566. Lçnnqvist, J. (2000). Psychiatric aspects of suicidal behaviour: depression. In K. Hawton, K. van Heeringen (Hrsg.), The international handbook of suicide and attempted suicide (S. 107–120). Chichester: Wiley. Pauen, M. (2004). Illusion Freiheit? Frankfurt a. M.: Fischer. Pauen, M. (2005). Willensfreiheit, Neurowissenschaften und die Philosophie. In CS. Herrmann, M. Pauen, JW. Rieger, S. Schicktanz (Hrsg.), Bewusstsein (S. 53–80). Mnchen: Wilhelm Fink. Rehmann-Sutter, C., Bondolfi, A., Fischer, J., Leuthold, M. (2006). Beihilfe zum Suizid in der Schweiz. Bern: Peter Lang. Rippe, K. P. (2006). Suizidbeihilfe und das Recht auf Selbstbestimmung. In C. Rehmann-Sutter, A. Bondolfi, J. Fischer, M. Leuthold (Hrsg.), Beihilfe zum Suizid in der Schweiz (S. 181–194). Bern: Peter Lang. Rçsler, F. (2006). Neuronale Korrelate der Handlungsausfhrung. In K. Kçchy, D. Stederoth (Hrsg.), Willensfreiheit als interdisziplinres Problem (S. 165–190). Freiburg: Alber. Strnad, J., Grosjean, S., Schpbach, B., Bahro, M. (1999). Suizide in der stationren Psychiatrie unter Beihilfe einer Sterbevereinigung. Nervenarzt 70, 645–649. Theunissen, M. (1991). Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit. In M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit (S. 218–281). Frankfurt a.M: Suhrkamp. Tugendhat, E. (2007). Willensfreiheit und Determinismus. In E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik (S. 57–84). Mnchen: C. H. Beck.

Borut kodlar

Spre mein Leben nicht mehr! Bitte fr mich entscheiden! Schizophrenie und Suizidalitt

»Ich fing alles zu analysieren an und so ist mein Geist analytisch geworden. Ich sprte nichts mehr, ich analysierte nur noch.« Wenn sich der Mensch sich selbst zuwendet, um zu verstehen, wer er ist, wieso er lebt und was es berhaupt heißt, zu leben – und ehrlich gesagt: wer fragt sich das nicht? –, gert er schnell in Schwierigkeiten. Wie grndlich und wie tief soll er fragen, wo genau soll er suchen: in der eigenen Vergangenheit, in der Gegenwart oder Zukunft oder muss er sogar außerhalb der Zeitlinie suchen? Fragen, bei denen die Sprache und das Denken rasch versagen. Auch wenn unser Leben ohne solche Fragen »gar nicht verdient, gelebt zu werden«, wie Platon meinte, gibt es auch ein »Zuviel« und »Zutief« solcher Fragen. Dieses »Zuviel« und »Zutief«, dieses bermaß an abgrndigen Fragen gibt es in den verschiedensten, sowohl absichtlichen als auch unfreiwilligen Formen. Die Schizophrenie ist eine besonders radikale und unfreiwillige Form eines solch abgrndigen und uferlosen Fragens. Wir kçnnen uns fragen: Was geschieht hier, wenn ein Mensch Tag und Nacht nur nachdenkt, nicht mehr aus seinen philosophischen Fragen aussteigen kann und nichts anderes mehr tun kann, weil er alles vor-, durch- und nachanalysieren muss? Wahrscheinlich stellt dieser berschuss des Analysierens nicht die Basis der schizophrenen Stçrung dar. Sicher aber ist sie eines der prominentesten Elemente psychotischen Erlebens, welches dem psychotischen Menschen bewusst ist. Aus welchem Hinter-

176

Borut kodlar

grund es auch erwchst – sei es ein biologischer, psychologischer oder soziologischer Boden –, jedenfalls verursacht es spezifische Folgeerscheinungen, die das Gefhl der Entfremdung zur Welt steigern. In diesem Beitrag beschreibe ich zunchst den Boden und die Folgeerscheinungen des psychotischen »Hyperanalysierens«, um damit ein phnomenologisches Verstndnis des schizophrenen Erlebens zu ermçglichen. Anschließend stelle ich in diesem Verstndnis die Erlebnisweisen des Zweifels, der Unentschiedenheit und der Unertrglichkeit sowie insbesondere der Suizidalitt dar. Dabei werde ich immer wieder auf Patientenselbstbeschreibungen zurckgreifen, um das Verstndnis zu prfen, um das Bild lebendig und farbig zu gestalten.

Hintergrund: Grundstçrung der Schizophrenie aus der phnomenologischen Betrachtungsweise ber der Grundstçrung, den »trouble gnrateur« der Schizophrenie, wurde schon vieles aus den verschiedensten Betrachtungsweisen geschrieben. Was Eugne Minkowski (1885–1972) in seiner Monographie »La Schizophrnie« von 1927 ber die Ursachen der Geisteskrankheiten geschrieben hat, gilt analog fr die Grundstçrung der Schizophrenie noch heutzutage. »En tout cas, nos connaissances actuelles sont insuffisantes [. . .] Nous ne savons rien d’exact encore sur les vritables causes efficientes de la majorit des maladies mentales. Nous ne savons mÞme pas o les chercher« (»Auf jeden Fall ist unser Wissen ungengend [. . .] Wir wissen noch nichts Exaktes ber die wahren Ursachen der meisten Geisteskrankheiten. Wir wissen sogar noch nicht mal, wo wir diese Ursachen suchen sollen.«) (Minkowski, 1927, S. 15). Viele Autoren der zeitgençssischen Schizophrenieforschung stellen fest, dass unser Verstndnis des Erlebens, das wir als schizophrenes Erleben klassifizieren, eher blutarm ist und nur durch eine elaborierte und zugleich genauere Konzeptualisierung verbessert werden kann (Sass u. Parnas, 2001). Es wirkt auf den ersten Blick nicht sehr optimistisch, mit solchen Zitaten einer Beschreibung unseres Wissensstandes anzufangen. Aber in phnomenologischen Untersuchungen ist eine »vorbergehende Ich-weiß-es-nicht-Position«

Schizophrenie und Suizidalitt

177

(Minkowski, 1927, S. 68) erlaubt und sogar erwnscht. Derart von klassifikatorischem und auch klinischem Ballast befreit, kçnnen wir fragen: Wie versteht denn nun die phnomenologische Psychiatrie die Schizophrenie? Wir kçnnen uns das schizophrene Erleben phnomenologisch wie einen dreieckigen Horizont vorstellen. Alle »drei Ecken« gehçren zum Selbstgefhl, zum Fhlen von sich selbst. Sie kçnnen also als Selbststçrungen verstanden werden (Parnas, 2003). Es ist jedoch schwer zu beurteilen, welche von den »drei Ecken« die Primre ist. Sicher ist hingegen, dass sie sich alle drei gegenseitig beeinflussen und durchflechten. Die erste »Ecke« ist das Gefhl der inneren Leere oder des Entleertseins. Patienten beschreiben es auch als das Spren einer Halt- und Bodenlosigkeit, als Mangel am Lebendigen, am Vitalen in sich. Minkowski hat vom »Verlust des vitalen Kontaktes mit der Realitt« gesprochen (Minkowski, 1927, S. 82–87). Die zweite »Ecke« ist das stndige Analysieren. Wir kçnnen es auch Hyperanalysieren oder Hyperreflexion nennen. Die Patienten suchen logische Erklrungen fr alles, was sie fhlen, erleben oder ahnen. Auch die Sachen, die ihnen vorher logisch und natrlich vorgekommen sind, sind jetzt merkwrdig und auffllig. Wolfgang Blankenburg (1928–2002) nannte das den »Verlust der natrlichen Selbstverstndlichkeit« (Blankenburg, 1971, S. 55–59). Luis Valenciano Gay (1905–1985) bezeichnete dies, hier den Ideen Ortega y Gassets folgend, als »vitalen Zweifel«. Die dritte »Ecke« schließlich ist eine Stçrung der Begegnungsfhigkeit, wie es Walter von Baeyer (1904–1987) bei seinen Patienten beschrieb. Dies meint eine Unfhigkeit, mitmenschliche Beziehungen aufzubauen (v. Baeyer, 1955). Wir kçnnen hier auch von einer Stçrung des Vertrauenkçnnens sprechen. Henricus C. Rmke (1893–1967) hat in dieser »Schwche des Nherungsinstinkts« die Grundstçrung der Schizophrenie gesehen (Rmke, 1990). Alle anderen Phnomene, wie Wahnideen, Halluzinationen und so weiter, werden als sekundre, auf der Basis dieser drei Selbststçrungen entwickelte Phnomene verstanden. Im Verlauf des Lebens entfaltet sich fr den Patienten die innere Geschichte der Krankheit allerdings in umgekehrter Reihenfolge: zunchst die Beziehungsproblematik, dann das Hyperanalysie-

178

Borut kodlar

ren und schließlich die Leere, das Entleertsein. Patienten, meistens noch in ihren Jugendjahren, berichten zuerst ber Probleme auf dem Gebiet der mitmenschlichen Beziehungen. Ein Patient sagte: »Im Gymnasium fing es alles an. Ich konnte mich nicht mehr mit meinen Freunden unterhalten. Ich hatte nichts zu sagen. Es war mir immer sehr unangenehm, wenn ich in der Gesellschaft war. Ich hatte Angst, dass ich nichts verstehen werde, und war total blockiert.« Dann folgt das »Hyperanalysieren«. Alles wird bis in die kleinste Kleinigkeit analysiert. Auch die Elemente und Dinge, die vorher als selbstverstndlich und unproblematisch angesehen wurden. Die Patienten sind durch dieses Analysieren wie erstarrt. Ein anderer Patient berichtete: »Als ich 17 war, war ich verliebt in eine Mitschlerin. Aber es hat nicht geklappt. Dann habe ich mich auf einmal in mich selbst gekehrt. Ich habe zu analysieren angefangen. Ich war nicht mehr aufmerksam darauf, was um mich luft, sondern nur, wie die Sachen in mir funktionieren. Mein ganzer Tag ist eine lange Analyse geworden.« Und schließlich fhrt die innere Entfaltung dieses Geschehens in eine Leere, in eine Abwesenheit von Willensanregungen und Bodenlosigkeit. Die Patienten beschreiben diese unangenehmen und berschwemmenden Gefhle sehr unterschiedlich. »Wissen Sie«, sagte mir ein Patient, »ich habe keine Plne fr meine Zukunft. Ich bin nicht wie die anderen Menschen. Ich lebe nicht mit Interesse. Eine Verzweiflung ist stndig in mir anwesend. Es fehlt mir etwas Vitales.« Die Grundstçrung der Schizophrenie kann in einem phnomenologischen Verstndnis also mit den benannten »drei Ecken« beschrieben werden: Leere, Hyperanalysieren und Begegnungsunfhigkeit.

Erlebnisweisen: Zweifel, Unentschiedenheit, Unertrglichkeit Wie nun verstehen sich vor dem Hintergrund dieser »drei Ecken« der Zweifel, die Unentschiedenheit und die Unertrglichkeit, welche uns einen Weg zum Verstndnis der Suizidalitt des schizophrenen Menschen weisen. Die drei bereits erwhnten basalen Erfahrungsweisen des schizophrenen Menschen mnden in einen

Schizophrenie und Suizidalitt

179

Rckzug vom alltglichen Lebenslauf, vom Vitalen – wie wir es mit den Worten Bergsons ausdrcken kçnnten – oder anders gesagt: Sie fhren zu einer »schlaffen Verankerung in der Existenz«. Wenden wir uns den drei Erlebnisweisen zu, die wir entsprechend dieser »drei Ecken« im Erleben des schizophren erkrankten Menschen als typisch annehmen kçnnen. Dabei kçnnen wir uns die »drei Ecken« wie die drei Rume eines Lebens vorstellen, in denen sich die lebensgeschichtlichen und situationsgebundenen Erlebnisweisen abspielen. Wir kçnnen die »drei Ecken« aber auch als »Weltanschauungspunkte« verstehen, von welchen her alles beobachtet, beurteilt und bewertet wird. In den nachfolgend betrachteten drei Erlebnisweisen finden diese »drei Ecken« – verstanden als Hintergrund des schizophrenen Erlebens – ihren strksten Widerhall. Gerade aus dem sprbaren Unterschied zwischen dem Menschen selbst auf der einen Seite und dem prallen und leibhaftigen Leben auf der anderen Seite scheinen die Zweifel zu entspringen. Jede Situation, jede mitmenschliche Begegnung wird zur Quelle zweifelhafter und zu bezweifelnder Wahrnehmungen. Ein 24-jhriger Patient erlebte die Hochzeit seines Cousins so, als sei alles nur ein Scherz und als sei es extra fr ihn arrangiert worden. Denselben Zweifel hatte er bereits vorher whrend des Einspielens einer Musik-CD in einem Aufnahme-Studio erlebt. Und auch dann wiederholt an verschiedenen Orten, unvermittelt auf der Straße oder auch whrend der Arbeit. Er kommentierte dies mit dem Satz: »Der Zweifel, die Alternative, die Situation als fr mich arrangiert zu erleben, stand immer vor der Tr.« Diese stndige und offenbar unstillbare Mçglichkeit, an allem zu zweifeln, bringt allerdings weitere Schwierigkeiten mit sich. Sie zwingt den Menschen, alle Alternativen, die durch das Zweifeln aufgerufen werden, zu analysieren. Und, so zumindest in einem phnomenologischen Verstndnis, es verbndet sich mit dem bestehenden Drang zum »Hyperanalysieren«. Das Zweifeln verbindet sich mit »den epistemologischen Sehnschten« (Sass, 1994, S. 121), was fr den Menschen nicht nur sehr unangenehm ist, sondern sich bis zur Unertrglichkeit steigern kann. Jedoch kann sich der Mensch verschiedene Strategien zurechtlegen und ein-

180

Borut kodlar

ben, mit denen er seine Gedanken und sein Verhalten zu regulieren vermag, den Zweifel zu bannen und zu begrenzen vermag. Ein 19-jhriger Patient wollte zuerst gar nichts ber seine Gedanken oder Gefhlen sagen. Er wirkte zurckhaltend, beinahe schon krampfhaft schchtern. Sein Vertrauen entwickelte sich nur ganz langsam, um dann in einem wichtigen Gesprch zu erklren, dass er immer Angst habe und zweifele, ob ihm der andere Mensch nicht etwas Bçses antun werde: »Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Ich wrde denken, wieso Sie zum Beispiel heute schwarz angezogen sind. Aha, wrde ich mir sagen, schwarze Farbe ist mit dem Bçsen verbunden, so wirkt er auch auf mich. Ich muss schnell weg von ihm.« Auf diese Weise habe er sich von vielen Leuten entfernt, dann aber spter eine Strategie entwickelt, die solche Gedanken und Analysen erst gar nicht mehr aufkommen lasse. Er versuche, sich den ganzen Tag stndig mit dem Studium und mit der Arbeit zu beschftigen, um nicht ins Analysieren zu geraten. Fr die freie Zeit habe er auf seinem MP3-Player Studienmaterialien aufgenommen, um seinen Gedanken keinen freien Lauf zu lassen. Der Zweifel kann sich, wie wir gesehen haben, wie eine Krankheit ausbreiten. Mit Wittgenstein kçnnten wir es durchaus als »philosophische Krankheit« benennen und ihre Hauptursache in der »einseitigen Dit« (Wittgenstein, 2001, S. 131) des Zweifelns sehen. Dieses abgrundtiefe Zweifeln greift offenbar tief in die Gedanken und das Verhalten des Menschen ein, es verursacht verschiedene Abwehrstrategien, die den ganzen Lebenslauf des Menschen verndern kçnnen. Dieser unfreiwillige Umbau der Lebensgestaltung, dieses unendliche Ringen ermdet den Menschen, lsst ihn in die Verzweiflung rutschen. Die Grenze zwischen Zweifel und Verzweiflung, so unser erster Eindruck, wird zunehmend dnner. Wenden wir uns der zweiten Erlebnisweise zu: der Unentschiedenheit! Um eine Entscheidung treffen zu kçnnen, muss man einen guten Kontakt mit seinen Gefhlen und Wnschen haben. Man muss zudem einen berblick ber Prioritten und Ziele haben, damit diese Wnsche auch einen entsprechenden Platz im Leben bekommen kçnnen. Dann braucht man noch Vertrauen,

Schizophrenie und Suizidalitt

181

dass die Gefhle und Wnsche, wie auch die Prioritten und Ziele, authentisch und gut sind. Und letztlich braucht man auch noch den Willen und die Energie, um das Entschiedene durchzufhren, um dahinter zu stehen und notfalls dafr zu kmpfen. Alle diese vier Ebenen unserer kurzen psychologischen Skizze des Entscheidens – die Gefhlsebene, die berblicksebene, die Selbstvertrauensebene und die Willensebene – sind beim schizophren erkrankten Menschen eingeschrnkt. Diese Einschrnkungen kçnnen als Folge von den Gefhlen der inneren Leere oder des mangelnden vitalen Kontakts mit der Welt verstanden werden, was wir oben als die erste »Ecke« beschrieben hatten. Verschiedene Ebenen der Ambivalenz wie die affektive Ambivalenz, eine Ambivalenz des Willens und die intellektuelle Ambivalenz beschrieb bereits Eugen Bleuler (1857–1939) als Grundsymptom der Schizophrenie. Bleuler verstand die Ambivalenz allerdings als »direkte Folge der schizophrenen Assoziationsstçrung« (Bleuler, 1911, S. 43–44). Er nahm an, dass diese Assoziationsstçrung primr und insofern die Basis fr eine allumfassenden Ambivalenz des schizophrenen Menschen sei (Bleuler, 1911, S. 285–286). Jedoch mssen wir entsprechend unserer phnomenologischen Analyse des schizophrenen Erlebens annehmen, dass die Selbststçrung mit dem pervasiven Gefhl des Entleertseins und der Bodenlosigkeit die Basis dieser Ambivalenz darstellt. Die Neigung zum Zweifeln und auch zum Hyperanalysieren, unsere zweite »Ecke«, verschlechtert die Entscheidungsfhigkeiten ganz offensichtlich immer weiter. Es kann den Menschen so verndern, dass er sogar sehr einfache Entscheidungen nicht mehr zu treffen vermag. »Ich war in einem Bewusstseinszustand«, beschrieb ein Patient seine Situation, »in welchem schon eine kleine Bewegung meiner Hand eine Vernderung in der ganzen Welt verursachen konnte«. So erstarrte der Patient vor der Entscheidung. »So war es bei mir seit jeher. Jede Entscheidung fiel mir unheimlich schwer. Ich hatte immer Angst, dass ich schon wieder etwas falsch machen wrde.« Sicherlich tritt die Mehrheit der Entscheidungen auf der Bhne der mitmenschlichen Beziehungen auf. Diese stellen aber als solche bereits fr den schizophrenen Patienten einen empfindsamen

182

Borut kodlar

Bereich dar, wir hatten ihn als dritte »Ecke« beschrieben. Dies bringt unsere eigene Analyse zur nchsten Erlebnisweise: zur Unertrglichkeit. Unzweifelhaft ist es fr jeden Menschen keine leichte Aufgabe, mitmenschliche Kontakte zu knpfen, Beziehungen aufzubauen und zu halten. Wenn wir aber schon im Anknpfungspunkt erheblichen Schwierigkeiten begegnen und uns in jeder Situation und in ihren Selbstverstndlichkeiten nicht heimisch vorkommen, fllt jeder weitere Schritt unendlich schwer. Viele therapeutische Erfahrungen besttigen, dass sich Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung nur sehr schwer in andere Menschen einfhlen und einleben, sie spren keinen »sensus communis« (Stanghellini, 2004, S. 115–25), sondern nur eine lange Einsamkeit. Wir kçnnen sagen, dass die Ansammlung dieser Erfahrungen des Scheiterns und der fehlenden Einfhlung beziehungsweise Empathie eine Angst vor der Wiederholung dieses Scheiterns provozieren und den Circulus vitiosus schließen. Diese Einsamkeit und das Wissen darum, sich tatschlich nicht gut in die anderen Menschen einfhlen und mit ihnen eine Gemeinschaft bilden zu kçnnen, wird zum Brennpunkt und zur Hauptquelle der Unertrglichkeit des schizophrenen Menschen. Eine 41-jhrige Patientin sagte: »Wissen Sie, was mir am schwersten fllt? Dass ich so einsam bin. Ich fhle immer, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen. Ich konnte nicht Kontakte knpfen. Ich habe mich immer unwillkommen gefhlt und habe mich deswegen stark in mich eingeschlossen. Aber in meiner Eingeschlossenheit habe ich furchtbar gelitten.« Solche Gefhle von sozialer Unerwnschtheit und von der eigenen Schwierigkeit oder gar Unfhigkeit, sich in die Gemeinsamkeit mit anderen Menschen einzuleben, mnden in einen sozialen Rckzug und fhren in die Isolation, provozieren das Verlassen von Schule oder Arbeitsplatz und kçnnen oft schon lange vor der ersten psychotischen Manifestation gefunden werden (Møller u. Husby, 2000). Und tragen so dazu bei, dass die Grenze zwischen Zweifel und Verzweiflung immer dnner wird.

Schizophrenie und Suizidalitt

183

. . . und die ngstigende Erlebnisweise: Suizidalitt So wie sprichwçrtlich viele Wege nach Rom fhren, so kann fast alles, was wir bis jetzt als Hintergrund (»drei Ecken«) und Erlebnisweisen der schizophrenen Lebenswelt formuliert hatten, in suizidale Tendenzen fhren. Radikal gesagt scheint Suizidalitt, scheint die Tendenz zum Selbsttçten oder zumindest der Drang zur Selbstaufhebung ein geradezu intrinsisches Element des schizophrenen Lebens zu sein. Was soll das hier bedeuten: intrinsisches Element? Die »drei Ecken« – die allumfassende Bodenlosigkeit, das stndige paralysierende Hyperanalysieren, die Stçrung des Vertrauenkçnnens – erçffnen ein Erlebnisspektrum, das nur schwer ertrglich und zugleich nur mhsam und oftmals nur sehr unvollkommen vernderbar ist. In ausfhrlichen Gesprchen haben mir schizophrene Menschen als Hauptmotiv fr ihr Bedenken und Erwgen einer Selbsttçtung ihre Unfhigkeit genannt, sich in Gemeinschaften aufgenommen und geborgen zu fhlen. »Wie kçnnte ich mich mit stndig leerem Kopf anderen Menschen annhern und mich zu ihnen gesellen? So bleibe ich Tag und Nacht allein zu Hause. Was soll ich tun? Ich habe genug von dieser Einsamkeit. Ich fhle mich hoffnungslos. Das wre fr mich der Hauptgrund, nicht mehr leben zu wollen.« Von hier ist es zur Selbsttçtung offenbar nur noch ein kleiner Schritt. Aber oft beschreiben sie als Motive auch ihre Gefhle der Minderwertigkeit, der Schuld und der Unzufriedenheit mit ihrem Leben, um darber nachzudenken, ob sie sich den Tod geben sollen. Gefhle, die sie aus dem stndigen Vergleich mit den anderen, erfolgreichen Menschen ableiten. »Eines der schlimmsten Themen ist der stndige Vergleich mit anderen. Alle meinen ehemaligen Mitschler haben Arbeit, haben Partner, Kinder, Hobbys – nur ich nicht! Es ist einfach so frustrierend. Wie konnte ich mein Leben nur so in den Sand setzen?! Ich fhle mich wie ein alter, vom Leben erschçpfter und verzweifelter Mann.« Und auch von hier ist es zur Selbsttçtung nur noch ein kleiner Schritt. Nur selten hingegen bedenken sie die Mçglichkeit der Selbsttçtung, wenn sie mit Wahnideen und Halluzinationen berflutet

184

Borut kodlar

sind. Denn, so berichteten sie mir dann spter, in diesen Phasen waren sie so vollstndig mit den Themen der Wahnideen beschftigt, suchten ihren Weg und die Lçsungen ihrer Schwierigkeiten innerhalb dieser Felder, dass der Gedanke an Selbsttçtung gar keinen Raum hatte. Eine 29-jhrige Lehrerin war vor dem Hintergrund der Monotonie und der Leere ihres Lebens suizidal geworden und wollte sich »mit ihren Gedanken tçten«. Als sie jedoch psychotisch wurde, verschwanden alle Gedanken an eine Selbsttçtung. Sie war vollkommen berflutet mit der Aufgabe, die ihr durch ihren Wahn gestellt wurde, nmlich alle Menschen entweder der »weißen« oder der »schwarzen Hierarchie« zuzuordnen, in welche sich ihr die ganze Welt aufgeteilt hatte. »Ich hatte gar keine Zeit mehr, an Suizid zu denken. Solchen Ideen kamen erst wieder zurck, als ich mich von der Schwarz-und-weiß-Welt etwas distanzieren konnte.« Offenbar kçnnen die Gedanken an eine Selbsttçtung, kçnnen die Motive fr eine Selbsttçtung wieder zurckkehren, wenn sich die Flle der Wahnideen und Halluzinationen zurckziehen. Dies wird oftmals als sehr enttuschend erlebt. Ein 27-jhriger Student berichtete mir von einer Zeit, in der er sich hypnotisiert gefhlt habe. Unter der Hypnose habe er lernen sollen, ein anstndiges Leben zu fhren. Er habe lernen sollen, nicht immer nur an tolle Autos oder schçne Frauen zu denken. Aber er habe leider immer alles falsch gemacht und das Mdchen, das er mit dieser Anstndigkeit seiner Lebensfhrung habe beeindrucken wollen, blieb fr ihn so unerreichbar wie zuvor. Dies stellte er fest, als »der Effekt der Hypnose verblasste«. Und dies war genau der Zeitpunkt, an dem er seinen zweiten Selbsttçtungsversuch unternahm. Nach dem bisher Gesagten kçnnen wir festhalten, dass uns eine Phnomenologie des schizophrenen Erlebens – die »drei Ecken« – verstndlich macht, dass sich dem schizophrenen Menschen Erlebnisweisen erçffnen, die sich schnell und direkt so zuspitzen kçnnen, dass dieser Mensch in eine unertrgliche Verzweiflung gert und so letztlich suizidal wird. Und wir kçnnen weiterhin festhalten, dass ganz offenbar die wahnhaften und halluzinatorischen Erlebnisse oder Apophnien, um Conrads Terminologie zu verwenden (Conrad, 2002, S. 88), nicht zur Unertrglichkeit und

Schizophrenie und Suizidalitt

185

damit zur Suizidalitt beitragen. Im Gegenteil: Sie scheinen den verzweifelten Menschen eher entlasten zu kçnnen, obwohl sie dies vielleicht oftmals nur dadurch erreichen, dass sie den Menschen auf seiner Suche nach Rettung unterbrechen und ihm durch die Flle der Apophnien die Mçglichkeit nehmen, sich mit der Selbsttçtung zu beschftigen. Dementsprechend wrde die Suizidgefahr dann wieder zunehmen, wenn die Wahnideen ihren Charakter der Unkorrigierbarkeit verlieren, wenn die Halluzinationen und Illusionen ihren Trugcharakter zeigen und der Betreffende aufgrund dessen noch tiefer verzweifelt. Um aber von der Suizidalitt als einem intrinsischen Element der schizophrenen Lebenswelt zu sprechen, kann uns das bisher Erluterte nicht gengen. Die Verknpfung msste noch tiefgreifender sein. Nicht wenige Patienten haben mit mir ber ihre suizidalen Tendenzen wie ber alle anderen vorbergehenden Impulsen gesprochen. In ihren Worten herrschte eine atemberaubende Gleichmtigkeit und Leichtigkeit. Ein diplomierter Soziologe sagte mir: »Wissen Sie, die Suizidideen sind bei mir wie eine Laune des Tages. Gut, dass ich keine Pistole zu Hause habe. Ich kçnnte mich in einer augenblicklichen Verzweiflung einfach erschießen. Aber ich wrde in jenem Moment den Suizid berhaupt nicht ernst meinen.« hnlich antwortete ein anderer schizophren erkrankter Patient auf die Frage, was er in solchen Momenten tue: »Ich gehe ins Bett und schlafe ein. Ich weiß genau, dass am nchsten Morgen alles vorbei sein wird. Die Ideen, Suizid zu begehen, verschwinden immer am nchsten Tag.« Auf die Frage, wie gefhrlich denn seine suizidale Tendenzen seien, antwortete ein anderer: »Ja, sie kçnnen auch gefhrlich sein. Ich meine gefhrlich. Ist das gefhrlich fr Sie? Das ist keine Gefahr (lachte). Es hngt davon ab, wie man das sieht, ob es gefhrlich ist oder nicht (lachte noch lauter).« Wie ist dies zu verstehen? Kommt hier der Zufall ins Spiel? Selbsttçtung als Glcksspiel? Der erwhnte Soziologe, der seine Selbsttçtungsabsichten als eine Laune des Tages beschrieb, kann uns hier weiterhelfen. Auf meine Frage, ob der suizidales Akt denn dann berhaupt seine Entscheidung wre oder es ihm einfach so geschehen kçnne, antwortete er: »Darber habe ich auch viel nachgedacht, ja. Weil die

186

Borut kodlar

Angst so groß ist, berlsst man es einfach dem Zufall, nicht wahr? Ich wrde auf Schwarz oder Rot setzen und warten. Es wre nicht, denke ich, ganz meine Entscheidung. Deswegen sage ich ihnen, dass es nicht gut fr mich wre, eine Pistole zu Hause zu haben. Ich kçnnte eines Tages nur so, wissen Sie, sagen: Schluss, aus!« »Es wre also berhaupt nicht nçtig, dass Sie einen klaren Impuls zur Selbsttçtung spren?«, fragte ich weiter. »Ja, stimmt. Es wre eine reine Laune. Nein, es wre berhaupt nicht nçtig, dass ich mir sagen msste: Jetzt bin ich entschieden, Schluss!« Auch tiefergehende suizidologische Studien sprechen ber die zweiseitige Natur der suizidalen Tendenzen, welche die Antwort des Soziologen verstndlich machen kçnnten. Erwin Stengel (1902–1973) sprach vom »januskçpfigen Charakter« der Selbsttçtung und des Selbsttçtungsversuchs (Stengel, 1964, S. 103–116). Er sah in jedem suizidalen Akt Charakterzge des Glcksspiels, eine Ambitendenz zu sterben und zu leben, eine Doppeldeutigkeit von Lebensvernichtung und Lebenserhaltung (Stengel, 1960). Im suizidalen Akt bestehe eine Phantasie vom Gerettetsein (Jensen u. Petty, 1958), eine transitorische Qualitt und eine pervasive Ambivalenz (Shneidman, 1981). Der suizidale Mensch finde sich in den Paradoxien, die sich durch den Verlust des Rettenden im Leben und durch das Suchen des letzten Rettens in den Tod entfalten (Schlimme, 2005). Wie aber zeigt sich eine solche Ambivalenz und Ambitendenz der Suizidalitt in der schizophrenen Lebenswelt? Zeigt sich dies nicht in der Verbindung der bereits beschriebenen Gleichmtigkeit und Leichtigkeit des Nachdenkens und Erwgens der Selbsttçtung und dem Charakter des suizidalen Verhaltens als Glcksspiel? Betrachten wir diese beiden Eigenarten genauer, so kçnnen wir vier Hinweise auf eine tieferliegende Verbindung entschlsseln. 1.) Unsere phnomenologische Analyse des schizophrenen Erlebens hatte uns vermittelt, dass dem schizophren erkrankten Menschen jede Situation und jede menschliche Begegnung Anlass fr eine unendliche Reihe des Zweifelns, des Hyperanalysierens bis in die Unertrglichkeit sein kann. Allein dies kann fr diesen Menschen den Tod als ein definitives Ende dieses unendlichen Prozes-

Schizophrenie und Suizidalitt

187

ses attraktiv machen. Allein die Mçglichkeit der Selbsttçtung als Mçglichkeit kann schon beruhigend wirken. Selbsttçtung kann so bei manchen Patienten in fast jeder Situation zu einer mçglichen, zumindest bedenkenswerten Alternative aufsteigen. Ein schizophren erkrankter Patient kommentierte eine vorangegangene Krise mit dem Satz: »Natrlich hatte ich wieder viel mehr an Suizid gedacht, das beruhigt mich doch.« 2.) Weiterhin hatten wir argumentiert, dass der schizophrene Mensch Schwierigkeiten hat, den »sensus communis«, die Welt der Werte und des Anderen, empathisch zu spren. Gleichzeitig betrachtet er sein eigenes Leben oft nicht als besonders wertvoll, erlebt sich hufig innerlich entleert und als bedeutungslos. Und in dieser Abwesenheit aller Werte des Lebens kann eine atemberaubende Gleichmtigkeit im Hinblick eigener Selbsttçtung entstehen. 3.) Im Leben des schizophrenen Menschen herrscht oftmals eine pervasive Unentschiedenheit. Eine Entscheidung ber den eigenen Tod von der eigenen Hand ist hingegen von enormer Brisanz und Bedeutung – ja, sie ist die lebenswichtige Entscheidung. So verstrkt sich die Unentschiedenheit gerade hinsichtlich des suizidalen Verhaltens. Der schizophrene Mensch verbleibt gerade angesichts einer solch lebenswichigen Entscheidung oftmals in der passiven Position des Wartenden. 4.) Verharrt der Mensch nicht passiv in der Warteposition, findet der Konflikt zwischen dem eigenen Tod – vorwiegend dann wohl als erlçsendes Ende des Lebens vorgestellt – und der in die unendliche Passivitt fhrenden Unentschiedenheit einen Ausweg im Externalisieren oder der »Vergegenstndlichung« der inneren Unentschiedenheit (Wyrsch, 1949, S. 30–31). Dann inszeniert der Mensch Situationen, wo sich der innere Konflikt so abspielt, dass andere oder auch der Zufall aufgefordert sind zu entscheiden: »Bitte fr mich entscheiden!« Solche Inszenierungen fhren in ein Verhalten, das wie ein »russisches Roulette« aussehen kann. Und so kçnnen wir auch die »Straßenexperimente« eines anderen Patienten verstehen. Er berquerte – ganz ohne suizidale Absichten – mehrmals die Straße, ohne nach links oder rechts zu schauen. »Ich wollte nur wissen, ob das mçglich ist oder nicht«, erklrte er

188

Borut kodlar

spter sein Verhalten, in dem er es dem Zufall berlassen hatte, fr ihn ber Leben oder Tod zu entscheiden. So sind wir der Suizidalitt als intrinsisches Element in der Struktur der schizophrenen Lebenswelt nher gekommen. Neben der Unertrglichkeit, deren Herkunft und Hintergrund wir in den ersten beiden Teilen unserer Untersuchung beschrieben haben, haben sich uns noch weitere Eigenarten suizidaler Tendenzen schizophrener Menschen erçffnet: die Gleichmtigkeit, die Leichtigkeit und der Charakter des Glcksspiels, des Ordals. Diese Kombination von Unertrglichkeit mit Gleichmtigkeit, dieser Leichtigkeit mit Spielerischem und Riskikofreudigem ist so paradox, dass sie manchmal nur in den Paradoxien der Suizidalitt (Schlimme, 2005) eine »Lçsung« findet – sei es potentiell oder faktisch. Da wir diesen Abschnitt mit einem Sprichwort ber Rom begonnen haben, wollen wir auch damit schließen. Zwischen »Roma locuta« und »causa finita« des Selbsttçtens des schizophrenen Menschen gibt es also noch sehr viel. Sehr viel auch Paradoxes. So dass das alte Diktum unmerklich zu »Roma tacita – causa infinita« umgewandelt werden kçnnte.

Rckblick Wir haben versucht, ein phnomenologisches Verstndnis der Suizidalitt in der Lebenswelt schizophren erkrankter Menschen aufzuzeigen. Hintergrund boten uns Selbstbeschreibungen schizophrener Menschen und eine kleine Phnomenologie des schizophrenen Erlebens. Dabei orientierten wir uns wie an einem roten Faden an den »drei Ecken«, den drei Grundbedingungen der schizophrenen Lebenswelt: die innere Leere oder die Schwche des Vitalen, das Hyperanalysieren oder der epistemologische Drang und die Begegnungsunfhigkeit mit der Schwche des Nherungsinstinkts. Diesen Grundbedingungen entsprechend gestaltet sich das Erleben des schizophren erkrankten Menschen als ein Rckzug vom Vitalen, welches wir bildlich als eine schlaffe Verankerung in der Existenz fassten. Anschließend fhrte uns unser roter

Schizophrenie und Suizidalitt

189

Faden durch die Erlebniswelt des schizophrenen Menschen, wo wir den drei Erlebnisweisen des Zweifels, der Unentschiedenheit und der Unertrglichkeit begegneten, welche alle drei eine wichtige Bedeutung fr die Suizidalitt aufwiesen. Zugleich erçffnete sich uns im Hinblick der Suizidalitt ein weiter Horizont. Als die hufigsten Motive suizidaler Tendenzen fanden sich: die Unertrglichkeit infolge der sozialen Isolation und Einsamkeit und der paralysierende Vergleich mit anderen. Eine entwickelte, systematisierte Wahnwelt schien die Suizidgefahr eher zu erniedrigen, wohingegen ihr Abklingen oder die Enttuschung infolge einer Einsicht in ihre Irrealitt die Suizidgefahr wieder steigern konnte. Das Beeindruckendste der Suizidalitt in der Schizophrenie fanden wir allerdings in ihren Eigenarten der Gleichmtigkeit, der Leichtigkeit und dem Charakter des Glcksspiels. Diese Eigenarten fhrten uns zurck zu den basalen Erlebensqualitten der schizophrenen Lebenswelt, so dass wir Suizidalitt als ein intrinsisches Element der schizophrenen Lebenswelt interpretierten. Unsere Verstndnisbemhungen haben uns dabei in die Nhe des Mehrdeutigen, des Unverstndlichen und des Paradoxen gebracht. Diese schwer verstndlichen Eigenarten des Erlebens schweben aber in der Welt des Schizophrenen nicht »entspannt herum«, sondern der Patient »leidet, ngstigt sich, fhlt sich entfremdet und berwltigt« (Fuchs, 2000, S. 182). Und dieses Leiden zwingt uns, weiter dem Patienten grndlich zuzuhçren und, auch wenn wir nichts verstehen, doch mit ihm therapeutisch und menschlich ausdauernd beisammen zu bleiben.

Literatur Baeyer, W. v. (1955). Der Begriff der Begegnung in der Psychiatrie. Nervenarzt 26, 369–376. Blankenburg, W. (1971). Der Verlust der natrlichen Selbstverstndlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Leipzig u. Wien: Franz Deuticke.

190

Borut kodlar

Conrad, K. (2002). Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns. Bonn: Edition Das Narrenschiff. Fuchs, T. (2000). Psychopathologie von Leib und Raum. Phnomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen. Darmstadt: Steinkopff. Jensen, V. W., Petty, T. A. (1958). The Fantasy of Being Rescued in Suicide. Psychoanalytic Quarterly, 27, 327–339. Minkowski, E. (1927). La Schizophrnie. Psychopathologie des schizo des et des schizophrnes. Paris: Payot. Møller, P., Husby, R. (2000). The Initial Prodrome in Schizophrenia: Searching for Naturalistic Core Dimensions of Experience and Behavior. Schizophrenia Bulletin, 26, 217–232. Parnas, J. (2003). Self and schizophrenia: a phenomenological perspective. In T. Kircher, A. David, (Hrsg.), The Self in Neuroscience and Psychiatry (S. 217–241). Cambridge: Cambridge University Press. Rmke, H. C. (1990). The nuclear symptom of schizophrenia and the praecoxfeeling. History of Psychiatry, 1, 331–341. Sass, LA. (1994). The Paradoxes of Delusion. Wittgenstein, Schreber, and the Schizophrenic Mind. Ithaca: Cornell University Press. Sass, L. A., Parnas, J. (2001). Phenomenology of Self-Disturbances in Schizophrenia: Some Research Findings and Directions. Philosophy, Psychiatry & Psychology, 8, 347–356. Schlimme, J. E. (2005). Zur Phnomenologie der Suizidalitt. Phnomenologische Forschungen, 269–284. Shneidman, E. (1981). Psychotherapy with Suicidal Patients. Suicide and LifeThreatening Behavior, 11, 341–347. Stanghellini, G. (2004). Disembodied spirits and deanimated bodies. The psychopathology of common sense. Oxford: Oxford University Press. Stengel, E. (1960). The complexity of motivations to suicidal attempts. Journal of Mental Science, 106, 1388–1393. Stengel, E. (1964). Suicide & Attempted Suicide. Harmondsworth: Pelican Books. Wittgenstein, L. (2001). Philosophical Investigations. The German Text, with a Revised English Translation. 3rd ed. Malden: Blackwell. Wyrsch, J. (1949). Die Person des Schizophrenen. Studien zur Klinik, Psychologie, Daseinsweise. Bern: Paul Haupt.

Jann E. Schlimme

Sich selbst tçten wollen

Der Gedanke an Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut ber manche bçse Nacht hinweg. (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, 1886)

Der Mensch will immer vieles, oft das Ganze und meist sogar mehr als das. So erweist sich das Leben dem Menschen als eines, welches ins Offene weist. Und offenbart sich darin als die große Unbekannte, in welcher sich der Mensch als derjenige, der ber sich hinaus will, gegeben ist. Sich ber das Leben und sich selbst zu vergewissern, erhellt so unweigerlich die klassische Doppeltheit von Selbstheit und Selbigkeit. Ob der Mensch will oder nicht – weder kann er der »irdischen Schwere« seiner Selbigkeit (Dass-erimmer-wieder-derselbe-ist) in eine »reine« Veranstaltung des Selbstbewusstseins (Selbstheit) entfliehen noch kann er ohne jegliches Wissen um sich absichtsvoll wollen. Wie bereits Søren Kierkegaard (1813–1855) in seiner berhmten Definition aus dem Jahr 1849 formulierte, kann Selbstheit nur im Hinblick auf Selbigkeit existieren: »Das Selbst ist ein Verhltnis, das sich zu sich selbst verhlt, oder ist dasjenige am Verhltnis, dass das Verhltnis sich zu sich selbst verhlt; das Selbst ist nicht das Verhltnis, sondern dass das Verhltnis sich zu sich selbst verhlt« (Kierkegaard, 1849/1992, S. 9). Streng verstanden geht es also um das »Zu-Sich«. Die phnomenologische Methode folgt dieser Bewegung und gelangt so zu einer radikalen Umkehr des Denkens: »Nicht das Denken gibt uns den Zugang zum Leben; es ist das Leben, welches dem Denken den Zugang zu sich erlaubt« (Henry, 2002, S. 145). Der entscheidende Gedanke der Phnomenologie findet sich also darin, dass wir uns ber uns selbst vergewissern, indem wir uns eines dieses Vergewissern hervorbringenden Zusammenhangs ver-

192

Jann E. Schlimme

gewissern – und zwar vergewissern wir uns dessen so, als sei dieses Vergewissern das Gegebene dieser hervorbringenden Struktur. Insofern gilt: Denken ist Selbsterhellung des geschehenden Lebens selbst. Ohne hier auf die grundlegenden Fragen nach dem philosophischen Verstndnis einer sich selbst gebenden Gegebenheit – »das Leben selbst« – eingehen zu kçnnen (vgl. bes. Rombach, 1988; Marion, 2002), wird deutlich, dass die phnomenologische Methode in besonderer Weise geeignet ist, die Innenperspektive des Menschen in all seinen Erlebensqualitten seiner unausweichlichen Doppeltheit von Selbstheit und Selbigkeit zu erhellen. In diesem Sinne wird im Folgenden einem phnomenologischen Verstndnis des »Sich selbst tçten wollens« nachgegangen.

Wollen und Grundwollen Das Wollen des Menschen droht immer wieder in den Weiten des Subjektivismus und den Engen des Objektivismus zu entschwinden. Der Mensch aber ist weder nur spontan und willkrlich, noch nur fixiert und monoton. Vielmehr vergewissert sich der Mensch seiner Absichten und Ziele innerhalb seiner umfassenderen Struktur, welche bestimmtes Wollen ausschließt oder ermçglicht. Mit »seiner umfassenden Struktur« sind sowohl er selbst bis ins Innerste (Tiefenstrukturen, Leib) als auch seine Welten bis ins ußerste (Kultur, Natur) gemeint. Sinnlosigkeit und faktische Unmçglichkeit von Wollen verweisen darauf, dass Strukturen ein ihnen gemßes Grundwollen aufweisen. Das bedeutet aber nicht notwendig, dass Menschen dieses Grundwollen ihrer jeweiligen Selbigkeit so vergewissern, dass sie das Mçgliche wollen. Denn der Mensch kann auch das Unmçgliche wollen. Insbesondere kann er es als das Unmçgliche wollen, wenn er weiß, dass es unmçglich ist (sprichwçrtlich »mit dem Kopf durch die Wand«). Andererseits kçnnte das vormals Unmçgliche im Verlauf des weiteren Lebens auch mçglich werden. Insbesondere kann es schlagartig und unerwartet mçglich werden, ohne dass dies willentlich erzwingbar wre (Schlimme, 2002;

Sich selbst tçten wollen

193

2006). Offenbar ist Wollen auf Entscheidungen bezogen, auf das Finden mehr oder weniger mçglicher Absichten und Ziele innerhalb der aktuellen Selbigkeit. In einer solchen Selbstvergewisserung versteht sich Wollen am ehesten als ein interpretatives berformen des Grundwollens. Der Gedanke des interpretativen berformens betont, dass das Wollen des Menschen das Grundwollen seiner aktuellen Selbigkeit aufnehmen und eine durchreichende Interpretation finden muss (Rombach, 1993, S. 358 f.). Dabei verstehen sich Interpretationen phnomenologisch als Selbst-Interpretationen, da sich das Leben in seiner konkreten Struktur selbst interpretiert. So ist das Kriterium einer Interpretation kein abseitiges Abstraktum, sondern die an sich selbst bemessene (»interpretierte«) Kohrenz und Stimmigkeit des Ganzen: »Letzter Maßstab ist die Struktur selbst. Ob sie auf dem rechten Weg ist, sagt erst die Erfahrung des Weges« (Rombach, 1988, S. 269). Das Finden einer durchreichenden Interpretation kann in vielerlei Hinsicht scheitern. Dann weiß der Mensch im Sinne des Wortes nicht, was er will – er handelt gegen sein Grundwollen oder wird gegen sein Wollen gehandelt. Dies muss nicht gleich eine Grenzsituation oder eine psychische Stçrung bedeuten. Vielmehr verweist es darauf, dass eine solche durchreichende Interpretation gefunden sein will und nur konkret gefunden werden kann, da sie auf das Ganze des jeweiligen Lebens geht. »›Wille‹ ist weniger eine private Durchsetzungskraft als vielmehr die Fhigkeit die Handlung aus grçßerer Tiefe erfolgen zu lassen und ihr dadurch eine weitere Wirkung, eine grçßere Durchhaltekraft und eine berzeugendere Richtung zu geben« (Rombach, 1993, S. 358 ff.). Die phnomenologische Analyse des Wollens erçffnet zwei Thesen: 1.) Selbigkeiten weisen ein Grundwollen auf, welches in seiner Struktur verschiedenstes Wollen ermçglicht. 2.) Wollen hingegen meint das interpretativ-berformende Vergewissern des Grundwollens der aktuellen Selbigkeit.

194

Jann E. Schlimme

Sich selbst tçten wollen Wie nun kann das Sich-selbst-tçten-Wollen des Menschen verstanden werden? Sich selbst tçten kann berhaupt nur dann gewollt werden, wenn 1.) der Mensch um sich als lebendes Wesen weiß – sich also seiner als er selbst vergewissern kann – und 2.) er um sich als sterbliches Wesen weiß, sich also seiner Sterblichkeit vergewissern kann. Nur wenn dem Menschen bewusst ist, dass er sein passives »Mich«, seine Selbigkeit, als die er zu sein hat, im Leben nicht endgltig und radikal loswerden kann, da dies ja sein Leben ist, erst dann kann der Mensch berhaupt seinen Tod wollen kçnnen. Dies mag trivial erscheinen, jedoch weiß der Mensch lange Jahre um sich selbst, ohne sich der radikalen Qualitt seines Todes bewusst zu sein. Denn das Vergewissern der eigenen Sterblichkeit erfordert, sich des Ganzen seiner selbst auch in hypothetischer Weise vergewissern zu kçnnen. Erst dann – und dieser Sprung der Denkfunktionen erfolgt zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr – kann der Mensch in seine Suizidalitt erwachen (vgl. Carlson et al., 1994; Dçbert u. Nunner-Winkler, 1994; Noam u. Borst, 1994; Schlimme, 2005). Wer sich derart vergewissern kann, erfhrt, dass sein Tod unumkehrbar sein wird. Wir kçnnen den Tod nicht erleben und wir kçnnen auch keinen Menschen, der wirklich tot ist, danach fragen, wie das wohl ist, wenn man tot ist. Der Tod entzieht sich uns im Vergewissern seiner. Anders gesagt: Der Tod ist uns in dem Sinne gegeben, dass er uns gerade nicht gegeben ist. Aber dieses Nicht-Gegeben ist genau die Art und Weise, in der er uns gegeben ist (vgl. Marion, 2002; Staudigl, 2003; Schlimme, 2005). Wer sich selbst tçten will, will offenbar nicht er selbst sein. Aber auch wenn er noch so verzweifelt nicht er selbst sein will, wird er permanent und unausweichlich durch sich selbst eingeholt. Dieses verzweifelte Nicht-selbst-sein-Wollen benannte Kierkegaard als zentrales Kennzeichen der Verzweiflung, in welcher sich der Mensch in ohnmchtiger Passivitt als fremdbestimmtes Geschçpf seiner unausweichlichen Selbigkeit erlebt (Kierkegaard, 1849/1992; Theunissen, 1993, S. 82 ff.; Henry, 1992, S. 201 f.). Im Unterschied zum »nur« verzweifelten Menschen weiß der suizidale Mensch je-

Sich selbst tçten wollen

195

doch um seine Rettung im eigenen Tod, in der eigenen Vernichtung. Zwar mag er sich selbst im Leben nicht loswerden kçnnen – aber er kann sein Leben im Ganzen loswerden. Bereits dieses Wissen um den eigenen Suizid als unverlierbare Mçglichkeit lindert die Verzweiflung, wie schon Epiktet (50–140) schrieb: »Steht es dir denn nicht frei, auch zu sterben? ›Das steht mir frei.‹ Warum klagst du also?« (Epiktet, 1984, III 22). Darber hinaus jedoch erscheint dem suizidalen Menschen sein eigener Tod als Rettung, wie Jean Amry (1912–1978) unnachahmlich formulierte: »So ist der Freitod zwar der atemgebende Weg ins Freie, nicht aber dieses Freie selbst« (Amry, 1976/1999, S. 144). Der Unterschied von Verzweiflung und Suizidalitt zeigt sich also darin, dass sich der suizidale Mensch nicht in seine ohnmchtig zu erleidende Verzweiflung fgt, sondern sein verzweifeltes Nicht-selbst-seinWollen im Vergewissern der eigenen Sterblichkeit radikalisiert. In dieser Radikalisierung schlgt die Verzweiflung letztlich in ein Sich-selbst-tçten-Wollen um. Bedeutet dies nicht ein radikales Nicht-Wollen? Aber was gilt dann? Wird der Tod nun als endgltiger Vernichter oder als letzter Retter erfahren?

Das Geschenk des Todes Auch die suizidale Charakterisierung des Todes als Rettendes kann den Tod nicht endgltig festlegen. Er bleibt das radikal Andere des Lebens, da er in seiner spezifischen Weise der Gegebenheit als Nicht-Gegebener stndig jeder Festlegung widerspricht. So bersteigt (transzendiert) er auch die tiefste und umfassendste Verzweiflung. Denn Rettendes kommt von sich her, kommt plçtzlich und unvermittelt und zeigt sich darin dem Geretteten als Rettendes. Rettendes ist ein Geschenk. Es kçnnte dieses oder jenes sein. Es kçnnte alles Mçgliche sein, bersttigt die eigene Selbigkeit mit neuen Mçglichkeiten und bersteigt unser Verstehen in ein »unendlich mehr« und kann erst a posteriori konkreter bestimmt werden (Marion, 2002, S. 56 ff.; Staudigl, 2003). Der Tod kçnnte meine letzte Rettung in eine unvorhersehbare Dimension meiner selbst sein – er kçnnte genauso gut nur die unumkehrbare und

196

Jann E. Schlimme

vollstndige Vernichtung meines Lebens sein. Sicher ist, dass die eigene Sterblichkeit im Leben – also die Gegebenheit des nicht-gegebenen Todes – nicht verloren werden kann und doch – mehr oder weniger – aktiv ergriffen werden kann. Der Tod als nicht-gegebene Gegebenheit gibt sich als Retter, da er die umfassendste Verzweiflung in seiner radikalen Alteritt berschreitet und zugleich dieses berschreiten im Leben nicht verloren werden kann (Schlimme, 2005). Der Tod ist die unverlorene Alteritt des Lebens.

Radikales Nicht-Wollen wollen Der verzweifelte Mensch will Unmçgliches: Er will nicht er selbst sein. Das Grundwollen seiner Selbigkeit ermçglicht das Wollen des Unmçglichen aber nur als Unmçgliches. Dies ist ja gerade seine Verzweiflung. Das Grundwollen seiner Selbigkeit ist das NichtSelbst-sein-Wollen. Im Wissen um die radikale Alteritt des unverlierbaren Todes kann sich das Nicht-Selbst-sein-Wollen zum Nicht-Lebenwollen-Wollen radikalisieren. Damit scheint zunchst gemeint, dass der verzweifelte Mensch nicht mehr leben will. Doch bedeutet das suizidale Nicht-Lebenwollen-Wollen nicht radikales Nicht-Wollen? Radikales Nicht-Wollen kçnnte also in dem Sinne gedacht werden, als dass es berhaupt nicht zum Leben kommt, da Leben schon immer ein Lebenwollen mitmeint. Im Leben erçffnet ist allerdings das Wollen des radikalen Nicht-Wollens infolge der Doppeltheit von Selbstheit und Selbigkeit. Radikales Nicht-Wollen kann als der eigene Tod aufgrund dessen Gegebenheit als Nicht-Gegebener tatschlich und bewusst gewollt sein. Der suizidale Mensch vergewissert sich also als derjenige, der radikales Nicht-Wollen will. So wirken in der Suizidalitt zwei differente Weisen von Grundwollen: das verzweifelte Nicht-Selbst-seinWollen und das Wollen radikalen Nicht-Wollens.

Sich selbst tçten wollen

197

Schlussbemerkung Das hier aufgewiesene Verstndnis der Suizidalitt fhrt erschrekkenderweise in Versuchung, suizidal zu werden. Dies bleibt bei einem phnomenologischen Verstndnis nicht aus und kann sogar als gelungenes Aufweisen des anvisierten innenperspektivischen Verstndnisses begriffen werden. Im Bemhen um ein innenperspektivisches Verstndnis findet sich der Verstehende im Phnomen wieder – genau dies ermçglicht sein Verstndnis des Phnomens von innen her. Besonders erschrecken mag, dass die fundamentale Offenheit des Menschen der suizidalen Paradoxie entspricht. Diese oszilliert um die Frage: Was will er denn nun, der suizidale Mensch? Sie entzndet sich am »Geschenk des Todes«, der in seiner unverlierbaren radikalen Alteritt des Lebens sowohl Vernichter als auch Retter sein kann. In seiner legendren Unentschiedenheit, seiner suizidalen »Reise nach Jerusalem«, ja seinen zuweilen »gottesgerichtlich« anmutenden Suizidversuchen stellt es der suizidale Mensch in tiefster Entsprechung zur suizidalen Paradoxie einer »grçßeren Macht« anheim, ob er ins Leben oder in den Tod gerettet wird (Menninger, 1978; Baechler, 1981; Alvarez, 1999; Felber, 1999; Michel et al., 2002; Schlimme u. Emrich, 2003; Schlimme, 2005). Der Mensch entdeckt seine Suizidalitt folglich als Paradoxie, die als Mçglichkeit seines Daseins nicht verloren werden kann. Das lebensernste Nachdenken im Laufe des Lebens ber die eigene hypothetische Wirklichkeit des Suizidieren-Kçnnens weist dabei zumeist eine kathartische Qualitt auf. Nur jeder Fnfte bis Dreißigste Mensch, der ernsthaft ber seinen eigenen Suizid nachdenkt, unternimmt tatschlich einen Suizidversuch (Weissman et al., 1999; Crosby et al., 2000; Kuo et al., 2001; Renberg, 2001). In der letztlichen Unbestimmbarkeit des Lebens kann dem suizidalen Menschen also klar werden, dass ihn kein Verlust, kein Trauma, keine psychische Stçrung und auch kein anderer Mensch bis ins Letzte umfassend festlegen kann. Als Mensch ist er schon immer darber hinaus, als der er sich gerade hier und jetzt »festlebt«. Der Selbsterweis des Lebens ist eben das Leben selbst, welches sich selbst Zugang zu sich bis in seine letztliche Unbestimmbarkeit

198

Jann E. Schlimme

gewhrt. Und gerade aus dieser letztlichen Unbestimmbarkeit des Lebens kann Suizidalitt berwunden werden. Denn der Tod als ins Leben ragendes Phnomen ist nicht die ganze Wahrheit des Lebens, ist in seiner Bestimmtheit als Ende des irdischen, uns bekannten oder zumindest versicherbaren Lebens viel zu festgelegt, um sich als die Lebendigkeit des Lebens qualifizieren zu kçnnen. Streng genommen wrde uns eine solche Gleichsetzung auch absurd erscheinen, da sie uns den Tod als Sinn unseres Lebens zumuten wrde. »Diese innerste Entzogenheit des Menschen ist weit davon entfernt, ihn zu mindern oder zu beeintrchtigen, umgekehrt, sie macht die Lebendigkeit des Daseins aus, da es dieses nie im ruhigen Selbstbesitz sein lsst, sondern es immer umtreibt, damit es sein Selbst in der Stimmigkeit seiner Situationen und seiner Situationsfolge sucht und gewinnt, nicht hat « (Rombach, 1993, S. 281). Aber obwohl eine Vergewisserung des Phnomens Suizidalitt vom Menschen aufgrund seiner selbst gefordert ist, gehen wir im psychiatrischen Diskurs zu Recht davon aus, dass Suizidalitt eine lebensgefhrliche Verfassung ist, da der suizidale Mensch in seinem Tod seine letztverbliebene Rettung sieht. Denn auch wenn der Mensch dieser an ihn persçnlich gerichteten Aufforderung zur Selbstvergewisserung immer wieder auf den unterschiedlichsten Wegen – vom Anbeginn seiner Kultur – nachkommt, kann er die in der Suizidalitt eingelassene Paradoxie sein Leben lang niemals auflçsen. Sich selbst tçten wollen verbleibt im Leben in der Unentschiedenheit des verzweifelten Nicht-Selbst-sein-Wollens und des Wollens radikalen Nicht-Wollens.

Literatur Amry, J. (1976/1999). Hand an sich legen. Diskurs ber den Freitod. 10. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Alvarez, A. (1999). Der grausame Gott. Eine Studie ber den Selbstmord. Hamburg: Hoffmann und Campe. Baechler, J. (1981). Tod durch eigene Hand. Frankfurt a. M.: Ullstein.

Sich selbst tçten wollen

199

Carlson, G. A., Asarnow, J. R., Orbach, I. (1994). Developmental aspects of suicidal behavior in children and developmentally delayed adolescents. In G. G. Noam, S. Borst (Hrsg.), Children, youth, and suicide: developmental perspectives (S. 93–108). San Francisco: Jossey-Bass. Crosby, A. E., Cheltenham, M. P., Sacks, J. J. (2000). Incidence of suicidal ideation and behavior in the United States, 1994. Suicide and Life-Threatening Behavior, 30, 177–179. Dçbert, R., Nunner-Winkler, G. (1994). Commonsense understandings about suicide as a resource for coping with suicidal impulses. In G. G. Noam, S. Borst (Hrsg.), Children, youth, and suicide: developmental perspectives (S. 23–38). San Francisco: Jossey-Bass. Epiktet (1984). Unterredungen (11. Aufl.). Stuttgart: Alfred Krçner. Felber, W. (1999). Typologie des Paradsuizids. Regensburg: Roderer. Henry, M. (1992). Radikale Lebensphnomenologie. Freiburg: Alber. Henry, M. (2002). Inkarnation. Eine Phnomenologie des Fleisches. Freiburg: Alber. Kierkegaard, S. (1849/1992). Die Krankheit zum Tode (4. Aufl.). Gtersloh: Gtersloher Verlagshaus. Kuo, W. H., Gallo, J. J., Tien, AY. (2001). Incidence of suicidal ideation and attempts in adults: the 13-year follow-up of a community sample in Baltimore, Maryland: Psychological Medicine, 31, 1181–1191. Marion, J.-L. (2002). Being Given. Toward a Phenomenology of Givenness. Stanford: Stanford University Press. Menninger, K. (1978). Selbstzerstçrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Michel, K., Maltsberger, J. T., Jobes, D. A., Leenaars, A. A., Orbach, I., Stadler, K., Dey, P., Young, R. A., Valach, L. (2002). Discovering the truth in attempted suicide. American Journal of Psychotherapy, 56, 424–437. Nietzsche, F. (1994). Werke. 3 Bnde. Kçln: Kçnemann. Noam, G. G., Borst, S. (1994). Developing meaning, losing meaning. Understanding suicidal behaviour in the young. In G. G. Noam, S. Borst (Hrsg.), Children, youth, and suicide: developmental perspectives (S. 39–54). San Francisco: Jossey-Bass. Renberg, E. S. (2001). Self-reported-life-weariness, death-wishes, suicidal ideation, suicidal plans and suicide attempts in general population surveys in the north of Sweden 1986 and 1996. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 36, 429–436. Rombach, H. (1988). Strukturontologie. Eine Phnomenologie der Freiheit. Freiburg: Alber. Rombach, H. (1993). Strukturanthropologie. »Der menschliche Mensch« (2. Aufl.). Freiburg: Alber. Schlimme, J. E. (2002). Selbst und Transzendenz – Zur philosophischen Psychologie des Lichtens. In H. M. Emrich, J. E. Schlimme, W. Paetzold (Hrsg.), Psyche und Transzendenz (S. 135–147). Wrzburg: Kçnigshausen & Neumann. Schlimme, J. E. (2005). Zur Phnomenologie der Suizidalitt. Phnomenologische Forschungen, 30, 269–284.

200

Jann E. Schlimme

Schlimme, J. E. (2006). Das Wollen in der psychiatrischen Therapie. In M. Heinze, T. Fuchs, F. M. Reischies (Hrsg.), Willensfreiheit – eine Illusion? (S. 183–194). Berlin: Parodos und Lengerich: Pabst Science Publishers. Schlimme, J. E., Emrich, H. M. (2003). »Der Fall Franza«. Zur Innenperspektive der Suizidalitt. Handlung Kultur Interpretation, 12 (2), 301–316. Staudigl, M. (2003). Grenzen der Intentionalitt. Wrzburg: Kçnigshausen & Neumann. Theunissen, M. (1993). Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Weissman, M. M., Bland, R. C., Canino, G. J., Greenwald, S., Hwu, H.-G., Joyce, P. R., Karam, E. G., Lee, C.-K., Lellouch, J., Lepine, J.-P., Newman, S. C., RubioStipec, M., Wells, J. E., Wickramatne, P. J., Wittchen, H.-U., Yeh, E-K. (1999). Prevalence of suicide ideation and suizide attempts in nine countries. Psychological Medicine, 29, 9–17.

Register

Abwgen 35, 41 f. (Komparation), 162 f., 172, 197 f. Aggression, Autoaggression 20 ff., 114, 147 ff., 150 f. Allmachtsphantasie 72 ff. Ambivalenz 47, 111, 142, 181, 186 Anforderungen gesellschaftliche 113 moralische 30 f., 52 schulische 119 f. Angst 59 ff., 63 ff., 74 f., 103, 115, 181, 183 ff. Angststçrung 25 Anomie 98 ff., 103, 105 ff. Appell 60, 69 f. »Artikel 115« (Schweizer) StGB 171 Aufklrung, die 86 f., 93 ff. Ausweg, Ausweglosigkeit 59 f., 75 f., 114, 187 Autonomie 31, 35 ff., 81 f., 93, 101 ff., 133 f., 150, 161 f., 167 ff. Beihilfe zum Suizid 37 f., 62, 171 f. Beziehung positive, tragfhige 24 ff., 137, 141 ff. Unsicherheit der 27 virtuelle 141 ff., 145 Bilanz, Bilanzierung, Bilanzsuizid 39, 47, 133 Depression 25, 40, 71, 129, 151, 169 f. Determinismus 21 f., 161 ff. Diskurs 84 f., 197 psychiatrischer 153 f., 198 Du, Ich und Du 55

Einsamkeit 71, 182, 189 Entschluss, Kriterien der Rationalitt 35 f., 162 f. Erhaltung des Lebens, Lebenserhaltung 105, 114, 186 des Selbst, Selbsterhaltung 31, 86, 96 der sozialen Ordnung 81 f., 98 f. Erwgen, Erwgung 114, 140, 183, 186 Flucht 58, 63 f., 75, 111, 132 Freiheit, personale 34 ff., 52, 72 f., 90 ff., 161 ff., 193, 197f Freitod 62, 72, 195 Freund, Freundschaft 127 f., 139 f., 178 Frsorge, sichernde 24, 61 f., 156f Gemeinschaft 141 ff., 182 Gesetz, Naturgesetz 163 ff. Gesetz, soziales 88 ff., 99 ff., 106 Glcksspiel, Suizid als 185, 188 Gott 30 f., 77, 95 ff. Gottesgericht 197 Grenzsituation 50 f., 75 f., 193 Hilfe, therapeutische 26 ff., 52, 76 f., 152 ff., 171 ff., 188 ff., 197 ff. Hilferuf 119 Hoffnung, Hoffnungslosigkeit 22 f., 43 f., 60 f., 98, 167 Impulsivitt 22 f., 133 Innehalten 167, 172 Irrationalitt, irrational 46 f.

202 Jugend, Jugendliche 114 ff., 130 ff., 151 ff. Krankheit 17 f., 46 f. »philosophische« 180 psychische 27, 36, 167 ff. Suizid als Ausdruck von 18 Krankheit zum Tode 56 ff., 91 Krnkung, narzisstische 22 Krise 18 ff., 115 Krisenmodell, psychosoziales 21 ff. Leben, das 50 ff., 191 ff., 197 f. Unbestimmbarkeit des 197 Unertrglichkeit des (s. Verzweiflung) 47, 189 Lebenserhaltung, s. Erhaltung des Lebens Lebenssinn, Sinn des Lebens 32, 42 f., 45 ff., 73 f., 98, 131, 197 f. letzte Ausflucht/Lçsung 72, 114 letzte Mçglichkeit/Option 52, 59, 67, 72 letzte Rettung 186, 194 f. Liebe 72, 129 f., 178 literarisches Motiv, Suizid als 112 f. Mrtyrer 74 Moderne 33, 83 f., 111f. Motiv Suizidmotive 24 f., 58, 133 f., 168 ff., 183 ff. Nachahmungssuizid 145 f. Nichts 56 f., 64, 67, 95, 103 f., 161 f., 178 (Leere) Nicht-Wollen, radikales 196 f. Nomos, sozialer 81 f., 98 ff. Ohnmacht 74, 93 Opfer 19 f., 21 ff., 104 f., 148 Ordal 188

Register Paradoxie der Suizidalitt 101, 142, 186, 197 f. Passivitt 63, 187, 194 Person 35 ff., 191 Freiheit der Person, s. Freiheit Persçnlichkeitsstçrung 25, 170 Pflicht, moralische 31, 92 Phnomenologie 176, 191 prsuizidales Syndrom 114 protektive Faktoren 24 f. Psychopharmaka 24 Rationalitt 44f Reise nach Jerusalem, suizidale 197 Rettung, Tod/Suizid als 59, 185, 194f. Rckzug vom Vitalen 178 Schizophrenie 25, 175 ff. Schwachheit, kierkegaardsche 63 ff. Selbigkeit 191 ff. Selbstbestimmung, s. Autonomie Selbsterhaltung, s. Erhaltung des Selbst Selbstheit 54, 191f. Selbstmordattentter 19, 147 ff. Selbstrettung 58 ff. selbstverletzendes Verhalten 170 Sexualitt, Erwachen der ~ in der Pubertt 118 Sprung, qualitativer (Kierkegaard) 51 ff. Sterbehilfe 36 f., 83, 169 Sucht, Suchterkrankung 25, 168 f. Suizid, psychiatrische Definition 18 ff. Suizid, Formen des altruistischer 19 f., 74, 132 anomischer, s. Anomie egoistischer 131f erweiterter (s. Suizidpakt) 20 nietzscheanischer 100 nihilistischer 72 rationaler 46 f. virtueller (»Cybersuizid«) 156 Suizidforen 140 f., 151 ff. Suizidpakt 139 ff.

Register Suizidphantasien 21, 114, 186 Suizidprvention 24 ff., 47, 83 ff., 140 f., 197 f. Suizidverbot, kulturelles 87 ff. modernes 31 f., 83 ff. christliches 30 f., 85 f. Suizidwunsch, Sich-tçten-Wollen 194 ff. Tod als Gabe/Geschenk 95, 195 ff. als nicht Komparatives 42f als radikal Anderes 41, 44, 90 f., 93 ff., 106 f., 194 ff. als Rettung 194 f. als bel 41 ff. Unverfgbarkeit des Todes (Kontingenz) 90, 106 f., 194 Vergesellschaftung des Todes 83 ff., 102 Todesangst 102, 126 Todeswunsch 25, 35 ff., 145 Transzendenz 93 ff., 103 Trauma, psychosoziales 18, 59, 197 Trotz, kierkegaardscher 67 ff. Verabredung, zum Suizid 139 ff.

203 Verlust von Beziehungen 21 von Lebenssinn 44, 46 ff. der natrlichen Selbstverstndlichkeit 177 f. des Rettenden 195 f. Verurteilung des Suizids, moralische 18 ff., 32 f., 82 Verzweiflung 45 f., 56 ff., 194 ff. Werther, Werther-Effekt 112, 145 f., 152 Wette auf die Zukunft 47 Wille, Wollen, Grundwollen 192 f. des Lebens 196 verzweifelt-man-selbst-sein-wollen 67 ff. verzweifelt-nicht-man-selbst-seinwollen 63 ff., 194 f. Willensfreiheit, Kriterien der 160 ff. Zufall 185, 187 ff. Zukunft Ungewissheit der 47 Offenheit/Verschlossenheit 162, 169 ff. Zwang, Zwnge 35, 47, 167 Zwangsmaßnahmen, zur Suizidverhinderung 38, 103, 153 ff.

Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. phil. Jçrn Ahrens, geb. 1967, ist Privatdozent am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universitt zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Moderne Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie, Fragen der Gewalt, des Films, des Mythos und der Biowissenschaften. E-Mail: [email protected] Almut Furchert, Dipl.-Psych., geb. 1975, promoviert zum Leidensbegriff Kierkegaards an der Mnchener Hochschule fr Philosophie und arbeitet in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Existenzdenken und Psychotherapie, Traumatherapie. E-Mail: [email protected] Dr. med. Bernhard Kchenhoff, geb. 1949, Facharzt fr Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, ist Leitender Arzt an der Psychiatrischen Universittsklinik in Zrich. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Psychiatrie, Psychiatrie und Philosophie, Ethnopsychiatrie, Angehçrigenarbeit (insbes. Kinder psychisch kranker Eltern). E-Mail: [email protected] Dr. phil. M. E. S. Gerit Langenberg-Pelzer, geb. 1962, ist Lehrerin fr Deutsch, Philosophie und Sozialwissenschaften am Mdchengymnasium Jlich. Arbeitsschwerpunkte: Fachdidaktik der deutschen Literatur und Sprache, Fragen des Wissenstransfers von universitrem Wissen in den Schulunterricht mit dem Schwerpunkt deutsch-jdische Literatur. E-Mail: [email protected] PD Dr. med. Jann E. Schlimme, M.A., geb. 1971, Facharzt fr Psychiatrie und Psychotherapie, ist Oberarzt an der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Psyche sowie philosophische Grundlagen der Psychiatrie, Phnomenologie und Anthropologie psychischer Stçrungen (v. a. Sucht, Suizidalitt, Wahn). E-Mail: [email protected] PD Dr. phil. Thomas Schramme, geb. 1969, ist Senior Lecturer am Centre for Philosophy, Humanities and Law in Health Care der University of Wales in Swansea. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Medizinphilosophie und Bioethik, politische Philosophie. E-Mail: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren

205

Dr. med. Borut kodlar, geb. 1969, Facharzt fr Psychiatrie, ist Oberarzt an der Abteilung Psychiatrie der Universitt von Ljubljana. Arbeitsschwerpunkte: Psychopathologie, Phnomenologie sowie Psychotherapie psychotischer Stçrungen, Fragen der Suizidalitt und Krisenintervention. E-Mail: [email protected] Dr. med. Bert Theodor te Wildt, geb. 1969, Facharzt fr Psychiatrie und Psychotherapie, ist Oberarzt an der Abteilung fr Klinische Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, psychische Implikationen der Nutzung interaktiver Medien, Fragen der »Medienabhngigkeit« und der Wirkungen von Gewaltdarstellungen in interaktiven Medien auf die Empathiefhigkeit. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Dr. h. c. Manfred Wolfersdorf, geb. 1948, Facharzt fr Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, ist rztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth und Chefarzt der dortigen Klinik fr Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Arbeitsschwerpunkte: Depression, Suizid, Klinische Psychophysiologie, Psychopharmakotherapie, chronisch psychisch Kranke, Versorgungsforschung und Krankenhausentwicklung. E-Mail: [email protected]

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Jürgen Kind Suizidal Die Psychoökonomie einer Suche

Äußerungen von Selbsttötungstendenzen sollen nicht als Zeichen eines Zusammenbruchs verstanden werden, sie sind vielmehr äußerste psychische Leistungen. Zwei wesentliche Funktionen hat Suizidalität: Objektsicherung und Objektänderung. Jürgen Kind erschließt auf dem Hintergrund jahrelanger Erfahrung in der Psychotherapie suizidaler Patienten ein neues, umfassendes Verständnis der Botschaft ihres Verhaltens. So wird eine Arbeitsbeziehung möglich, in der suizidale Tendenzen zurückfinden zur Kommunikation. „Kind gibt eine klare, theoretisch unprätentiöse, aber klinisch gehaltvolle Darstellung verschiedener Formen der Suizidalität.“ Psyche „Die Arbeit von Jürgen Kind ist – mit den Therapieauszügen – weit anschaulicher, als es diese Rezension sein kann. Es gibt keinen wichtigen Begriff, mit dem kein szenisches Beispiel korrespondiert. In ihrer Art, nicht zuletzt auch therapeutische Sackgassen zu benennen, kann sie jeder/jedem therapeutisch Arbeitenden nur empfohlen werden.“ Pflegezeitschrift

Thomas Haenel Suizid und Zweierbeziehung Wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, erschüttert das Angehörige und Freunde. Begehen zwei Menschen in gemeinsamer Entschiedenheit Suizid, ist die Fassungslosigkeit noch größer, und weitaus mehr Fragen verlangen nach Antwort. Thomas Haenel beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit dieser speziellen suizidalen Psychodynamik und legt nun einen Forschungsüberblick vor. Anhand zahlreicher historischer, prominenter wie auch namenloser Beispiele zeigt er die psychische Entwicklung auf, die zu diesem Schritt jeweils geführt haben mag. Die Konstellationen der am Suizid Beteiligten sind vielfältig: Ehepaare, eine Zufallsbekanntschaft, Zwillinge oder – beim erweiterten Suizid – die immer wieder in den Schlagzeilen zu findende Tötung des Partners oder der ganzen Familie mit anschließender Selbsttötung. Auch die komplizierte Beziehung zwischen dem Arzt oder Psychotherapeuten und seinem suizidgefährdeten Patienten wird erörtert, wobei die hohe Suizidrate ausgerechnet unter den Ärzten selbst eingehende Berücksichtigung findet. Präventive und therapeutische Aspekte beschließen den Band.

-

Hamburger Beiträge zur Psychotherapie der Suizidalität 5: Ines Kappert / Benigna Gerisch / Georg Fiedler (Hg.)

Ein Denken, das zum Sterben führt Selbsttötung – das Tabu und seine Brüche

Schwere Traumatisierungen führen bei den Betroffenen unter Umständen dauerhaft zu suizidalen Neigungen oder anderen selbstzerstörerischen Verhaltensweisen.

2004. 200 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45903-4

2: Paul Götze / Monika Richter (Hg.)

Diese Anthologie führt die Vielgestaltigkeit des Freitod-Phänomens und seine aufrüttelnde Wirkmächtigkeit vor Augen.

Verstehen von suizidalem Erleben und Verhalten

4: Benigna Gerisch / Ilan Gans (Hg.)

So liegt die Zukunft in Finsternis Suizidalität in der psychoanalytischen Behandlung 2003. 162 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45902-7

Klinische und theoretische Aspekte zur entwicklungsspezifischen und zur unbewussten Suizidalität, zum erweiterten Suizid sowie zur Suizidalität bei Persönlichkeitsstörungen.

3: Benigna Gerisch / Ilan Gans (Hg.)

Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt Autodestruktivität und chronische Suizidalität 2001. 148 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45901-0

Aber mein Inneres überlaßt mir selbst 2000. 172 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45900-3

Das Verstehen suizidalen Erlebens und Verhaltens erfordert eine Auseinandersetzung mit der ganzen Bandbreite der Suizidalität. In diesem Band werden bisher eher vernachlässigte Themen der Therapie und Forschung ins Zentrum gestellt.

1: G. Fiedler / Reinhard Lindner (Hg.)

So hab ich doch was in mir, das Gefahr bringt Perspektiven suizidalen Erlebens 1999. 190 Seiten mit 4 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45837-2

Der Band enthält ein breites Spektrum zum Thema Suizidalität mit dem gemeinsamen Nenner der Verständnissuche und Hilfe durch Psychotherapie.

Suizidprävention Elmar Etzersdorfer / Georg Fiedler / Michael Witte (Hg.)

Regula Freytag / Thomas Giernalczyk (Hg.)

Neue Medien und Suizidalität

Geschlecht und Suizidalität

Gefahren und Interventionsmöglichkeiten

2001. 165 Seiten mit 20 Abb., und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45888-4

Unter Mitarb. von Jürgen Schramm und Jürgen Kratzenstein. 2003. 294 Seiten mit 12 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46175-4

Die Suizidprävention sieht sich mit völlig neuen Kommunikationsmöglichkeiten konfrontiert, die eine kritische Diskussion und eine Anpassung der Beratungskonzepte erforderlich machen.

Christian Braune Feuerzeichen Warum Menschen sich anzünden 2005. 159 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46224-9

Dieses Grundlagenwerk für die Behandlung von Menschen, die sich selbst anzünden, zeigt die sich dahinter verbergende Psychodynamik, bietet ein Therapiekonzept für die Behandlung und die Nachsorge an und hilft Angehörigen durch profunde Information.

In der Suizidalität sind Unterschiede zwischen Männern und Frauen auszumachen, die insbesondere in der Suizidprävention Berücksichtigung finden müssen.

Thomas Giernalczyk / Regula Freytag (Hg.)

Qualitätsmanagement von Krisenintervention und Suizidprävention 1998. 257 Seiten mit 8 Abb., 16 Tab. und 2 Übersichten, kartoniert ISBN 978-3-525-45814-3

Möglichkeiten und Grenzen der Qualitätssicherung in psychosozialen und medizinischen Einrichtungen. Im Anhang des Buches finden sich die kompletten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zur Organisation von Krisenintervention mit ihren vielfältigen Anregungen für die Praxis.