Europa - Krisen, Vergewisserungen, Visionen: Interdisziplinäre Annäherungen 9783839448458

Wenn das Konzept »Europa« derzeit grundlegende Fragen aufwirft, dann liegt darin zugleich auch die Chance, es neu zu dis

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Europa - Krisen, Vergewisserungen, Visionen: Interdisziplinäre Annäherungen
 9783839448458

Table of contents :
Inhalt
Forum K’Universale Eichstätt – Idee und Programm
Krisen, Vergewisserungen, Visionen: Einführende Überlegungen zu Europa
Europa am Wendepunkt: Brexit, Nationalisierung und wie wir die offene Gesellschaft verteidigen
Die Rolle der EU in einer unsicheren Welt
Umkehr und Erneuerung
Setzt Europa seine Grundwerte aufs Spiel?
Jüdisch-Christliche Grundlagen Europas
Die letzten Europäer: Eine jüdische Perspektive
Euro-Islam: Der (Un-)Sinn eines Begriffs
Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einem Diskurs
„This European world of ours“? Perspektiven auf Europa in der englischen Literatur
Europäische Träume: Überlegungen zu Europanarrativen der Moderne
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dank
Herausgeberin und Herausgeber der Reihe Forum K’Universale Eichstätt

Citation preview

Martin Kirschner, Richard Nate (Hg.) Europa – Krisen, Vergewisserungen, Visionen

K'Universale – Interdisziplinäre Diskurse zu Fragen der Zeit | Band 8

Martin Kirschner, geb. 1974, hat die Heisenberg-Professur der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne. Er baut ein Zentrum »Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel« auf, das in interdisziplinärer Forschung die religiöse Dimension gesellschaftlicher Wandlungsprozesse untersucht. Richard Nate, geb. 1959, ist Lehrstuhlinhaber für Englische Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und leitet den dortigen Bachelor- und Masterstudiengang »Europastudien: Sprache, Literatur, Kultur«.

Martin Kirschner, Richard Nate (Hg.)

Europa – Krisen, Vergewisserungen, Visionen Interdisziplinäre Annäherungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Verena Lauerer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4845-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4845-8 https://doi.org/10.14361/9783839448458 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Forum K’Universale Eichstätt – Idee und Programm | 7 Krisen, Vergewisserungen, Visionen: Einführende Überlegungen zu Europa

Martin Kirschner | 9 Europa am Wendepunkt: Brexit, Nationalisierung und wie wir die offene Gesellschaft verteidigen

Martin Schulz | 33 Die Rolle der EU in einer unsicheren Welt. Ein souveränes Europa, das den Multilateralismus stärkt?

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet | 45 Umkehr und Erneuerung. Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“ für Europa

Regina Polak | 67 Setzt Europa seine Grundwerte aufs Spiel?

Otfried Höffe | 87 Jüdisch-Christliche Grundlagen Europas

Wolfgang Huber | 103 Die letzten Europäer: Eine jüdische Perspektive

Natan Sznaider | 117 Euro-Islam: Der (Un-)Sinn eines Begriffs

Mahmoud Abdallah | 137 Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einem Diskurs

Leonid Luks | 161

„This European world of ours“? Perspektiven auf Europa in der englischen Literatur

Bea Klüsener | 183 Europäische Träume: Überlegungen zu Europanarrativen der Moderne

Richard Nate | 205 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 227 Dank | 229 Herausgeberin und Herausgeber der Reihe | 230

Forum K’Universale Eichstätt – Idee und Programm

Wissenschaftlichkeit und Bildung: Beide gehören im Ideal universitären Studiums zusammen, beide fallen im faktischen Alltag von Universität aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung in Einzelwissenschaften jedoch oft genug auseinander. Damit universitäre Allgemeinbildung kein lediglich an akademischen Feiertagen bemühtes Wort bleibt, hat sich an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eine Gruppe von Professorinnen und Professoren gebildet, um dauerhaft ein Programm der Begegnung von Wissenschaftlichkeit und Bildung einzurichten. Eine solche Idee steht einer Katholischen Universität, die – dem Wortsinn „katholisch“ folgend – auf das Ganze und Allgemeine ausgerichtet sein muss, um ihrem Auftrag gerecht zu werden, gut an. Das Forum K’Universale Eichstätt besteht aus einer interdisziplinären Ringvorlesung und diese begleitenden fachspezifischen Seminaren. Es erstreckt sich über jeweils zwei Semester, die unter einem Leitthema stehen. Ziel des Forums ist es, aktuelle Fragen der Zeit aufzuspüren und aus der Perspektive verschiedener Fachdisziplinen zu durchdenken – und zwar so, dass die kritische Auseinandersetzung damit nicht nur einen Mehrwert an Wissen und Wissenschaftlichkeit, sondern auch an universitärer Bildung ermöglicht. Mit dem vorliegenden achten Band wechselt die Reihe zum transcriptVerlag. Wir möchten damit den kulturwissenschaftlichen Charakter der Reihe unterstreichen und eine breitere Leserschaft ansprechen. Wir danken dem EOSVerlag für die gute Zusammenarbeit und dem transcript-Verlag für die Bereitschaft, die Reihe in sein Programm zu übernehmen.

Krisen, Vergewisserungen, Visionen: Einführende Überlegungen zu Europa Martin Kirschner

Der Name „Europa“ wird leicht und mit großer Selbstverständlichkeit in den Mund genommen, um eine geschichtliche, kulturelle, geografische und oft auch normative Identität zu markieren oder anzurufen. Schaut man näher hin, geht diese Selbstverständlichkeit schnell verloren. Es erweist sich, dass die Wirklichkeit, auf die sich die Rede von Europa bezieht, so vielschichtig und komplex ist, dass sie immer wieder neu, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, konstruiert und dekonstruiert werden muss. Und möglicherweise ist schon dieser Vorgang selbst typisch für Europa, ist Teil einer kritischen Reflexivität, welche die europäischen Wege der Aufklärung mit hervorgebracht haben. Einfache Identitätsbehauptungen werden problematisch, doch zugleich bergen Pluralismus und ständige Selbstkritik die Versuchung, zu einfachen Antworten Zuflucht zu nehmen. So haben identitäre Strategien Zulauf, die nach innen ein homogenes „Wir“ konstruieren, die Idee „Europa“ für sich reklamieren und durch Abgrenzung nach Außen und Ausgrenzung des Fremden im Innern durchzusetzen suchen. Europa scheint eine strukturelle Überforderung zu beinhalten: als geografischer, geschichtlicher und kultureller Raum, als ein komplexes politisches Mehrebenensystem, aber auch als Thema einer Vorlesungsreihe.1 Die vielschich1

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die im Wintersemester 2018/19 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt abgehalten wurde. Wir danken allen, die ihre Beiträge für die Publikation ausgearbeitet haben, sowie Natan Sznaider, dessen Essay nachträglich eingeworben werden konnte. Der Tradition der Reihe Forum K’Universale folgend, steht am Beginn der Beitrag eines namhaften Politikers, in diesem Fall des langjährigen europäischen Parlamentspräsi-

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tigen Krisen Europas hängen mit dieser Komplexität zusammen – und sie erfordern ihrerseits eine komplexe Antwort, eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen, um einen Raum zu eröffnen, in dem Perspektiven für eine Erneuerung Europas entwickelt werden können. Solche Visionen liegen nicht einfach vor – dafür ist die Situation zu unübersichtlich und Europa zu gespalten. Dieser einleitende Aufsatz stellt sich dieser Aufgabe, indem er systematische Linien, Fragestellungen und Kriterien zu entwickeln sucht, anhand derer die Themen strukturiert und in einen Zusammenhang gestellt werden können.2 Diese werden im Weiteren aus unterschiedlichen Perspektiven, Disziplinen und Positionierungen heraus entfaltet. Die Einleitung kann und möchte hier keine Synthese herstellen, sondern an vier Aspekten Zusammenhänge zwischen den Beiträgen aufzeigen. Ausgehend von der politischen Bedeutung der europäischen Integration (1) frage ich nach der „Seele Europas“ (2), nach den Grenzen Europas (3) und nach der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie (4). Es folgt eine Hinführung zu den Beiträgen (5). Die Spannung von Krise, reflexiver Vergewisserung und Suche nach leitenden Visionen wird die Überlegungen leiten. Indem diese thetisch formuliert Stellung beziehen, wollen sie die Leser/-innen zur eigenen Auseinandersetzung mit der Fragestellung anregen, welche die weitere Lektüre der Beiträge begleiten kann.

denten Martin Schulz. Die Beiträge der Herausgeber greifen Themen aus den Diskussionen auf und zeichnen Verbindungslinien zwischen den Aufsätzen: Die Einleitung von Martin Kirschner verbindet die Hinführung zum Thema und zu den Beiträgen mit systematischen Überlegungen in politischer und theologischer Perspektive. Der abschließende Aufsatz von Richard Nate zeichnet exemplarische Narrative über Europa seit der Aufklärung nach und führt so an die politische Bedeutung kultureller Konstruktionen Europas heran. 2

Im Hintergrund stehen meine Arbeiten im Schnittfeld von katholischer Theologie und politischer Theorie, die mit dem Aufbau eines internationalen Netzwerks zu einer „Performativen Politischen Theologie für Europa“ verbunden sind. Vgl. hierzu https://www.ku.de/thf/transformationsprozesse/ sowie: Kirschner, Martin: Die öffentliche Aufgabe der Theologie in der Krise Europas: Überlegungen im Anschluss an Papst Franziskus. In: Kirschner, Martin / Ruhstorfer, Karlheinz (Hg.): Die gegenwärtige Krise Europas. Theologische Antwortversuche, Freiburg 2018 (Quaestiones disputatae, 291), 29–66.

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1. IM KONTEXT DER GLOBALISIERUNG DAS POLITISCHE NEU ORGANISIEREN Angesichts gegenwärtiger globaler Problemlagen 3 ist ein koordiniertes und differenziertes Handeln auf unterschiedlichen politischen Ebenen notwendig. Globalisierung, technischer Fortschritt, sich rasant wandelnde Kommunikationsformen und Digitalisierung haben nicht nur zu einer engen Verflechtung der Volkswirtschaften und zu einer enormen Ausdehnung menschlicher Handlungsmöglichkeiten geführt, sondern zugleich zu einer zunehmend ungleichen Verteilung von Macht und Lebenschancen, von der einige private Akteure und transnational agierende Gruppen profitieren, während andere sozial ausgegrenzt werden. Dies führt nicht nur zu umfassenden Migrationsbewegungen, sondern geht mit einer

3

Die Krisenszenarien, ihre Interdependenz und wechselseitige Verschärfung können hier nicht im Einzelnen entfaltet werden. Sie bestimmen seit Jahren die mediale Diskussion. Bezogen auf die Europäische Union kann man von einem Kippen des Vertiefungs- und Erweiterungsoptimismus in eine vielschichtige, existenzbedrohende „Polykrise“ (Jean-Claude Juncker) sprechen, das sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vollzogen und im zweiten Jahrzehnt zu einem Regieren im Notfallmodus und zum Erstarken nationaler, illiberaler, europakritischer und populistischer Kräfte geführt hat. Als zentrale Faktoren ließen sich nennen: die Bedrohung durch den transnationalen Terrorismus und die Gefährdung rechtsstaatlicher Standards im nachfolgenden Kampf gegen den Terror; die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden (2005); die Finanzkrise 2007/8 und die nachfolgende Staatsschuldenkrise insbesondere in den Mittelmeerländern; die hieraus folgenden Auseinandersetzungen um den Euro und die sogenannte Austeritätspolitik bis hin zu den Diskussionen um einen „Grexit“; die Zuspitzung der Flüchtlingsbewegung und das Scheitern der Flüchtlingspolitik der EU sowie die hiermit verbundenen Polarisierungen; das Scheitern der Nachbarschaftspolitik der EU mit den konfrontativen Strategiewechseln in der russischen und türkischen Politik, dem Scheitern des arabischen Frühlings und der Eskalation der Konflikte in der Ukraine, in Syrien, Libyen und weiteren Ländern des Nahen Ostens und Afrikas; das Brexit-Referendum, die anschließenden Verhandlungen und Verwerfungen; die Konflikte um Grundprinzipien rechtsstaatlicher Demokratie besonders mit Ungarn und Polen. Die sich in den letzten Jahren zuspitzende ökologische Krise dürfte dabei die umfassendste globale Bedrohung darstellen, welche die Wirtschafts- und Lebensweise seit der Industriellen Revolution infrage stellt und sich als „Threat-multiplier“ erweist, der alle anderen Konflikte verschärft und zugleich ein rasches, global koordiniertes politisches Handeln erfordert.

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Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen auf dem Planeten einher, die auf einen nahen Kollaps zuzusteuern scheint. Angesichts dieser Herausforderungen und Gefährdungen erscheint die politische Integration Europas mit der Europäischen Union als ihrem Kernstück notwendig, um unter den Bedingungen der Globalisierung, der ökonomischen und technologischen Entwicklung und der sozio-ökologischen Krise handlungsfähig zu bleiben. Schließlich deuten die wachsende Bedeutung nichtstaatlicher Akteure (transnationale Konzerne, Oligarchen und mächtige Einzelpersonen, transnationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität, NGOs, aber auch Flüchtlinge und Migranten) sowie konkurrierender Hegemonial- und Regionalmächte (USA, China, Russland, Indien, Brasilien; regional: Türkei, Iran, Saudi-Arabien) an, dass keines der europäischen Länder alleine in der Lage ist, erfolgreich politische Weichenstellungen durchzusetzen und handlungsfähig zu bleiben. Ebenso wenig kann die Lösung darin liegen, dem Reigen konkurrierender Regionalmächte mit Europa lediglich eine weitere hinzuzufügen, vielmehr wäre Europa als Modell eines anderen – auf Verhandlungen, Kooperation und Recht basierenden – Politikstils zu profilieren. Die in weiten Teilen der Welt zu beobachtende Renationalisierung der Politik inszeniert zwar Kontroll- und Handlungsfähigkeit, setzt damit allerdings lediglich Eigeninteressen zu Lasten anderer durch, was sich langfristig im Blick auf den Gesamtnutzen – und erst recht auf das Gemeinwohl und die „Gemeingüter“ – als zerstörerisch erweisen kann. Die gegenwärtige Situation verlangt vielmehr danach, das Politische grundlegend neu zu denken und zu organisieren – und hierfür bietet Europa (aus geschichtlichen, kulturellen wie geografischen Gründen) ein „Laboratorium“, in dem Modelle einer differenzierten und koordinierten Organisation des Politischen entwickelt wurden und ständig weiterentwickelt werden können. Zugleich ist die EU aber auch Motor der Ökonomisierung und Bürokratisierung des Politischen. Das grundsätzliche Ja zur europäischen Integration muss sich daher mit einer konkreten Kritik des faktischen politischen Systems der Europäischen Union verbinden, um Möglichkeiten „guter politischer Selbstregierung“ jenseits des Nationalstaats zu entwickeln. In den großen Debatten, die derzeit um Europa geführt werden, zeichnen sich zweierlei Reaktionen auf Schwierigkeiten im bisherigen europäischen Integrationsprozess ab: Einerseits wird eine Renationalisierung der Politik im Zeichen einer nationalstaatlichen Souveränität angestrebt – im Brexit und seinem Slogan „Take back control“, im Erstarken europakritischer Parteien und Bewegungen, ihrem Einfluss in Österreich und Italien, in der national und „postliberal“ ausgerichteten Regierungspolitik Ungarns und Polens. Auf der anderen Seite stehen Initiativen zu einer grundlegenden Erneuerung Europas. So fordert der französi-

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sche Staatspräsident Macron mit programmatischen Reden4 eine Neugründung der EU unter dem Vorzeichen einer „europäischen Souveränität“; von Kommissionspräsident Juncker wurde dies in seiner Rede zur Lage Europas 2018 aufgegriffen.5 Geht es beiden Seiten um die Gewinnung größerer Handlungsfähigkeit, wurde diese Suche von deutscher Seite mit einem entschiedenen Plädoyer für Multilateralismus verbunden.6 Gegenüber der Betonung nationaler Souveränität und Kontrolle steht hier das Bild eines Europas, dessen Souveränität zwar aus souveränen Mitgliedsstaaten erwächst, jedoch auf die Einbindung in multilaterale Verhandlungssysteme zielt. Souveränität schließt in solcher Sicht auch einen freiwilligen, aber dauerhaften Souveränitätsverzicht ein – etwa, wenn dadurch eine koordinierte gemeinsame Handlungsfähigkeit gewonnen wird, um die großen kontinentalen wie globalen Probleme zu bearbeiten. So wird es nicht um eine Verlagerung politischer Souveränität auf die Ebene der EU, sondern um ihre Transformation hin zu gestuften Formen des Regierens, der demokratischen Partizipation und der rechtsstaatlichen Kontrolle gehen, um im Kontext der Globalisierung politische Handlungsfähigkeit und Legitimation wiederzuerlangen.7 Dieses Ringen um Handlungsfähigkeit und um eine gestufte Ordnung des Politischen spiegelt sich auch in den Beiträgen dieses Bandes. Der Beitrag von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet zeichnet die Bemühungen und Schwierigkeiten der EU im Kontext der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach, angesichts des Umbruchs der Weltordnung handlungsfähig zu bleiben. Das Selbstverständnis der EU als zivile, normativ ausgerichtete Friedensmacht wurde an4

Insbesondere die Rede an der Sorbonne vom 26.09.2017, vgl. https://de.ambafrance. org/Initiative-fur-Europa-Die-Rede-von-Staatsprasident-Macron-im-Wortlaut;

vgl.

dazu: Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Zukunftsdebatten in der EU. Großer Wurf oder kleinteilige Reformvorschläge? In: APuZ 69 (2019), 19–25. 5

Vgl.

https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-speech_de.

pdf, insbesondere 5. 6

Vgl. die Zitate von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Maas im Beitrag von Müller-Brandeck-Bocquet.

7

Auch an der Schwelle von politischer Wissenschaft und öffentlicher Debatte gibt es Anstöße, Europa grundlegend neu zu denken, so etwa die Publikationen und Initiativen von Ulrike Guérot, die gegen Nationalstaaten und für eine „europäische Republik“ wirbt: vgl. https://www.ulrike-guerot.eu/meine-arbeit.html und das von ihr gegründete European Democracy Lab www.eudemlab.org. Als Gegenprogramm lässt sich die Pariser Erklärung einiger europäischer Intellektueller 2017 lesen, die im Namen republikanischer Selbstregierung für ein Europa der Vaterländer wirbt und sich scharf gegen die „Fantasterei einer multikulturellen Welt ohne Grenzen“ wendet (Nr. 36), vgl. https://thetrueeurope.eu/die-pariser-erklarung/.

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gesichts der komplexeren Bedrohungslage und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs ausgeweitet zum Bild einer „transformativen Macht“ und einer neuen „Globalen Strategie“, die auf eine Erhöhung der „Resilienz“ zielt.8 Ob und wie sich der normative Anspruch der EU realpolitisch einlösen lässt, wird hinsichtlich der verschlechterten Beziehungen zu Russland (Ukrainekrieg und Annexion der Krim) sowie einer neuen weltpolitischen Positionierung der USA, die Bestrebungen nach größerer militärischer Eigenständigkeit hervorrufen, noch zweifelhafter als bisher. In zwei Feldern scheint die doppelte Herausforderung realpolitischer Handlungsfähigkeit und normativer Glaubwürdigkeit der EU bislang gescheitert zu sein. Hierzu gehören das Versäumnis, Russland in den 1990erJahren in den europäischen Integrationsprozess einzubinden 9, sowie eine Flüchtlings-, Migrations- und Grenzpolitik, die sowohl im Blick auf ihren humanitären Anspruch als auch bezüglich der Rechts- und Grenzsicherheit und der innereuropäischen Kooperation und Lastenteilung eine äußerst negative Bilanz aufweist.10 Regina Polaks Beitrag macht deutlich, dass die Wahrnehmung von und der Umgang mit Flüchtlingen und Migranten in prekären Verhältnissen eine theologische und spirituelle Dimension hat. Untersucht man die biblischen Quellen der „jüdisch-christlichen Wurzeln Europas“, so zeigt sich, dass ihr Gotteszeugnis von der Abrahamstradition über den Exodus bis zur Erfahrung des Exils, der ungesicherten Lebensform Jesu und seiner engsten Jünger/-innen wesentlich von Situationen der Flucht und Migration, der Diaspora und des Exils geprägt ist. Der normative Anspruch der EU bedeutet auch, dass die politische Integration Europas nur dann legitim und akzeptabel ist, wenn es gelingt, die Verankerung des Politischen in partikularen Bezügen und Gemeinschaften mit dem universalen Anspruch der Menschenrechte und der globalen Reichweite politischer Verantwortung zu vermitteln. Diese Spannung von Partikularität und Universali8

Vgl. https://eeas.europa.eu/topics/eu-global-strategy_en; zu einer Analyse der ethischen Aspekte der Außen- und Sicherheitspolitik der EU vgl. Merkl, Alexander / Koch, Bernhard (Hg.): Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, Münster 2018 (Studien zur Friedensethik, 63).

9

Hierauf hat Leonid Luks in den Diskussionen im Anschluss seines Vortrags hingewiesen.

10 Vgl. García Agustín, Óscar / Jørgensen, Martin Bak: Solidarity and the ,refugee crisis‘ in Europe, Cham 2019, bes. 1–22; zur aktuellen Situation weltweit vgl. den UNHCR-Bericht 2018: https://www.unhcr.org/5d08d7ee7.pdf ; zur Situation in Europa: https://www.unhcr.org/europe-emergency.html;

eine

knappe

Bilanz

der

EU-

Flüchtlingspolitik seit 2015 mit weiterführenden Links bietet die Bundeszentrale für Politische Bildung: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/290977/ europaeische-asyl-und-fluechtlingspolitik-seit-2015?p=all.

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tät prägt Europa bereits, wenn es seine spezifisch europäische Identität über den Verweis auf die Menschenrechte und die Aufklärung definiert, die universale Geltung beanspruchen. Nach dieser Vision ist Europa Anwältin von Prinzipien, die für alle Menschen gelten und deshalb in der europäischen Verfassung, im Recht und im politischen Handeln exemplarisch realisiert werden sollen. Als Selbstverpflichtung macht dies die Rechtsordnung, die politischen Strukturen und das konkrete politische Handeln kritisierbar und weist die Richtung für Reformen der EU. Wird der Bezug auf die Menschenrechte dagegen zur Legitimation der bestehenden Ordnung oder der faktischen Politik der EU genutzt, so wird die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit – etwa in der Flüchtlingspolitik oder auch in der Agrar- und Handelspolitik im Verhältnis zu Ländern des globalen Südens – nur umso schärfer sichtbar. Deutlich wird die Spannung zwischen Partikularem und Universalem auch im Verhältnis Europas zu Religion und Glauben. So wurden – innerhalb Europas wie im Verhältnis zu den Kulturen der von Europa kolonisierten Völker – im Namen von Vernunft, Aufklärung und Fortschritt immer wieder universale Geltungsansprüche erhoben, ohne sich der Partikularität der eigenen Position und der mit ihr verbundenen Gewalt bewusst zu sein. Umgekehrt kann die Verteidigung des Partikularen in die Ablehnung von Vernunft und Aufklärung und Identitätspolitiken umschlagen – sei es im politischen Islam, in Osteuropa oder in fundamentalistischen und populistischen Bewegungen im Westen. Natan Sznaiders Aufsatz zeigt auf, wie das (Exil-)Judentum in besonderer Weise die eigene Partikularität als Religionsgemeinschaft, Kultur und Volk unter Völkern mit der Universalität Gottes und einem universalen ethischen Anspruch verbindet. Hier findet sich ein Kontrast zu Konstruktionen nationaler Identität, zu christlichen Überlegenheitsansprüchen wie auch zum aufklärerischen Pathos einer universalen Vernunft, die letztlich Assimilation fordern. Das Judentum wurde und wird so immer wieder zum irritierenden Anderen im Eigenen, das zur Projektionsfläche für Angst, Ausgrenzung und Hass wird. Aus protestantischer Sicht formuliert Wolfgang Huber ein Verständnis im Glauben selbst begründeter Toleranz, das diese Mechanismen unterläuft. Mahmoud Abdallah zeichnet das Ringen muslimischer Intellektueller um einen europäischen Islam nach und entwirft seinen eigenen Ansatz einer muslimischen Theologie des Zusammenlebens. Angesichts der derzeitigen Gefährdungen europäischer Demokratie betonen Otfried Höffe11 wie Martin Schulz – trotz unterschiedlicher Positionierungen – 11 Im Kontext der Globalisierung optiert Otfried Höffe schon seit Jahren für eine subsidiäre Ordnung des Politischen, in der lokale, regionale, nationale, europäische und global-kosmopolitische Identifikationen und Bindungen einander komplementär zugeordnet werden. Vgl. Höffe, Otfried: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger.

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die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips: Entscheidungen sollen möglichst bürgernah und unter Beteiligung der Betroffenen getroffen werden, während höhere Ebenen subsidiär tätig werden, wenn die unteren Ebenen überfordert sind oder eine umfassende Regulierung notwendig ist.12 Es geht also um die Stärkung kleiner Einheiten, welche der Hilfe seitens größerer Einheiten nur bedürfen, wo dies notwendig ist. Einerseits vermittelt das Subsidiaritätsprinzip so auf persönlicher wie institutioneller Ebene zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, andererseits erfordert es ein politisch-rechtliches Institutionengefüge und eine Kompetenzordnung, die vom Kommunalen über die Regionen, die Nationalstaaten, transnationale oder kontinentale Zusammenschlüsse bis zur UNO gestuft ist. Dies verlangt ein je neues Aushandeln, was auf welcher Ebene zu regeln ist; an die Stelle eines Zentralismus oder einer festgeschriebenen Hierarchisierung tritt eine komplexe Form vertikaler und horizontaler Kooperation. Die EU könnte ein Modell hierfür sein: Im Zueinander von Regionen, Nationalstaaten und europäischen Institutionen, im Zulassen unterschiedlicher Integrationsdichten innerhalb der EU, in einer Nachbarschaftspolitik, die Osteuropa und Russland, dem Balkan und der Türkei, dem Mittelmeerraum und den ehemaligen Kolonien Formen der vertraglichen Anbindung und „privilegierten Partnerschaft“ ermöglicht. Auch wenn die EU-Politik der letzten Jahre hier weitgehend gescheitert ist, stellt die EU in ihrer Zwitterstellung zwischen internationalem Staatenbund, supranationalem Bundesstaat und einem transnationalen politischen Mehrebenensystem eigener Art ein Experimentierfeld für die Organisation des Politischen unter den Bedingungen der Globalisierung dar.13 Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004; Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999. 12 Hier müsste auch bedacht werden, dass Europa immer schon größer ist als die EU. Ein komplexes Gefüge politischer Organisationen und rechtlicher Abkommen differenziert sich nach Regionen sowie Politikfeldern: Der Europarat, die Europäische Union, in ihr die Eurozone und assoziierte Euronutzer, der Europäische Wirtschaftsraum, der Schengenraum, die Zollunion, aber auch das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen, die Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung GUAM oder die Eurasische Wirtschaftsunion. Die Geschichte des Integrationsprozesses lief keineswegs zielgerichtet auf eine zentrale Stellung der EU zu, vgl. Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018. 13 Ausgehend von geschichtlichen Modellen politischer Herrschaft ließe sich daher fragen, inwieweit sich die EU von der Logik eines (National-)Staats oder eines Imperiums, eines Staatenbundes oder einer transnationalen Gesellschaft aus Gesellschaften verstehen lässt und wie dies jeweils zu beurteilen ist. Vgl. etwa das Interview von Stefan Reinecke mit Herfried Münkler in der taz vom 31.08.2019, 12–13: https://taz.

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War der Motor dieser Entwicklung vor allem die wirtschaftliche, funktionale und rechtliche Integration, so wurde zunehmend deutlich, wie wichtig die kulturellen Faktoren, Fragen politischer Identität und die Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit für die demokratische Willensbildung innerhalb der EU und für deren Legitimation sind. Mit einem Binnenmarkt kann man sich nicht identifizieren und technokratische Einzelfragen wecken kein Engagement. Die komplexe Institutionalisierung des Politischen birgt zudem die Gefahr, dass der politische Prozess für viele Bürger/-innen undurchschaubar wird, dass die Defizite an „accountability“, Transparenz und demokratischer Partizipation die Legitimität der EU infrage stellen. Durch den erhöhten Einfluss von Expertinnen und Experten sowie Lobbyistinnen und Lobbyisten werden demokratische Entscheidungen erschwert und das politische Gewicht wird von Parlament und Legislative auf Regierung und Verwaltung verlagert. 14 Hinsichtlich einer demokratischen Neuorganisation Europas bricht in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage nach den kulturellen, religiösen und normativen Voraussetzungen auf, für die Jacques Delors in den 1990er-Jahren die Metapher „Europa eine Seele geben“ geprägt hat.15

de/!5619408/; im Hintergrund: Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 52006. 14 Hinzu kommt, dass innerhalb der EG und späteren EU der Europäische Gerichtshof mit seiner extensiven Auslegung der Verträge als einem europäischen Verfassungsrecht den Integrationsprozess maßgeblich vorangetrieben und politischen Entscheidungsverfahren entzogen hat. 15 In der Summary of Addresses by President Delors to the Churches, herausgegeben von der Commission of the European Communities am 14. Mai 1992 (Nr. 704E/92), wird folgendes Zitat angegeben: „If in the ten years ahead of us we do not succeed in giving Europe its soul, a spiritual dimension, true significance, then we will have been wasting our time. That is the lesson of my experience. Europe cannot live by legal arguments and economic know-how alone. The potential of the Maastricht Treaty will not be realized without some form of inspiration.“ Vgl. https://austria-forum. org/af/Wissenssammlungen/Symbole/Europasymbole/Seele_Europas; zur Einordnung vgl. Kuhn, Michael: Die Rede von der „Seele Europas“. Eine Metapher, ein Missverständnis

und

die

Folgen:

http://www.europe-infos.eu/europeinfos/de/archiv/

ausgabe163/article/5938.html. Eine vertiefende und kritische Diskussion bietet: Meyer, Thomas: Die Identität Europas. Der EU eine Seele? Frankfurt a.M. 2004; sowie aus theologischer Perspektive: Sedmak, Clemens / Horn, Stephan Otto (Hg.): Die Seele Europas. Papst Benedikt XVI. und die europäische Identität, Regensburg 2011. Werner Weidenfeld stellt seine Bilanz der Europäischen Integration insgesamt unter

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2. DIE SUCHE NACH DER „SEELE“ EUROPAS UND DIE FRAGE NACH EUROPAS „WURZELN“ ALS EIN KOMMUNIKATIVER PROZESS Die Europäische Integration darf nicht auf ihre wirtschaftliche, funktionale oder technokratische Seite reduziert werden. Ein freiheitliches politisches Gemeinwesen lebt von kulturellen, „vorpolitischen Voraussetzungen“ (Böckenförde), die Integration, Solidarität und Loyalität ermöglichen und nicht durch Zwangsgewalt hergestellt werden können.16 Diese Voraussetzungen liegen nicht als essentialistisch gedachte Identität vor, man kann sie aber auch nicht beliebig konstruieren, um sie dann von Brüssel aus durchzusetzen. Vielmehr geht es um einen dynamischen Prozess der Verständigung über die kulturellen Grundlagen, Werte und Prinzipien Europas, die nicht einfach erfunden, sondern in der Geschichte und in der Gegenwartskultur gefunden und weiterentwickelt werden müssen. Die Pflege von Erinnerungen und lebendigen Traditionen, Gegenwartsdeutung und Zukunftsvisionen greifen dabei ineinander. Dies setzt aber zugleich Verständigungs- und Anerkennungsprozesse voraus – was auch den Kampf um Anerkennung zwischen dominanten Strömungen (z.B. Laizismus und Christentum) und Minderheiten (z.B. europäisches Judentum, Sinti und Roma, die muslimischen Communities), zwischen Zentrum (Brüssel, Mitteleuropa, starke europäische Regionen) und Peripherie (z.B. dem Osten und insbesondere ländlichen Gebieten, Griechenland oder dem „Mezziogiorno“ Italiens17) erklärt. Gerade in der Frage um Seele und Wurzeln Europas stellt die Vielfalt Europas positiver und negativer Bezugspunkte ein entscheidendes Charakteristikum

die Überschrift der Suche nach der „Seele Europas“: Europas Seele suchen. Eine Bilanz der europäischen Integration, Baden-Baden 2017. 16 Die vielzitierte Kernthese von 1967 lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. Wieder abgedruckt in: Ders.: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2006, 43–72, 71; vgl. zu Europa auch: Ders.: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 22000. 17 Ein guter Indikator, um die einflussreichen und attraktiven Zentren von den marginalisierten und übersehenen Peripherien zu unterscheiden, ist die demografische Entwicklung: vgl. dazu die interaktive Karte unter https://www.zeit.de/politik/ausland/ 2019-07/demografie-europa-bevoelkerung-entwicklung-wandel-karte.

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dar. Seele und Wurzeln Europas lassen sich nicht auf ein einziges Zentrum oder auf eine einzige entscheidende Polarität reduzieren. So gibt es zwar einen Konflikt zwischen laizistisch-säkularen Positionen, welche die Prinzipien von Aufklärung und Moderne in den Vordergrund rücken, und religiös-traditionellen Positionen, welche die geschichtliche Fundierung der europäischen Kultur in der jüdisch-christlichen Tradition betonen, doch bestehen andererseits enge Bezüge zwischen beiden; der französische Laizismus entspringt den Konfliktlinien der Französischen Revolution, stellt jedoch nur einen unter mehreren Entwicklungspfaden europäischer Aufklärung dar. Der religiöse Pluralismus der Gegenwart relativiert sowohl die säkulare Sicht wie die christliche Prägung, sodass das heutige Europa eher in einem „postsäkularen“ Kontext steht. Dieser ist auch mit dem wachsenden Einfluss fundamentalistischer Bewegungen verbunden, die im selektiven Rückgriff auf einzelne Identitätsmarker und unter scharfer Abgrenzung von anderen Positionen um kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft kämpfen: Strömungen eines politischen Islamismus bis hin zu dschihadistischen Gewaltexzessen; anti-islamische Konstruktionen eines vermeintlich „christlichen“ Abendlandes; fremdenfeindliche identitäre Bewegungen, deren semantische Gewalt in neue Formen von Amok und Terror kippen kann; die Konstruktionen einer nationalreligiösen Identität im Bündnis von Kirche und Staat in Russland oder Georgien, aber auch Polen oder Ungarn. Ein lebendiger Bezug zu den Wurzeln Europas und die Erneuerung seiner „Seele“ wird nicht aus der Konstruktion einer homogenen Identität oder Leitkultur entstehen, sondern aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturräume, die Europa von Beginn an geprägt hat und der die Bereitschaft zum Dialog und die Kraft zum Umgang mit Unterschieden entspricht. Das Christentum kann einen Beitrag zu solcher Einheit in Vielfalt leisten,18 hat es doch wesentlich zu jener Verbindung von Glauben und Vernunft beigetragen, welche die europäische 18 So versteht Papst Johannes Paul II. den „Glauben an Jesus Christus [als] eine Gabe, die der geistigen und kulturellen Einheit der europäischen Völker zugrunde liegt und die noch heute und in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Entwicklung und Integration darstellen kann“ (Ecclesia in Europa Nr. 18). Das Christentum und den Glauben sieht er als Kraft „unterschiedliche Völker und Kulturen in gegenseitiger Ergänzung zusammenzuführen“, was er als Grundlage europäischer Kultur und Modell einer Einheit in Vielfalt ansieht (Ecclesia in Europa 108f). Vgl. zu den Stellungnahmen von Papst Johannes Paul II. zu Europa: Rabanus, Joachim: Europa in der Sicht Papst Johannes Pauls II. Eine Herausforderung für die Kirche und die europäische Gesellschaft, Paderborn 2004; Losansky, Sylvia: Öffentliche Kirche für Europa. Eine Studie zum Beitrag der christlichen Kirchen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa, Leipzig 2010 (Öffentliche Theologie 25), bes. 62–96.

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Kulturgeschichte prägt.19 Unter Anerkennung des kulturellen und religiösen Pluralismus muss es heute – wie Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen – ein Anstoß sein, sich in Barmherzigkeit und Gastlichkeit den Anderen zu öffnen, an die Ränder zu gehen und in Dialog und Begegnung Europa zu erneuern.20 Wolfgang Huber fordert in seinem Beitrag, dass „[w]er von den christlichen Wurzeln Europas spricht, […] sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen [muss].“ Die Diskussionen um einen „Euro-Islam“ (Abdallah) machen deutlich, wie der Islam in Europa um sein Verhältnis zu Moderne und Aufklärung ringt – ein Prozess, den auch die katholische Kirche konfliktreich durchlaufen hat und der die Konflikte der orthodoxen Kirche und orthodox ausgerichteter Gesellschaften mit dem Westen prägt. Sznaiders Reflexion auf das europäische Judentum wiederum zeigt dessen geistig-moralische Kraft gerade dort, wo es widerständig bleibt, sich der Vereinnahmung entzieht und dennoch im Austausch mit dem nicht-jüdischen Europa steht. Zugleich wird dabei deutlich, wie tödlich die Gewalt der Homogenisierung insbesondere für Minderheiten werden kann.

19 Dies hat Papst Benedikt XVI. in seinen Stellungnahmen zu Europa immer wieder ins Zentrum gerückt, verbunden mit einer starken, geschichtstheologischen Bindung des Christentums an Europa und die griechische Philosophie. Vgl. exemplarisch: Ratzinger, Joseph: Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen. In: König, Franz / Rahner, Karl (Hg.): Europa. Horizonte der Hoffnung, Graz u.a. 1983, 61–74; dazu: Sedmak, Clemens / Horn, Stephan Otto (Hg.): Die Seele Europas. Papst Benedikt XVI. und die europäische Identität, Regensburg 2011; kritisch dazu: Essen, Georg: „Hellenisierung des Christentums“ als kulturhermeneutische Deutungskategorie der Moderne. In: Viertbauer, Klaus / Wegscheider, Florian (Hg.): Christliches Europa? Religiöser Pluralismus als theologische Herausforderung, Freiburg i.Br. 2017, 81–103. Silvio Vietta markiert die griechische „Logos-Kodierung“ und die „christliche PistisKodierung“ als Motive, welche die europäische Kulturgeschichte bis in die Gegenwart hinein prägen: vgl. Vietta, Silvio: Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2007. 20 Motive einer Erneuerung Europas aus der Begegnung mit dem Anderen, aus dem Dialog und dem gemeinsamen Bauen an der Zukunft begegnen immer wieder in den Europareden

von Papst Franziskus:

http://www.comece.eu/ansprachen-von-papst-

franziskus-zu-europa. Vgl. dazu: Kirschner: Die öffentliche Aufgabe. Ein theologisches Modell für einen solchen, zeitgemäßen Beitrag des Christentums unter dem Vorzeichen der Gastlichkeit hat in kritischer Aufnahme der Theologien von Benedikt XVI. und Franziskus der Pariser Systematiker Christoph Theobald erarbeitet: Theobald, Christoph: Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg 2018.

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Macht man sich daran, die kulturellen Wurzeln und prägenden Ereignisse in Europa zu benennen und in ein Verhältnis zu rücken, so ergibt sich ein komplexes Bild, das viel über Europa verrät – jedoch mindestens ebenso viel über diejenigen, die die Auswahl treffen und das Bild Europas zeichnen. Auch die Beiträge dieses Bandes machen dies deutlich. Traditionen europäischer Kultur und Rationalität lassen sich in symbolträchtigen Ortsnamen und Jahreszahlen verdichten, die metonymisch einen ganzen Kontext abrufen. Athen, Jerusalem, Rom: Das griechische Verständnis vom Mythos im Verhältnis zu Vernunft und Philosophie sowie die Polis als Wiege der Demokratie treffen auf den ethischen Monotheismus und die anamnetische – erinnerungsgeleitete – geschichtliche Vernunft Israels,21 die Europa durch das Judentum und Christentum prägt; beide gehen mit römischem Rechtsdenken und Imperialismus eine spannungsreiche Verbindung ein. Mit Ost-Rom, Konstantinopel, Byzanz bzw. Istanbul tritt eine neue Konstellation in der Spannung von Ost und West hinzu, wobei die Namen der Stadt die religiösen und politischen Herrschaftswechsel spiegeln. Die Idee des „Abendlandes“ entsteht überhaupt erst in dieser Spannung; der Osten fungiert dem Westen immer wieder als das Fremde, das zur Projektionsfläche für Ängste und Sehnsüchte wird, das fasziniert und erschreckt – nicht zuletzt, weil es der eigenen Geschichte so tief eingeschrieben ist und mit dem Fremden im Eigenen konfrontiert. Die wechselseitigen Klischees, Abgrenzungen und Überlegenheitsansprüche zwischen westlichem und östlichem Christentum, verschärft im Verhältnis zum Islam, gelten auch dem Verständnis von Rationalität und Spiritualität, von Autorität und Freiheit, von Politik und Religion (vgl. den Beitrag von Luks). Mit der Reformation und Konfessionalisierung tritt die Spannung von Rom – Wittenberg – Genf – Canterbury hinzu. Die Entdeckung der Notwendigkeit einer konfessionell-bekenntnishaften persönlichen Aneignung des Normativen und Bedeutsamen verbindet sich mit einem ungeheuren Konflikt- und Gewaltpotential, das in den 30-jährigen Krieg führt, aber auch in ein Mühen um Konvivenz, Toleranz und eine Kultur des friedlichen Konfliktaustrags im Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Weltmeere und das Verhältnis Europas zu Indien, Amerika und den Kolonien würden eine weitere Topologie eröffnen, in der imperiale Macht, Ökonomie, Kultur und Religion ineinandergreifen.

21 Vgl. zu diesen beiden Vernunftkonzeptionen die Thesen von Johann Baptist Metz in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas: Metz, Johann Baptist: Anamnetische Vernunft. In: Honneth, Axel / McCarthy, Th. / Offe, Claus u.a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung (FS J. Habermas), Frankfurt a.M 1989, 733–738; Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, 3., durchges. u. korr. Aufl. Freiburg i.Br. 2007, 183–236.

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Man könnte nun prägende Jahreszahlen und Ereignisse anführen – etwa die großen Revolutionen. Eine zentrale Stellung im Verständnis Europas nimmt natürlich die Französische Revolution – 1789 – ein (vgl. nur Klüsener und Nate), doch auch der deutsche Kampf um Freiheit und Nation 1848/49 wäre zu nennen, erst recht die Russische Revolution von 1917 mit ihren Folgen für Europa. 1968 und 1989 weisen in die Auseinandersetzungen der Gegenwart; die Liste ließe sich fortsetzen. Während es, wie Otfried Höffes Beitrag zeigt, durchaus lohnend sein kann, vor allem den positiven geschichtlichen Bezugspunkten europäischer Kultur in ihrer Pluralität nachzuspüren, ließe sich ebenso über die konstitutive Bedeutung von Unrecht und Katastrophen nachdenken, die von Europa ausgingen und sein kollektives Gedächtnis prägen sollten. Auch diese werden häufig metaphorisch in Jahreszahlen und Orten zusammengefasst: die „Entdeckung“ Amerikas verbunden mit Kolonialismus und Sklaverei, das Erdbeben von Lissabon an Allerheiligen 1755, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und Verdun, der Zweite Weltkrieg und Stalingrad, die Konzentrationslager – Auschwitz –, der GULAG und der Große Terror, Srebrenica, die dschihadistischen Terroranschläge im Herzen Europas – Paris, Brüssel – der Brejvik-Anschlag. Auch hier ließe sich die Liste fortsetzen – und zugleich haben der Schrecken und das Ringen um eine Erinnerungskultur das Bewusstsein geschärft, wie unangemessen eine solche Reihung bleibt, wie leicht Erinnerung instrumentalisiert, das Leiden gegeneinander ausgespielt und der Schrecken durch Vergleich „normalisiert“ werden kann. Die Erinnerung an die Shoah markiert daher Auschwitz als einen Zivilisationsbruch, der die Europanarrative unterbricht, sich der Sinngebung verweigert und an die Stelle selbstsicherer Identität eine Verantwortung rückt, die das eigentliche Maß ist, an der sich die Suche nach der „Seele“ Europas bewähren muss.22 Gerade aus geschichtlichen (Kontrast-)Erfahrungen sind Einsichten in Prinzipien und Normen erwachsen, die eine unbedingte Geltung beanspruchen. Fundamental ist dabei die Anerkennung der Würde des Menschen in seiner Freiheit und Verantwortung, seiner Einzigkeit und sozialen Einbettung.23 Jedoch 22 Ein solches Verständnis von Identität und Subjektivität als Verantwortung und Stellvertretung hat der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas ausgearbeitet. Von hierher ließe sich ein kritisches, reflexives Verständnis Europas ausbuchstabieren. Sznaider deutet in seinem Beitrag an, wie sehr eine verantwortbare Idee Europas auf jüdisches Denken verwiesen ist. Beispielsweise wäre hier Jacques Derridas Aufsatz Das andere Kap zu nennen: Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie, Frankfurt a.M. 2003. 23 Die Würde (im Singular) ist nicht ein verrechenbarer Wert unter anderen, sondern ist als unbedingter Bezugspunkt (vgl. den Beitrag von Huber) in ihrer Unantastbarkeit die

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stößt Europa heute gerade in dieser Bewährung der Suche nach seiner Seele an eine Grenze: an eine Grenze der Bereitschaft zu Erinnerung, Reflexion und Selbstkritik,24 an eine Grenze der Aufnahmebereitschaft gegenüber Fremden, konkret aber auch an die Frage des Umgangs und der Durchlässigkeit seiner Grenzen – im Außen, aber inzwischen auch wieder im Innern und selbst im Schengenraum.

3. EUROPAS GRENZEN UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN Der geografische, kulturelle und politische Raum „Europa“ kann nur über Grenzen und Grenzziehungen definiert werden. Diese Grenzen aber sind nicht einfach gegeben, sondern sie werden immer wieder neu gezogen und verschoben. Dies ist auch Ausdruck von Herrschaft und Kontrolle, es bedeutet Einschluss und Ausschluss, die Unterscheidung von Innen und Außen, von „uns“ und „ihnen“. Grenzziehungen sind geschichtlich unvermeidlich und notwendig, sonst lösen sich benennbare, überschaubare und gestaltbare Formen ins Unbestimmte und Diffuse auf und Verantwortung lässt sich nicht mehr zuschreiben. Grenzen erkennen die Ordnung der Welt und die Endlichkeit des Menschen an. So erzählt die biblische Urgeschichte, wie Gott durch eine Reihe von Unterscheidungen,

Voraussetzung der Menschenrechte. Dabei werden häufig drei „Generationen“ von Menschenrechten unterschieden, die jeweils im Kontext bestimmter geschichtlicher (Kontrast-)Erfahrungen öffentlich erkannt und anerkannt wurden: Die individuellen Freiheitsrechte als Partizipationsrechte und Abwehrrechte gegenüber dem Staat, die im Kontext der Überwindung des Feudalismus und der Emanzipation des Bürgertums entdeckt und anerkannt wurden; wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leistungsrechte im Sinne von Anspruchs- und Teilhaberechten, die seitens der Politik nach Maßgabe des Möglichen zu sichern sind und im Kontext der sozialen Frage und der Arbeiterbewegung artikuliert wurden (z.B. das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Nahrung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsversorgung…); schließlich die kollektiven Rechte der Völker, die kulturellen Rechte von Gemeinschaften und der Schutz von Minderheiten, die angesichts von Genoziden und Vertreibung, aber auch im Kontext der Dekolonialisierung und der Migration nach Anerkennung verlangen. Zum Konzept der Kontrasterfahrung vgl. Chanton, Jean-Marc: Lebenserfahrung und Glaubenserfahrung im Gespräch. Dimensionen von Erfahrung in der Theologie von Edward Schillebeeckx, Solothurn 2011, bes. 236–249. 24 Vgl. im Beitrag von Richard Nate den Hinweis auf das Konzept von Ulrich Beck.

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Trennungen und Grenzziehungen aus dem Chaos („Tohuwabohu“) den Lebensraum für Mensch und Tier erschafft – und wie die Missachtung gottgesetzter Grenzen zu Gewalt und Chaos führen und den Lebensraum zerstören kann.25 Zugleich können Grenzen und Grenzziehungen selbst Ausdruck von Gewalt, Willkür und Machtmissbrauch sein, durch die Menschen aus dem Lebensraum ausgeschlossen, ihnen Lebens- und Partizipationsmöglichkeiten genommen werden. Es geht also nicht um die prinzipielle Abschaffung von Grenzen, sondern um den Umgang mit ihnen. Offene und durchlässige Grenzen sind Ausdruck von Freiheit, Orte der Begegnung und des Lernens: Die Unterscheidungen bleiben nötig, um kulturellen Austausch, wirtschaftlichen Handel, das Überschreiten des Eigenen zum Anderen hin und die Rückkehr ins Eigene zu ermöglichen. Eine der schönsten Errungenschaften der politischen Integration Europas ist eine solche Öffnung der Grenzen: In der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und dem Fall der Berliner Mauer war dies die Erfahrung eines historischen Ereignisses, verbunden mit dem Versprechen einer neuen Einheit von Ost- und Westeuropa. Die Freizügigkeit, der Wegfall von Zollschranken und der freie Austausch von Menschen, Waren und allen möglichen Gütern bilden die innere Dynamik und Attraktivität der Europäischen Union, am konkretesten erfahrbar im Wegfall der Grenzkontrollen im Schengenraum. Zugleich jedoch werden die Außengrenzen der EU immer schärfer bewacht und kontrolliert: Ceuta und Melilla, die spanischen Enklaven in Afrika, gleichen Hochsicherheitsgefängnissen, an der Balkanroute wurden neue Zäune und Mauern errichtet, das Mittelmeer wurde zu einer der tödlichsten Grenzen der Welt. Fluide, bewegliche Grenzen waren in der Geschichte Orte des kulturellen Austauschs und der Begegnung, an denen sich die kulturelle, religiöse und politische Identität Europas ausbildete.26 In diesem Sinn deutet Regina Polak Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“. Europas Kultur wurde nicht nur durch Handel, sondern auch durch teils friedliche, teils gewaltsame Migrationswellen geprägt: die Völkerwanderung im Ausgang der Antike, die Angriffe der Wikin25 Vgl. Gen 1–11. Dabei geht es nicht einfach um die Legitimation willkürlicher Grenzen – seien diese auch auf Gott zurückgeführt –, sondern es geht fundamental um die Unterscheidung von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, oder anders gesagt: um die Anerkennung der Endlichkeit des Menschen. Vgl. dazu Kehl, Medard: Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung, Freiburg i.Br. 22008, 129– 134. 26 Dies gilt auch für die Minderheiten in Europa, die gewissermaßen das Andere im Eigenen darstellen und Formen einer transnationalen Identität vorwegnehmen. Vgl. den Beitrag von Sznaider in diesem Band.

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ger und ihre späteren Siedlungen (Normannen), die Eroberungen des Islam und der folgende kulturelle Austausch, die Einfälle der Mongolen; dann aber auch der mit der gewaltsamen Kolonialgeschichte Europas verbundene kulturelle Austausch sowie die Weitung der Grenzen europäischen Einflusses, welche nicht nur Reichtümer, sondern auch Menschen aus aller Welt nach Europa geführt hat, nachdem Europa zuvor eher der Kontinent der Auswanderer und Siedler gewesen war. Bleibt jede Grenzziehung ambivalent, so gibt es doch auch ein berechtigtes Interesse an der Festlegung und Kontrolle der Grenzen eines politischen Gemeinwesens. Grenzen dienen der Wahrung von Sicherheit und Wohlstand im Inneren, indem sie die Integrität des Territoriums und des politischen Selbstbestimmungsrechts (gegen Invasoren und Hegemonieansprüche von außen) verteidigen; indem sie Waren- und Kapitalverkehr kontrollieren und damit Besteuerung, Umwelt- und Sicherheitsstandards im Innern ermöglichen, den Verkehr z.B. von Waffen und Drogen kontrollieren, transnationale Kriminalität, Terrorismus, Spionage etc. abwehren. Der Umgang mit den eigenen Grenzen – im territorialen wie im übertragenen Sinn – ist so ein Gradmesser dafür, ob sich Europa aus im genannten Sinne europäischen Werten und Prinzipien heraus erneuert, verjüngt und seine „Seele“ gewinnt, oder ob es sich in Angst und Verteidigung der Eigeninteressen abschottet und seine „Seele“ verkauft. Papst Franziskus weist auf diese Alternative immer wieder hin. Hierbei geht es nicht um billigen Moralismus, sondern um eine Positionierung, an der sich die Geister scheiden und die in eine Umkehr ruft. Dass auch in der katholischen Kirche – nicht nur in Polen und Ungarn, sondern gerade auch in Italien – eine humanitäre Verpflichtung und dialogische Öffnung für Fremde und Marginalisierte hoch umstritten ist, deutet dies an. Papst Franziskus setzt mit existentiellem Nachdruck und ganzem Gewicht seines Amtes einen neuen Akzent im Verhältnis von Religion und Politik: Mit der Aufforderung, „an die Ränder zu gehen“, ruft er zu einer sozialen Umkehr auf, die er als vorpolitische Voraussetzung einer religiösen wie politischen Erneuerung im bereits genannten Sinne ansieht.27

27 Diese Ausrichtung bildet den Kern des Christentums, sofern dieses sich als Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu und nicht als kulturell-religiöse Machtformation versteht. Die Spannung zwischen beiden Ausrichtungen prägt die Geschichte des Christentums. Im Zweiten Vatikanischen Konzil, besonders in den zentralen ekklesiologischen Aussagen der Kirchenkonstitution Lumen gentium Nr. 8 und 9, wurde diese Umkehr der Kirche zu den Armen programmatisch formuliert, jedoch abgesehen von den lateinamerikanischen Bischofskonferenzen und der Befreiungstheologie nur zögernd rezi-

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4. DIE SPANNUNG VON ZENTRUM UND PERIPHERIE: ÜBERLEGUNGEN ZUM POLITISCHEN RAUM EUROPA Die Perspektive auf Europa und seinen Ort in der Welt spiegelt nicht nur den Standort des Betrachters, sondern auch die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Machtverhältnisse. Dies wird etwa daran deutlich, wie Landkarten gezeichnet werden: Befindet sich der Atlantik oder der Pazifik im Zentrum, ist der Norden oder der Süden oben? Man kann aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Erdkugel schauen, worin sich auch Prioritäten und Interessen abbilden. In diesem Zuge muss die eurozentrische Sicht der Welt kritisch hinterfragt und ein Perspektivwechsel vollzogen werden. Es geht nicht um die Abwertung Europas oder um eine einseitige Thematisierung seiner Gewaltgeschichte, sondern um ein polyzentrisches Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven und die Relativierung der eigenen Sicht wie derjenigen der Machthaber. Papst Franziskus, der Papst vom anderen Ende der Welt in einer globalen Kirche, die bisher stark euroatlantisch bzw. italienisch dominiert wurde, hat das programmatisch auf den Punkt gebracht: Erst von den Rändern her, von den bisher verdrängten Sichtweisen jener Menschen, die für die Gesellschaft und für die Wirtschaft bedeutungslos scheinen, lässt sich die ganze Wirklichkeit erfassen.28 Anstatt Werte und Motive zu liefern, die bestehende Verhältnisse rechtfertigen und stabilisieren, stößt eine solche Sicht des Christentums immer wieder neu Umkehr an: die Hinwendung zu den Armen und Ausgeschlossenen, den Kampf um die Würde von Menschen, denen rechtliche Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe verweigert und die ökonomisch ausgebeutet werden oder überflüssig erscheinen. Diese Überlegungen sind vor allem relevant in Blick auf die euroskeptischen und populistischen Bewegungen, insofern sich deren Dynamik zum Teil auch als Protest der übersehenen Peripherien gegen die Zentren und ihre Eliten lesen lässt. Anstatt die Vulnerabilität und Marginalisierung der unterschiedlichen Menschen an den Rändern zu artikulieren und von hier her eine Solidarisierung mit den Schwächsten und einen politischen Perspektivwechsel anzustoßen, wird der Protest jedoch

piert. Vgl. dazu Eckholt, Margit: An die Peripherie gehen. In den Spuren des armen Jesus: vom Zweiten Vatikanum zu Papst Franziskus, Ostfildern 2015. 28 Vgl. Scannone, Juan Carlos: „Aus der Peripherie kann man die Wirklichkeit besser erfassen.“ Die Armen und die Gesellschaft in Evangelii Gaudium. In: Luber, Markus / Sánchez, Jorge Gallegos (Hg.): Eine arme Kirche für die Armen. Theologische Bedeutung und praktische Konsequenzen, Regensburg 2015 (Weltkirche und Mission, 6), 43–56.

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umgelenkt auf Feindbilder, Ressentiments und die Abgrenzung gegenüber Fremden und Minderheiten. Das transnationale Europa hat es gerade in den Kommunikationsräumen von häufig marginalisierten und doch kulturtragenden Minderheiten wie dem europäischen Judentum, christlichen „Dissentern“ oder den Sinti und Roma lange vor der politischen Integration der EU gegeben. Von hierher und den vielen kleinen Geschichten und Erzählungen von Menschen am Rande der Gesellschaft wären die großen und dominanten Europanarrative, die in Brüssel über EU-Europa zu etablieren versucht werden, gegenzulesen: So könnte sich der Blick vom Zentrum in die Peripherie verlagern, von Mitteleuropa nach Galizien oder Siebenbürgen. Auch an den großen und kleinen Pilgerorten ist Europa in großer Intensität zu erleben: Canterbury, Santiago de Compostela, Rom; Lourdes, Fatima, Tschenstochau, Medjugorje oder Sainte-Marie-de-la-mer; Taizé und Assisi; die Pečerskaja Lavra (Höhlenkloster) in Kiew oder der Heilige Berg Athos. Mit Jerusalem und Istanbul/Konstantinopel/Byzanz, aber auch den Stätten und Klöstern des frühen Christentums und des heutigen orientalischen Christentums wird deutlich, dass die geistlichen Zentren Europas ursprünglich den ganzen Mittelmeerraum umfassen und dass dabei Judentum, Christentum und Islam sowie heterodoxe, aber subkutan einflussreiche und prägende spirituelle Bewegungen (Gnosis, Mysterienkulte, Kabbala, Sufi, Armutsbewegung, Freimaurer usw.) eng aufeinander bezogen sind und die Kultur Europas auch dort noch prägen, wo diese sich säkular oder atheistisch versteht. Die Spannung von Zentrum und Peripherie und die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels betrifft nicht nur Europas Ort in der Welt, sondern auch die politische Geografie innerhalb Europas, in der Westeuropa allzu oft den Blick auf den Osten dominiert, die Achse Deutschland-Frankreich oder ein weiter gefasstes „Kerneuropa“ Richtung und Geschwindigkeit der Integrationsprozesse vorgibt, ökonomisch dynamische Regionen ihren Einfluss in Brüssel ausbauen, während die Peripherien im Osten und Süden mit Abwanderung und Marginalisierung kämpfen und die Kluft zwischen Stadt und Land größer wird. Ein reflexives und kritisches Verständnis Europas setzt ein Bewusstsein für diese Vielfalt voraus und bedarf immer wieder neuer Lernprozesse, in denen herrschende Narrative durch andere Sichtweisen unterbrochen und erweitert werden. Während eine „Macht in der Mitte“ Europas wie Deutschland eine besondere Verantwortung für Vermittlung und Zusammenhalt, aber auch für die Wahrung des Kräftegleichgewichts in Europa trägt,29 stellt sich an den Rändern immer 29 Vgl. die ebenso anregende wie provokante Studie von Münkler, Herfried: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015. Er zeichnet nach, dass die Mittelstellung Deutschlands eine Verantwortung birgt, die nicht nur

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wieder die Frage nach der Zugehörigkeit zu Europa. So verweisen die Aufsätze von Bea Klüsener und Leonid Luks auf die intellektuelle, politische und literarische Auseinandersetzung um das Verhältnis zu Europa an seinem westlichen und östlichen Rand: in Britannien und Russland. Sie markieren gewissermaßen die beiden europäischen Mächte, deren Verhältnis zu Europa je neu geklärt werden muss. Die Zugehörigkeit zu Europa ist hier eine Frage je neuer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und dem Verständnis Europas. So bilden die Britischen Inseln den Übergang Europas in den großen atlantischen Raum, erfordern es, das Verhältnis zu den USA, aber auch zum (einstigen) britischen Empire zu bestimmen, in welchem die Seemacht Großbritannien ihren politischen, (post-)kolonialen und militärischen Einfluss um den Globus ausgedehnt hat. Umgekehrt kann Russland für die Landmacht schlechthin stehen, die zur einen Seite nach Europa und zur Ostsee hin, zur anderen Seite ihren Herrschaftsraum in die Weiten Asiens hinein und bis an den Pazifik ausgedehnt hat und über den ganzen eurasischen Kontinent reicht.

5.

ZUM AUFBAU DES BANDES

Nachdem bereits auf einzelne Artikel des Bandes verwiesen worden ist, möchte ich abschließend noch eine Übersicht zum Aufbau geben. Der Band wird eröffnet von der in Eichstätt gehaltenen Rede des sozialdemokratischen Europapolitikers und langjährigen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, die am Beginn der Vorlesungsreihe stand. Diese sehr engagiert und persönlich formulierte Stellungnahme kann mit ihrer Zeitdiagnose aufrütteln und mit ihren klaren Positionierungen dazu einladen, die eigenen Positionen zu klären. Schulz wirft u.a. die Frage nach dem Gesellschaftsmodell auf, für das Europa stehen soll, und verbindet dies mit einem entschiedenen Plädoyer für die Prinzipien der liberalen Demokratie und für ein Europa, das global handlungsfähig für diese Prinzipien einsteht. Der persönlich gehaltene Rückblick auf die eigene Familiengeschichte im Dreiländereck Deutschland, Belgien, Niederlande führt anschaulich vor Augen, welche Möglichkeiten der europäische Inte-

Begrenzung und Einbindung der eigenen Macht verlangt, sondern die Übernahme von Führung und das verantwortliche Nutzen dieser Macht. Die Blockade der Handlungsfähigkeit Deutschlands nach der Bundestagswahl 2017 und die zögerlichen Reaktionen auf die Initiativen Frankreichs zu einer Reform der EU haben dies anschaulich gezeigt.

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grationsprozess den Nachkriegsgenerationen eröffnet hat und welche Bedeutung ihm für Frieden, Wohlstand und Aussöhnung in Europa zukam. Dieser Beitrag ist als Anstoß zur Debatte den wissenschaftlichen Aufsätzen des Bandes vorangestellt. Die wissenschaftlichen Beiträge beginnen mit einer politikwissenschaftlichen Reflexion auf die Rolle Europas in einer im Umbruch befindlichen Weltordnung. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet plädiert dabei für eine Stärkung der internationalen Handlungsfähigkeit Europas, die zugleich eine Kultur des Multilateralismus und der Einbindung in Bündnis- und Rechtssysteme fördert, da diese die inneren Bauprinzipien der EU bestimmen. Sie betont die Spannung, die darin besteht, dass diese Stärkung europäischer Souveränität gerade freiwilligen Souveränitätsverzicht auf nationaler Ebene verlangt. Den Bogen von der internationalen zur europäischen Innenpolitik wie von der realen Situation zu ihrer handlungsorientierenden Deutung, die ethisch zu verantworten ist, schlägt der Beitrag von Regina Polak, die in der Situation von Flucht und Migration ein „Zeichen der Zeit“ erkennt, dem Europa nicht ausweichen kann. Dieses verlangt nach einer politischen, aber auch nach einer theologischen Deutung – und Polak zeigt auf, dass die biblischen Grundlagen von Judentum und Christentum selbst mit Erfahrungen der Migration und des Exils verbunden sind. Der Gottesglaube kommt als eine Kraft in den Blick, die in der Wahrnehmung fremder Not eine Kultur der Hoffnung und der gemeinsamen Anstrengung in Verantwortung für die Anderen etablieren kann. Damit leitet der Beitrag bereits zu der Frage nach den Grundwerten Europas über. Otfried Höffe zeichnet diese Grundwerte in historischer Perspektive grundsätzlich als Erfolgsgeschichte, die auch Kriterien und Gegenkräfte bereitstelle, ihre negativen Seiten – von der Sklaverei über patriarchale Unterdrückung der Frau zu Inquisition, Judenpogromen, Kolonialismus usw. ließe sich hier eine lange Liste anführen – zu überwinden. So kennzeichnet er als zukunftsweisende Kräfte exemplarisch Wissenschaft und Philosophie, verweist auf die wirtschaftliche Rationalität und ihre sozialstaatliche und ethische Einbindung, auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit. Dies mündet in einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Gefährdung dieser Grundwerte und ein Plädoyer für das Modell einer Einheit in Vielfalt. Angesichts der Vielfalt der kulturellen und religiösen Prägungen Europas, im Bewusstsein der Gewaltgeschichte gegenüber dem Judentum und der konfessionellen Differenzen im Christentum nähert sich Wolfgang Huber in einer vorsichtig abwägenden Weise aus protestantischer Perspektive der Rede von den jüdischchristlichen Grundlagen Europas an. Das Christentum ist bleibend auf das Judentum verwiesen, beide sind als eigenständige Wege anzuerkennen. Davon ausge-

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hend benennt er fünf Grundmotive jüdisch-christlicher Tradition: Schöpfung, Gnade, Liebe, Hoffnung und Umkehr. Den Glauben an Gott und seine heilschaffende Beziehung zur Welt voraussetzend, prägen diese Motive unterschiedliche Weltdeutungen und Lebensformen. Huber macht deutlich, dass dieser Glaube nicht einfach gesellschaftliche Werte liefert, sondern fundamentaler auf die Würde als unbedingten Orientierungspunkt verweist, die Mensch und Schöpfung zukommt. Von dieser Mitte her benennt er fünf christlich geprägte Grundwerte, die gesellschaftlich wirksam sind: den Zusammenhang von Gottvertrauen und Nächstenliebe, die Achtung der Menschenwürde, Toleranz, verantwortete Freiheit und den Einsatz für das Gemeinwohl. Natan Sznaider verweist in seinem Aufsatz auf das enge, tragische Verhältnis zwischen Europa als einem transnationalen Raum und dem europäischen Judentum, das als Minderheit solche Transnationalität schon lange gelebt, aber auch erlitten hat. Er zeichnet nach, wie die Juden in paradoxer Weise zugleich zum Symbol der Moderne wie ihrer Widersprüche werden. Als transnationale Gemeinschaft zwischen Volk, Religion, Nation irritieren sie die moderne Idee homogener und souveräner Nationalstaaten. Auch verdeutlicht Sznaider die Bedeutung des Judentums und konkreter jüdischer Intellektueller für Europa. Der Aufsatz konfrontiert damit, dass die Shoah zwar erinnerungspolitisch konstitutiv für Europa ist, aber als Vernichtung einen ganz realen Verlust und Bruch bedeutet. Wie lässt sich die gemeinsame Vergangenheit von Juden und Nicht-Juden in Europa heute erinnern, wenn das europäische Judentum nur noch eine kleine Minderheit in Europa bildet, seine Schwerpunkte sich aber in die USA und nach Israel verlagert haben? Die bereits bei Sznaider verhandelte Spannung von europäischer Aufklärung im Namen universaler Vernunft und religiöser Identität, Bindung und Verpflichtung durchzieht auch den Aufsatz von Mahmoud Abdallah, der die Diskussionen um Sinn und Unsinn eines Euro-Islam nachzeichnet. Wie kann die Bedeutung des Islam in, aus und für Europa bestimmt werden? Sollte es mit Bassam Tibi um eine Europäisierung des Islam gehen, die sich an zentralen Werten europäischer Aufklärung orientiert? Oder kann und soll der Islam in Europa einen positiven, muslimischen Beitrag ausarbeiten, der eigenständig und kritisch argumentiert, sowohl in der westlichen Gesellschaft wie gegenüber der islamischen Welt? Abdallah verdeutlicht die Wichtigkeit, muslimischen Bürgerinnen und Bürgern eine aktive Mitgestaltung und Identifikation mit Europa zu ermöglichen. Er plädiert daher für eine „Theologie des Zusammenlebens“, die aus den Quellen der Religion selbst entwickelt wird und den Islam als Ressource friedlichen Zusammenlebens erschließt. Die letzten drei Artikel des Bandes nehmen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive und aus russischer bzw. britischer Sicht die Diskurse um Europa, die

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Konstruktion und Konstitution von Europabildern und die Auseinandersetzung um die Narrative zu Europa in den Blick. Leonid Luks und Bea Klüsener greifen dazu weit in die Geschichte zurück und geben einen Überblick, wie in Russland und Britannien jeweils um das Verhältnis und die eigene Zugehörigkeit zu Europa gerungen wurde – und wie dies mit der Auseinandersetzung um grundlegende politische und kulturelle Weichenstellungen verbunden war. Leonid Luks zeigt auf, wie eng Russland und der Westen im Laufe der Geschichte kulturell interagiert haben, wie die konfessionellen und damit verbundenen kulturellen Differenzen sowie die wechselseitigen Stereotypen eine „fremde Nähe“ erzeugen, die immer wieder zu Anziehungs- und Abstoßungseffekten führt. Die geografische Unbestimmtheit der Ostgrenze Europas und die Ausdehnung des russischen Einfluss- und Herrschaftsbereiches über den Norden Asiens bis an den Pazifik nötigt dazu, die eigene Zugehörigkeit immer wieder neu zu klären. Dabei geht es um Westorientierung oder ein Selbstverständnis als eurasische Macht, das Verhältnis zur europäischen Aufklärung und zur russischorthodoxen Kultur, um Vorstellungen einer universalen Sendung Russlands, die religiös, aufklärerisch oder kommunistisch motiviert sein können, aber auch um die Tendenz des Rückzugs ins Nationale. Luks zeichnet nach, wie diese Auseinandersetzungen die russische Geschichte durchziehen, von Peter dem Großen über die Sowjetunion und die Entwicklung nach 1991 bis hin zur „gelenkten Demokratie“ Putins. Bea Klüsener beschreibt in ihrem Aufsatz, wie sehr unterschiedliche Stellungnahmen zu Europa in Großbritannien jeweils von der Beurteilung der politischen, gesellschaftlichen, konfessionellen Lage auf dem Kontinent abhängen – also interessegeleitete Projektionen bilden. Die Auseinandersetzung mit Reformation und dem konfessionell oder religiös anderen, aus englischer Perspektive vor allem dem Katholizismus und dem türkischen Islam, spielen dabei eine zentrale Rolle, später dann die Beurteilung der Französischen Revolution. Ein wiederkehrendes Motiv ist der Widerstreit zwischen tendenziell kosmopolitischen Visionen und solchen, die auf eine abendländische Identität Europas und/oder auf nationale Identitäten fokussiert sind. Klüsener zeigt, wie im 18. Jahrhundert (Kontinental-)Europa für Britannien zu einer – je nach Standpunkt – utopischen oder dystopischen Projektionsfläche wird. Sie macht deutlich, wie tief die heutigen Debatten um den Brexit in der britischen Geschichte und ihren Europadiskursen grundgelegt sind. Den Band schließt ein Beitrag des Mitherausgebers, Richard Nate, ab, der sich grundsätzlichen Europanarrativen der Moderne widmet und die Auseinandersetzungen der Gegenwart auf die Geschichte der Europadiskurse zurückbezieht. Er stellt die Bedeutung solcher „großen Erzählungen“ heraus, die im Mo-

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dus von Sprache, Erinnerung, literarischer Erzählung oder politisch-kultureller Vision Zusammenhänge stiften und Bilder prägen, die den Raum konstituieren, den wir als Europäer/-innen bewohnen. Den Aufsatz rahmt die Idee eines kosmopolitischen Europas der kritischen Selbstreflexion, wie es u.a. Ulrich Beck zeichnet. Dieses bildet ein anspruchsvolles Gegennarrativ zu den nationalen Geschichtskonstruktionen des 19. Jahrhunderts mit ihren Heroisierungen, aber auch zur Erfolgserzählung des „American Dream“: An die Stelle einer idealisierten Vergangenheit und heroischer Mythen rücken die Überwindung von Leid und Schuld der Vergangenheit sowie ein kritischer ethischer Anspruch. Durch exemplarische Stationen des Europadiskurses führend, arbeitet Nate insbesondere die „Kippmomente“ von geschichtstheologisch aufgeladener Europaeuphorie zu Enttäuschung, von emanzipatorisch-kosmopolitischen Europavisionen zu partikularistischen und imperialen Bildern heraus. Im Kontext beider Weltkriege spitzt sich diese Spannung zwischen nationalen Narrativen, Ideen einer Vereinigung Europas und national-imperialistischen Konzepten Europas zu. Die geopolitischen Träume eines imperialen Europas sind nicht auf Deutschland beschränkt, finden aber in den nationalsozialistischen Plänen einer Neuordnung Europas ihre fatale Umsetzung – und zeigen die Missbrauchsanfälligkeit auch des europäischen Gedankens.

Europa am Wendepunkt: Brexit, Nationalisierung und wie wir die offene Gesellschaft verteidigen 1 Martin Schulz

In den frühen 1970er- und 1980er-Jahren finden sich Schlagzeilen wie folgende: „Die Wirtschaftsschwäche im Europäischen Markt steht in scharfem Konkurrenzkampf mit den USA und Asien“, „Der Gemeinschaftshaushalt stößt an seine Grenzen“, „Der Protektionismus ist auf dem Vormarsch“, „Großbritannien will einen Sonderweg bestreiten“. Dabei handelt es sich um Zeitungsüberschriften, die dreißig oder vierzig Jahre zurückliegen – aber es könnten die Headlines von heute sein.

DIE EUROPÄISCHE UNION ALS SUMME IHRER MITGLIEDSSTAATEN Wenn man über die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten spricht, muss man sich vor Augen halten, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht von Brüssel gegründet wurde, dass Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten oder Polen keine Erfindungen der Europäischen Kommission darstellen. Stattdessen liegt der umgekehrte Fall vor: Die Mitgliedsstaaten sind es, die die Europäische Union bilden; den 28 souveränen Staaten obliegt die Verantwortung für diesen Zusammenschluss. 1

Nachträgliche Verschriftlichung eines vom Vf. frei gehaltenen Vortrags unter Wahrung der Vortragsform (Anm. d. Hg.).

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Seit einigen Jahren aber schon ist es Usus, zumal im Europäischen Rat, dass positive Errungenschaften national begründet werden, die Europäische Union jedoch als Urheberin negativer Prozesse fungieren muss. Viele Jahre lang konnte ich erleben, wie nach Sitzungen des Europäischen Rats Regierungschefs in 23 Sprachen in ihren jeweils sektoral stattfindenden Pressekonferenzen die Ergebnisse dieser Räte kommentierten. Im Erfolgsfall berichtete dann die immer gleiche Stimme aus der Bundesrepublik Deutschland: „Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen davon überzeugen können, dem Weg der Bundesrepublik zu folgen.“ Von wechselnden französischen Präsidenten waren ähnliche Worte zu hören, ebenso vom britischen oder italienischen Premierminister, wenn sie sich durchsetzen konnten. Selbst der maltesische Kollege konstatierte: „Wir haben uns am Ende hier durchsetzen können.“ Im Falle eines Misserfolgs aber gab es nur eine einzige, in allen Sprachen gleiche Botschaft: „Sie kennen ja die Stagnation der Europäischen Union.“ Es handelt sich dabei um ein Blame Game, um eine Schuldzuweisung für alles, was nicht funktioniert, an die EU, die ja nichts anderes ist als die Summe ihrer Mitgliedsstaaten und der von diesen auf eine transnationale Ebene übertragenen Befugnisse. Diese verantwortlich zu machen für alles, was nicht gelingt, war der Beginn eines Abstiegs, den die Europäische Union in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger erlebt hat. Die Nationalisierung des Erfolgs und die Europäisierung der Probleme und des Misserfolgs haben den Populisten in Europa das Feld bereitet. Über viele Jahre hinweg habe ich in meiner Funktion als Präsident des Europaparlaments versucht, diesen Schuldzuweisungen Einhalt zu gebieten, da es am Ende die Staats- und Regierungschefs selbst sind, die in der Verantwortung stehen und deren nationale Erklärungen einen Beitrag leisten zu dem, was in Brüssel entschieden wird. Es sind die Regierungen, die Parlamente, die Völker, die dafür sorgen, dass die Europäische Union auf gemeinschaftlichen Grundregeln aufgebaut wird, die von allen Mitgliedern befolgt werden müssen. Dazu gehört beispielsweise das Gewaltenteilungsmodell einer unabhängigen Justiz, die nicht weisungsgebunden gegenüber der politischen Führung eines Landes ist. In Polen wird das gerade ausgehöhlt, und zwar systematisch, indem unabhängige Richter unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden. Weil das ein Bruch der EU-Verträge ist, schreitet dagegen die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ein, und Jarosław Kaczynski bezeichnet dies dann als Einmischung in innere Angelegenheiten und als Angriff auf die polnische Souveränität. Die Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrags als Grundlagen unserer Währungsunion werden zurzeit massiv infrage gestellt. Drastischer sogar: sie

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werden gebrochen, und zwar mit Vorsatz. So ist der Chef der Lega Nord, Matteo Salvini, der Auffassung, er werde erfolgreich behaupten können, dass die Überschuldung seines Landes kein Problem sei, da er sie ja in Kauf nehme, um bestimmten Bevölkerungsgruppen etwas Gutes zu tun. Und wenn in Brüssel dagegen interveniert wird, weil es objektiv ein Bruch der europäischen Regeln ist, dann werde er das als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Italiens begreifen. So richtet man die Europäische Union zugrunde – nebenbei bemerkt auch die Währungsunion. Und deshalb glaube ich, dass wir uns mit Italien und mit dem Brexit, wenn wir den Zustand der Europäischen Union regeln, in besonderer Weise befassen müssen. Von Donald Trump wurde im Oktober des Jahres 2018 angekündigt, dass er den INF-Vertrag kündigen wolle. Das berührt einen Konflikt, den meine Politikerinnen- und Politikergeneration in den 1980er-Jahren miterlebt hat, nämlich den Kampf gegen die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa. Das stand damals noch unter den Vorzeichen der Konfrontation zwischen dem Warschauer Pakt einerseits und der NATO andererseits. Ständiges Ziel dieser Atomsprengköpfe war die Bundesrepublik Deutschland. Einer der größten Fortschritte, die ich erlebt habe, war, dass Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 einen Vertrag unterzeichneten, nach dem diese Waffen nicht nur nicht mehr produziert, sondern abgebaut werden sollten. Dies schätze ich als einen der größten Beiträge zum Fortschritt des Friedens ein, der sich während meiner Lebenszeit ereignet hat. Nun wurde von Donald Trump ein Ausstieg aus diesem Vertrag verkündet, was zur Konsequenz haben könnte, dass in der Bundesrepublik Deutschland wieder solche Waffen stationiert werden und das Land auch wieder in deren Visier stehen kann. Mit der Stationierung atomarer Kurzstreckenwaffen in Deutschland auf Anordnung des USamerikanischen Präsidenten möchte ich mich nicht abfinden.

GRUNDRECHTE UND WERTE DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT Wladimir Putin will eine illiberale Demokratie errichten. Was ist das, eine ‚illiberale‘ Demokratie? Was meint das, wenn Kaczynski, Orban, Putin und Xi Jinping davon reden, dass unser europäisches Demokratiemodell auf dem absteigenden Ast sei, dass wir eine dekadente verfallende Gesellschaft seien? Der „angeschwulten westeuropäischen Dekadenz“, so die Formulierungen dieser Staatsmänner, müsse man Ordnung und Klarheit, Männlichkeit, Ritterlichkeit und tradierte Werte entgegensetzen. Was macht unser Gesellschaftsmodell aus?

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Was ist eigentlich die Grundlage unseres Zusammenlebens in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Spanien, in Portugal, in Griechenland, in Finnland, in Schweden, in den skandinavischen Staaten, in den Benelux-Ländern? Was ist eigentlich in der polnischen Gesellschaft oder in der Gesellschaft der baltischen Staaten die Grundlage unseres Zusammenlebens, von dem Trump sagt, es handele sich um ein absteigendes Konzept? „My country first“, so lautet der Slogan des US-amerikanischen Präsidenten, er setzt nicht auf internationale Kooperation. Putin oder Xi Jinping halten das europäische Modell für nicht langfristig konkurrenzfähig; die Entscheidungsprozesse seien zu lang, die individuellen Grundrechte zu ausgewählt, das verhindere wirtschaftlichen und staatlichen Fortschritt. Was ist an unserem Gesellschaftsmodell so schlecht, dass man ihm eine ‚illiberale‘ Gesellschaft entgegensetzen muss – was immer eine ‚illiberale‘ Gesellschaft heißen mag? Was ist das eigentlich – eine ‚illiberale‘ Gesellschaft? Ist das das Gegenteil von toleranter Demokratie? Als solche würde ich unsere Gesellschaft bezeichnen. An dieser Stelle möchte ich einige Grundprinzipien aufführen, etwa die Abschaffung der Todesstrafe sowie das Folterverbot, zudem das Willkürverbot und die Unverletzlichkeit der Person. Ebenso gelten die Garantie des Instanzenweges und der Waffengleichheit vor Gericht: Die Unschuldsvermutung gilt bis zur Verurteilung in der letzten Instanz. Wer sich keinen Anwalt leisten kann, bekommt einen staatlichen Verteidiger gestellt, und der Staat hat den Beweis der Schuldigkeit zu führen. Darüber hinaus gibt es die Unverletzlichkeit des Postgeheimnisses, was in der digitalisierten Welt durchaus komplex, aber durch die Verfassung garantiert ist. Auch an das Streikrecht sowie an die Freiheit von Forschung und Lehre sei erinnert. Zuletzt möchte ich die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht hervorheben: Allen Bürgerinnen und Bürgern steht es zu, sich unter freiem Himmel zu versammeln und für ihre Überzeugungen zu demonstrieren. All diese Rechte und Freiheiten sind elementare Bestandteile der europäischen Gesellschaft, die von uns heutzutage als nahezu selbstverständlich wahrgenommen werden, die das in anderen Systemen aber keineswegs sind und damit wesentliche Errungenschaften des europäischen Projekts darstellen. Ist die illiberale Demokratie ein besseres Modell als unsere Verfassungsdemokratie? Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren! Der Binnenmarkt der Europäischen Union ist kein Emotionsprojekt. Für mich auch nicht. Aber der viel gescholtene Binnenmarkt der Europäischen Union ist so konstruiert, dass er der reichste dieser Welt ist, mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, wenn auch ungerecht verteilt in seinem Inneren. Und alle wollen mit ihren Dienstleistungen und Gütern auf diesen Markt. Wie wäre es denn, wenn sich die Mitgliedsstaaten

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der Europäischen Union darüber verständigen würden, dass derjenige, der auf diesen Markt will, auch die Standards der Europäer akzeptieren muss: dass er die ökologischen Standards akzeptiert, dass er die Sozialstandards akzeptiert, dass er die Einhaltung der Grundrechte garantiert? Das ist kein europäischer Imperialismus, sondern der Export von Demokratie in andere Regionen dieser Welt, wo Menschen auf diese Rechte warten, und es wäre der Schutz unserer eigenen Gesellschaft vor denjenigen, die mit ökologischem, ökonomischem und vor allem mit Grundrechte-Dumping unser Modell zerstören wollen. Und deshalb glaube ich mehr denn je, dass, wenn wir unsere Gesellschaft verteidigen wollen, die Stunde der europäischen Integration gekommen ist. In einer Zeit von Xi Jinping, Trump und Putin gibt es nichts Besseres für diesen Kontinent als die Weiterentwicklung der Europäischen Union, davon bin ich fest überzeugt. Dennoch weist diese Konstruktion auch Fehler auf, die behoben werden müssen. So bin ich der Meinung, dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs der Selbstreflexion und Reform bedarf, was ein durchaus ambitioniertes Unterfangen darstellt.

REFORM DER KOMPETENZORDNUNG UND EUROPÄISCHE LÖSUNGEN Des Weiteren sollte die Europäische Union sich nicht mit Problemen auf der Mikro-, sondern auf der Makroebene auseinandersetzen: Ihr Fokus sollte auf den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen. Ich war viele Jahre lang Bürgermeister einer Stadt mit 40.000 Einwohnern und habe in dieser Zeit gelernt: Wenn eine Entscheidungsfindung nahe an den Bürgerinnen und Bürgern stattfindet, gibt es eine höhere Akzeptanz. Bei einer distanzierteren Handhabung herrscht das Gefühl vor, dass eine anonyme Macht agiert, die sich der unmittelbaren Einflussnahme entzieht. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten einer der notwendigen Reformschritte in der Europäischen Union eine neue Kompetenzordnung, in der wir präzise Zuständigkeiten definieren und Verantwortliche und deren Ebenen konkret benennen. Tatsächlich stellt eine überarbeitete und klar strukturierte Kompetenzordnung in meinen Augen sogar einen der zentralen Punkte hinsichtlich einer Reformierung dar. So bedarf etwa die regionale Wasserpolitik keiner Entscheidungen aus Brüssel, da die Begradigung oder Renaturierung von Flüssen im Zuständigkeitsbereich der Region besser aufgehoben ist. Angelegenheiten, die eine nationale Regelung erlauben, sollten auch darauf zurückgreifen. An dieser Stelle sei an das Leitmotto der grünen Bewegung in den 1980er-Jahren erinnert: Global denken,

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lokal handeln. Es ist an der Zeit, eine solche Herangehensweise für die Europäische Union zu revitalisieren. Dennoch stoßen in der heutigen globalisierten Welt die Nationalstaaten bei der Lösung großer Probleme an ihre Grenzen: Der Klimawandel kann lokal erläutert, Verbesserungen im Kleinen können vorgenommen werden, aber letzten Endes bedarf es weltweiter verbindlicher Klimaziele und deren Umsetzung. Auch organisierte Kriminalität, weltweiter Drogenhandel und Geldwäsche können nicht in Kleinstaaten bekämpft werden. All das sind europäische Aufgaben. Da muss die Europäische Union mit 507 Millionen Menschen und 28 Staaten, die die reichste Region der Erde bilden, Druck machen auf andere, damit Standards eingehalten werden. Die Migrationsbewegungen beispielsweise können wir nur dann steuern, wenn es eine enge Kooperation der Europäischen Union mit den Staaten Afrikas gibt und wenn die Zusammenarbeit für eine nachhaltige Entwicklung auf Augenhöhe erfolgt. Auch im Bereich der weltweiten Handelsbeziehungen ist eine übernationale und überstaatliche Organisation von Vorteil. Die Bundesrepublik Deutschland erwirtschaftet 35 % ihres Bruttosozialprodukts im Export, damit ist sie Exportweltmeisterin. Kein Land hat einen so hohen Pro-Kopf-Anteil am gesamtstaatlichen, aus dem Export kommenden Vermögen wie Deutschland. Die internationalen Handelsbeziehungen sind nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für Frankreich, Italien und Großbritannien – jene vier G7-Staaten, die Mitglieder der Europäischen Union sind – von eminenter Bedeutung. Es ist an der Zeit, nicht nur den Binnenmarkt als wesentliches Instrument zur Behauptung unseres Gesellschaftsmodells zu betrachten. Es geht um einen Binnenmarkt, der von demokratischen Staaten betrieben wird, die alle gemeinschaftlich in ihre Verfassung eingeschrieben haben, dass die individuelle Menschenwürde auf der einen und die Wohlfahrt der Vielen auf der anderen Seite das Ziel ihres politischen Handelns sowie ihres ökonomischen Zusammenschlusses sind. Nur auf diesem Wege werden aus Ökonomie und Demokratie zwei Seiten einer Medaille – das ist die große Chance Europas im 21. Jahrhundert. Heute ist die Renationalisierung die falsche Antwort auf die Globalisierung, und die Kombination aus individuellen Grundrechten und verantwortlicher Wirtschaft stellt die Alternative dar zu einem Erzielen wirtschaftlicher Erfolge durch Negierung individueller Grundrechte.

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EIN VEREINTES EUROPA ALS WELTREGION Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit zum Gespräch mit dem amtierenden chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, der damals stellvertretender Generalsekretär der Kommunistischen Partei in Peking war. Wir unterhielten uns über die Frage der Entwicklung Chinas und seiner Beziehungen zum Rest der Welt im 21. Jahrhundert. In einer Rede hatte er das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Weltregionen erklärt. Sowohl China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern als auch das Nachbarland Indien mit 1,1 Milliarden bezeichnete er als Weltregion; den Vereinigten Staaten sprach er diesen Status trotz geringerer Bevölkerungszahlen aufgrund ihrer ökonomischen und militärischen Stärke ebenfalls zu. Weiter führte er damals aus, dass die Nachbarn in Südostasien, der sogenannte ASEAN-Pakt, sich zu einem gemeinsamen Markt zusammengeschlossen hatten – auch mit dem Ziel einer gemeinsamen Währung, was ebenfalls zu einer Weltregion führen würde. Amerika könne sich mit Brasilien, Argentinien und Mexiko verbinden, die mittel- und lateinamerikanischen Staaten sich zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschließen, um ebenfalls zu einer Weltregion zu avancieren. Schließlich verwies er auf Afrika und die Tatsache, dass sich nur Südafrika, Angola und Mosambik, drei Länder mit enormem Reichtum an Bodenschätzen, vereinigen müssten, um ebenfalls eine Weltregion zu bilden. Wir Europäer, so schloss er dann, müssten letztlich überlegen, was unsere Ziele seien und was wir repräsentieren wollten. Ich hatte ihm daraufhin geantwortet, die Entscheidung sei gefallen: Wir wollen auch eine Weltregion sein, wir schließen uns zusammen. Der europäische Markt und die europäische Union, wir werden auf Augenhöhe mit euch operieren. Bei der anschließenden Diskussion meldete sich der Wirtschaftsminister von Lettland zu Wort und sagte: „Ich bin dankbar, dass ich hier teilnehmen darf und möchte Ihnen sagen, wir hatten eine öffentliche Debatte im Parlament, in der Regierung, in den Medien, und wir sind zu einem Ergebnis gekommen, das ich Ihnen stolz verkünden darf: Lettland ist zu einer strategischen Partnerschaft mit China bereit.“ Ein Seitenblick meinerseits zur chinesischen Seite hat mir gezeigt, dass diese Ankündigung mit Fassung aufgenommen wurde. An einem Beispiel wie diesem zeigt sich, wie problematisch der Blick der europäischen Staaten auf sich selbst sein kann. Wie will ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit ihren 82 Millionen Einwohnern allein mit Giganten wie den genannten umgehen? Wie will Italien, wie will Großbritannien nach dem Brexit allein auf Augenhöhe mit solchen Wirtschaftsriesen Handel betreiben? Das ist nicht möglich!

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Ganz ähnlich lautet eine Geschichte, die mir mein Kollege Jean-Claude Juncker einmal erzählt hat: Da kam der frühere chinesische Staatschef Hu Jintao nach Luxemburg zum Staatsbesuch, und ihm wurde eröffnet, dass man ihm an diesem Tag das ganze Land zeigen würde. Daraufhin fragte er, welches Programm denn dann für den Nachmittag anstünde. Juncker legte den Arm um ihn und sagte: „Hu, guck mal, wir beide gehen gemeinsam nach Luxemburg, wir sind eine Weltmacht.“ Das trifft ja auch definitiv zu, China und Luxemburg zusammen stellen eine Weltmacht dar. „Nur“, fuhr Juncker dann in seiner Erzählung fort, „wenn er wieder nach Peking zurückgekehrt ist, ist er immer noch eine Weltmacht. Aber ich? Gehobener Landrat.“ Wie will denn ein solches Land, selbst mit seinem merkwürdigen Steuersystem, alleine bestehen? Die Zukunft der europäischen Gemeinschaft, ihrer Wirtschaft und ihrer Staaten, unser aller Zukunft hängt davon ab, dass ganz Europa im 21. Jahrhundert auf der Grundlage seines Gesellschaftsmodells wettbewerbsfähig ist, als Einheit und nicht zerlegt in seine Einzelteile. Weil wir sonst nämlich zum Spielball der wirtschaftlichen und politischen Interessen dieser Giganten werden.

DAS EUROPÄISCHE GESCHENK: VERANTWORTUNG FÜR DIE ZUKUNFT Aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass man sich den rechtsgerichteten Populisten in besonderer Art und Weise in den Weg stellen muss – nicht nur aufgrund der friedens- und gesellschaftspolitischen Risiken, die durch deren Rhetorik entstehen, sondern auch in Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft unseres Systems, die als Grundlage unseres Verfassungssystems fungiert. Die Garantie individueller, sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Grundrechte wird nur dann bestehen bleiben, wenn wir denjenigen, die ihren wirtschaftlichen Erfolg genau diesen Grundrechten verdanken, auf gleicher Höhe begegnen können. Dazu ist jedoch kein Land in Europa allein in der Lage. Und deshalb bin ich konsequent hinsichtlich meiner Meinung, dass diejenigen, die in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts den Nationalstaat für die Lösung aller Probleme halten, die Zukunftschancen der nächsten Generation verspielen. Deshalb muss man sich diesen Leuten in den Weg stellen. Und um genau dies zu begründen, möchte ich ein paar Schlaglichter auf die Geschichte der Europäischen Union werfen, indem ich meine persönliche Ansicht zu Europa einbringe – Europa, wie ich es sehe, wie ich es erlebt habe, und wie ich mir seine Zukunft vorstelle.

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Der irische Nobelpreisträger George Bernard Shaw, der 94 Jahre alt wurde, sagte einmal: „Hütet euch vor alten Männern, denn sie haben nichts mehr zu verlieren.“ Damit hat er Recht. Je älter man wird, desto häufiger bekommt man das Gefühl, nun an der Reihe zu sein, lebenslang den eigenen Beitrag geleistet zu haben und nun etwas dafür einfordern zu dürfen. Eine Privatperson kann sich diese Forderung erlauben, jemand in einem politischen Amt allerdings nicht. In der Politik geht es nie nur um die eigene Person, auch nicht um die eigene Generation, sondern immer um die nachfolgende. Jede handelnde politische Generation muss sich die Frage stellen: Was wird aus denen, die nach uns kommen, und was wird aus deren Kindern? Ich betone dies so explizit, da ich zutiefst davon überzeugt bin, einer Generation anzugehören, die einzig Dankbarkeit empfinden darf – Dankbarkeit für die Ermöglichung eines Lebens, von dem meine Eltern nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Niemals hätten sie sich vorstellen können, was für ein privilegiertes Leben ich habe führen können. „Mehr“ – dieses Wort bestimmt den Grundtenor meines Lebens – ist die entscheidende Vokabel gewesen. Immer habe ich „mehr“ gehabt: mehr Bildung, mehr Chancen, mehr Freiheit, mehr Freizeit, mehr Geld, mehr Aufstiegschancen, mehr Freizügigkeit, mehr Frieden, mehr Sicherheit. Aber ich weiß nicht, ob auch meine Kinder und deren Kinder noch „mehr“ haben werden, wenn wir so weitermachen. Bleibt es dabei, dass die nachfolgende Generation mehr Wohlstand, mehr Wohlfahrt, mehr Chancen, mehr Gerechtigkeit, mehr Sicherheit haben wird? Und zusammen mit dieser Frage muss man sich auch überlegen, wo denn dieses „Mehr“, das mein Leben bestimmt hat, seinen Ursprung hat. Meine Eltern hatten ihr ganzes Leben lang immer weniger. Mein Vater war Jahrgang 1912. Als ich als das letzte von fünf Kindern geboren wurde, war mein Vater bereits 44 Jahre alt. Meine Mutter wurde im Jahr 1920 geboren. Mein Vater hat zwei Weltkriege miterlebt, als Kind den Ersten und als Soldat den Zweiten Weltkrieg. Mein ältester Bruder wurde am 5. September 1944 geboren; am Tag darauf begann das Bombardement meiner Heimatstadt. Mit diesem neugeborenen Kind ist meine Mutter dann in den Bombenkeller geflüchtet, und als sie im Januar herauskamen, existierte die Stadt nicht mehr; sie war zerbombt worden. Mein Vater saß in einem Gefangenenlager, als Soldat einer Armee, die alles, was sich ihr in den Weg stellte, in Schutt und Asche gelegt hatte. Er war erst im Osten eingesetzt, dann im Westen, und irgendwann wurde er von den Engländern in Frankreich gefangen genommen und war dort interniert. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung habe ich einmal das Hochzeitsfoto meiner Eltern in einem Artikel beschrieben. Meine Mutter ist darauf in einem weißen Kleid zu sehen, mein Vater in Uniform. Als ich sie fragte, warum er in

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Uniform geheiratet hat, erklärte mir meine Mutter, dass die Hochzeit am 30. April 1940 stattgefunden hatte; am Folgetag wurde er an die Front eingezogen. Das war damals auch der Grund für die Hochzeit: Wäre er im Krieg gefallen, hätte sie Kriegswitwenrente beziehen können. Meine Eltern gehörten einer Generation an, die am Traualtar über Kriegswitwenrente gesprochen hat, nicht über gemeinsame Kinder. Auf den Krieg folgte eine Nachkriegszeit, die sich von der nach dem Ersten Weltkrieg deutlich unterschied. Damals hatte es den Versailler Vertrag gegeben und die Botschaft der Alliierten an die Deutschen, dass sie die Schuldigen seien und bis in die siebte Generation hinein bezahlen sollten. Das war nach den Ereignissen menschlich verständlich, politisch aber bekanntermaßen verheerend. Und dann kam nach der Faschisierung unseres Kontinents, nach der Zwischenkriegszeit und dem Aufstieg dieses verbrecherischen Systems der Zweite Weltkrieg mit seiner Zerstörung, seiner Vernichtung, diesem exterminatorischen Blutrausch des nationalsozialistischen Regimes. Danach gab es dann keinen zweiten Versailler Vertrag, sondern die Überlegung, dass Frieden auf diesem Kontinent nur dann möglich sein kann, wenn es Deutschland erlaubt und ermöglicht wird, eine eigene Demokratie aufzubauen. Ich bin in einem Grenzdreieck geboren und aufgewachsen; ich habe in meiner Familie niederländische und belgische Verwandte, und ich habe an Familienfesten teilgenommen, bei denen Soldaten dreier Armeen um den Tisch herumsaßen. Die Gefühlswelt der Niederländer und Belgier 1949/50, zu Beginn der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, war problematisch, als ihnen von ihrer Regierung gesagt wurde, dass die Deutschen Mittel aus dem Marshallplan erhalten sollten. Als die Bundesrepublik Deutschland gerade einmal sechs Monate alt war, wurde sie Mitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Robert Schuman, der damalige französische Außenminister, wurde auf der französischen Nationalversammlung ausgepfiffen, weil er einen deutschen Namen trug. „Weg mit den Deutschen“, hieß es damals. Warum haben die Frauen und Männer dieser Regierungen trotzdem gekämpft? Sie hatten keine Mehrheit, im Gegenteil, ein Großteil der Bevölkerung stand ihren Ideen und Plänen skeptisch gegenüber. Einen Helden dieser Generation durfte ich kennenlernen, den Vater JeanClaude Junckers. Dieser Mann wurde 1940, als Hitler Luxemburg zum „deutschen Volksstaat“ erklärte, zwangsweise Soldat der Wehrmacht, kam als solcher nach Stalingrad und geriet dort in russische Gefangenschaft. Für die Russen war er ein Soldat der Hitler-Armee. Als er 1947 verwundet aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, sagte er zu seinem Sohn, dass er sich die Deutschen zu Freunden machen wolle, um endlich Ruhe zu haben und Frieden erreichen zu

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können. Die Bundesrepublik Deutschland konnte erhobenen Hauptes in die demokratische Staatengemeinschaft, in die demokratische Völkerfamilie zurückkehren. Ich betrachte es als ein riesiges Geschenk, das unserer Nation gemacht wurde und das wir dankbar angenommen haben. Nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit und der Vereinigung der Bundeswehr mit der Nationalen Volksarmee war die ökonomische Stärke wieder mit militärischer gepaart. Es ist Helmut Kohl mit seinem Vorantreiben des Maastrichter Vertrags zu verdanken, dass diesmal kein deutscher Sonderweg eingeschlagen, sondern Deutschland in einem internationalen System verankert wurde. Vor wenigen Tagen sagte der Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag: „Europa ist nicht die EU.“ Damit habe er Recht, habe ich ihm geantwortet, aber die EU sei das Beste, was diesem Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg passiert sei. Und so defizitär und reformbedürftig die EU auch sein mag, gibt es dennoch aus meiner Sicht, wenn ich eine Bilanz aus meinem Leben ziehe, nur eine Erklärung für das „Mehr“, das ich erfahren durfte: In keiner anderen Region dieser Welt gab es nach einem derart drastischen Zusammenbruch der Zivilisation eine Entwicklung, in der Staaten und Nationen sich entschieden, über ökonomische, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Über jene Gräben hinweg, die uns in der Vergangenheit getrennt haben, gab und gibt es eine Zusammenarbeit in gemeinsamen Institutionen – weil unsere Stärke in der Gemeinsamkeit und der geteilten historischen Erinnerung liegt. Für mich stellt es ein Faszinosum dar, dass jemand wie Emmanuel Macron, der mit seinen zum damaligen Zeitpunkt 38 Jahren die nächste Generation repräsentiert, französischer Präsident wird und kurz nach seinem Amtsantritt nach einer europäischen Souveränität verlangt, weil die französische allein nicht mehr ausreiche. Das stellte für mich einen der Gründe dar, in das Europakapitel des Koalitionsvertrags genau diese Antwort einzuschreiben: „Ja, wir wollen!“ Ich glaube fest an eine positive Zukunft Europas, wenn die Europäerinnen und Europäer dies wollen, wenn sie dieses zugegebenermaßen defizitäre Projekt verteidigen gegen diejenigen, die es zerschlagen wollen. Was ich mir wünsche, ist ein besseres Europa, ein anderes als das, welches wir heute haben. Ich möchte, dass dieses europäische Geschenk, das ich von meiner Vorgängergeneration erhalten habe und das mein Leben bereichert hat, nicht umsonst war, dass es für die zukünftige Generation und deren Kinder bewahrt wird. Die Welt verändert sich, und das birgt neue Herausforderungen in sich, aber in der Grundsubstanz ist Europa eine Idee – eine Idee der Staaten und Nationen, die auch weiterhin bestehen werden. Der kulturelle Reichtum unseres

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Kontinents ist unser gemeinsamer Reichtum und unser kollektives Erbe, das wir verteidigen müssen. Den Wohlstand, den wir in dieser Welt des 21. Jahrhunderts erreicht haben, sollten wir nicht dadurch verteidigen, dass wir alle unsere Standards und Rechte aufgeben und einen durch-ökonomisierten und autoritären Weg gehen. Die Idee, dass Staaten und Nationen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, weil sie sich dadurch gegenseitig stärken, ist deswegen das beste Instrument zur Wahrung unserer Demokratie und unserer wirtschaftlichen Errungenschaften. Jede Entwicklung verdankt sich bestimmten Ursachen, und es gibt für nichts eine Garantie auf Ewigkeit. Alles muss immer erneut erkämpft und erstritten werden, insbesondere in der Demokratie. Zur menschlichen Existenz gehört einerseits, dass wir zu konstruktiven Handlungen fähig sind, dass wir individuell und kollektiv Positives und Schönes schaffen können, weil wir kreative Wesen sind. Zugleich ist aber auch die stete Präsenz des Destruktiven etwas genuin Menschliches: Das Böse wird immer existieren. Die zerstörerischen Kräfte, die Folterer, die Henker, die Menschenverächter, die Hetzer und die Verächter von Minderheiten sind immer lebendig und werden es immer sein. Dem muss etwas entgegengesetzt werden, denn wie der englische Philosoph Edmund Burke es treffend formulierte: „Alles, was für den Sieg des Bösen notwendig ist, ist die Untätigkeit der Guten.“ Am 13. Oktober 2018 waren 250 000 Menschen in Berlin, um für die Bewegung „Unteilbar“ zu demonstrieren. Obwohl dieses Ereignis den Medien nur eine Randnotiz wert war, handelt es sich um eine Viertelmillion Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um Gesicht zu zeigen gegen Krieg, gegen Hass, gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit; um sich einzusetzen für die Demokratie und für die Toleranz. Diese Menschen setzen ein Zeichen gegen das, was von der anderen Seite als „illiberale Gesellschaft“ bezeichnet wird. Sie kämpfen wie ich mit meiner Politik einen Kampf für die transnationale, die europäische, die tolerante und die aufgeklärte Demokratie.

Die Rolle der EU in einer unsicheren Welt Ein souveränes Europa, das den Multilateralismus stärkt? Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

1.

EINLEITUNG

Die Weltordnung ist derzeit im Umbruch. Dieser Umbruch ist geprägt von der Rückkehr des Nationalismus mit seiner Fokussierung auf Unilateralismus und vom Wiederaufleben geopolitischer Spannungen sowie kruder Machtpolitik. Autoritarismus und Populismus machen sich breit; in der Summe gefährdet all dies den in den letzten Jahrzehnten aufgebauten regelbasierten Multilateralismus und die liberale Weltordnung. Damit unterscheidet sich der momentane Umbruch der Weltordnung fundamental von jenem, der zu Beginn der 1990er-Jahre stattfand. Das Ende des OstWest-Konflikts, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die damit verbundene Auflösung der den Kalten Krieg prägenden Blockmentalität hatten zu einem ersten gewaltigen Umbruch der Nachkriegs-Weltordnung geführt. Verkürzt könnte man sagen, dass aus den Trümmern dieser Umwälzungen das neue Weltordnungsmodell der Global Governance hervorging, die durch Verregelung und Verrechtlichung sowie durch intensive transnationale Kooperation unter breiter Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure für eine „bessere“, friedlichere und gerechtere, inklusivere internationale Ordnung sorgen sollte und wollte. Dieses weitgehend westlichen Wertvorstellungen folgende Leitbild wurde bald von Mitgestaltungsforderungen der aufsteigenden Schwellenländer, der emerging powers, herausgefordert, die ihre rasant wachsende Wirtschaftsmacht auch in steigende politische Teilhabe und Einflussnahme übersetzen wollten. Die tradierte bi- und vorübergehend unipolare Weltordnung1 war damit überholt; vielmehr stand die Schaffung tragfähiger inklusiver multipolarer Strukturen an. 1

Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment. In: Foreign Affairs 70, 1990, 23–33.

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Doch dieser Kurs scheint derzeit abrupt unterbrochen von den eingangs angesprochenen besorgniserregenden Trends in Richtung einer zunehmend unsicheren Welt. Die neue Konstellation zwingt auch die Europäische Union (EU), ihre Rolle und ihre Handlungsfähigkeiten zu überdenken, auf die neue Weltunordnung auszurichten und zu stärken. Dieser Beitrag wird untersuchen, ob, inwieweit und mit welchen Ergebnissen sich die EU auf die Suche nach einer neuen Rolle begeben hat, die ihr internationales Gewicht erhält oder gar stärkt und die es ihr ermöglicht, stabilisierend und gestaltend auf die grassierende Weltunordnung einzuwirken. Weiterhin wird nachgezeichnet, welche Mittel und Instrumente sich die EU an die Hand geben will, um künftig stärker und handlungsfähiger zu werden.

2.

LEITBILD FRIEDENSMACHT EU

Es ist hinlänglich bekannt, dass sich der europäische Integrationsprozess jahrzehntelang auf die Realisierung des Binnenmarktes und die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten konzentriert hatte. Demgegenüber setzten integrative Bemühungen in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik in Form der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) erst spät – Anfang der 1970er-Jahre – ein und blieben äußerst zögerlich. Erst infolge der historischen Zeitenwende (Fall der Berliner Mauer, deutsche Wiedervereinigung, Ende des Ost-WestKonflikts, Rückkehr des Krieges nach Europa, zunehmende Krisen in von fragiler Staatlichkeit geprägten Nachbarregionen) begann die EU, mit der Begründung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik GASP im Maastrichter Vertrag (1993) und einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik GSVP im Vertrag von Nizza (2003), ihre internationale Akteursqualität neu auszurichten und dezidiert zu stärken.2 Damit fügte sie den traditionellen Bereichen ihres internationalen Handelns, wie insbesondere der Handelspolitik und der Entwicklungszusammenarbeit, neue Dimensionen hinzu – GASP und GSVP eben, die in die hochsensiblen Politikfelder der äußeren Souveränität der Mitgliedstaaten hineinreichen und daher dezidiert intergouvernemental ausgestaltet wurden.3 Der mit der GSVP verknüpfte Einstieg der Europäischen Union in eine operative Sicherheitspolitik hatte zur Folge, dass sich die „normative power“ EU

2

Die ursprüngliche ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) wurde mit dem Lissabon-Vertrag in GSVP umbenannt.

3

Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela / Rüger, Carolin: Die Außenpolitik der EU, Berlin – Boston 2015, 38ff.

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(Ian Manners) in eine „Friedensmacht“ (Joschka Fischer) bzw. eine „Zivilmacht mit Zähnen“ (Frank-Walter Steinmeier) verwandelte. In ihrer ersten Sicherheitsstrategie „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ aus dem Jahr 2003 schuf sich die EU das korrespondierende Selbstbildnis einer „transformative power“ (Heather Grabbe), die krisengeschüttelte Drittstaaten stabilisieren und demokratisieren möchte.4 Dieses Rollenkonzept war die Antwort der EU auf den weltpolitischen Umbruch der 1980/1990er-Jahre mit Fokus auf Konfliktmanagement in krisengeschüttelten Nachbarregionen. Die Bezeichnung „Friedensmacht EU“ wurde maßgeblich von der damaligen rot-grünen Bundesregierung und Außenminister Joschka Fischer geprägt. In einer Rede vor dem Europäischen Parlament am 21.7.1999 sprach Fischer angesichts der Schaffung der GSVP davon, die EU „zu einer wirksamen und handlungsfähigen Friedensmacht fortzuentwickeln [...].“5 Der Begriff „Friedensmacht EU“, bzw. „EU as a force for peace“, wurde von mehreren Politikern zur Beschreibung der außen- und sicherheitspolitischen Rolle der Union übernommen und häufig verwendet, so neben Joschka Fischer auch von José M. Barroso, Viviane Reding, Daniel Cohn-Bendit, Stefan Füle und Martin Schulz. Verwunderlich ist daher, dass der Begriff „EU as a force for peace“ in den Sicherheitsstrategien der EU 2003 und 2016 keine explizite Verwendung findet. Das Leitbild „Friedensmacht EU“ bezieht sich explizit auf die GSVP als reine Kriseninterventionskapazität für externe Einsätze.6 Dazu heißt es im einschlägigen Artikel 42 Abs. 1 EUV: Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen.

4

Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela / Pietzko, Manuel / Zürn, Anja: Die Zukunft der Europäischen Union: Potenziale besser nutzen. In: Würzburger Jean-Monnet-Papers 1, 2018, 8.

5

Weiterhin trug vor allem Hans-Georg Ehrhart dazu bei, den Begriff publik zu machen. Vgl. Ehrhart, Hans-Georg: Leitbild Friedensmacht? Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Herausforderung der Konfliktbearbeitung. Sicherheit und Frieden 19:2, 50–56.

6

Das Leitbild adressiert nicht die Funktion der Integrationsgemeinschaft als Friedensgarantin nach innen, d.h. zwischen den Mitgliedstaaten.

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Art. 43 Abs. 1 EUV präzisiert: Die in Artikel 42 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden […].

Diesem Aufgabenkatalog waren alle 17 abgeschlossenen und sind alle 16 laufenden zivilen und/oder militärischen GSVP-Missionen gewidmet. In den letzten Jahren ist bei Mandatierung und Entsendung von militärischen GSVP-Missionen außerdem der Trend zu vermerken, dass die EU sich zunehmend vom „security provider“ zum „security consultant“ wandelt.7 So sind die drei jüngsten GSVPMissionen (EUTM Mali: 2013–2020; EUTM Somalia: seit April 2010; EUTM RCA: 2016–2020) reine Ausbildungsmissionen.

3.

NEUE HERAUSFORDERUNGEN, NEUE ENTWICKLUNGEN: SICHERHEIT UND VERTEIDIGUNG

Mit Terrorangriffen in EU-Mitgliedstaaten, insbesondere in Frankreich, mit der Annexion der Krim durch Russland und den kriegerischen Konflikten in der Ostukraine sowie im Nahen Osten, mit dem Brexit-Referendum und mit den durch US-Präsident Donald Trump spürbar verschlechterten transatlantischen Beziehungen hat sich die Sicherheitslage für die EU markant verändert. Darauf hat sie zunächst vor allem in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung reagiert.

7

Göler, Daniel: Zwischen security provider und security consultant. Veränderungen im Leitbild der strategischen Kultur der Europäischen Union. In: Zeitschrift für Außenund Sicherheitspolitik, 7/2014, 332–342.

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3.1 Fortschritte in der Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU Wie unter Punkt 2 bereits angedeutet, handelt es sich beim Politikfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) um einen Nachzügler, der erst verspätet und mit großen Zögerlichkeiten und Besonderheiten geschaffen werden konnte. Die GSVP ist – sogar stärker noch als die GASP – intergouvernemental geprägt und weist den Mitgliedstaaten die zentralen Entscheidungskompetenzen zu. Auch die militärischen Fähigkeiten der GSVP sind nach wie vor schwach, bei anspruchsvolleren Missionen kommen GSVP-Einsätze nicht ohne Rückgriffe auf NATO-Ressourcen aus.8 Wegen dieser besonderen Schwächen und Defizite der GSVP ist es wenig verwunderlich, dass die EU bei ihren jüngeren Versuchen, sich angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage neu aufzustellen und trotz bzw. wegen Trump und Brexit wieder Tritt zu fassen, einen Schwerpunkt im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik setzt.9 Zum einen adressierte die EU in ihren Weichenstellungen, die auf das Brexit-Referendum folgten, die Thematik der inneren und äußeren Sicherheit; damit griff sie den damaligen Kontext von Terrorangriffen in EUMitgliedstaaten (Frankreich, Deutschland) sowie des massiven Flüchtlingszustroms ab Sommer 2015 auf. Es entstand ein neues „Zauberwort aus Brüssel“: Sicherheit.10 Zum anderen nahm die EU ganz konkret die Errichtung einer Sicherheitsund Verteidigungsunion in Angriff, die auf eine substantielle Stärkung der GSVP hinauslaufen soll. Hier ist der komplexe Zusammenhang zum BrexitReferendum und dem Wunsch des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, zu betonen. Wenn die GSVP in den Jahren seit ihrer Lancierung – wie oben

8

Solche Rückgriffe sind im sog. Berlin-Plus-Abkommen aus 2003 geregelt, das aber seit Jahren von der Türkei auf der einen Seite und von Zypern seitens der EU blockiert wird – ein Grund, warum sich die GSVP-Missionen weitgehend auf Ausbildungsaufgaben konzentrieren. Seit der Ukraine-Krise gibt es jedoch wieder Bemühungen zu einer Vertiefung der Kooperation zwischen NATO und EU, vgl. Helwig, Niklas: Neue Aufgabe für die Zusammenarbeit zwischen EU und Nato. SWP Aktuell, 2017, 1.

9

Vgl. zum Folgenden ausführlich: Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Schicksalsjahre für die EU: 2017–2018. In: Hilz, Wolfram / Nötzold, Antje (Hg.): Die Zukunft Europas in einer Welt im Umbruch, Wiesbaden 2018, 25ff.

10 Brössler, Daniel: Das Zauberwort aus Brüssel. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. September 2016.

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knapp skizziert – vergleichsweise schwach und wenig integriert geblieben war, so zeichnet zu einem erheblichen Teil Großbritannien dafür verantwortlich, waren es doch vorrangig die Briten, die über die Jahrzehnte hinweg eine Stärkung oder gar Vergemeinschaftung von GSVP (und GASP) bekämpft hatten. Als Gegenleistung für ihre special relationship mit den USA verteidigten sie das NATO-First-Prinzip, das der Schaffung einer eigenständigen EU-Sicherheitsund Verteidigungspolitik sehr enge Grenzen setzte. Dennoch werden die Verluste beträchtlich sein, die ein EU-Austritt der Briten für die EU-Fähigkeiten in der GASP und GSVP mit sich bringen wird. Denn beim Vereinigten Königreich handelt es sich um einen Staat von großer internationaler Bedeutung, zählt Großbritannien doch zu den Großen in der internationalen Politik, so dass es der EU auf der Weltbühne schmerzhaft fehlen wird. Um nun auf beide Aspekte des intendierten Brexit – Verluste sowie neue Handlungsmöglichkeiten – zu reagieren, erfolgten 2016/2017 wichtige Weichenstellungen in der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Noch in der zweiten Jahreshälfte 2016 kam es zu zwei deutsch-französischen Initiativen zur Erneuerung der GSVP. Zum einen wurde die Einrichtung eines permanenten EUHauptquartiers (EU-HQ) für militärische sowie zivile GSVP-Missionen vorgeschlagen, zum anderen die Aktivierung des Artikel 42.6 EUV angeregt, der im Bereich Sicherheit und Verteidigung die Schaffung einer sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit erlaubt. „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen […], begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union“, heißt es im Lissabonner Vertrag. Beide Projekte waren über die Jahre hinweg von den Briten vehement abgelehnt worden, so dass die deutsch-französischen Vorschläge aus dem Jahr 2016 die Botschaft übermitteln sollten, dass ohne die Briten möglich werden könnte, was gemeinsam mit ihnen nie erreichbar war. In den Folgemonaten wurden diese Vorstöße von den europäischen Institutionen aufgegriffen, ergänzt und in sukzessive Entscheidungen der EU gegossen: Am 7. Juni 2017 erfolgte die Schaffung eines kleinen EU-HQ, und am 5. Dezember 2017 wurde im Kreise von 23 Mitgliedsstaaten die Errichtung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ), im EU-Jargon PESCO: Permanent Structured Cooperation, beschlossen. Wenig später brachten sich auch Portugal und Irland in die PESCO ein. Am 6. März 2018 wurden zunächst 17 Projekte zur Fähigkeitsverbesserung identifiziert, wobei jedes PESCO-Mitglied an mindestens einem Projekt teilnehmen muss. Am 20. November 2018 wurde ein zweites Paket mit weiteren 17 Projekten vom Rat angenommen. Mit all diesen Projekten sollen die militäri-

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schen Fähigkeiten der PESCO-Staaten verbessert beziehungsweise, wie im Cyber-Bereich, erst entwickelt werden. Trotz all dieser beachtlichen Fortschritte trifft gleichwohl zu, dass PESCO „und die Entwicklung einer leistungsfähigen verteidigungsindustriellen Basis […] erst in zehn bis 15 Jahren wirksam“ sein werden. 11 Auch ist nicht geklärt, ob die neue Bereitschaft von EU-Mitgliedstaaten, mehr für die Sicherheit und Verteidigung zu tun, tatsächlich ursächlich mit der PESCO-Initiative verknüpft ist. „Pesco ist bislang nicht effektiv und schließt auch noch keine Fähigkeitslücken der Mitgliedsstaaten“, meint die SWP-Sicherheitspolitik-Expertin Claudia Major. Die nun ausgewählten 34 Projekte hätten mehrheitlich schon vorher in der Schublade gelegen und seien von den Staaten lediglich umbenannt und wiederverkauft worden. „Man muss Pesco als politische Initiative begreifen, als Vorzeige-Integrationsprojekt. Verteidigung ist da eher ein Nebeneffekt.“ Denn letztlich garantiere die NATO Europas Verteidigung, so Major. 12 Selbstredend, möchte man hier hinzufügen; denn offiziell ist PESCO eine Stärkung der GSVP mit ihrem Fokus auf Kriseninterventionen. Zur im Aufbau befindlichen EU-Sicherheits- und Verteidigungsunion gehört auch der Beschluss zur Errichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds (EVF). Am 7.6.2017 hatte die EU-Kommission vorgeschlagen, einen EVF aufzulegen, um Europas Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. Für Forschung und Entwicklung sollen ab 2020 500 Mio. Euro pro Jahr verausgabt werden, für Entwicklung und Anschaffung: 500 Mio. Euro 2019–20, danach 1 Mrd. Euro pro Jahr. Der Verteidigungsfonds wird auch zur Finanzierung der PESCO-Projekte beitragen. Am 22.2.2019 erzielten Rat und Parlament eine Teileinigung über den EVF, jedoch konnte noch kein endgültiger Haushaltsentwurf beschlossen werden; dies wird wohl erst im Herbst 2019 erfolgen.13 Es lässt sich zusammenfassen, dass die EU-Sicherheits- und Verteidigungsunion mithin eine DauerGroßbaustelle bleiben wird. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass sie inzwischen recht zügig und dezidiert in Angriff genommen wurde.

11 Schwarzer, Daniela: Das nächste Europa. Die EU als Gestaltungsmacht. In: Mair, Stefan / Messner, Dirk / Meyer, Lutz (Hg.): Deutschland und die Welt 2030, Berlin 2018, www.deutschland-und-die-welt-2030.de/de/beitrag/das-naechste-europa-die-eu-alsgestaltungsmacht. 12 Claudia Major zitiert nach Beer, Josua: Machen 34 Projekte die EU verteidigungsunfähig? https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pesco-machen-34-projekte-die-euverteidigungsfaehig16083341-p2.html. 13 Euractiv, 22.2.2019.

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3.2 Offene Entwicklungsperspektiven in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Wie bereits erwähnt, war die Brexit-Perspektive eine sehr wichtige Antriebsfeder für die 25 PESCO-Staaten, d.h. die EU-27 minus Dänemark und Malta. Bei dem aktuell beobachtbaren Aufbruch in der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielt jedoch Präsident Trumps brachiale, oft unlesbare und widersprüchliche, auf jeden Fall aber unkonventionelle und verstörende Außen- und Sicherheitspolitik eine noch zentralere Rolle. Seien es Trumps Wahlkampfbemerkungen, die NATO sei „obsolet“ geworden, seien es seine Andeutungen, die USA könnten das transatlantische Bündnis verlassen, seien es seine sehr harschen Aufforderungen an die europäischen Bündnispartner, mehr Geld für ihre Verteidigung auszugeben – all dies läuft auf äußerst tiefe Verunsicherungen in der transatlantischen Allianz hinaus.14 Für diese erstmalige und einzigartige Konstellation steht geradezu paradigmatisch das inzwischen berühmte Diktum von Kanzlerin Angela Merkel, die nach dem ersten desaströsen Europa-Besuch des US-Präsidenten im Jahr 2017 schlussfolgerte: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ 15 Da Angela Merkel diesen bemerkenswerten Satz während eines Treffens vom 28.5.2017 in Trudering bei München sagte, prägte Ex-Außenminister Joschka Fischer den Begriff „Geist von Trudering“, um diesen historischen Wendepunkt in den deutsch-atlantischen Beziehungen zu markieren.16 Mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungsunion der EU jedoch lässt Merkel offen, in welchem Rahmen die Europäer ihr Schicksal verstärkt in die eigenen Hände nehmen müssten: in einem eigenständigen europäischen oder weiterhin im transatlantischen Rahmen, im Sinne etwa eines deutlich gestärkten europäischen Pfeilers in der NATO. Auch die weiteren, vor allem deutschfranzösischen Vorstöße zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU geben hierüber nicht verlässlich Aufschluss.

14 Zeiss, Marco: 70 Jahre Nordatlantikvertrag – ein Bündnis in schwierigem Fahrwasser, https://maineuropa.de (16.4.2019). 15 Angela Merkel zitiert nach Meiritz, Annett / Reimann, Anna / Weiland, Severin: Jeder Satz ein Treffer, 29.5.2017, www.spiegel.de/politik/deutschland/ a-1149649.html. 16 Fischer, Joschka: Der Geist von Trudering. Trump stellt den Westen in seiner bisherigen Form infrage. Jetzt muss sich Deutschlands Rolle in Europa ändern. In: Süddeutsche Zeitung, 9.6.2017.

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Als Emmanuel Macron in seiner inzwischen berühmten Rede vom 26. September 2017 an der Pariser Sorbonne vorschlug, ein Europa der Verteidigung zu schaffen, das auf autonome Handlungsfähigkeit ausgerichtet sein müsse, fügte er dem ein „in Komplementarität zur NATO“ hinzu.17 Und auch die ebenfalls von Macron in der Sorbonne-Rede erstmals geforderte „Europäische Interventionsinitiative“ (EI2) klärt diese Frage nicht. Zwar wurde die EI2, die auch Angela Merkel explizit befürwortet, am 25.6.2018 aus der Taufe gehoben. Doch der zentrale Inhalt des letter of intent klärt die Frage nach dem Rahmen ebenfalls nicht, wenn es heißt: „The ultimate objective of EI2 is to develop a shared strategic culture, which will enhance our ability, as European states, to carry out military missions and operations under the framework of the EU, NATO, the UN and/or ad hoc coalition.“18 Die Tatsache, dass sowohl das Bald-nicht-mehr-EU-Mitglied Großbritannien als auch das über ein GSVP-Opt-Out verfügende Dänemark die EI2 mittragen, sowie der zitierte Wortlaut selbst deuten darauf hin, dass sich alle Akteure einen möglichst flexiblen Handlungsrahmen à la carte erhalten bzw. verschaffen wollen. Als Reaktion auf die grassierenden Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist dies wohl eine kluge Strategie. Und selbst die Ende 2018 kurzfristig (wieder einmal) aufgeflammte Debatte über die Schaffung einer „richtigen“ europäischen Armee hat erneut gezeigt, dass die Frage nach dem am ehesten geeigneten Rahmen für die Gewährleistung der Sicherheit der EU-Mitgliedstaaten wohl weiterhin offenbleibt. Als sie 2015 im Kontext der Ukraine-Krise von Kommissionspräsident Juncker aufgeworfen worden war, hatte ihr die deutsche Seite umgehend eine Abfuhr erteilt – anders Ende 2018: Wieder einmal preschte Macron vor und forderte in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1 vom 6. November 2018 eine „richtige europäische Armee“. „Man kann die Europäer nicht beschützen, wenn man nicht beschließt, eine richtige europäische Armee zu schaffen. […] Wir brauchen ein Europa, das sich zunehmend selbst verteidigt, ohne ganz von den USA abhängig zu sein, in größerer Souveränität“, sagte Macron. Dabei sprach er weder einen Zeithorizont noch das Verhältnis zur NATO an. Kurz darauf bekannte sich auch Kanzlerin Merkel vor dem Europäischen Parlament zu einer „echten europäischen Armee“. Allerdings ordnete sie dieses Ansinnen eindeutig als Vision ein, an der man „aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre“ arbeiten müsse. Explizit sagte sie: „Das ist ja keine Armee gegen die NATO. […] Wenn wir unser 17 Die Sorbonne-Rede trug den Titel: „Eine Initiative für Europa. Für ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa“, www.ambafrance-de.org. 18 Abrufbar unter: 20180625-letter-of-intent-zu-der-europaeischen-interventions-initiati ve-data.pdf.

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Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten.“19 Hier weht zum einen der „Geist von Trudering“, zum anderen wird erneut das Konzept eines europäischen Pfeilers in der NATO ventiliert. Die zu diesem Zeitpunkt amtierende Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen relativierte den französischen Vorstoß weiter; der momentan spürbare und positive sicherheits- und verteidigungspolitische Aufbruch in der EU führe „Schritt für Schritt zu einer ‚Armee der Europäer‘. Streitkräfte in nationaler Verantwortung, eng verzahnt, einheitlich ausgerüstet, für gemeinsame Operationen trainiert und einsatzbereit.“20 Zur Sicherheits- und Verteidigungsunion der EU lässt sich vorläufig zusammenfassen: Angesichts einer veränderten internationalen Lage sowie angesichts von Brexit und Trump hat sich die PESCO-EU aufgemacht, ihre Interventionsfähigkeiten zu stärken und auf- bzw. auszubauen. Dieser neue Elan wird auch den Streitkräften der PESCO-Mitgliedstaaten zugutekommen, weil sie sich – etwa im Cyber-Bereich – handlungsfähig machen können, noch dazu mit absehbarer finanzieller Entlastung durch den EVF. PESCO soll zu „Missionen mit höchsten Anforderungen“ befähigen (Art. 42. 6 EUV). Es stellt sich folglich die Frage, ob solche Missionen in Drittstaaten, die höchste Anforderungen erfüllen, noch mit dem tradierten Leitbild der „Friedensmacht EU“ kompatibel sind. Dies lässt sich nicht einfach beantworten. Eine „echte europäische Armee“ hingegen, die ja wohl vorrangig die klassische Landes- bzw. Territorialverteidigung wahrzunehmen hätte, würde diesen terminologischen Rubikon überschreiten. So weit ist es jedoch noch lange nicht, und so weit wird es vielleicht auch nie kommen.

19 Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor dem Europäischen Parlament am 13.11.2018 in Straßburg, www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerinmerkel-vor-dem-europaeischen-parlament-am-13-november-2018-in-strassburg1549538. 20 Ursula von der Leyen: Den Worten müssen jetzt Taten folgen, 16.11.2018, https:// www.faz. net/-15892744.

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4. NEUE HERAUSFORDERUNGEN, NEUE ENTWICKLUNGEN: NEUER SELBSTBEHAUPTUNGSWILLE DER EU? Die derzeitige Weltunordnung stellt die EU vor gewaltige Herausforderungen. Das für sie neue und besonders verstörende Moment ist dabei zweifelsohne, dass Anfechtungen, Geringschätzung, ja offene Feindseligkeit, verknüpft mit einem kruden Willen zum „divide et impera“, derzeit nicht nur von den üblichen Verdächtigen wie China, Russland, der Türkei etc. stammen, sondern mitten aus dem Herzen des (ehemaligen?) Westens, aus den USA des Präsidenten Donald Trump. Seit Trumps Amtsantritt im Januar 2017 kommt der Frontalangriff auf die tradierte liberale Weltordnung folglich nun auch „von innen, von einem Präsidenten, der die Ängste vor den Folgen der Globalisierung, die Skepsis gegenüber kostspieligen internationalen Verpflichtungen […] nutzt und sich zu eigen macht“.21 Die vorrangig per Twitter kommunizierte „America first“-Politik des amtierenden US-Präsidenten wendet sich in der Tat in erster Linie gegen die in den Nachkriegsjahrzehnten unter maßgeblicher US-amerikanischer Führung mühsam aufgebaute liberale und multilaterale Weltordnung; denn mit der langen Liste der durch Trump aufgekündigten internationalen Abkommen hebelt er die Grundpfeiler der bisherigen internationalen Normen und Gepflogenheiten – wie das pacta sunt servanda – aus. Dies trifft auf das Pariser Klima-Abkommen, das Iran-Nuklear-Abkommen, das INF-Abkommen sowie den Arms Trade Treaty zu. Die Verhängung von Strafzöllen gegen wichtige WTO-Handelspartner, allen voran China und EU, und die kontinuierlichen Drohungen, die Zollschraube weiter anzuziehen, haben das Potenzial, die Welt ins Chaos zu stürzen. Für die EU als ältesten, wichtigsten und engsten Partner der USA bedeuten diese höchst destruktiven Frontalangriffe auf die tradierte, liberale, regelbasierte Weltordnung einen Schock, eine Provokation und eine dramatische Zäsur. Als Symbol hierfür gilt inzwischen der völlig gescheiterte G7-Gipfel vom 8. und 9. Juni 2018 in La Malbaie in Quebec / Kanada. Auch Trumps Äußerung in einem Interview mit CBS vom 15. Juli 2018 „I think the European Union is a foe“ hat in der EU die Alarmglocken schrillen lassen. Daher ist die EU deutlicher als jemals zuvor dazu aufgerufen, fundamentale Ordnungsprinzipien wie liberale, demokratische Werte und Normen, Multilateralismus mitsamt seinen Regeln und Institutionen zu verteidigen. Denn die „EU steht wie kein anderer internationaler Akteur für Weltoffenheit, für liberale Wer-

21 Rudolf, Peter: Die USA unter Trump. Mögliche Konsequenzen für die transatlantischen Beziehungen. In: Friedensgutachten 2017, Münster 2017, 51.

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te und für den Versuch einer Steuerung der Globalisierung durch internationale Normen, Regeln und Organisationen“.22 Als politische Entität sui generis, die maßgeblich auf der Akzeptanz und der Befolgung von Recht und Regeln beruht, ist sie in noch höherem Maße als gewöhnliche Nationalstaaten auf den Erhalt einer verregelten und verrechtlichten Weltordnung angewiesen. Das Leitbild einer multipolaren und multilateralen, einer regelbasierten Global Governance ist in der Tat in der DNA der EU verankert.23 Es stellt sich folglich die zentrale Frage, welchen Beitrag die EU zur Verteidigung, zum Erhalt und bestenfalls sogar zur Verbesserung dieser multilateralen, regelbasierten Weltordnung leisten kann und leisten will. Zweifel an ihrer Fähigkeit, solch eine große weltpolitische Rolle übernehmen zu können, äußert prominent Ex-Außenminister Joschka Fischer, wenn er schreibt, dass „weit und breit keine andere Macht“ in Sicht sei, „nicht China, nicht Indien, nicht Europa und nicht Russland, […] die in der Lage wäre, gegenwärtig die globale Rolle der USA zu übernehmen und in deren sehr große Schuhe als globale Ordnungsmacht zu schlüpfen“.24 Dem stehen gegensätzliche Erwartungen gegenüber, die nicht zuletzt von US-amerikanischer Seite artikuliert werden.25 Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, ob und inwiefern die EU auf die neue Konstellation reagiert und die immensen Herausforderungen angenommen hat. So soll zum einen das neue Leitbild für die EU umrissen werden, das sich derzeit abzeichnet. Zum anderen sollen konkrete Schritte der Union angesprochen werden, die aktuell darauf hindeuten, dass die EU die Zeichen der Zeit erkannt zu haben scheint und sich unter dem Stichwort der „strategischen Autonomie“ auf eine neue, veränderte, selbstbewusstere und verantwortungsvollere internationale Rolle vorbereitet.

22 Dembinski, Matthias: Ist die EU als Friedensmacht am Ende? In: Schoch, Bruno / Heinemann-Grüder, Andreas / Hauswedell, Corinna u.a. (Hg.): Friedensgutachten 2017, 70. 23 Die Hohe Vertreterin Federica Mogherini bezeichnet die grundlegende Kooperationsbereitschaft der EU als in deren DNA liegend, vgl. Müller-Brandeck-Bocquet / Rüger: Die Außenpolitik der EU, 22. Dies lässt sich auch auf ihr fundamentales Interesse an einem funktionierenden Multilateralismus übertragen. 24 Fischer, Joschka: Der Abstieg des Westens. Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts, Köln 2018, 28. 25 Kupchan, Charles: Ein Bündnis der Mitte. Angesichts des Versagens der USA und Großbritanniens, liegt es an Kontinentaleuropa, die liberale Ordnung zu sichern. In: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2017.

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4.1 Eine souveräne EU als die Kraft, die den Multilateralismus stärkt – ein neues Leitbild? Zweifelsohne konnte die Polykrise26, die die EU ab 2008/2010 fest in ihren Griff nahm, auch deshalb so gravierende Auswirkungen entfalten, weil die EU es im Verlauf der letzten Jahrzehnte nicht mehr vermocht hatte, Europas Bürgerinnen und Bürger von ihrem Mehrwert und ihrer Unverzichtbarkeit zu überzeugen. Lange Zeit herrschten in der EU Visions- und Mutlosigkeit vor. Es fehlte an einem akzeptanz- und konsensschaffenden Leitbild, an einer Großerzählung, die „Verbindungslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ herstellen, Zukunftsperspektiven entwickeln, Sinn stiften sowie Orientierung verschaffen konnte.27 All dies hat in großem Maße zu den bedrohlichen aktuellen Entwicklungen beigetragen, die es derzeit zahlreichen dezidiert EU-feindlichen Parteien quer durch die Mitgliedstaaten ermöglichen, das europäische Einigungsprojekt anzugreifen. Doch der Brexit und all die breitgefächerten Angriffe auf die uns bekannte multilaterale Weltordnung haben in summa inzwischen bewirkt, dass die EU bzw. vorerst vorrangig der „deutsch-französische Motor der Integration“ verstärkt Selbstbehauptungs- und Überlebenswillen demonstrieren und ein neues, zeitgemäßes Leitbild für die EU entfalten.28 Zentral ist dabei die bereits erwähnte Rede, die Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am 26.9.2017 an der Pariser Sorbonne hielt; hier prägte er den Begriff der „europäischen Souveränität“. Diese „europäische Souveränität“ möchte Macron auf sechs Pfeilern aufbauen: auf einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer effektiven und zugleich humanen Migrationspolitik, einer auf Afrika fokussierten partnerschaftlichen Entwicklungspolitik, einer auf Nachhaltigkeit abzielenden Vorreiterrolle in der Umwelt-

26 Obwohl Juncker den Begriff der Polykrise publik gemacht hat, geht er ursprünglich wohl auf eine Publikation des European Policy Centre zurück; dort heißt es: „Europe is facing a ,poly-crisis‘ that includes a number of highly-complex, multi-rooted and deeply interlinked crises.“, Emmanouilidis, Janis A. / Zuleeg, Fabian: EU@60 – Countering a regressive & illiberal Europe, 2016, 4, https://www.epc.eu/pub_details. php?cat_id=1&pub_id=7020. Auf diese Hintergründe hat mich Johannes Greubel, ehemaliger Mitarbeiter und nun am European Policy Center tätig, hingewiesen. 27 Münkler, Herfried: Auf der Suche nach einer neuen Europaerzählung. In: Straßenberger, Grit / Wassermann, Felix (Hg.): Staatserzählungen, Berlin 2018, 171ff. 28 Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Zukunftsdebatten in der EU. In: APuZ 04-05/2019, 19–25.

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und Klimapolitik, der aktiven Gestaltung der Digitalisierung sowie der Konsolidierung und Stärkung der Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht der EU. Zu allen sechs Pfeilern unterbreitete Macron konkrete Vorschläge. Das von Macron direkt angesprochene Deutschland jedoch ließ ihn lange auf eine Antwort warten. Dafür zeichneten die gescheiterten Jamaika-KoalitionsVerhandlungen sowie die permanenten Krisen der Anfang März 2018 angetretenen dritten Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel verantwortlich. Daher wird das Interview, das Angela Merkel am 3.6.2018 der Frankfurter Sonntagszeitung gab, gerne als die deutsche Antwort auf Macron verstanden.29 Ohne Macrons Begrifflichkeiten einer „europäischen Souveränität“ oder eines „souveränen Europa“ aufzugreifen, trägt Merkel hier ihren Teil zu einem neuen, kontextadäquaten Leitbild für die EU bei. „Wir stehen vor umfassenden Problemen, weil sich die gesamte Weltordnung ändert […]. Das alles bedeutet für uns Europäer, dass wir unsere Stellung im globalen Gefüge neu definieren müssen, dass wir uns als gemeinsam handelnder globaler Akteur einbringen müssen […]“, sagte die Kanzlerin und erinnerte explizit an ihren inzwischen berühmten Truderinger Satz vom 8.5.2017. Der Beitrag, den Angela Merkel 2018 zu einem neuen Leitbild für die EU leistet, lässt sich an ihrer selbstbewussten Forderung festmachen: „Europa soll wahrgenommen werden als starke Stimme im Konzert der globalen Akteure […]. Es soll klar sein, […] dass wir die Kraft sind, die den Multilateralismus stärkt.“ In den deutsch-französischen Regierungskonsultationen, die am 19.6.2018 auf Schloss Meseberg stattfanden, sowie im neuen Vertrag von Aachen über die „deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“, der zum unrunden 56. Geburtstag des Elysée-Vertrags am 22.1.2019 unterzeichnet wurde, wird das neue deutsch-französische Leitbild weiter ausformuliert. So heißt es in der Erklärung von Meseberg: „Frankreich und Deutschland eint das gemeinsame Eintreten für das europäische Projekt: ein demokratisches, souveränes und geeintes Europa“. Damit wird wortwörtlich der Titel der Sorbonne-Rede aufgegriffen; von deutscher Seite ist es das erste Mal, dass man von einem „souveränen Europa“ spricht. Im Vertrag von Aachen geben sich beide Staaten davon überzeugt, „dass die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich für eine geeinte, leistungsfähige, souveräne und starke Europäische Union entscheidend gewesen ist und ein unverzichtbares Element bleibt“; sie geben ein „feste[s] Bekenntnis zu einer internationalen, regelbasierten und auf Multilateralismus gründenden Ordnung ab, in deren Zentrum die Vereinten Nationen stehen“. Mit Meseberg

29 https://www.faz.net/social-media/instagram/kanzlerin-angela-merkel-f-a-s-intervieweuropa-muss-handlungsfaehig-sein-15619721.html?premium.

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und Aachen, so lässt sich optimistisch und zugespitzt zusammenfassen, ist das neue gemeinsame deutsch-französische Leitbild für die EU geboren. Weitere äußerst öffentlichkeitswirksame Manifestationen des neuen Leitbildes einer „souveränen EU als der Kraft, die den Multilateralismus stärkt“ ließen sich im Kontext der Münchener Sicherheitskonferenz 2019 beobachten, als Außenminister Heiko Maas sagte: „Nur wenn wir Souveränität europäisch bündeln, kann Europa souverän handeln“30; auch rief Maas zusammen mit seinem Kollegen, Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian, (erneut) zur Schaffung einer „Allianz für den Multilateralismus als Netzwerk von Gleichgesinnten“ auf. Der Appell endet mit einem erstaunlichen und für europäische Maßstäbe erfrischend selbstbewussten: „Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?“ 31 Bisher sind dies deutsch-französische Vorschläge für ein neues EU-Leitbild. Es gilt, was seit jeher für alle Initiativen des „Motors der Integration“ gilt: Sie müssen von den anderen EU-Mitgliedstaaten akzeptiert und von den zentralen EU-Institutionen übernommen werden. Letzteres ist bereits geschehen. So hat Kommissionspräsident Juncker seiner Rede zur Lage der Union im September 2018 den Titel „Die Stunde der Europäischen Souveränität“ gegeben und fordert die EU auf, „Weltpolitikfähigkeit“ zu entwickeln. Auch EZB-Chef Mario Draghi hat sich in einer Rede vom 22.2.2019 zur europäischen Souveränität geäußert. 32 Was den Anschluss der anderen EU-Mitgliedstaaten anbelangt, ist der Zuspruch bisher wesentlich verhaltener; sicher aber kann man die Züricher Rede des Niederländers Mark Rutte vom 13. Februar 2019 als Schulterschluss verstehen.33 4.2 Die „strategische Autonomie“ der EU entfalten Der aktuelle weltpolitische Umbruch sollte die EU dazu veranlassen, das neue Leitbild einer „souveränen EU als der Kraft, die den Multilateralismus stärkt“ vollinhaltlich zu übernehmen und zu implementieren. Dazu muss sie sich der Gesamtheit ihrer Potenziale besser bewusst werden. Hier ist schlicht an das Mo30 Heiko Maas, zitiert von Brössler, Daniel / Krüger, Paul-Anton: Die Weltgemeinschaft sucht nach Lösungen. In: Süddeutsche Zeitung, 16./17.2.2019. 31 Le Drian, Jean-Yves / Maas, Heiko: Wer, wenn nicht wir? Gastbeitrag in: Süddeutsche Zeitung, 14.2.2019. 32 Draghi, Mario: Sovereignty in a Globalised World, 22.2.2019. https://www.ecb. europa.eu/press/key/date/2019/html/ecb.sp190222~fc5501c1b1.en.html. 33 Rutte, Mark: From power of principles towards principles and power, 13.2.2019, https://www.government.nl/government/members-of-cabinet/mark-rutte/documents/ speeches/2019/02/13/churchill-lecture-by-prime-minister-mark-rutte-europa-institutat-the-university-of-zurich.

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saik der EU-Außenpolitik anzuknüpfen, das die vielfältigen Handlungsdimensionen und Handlungsfelder aufzeigt, auf die die EU zurückgreifen kann.34 Es gilt, diese endlich in all ihren Dimensionen zusammenzudenken und einzusetzen. Dies geschah in der Vergangenheit nicht in ausreichendem Maße. Völlig zu Recht hält Federica Mogherini im Vorwort zu der maßgeblich von ihr erarbeiteten neuen Globalen Strategie der EU aus dem Jahre 2016 fest: „[A]ls Union mit fast einer halben Milliarde Bürgern verfügen wir über ein beispielloses Potenzial […]. Es ist aber auch klar, dass wir unser Potenzial noch nicht in vollem Umfang ausschöpfen“ und erhebt den „Anspruch auf strategische Autonomie der Europäischen Union.“ 35 Das Ansinnen, angesichts des aktuellen weltpolitischen Umbruchs die Gesamtheit der Handlungspotenziale der EU zu nutzen, zu verknüpfen und zu stärken, wird derzeit eben unter diesem Begriff der „strategischen Autonomie Europas“ diskutiert. So heißt es in einer jüngeren Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik: „Europa muss in zunehmendem Maße selbst Verantwortung für sein Wohlergehen und seine Sicherheit übernehmen. Die Debatte über die Stärkung der europäischen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit dreht sich um Begriffe wie den der strategischen Autonomie oder, vor allem in Frankreich, der europäischen Souveränität“, schreiben die Autoren. Weiter heißt es: Strategische Autonomie wird hier als die Fähigkeit definiert, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen. Dieses Verständnis umfasst das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns, nicht nur die verteidigungspolitische Dimension.36

Dem ist schlicht zuzustimmen. Wenn in den letzten Jahren unter dem Stichwort Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit sehr vorrangig die sicherheitsund verteidigungspolitische Dimension des EU-Außenhandelns im Fokus stand – wo zugegebenermaßen auch ein besonders großer Nachholbedarf besteht –, so müssen der aktuelle weltpolitische Umbruch und die Auflösungserscheinungen des sogenannten Westens die EU dazu veranlassen, sich in toto als eigenständi34 Müller-Brandeck-Bocquet / Rüger: Die Außenpolitik der EU, 10. 35 Mogherini, Federica: Vorwort. In: Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel 2016. 36 Lippert, Barbara / von Ondarza, Nicolai / Perthes, Volker (Hg.): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte. SWP-Studie 2019/02, 1–5.

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ger weltpolitischer Akteur zu verstehen und entsprechend zu handeln. In diesem Beitrag wurde bisher das neue Leitbild der EU als „Eine souveräne EU als die Kraft, die den Multilateralismus stärkt“, verwendet. Alternativ könnte es auch „Eine souveräne EU in strategischer Autonomie“ heißen.

5. EINE SOUVERÄNE EU IN STRATEGISCHER AUTONOMIE: WUNSCHDENKEN ODER ZUKUNFT? Eine strategische Autonomie der EU kann nur erreicht werden, wenn „das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns“ eingesetzt wird. 37 Ist eine solche Entwicklung ansatzweise in Sicht? Bei genauer Betrachtung lassen sich erste, zaghafte Bemühungen der EU erkennen. Insgesamt gilt es, neben der Handels- und Klimapolitik, der Entwicklungszusammenarbeit, der Nachbarschaftspolitik etc. auch die genuine Außenpolitik der EU (GASP) wieder in den Fokus zu stellen. Gekonnte Diplomatie, verlässliches Einstehen für geschlossene Verträge, Vertrauensbildung durch respektvollen Umgang mit allen Gesprächs- und Verhandlungspartnern sind in der aktuellen Weltunordnung wohl die wichtigsten Güter, um Konflikte zu deeskalieren oder beizulegen und insgesamt um Frieden zu erhalten bzw. zu schaffen. Daher muss die genuine Außenpolitik GASP effizienter handeln können. Zu diesem Punkt wurden im Juni 2018 in Meseberg einschlägige Vorschläge unterbreitet. So kündigten Frankreich und Deutschland an, „neue Möglichkeiten zu prüfen, wie die EU-Entscheidungsfindung in unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschleunigt und effizienter gemacht werden kann. […] Ferner sollten wir […] Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik prüfen.“38 Auch der „Geist von Sibiu“, den der Europäische Rat der EU-27 am 9.5.2019 auf seinem Gipfel in der rumänischen Stadt beschwor, lässt sich als ein Schritt in Richtung einer souveränen EU in strategischer Autonomie deuten. In der gemeinsamen Erklärung lobt man sich zunächst selbst: „Im Laufe der Jahre ist [die

37 Ebd., 5. 38 Bundespresseamt: Erklärung von Meseberg, Pressemitteilung, 19.6.2018, www. bundesregierung. de/-1140536. Dieser Vorschlag ist keineswegs neu. Gleichlautende Vorschläge hatte bereits auch die aus 11 EU-Außenministern bestehende „Future of Europe Group“ in ihrem Abschlussbericht vom 17.9.2012 unterbreitet, https://www. cer.eu/sites/default/files/westerwelle_report_sept12.pdf.

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EU] zu einem Hauptakteur auf dem internationalen Parkett geworden. Mit rund einer halben Milliarde Bürgerinnen und Bürgern und mit einem wettbewerbsfähigen Binnenmarkt ist sie im weltweiten Handel führend und gestaltet sie globale Politik.“ Und weiter: Europa wird seine globale Führungsrolle verantwortungsbewusst wahrnehmen. Die Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, betreffen uns alle. Wir werden auch künftig mit unseren Partnern in der Welt zusammenarbeiten, um die regelbasierte internationale Ordnung aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, um neue Handelsmöglichkeiten optimal auszuschöpfen und globale Fragen wie die Bewahrung unserer Umwelt und die Bewältigung des Klimawandels gemeinsam anzugehen. 39

Dieses vollmundige Selbstlob in Sachen „Hauptakteur“ und „globale Führungsrolle“ könnte als pures Wunschdenken abgetan werden. Daher sollen abschließend kursorisch einige jüngere Projekte, Entwicklungen und Weichenstellungen der EU erwähnt werden, die die Suche nach strategischer Autonomie unterfüttern. 5.1 Eine souveräne EU in strategischer Autonomie? – work in progress 40 Angesichts des aktuellen weltpolitischen Umbruchs wird sich europäische Gestaltungskraft erstens daran messen lassen müssen, ob es – wie in Sibiu formuliert – die EU vermag, „die regelbasierte internationale Ordnung aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln“. Konkret geht es darum, ob es der EU gelingen kann, die internationalen Abkommen zu erhalten, die vom Furor des USPräsidenten bedroht sind, weil er sie aufgekündigt hat oder dies tun will. So ist zu fragen, ob es möglich ist, das Pariser Klimaabkommen vom Dezember 2015 zu erhalten, ab 2020 zu implementieren und Schutzmaßnahmen sukzessive zu verschärfen, um das 1,5-bis-2-Grad-Ziel zu erreichen. Besonders interessiert hier, welche Rolle die EU in diesem Rettungsprozess spielen kann. Bereits bei der COP 24 (Conference of the Parties) im Dezember 2018 im polnischen Kattowitz ließ sich eine positive Rolle der EU beobachten. Hier trug sie wesentlich dazu bei, dass das „Regelbuch“ zur konkreten Umsetzung des Pariser Klimaabkommens überhaupt zustande kam. Die COP 24 kann als Indiz gewertet

39 www.consilium.europa.eu/press. 40 Die nachfolgenden Beobachtungen enden Mitte Juni 2019; spätere Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden.

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werten, dass die EU in Kooperation mit anderen großen Playern internationale Abkommen trotz US-amerikanischer Verweigerungshaltung aufrechterhalten und mithin retten kann. Die COP 24 wurde außerdem als ein erster Schritt zur Wiedererlangung der klimapolitischen Vorreiterrolle gewertet, die die EU lange Zeit besaß, aber 2009 auf der COP 15 in Kopenhagen eingebüßt hat. 41 Nachdem sich im unmittelbaren Vorfeld des Europäischen Gipfeltreffens vom 20./21.6.2019 endlich auch die Bundesregierung dem in Sibiu ausgegebenen Ziel angeschlossen hatte, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen,42 hatte die EU auf dem Gipfel des Europäischen Rats vom 20./21.6.2019 die große Chance, sich weltweit eindeutig als klimapolitische Vorreiterin zu positionieren. Diese Chance wurde vertan, weil sich vier Mitgliedstaaten dieser ambitionierten Zielsetzung nicht anschlossen. Noch viel schwieriger gestaltet sich die Rettung des Nuklear-Abkommens mit dem Iran. Hier verfügt die EU über wenig Möglichkeiten, um den Iran zur Bewahrung des Abkommens zu bewegen – trotz US-amerikanischer Aufkündigung und Rückkehr zu Sanktionen. Die ganze Hilflosigkeit der Europäer wurde letzthin beim Iran-Besuch von Außenminister Heiko Maas deutlich, der vor allem Teheran vor zu großen Erwartungen an die EU warnen sollte. 43 Zwar haben Deutschland, Frankreich und Großbritannien zur Rettung des Abkommens Ende Januar 2019 Instex (Instrument for Supporting Trade Exchanges) gegründet, das europäischen Firmen in gewissem Umfang Handelsbeziehungen mit dem Iran ermöglichen soll, ohne dass sie von den extraterritorialen Sanktionen getroffen werden, die die USA für alle Geschäfte verhängen, die in US-Dollar und über US-amerikanische Banken abgewickelt werden. Doch zum einen ist INSTEX Mitte Juni 2019 noch immer nicht einsatzbereit, zum anderen werden sich international agierende Firmen aus Angst um ihre US-Geschäfte sicher nicht daran beteiligen. Sollten sich nicht auch die anderen Vertragsparteien des IranNuklearabkommens – China und Russland – massiv involvieren, dann wird es kaum zu retten sein. Wenn der Iran, wie mehrfach angekündigt, Menge und Anreicherungsgrad seiner Uranproduktion nach oben fährt, wäre das Abkommen definitiv tot.44 Deadline war der 7. Juli 2019. 41 Zürn, Anja: COP 24: Die Grundsteinlegung zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens? In: www.maineuropa.eu, 17.1.2019. 42 Bauchmüller, Michael: Deutschland lenkt bei Klimaschutz ein. In: Süddeutsche Zeitung, 17.6.2019. 43 Brössler, Daniel / Krüger, P.-A.: Eine Reise wie keine andere. In: Süddeutsche Zeitung, 7.6.2019. 44 Kolb, Matthias: Iran kündigt stärkere Anreicherung von Uran an. In Süddeutsche Zeitung, 18.6.2019.

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Um die Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung geht es auch beim Plan der Europäischen Kommission, das seitens der USA bedrohte WTO-Streitschlichtungsverfahren zu erhalten. Gegen Ende 2019 droht der Dispute Settlement Body der WTO handlungsunfähig zu werden, da Washington die Nachbesetzung von Richterstellen blockiert. Daher schlägt die Kommission vor, ein den bisherigen Regeln und Verfahren nachgebildetes Gremium zu schaffen, gemeinsam mit anderen WTO-Mitgliedern, aber außerhalb der WTO-Struktur.45 Schritte in Richtung einer souveränen EU in strategischer Autonomie müssen zweitens auch die Eigeninteressen der EU in einem zunehmend rauer gewordenen internationalen Umfeld adressieren. Unter dem Stichwort „Weg vom Dollar“ will die Kommission die Rolle des Euro im internationalen Zahlungsverkehr stärken, um die extraterritorialen Sanktionsmöglichkeiten der USA zu begrenzen; diese können immer dann greifen, wenn der internationale Zahlungsverkehr über den Dollar abgewickelt wird. Im Sinne europäischer Souveränität gilt es, dem Einhalt zu gebieten.46 Da derzeit – bei leicht sinkender Tendenz – knapp 62 Prozent des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar und nur rund 21 Prozent – bei leicht steigender Tendenz – in Euro abgewickelt werden, ist dies ein Projekt herkulischer Dimensionen. Dem Schutz europäischer Eigeninteressen dient auch die Mitteilung von Kommission und Hoher Vertreterin „EU-China – Strategische Perspektiven“ vom 12.3.2019. Hier heißt es u.a.: „China ist ein ökonomischer Wettbewerber auf der Suche nach technologischer Führung und ein systemischer Rivale, der alternative Regierungsmodelle befürwortet. […] Die EU muss ihre Interessen angesichts unlauterer Praktiken von Drittländern schützen.“ Die neue ChinaStrategie verfolgt vorrangig drei Ziele: Erstens soll die EU „auf der Grundlage klar umrissener Interessen und Grundsätze“ die Zusammenarbeit mit China vertiefen, zweitens soll sich die EU „nachdrücklich um ausgewogenere und auf Gegenseitigkeit beruhende Bedingungen für die wirtschaftlichen Beziehungen bemühen“, drittens schließlich muss die EU sich „an die sich verändernden wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen und ihre eigene Innenpolitik und Indus-

45 European Commission: WTO modernisation – concept paper, September 2018; Beisel, Karoline Meta: Schlichterplan. In: Süddeutsche Zeitung, 8./9./10.6.2019. 46 European Commission: Towards a stronger international role of the euro, 5.12.2018. Vgl. auch Batut, Cyprien / Lenoir, Olivier: For geopolitics of the euro, foundation Robert Schumann, 12.3.2019.

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triebasis stärken“.47 Der Europäische Rat hat diese neue EU-China-Strategie am 21./22.3.2019 angenommen. Über die Stärkung der europäischen Industriebasis inklusive der eventuellen Entfaltung einer europäischen Industriepolitik, die europäische „Champions“ fördern könnte, um im globalen Wettbewerb zu bestehen, tobt derzeit ein heftiger Streit. Insbesondere bei Deutschlands Wirtschaftsvertretern kommen solche strategischen Überlegungen gar nicht gut an; hart kritisieren sie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier für seine jüngeren Vorstöße. Dabei arbeitet Altmaier besonders eng mit Frankreich zusammen, wo der Ansatz, dass Europas Unternehmen im weltweiten Wettbewerb besser geschützt und unterstützt werden müssten, auf breite Zustimmung stößt.48 Groß war daher der Ärger, als Margrethe Vestager, EU-Wettbewerbskommissarin der letzten Legislatur und Spitzenkandidatin der neuen Renew-Europe-Fraktion im Europäischen Parlament, jüngst aus wettbewerbsrechtlichen Gründen den Zusammenschluss der Zugsparten von Siemens und Alstom untersagte. Immerhin konnte im Mai 2019 der Startschuss für ein deutsch-französisches Batterie-Konsortium gegeben werden, um die Selbstbehauptung Europas in der e-Mobilität zu unterstützen.49 Ob all diese bisher bescheidenen Schritte des work in progress mittel- und langfristig zu einer souveränen EU in strategischer Autonomie führen können, muss hier selbstredend offenbleiben – zumal, wenn man Konflikte und Probleme hinzunimmt, in welchen die EU aktuell keinerlei gestaltende Hebel einzusetzen vermag, wie beispielsweise im Nahost-Konflikt. 5.2 Fazit Die Weltordnung ist derzeit in einem bedauernswerten, gefährlichen Zustand mit hochexplosiven Krisenherden bei gleichzeitig deutlich abnehmender Bereitschaft mancher großer Player der internationalen Beziehungen, durch Kooperation und gestützt auf Regeln, Abkommen und multilateral ausgerichtetes Handeln zum Abbau und Ausgleich dieser Gefährdungen beizutragen. Da sowohl in China als auch in Russland sich der Autoritarismus stetig weiter verfestigt und die USA als

47 Gemeinsame Mitteilung von europäischer Kommission und Hoher Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik: „EU-China – Strategische Perspektiven“, JOIN(2019) 5 final, Brüssel 12.3.2019. 48 Charrel, Marie: L’Europe doit mieux défendre ses entreprises. In: Le Monde, 17. 5.2019. 49 Hägler, Max / Klimm, Leo: Ein Köder für die Industrie. In: Süddeutsche Zeitung, 3.5.2019.

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benevolente Ordnungsmacht momentan ausfallen, kommt der EU und anderen der liberalen Weltordnung verpflichteten Staaten die Verantwortung zu, gegen all diese destabilisierenden Trends anzukämpfen. Wie zu zeigen versucht wurde, hat die EU erste Schritte unternommen, um sich auf die neue Weltunordnung einzustellen. Immer deutlicher wird erkannt, dass die EU auch allein handlungsfähig werden muss, dass sie auch ohne die vormalige Schutz- und Vormacht des Westens für die liberale, regelbasierte und multilaterale Ordnung einstehen muss bzw. einstehen können muss. In diesem äußerst schwierigen Lernprozess haben sich letzthin nicht zu unterschätzende Fortschritte im Bereich der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergeben. Weiterhin hat vorrangig der „deutsch-französische Motor der Integration“ jüngst ein neues Leitbild für eine größere, eigenständigere Rolle der EU entwickelt, das sich als „Eine souveräne EU als die Kraft, die den Multilateralismus stärkt“, oder als „Eine souveräne EU in strategischer Autonomie“ bezeichnen lässt. Auch Junckers Forderung nach europäischer Weltpolitikfähigkeit soll hier nochmals erwähnt werden. Ebenso konnten erste Anzeichen zusammengetragen werden, dass die EU mit manchen ihrer Handlungen dem neuen Leitbild konkret Rechnung zu tragen beginnt. Es wäre nun ein Leichtes, all dies vom Tisch zu wischen mit der zutreffenden, zugleich aber auch süffisanten, es sich zu einfach machenden Bewertung, dass diese „work in progress“ nicht ausreicht, um den gefährlichen weltpolitischen Trends Einhalt zu gebieten. Ja, natürlich reicht das noch nicht. Doch die Dinge bewegen sich, immerhin. In einer Zeit der zu großdimensionierten Erwartungen, die bei nicht sofortiger Erfüllung in Unmut und Zynismus umschlagen, des vorschnellen Defätismus – in solch einer Zeit also ist es besonders wichtig, sich den Blick auf die kleinen, zunächst wenig spektakulär daherkommenden Veränderungen zu bewahren. Mittelfristig können sie zu einer neuen Macht- und Einflussverteilung auf der internationalen Ebene führen. Wenn die Welt in Unordnung geraten ist, wenn sich manche von den Grundwerten und -regeln eines friedlichen und auf Ausgleich abzielenden, gleichberechtigten Miteinanders abwenden, dann können – müssen aber nicht – die Verfechter einer freiheitlichen Ordnung durchaus als Gewinner aus dieser Gemengelage hervorgehen. Denn, daran hat Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2019 mit den Worten Alexander von Humboldts erinnert: „Alles ist Wechselwirkung.“

Umkehr und Erneuerung Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“ für Europa Regina Polak

1. JAHRHUNDERT-HERAUSFORDERUNGEN: AKTUELL, ABER NICHT NEU 68,5 Millionen Menschen waren Ende 2017 weltweit auf der Flucht. 25,4 Millionen dieser Menschen sind vor Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Heimat geflohen. Darunter fallen 19,9 Millionen Flüchtlinge unter das Mandat von UNHCR. 40 Millionen sind Binnenvertriebene und 3,1 Millionen Menschen suchen nach Asyl. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge weltweit sind Kinder unter 18 Jahren. 85 % aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern. Ein verschwindend kleiner Anteil geflüchteter Menschen befindet sich demnach in Europa.1 Die Zahl der internationalen Migrantinnen und Migranten weltweit – der Definition der UNO gemäß Personen, die ihren Lebensmittelpunkt mindestens ein Jahr in einem Land haben, das nicht ihr Herkunftsland ist – betrug im Jahr 2017 mit 258 Millionen Menschen ebenfalls nur insgesamt ca. 3 % der Weltbevölkerung. Dabei absorbieren freilich Länder mit hohem Einkommen 64 % dieser Gruppe, führt eine konkurrenzbasierte globale neoliberale Wirtschaft zwangsläufig zu einer Konzentration in den reichen Zentren. Damit beträgt die jährliche

1

Die jeweils aktuellen Zahlen findet man auf den nationalen und internationalen Seiten der UNHCR, z.B.: https://www.unhcr.org/dach/at/ueber-uns/zahlen-im-ueberblick; https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen/ (30.05.2019).

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Wachstumsrate internationaler Migrantinnen und Migranten in Europa seit 2000 ca. 2,9 %.2 Hinzu kommen die Menschen, die vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe auf der Flucht sind. Diese Zahl wird derzeit auf ca. 26 Millionen Menschen geschätzt. Hochrechnungen gehen davon aus, dass bis 2050 ca. 150 Millionen Menschen aus umweltbedingten Gründen fliehen werden müssen. 3 Damit ist einerseits die Mehrheit der Weltbevölkerung zwar nach wie vor sesshaft, aber zugleich waren noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen in Bewegung. So erklärt die Neuartigkeit der Situation zum Teil, warum Flucht und Migration zu den zentralen Themen gehören, die aktuell die Weltpolitik dominieren. Seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 ist auch Europa gezwungen, sich dieser globalen Realität zu stellen. Die politischen und medialen Reaktionen haben allerdings mittlerweile statt zu zukunftsorientierten migrationspolitischen Lösungen zu massiven politischen Verwerfungen geführt, die sich im europaweiten Erstarken autoritärer, rechtspopulistischer Parteien und Politiken konkretisieren. Denn mit den Ängsten und Widerständen gegenüber den Veränderungen, die das Zusammenleben in nunmehr kulturell und religiös pluraler gewordenen Gesellschaften notwendig mit sich bringt, lässt sich (scheinbar) erfolgreicher Politik machen als mit Visionen, aus diesen Herausforderungen für Europa eine Chance auf Erneuerung werden zu lassen. So bringt es in vielen europäischen Ländern derzeit noch mehr Wählerinnen- und Wählerstimmen, die fraglos erfahrbaren kulturellen Differenzen und Konflikte in den europäischen Migrationsgesellschaften als unvereinbar mit sogenannten „europäischen Werten“ und als Ursache der großen Gesellschaftsprobleme zu stigmatisieren, als differenziert die Ursachen der internationalen Migrationen zu analysieren und, wenn nötig, zu bekämpfen. Letzteres würde nämlich bedeuten, sich mit den schmerzhaften historischen und zeitgenössischen Mitverantwortlichkeiten, v.a. im Bereich von hegemonialer Politik, neoliberaler Ökonomie und Klimawandel auseinandersetzen und sodann die entsprechenden Konsequenzen ziehen zu müssen. Eine selbstkritische Wahrnehmung der Ursachen für die globale und auch innereuropäische Ungleichheit, die Verstrickungen in globale Bürgerkriege durch die Waffenindustrie, die post- und neokoloniale Wirklichkeit müsste, theologisch gesprochen, 2

United Nations: International Migration Report 2017, https://www.un.org/en/develop ment/desa/population/migration/publications/migrationreport/docs/MigrationReport20 17_Highlights.pdf (30.05.2019).

3

Global Report on Internal Displacement 2018, http://www.internal-displacement. org/sites/default/files/publications/documents/2019-IDMC-GRID.pdf; Environmental Migration Portal, URL: https://environmentalmigration.iom.int/#home (30.05.2019).

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zu Reue, Umkehr und Transformation führen. Statt also Migration als Stimulus zur Erneuerung und Weiterentwicklung Europas und die damit verbundenen Konflikte als Zeichen lebendiger Integration zu verstehen, wird Migration von einem großen Teil der europäischen Bevölkerung als Bedrohung europäischer Identität erlebt und als Schwächung im Kampf um globale Hegemonie interpretiert – nicht zuletzt unterstützt durch das Framing phantasie- und verantwortungsloser Politikerinnen und Politiker. Hoffnung geben derzeit die jungen Menschen in Europa: Deren Wahlverhalten bei den Wahlen zur Europäischen Union zeigt in vielen Ländern deutlich, dass sie die entscheidenden Zukunftsfragen längst erkannt haben.4 Die Fragen, Probleme und Herausforderungen durch Migration sind freilich alles andere als neu oder gar unbekannt. Die westeuropäischen Bevölkerungen sind schon längere Zeit Migrationsgesellschaften, ob in Großbritannien und Frankreich infolge der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, oder in den Niederlanden, Deutschland und Österreich durch die Akquirierung von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern seit den 1960er-Jahren sowie die Ankunft von Flüchtlingen im Zuge des Balkan-Krieges. Desgleichen war auch die massenhafte Ankunft von geflüchteten Menschen in Europa nicht unerwartbar. So konnte man bereits 1991 im Bericht des Club of Rome lesen: Große Wanderbewegungen sind vorhersehbar, und das nicht nur aus Gründen der politischen, rassistischen oder religiösen Verfolgung, sondern um des wirtschaftlichen Überlebens willens. Solche Wanderbewegungen werden künftig in Europa nicht nur aus dem Osten in den Westen, sondern noch mehr aus dem Süden in den Norden stattfinden. Die demographische Entwicklung ist im Süden der Erde eine andere als im Norden. Bis Mitte des kommenden Jahrhunderts werden die Bewohner der heutigen Industrieländer nicht einmal mehr 20 % der Weltbevölkerung stellen. Das schafft einen enormen Bevölkerungsdruck, der in Verbindung mit fehlender Chancengleichheit sowie von Tyrannei und Unterdrückung massive Auswanderungswellen in Richtung Norden auslösen wird, die sich nicht eindämmen lassen. […] Unsere Nachkommen werden vermutlich Massenwanderungen ungekannten Ausmaßes erleben. Dieser Prozess hat bereits begonnen, denken wir nur an die boat-people aus dem Fernen Osten, an die Mexikaner, die illegal in die Vereinigten Staaten kommen, und an die Asiaten und Afrikaner, die nach Europa drängen.

4

Europawahl 2019: So haben Menschen unter 30 gewählt, https://rp-online.de/politik /eu/europawahl/europawahl-2019-so-haben-menschen-unter-30-gewaehlt-die-ergeb nisse_aid-39046513.

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Man kann sich unschwer ausmalen, dass im Extremfall unzählige ausgehungerte und verzweifelte Immigranten mit Booten an den Nordküsten des Mittelmeeres landen werden. 5

Im Rückblick auf die „überraschten“ und schockierten Reaktionen seit 2015 muss man also zunächst fragen: Wie, wieso und mit welchem Interesse wurden und werden Flucht und Migration erst in den vergangenen Jahren zu einem ganze Gesellschaften polarisierenden Thema? Wie lässt sich die jahrzehntelange Ignoranz gegenüber dieser Realität – die Integrationsversäumnisse ebenso wie die Ausblendung globaler Entwicklungen – in den politischen und medialen Diskursen erklären? Welchen Preis zahlt Europa für diese Ignoranz? Eine Ignoranz, die auch trotz nahezu hysterischer Debatten noch nicht zu Ende ist, denkt man z.B. an die nach wie vor ertrinkenden Menschen an den Grenzen Europas 6 oder die Millionen von Menschen, die in den Flüchtlingslagern in 7 und rund um Europa (v.a. in Libyen und in der Türkei) keine Zukunftsaussichten haben. Aus politikwissenschaftlicher Sicht hängt die wachsende Aversion gegenüber migrierenden und flüchtenden Menschen weder mit deren Quantität noch mit der Größe rechtspopulistischer Parteien, sondern maßgeblich mit der Übernahme rechtspopulistischer Deutungs- und Argumentationsstrukturen durch die großen Volksparteien zusammen, die dadurch deren Diskurse in der Mitte der Gesellschaft legitimieren.8 Die Wahrnehmung und der Umgang mit Migration ist demnach eng mit jenen Narrativen und Framings verbunden, die politische Diskurse zum Verständnis der Situation anbieten – oder eben aus Ideenlosigkeit nicht anbieten. So gehört der Mangel bzw. auch die politische Durchsetzung alternativer Deutungen, Argumente und Lösungen zu den zweifellos großen Herausforderungen, die eine Migrationsgesellschaft an die etablierten Institutionen stellt. Aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Sicht werden in den aktuellen Diskursen zahlreiche Ängste erkennbar, die durchaus berechtigte Gründe haben: 5

King, Alexander / Schneider, Bertrand: Die erste globale Revolution. Ein Bericht des Rates des Club of Rome, Frankfurt a.M. 1992, 42f.

6

UNHCR: Desperate Journeys. Refugees and migrants arriving in Europe and Europe’s borders.

January–December

2018,

https://www.unhcr.org/desperatejourneys/

(30.05.2019). 7

Z.B. im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, vgl. Ziegler, Jean: „Die Leute leben hier wie Tiere“. In: Zeit online, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/jean-zieglermoria-fluechtlingslager-menschenrechte-fluechtlingspolitik (30.05.2019).

8

Rosenberger, Sieglinde / Seeber, Gilg: Kritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration. In: Polak, Regina (Hg.): Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 165–190.

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Abstiegs- und Verlustängste9, mehr oder weniger bewusste (Schuld-)Angst vor dem Ressentiment und der Rache der ehemals kolonisierten Völker 10, Angst vor dem Verlust ökonomischer, politischer und kultureller Hegemonie. Pastoraltheologisch wiederum könnte man Papst Franziskus zustimmen, wenn er bei seinem Besuch auf der Insel Lampedusa Folgendes feststellt: Die Wohlstandskultur, die uns dazu bringt, an uns selbst zu denken, macht uns unempfindlich gegen die Schreie der anderen; sie lässt uns in Seifenblasen leben, die schön, aber nichts sind, die eine Illusion des Nichtigen, des Flüchtigen sind, die zur Gleichgültigkeit gegenüber den anderen führen, ja zur Globalisierung der Gleichgültigkeit. In dieser Welt der Globalisierung sind wir in die Globalisierung der Gleichgültigkeit geraten. Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an!11

Diese scharfen Urteile beziehen sich selbstverständlich nicht pauschal auf „alle“ Europäerinnen und Europäer. Es gibt – nicht zuletzt innerhalb der Kirchen und in der Zivilgesellschaft – zahllose Organisationen, Initiativen und Menschen, die sich seit Jahrzehnten im Bereich von Flucht und Migration einsetzen. 12 Wieso die dabei gemachten positiven Erfahrungen medial weitgehend unsichtbar bleiben und von politischen Parteien kaum aufgegriffen werden, ist eine weitere spannende Frage. In Fragen der Einschätzung und Beurteilung von Flucht und Migration lassen sich freilich quer durch Europa gravierende Spaltungen beobachten. Was kann eine praktisch-theologische Perspektive auf Flucht und Migration in einer solchen Situation beitragen? Dem soll im Folgenden in drei Schritten nachgegangen werden.

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Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.

10 Moïsi, Dominique: Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, München 2009. 11 Predigt von Papst Franziskus: Besuch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_ 20130708_omelia-lampedusa.html (30.05.2019). 12 Z.B. Churches Commission for Migrants, https://ccme.eu/; International Catholic Commission for Migrants, https://www.icmc.net/ (30.05.2019).

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2.

FLUCHT UND MIGRATION ALS „ZEICHEN DER ZEIT“

Aus katholisch-theologischer Perspektive bietet sich als Analyse-Instrument für ein hermeneutisch vertieftes Verständnis von Flucht und Migration die Kategorie „Zeichen der Zeit“ an, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes ins Spiel gebracht hat. Demnach obliegt der Kirche „zur Erfüllung ihres Auftrags […] allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ (GS 4) Nach GS 11 ist dies Aufgabe aller Gläubigen, nicht nur der Kleriker und Theologinnen und Theologen. So versteht denn auch der Päpstliche Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs – seit 2017 mit anderen Päpstlichen Räten zum Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen zusammengelegt – die internationalen Migrationen als „Zeichen der Zeit“. In seiner Instruktion Die Liebe Christi zu den Migranten13 (Erga migrantes Christ, EM 2004) schreibt er: „Wir können also das gegenwärtige Migrationsphänomen als ein sehr bedeutsames ,Zeichen der Zeit‘ betrachten, als eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt.“ (EM 14) Die internationalen Migrationen werden demnach als theologische Größe gewürdigt und zugleich als praktischer Aufruf verstanden: Sie bieten die Gelegenheit und verpflichten dazu, eine erneuerte Menschheit aufzubauen und das Evangelium des Friedens zu verkünden. Sie werden also geschichtstheologisch und soteriologisch interpretiert und verbinden sich untrennbar mit zahlreichen ekklesiologischen und ethisch-politischen Aufgaben, die diese Instruktion ebenfalls auflistet, u.a. eine Pastoral der Aufnahme und internationale Solidarität, Inkulturation und interreligiöser Dialog, die Suche nach einer neuen internationalen wirtschaftlichen Ordnung für eine gerechte Verteilung der Güter der Erde und nicht zuletzt die Überprüfung der eigenen Katholizität. Gleichwohl könnte man kritisch nachfragen, ob eine solche Sicht mit Blick auf Armut und Elend, Leid, Krieg und Tod, die sich mit den Migrationen ebenso verbinden wie die global- und nationalpolitischen Verwerfungen, nicht nur naiv, sondern auch provokant oder sogar zynisch ist. Überhöht das kirchliche Lehramt mit einer solchen grundsätzlich hoffnungsvollen Perspektive nicht Krisenphänomene mit unangebrachter spirituell-theologischer Terminologie?

13 Päpstlicher Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs: Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“, Vatikan 2004.

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Versteht man den Begriff „Zeichen der Zeit“ positivistisch als soziologisch feststellbare Tatsachenbeschreibung und gleichsam objektiv vorliegende Realität, dann wäre diese Frage zu bejahen. Ein solches Verständnis wäre tatsächlich gefährlich, weil es sich anmaßte, den inneren Sinn der aktuellen Ereignisse definitiv festzulegen und damit Gottes Willen eindeutig erkannt zu haben. Denn mit der Kategorie der „Zeichen der Zeit“ als theologischem Konzept werden immer auch gnadentheologische Wirklichkeiten beschrieben.14 Als empirische Tatsachenbehauptung lassen sich geschichtstheologische Deutungen mit Blick auf deren Wirkungsgeschichte daher nicht verstehen. Sie haben sich historisch desavouiert. Immerhin hat auch Adolf Hitler in seinem Selbst- und Geschichtsverständnis – sich selbst als Instrument Gottes und die von ihm betriebene Politik im Zeichen der Vorhersehung deutend – auf theologische Motive zurückgegriffen.15 Gleichwohl: Der Terminus „Zeichen der Zeit“ findet sich als praktischtheologische Verpflichtung in der Pastoralkonstitution und kann durchaus Sinn ergeben, wenn man ihn als glaubens- und handlungsstimulierenden Ruf versteht, der einen pastoralen Prozess in Gang setzen soll, der nicht objektiv vorliegt, sondern von den Gläubigen selbst und in Freiheit zu gestalten und zu verantworten ist – und daher auf Zukunft hin offen ist. Aus dieser Sicht sind „Zeichen der Zeit“ also keine soziologische, sondern eine theologische Kategorie. Sie verwirklichen sich, indem Gläubige sich darauf einlassen, geschichtliche Ereignisse aus der Sicht des Glaubens wahrzunehmen, zu deuten und daraus entsprechende Handlungskonsequenzen zu ziehen, oder umgekehrt sich gläubig-handelnd auf diese geschichtlichen Ereignisse einlassen und in der theologischen Reflexion der Erfahrungen, die sie dabei erwerben, Gottes Willen zu verstehen und zu erkennen versuchen. „Zeichen der Zeit“ liegen infolgedessen nicht als wissenschaftlich diagnostizierbare Wirklichkeit vor. Sie werden auch nicht von der Praktischen Theologie allein definiert. Vielmehr „entstehen“ sie in komplexen sozialen und pastoralen Prozessen. Erst durch das Risiko, diese Ereignisse im Glauben anzunehmen und zu verstehen, transformieren Gläubige geschichtliche Ereignisse zu „Zeichen der Zeit“. Ähnlich verstand diesen Begriff auch der Theologe Marie-Dominique Chenu, als er von den „Zeichen der Zeit“ schrieb als „[…] Bündelung von Energien und Hoffnungen eines ganzen Kollektivs von Menschen, jenseits und unabhängig von der reflektierenden Intelligenz des einen oder anderen Individuums. […] Es ist nicht die Zeit, die als solche ein Zeichen ist, sondern die menschliche

14 Chenu, Marie-Dominique: Les signes des temps. In: NRTH 87 (1965), 29–39. 15 Bucher, Rainer: Hitlers Theologie, Würzburg 2008.

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Wirklichkeit, insofern sie in einem bestimmten geschichtlichen Kontext menschlich bewusst wird.“16 Bei diesem „Bewusstsein“ handelt es sich aber aus praktisch-theologischer Sicht auf den Glauben nicht nur um eine hermeneutisch-analytische Kategorie. Vielmehr sind gläubige Erkenntnisse und die damit verbundene Bewusstseinsveränderung konstitutiv handlungsbezogen: Sie entspringen dem Handeln, sie bewirken Handeln und setzen Handeln auch voraus, um in ihrer Tiefe erkannt zu werden. Dies bezeugen Erfahrungsberichte von Menschen, die sich im Bereich von Flucht und Migration (z.B. bei der Integration) engagieren, oder Erfahrungen von Migrationsforscherinnen und -forschern. „Zeichen der Zeit“ sind demnach eine Kategorie, in der sich geschichtstheologische mit praktisch-theologischen Dimensionen untrennbar verbinden. Für unseren Zusammenhang: Flucht und Migration werden aus der Sicht des tradierten Glaubens und im Dialog mit den Erfahrungen und Expertisen der Gegenwart gedeutet und erschließen im Verein mit der Entscheidung, sich ethisch und politisch reflektiert in diesem Feld zu engagieren, theologische Sinn- und RelevanzAspekte des Phänomens. Bei diesen Aspekten von Sinn und Relevanz handelt es sich freilich nicht um einen ideologischen, legitimierenden „Überbau“ der Ereignisse, sondern um plurale, oft auch widersprüchliche spirituelle, theologische und ethisch-politische Erkenntnisse und Einsichten, die untrennbar mit Praxis verbunden sind. Es gibt nicht den einen Sinn, die eine Wahrheit von Flucht und Migration, wohl aber das gemeinsame gläubige Ringen darum, wie man auf diese Herausforderung „christlich“ reagieren kann. Dabei entstehen, je nach Situation, Ort und Kontext, Theologien der Migration. „Zeichen der Zeit“ sind daher auch eine konstitutiv ekklesiologische Kategorie, die zu unterschiedlichen Antworten führen wird. Dieses Ringen ist – wie bei allen „Zeichen der Zeit“ – immer und notwendig mit Konflikten und Krisen verbunden, da es bei ihrer Identifikation und Verwirklichung um die Unterscheidung der Geister ebenso geht wie um existenzielle gläubige, ethische und politische Entscheidungen. Es sind aus theologischer Sicht daher nicht nur die historische Neuartigkeit und das globale Ausmaß dieser Phänomene, die einfache Antworten schwierig machen, sondern auch deren theologische Qualität: Wir befinden uns auf gewisse Weise inmitten der Realisation eines solchen „Zeichens der Zeit“. In diesem Sinn sind „Zeichen der Zeit“ auch glaubens- und theologiegenerative Orte: loci theologici.17 Als solche ermöglichen sie es, in einer konkreten ge16 Chenu: Les signes des temps, 32. 17 Polak, Regina: Migration als Ort der Theologie. In: Dies.: Migration, Flucht und Religion. Praktisch-Theologische Beiträge. Band 1: Grundlagen, Ostfildern 2017, 45–81.

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schichtlichen Situation Gottes Zuspruch als Zuwendung und Gnade ebenso zu erfahren wie seinen Anspruch in Form ethischen und politischen Handelns zu erkennen. Sie enthalten eine indikativische wie auch eine appellative Dimension: Sie zeigen eine Botschaft an, die es gemeinsam zu entschlüsseln gilt, und fordern zum Handeln auf. Chenu bezeichnet sie daher sogar mit den scholastischen Begriffen der praeparatio evangelica (Vorbereitung auf den Empfang des Evangeliums) und potentia oboedientalis (Möglichkeit, der Gnade Gottes gehorchen zu lernen). Die Erinnerung an die (biblische) Geschichte des Glaubens lehrt freilich, dass die Erfahrung von Gnade und Zuspruch nicht selten mit der Wahrnehmung und Anerkennung von Sünde und Schuld verbunden war und ist. Diese müssen anerkannt werden, damit sie geheilt werden können. „Zeichen der Zeit“ zeigen deshalb als eschatologische Wirklichkeit immer auch Gericht an. Dies ist schmerzhaft und kann Abwehr, Widerstand und sogar Hass hervorrufen. „Zeichen der Zeit“ rufen immer auch zu Reue, Umkehr und Erneuerung auf. Sie laden dazu ein, das Leben zu verändern. Bei ihrer Identifikation handelt es sich aus praktisch-theologischer Sicht daher um kein akademisches Glasperlenspiel, sondern um das zweifelsohne riskante und herausfordernde Unterfangen, Gottes Willen für eine spezielle geschichtliche Situation zu erkennen. Wer sich aber auf eine solche Sicht und vor allem den Prozess der „Zeichen der Zeit“ einlässt, kann Heilung erfahren. Eine solch komplexe und ganz und gar nicht naive Sicht lässt sich sodann auch in Erga migrantes erkennen, wenn dort zu lesen ist: Wenn „einerseits die Leiden, die die Migrationen begleiten, in der Tat Ausdruck der Geburtswehen einer neuen Menschheit sind, zeigen andererseits die Ungleichheiten und das Ungleichgewicht, deren Folge und Ausdruck die Migrationen sind, in Wahrheit den Riss, der durch die Sünde in die Menschheitsfamilie kam.“ (EM 12) Für die reichen Wohlstandsländer Westeuropas 18 ist eine solch soteriologische Sichtweise allerdings und zu Recht erschreckend. Sie erlaubt es jedoch, die Polarisierungen und Kämpfe, die sich rund um dieses Thema beobachten lassen, besser zu verstehen. Gleichwohl rufen sie auf zu Umkehr und erinnern an ein zentrales Theologoumenon des biblisch bezeugten Glaubens: die Einheit der Menschheit, für die auch Europa und seine Kirchen Verantwortung zu übernehmen haben. Die aktuell dominanten Reaktionen in Medien, Politik und leider auch in manchen kirchlichen Gemeinden und Organisationen sowie von (osteuropäischen) Bischöfen zeigen jedoch, dass und wie weit Europa und auch seine Chris18 Für Osteuropa müsste man Theologien der Migration gesondert andenken, was ich hier nicht leisten kann.

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tinnen und Christen noch von einer alternativen, gar hoffnungsvollen 19 Sicht auf Flucht und Migration entfernt sind. Die Ergebnisse der Studie Being a Christian in Western Europe20 zeigen, dass sich Menschen, die sich als Christinnen und Christen bezeichnen – und zwar unabhängig davon, ob sie den Gottesdienst besuchen oder nicht – in ganz Westeuropa deutlich von der Gruppe der NichtReligiösen unterscheiden. Sie sind stärker überzeugt, dass der Islam unvereinbar mit Kultur und Werten des Landes ist (z.B. in Österreich: Praktizierende 61 %, Nicht-Praktizierende 45 %, Konfessionslose 35 %). Sie sprechen sich deutlicher für die Reduktion von Zuwanderung aus (Österreich: Praktizierende 54 %, Nicht-Praktizierende 37 %, Konfessionslose 28 %). Überdies stellt die Studie fest, dass Katholikinnen und Katholiken den Islam häufiger für inkompatibel mit der nationalen Kultur halten oder sich öfter gegen religiös konnotierte Kleidung aussprechen.

3.

MIGRATION ALS LERNORT DES GLAUBENS

Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“ im Sinn von loci theologici sind also Lernorte des Glaubens und der Theologie. Aus theologischer Sicht teilt sich in ihnen Gott selbst mit. „Zeichen der Zeit“ sind nach diesem Verständnis epochalgeschichtliche Ereignisse, in denen Gott die Geschichte mit seiner Menschheit gemeinsam weiterschreiben möchte. Diese Sicht auf Flucht und Migration ist keinesfalls neu und keine willkürliche Erfindung der Katholischen Kirche. Vielmehr greift die Kirche mit ihrer Interpretation der internationalen Migrationen Glaubenserfahrungen aus zentralen Texten der Heiligen Schrift auf, die sich im Alten Testament im Kontext von Migrationsphänomenen entwickelt haben und von Texten des Neuen Testaments zur Deutung der eigenen geschichtlichen Situation aufgegriffen wurden.21 So sind Flucht und Migration bzw. damit verbundene Phänomene wie Aufbruch und Nomadentum, Vertreibung und Deportation, Exodus, Exil und Diaspora, das Leben als Fremde in unterdrückerischen Großreichen wesentliche Lernorte des biblischen Glaubens im Alten Testament. In der gläubig-

19 Hoffnungsvoll bedeutet aus christlicher Sicht keinesfalls optimistisch, siehe unten S. 80. 20 PEW-Research Center: Being a Christian in Western Europe (2017). http://www.pew forum.org/2018/05/29/christ-sein-in-westeuropa/ (30.05.2019). 21 Zum Folgenden: Polak, Regina: Migration: Heimkehr zu Gott und seiner Sozialordnung. In: Dies.: Migration, Flucht und Religion, 107–124.

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theologischen Reflexion der Ereignisse mithilfe der jeweils zur Verfügung stehenden Glaubenstraditionen entsteht der ethische Monotheismus. Erfahrungen von Elend, Leid und Gewalt werden dabei im Glauben transformiert, und der Fluch der Migration kann sich zum Segen verwandeln. Die bedrückenden historischen Erfahrungen werden auf diese Weise zum glaubens- und theologiegenerativen Geburtsort, untrennbar verbunden mit der Erkenntnis der konstitutiven Bedeutung ethisch-solidarischer Praxis und dem Entwurf einer alternativen Gesellschaftsordnung, in deren Zentrum die Verantwortung für Minoritäten und marginalisierte soziale Gruppen – Witwen und Waisen, Arme und Fremde – steht. Dabei entstehen Theologien der Migration. Migrationsphänomene sind demnach nicht nur eine historische Kulisse oder eine Art Bühne, auf der dann „das Eigentliche“ stattfindet, sondern entscheidende Quellen des ethischen Monotheismus. Dieser ist keine philosophische Weltanschauung, sondern entspringt der spirituellen und theologischen, sozialen, ethischen und politischen Reflexion von Menschen mit schmerzhaften Erfahrungen im Umfeld von Migrationsphänomenen. Aus praktisch-theologischer Perspektive ist daher von besonderem Interesse, wie diese Menschen und Gemeinden den geschichtlichen Erfahrungen Sinn abgerungen haben, wie sie dabei glauben gelernt und welche theologischen und ethisch-politischen Schlüsse und Konsequenzen sie aus den Erfahrungen gezogen haben. Biblische Texte erzählen ja keine historischen Sachverhalte in unserem heutigen Sinn, sondern lassen erkennen, wie Menschen im Glauben mit geschichtlichen Ereignissen umgehen, sie interpretieren und dabei glauben lernen. Die entsprechenden Deutungen müssten nun für jedes biblische Buch einzeln geleistet werden, was den Rahmen dieses Beitrages und auch die praktischtheologische Kompetenz sprengen würde. Aber einige Grundlinien scheinen als Matrix erkennbar zu sein. Befreiung Die geschichtlichen Erfahrungen werden langfristig als Befreiungsprozess durch Gott interpretiert. So befreit Gott z.B. im Exodus die Hebräer aus Unterdrückung, Ausbeutung und Sklaverei oder aus dem fremdbestimmten Leben in der Diaspora des Babylonischen Exils. Diese Befreiungserfahrung führt einerseits zu einer hohen Wertschätzung von Freiheit und andererseits zugleich zur Erkenntnis, dass Freiheit des Schutzes durch Recht und Gerechtigkeit ebenso bedarf wie einer alternativen Gesellschaftsordnung, wie sie z.B. im Buch Deuteronomium präsentiert wird. Alle „Werte“, die heute vielen Europäerinnen und Europäern (zumindest theoretisch) so selbstverständlich erscheinen, können auch als

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Lernerfahrungen von Menschen, gleichsam ex negativo, gesehen werden, die heimatlos, unterdrückt und rechtlos in der Fremde leben und am eigenen Leib erfahren mussten, was deren Verlust bedeutet: die Gleichheit der Würde aller Menschen, die Anerkennung existenzieller Verschiedenheit aller Menschen, die Verantwortung für die Schwächsten der Gesellschaft, Gerechtigkeit und Frieden. Die konstitutive Bedeutung, die das Recht und Gesetze (an die in der Vorstellung vom Bund sich sogar Gott selbst bindet), ethische Normen, politische Gerechtigkeitsvorstellungen auch für den Glauben an Gott haben, sind auch vor diesem Hintergrund leichter nachvollziehbar. Der Gott, der sich hier Menschen in schwierigsten Lebenssituationen offenbart, kann nicht ohne Ethos und Recht verstanden werden. Er kann nicht, wie in der orientalischen Umwelt, zur Legitimation der herrschenden Ordnung benützt werden. All die Erzählungen und Erinnerungen, kultischen und sozialen Regeln sollen verhindern, dass sich menschliches Leid und geschichtliche Katastrophen jemals wieder wiederholen. Sie sind eine Art lernende Antwort auf die Befreiung durch Gott und daher untrennbar mit dem Glauben an diesen verbunden. Fremde Die biblischen Texte sind auch durchzogen von einem beständigen Ringen um die Beziehung zu „Fremden“.22 Dies ist wesentlich der eigenen Erfahrung des Volkes Israel geschuldet, selbst Fremde gewesen zu sein. Dabei entwickeln sich differenzierte Vorstellungen eines Fremdenrechtes, deren Schwerpunkt vor allem im rechtlichen, nicht nur fürsorglichen Schutz der schlechthin Rechtlosen sowie in der Ermöglichung von Partizipation am Gemeinwohl besteht. Wenn die Fremden freilich als imperiale Mächte die Identität Israels sozial, ökonomisch, politisch und vor allem religiös bedrohen, werden sie durchaus abgewehrt. Im Zentrum des Fremdenrechts steht daher vor allem die soziale und rechtliche Schutzlosigkeit des einzelnen Fremden, weniger seine kulturelle Fremdheit. Exil und Diaspora Das Leben in Exil und Diaspora und die damit verbundenen Herausforderungen werden je nach Kontext reflektiert: Erfahrungen von Fremdheit und Nichtzugehörigkeit, die Spannungen zwischen Anpassung und Widerstand, Übernahme

22 Schwienhorst-Schönberger, Ludger: „… denn Fremde seid ihr gewesen im Lande Ägypten“. Zur sozialen und rechtlichen Stellung von Fremden und Ausländern im alten Israel. In: Bibel und Liturgie 63 (1990), 108ff.

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und Ablehnung von Ideen und Praktiken der Mehrheitsgesellschaft finden je nach Situation unterschiedliche Antworten. Aufgerufen wird zur Teilhabe („Sorgt Euch um das Wohl der Stadt“, Jer 29,7). Insbesondere während des Babylonischen Exils wird erkennbar, dass und wie sehr sich das Leben als Minderheit auf die theologische Kreativität auswirken kann: In den schwierigsten Zeiten entwickeln sich die differenziertesten Theologien. 23 Nicht zuletzt entsteht in diesen Situationen auch ein komplexes, spirituelles Verständnis von Heimat (Hebr.: ‫תדלומ‬, moledet), in dessen Zentrum vor allem die Beziehungen der Menschen untereinander als auch die spirituelle Heimat bei Gott stehen. Die territoriale Dimension von Heimat wird in gewissem Sinn schrittweise relativiert und zeigt sich vor allem als Sehnsuchts-Kategorie und Verheißung (Gelobtes Land, Himmlisches Jerusalem) und verbindet sich eng mit alternativen Gesellschaftsentwürfen und der Verpflichtung zur Treue zu Gott. Ringen um Gott Nicht zuletzt steht das Ringen um das rechte Gottesverständnis und die rechte Gottesverehrung im Mittelpunkt des Glauben-Lernens: Die Befreiungsgeschichte durch Gott befreit nicht nur aus extrinsischen Mächten und Gewalten, sondern auch und wesentlich intrinsisch aus der Verehrung falscher, fremder Götzen, d.h. aus der Anbetung irdischer, vorletzter vergöttlichter Wirklichkeiten und Stammesgottheiten.24 Abraham verlässt mit seiner Heimat auch die fremden Gottheiten und muss lernen, dass Gott keine Kinderopfer möchte (Gen 22). Das Volk Israel muss immer wieder erfahren, dass der Glaube an Gott untrennbar mit ethischen und rechtlichen Normen verbunden ist, die man nicht folgenlos für sich selbst und das Gemeinwohl übertreten kann. Daher bedarf auch die wahre Gottesverehrung entsprechender Regeln und Normen, vor allem aber der beständigen Erinnerung an die eigene Geschichte als Fremde (Schema Israel, Dtn 6). Auch dies soll davor schützen, dass sich Elend und Not der migrantischen Erfahrung wiederholen. Wenn sich Gott dann in Exodus 3 (Ex 3.6) Moses als JHWH vorstellt – einem Hebräer, der aus Ägypten ins Exil fliehen musste – wundert es nicht, dass sich dieser Gott mit einem Zeitwort benennt: als lautere, stets gegenwärtige Präsenz in Bewegung, zwar fremd, transzendent und unfassbar, aber immer mit auf dem Weg. Ein Gott von Migrantinnen und Migranten. Der französische Jesuit

23 Vgl. dazu das umfassende Werk von Georg Braulik und Norbert Lohfink zum Deuteronomium. 24 Vgl. Magonet, Jonathan: The Subversive Bible, London 1997.

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Michel de Certeau übersetzt das Tetragramm daher nicht ohne Grund folgendermaßen: „Ich habe keinen Namen als das, was Dich aufbrechen lässt.“25 Lernen und Erinnerung Neben diesen exemplarischen inhaltlichen Strängen, die man sicherlich noch aus bibelwissenschaftlicher Sicht ausdifferenzieren und ergänzen muss, sind aus praktisch-theologischer Perspektive auch die Lernformen bemerkenswert, die dieses Migrantenvolk entwickelt, um mit Katastrophen umzugehen. Nicht selten Opfer der Geschichte, belassen sie es nicht beim Opferstatus, sondern werden, um es mit moderner Terminologie zu sagen, resiliente Akteurinnen und Akteure der eigenen Geschichte.26 Kreativ und mutig suchen und finden sie Lösungen, manchmal auch abseits traditioneller Vorstellungen von dem, was gut und richtig ist und verbunden mit Schuld und Scheitern. Im Mittelpunkt steht dabei aber das Ringen um die Treue zu Gott und eine große Liebe zum Leben. Dabei entsteht eine Tugend, die – wie mir scheint – im Orient einzigartig ist: die Hoffnung, d.h. eine spirituell-mentale Haltung, die selbst in schwierigsten Zeiten die Orientierung an Gott nicht verliert und konstitutiv mit einem Handeln verbunden ist, das auch gegen Widerstände versucht, Katastrophen Sinn abzuringen. Hoffnung orientiert auf Zukunft hin. Dabei entsteht eine neue Zeitwahrnehmung, eine lineare Sicht auf die Zeit, die aber zugleich immer mit dem Gesicht zur Vergangenheit ausgerichtet ist.27 Die damit verbundene Pflicht zur Erinnerung an die Geschichte mit Gott bekommt eine zukunftskonstitutive Bedeutung. Auch sie soll sichern, dass sich Katastrophen nicht wiederholen. Insbesondere in Zeiten der Sesshaftigkeit und des Wohlstandes, wenn die Versuchung Gott zu vergessen besonders groß ist, soll sie an die Verantwortung für die Gegenwart erinnern. Dass dabei dem Lernen ein immenser Stellenwert zukommt, ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Dieses Lernen verbindet sich zugleich mit der Bereitschaft zur Selbstkritik und Umkehr, d.h. zum Willen, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Die Theologie des Buches Deuteronomium ist ganz diesem Duktus verpflichtet, wenn die exilierte Gemeinde nach der eigenen Verantwortung für die Situation fragt, in die sie gekommen ist: der Treulosigkeit gegenüber Gott und seiner Thora. 25 De Certeau, Michel: Mystische Fabel. 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 2010 (1982), 289. 26 Polak, Regina: Migrants as agents of social and religious innovation. In: Bieler, Andrea u.a. (Hg.): Migration and Religion: Negotiating Sites of Hospitality, Resistance, and Vulnerability, Forthcoming. 27 Oz, Amos / Oz-Salzberger, Fania: Juden und Worte, Berlin 2013, 145f.

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Spezifika der Migrationserfahrung Damit sollen Migrantinnen und Migranten nun keinesfalls als die besseren, gar idealen Menschen dargestellt werden. Auch das wandernde Volk Gottes kennt jede Menge fragwürdige, sogar unmoralisch handelnde Personen. Umgekehrt erweisen sich Sesshafte auch im Alten Testament bereits mitunter als jene, die Gott erkennen. Man denke nur an den Pharao in der Geschichte des Josef in Ägypten (Gen 41,38). Daher wäre präzise zu fragen, welche konkreten Dimensionen der Migrationserfahrung die Entstehung des ethischen Monotheismus begünstigen könnten. Zu denken wäre dabei z.B. an die Erfahrungen der Vulnerabilität und Fragilität, der Schutz- und Rechtlosigkeit oder des Ausgeliefert- und Abhängigseins vom guten Willen anderer.28 Diese Erfahrungen können für die Notwendigkeit von Ethik und Recht ebenso sensibilisieren wie die Bindung an einen transzendenten, jeden einzelnen Menschen liebenden und gerechten Gott bewusst machen. Auch Erfahrungen von Differenz, von Fremdheit, von Nicht-Zugehörigkeit stellen für Migrationserfahrene eine Art „Normalität“ dar. Diese wiederum können die Fähigkeit fördern, das allzu Selbstverständliche infrage zu stellen, aus anderen Perspektiven wahrzunehmen und zu transzendieren. So schmerzhaft solche Erfahrungen sein können, vermögen sie doch zugleich die Entwicklung von Fantasie, Multiperspektivität und Hybridität zu unterstützen.29 Nicht zuletzt begünstigt eine migrantische Existenzweise wohl auch die Erfahrung eines transzendenten Gottes, der nah und fremd zugleich sein kann. Selbstverständlich sind auch Sesshafte in der Lage, diese Erfahrungen zu machen, wenngleich sie sich vermutlich, sofern sie in Wohlstand und Sicherheit leben, leichter den schmerzhaften Dimensionen dieser Erfahrungen entziehen können. Migrantinnen und Migranten müssen sich diesen Themen stellen. Umgekehrt führen Migrationserfahrungen nicht notwendig zur Entwicklung solchen Bewusstseins. Denn auch Migrantinnen und Migranten können Erfahrungen ausblenden und abwehren, verhärten, verzweifeln und scheitern.

28 Bergant, Dianne: Ruth: The Migrant who Saved the People. In: The Center for Migration Studies (Hg.): Migration, Religious Experience, and Globalization, New York 2003, 49–61. 29 Castro Varela, Maria do Mar: Unzeitgemäße Utopien: Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und gelehrter Hoffnung, Bielefeld 2007.

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Neues Testament In den meisten Texten des Neuen Testaments finden sich mit Ausnahme der Apostelgeschichte und der Missionsreisen des Paulus keine klassischen Migrationsphänomene im Hintergrund der Gemeinden, wohl aber zahlreiche Migrationsnarrative. Überdies sind diese Texte diesbezüglich auch noch nicht ausreichend erforscht.30 Aber es zeigt sich, dass auch sesshafte Gläubige Migrationshermeneutik fruchtbar machen können. So greifen etwa die Evangelien zahlreiche Motive des Alten Testaments auf (z.B. Fremdenliebe Mt 25) und auch Jesus von Nazareth selbst begegnet als Flüchtlingskind (Mt 2) und als Wanderprediger ohne feste Heimstatt (Lk 9,58). Der geschichtliche Hintergrund ist in den Evangelien nicht nur Kulisse. Vielmehr befanden sich auch diese Gemeinden in überaus schwierigen Situationen, verbunden mit Angst, Leid und Not. Der verlorene Krieg gegen die Römer, zerstörte Familien, der vernichtete Tempel, das Leben im Imperium Romanum als verfolgte Minderheit lassen belastende Lebenssituationen erkennen. Die Transformation der alttestamentlichen Texte hilft den Gläubigen, wie so oft, ihre Situation zu verstehen und in Hoffnung zu verwandeln. Geleitet werden sie dabei von der Glaubenserfahrung des auferstandenen Christus, die es ihnen erlaubt, selbst diese Situationen in Segen zu verwandeln. Die Migrationshermeneutik wird erneut fruchtbar gemacht, um die Dramen der Gegenwart zu ver- und bestehen. Zentral ist dabei die immer wieder neu gemachte Erfahrung, dass Gott inmitten größter Hoffnungslosigkeit neues Leben schaffen kann, wenn sich die Menschen auf den Weg mit ihm einlassen. Selbst der Tod ist nun besiegt. Wie sehr im Weiteren Migrationshermeneutiken auch im sesshaft werdenden Christentum eine wichtige Rolle spielen, lässt das Selbstverständnis zahlreicher Diaspora-Gemeinden im heidnischen Umfeld als Fremde und Gäste auf Erden erkennen (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11). Konsequenzen Selbstverständlich lassen sich die biblischen Migrationstheologien nicht unmittelbar auf die aktuellen Herausforderungen durch Flucht und Migration übertra-

30 Bekannt sind mir u.a. Claussen, Johann Hinrich: Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018; Kahl, Werner: Vom Verweben des Eigenen mit dem Fremden. Impulse zu einer transkulturellen Neuformierung des evangelischen Gemeindelebens (Studien zu Interkultureller Theologie an der Missionsakademie, Bd. 9), Hamburg 2016.

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gen. So kann man weder aus dem Gebot der Nächsten- oder Fremdenliebe eine globale Migrationspolitik noch aus dem biblischen Fremdenrecht eine zeitgerechte Fremdengesetzgebung ableiten. Heute gibt es Nationalstaaten mit Grenzen; die Welt wird von Milliarden Menschen bevölkert und ist durch Globalisierungsprozesse ebenso vernetzt wie zerstritten und fragil. Es gibt mehr und gefährlichere Waffen und unzählige historisch-politische Altlasten, die zu globaler Ungleichheit führen und durch simple Grenzöffnungen, wie sie in der Bibel beschrieben werden, nicht so ohne Weiteres aufgelöst werden können, ohne neue Krisen zu erzeugen. Gleichwohl: Die Erinnerung an das biblische Erbe und der katholische Versuch, dieses für die Gegenwart zu reinterpretieren, machen deutlich, dass es notwendig und auch möglich ist, den „Geist“, die theologischen, ethischen und politischen Prinzipien, die innere Rationalität der Migrationstheologien der Tradition herauszuarbeiten und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Migration und Flucht können und müssen daher auch heute zum Lernort bestimmt werden – im Gespräch mit der Tradition und mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Migrationsforschung sowie im Dialog mit den Migrantinnen und Migranten der Gegenwart. Die Lösungen werden und müssen plural sein, aber gewisse Grenzen des Erlaubten werden erkennbar: das Verbot von Fremdenhass und Rassismus; das Verbot, das Christentum als nationale oder kontinentale Stammesreligion zu inszenieren; die Verpflichtung, sozial und politisch gerechte Lösungen für die Marginalisierten der Welt zu suchen. Die Einheimischen können lernen, Migrantinnen und Migranten als Botschafterinnen und Botschafter wahrzunehmen. Dies haben sie in der Geschichte auch immer schon gemacht, wenn sie aus den Texten einer Migrationsreligion gelernt haben. Mit den migrierenden und geflüchteten Menschen gemeinsam können sie sich der Aufgabe stellen, sich an der Gestaltung einer erneuerten Menschheit zu beteiligen, in die sich alle integrieren können und müssen, und die dafür nötigen Strukturen und Institutionen zu schaffen. Sie können lernen, ihre tribalistischen Religionsvorstellungen zu weiten auf jenen Gott hin, der die Völker als Familie versteht. Sie können lernen, dass Menschen und Staaten nur eine Zukunft haben werden, wenn sie international und solidarisch zusammenarbeiten. Migrantinnen und Migranten konfrontieren mit der Aufgabe, in Pluralität, Gerechtigkeit und Frieden zusammenleben zu lernen. Europäische Kirchen stehen hier vor einer besonderen Herausforderung. Als Teil eines immer noch hegemonialen Kontinents und technokratisch-politischen Machtsystems ist es derzeit wohl eher mit dem alten Ägypten zu vergleichen als mit dem Gottesvolk der Migrantinnen und Migranten – in all der Ambivalenz,

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mit der auch in der Bibel Ägypten beschrieben wird.31 Denn Ägypten war zu seiner Zeit ein alle Völker rundherum – auch Israel – beeindruckendes Imperium mit einer blühenden Wirtschaft, einer beeindruckenden Wissenschaft, einer reichen Kultur. So finden sich in der Bibel durchaus positive Bilder dieses Reiches. Ägypten war immer wieder Helfer in Hungersnöten, Josef hat es in Ägypten immerhin als Zugewanderter zum Stellvertreter des Pharao gebracht, und Ägypten war zur Zeit der siebenjährigen Hungersnot der einzige Staat, der institutionell vorgesorgt hatte. Auch Jesus von Nazareth findet in Ägypten Zuflucht und Schutz (Mt 2). Gleichwohl musste das Volk Israel dieses Imperium verlassen.32 Denn es basierte auf einer Theologie und einem geschlossenen, immanentistischen Gesellschaftssystem, das auf Ausbeutung der untersten Schichten aufbaute und mittels Theologie die herrschende Ordnung legitimierte. Damit aber stand es in diametralem Gegensatz zur Thora, die dem Volk Gottes zur Aufgabe gemacht werden sollte. Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang, dass dieser Exodus, der im Zug der Wüstenwanderung auch als Umkehrbewegung erkennbar wird, in der jüdischen Tradition von Gott her nicht nur den Hebräern, sondern ebenfalls den Ägyptern zugesagt war. Er gilt als Zeichen und Befreiungsangebot Gottes für dieses mächtige Imperium.33 Europäische Christinnen und Christen in Sicherheit und Wohlstand können aus dieser Tradition lernen. Sie dürfen sich aus hermeneutischen Gründen zwar nicht unmittelbar mit den Opfernarrativen identifizieren, da aus praktischtheologischer Sicht34 bei der Auslegung immer auch der je eigene sozioökonomische, soziopolitische Status berücksichtigt werden muss; aber sie können, anders als die Institution des Pharao, der am Ende als einziger Ägypter isoliert sein Volk in die Katastrophe treibt, aus der Geschichte der biblischen Flüchtlinge lernen. Sie sind zur Selbstkritik und Umkehr aufgerufen. Das bedeutet nicht, die selbstverschuldeten politischen Ursachen jener Länder, aus denen Menschen heute fliehen, kleinzureden oder zu verharmlosen. Europa darf und muss seine demokratischen Errungenschaften und Werte durchaus einbringen, sollte aber darauf achten, dass sie auch im Inneren gedeckt sind. Dann können Migrantinnen und Migranten sogar zu Botschafterinnen und Botschaftern europäischer Werte in ihren Herkunftsregionen werden. Aber es sollte dabei nicht vergessen werden, wie vieler Kriege, Katastrophen, Toter und Ermordeter es bedurfte, um diese Werte zu erlernen. Diese Erinnerung schützt vor Hochmut. Europäische Kirchen müssen sich also der Mühe unterziehen, diffe31 Zum Folgenden vgl. Magonet: Die subversive Bibel, 81–94. 32 Vgl. Assmann, Jan: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, Bonn 1992. 33 Magonet: Die subversive Bibel, 81–94. 34 Fuchs, Ottmar: Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift, Stuttgart 2004.

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renziert zu fragen, welche Botschaften die Tradition für sie bereithält im Blick auf eine Welt, in der Migration zur Normalität geworden ist.

Setzt Europa seine Grundwerte aufs Spiel? 1 Otfried Höffe

Philosophen scheuen Pathos, bei diesem Thema ist es zu Beginn nicht bloß erlaubt, sondern sogar geboten. Weltpolitisch gesehen ist Europa, mit der Union als Kern, ein purer Erfolg: Ein Kontinent, der sich seit dem Römerwall, dem Limes, durch Grenzen definiert, hat seine Grenzen weitgehend aufgehoben. Ein Kontinent, der über Jahrhunderte von Kriegen, Bürgerkriegen, selbst Erbfeindschaften gebeutelt wurde, lebt im Westen seit drei Generationen, in Gesamteuropa seit einer Generation im Frieden. Und ein Kontinent, aus dem man noch bis ins 20. Jahrhundert aus Armut oder wegen Verfolgung auswandern mußte, verbindet jetzt politische Freiheit, rechtsstaatliche Demokratie und materiellen Wohlstand mit einer kulturellen, einschließlich wissenschaftlichen Blüte. Was hält diesen Kontinent zusammen; worin liegen seine gelebten, freilich auch immer wieder gefährdeten Grundwerte? Europa ist kein mathematischer Gegenstand, der in einer Definition entsteht. Europa ist ein geschichtliches Phänomen. Deshalb pflegen wir eine Tugend, die Europa eint, die Neugier, und gehen auf eine Entdeckungsfahrt in die Vergangenheit. Weil Europa aber in seine Zukunft hin offen bleibt, spielt auch die zweite Seite der Neugier eine Rolle, die Erfindung eines zukunftsfähigen Europas. Und der dritte Schritt behandelt die Frage, die ich als Titel gewählt habe: Gefährdet Europa die ihm bislang wesentlichen Elemente, setzt Europa seine Grundwerte aufs Spiel? Meine Überlegungen gliedern sich also in drei Teile:

1

Für ausführlichere Überlegungen und die Auseinandersetzung mit der Literatur s. Höffe, Otfried: Europa als eine Union der Bürger, im Druck (Tübingen, Februar 2020).

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I.

HERKUNFT

Auf die Frage, was Europa bislang ist, überzeugt die geographische Antwort nicht. Die großen Zentren, in denen Europa bis heute wurzelt, heißen Athen, Jerusalem und Rom, auch Alexandria. Sie alle gruppieren sich um eine Mitte, die schon in der Bezeichnung Mittel-meer die Verbindung betont. Selbst die griechische Philosophie und Wissenschaft entstehen nicht auf dem europäischen Festland, sondern in Städten Kleinasiens. Diese wiederum sind durch Handel und Kulturaustausch weit nach Asien, auch nach Ägypten und anderen Teilen Afrikas vernetzt. Der vielfältigen Vernetzung wegen greift der griechische Schriftsteller Polybios der Globalisierung vor. Schon im 2. Jahrhundert vor Christus erklärt er, von nun an werde „die Geschichte ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper; es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Afrika mit denen in Asien und Griechenland“. (Historiae I 3,5). Die Tragweite der fehlenden geographischen Abgrenzung darf man aber nicht überschätzen. Denn schon drei Jahrhunderte vor Polybios, seit Herodot (Historiae VII 135f.), also immerhin seit zweieinhalb Jahrtausenden, bestimmt sich Europa über die Kultur, dabei zunächst über die politische Kultur. In scharfem Gegensatz zu den orientalischen Reichen setzt unser Kontinent auf eine freiheitliche Demokratie. Dieser Grundwert ist ihm im wörtlichen Sinn existentiell unverzichtbar. Deshalb verteidigt er ihn, wo erforderlich, seit den Schlachten von Marathon, Salamis und Platää gegen die Perser, später gegen die Hunnen, wieder später gegen die Osmanen, notfalls militärisch. Seit etwa derselben Zeit, erneut seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, kommt der Reichtum an wissenschaftlicher Kultur hinzu: von der Mathematik und der Naturforschung über die Medizin bis zur vielfältig gegliederten Philosophie und den mit der Geschichtsschreibung beginnenden Geistes- und Kulturwissenschaften. Mit den Sophisten, bald danach mit Platon und seiner für Jahrhunderte vorbildlichen Akademie, dann mit Aristoteles beginnt ein Unterrichtswesen, das wieder später zu Grammatik- und Rhetorikschulen ausgebaut wird. Durch Rom erhält das Recht ein größeres Gewicht, und es entsteht der den Griechen noch unbekannte Juristenstand. Seit der Spätantike wird schließlich der christliche, also personale Monotheismus wesentlich; denn einen apersonalen Monotheismus kennen schon die Griechen. Der Kosmos der in und von Europa praktizierten Grundwerte wird jedenfalls immer reichhaltiger. Bald darauf, im frühen Mittelalter, wandert der geographische Schwerpunkt Europas vom Mittelmeer weg in das überwiegend nordalpine Reich der Franken. Zugleich wird Europa zu einer religiösen, dabei kulturell vielfältig unterfütterten

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Einheit. Das Hochmittelalter steuert eine Institution bei, die bis heute weltweit als vorbildlich gilt, die Universität als Einheit von Forschung und Lehre. Ferner beginnen im Hochmittelalter im Vatikanstaat die administrative Kultur, die rationale Verwaltung, nicht zuletzt, jetzt aber nicht im Vatikan, sondern in Genua, Venedig und vor allem Florenz eine Kultur mit dem Geld, das Bankenwesen. Weiterhin blühen erneut seit den Griechen die Literatur, die Kunst und die Musik sowie die religiöse und die profane Architektur. Und das Theater mit der Tragödie und der Komödie ergänzt sich später um geistliche und weltliche Opern, ferner um geistliche und weltliche Konzerte, nicht zuletzt um die Museen. Mitlaufend mit diesem schon bunten Strauß von Faktoren, einem weltweit bewunderten Reichtum an Wissenschaft und Kultur, an Wirtschaft und Politik, wird Europa denn doch zu einem geographischen Begriff. Verantwortlich sind aber nicht klare Außengrenzen, es ist vielmehr die Binnenstruktur. Aus dem Zusammenwirken von sozialen und kulturellen mit religiösen und politischen Elementen entsteht der Raum einer immer engeren, immer dichteren Binnenkommunikation. Diese speist sich sowohl aus einer materiellen Kultur, einem dichten Wege- und Herbergenetz, als auch aus einer sozialen und intellektuellen Kultur, die im Fall der Pilgerwege, etwa nach Rom, Jerusalem und Santiago, miteinander verschmelzen. Die Folgezeit, wir sind inzwischen in der Frühen Neuzeit, glänzt durch eine Fülle von Entdeckungen, Erfindungen und eine humanitäre Technik, einschließlich einer wissenschaftsgestützten Medizin. Seit der europäischen Aufklärung, aber mit älteren Wurzeln, kommen Toleranz, Menschenrechte und als deren Kern die Menschenwürde hinzu. Und dieses längst üppige Bukett von gemeinsamen Grundwerten wird später um Bildung und Ausbildung für jedermann bereichert, ferner um Sozialversicherungen und die Gleichberechtigung zunächst der Arbeiter, schließlich auch der Frauen, nicht zuletzt um eine Wohltätigkeit für die Armen, sogar nicht nur die Europas, sondern die in vielen Teilen der Welt. Aus „eitel Liebe und Freundschaft“ besteht Europa allerdings nicht. Aus Gründen der Objektivität nimmt unsere Entdeckungslust auch die trennenden Faktoren wahr, sowohl die Teilung des Frankenreichs, vereinfacht in Frankreich und Deutschland, als auch die frühe Spaltung der Christenheit in Rom und Byzanz und im Westen die von blutigen Kriegen und Bürgerkriegen begleitete Teilung in Katholiken und sich noch untereinander befehdende Protestanten. Der nüchterne Blick übersieht weder die oft gnadenlose Verfolgung von Häretikern und Juden, weder die Sklaverei noch die lange Vorherrschaft des Mannes, weder die fehlenden Rechte des Bürgertums noch die länger ausbleibenden Rechte der Arbeiterschaft. Er übergeht nicht die Verschiedenheit der Volksspra-

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chen, bald auch Nationalsprachen, die nach dem Rückgang des Lateinischen mehr und mehr an Macht gewinnen, dabei eine große soziale und kulturelle Kreativität entfalten. Vor allem nimmt der offene Blick die Konkurrenz wahr, den wirtschaftlichen und politischen, oft genug auch kulturellen Kampf um Macht und Vormacht: Über Jahrhunderte durchzieht die europäische Geschichte eine nicht abreißende Welle von Kriegen. Glücklicherweise stoßen diese nicht bloß trennenden, sondern auch polemogenen Faktoren auf Gegenkräfte, so auf den Gedanken eines übernationalen Völkerrechts. Und im 17. und 18. Jahrhundert bildet sich eine Staatengrenzen überschreitende europäische Gelehrtenrepublik heraus. Deren wichtigste Teilrepubliken bilden die wissenschaftlichen Akademien. Wenn sich der englische Schriftsteller Julian Barnes „seit jeher als Europäer“ fühlt, dann denkt er „nicht an Wahlen, Referenden und eine Verfassung“, sondern an das alternative Europa, an die „Europäische Republik des Geistes“, für Barnes „ein anarchischer, lärmender und freundlicher Ort nie endender Fragen und Selbstzweifel“. Etwas, das der bloße Binnenblick gern einmal übersieht, der Vergleich mit Außer-Europa aber rasch erkennen läßt: Europa besteht jedenfalls einerseits aus einem „System“ von souveränen, konkurrierenden Staaten mit sich befehdenden Konfessionen, das andererseits zusammengehalten wird von Gemeinsamkeiten wie der griechischen Wissenschaft und Philosophie, dem römischen Recht und dem Christentum, wie dem Gedanken der Menschen- und Grundrechte, und der in seiner öffentlichen Gewalt geteilten Demokratie. Hinzu kommen ein rastloser Wirtschaftsantrieb, die reiche Kultur von Musik, Kunst, Literatur und Architektur, aber auch die Erinnerung an Spaltungen, Feindschaften, Unterdrückung und Ausbeutung. Glücklicherweise herrscht aber, wie wir wissen, seit drei Generationen der Wille vor, Streitigkeiten nur noch rechtlich oder politisch, jedenfalls friedlich zu lösen. Spätestens dieser Wille hat eine derartige Überzeugungskraft, daß der politische Kern Europas sich als im wörtlichen Sinn attraktiv, als hochanziehend, erweist. Für die gesamte Nachkriegszeit dürfte die Europäische Union die originellste und wohl auch wirkungsmächtigste politische Innovation bilden.

II.

VISIONÄRE ZUKUNFTSKRÄFTE

Die erste Seite unserer Neugier, die Entdeckung, richtet sich auf den bisherigen Zusammenhalt, die zweite Seite, die Erfindung, blickt auf die Zukunft. Zweifellos wäre es vermessen, eine in Jahrhunderten entwickelte, wegen der Erfahrung der zwei Weltkriege glücklich erneuerte Gestalt von Grund auf neu erfinden zu

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wollen. Umsichtiger ist zu überlegen, welche im Prinzip bekannten, aber nicht immer anerkannten Elemente eine zukunftsfähige Kraft entfalten. Greifen wir einige Elemente exemplarisch heraus und beginnen mit den Wissenschaften samt Philosophie. Dank vierer Merkmale bringen sie eine in Europa reich gepflegte, ihrem Wesen nach aber allgemeinmenschliche Wißbegier zur Blüte. Denn wie eine der wirkungsmächtigsten Schriften Europas, Aristoteles’ Metaphysik, einleitend erklärt, streben alle Menschen von Natur aus nach Wissen. Nun lebt erstens die methodische Vollendung des Wissens, der Kosmos der Wissenschaften, aus dem Streit, vornehmer gesagt: aus der Kritik. Mit einem Pathos, das wir sonst nur vom Strafprozeß kennen, verpflichten sie sich zweitens auf die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Um die Gefahr der Vorurteile zu verringern, suchen sie drittens die Ursachen und Gründe, jedenfalls Argumente, wodurch die Wissenschaften, weil sie dabei methodisch vorgehen, überprüfbar, zugleich lehr- und lernbar werden. Viertens richten sie Kritik und Argument nicht bloß auf Aussagen, sondern auch auf Kriterien und Methoden, nicht zuletzt auf sich selbst. Die kritische Selbstreflexion gehört zu den in Europa gepflegten Wissenschaften wesentlich hinzu. Diese vier Bedingungen, also Kritik, Wahrheitssuche, Argument samt Methode und reflexive Selbstkritik, dürften für die einzigartige Erfolgsgeschichte verantwortlich sein: daß die europäischen Wissenschaft blühen und sich über den ganzen Globus ausbreiten, und zwar ohne Gewalt, statt dessen nach der Devise „Kommet und seht“, also durch Attraktivität und Faszination. Ein fünftes Merkmal, die thematische Universalität, verstärkt die Faszination: Die Geistes- und Sozialwissenschaften erforschen die Sprachen und Kulturen aller Regionen und Epochen und tragen damit zu einer anamnetischen Gerechtigkeit bei. Auf diese Weise praktizieren sie eine noch nicht wahrgenommene Globalisierung; ich nenne sie die erste, thematische Globalisierung: Europäische Kulturwissenschaften befassen sich schon seit längerem nicht bloß mit Europa, sondern in der Universitas scholarum mit der gesamten, sowohl gegenwärtigen als auch vergangenen Welt. Die Naturwissenschaften einschließlich Medizin und Technik dagegen verwirklichen das von der Menschheit schon immer gesuchte Können in einem vorher ungeahnten Maß: die Linderung materieller Not, die Heilung von Krankheiten und die Verringerung mühevoller Arbeit. Dieses überragende Gelingen hat für die Vision Europas eine paradoxe Folge: Der Kontinent darf sich zwar rühmen, die bedeutendste Herkunftsregion für die Wissenschaften zu sein. Im Zuge deren zweiter Globalisierung, der Ausbreitung über die gesamte Welt, verlieren die Wissenschaften jedoch das Potential für eine europäische Identität. Stattdessen zeigen sie ihr wahres, ihr kosmopoliti-

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sches Gesicht. Seinetwegen kommt das Element eines weltweiten Wettbewerbs herein. Dieses birgt durchaus ein identitätsstiftendes Potential, das sich aber nur unter der Voraussetzung entfalten kann, daß Europas Wissenschaften, einschließlich Medizin und Technik, im internationalen Wettbewerb einen Spitzenplatz behaupten. Hier taucht eine Gefahr auf: Zur spezifisch europäischen Wissenschaftsidentität gehört, daß man überall dort, wo die Sprache kein kulturneutrales Transportmittel ist, den kulturellen Reichtum Europas bewahrt. Aus diesem Grund sollte man trotz einer Lingua franca nicht nur auf Englisch, sondern auch in zwei, drei weiteren der großen Wissenschaftssprachen Europas veröffentlichen. Vorausgesetzt sind Fremdsprachenkenntnisse. Da sie generell die Kommunikationsfähigkeit erhöhen, sollte Europa dafür sorgen, daß die Heranwachsenden mindestens eine Fremdsprache aktiv, eine zweite passiv zu beherrschen lernen. Fremdsprachenkenntnisse haben aber nicht bloß eine utilitäre Bedeutung. In ihnen zeigt sich die für Europa unverzichtbare Haltung wechselseitiger Anerkennung: Wer andere Sprachen lernt, achtet andere Kulturen als so weit gleichberechtigt, daß er sie einer sprachlich-kulturellen Kenntnis für wert hält. Einige Wissenschaftspolitiker haben die Herausforderung der kosmopolitisch-europäischen Wissenschaften erkannt, ziehen aber nicht immer die richtigen Folgen. Der vom Erasmus-Programm geförderte Studierendenaustausch ist ebenso gut wie erfolgreich. Der Bologna-Prozeß hingegen, ohne die Betroffenen, die Universitäten zu hören, von oben dekretiert, dürfte eine politischadministrative Fehlentscheidung sein. Folgerichtig hat er alle drei Ziele verfehlt: die Verkürzung des Studiums, die größere Mobilität innerhalb der Staaten und ein höheres Maß an Internationalität. Bei der Projektförderung dagegen, jüngst wieder in der sogenannten Exzellenzinitiative, werden gerade die Wissenschaften benachteiligt, die klassischen Geistes- oder Kulturwissenschaften, die der Ursache vieler Querelen innerhalb Europas entgegensteuern: der Fixierung auf die eigene Kirchturmperspektive und auf jenen Nationalismus, der sich selber nur als Opfer, die bösen Nachbarn dagegen bloß als Täter wahrnimmt. Wenn Europa Identität und Profil sucht, so bietet sich hier eine vortreffliche Gelegenheit; dank der geringeren Kosten ist sie auch gut finanzierbar: Ohne die Natur-, Ingenieur- und Medizinwissenschaften zu vernachlässigen, fördere man nachhaltig die Geistes- und Kulturwissenschaften. In einem zweiten zukunftskräftigen Baustein für die europäische Identität wiederholt sich die paradoxe Situation: Die ökonomische Rationalität hat starke europäische Wurzeln, ihr Wesen ist aber nicht an sie gebunden. Weil der effiziente Umgang mit den jeweiligen Ressourcen mittlerweile vielerorts gepflegt

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wird, leider häufig mehr mit der Arbeitskraft als mit den natürlichen Ressourcen, ist ein globaler Wettbewerb entstanden, der die Frage aufwirft: Wie kann sich in der Verbindung von neuen Absatzmärkten mit neuen Arbeitsplatzkonkurrenten ein Gefühl europäischer Gemeinsamkeit bilden? Wer in den Vereinigten Staaten neben den reichen Wohngebieten die erschreckend armen, überdies gewaltreichen Slums erlebt, wird bei aller Anerkennung der oft dynamischen USWirtschaft die Sozialstaatlichkeit Europas nicht missen wollen. Und wer Japan besucht, wird die vom Buddhismus und dem Schintoismus gepflegte Naturverbundenheit bewundern, aber mit Erstaunen bemerken, daß sich die dringend notwendige Umweltschutzethik weniger von dort als von westlichen Quellen speist. Infolgedessen empfiehlt sich, die spezifisch europäische Wirtschafts- und Arbeitswelt in einem „magischen“ Viereck fortzubilden: Die wirtschaftliche Rationalität verbinde man mit Sozialstaatlichkeit und einem nachhaltigen Umweltschutz sowie mit einem von der Generationengerechtigkeit inspirierten Veto gegen die enorme Staatsverschuldung. Es versteht sich, daß der Sozialstaat nicht zu einem maternalistischen Fürsorgestaat degenerieren darf. Die Alternative, die Hilfe zur Selbsthilfe, lasse sich auf einen Sachverhalt von anthropologischem Rang ein: Das Arbeits- und Berufsleben enthält, angefangen mit der vorlaufenden Ausbildung und der begleitenden Fortbildung, über die Entwicklung von Kreativität bis zur kommunikativen und multikulturellen Kompetenz, ein hohes Maß an Selbstverwirklichung, an Selbstachtung und an Achtung durch andere. Wichtiger als eine (üppige) Sozialhilfe ist daher eine die Arbeitslosigkeit abbauende Wirtschafts- und Sozialpolitik, die vor allem der Jugend attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet. Seit Jahren beklagt man das Demokratiedefizit der Europäischen Union, schiebt die Verantwortung aber gerne in die Ferne, nach Brüssel. Ohne Zweifel ist Brüssel mitverantwortlich. Denn es mißachtet das Prinzip Subsidiarität, also daß man den unteren Einheiten beläßt, was diese vermögen, obwohl dafür mindestens vier Gründe sprechen: das höhere Maß an Selbstverantwortung und Freiheit, die größere Nähe zu den konkreten Verhältnissen, das für Europa so entscheidende Recht auf Unterschiede, auf Differenz, nicht zuletzt die weit größere demokratische Legitimation. Freilich: Wie kann man die Anerkennung der Subsidiarität erwarten, wenn es 28 Kommissare gibt, die sich „natürlich“ profilieren wollen, und wenn der Lebenszweck ihrer Tausenden Beamten darin besteht, Europa mit immer wieder neuen Verordnungen und Gesetzen zu überziehen? Nicht etwa aus Gründen der Sparsamkeit, sondern um die Vielfalt gegen zentralistische Einheit zu retten,

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müßten Kommission und Beamtenschaft in Brüssel kleiner werden, obwohl die Stellen – man schätzt deren Zahl auf beinahe 50.000 – hochlukrativ sind. Die Alleinschuld trägt Brüssel freilich nicht. Auch Straßburg spielt eine Rolle, denn im Europaparlament hat ein Luxemburger Bürger ein erheblich größeres Gewicht als ein Deutscher. In Luxemburg kommen nämlich auf einen Europaabgeordneten 86.000, in Deutschland dagegen 828.000 Bürger, die damit gegenüber dem Luxemburger nur etwa ein Zehntel Stimme haben. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß der Europäische Gerichtshof seinen Sitz in Luxemburg hat, nicht zuletzt, daß europäische Spitzenämter eher von Bürgern des Großherzogtums als von Deutschen besetzt werden, ist für Luxemburg Europa sehr viel intensiver erfahrbar als für Deutsche oder auch Italiener. Nicht aus nationalistischem Eigeninteresse, sondern aus Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern, also aus demokratischen Gründen, hat Deutschland die Aufgabe, in Europa selbstbewusster aufzutreten und sein Gewicht zu stärken. Für ein weiteres zu wenig beachtetes Demokratiedefizit gibt es ein hohes Maß an nationaler Eigenverantwortung. Dieses beginnt damit, daß nicht die Bürger selbst, sondern die, freilich demokratisch gewählten Regierungen über die Kompetenzen der Europäischen Kommission, über deren Zusammensetzung und über wesentliche inhaltliche Beschlüsse entscheiden. Es setzt sich darin fort, daß manche Regierungen, beispielsweise die von Deutschland, bei ihren europabezogenen Entscheidungen zu wenig auf die aktuellen Interessen ihrer Bürger achten, daß sie insbesondere ihr Votum für „mehr Europa“ zu wenig an die reale Bereitschaft ihrer Bürger zurückbinden. Schließlich gibt es eine weitere Aufgabe, die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit, wofür die Union aber kaum eine Verantwortung, jedenfalls nicht die Primärverantwortung trägt. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Wie soll es ein Zusammenwachsen in Europa geben, wenn die Medien, deren europäische Sprachenvielfalt ohnehin nicht bloß eine Chance bietet, sondern auch eine Barriere schafft, wie soll sich ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entwickeln, wenn die Medien sich nicht in weit höherem Maße den Nachbarländern öffnen? Das Kriterium liegt im neutestamentlichen Wort: „An den Früchten werden sie sie erkennen.“ Wenn sich die Medien nicht bloß floskelhaft zu Europa bekennen, sondern dieses Bekenntnis sichtbar praktizieren wollen, so müssen sie gewisse Rubriken zu einer eigenen europäischen Gestalt entwickeln. Sie brauchen eine eigene Rubrik „Stimmen der Europäer“, eine weitere „Aus europäischer Feder“ und eine dritte „Aus europäischen Medien (Presse, Radio und Fernsehen)“. Diese und weitere Rubriken müßten häufig und in erheblicher Länge erscheinen. Man könnte auch eine neue Kolumne „Unser europäischer Gast“ einführen. Und in all diesen Rubriken sollte nicht bloß

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ein Loblied auf Europa gesungen werden. Auch die mancherorts artikulierte, keinesfalls nur unqualifizierte Skepsis verdient Gehör. Andernfalls darf man sich nicht wundern, daß die europafreundlichen Eliten sich ihrem demokratischen Souverän, dem Volk, entfremden. Mein Vorschlag für Presse, Radio und Fernsehen paßt mindestens ebenso gut für die Hundertschaften von Zeitschriften und Magazinen, die jeder bessere Kiosk führt. Ob Frauen- oder Modethemen, ob Auto oder der bunte Strauß von Hobbys – bei diesen Gegenständen zählen die nationalen und sprachlichen Grenzen immer weniger. Folglich könnte man problemlos aus den verschiedenen Ländern Europas Kolumnisten und Kommentatoren einladen. Dieselbe Forderung richtet sich an das Radio und das Fernsehen. Da manche unserer Nachbarn ein beneidenswert gutes Deutsch beherrschen, braucht nicht einmal immer übersetzt zu werden. Statt dessen darf man willkommen heißen, woran die Briten und US-Amerikaner sich längst gewöhnt haben: an Sprecher ohne grammatische und syntaktische Perfektion und mit einem etwas abweichenden Klang, beim Deutschen etwa in der weicheren italienischen oder der härteren slawischen Färbung. Der beliebten Schmähung des Nachbarn dagegen, etwa der in Großbritannien immer noch gepflegten Beschimpfung der Deutschen als „krauts“, oder der Darstellung deutscher Politiker in Nazi-Uniform sollten sich die entsprechenden Länder schlicht schämen: sowohl die Medien als auch die Politiker, denen die Courage fehlt, derartige Ausfälle zu tadeln. Bei einem weiteren, mittlerweile vierten Gesichtspunkt ist der europäische Erfindergeist am meisten gefragt: Wie hilft man, daß Europa zu einem Lebensraum wird, mit dem sich die Bürger emotional verbinden, in dem sie sich wohlfühlen? Wie wird Europa, was auch zu seiner Kultur gehört, wie wird Europa mindestens ansatzweise zu einer Heimat? „Heimat“ ist zweifellos ein emotional hochaufgeladener Ausdruck. Bei ihm schwingen Träume der Kindheit und die Sehnsucht nach jenem einfachen Leben mit, das es in Wirklichkeit nie gab. Europa zu einer derart verklärten Heimat zu machen, wäre nicht visionär, sondern im wörtlichen Sinne utopisch: ein weder existierender noch je existenzfähiger Ort. Es hätte zur Folge, daß sich so gut wie alle Menschen als heimatarm, strenggenommen sogar als heimatlos betrachten müssen. Deshalb schlage ich einen nüchternen, zugleich aufgeklärten Begriff vor. Er übersteigert nicht das emotionale Moment, setzt es aber auch nicht vollständig beiseite: „Heimat“ nenne man den erlebten und erlebbaren Lebensraum. Dieser beginnt häufig mit dem Elternhaus, dehnt sich später auf die Nachbarschaft und nähere Umgebung aus, wächst mit wachsendem Alter, schließt häufig den Berufs- und Freundeskreis ein, vielfach auch den eigenen Sprachraum, spätestens

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bei geographischer Ferne sogar das Vaterland. Der aufgeklärte Heimatbegriff ist daher als erstes in seiner Ausdehnung offen: Der Raum, den man als Heimat nicht bloß behauptet, sondern auch erfährt, kann wachsen. Die zahllosen Heimatvertriebenen wiederum zeigen, daß man auf die Heimat, in der man geboren wird, nicht ewig fixiert sein muß. Diese zweite Offenheit, die in Peter Glotz’ Titel Von Heimat zu Heimat anklingt, ist der großen Literatur längst vertraut: Theodor Fontane, der Brandenburgisch-Preußische Schriftsteller, hat hugenottische, also französische Vorfahren. Der Franzose Jean-Claude Izo ist „Marseiller“ durch und durch, das heißt „halb Italiener halb Spanier mit arabischem Blut und Oliven von beiden Seiten“. Und Dieter Forte schreibt in seinem Roman Das Muster, wie eine italienische Seidenweberfamilie von Lucca über Florenz und Lyon ins Rheinland wandert und sich schließlich mit einer ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Bergarbeiterfamilie verheiratet. Eine andere Erfahrung können Europäer machen, wenn sie etwa als Schüler, Lehrlinge oder Studenten zusammenkommen, dabei zunächst mehr Unterschiede wahrnehmen, nach und nach aber zahlreiche Gemeinsamkeiten entdecken, zumal dann, wenn sie ihre Verhältnisse mit denen an vielen Teilen Afrikas, Asiens und Iberoamerikas vergleichen. Ein nüchterner Begriff vom Ausdruck „Heimat“, darf ich erinnern, ist von „Heim“ abgeleitet und hat ursprünglich eine deutlich unsentimentale Bedeutung. Er bezeichnet lediglich den Ort, an dem man sich niederläßt, das Lager, oder das Haus, in das man gehört, das Domizil. In diesem Sinne taucht der Ausdruck in Ortsnamen wie Mannheim oder Rosenheim auf, wie im englischen Birmingham, Nottingham oder dem schwedischen Varnhem und Gudhem. An diese bescheidene Bedeutung kann Europa leicht anknüpfen. Begriffsgeschichtlich reichert sich der Ausdruck später um ein wirtschaftliches und ein rechtliches Moment an, woran man ebenfalls einfach anknüpfen kann: Europa als der Aufenthaltsort, an dem man sein wirtschaftliches Auskommen sucht und seinen Rechtsschutz findet. Zu einer mehr als nur elementaren Heimat gehört schließlich ein Sichwohlfühlen. Da diese Heimat, nennen wir sie Optimalheimat, mit innerer Zustimmung und innerer Verbundenheit verknüpft ist, kann sie aber weder ein bloßes „Geschenk des Himmels“ noch lediglich eine Bringschuld der anderen sein. Wer selbst nach vielen Jahren an seinem neuen Aufenthaltsort keine Heimat findet, braucht sich nicht schuldig zu fühlen; er sollte die Schuld aber auch nicht lediglich bei „den anderen“ suchen. Ob minimale oder optimale Heimat – zum aufgeklärten Begriff gehört eine dritte Offenheit, die Bereitschaft, den Mitmenschen ihre andere Heimat zu gön-

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nen. Dazu gehört eine Verantwortung der Politiker, die von der Presse zu unterstützen ist: Man setze sich für einen Schulunterricht ein, der nicht mit dem Gegenstand europäischer Feindschaft, dem Zweiten Weltkrieg, endet. Er lehre vielmehr auch die Nachkriegsgeschichte in ihrer europäischen Vernetzung, nicht zuletzt deren überwältigenden Erfolg.

III. SETZT EUROPA SEINE GRUNDWERTE AUFS SPIEL? Auf diese Frage gebe ich eine Antwort, die in den europapolitischen Streit hineinreicht. Ich versuche aber, unstrittige Argumente vorzutragen. Meine Antwort lautet: ja, Europa setzt seine Grundwerte aufs Spiel. Dieser Behauptung kann man freilich die Frage entgegenhalten: Darf denn ein Europa-Befürworter gegen neuere Entwicklungen skeptisch sein? Oder muß, wer die Europa-Idee, wer also die Entwicklung der Europäischen Integration für ein Erfolgsmodell hält, das Europa Frieden, Überwindung von Grenzen, vielfältige Kooperation, nicht zuletzt einen erheblichen Wohlstand gebracht hat, muß, wer deshalb die Europäische Integration für die in globaler Hinsicht größte politische Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg hält, jeder Entwicklung zustimmen? Oder darf er auf eine Gefahr aufmerksam machen: daß die Weiterentwicklung Europas in großen Teilen der politischen Elite, keineswegs aller Mitgliedstaaten, aber zum Beispiel in Deutschland, eine Euphorie hervorgebracht hat, die wiederum zu einigen leichtfertigen Entscheidungen geführt hat? Denn man hatte eine Vorbedingung aus dem Auge verloren, die kompromißlose Anerkennung der Grundwerte Europas. 1.

Zum Beispiel Demokratie und Recht

Ohne Zweifel gehören zu den europäischen Grundwerten, sogar zu ihren ältesten und wo erforderlich militärisch verteidigten Grundwerten, die Demokratie und das Recht. In den Worten des deutschen Verfassungsgerichtspräsidenten Voßkuhle: „Wir wollen ein demokratisches und rechtsstaatliches Europa“. Dieser Wille, befürchte ich, ist nicht mehr unangefochten, zum Beispiel hinsichtlich der Rückbindung an das Volk, von dem doch verfassungsrechtlich gesehen alle politische Gewalt ausgeht. Ein deutlicher Beleg: Alle Regierungen Europas scheuen Vertragsänderungen, deren Ratifizierung eine Volksabstimmung erfordert. Und wo Volksabstimmungen stattfinden, stießen die Europa-Vorschläge wie in den Niederlanden und in Frankreich auf Ablehnung.

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Zur aller Europa-Skepsis diskriminierenden Euphorie gehört, daß man Staaten nicht neutral Einzelstaaten nennt, sondern lieber mit dem im Deutschen despektierlichen Unterton von „National“staaten spricht und von ihnen verlangt, Souveränität aufzugeben. Unter Berufung auf einen weiteren Grundwert Europas, die Aufklärung, plädiere ich hier für ein offenes Wort. Nach Kants berühmter Definition, dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, fordert die Aufklärung den Mut, sich seines Verstandes selbst zu bedienen. Dabei entdeckt man sich zuerst und realisiert sich sodann als selbstverantwortliche Person, mithin als Mensch, der sich nicht fremden Vormündern unterwirft. In Begriffen der Staatsbürgerkunde wird man zum mündigen Bürger. Zu Kants Zeiten war ein Mut vor absolutistischen Königsthronen und bevormundenden Kirchenkanzeln gefragt. Der Couragierte nahm dabei durchaus existentielle Gefahren auf sich; ihm drohten Entlassung aus seinem Beruf und Gefängnisstrafen, gelegentlich sogar die Hinrichtung. Heute schwingen sich andere Instanzen zu Vormündern auf, und gegen sie zu opponieren ist wenig gefahrvoll. Trotzdem fehlt es in der heutigen Europa-Debatte vielfach an der Aufklärung im Kantischen Verständnis. Hingegen erfordert es keinen Mut, wenn eine Ministerin das Wort „Vereinigte Staaten von Europa“ in die Debatte wirft. Denn sie wird dafür belohnt, sogar in der für Politiker wichtigsten Währung, der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und der zweitwichtigste Lohn „respektvolles Lob“ kommt hinzu. Mut jedoch und auch Verstand beweist, wer auf die Unterschiede zum Vorbild, den USA, und die in den Unterschieden begründeten Schwierigkeiten verweist. Diese fangen mit der Vielsprachigkeit Europas an und reichen bis zu seinen erheblichen kulturellen und Mentalitätsunterschieden, die sogar in den Feinbestimmungen des Rechts wirksam sind. Der Hinweis auf die innereuropäischen Unterschiede soll daran erinnern, daß die USA aus vielen Gründen ein hier untaugliches Vorbild sind. Erstens begannen die USA als Zusammenschluß von 13 englischen Kolonien, folglich als ein sowohl sprachlich als auch kulturell, namentlich in der Rechtskultur, relativ homogenes Gemeinwesen. Vielleicht darf man von unseren führenden Persönlichkeiten nicht so viel an Geschichtskenntnis erwarten. Aber die Präambel der Verfassung der Europäischen Union sollten sie kennen. Danach sind die „Völker Europas“ stolz auf ihre nationale (!) Identität. Sie sind zwar, fährt die Präambel fort, „entschlossen, die alten Trennungen zu überwinden“. Sie verbinden diese Entschlossenheit aber mit der Gewißheit, daß „Europa ‚in Vielfalt (kursiv: O.H.) geeint‘, die besten Möglichkeiten für eine verantwortungsvolle Zukunft ermöglicht“. Daraus folgt der zweite Unterschied. Die Devise der USA lautet: „e pluribus unum“, aus der

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Vielfalt entstehe Einheit. Für Europa heißt es dagegen: „in pluribus unum“, Einheit in Vielfalt. Nicht etwa, weil verbohrte Nationalisten auf Eigenwilligkeiten pochen, hat Europa seine sprachliche, kulturelle, mentalitäre, soziale und politische Vielfalt zu bewahren, sondern weil darin ein weltweit bewunderter Reichtum Europas gründet. Wenn man den europäischen Völkern nicht Gewalt antun und dabei ihre zwei Grundwerte, den Rechtsstaat und die Demokratie, über Bord werfen will, ist Europa nur auf eine Weise denkbar, die beim Titel „Union“ nicht zu viel an „unum“, an „einem“, will. Realiter denkbar ist Europa nicht als homogene Einheit, sondern lediglich als Einheit in Vielfalt. Wer heute diese Vielfalts-Einheit schaffen will, sollte Verstand und Mut genug haben zuzugeben, daß erstens der Weg, wenn er überhaupt gewollt ist, lang sein wird, den zweitens einige Länder rascher als andere gehen können. Und klugerweise setze man bescheiden bei einzelnen Themen an, die zudem wie etwa die Kooperation in der Wissenschaft und Forschung, auch in der Wirtschaft und der Kultur, meines Wissens nicht an Einstimmigkeit gebunden sind. Wer dagegen das dabei anklingende „Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ tabuisiert, muß einräumen, daß er selbst bescheidene VSE (oder englisch USE) ad calendas graecas, also auf den Nimmerleinstag, verschiebt. Beweist also couragierten Verstand, wer pauschal Souveränität aufzugeben fordert? Zweifellos beweist ihn nur, wer sich der philosophischen Argumentation der bestimmten Negation unterwirft. Er hat nämlich genau zu prüfen, (1) wer (2) in genau welcher derzeitigen Lage (3) welche Souveränität (4) warum aufgeben sollte. Falls beispielsweise die wirtschafts- und finanzpolitisch verantwortlichen Länder Souveränität aufgeben, fördern sie das Gegenteil des sachlich Erforderlichen: Sie prämieren die wirtschafts- und finanzpolitische Unvernunft, nachweisbar durch eine Notsituation, die hervorgerufen ist durch Ursachen wie: über seine Verhältnisse leben, Günstlingswirtschaft, ineffiziente Steuerverwaltung und andersartige Arbeitsmentalität. Hingegen müßte genau derjenige Souveränität aufgeben, der aus den genannten Ursachen für seine Notlage selber verantwortlich ist. 2.

Zum Beispiel Aufklärung

Wie sieht es nun heute mit den Grundwerten Europas aus? Klärt die Politik die Bürger ernsthaft auf oder vernebelt sie die Situation mit Generalfloskeln wie „alternativlos“? Zur Vernebelung gehört auch das Unterschlagen der Tatsache, daß Deutschland im Vergleich mit einigen Krisenländern keineswegs reicher ist. Nicht nur

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Luxemburger, Niederländer und Österreicher, selbst Italiener verfügen über ein höheres Pro-Kopf-Vermögen als die Deutschen. Zu dieser und weiteren Verneblungen kommt die Legendenbildung noch hinzu, zum Beispiel daß Deutschland vom Euro am meisten profitiere. Es ist zwar richtig, daß der Euro gewisse Export-Erleichterungen gebracht hat, aber der Export in die Nicht-Euro-Länder ist in den letzten Jahren stärker als der in die Euro-Länder gewachsen. Und blickt man auf ein Nicht-Euro-Land wie die Schweiz, so sieht man, daß hochstehende Waren auch ohne Schützenhilfe des Euro erfolgreich exportiert werden. Der Grund ist derselbe, der auf die deutschen Produkte zutrifft: Wegen ihrer Qualität und der dahinter stehenden Innovationskraft sind sie überall auf der Welt gefragt. Mündige Bürger vertragen und verdienen die Wahrheit. Mehr noch: die häufig genannte Verbesserung der Bürgerbeteiligung darf nicht stillschweigend als top-down-Verfahren verstanden werden. In erster Linie sind nicht Brüsseler oder Straßburger Entscheidungen den Bürgern schmackhaft zu machen. Eine Demokratie verlangt vielmehr das bottom-up-Vorgehen: Über die nationalen Regierungen vermittelt, müssen Brüssel und Straßburg die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger kennenlernen und ernst nehmen, einschließlich dem Interesse, weniger gegängelt zu werden. 3.

Noch einmal Recht

Der Höhe- und zugleich Wendepunkt der europäischen Aufklärung, Immanuel Kant, pflegt in seiner Moral- und Rechtsphilosophie eine auffallend nüchterne Sprache; überaus selten wird er pathetisch. In einer der wenigen Ausnahmen, in der Schrift Zum ewigen Frieden, erklärt er das Recht zum Augapfel Gottes. „Recht“ bedeutet nun mindestens dieses: daß man sich auf Regeln einigt und die Regeln dann unparteiisch und wirksam durchsetzt. Stattdessen werden in Europa Regelverletzungen nicht bloß toleriert, sondern erstens schamvoll (besser: schamlos) verschwiegen, und sie erweisen sich sogar zweitens als lohnenswert: Wurde Griechenland für die Beschönigung seiner Zahlen, in nicht vernebelnden Worten: für den Betrug, zur Rechenschaft gezogen? Ein Einwand liegt auf der Hand: Bei ihrem Überschreiten selbstgesetzter roter Linien könnte sich die Regierung auf eine extreme Notsituation berufen und ihr Handeln als eine Art von Notrecht oder Notverordnung verstehen. Dagegen sprechen aber zahlreiche Argumente. Erstens bräuchte es klare Kriterien, die vorab zu bestimmen sind, damit sie nicht ad hoc „hergerichtet“ werden. Andernfalls ist die ohnehin drohende Gefahr des Mißbrauchs zu groß. Zweitens müßte

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die Regierung sehr genau erklären, und zwar sowohl dem Parlament als auch der Bürgerschaft, daß eine Notsituation außergewöhnlicher Art vorliegt. Bekanntlich pflegt Europa sich von Krise zu Krise zu entwickeln. Dieses Vorgehen spottet nicht nur aller Weisheit der Regierenden Hohn. Es läßt auch erwarten, daß jede Krise, als Not interpretiert, das angeblich Außergewöhnliche zum Normalfall degenerieren läßt. Nicht zuletzt dürften keine roten Linien definiert werden, da sie ja wegen angeblicher Not doch überschritten werden. Stattdessen sind die EU-Partner durch Erfahrung gewitzt genug. Sie hoffen nicht bloß, sondern wissen es mittlerweile: Das finanzkräftige Deutschland wird fünf vor zwölf schon einknicken. 4.

Zum Beispiel Gerechtigkeit

Recht und Gerechtigkeit bestehen nach ihrem elementaren Verständnis in einer Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten: Für die Eskapaden der Europäischen Zentralbank haftet Deutschland aber mit 27 Prozent, obwohl es im EZBRat nur eine Stimme hat, also genauso viel und wenig wie Zypern. Kein Wunder, daß sich Deutschland immer wieder über den Tisch ziehen läßt, wenn es nicht ohnehin schon überstimmt wird. In seiner weltberühmten Theorie der Gerechtigkeit plädiert John Rawls schon 1971 für eine Generationengerechtigkeit, läßt allerdings Fragen des Umweltschutzes außer acht. Acht Jahre später werden sie von Hans Jonas berücksichtigt, aber ohne die schon von Rawls diskutierte Staatsverschuldung zu thematisieren. Droht heute nicht eine analog unverantwortliche Selektion? Ein Land, das sich längst auf ökologische Generationengerechtigkeit verpflichtet und auf Nachhaltigkeit eingeschworen hat, schweigt zu der schier unvorstellbaren Finanzlast, die unseren Kindern und Kindeskindern droht. Wie wir wissen, hat man auf die skizzierten elementaren Gemeinsamkeiten Europas noch eine Währungsunion draufgesattelt. Als Touristen ist sie uns willkommen. Sie sollte aber mehr leisten; insbesondere sollte sie den Frieden in der Union stärken, stattdessen hat sie Unfrieden gestiftet. Und die Frage, ob wirtschaftsschwächere Länder wie Griechenland und Italien mit einer eigenen Währung nicht wirtschaftlich besser dastünden, ist zumindest nicht eindeutig entschieden. Ein weiteres: Wer sich der Transferunion widersetzt – mit anderen Worten: sich dagegen wehrt, daß die finanzpolitisch verantwortungsvollen Länder für Länder zahlen dürfen mit großzügigem Umgang mit ihrer Verantwortung –, braucht sich nicht als nationalistischer Anti-Europäer kritisieren lassen. Er kann sich vielmehr auf ein zweifelsohne entscheidendes Erbteil Europas, auf Recht und elementare Gerechtigkeit, berufen.

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Wer wie ich die Europäische Union für eine politische Errungenschaft hält, will nicht mit diesem pessimistischen, aber auch realistischen Hinweis enden. Daher schließe ich mit einem optimistischen Bild: Vergleicht man Europa mit einem Schiff, so gilt ein Wort von Antoine de Saint-Exupéry, das ich nur wenig zuspitze: „Créer le navire, c’est uniquement fonder la pente vers la mer.“ Wer ein Schiff bauen will, braucht nur die Sehnsucht nach dem Meer zu schaffen. Wer nun das Schiff Europa fortbauen will, der muß lediglich die Sehnsucht nach Frieden und Recht innerhalb von materiellem, vor allem auch kulturellem Wohlstand wecken. Dieses bündelt sich im Gedanken einer zunächst elementaren, später gesteigerten Heimat: Créer l’Europe, c’est uniquement fonder la pente vers la paix et le droit en richesse économique et culturelle.

Jüdisch-Christliche Grundlagen Europas 1 Wolfgang Huber

1. Im Unterschied zu allen anderen Kontinenten des Globus ist Europa in erster Linie keine geografische, sondern von Anfang an eine kulturelle Größe. Würde man sich lediglich an seiner geografischen Gestalt orientieren, ließe es sich neben Asien keineswegs als ein eigenständiger Kontinent betrachten. Nur seine kulturelle und religiöse Geschichte begründet, warum wir Europa einen Kontinent nennen. Doch in seiner religiösen und kulturellen Gestalt ist es von Anfang an nicht durch einen, sondern durch mehrere prägende Faktoren bestimmt. Keine noch so geläufige Rede vom ‚christlichen Europa‘ oder vom ‚christlichen Abendland‘ kann und darf darüber hinwegtäuschen. Die Rede von der christlichen Prägung Europas kann deshalb niemals in einem exklusiven, mit einem Monopolanspruch versehenen Sinn gemeint sein. Aber auch die Frage nach den jüdisch-christlichen Grundlagen Europas kann nicht exklusiv verstanden werden. Für diese kulturelle und religiöse Prägung sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem. Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Die Überlieferung dieses Erbes ist übrigens zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zuzurechnen. Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende Religion, das bestimmende Bild vom Verhältnis

1

Dem Vortrag liegt der Aufsatz Die jüdisch-christliche Tradition (in: Joas, Hans / Wiegandt, Klaus (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2005, 69–92) zugrunde.

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zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt den Tanach, also die Hebräische Bibel, ein. Jesus, Petrus und Paulus – um nur diese drei zu nennen – waren Juden. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Für die Zukunft hat deshalb nur ein Christentum Berechtigung, das sich seiner Herkunft aus dem Judentum bewusst ist. Wer von den christlichen Wurzeln Europas spricht, muss sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen. So wenig es einen Grund gibt, das Christliche an Europa zu marginalisieren, so unbegründet ist es auch, Europa mit dem Christentum gleichzusetzen. Für keine Epoche der europäischen Geschichte ist das angemessen. Dass die christliche Prägung Europas sich ihrer Herkunft aus dem Judentum verdankt, wurde freilich über lange Zeit verdrängt, ja verleugnet. Heute fragen wir mit scheinbarer Selbstverständlichkeit nach der „jüdisch-christlichen Tradition“ und den „jüdisch-christlichen Grundlagen“. Doch bis in das 20. Jahrhundert hinein hätte man in Deutschland kaum jemals so gefragt. Erst nach den Schrecken der Schoa, des durch den nationalsozialistischen Staat verordneten und von vielen Menschen mitgetragenen Mordes am europäischen Judentum, hat an dieser Stelle ein Umdenken begonnen. Erst mit dem II. Vatikanischen Konzil hat die römisch-katholische Kirche eine neue Verhältnisbestimmung zwischen der Kirche und dem Volk Israel in Gang gebracht. Das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. in Yad Vashem im Jahr 2000 hat diesen Schritt auf bewegende Weise verdeutlicht. Gleichzeitig mit dem II. Vaticanum brach sich in der evangelischen Theologie das Bemühen um eine „Theologie nach Auschwitz“ Bahn. In den verschiedenen Spielarten orthodoxer Theologie stößt man weit seltener auf vergleichbare Bemühungen. Doch auch wo sie Platz finden, können solche Bemühungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rede von den „jüdisch-christlichen Grundlagen“ weit eher auf eine noch immer offene Wunde hinweist als auf ein bereits geklärtes Verhältnis. Denn es gibt (mindestens) vier Hinsichten, die für das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Tradition, zwischen dem Volk Israel und den christlichen Kirchen entscheidend sind. Der 2018 verstorbene Dietrich Ritschl hat sie als religionshistorische Sicht, Substitutionsmodell, heilsgeschichtliches Modell der Kontinuität und Modell der zwei Wege voneinander unterschieden.2 Die religionshistorische Sicht geht von der These aus, das Judentum der letzten Jahrhunderte vor Christi Geburt sei erlahmt und verkrustet gewesen. Dage2

Vgl. Ritschl, Dietrich: Theorie und Konkretion in der Ökumenischen Theologie, Münster 2003, 73–76.

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gen habe das frühe Christentum eine Gegenbewegung gebildet; es bewirkte eine Erneuerung des Glaubens an den einen Gott und zugleich eine Grenzüberschreitung über das jüdische Volk hinaus. Mag auch der Pharisäismus schon eine wichtige Erneuerungsbewegung innerhalb des Judentums gewesen sein, die Jesusbewegung brachte doch in einer ganz anderen Weise einen Neuaufbruch in Gang. Jesu Gesetzesauslegung in der Bergpredigt oder die Deutung des Geschicks Israels, die der Apostel Paulus in den Kapiteln 9 bis 11 seines Römerbriefs vorlegt, gelten in einer solchen Betrachtungsweise als wichtige Anknüpfungspunkte. Diese Perspektive leitet in der Folge ebenso den Umgang mit der Geschichte des Christentums. Verkrustungen und Neuaufbrüche wechseln sich auch in dieser Geschichte miteinander ab. Von einer jüdisch-christlichen Tradition kann, folgt man diesem Gedanken, überhaupt nur dann die Rede sein, wenn der Prozess stetiger Erneuerung mitgedacht wird. Neben diese Sicht tritt das Substitutionsmodell, das man bisweilen auch als ein Modell der Enterbung bezeichnet hat. Dieses Modell knüpft theologisch an den Gedanken des Bundes an, den Gott mit den Menschen schließt. Im Schöpfungsbund Gottes, der sich nach der Sintflut im Bund Gottes mit Noah erneuert, hat diese Vorstellung ihren Grund. Mit dem Sinai-Bund wird das Volk Israel in einem exklusiven Sinn als Gottes Bundesvolk auserwählt und anerkannt. Die Tora und in ihrer Mitte die zehn Gebote, der Dekalog, werden zur Urkunde dieses Bundes. Doch Israel selbst verliert diese Sonderstellung als Gottes Bundesvolk, indem es sich nicht für das Kommen des Messias öffnet, sondern von Jesus als dem Messias abwendet. Seitdem ersetzt die christliche Kirche Israel als Bundespartnerin Gottes. Sie wird in den „neuen Bund“ berufen, der an die Stelle des „alten Bundes“ tritt. Sie nennt sich Volk Gottes und setzt sich damit als „neues Gottesvolk“ an die Stelle des alten. Die Hebräische Bibel wird als „Altes Testament“ bezeichnet, weil sie nun durch das „Neue Testament“ überboten wird. Beide treten zueinander in das Verhältnis von Verheißung und Erfüllung oder von Gesetz und Evangelium. Die Entgegensetzung von „alt“ und „neu“, die in dem Substitutionskonzept benutzt wird, begegnet freilich bereits in der Hebräischen Bibel selbst. Nun wird sie auf das Nacheinander von Israel und Kirche als einander ablösende Bundespartner Gottes übertragen. Seit Markion, einem Autor des zweiten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, wurde aus dieser Substitution abgeleitet, dass das Alte Testament in der christlichen Bibel keinen genuinen Platz habe. Immer wieder flammten vergleichbare Ideen auf. In besonders bedrückender Weise geschah das während des „Dritten Reichs“ bei den sogenannten Deutschen Christen, die sich die Vorstellung, alles Jüdische aus der christlichen Bibel zu tilgen, zu eigen machten – ohne zu bedenken, dass sie damit Jesus selbst aus der Bibel entfern-

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ten. Denn Jesus von Nazareth war Jude. Heute wird Vergleichbares unter veränderten hermeneutischen Prämissen vorgetragen. Das Alte Testament solle man wertschätzen – aber nicht mit dem Christuszeugnis des Neuen Testaments auf eine Stufe stellen. Denn das Alte Testament direkt als Christuszeugnis zu verstehen, sei ja dadurch ausgeschlossen, dass man die Eigenbedeutung der Hebräischen Bibel für den Glauben des jüdischen Volkes ernst nehmen müsse. Der theologische Konsens unserer Zeit geht jedoch in eine andere Richtung: Aus christlicher Perspektive muss daran festgehalten werden, dass das besondere Bundesverhältnis, das der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mit dem Volk Israel eingegangen ist, durch die Offenbarung Gottes in Christus nicht aufgelöst ist, sondern bestätigt wurde. Und ebenso ist daran festzuhalten, dass die christliche Kirche die jüngere Schwester dieses Bundesvolkes ist, zu dem sie sich infolgedessen in einem Verhältnis dankbarer Abhängigkeit und nicht im Verhältnis der Konkurrenz befindet. Gegenläufig zum Gedanken der Substitution betont ein heilsgeschichtliches Konzept den Gedanken der Kontinuität. Doch schlägt dieses Konzept leicht in einen heilsgeschichtlichen Fortschrittsglauben um, nach welchem der Bund Gottes in Christus die anderen Bundesschlüsse in seiner Endgültigkeit und Universalität überbietet und damit doch relativiert. Dann aber stellt sich die Frage, wie aus einer christlichen Perspektive die Existenz des nachbiblischen Judentums überhaupt zu beurteilen ist. Die zweifache Nachgeschichte der Hebräischen Bibel in ihrer christlichen und jüdischen Auslegung ist infolgedessen auch erst sehr spät überhaupt in das christliche Bewusstsein getreten. Dass christliche Exegese das Judentum der letzten vorchristlichen Jahrhunderte lange Zeit als „Spätjudentum“ bezeichnet hat, spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Man ordnete Altes und Neues Testament einander in der Vorstellung von „Verheißung“ und „Erfüllung“ zu und hatte für die Fortexistenz der jüdischen Glaubensgemeinschaft, nun über Jahrtausende hin und über die Kontinente zerstreut, keinen theologischen Sinn. Insofern konnte auch dieses heilsgeschichtliche Konzept, trotz der in ihm behaupteten Kontinuität, den latenten oder manifesten Antijudaismus der christlichen Theologie nicht überwinden. Dies ermöglicht wohl allein ein Modell der zwei Wege. In seiner einfachsten, auf Franz Rosenzweig zurückgehenden und in Martin Bubers „zwei Glaubensweisen“ aufgenommenen Form sagt es, dass es zwei Wege zu dem einen Gott gibt.3 Der Weg der Juden zu Gott geht mit Mose und der Tora, der Weg der Christen zu Gott geht mit Jesus und dem Evangelium. Einschneidend sind die Folgen dieses Modells für die Wahrnehmung der Person Jesu Christi, insbeson3

Vgl. Buber, Martin: „Zwei Glaubensweisen“. In: Ders.: Werke, Bd. I, München – Heidelberg 1962, 651–782.

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dere dann, wenn es von Christen übernommen wird. Denn Jesus ist bei dieser Betrachtungsweise auch aus christlicher Perspektive nicht als der Messias der Juden anzusehen. Das allerdings ist eine Folgerung, die neutestamentlichen Aussagen, insbesondere in den Briefen des Paulus, aber auch in den Evangelien, offenkundig nicht entspricht. Geht man dagegen von den Überlegungen aus, die Paulus in dem großen Israel-Abschnitt des Römerbriefs (Kapitel 9–11) darlegt, dann rücken die getrennten Wege in endzeitlicher Perspektive zusammen. Dass das Volk Israel jetzt noch, so sagt Paulus, vom Evangelium getrennt ist, ändert nichts daran, dass auch die Glieder dieses Volkes „im Blick auf die Erwählung Geliebte um der Väter willen sind. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (Römer 11,28f.). Den Gedanken, dass die Trennung zwischen der Kirche aus den Heiden und dem Volk Israel um Christi willen überwunden wird, führt der Epheserbrief weiter. In dem Bekenntnis, dass „Christus unser Friede“ ist, sieht der Verfasser den Grund für die Gewissheit, dass der Zaun der Feindschaft niedergerissen wird, der Juden und Christen bisher noch voneinander trennt (Epheser 2,11–22). Nicht Feindschaft, sondern Versöhnung, nicht Vernichtung, sondern Konvivenz bildet also die Perspektive, aus der das Verhältnis zwischen Juden und Christen zu betrachten ist. An die Stelle eines Abbruchs der Mauer, die Juden und Christen voneinander trennt, sind historisch jedoch Pogrome und der Holocaust getreten. Umso dringlicher wurde eine grundlegende Revision der theologischen Verhältnisbestimmung. Der Respekt vor den zwei Wegen und die Pflicht zur Versöhnung mussten damit auch zu konstitutiven Merkmalen einer christlichen Theologie werden. Nur in diesem Horizont kann christliche Theologie es heute wagen, von einer „jüdisch-christlichen Tradition“ und von „jüdisch-christlichen Grundlagen“ zu sprechen. Diese Art zu reden ist gerade aus christlicher Perspektive nur in einer selbstkritischen Haltung möglich, die sich der Schuldgeschichte des christlichen Antijudaismus und des durch ihn gestützten und geförderten Antisemitismus bewusst ist.

2. Das Modell der zwei Wege ernst zu nehmen, bedeutet, die eigene Perspektivität einzugestehen. Diese eine gemeinsame Tradition mit ihrem zweifachen Ausgang kann man nur aus einer der beiden Perspektiven – der jüdischen oder der christlichen – beschreiben; niemand kann beanspruchen, beide Sichtweisen in gleicher Weise vertreten zu können. Dabei ist hinzuzufügen: Ebenso kann kein Christ die

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innere Pluralität des Christentums negieren. Niemand vermag, die unterschiedlichen konfessionellen Traditionen einfach in einem integralen Bild zusammenzufügen. Auch wenn ökumenische Entwicklungen uns zu der Aussage berechtigen, das, was Christen gemeinsam bekennen, sei heute wichtiger als das, was sie voneinander trennt, so wird doch dieses gemeinsame Bekenntnis immer in einer besonderen, auch konfessionsbestimmten Färbung zu Wort kommen. Insofern wird es im Folgenden nicht verwundern, wenn die jüdisch-christliche Tradition in einer christlichen Perspektive zur Sprache gebracht wird, die ihrerseits evangelisch geprägt ist. In fünf Grundmotiven will ich den strukturierenden Kern dieser Tradition entfalten: das Schöpfungsmotiv, das Gnadenmotiv, das Liebesmotiv, das Hoffnungsmotiv und das Umkehrmotiv.4 Ich beginne mit dem Schöpfungsmotiv. Es sieht den Menschen als Teil der von Gott geschaffenen Welt. Der Mensch hat teil an der Güte der Schöpfung. Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens ist deshalb ein Grundzug menschlicher Existenz. Auch menschliche Freiheit kann gerade deshalb als unantastbares Gut gelten, da sie den Charakter verdankter Freiheit trägt. Weil Gott gegen alle menschliche Selbstsucht und Schuld an der Treue zu seiner Schöpfung festhält, bleibt der Mensch zur Freiheit bestimmt. Bevor er die Freiheit wahrnehmen kann, von sich aus etwas anzufangen, ist er dazu befreit, von Gott her mit sich etwas anzufangen. Nur im Rahmen des ihm gegebenen Lebens kann er ebendieses gestalten. Gott die Ehre zu geben, das eigene Leben als Teil der Schöpfung zu verstehen und das eigene Wirken in der Welt als Antwort auf Gottes Schöpfergaben zu begreifen, ist die erste Aufgabe menschlichen Lebens. Auch der Natur kommt als Gottes Schöpfung dabei eine eigene Würde zu; der Mensch hat ihr gegenüber einen Doppelauftrag des Bebauens und Bewahrens (1 Mose 2,15). Die Würde, die Gott schenkt, anzunehmen und anzuerkennen, ist die zweite Aufgabe. Diese Würde wird nicht durch menschliche Leistungen erworben und auch nicht durch menschliche Fehlleistungen verspielt. Gerade darin erweist sie sich als unantastbar und unveräußerlich. In den Grenzerfahrungen wie in der Mitte seines Lebens, in seinen Stärken wie in seinen Schwächen, auch angesichts von Schuld und Tod ist es Gottes Gnade, die den Menschen trägt und hält.

4

Ich folge einer Überlegung, die ich bereits angestellt habe in meinem Buch: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1999, 115–121. Gerd Theißen hat immer wieder Vorschläge zur Identifikation solcher grundlegenden Motive der biblischen Botschaft vorgelegt. Sie sind bei ihm weit größer an Zahl; ich versuche eine Konzentration auf fünf derartige Motive. Vgl. Theißen, Gerd: Zeichensprache des Glaubens, Gütersloh 1994, 29–34; Ders.: Zur Bibel motivieren, Gütersloh 2003, 131–173.

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Daher ist als zweites das Gnadenmotiv zu nennen. Der Glaube lebt aus einer göttlichen Bewegung zum Menschen hin, auf die eine Wendung des Menschen zu Gott antwortet. „Gnade“ gehört bereits zum Wortschatz des Alten Testaments. Das Volk Israel kennt nicht nur die Erfahrung des Segens, der mit der Schöpfung und ihrer Kontinuität verbunden ist, sondern ebenso die Erfahrung der Rettung, durch die Gott befreiend in die Geschichte eingreift. Der Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten und das Ende des Babylonischen Exils wurden für das Volk Israel zu exemplarischen Erfahrungen göttlicher Gnade. Die alttestamentliche Prophetie proklamiert nicht nur Gottes Gericht über Israels Übertretungen, sondern sucht Zuflucht bei dem vergebenden Gott, der einen Neuanfang möglich macht. Das Neue Testament verbindet diesen Neuanfang mit der Person und dem Geschick des Jesus von Nazareth. Die menschliche Antwort bündelt sich im Liebesmotiv. Auf Gottes gnädige Zuwendung antwortet die menschliche Liebe zu Gott, zum Mitmenschen wie zu sich selbst. In dieser dreifachen Gestalt macht das Neue Testament die Liebe zum entscheidenden Prüfstein menschlichen Verhaltens (Markus 12,29–31). Diese Liebe ist radikal verstanden. Sie reicht über den Bereich persönlicher Sympathie, familiärer Verbundenheit oder gesellschaftlicher Gruppenzugehörigkeit hinaus. Sie gilt auch dem Fremden, ja sogar dem Feind (Matthäus 5,43–48). Liebesbeziehungen, die durch wechselseitige Sympathie, Zuneigung und Treue geprägt sind, werden dadurch nicht relativiert. Auch wird nicht bestritten, dass die einem Menschen mögliche konkrete Fürsorge für andere Menschen begrenzt ist. Doch Liebe im umfassenderen Sinn beschränkt sich nicht darauf, dass wir für andere sorgen; sie kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir uns um andere sorgen. Oft ist sie dann besonders stark, wenn wir nichts tun können, sondern uns ganz auf die Hoffnung für den anderen und das Gebet für ihn konzentrieren. So führt das Liebesmotiv zum Hoffnungsmotiv. Die Hoffnung auf Gottes ausstehende Zukunft verbindet sich mit dem Zutrauen zu seiner dynamischen Präsenz in der Zeit. Der göttliche Geist ist das Unterpfand dieser Präsenz. Aus diesem Gedanken einer dynamischen Präsenz Gottes – nicht nur in seinem Schöpfungssegen, sondern in seiner gnädigen Zuwendung zum Menschen, auch in seiner Verlorenheit – ergibt sich die komplexe und faszinierende Vorstellung von der Einheit Gottes in den drei Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Trinitätslehre, von manchen als eine schwer nachvollziehbare Spekulation angesehen, zielt darauf, deutlich zu machen, dass Gott als der Schöpfer und Berufer Israels, als der in Jesus von Nazareth sich Offenbarende sowie als der im Geist Gegenwärtige derselbe Gott ist. Um diese Selbigkeit Gottes in der Dynamik seiner Präsenz in der Welt geht es.

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Am Ende dieses kurzen Durchgangs steht das Umkehrmotiv. Die Verkündigung Jesu hat ein klares Zentrum. Mit dem Versprechen der Nähe Gottes verbindet sich die Einladung zu einem Leben, das von der Liebe zu Gott und von der Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst zugleich geprägt ist. Wer im Glauben seiner Würde inne wird und Freiheit erfährt, wird zugleich an den Nächsten gewiesen. Menschlich und menschenwürdig ist ein Leben, das durch Beziehungen wechselseitiger Anerkennung unter Gleichen gekennzeichnet ist. In der Perspektive des christlichen Glaubens liegt deshalb eine Praxis, die auf Gerechtigkeit, also auf Verhältnisse gleicher Freiheit und wechselseitiger Anerkennung gerichtet ist. Für eine solche Praxis liegen die härtesten Herausforderungen in allen Erfahrungen erzwungener Ungleichheit, also verweigerter Anerkennung. Deshalb nimmt der Glaube die gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem Blick von unten wahr; seine Perspektive ist die vorrangige Option für Arme, Verletzliche, Ausgegrenzte. Lange Zeit war das Umkehrmotiv auf das Verhältnis des Menschen zu Gott sowie auf das Verhältnis zum Mitmenschen bezogen. Erst im Gegenzug gegen maßlose Verfügungsansprüche über die natürlichen Ressourcen erweisen sich Selbstbegrenzung und ein verantwortlicher Gebrauch menschlicher Herrschaftsmittel gegenüber der Natur als notwendige Schritte der Umkehr. Nicht nur Barmherzigkeit gegenüber den Leidenden und stellvertretendes Handeln für künftige Generationen, sondern auch der achtsame Umgang mit der Natur sind Schritte der Umkehr, die aus dem Bekenntnis zu Gottes Gnade folgen. Alle fünf geschilderten Grundmotive sind von zwei wichtigen Voraussetzungen bestimmt: dass ein Gott ist, und dass er der Welt als Erlöser begegnet. Der Monotheismus bezieht alles, was in der Welt geschieht, auf das Bekenntnis zu dem einen Gott, der es mit seiner Schöpfung gut meint. Dieses Gottesbekenntnis stößt auf den Widerspruch des Bösen und auf das für den Menschen unauflösbare Faktum des Todes. Der Erlösungsglaube rückt diese Mächte in den zweiten Rang. Zugleich gibt er dem einen Gott, der sich dem Volk Israel offenbart hat, universale Bedeutung; er sieht in ihm den Gott aller Völker. Damit wird der Erlösungsglaube dem Monotheismus untergeordnet. In Jesus Christus tritt nicht ein zweiter Gott auf; denn „nichts darf neben Gott treten, es sei denn Gott selbst“.5 Diese Verknüpfung von Monotheismus und Erlösungsglauben bestimmt die Ausbildung des christlichen Bekenntnisses zum dreieinigen Gott und damit das christliche Gottesverständnis insgesamt.

5

Theißen: Zeichensprache des Glaubens, 137.

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3. Diese fünf Grundmotive können sich mit unterschiedlichen Deutungen und Lebensformen verbinden.6 So verlockend es auch wäre, diese unterschiedlichen Deutungen und Lebensformen am evangelisch-katholischen Verhältnis zu entfalten und daraus eine ökumenische Perspektive zu entwickeln, muss ich darauf doch verzichten.7 Denn es fügt der Frage nach den jüdisch-christlichen Grundlagen eine Komplexität hinzu, die im Rahmen eines einzigen Beitrags nicht zu bewältigen ist. Stattdessen müssen wir uns der Fragestellung zuwenden, die normalerweise allein im Blick ist, wenn heutzutage von jüdisch-christlichen Grundlagen Europas gesprochen wird. Denn gemeinhin wird bei dieser Diskussion die Behauptung ins Zentrum gestellt, Europa sei durch Werte, die vom jüdisch-christlichen Erbe dieses Kontinents bestimmt sind, geprägt oder müsse sich jedenfalls an ihnen messen lassen. Dabei fällt auf, dass diese Diskussion sich häufiger und nachdrücklicher auf Werte bezieht als auf Würde. Jedoch lässt sich keiner dieser beiden Begriffe auf einfache Weise in der jüdisch-christlichen Tradition auffinden. Doch die Würde scheint ihr näher zu stehen als ‚die Werte‘. Mit dem Begriff der Würde bezeichnen wir den Sinn des Ganzen, den wir mit Gott verbinden, die Sonderstellung einer Person, eines Teils der Natur oder eines Kunstwerks, aber auch die Sonderstellung aller Menschen, die Unantastbarkeit der Natur im Ganzen, die Schutzwürdigkeit der Kunst insgesamt. Während wir von solcher Würde immer in der Einzahl sprechen (mehrere Würden gibt es nicht), sprechen wir von Werten in aller Regel in der Mehrzahl. Wert und Würde sind allerdings darin miteinander verklammert, dass es bei geschichtlichen Wertauseinandersetzungen häufig darum geht, dass die Reichweite menschlicher Würde ausgeweitet wird: auf bisherige Sklaven ebenso wie auf Freie, auf diskriminierte ethnische Gruppen ebenso wie auf die bisher Privilegierten, auf Frauen ebenso wie auf Männer, auf Kinder ebenso wie auf Erwachsene, auf Menschen mit Behinderungen ebenso wie auf

6

Gerd Theißen spricht in diesem Zusammenhang von der „Dialogisierung der Bibel“; vgl. ebd., 253–264.

7

Ein möglicher Ausgangspunkt hierfür wäre Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 21960 (1831), § 24, 137: Er will „den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältnis zur Kirche“.

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Menschen ohne solche Einschränkungen, auf gleichgeschlechtliche ebenso wie auf heterosexuelle Lebensformen. Die Wertkonflikte der Neuzeit entzünden sich an solchen Themen. Die Werte, die dabei in den Vordergrund rücken, haben eine starke Orientierungskraft, wie insbesondere die neuzeitliche Freiheitsgeschichte zeigt; aber kein Wert gilt absolut, jeder ist in ein sich wandelndes Werteuniversum eingebettet.8 Meist haben wir konkrete Bilder vor Augen, wenn wir davon sprechen, Europa sei durch christliche oder jüdisch-christliche Werte geprägt. Diese Bilder haben es in hohem Maß mit der Strukturierung der Zeit und des Raums zu tun. Die Strukturierung der Zeit durch die christliche Woche und die christliche Zeitrechnung, die Bestimmung des Ortsbilds von Städten und Dörfern durch Kirchen, Kapellen und Klöster, die christliche Gestaltung der monogamen Ehe und die verlässliche Verbindung zwischen den Generationen in der Familie, der Einfluss christlicher Nächstenliebe auf Krankenpflege, Nachbarschaftshilfe und Sozialwesen, der hohe Rang der Bildung, die Entwicklung von Arbeitsethos und Berufsverständnis, die Anerkennung der Würde jedes Einzelnen durch die politische Kultur sind Faktoren, die sich nicht ausschließlich, aber doch zu erheblichen Teilen der christlichen – und jüdischen – Überlieferung verdanken. Aber die Frage ist unvermeidlich, um welche Werte es sich dabei handelt. Welche Werte und Normen sind gemeint, wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht davon spricht, dass nach wie vor die „überragende Prägekraft“ anzuerkennen sei, die dem christlichen Glauben und den christlichen Kirchen für das politische Zusammenleben zukommt? 9 Fünf Werte will ich besonders hervorheben. Gottvertrauen und Nächstenliebe. Das Vertrauen, dass Gott es mit seiner Schöpfung gut meint, prägt sich nicht nur darin aus, dass Menschen in bitteren Erfahrungen am Vertrauen auf Gott festhalten; es prägt ebenso ihre Bereitschaft, einander in solchen Krisensituationen beizustehen. Das Vertrauen auf Gottes Güte ist ein entscheidendes Motiv dafür, in der Sorge um den Nächsten ange8

Vgl. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997.

9

In der Kruzifixentscheidung vom 16. Mai 1995 findet sich die Aussage: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“ (BVerfGE 93, 1, 22.)

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sichts der Erfahrungen von Leiden und Endlichkeit – aber auch von Niedertracht und Feindseligkeit – nicht nachzulassen. Der christliche Glaube bringt das Motiv der Nächstenliebe auch in die Welt des Rechts, der Ausübung von Macht und der Verfolgung des eigenen Vorteils im wirtschaftlichen Handeln ein. Die Goldene Regel, nach welcher man den andern so behandeln soll, wie man selbst behandelt zu werden hofft (Matthäus 7,12), ist wohl das wirksamste Moralprinzip geworden, das durch das Christentum vermittelt wurde, auch wenn es nicht allein christlichen Ursprungs ist. Die Kultur des Helfens, die vor allem durch die karitativen Einrichtungen der christlichen Kirchen gefördert worden ist, bildet eine unentbehrliche Stütze für die Humanität der Gesellschaft. Heute rückt die große Aufgabe in den Vordergrund, aus diesem Geist heraus wirksame Beiträge zu nachhaltiger Entwicklung zu leisten und dabei anzuerkennen, dass alle Teile des Globus – der globale Norden ebenso wie der globale Süden – sich an den Zielsetzungen einer solchen nachhaltigen Entwicklung, also an den Sustainable Development Goals, orientieren sollten. Achtung der Menschenwürde. In den Diskurs über die Menschenwürde bringt die jüdisch-christliche Tradition die Einsicht in die Geschöpflichkeit des Menschen ein. Seine Würde ist darin begründet, dass der Mensch von Gott geschaffen sowie durch Gottes schöpferisches Wort zur Antwort befähigt und berufen ist.10 Diese göttliche Anrede gilt jedem Menschen in gleicher Weise; daraus ergibt sich die Gleichheit aller Menschen in Würde und Rechten. Zwar sind die Menschenrechte historisch weithin zunächst gegen die Kirchen oder in Distanz zu ihnen formuliert und durchgesetzt worden; aber mit ihnen verbinden sich Motive, die zum christlichen Bild vom Menschen gehören. Toleranz. Ähnliches lässt sich über den Grundsatz der Toleranz sagen. Im christlichen Verständnis hat er seinen Ursprung in der Vorstellung von der ‚Toleranz Gottes‘. Damit ist gemeint, dass Gott den Menschen, der sich in seiner Gottlosigkeit von ihm abwendet, gleichwohl ‚toleriert‘ – das heißt wörtlich: ‚erträgt‘ –, ihn also nicht seiner Gottlosigkeit überlässt. Da es niemanden gibt, der von dieser göttlichen Toleranz ausgeschlossen ist, kennt der christliche Glaube einen genuinen Zugang zur Toleranz, der darin gründet, dass jeder Mensch – unabhängig von persönlichen Voraussetzungen, auch solchen des Glaubens – im Wirkungsbereich der göttlichen Gnade existiert. Erneut gilt, dass dieser Grundsatz gegen die im Namen der Kirchen selbst praktizierte Intoleranz zur Geltung gebracht werden musste. In der Anerkennung der Toleranz sind christliche Minderheiten den großen Kirchen vorangegangen. Deren Intoleranz wurde anlässlich 10 Vgl. Rendtorff, Trutz / Schmude, Jürgen: Wie versteht die evangelische Kirche die Rede von der „Prägekraft des Christentums“? Einige Sätze zur Orientierung, Hannover 2004.

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des Reformationsjubiläums 2017 am Beispiel der Intoleranz Martin Luthers gegenüber den Juden exemplarisch erörtert; aber dies ist nicht das einzige Beispiel für inakzeptable Intoleranz im Namen des Evangeliums. Die Reformation hat den Grundsatz proklamiert, dass das kirchliche Regiment für die Wahrheit des Evangeliums „allein durch das Wort“ wirkt, ihr jedoch „keine menschliche Gewalt gegeben“ ist.11 Im Blick auf den Staat konnte Luther sogar den Grundsatz vertreten, es sei ihm untersagt, in Glaubensfragen Gewalt auszuüben; wenn er das tue, sei man ihm demgemäß nicht zum Gehorsam verpflichtet. 12 Es war ein langer Weg, bis sich daraus ein Menschenrecht auf Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit entwickelte. Genauso wichtig ist die wechselseitige Achtung von Überzeugungen und Lebensformen. Sie setzt voraus, dass Menschen wissen, was ihnen selbst wichtig ist; denn das befähigt sie dazu, das zu achten, was anderen wichtig ist. In diesem Sinn ist Toleranz als menschliche Tugend nicht indifferent; sie trägt vielmehr den Charakter überzeugter Toleranz. Verantwortete Freiheit. Wenn auf diese Weise schon im Kernbereich von Glauben und persönlicher Überzeugung Freiheit und Bindung miteinander verknüpft sind, hat das Auswirkungen auf das Freiheitsverständnis insgesamt. Auch im Blick auf das gesellschaftliche Handeln gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Das Bild von Ehe und Familie, all seine Wandlungen eingerechnet, ist davon ebenso geprägt wie das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, an dessen Entstehung christlich geprägte Denker einen erheblichen Anteil hatten. Die Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung prägt aber genauso den christlichen Zugang zur Demokratie. Im gesellschaftlichen, insbesondere im wirtschaftlichen wie auch im politischen Bereich bildet die Entkoppelung von Freiheit und Verantwortung, von Risiko und Haftung eine der großen Zukunftsgefahren. Ebenso groß ist die Gefahr, den Wert der Freiheit dadurch auszuhöhlen, dass Maschinen vergleichbare Freiheitsgrade zuerkannt werden wie Menschen. Die Rede von autonomen Autos oder auch von autonomen Waffen weist in diese Richtung. Einsatz für das Gemeinwohl. Um das bonum commune als einen Grundwert der jüdisch-christlichen Tradition ist es still geworden. Das hängt damit zusammen, dass dieser Grundwert lange Zeit ordnungstheologisch geprägt war, sei es auf der Grundlage schöpfungstheologischer oder naturrechtlicher Erwägungen. Damit drängte sich das Motiv des Gehorsams vor das Motiv verantwortlich gestalteter Freiheit. Dass Institutionen nicht nur vorgegebene Ordnungen, sondern 11 Augsburger Bekenntnis von 1530, Art. 28; Mau, Rudolf (Hg.): Evangelische Bekenntnisse, Bd. I, Bielefeld, 91. 12 Vgl. Luther, Martin: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523 (Studienausgabe, Bd. III, Berlin 1983, 27–71).

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gestaltbare Verantwortungsräume sind, trat erst allmählich ins Bewusstsein. Die verantwortliche Gestaltung des gemeinsamen Lebens in Arbeit und Wirtschaft, in Familie und Nachbarschaft, in Kultur und politischem Gemeinwesen zeigt sich inzwischen deutlicher als Vollzug der dem Menschen anvertrauten Freiheit. Gemeinwohl wird daher nicht länger in polarer Spannung zur persönlichen Freiheit gesehen. Auf diesem Weg hat sich eine wichtige Klärung eines Wertkonflikts vollzogen, aus der individuell wie gemeinschaftlich Konsequenzen zu ziehen sind.

4. Solche Klärungen stehen im Zusammenhang mit neuen Wertkonflikten, die sich in unserer Welt deutlich zeigen. Allerorten ist von solchen Wertkonflikten, von einem Zusammenstoß der Zivilisationen, von einem Kampf der Kulturen oder – bei Papst Franziskus – sogar von einem „Dritten Weltkrieg“ die Rede. Genauer betrachtet, handelt es sich jedoch um eine Auseinandersetzung, die innerhalb aller Kulturen ausgetragen werden muss. Innerhalb dieser Kulturen muss jeweils nach der möglichen Generalisierbarkeit der eigenen Werte gefragt werden. Der Schritt, der vor gut siebzig Jahren mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vollzogen wurde, bedarf nun der Fortsetzung in der Entwicklung von Werthaltungen, die nicht nur für den Binnenbereich der eigenen Gemeinschaft Gültigkeit beanspruchen, sondern auch das Zusammenleben mit anderen ermöglichen und fördern. Die Pluralisierung der einzelnen Gesellschaften, die durch die Migrationsbewegungen unserer Zeit einen dramatischen Schub erhält, bedarf eines Widerlagers in einer Verständigung über grundlegende Gewissheiten und aus ihnen folgende Werthaltungen, die der Bewahrung des Lebens dienen und den Frieden fördern. Neben der Pluralisierung fordert auch die Digitalisierung zu einer vergleichbaren Wertedebatte heraus. Wenn der israelische Historiker Yuval Noah Harari in diesem Zusammenhang das Entstehen einer neuen Spezies ankündigt, die er ‚Homo Deus‘ nennt, dann ist dies ein denkbar deutliches Signal dafür, dass in diesen Entwicklungen nicht nur eine moralische, sondern zugleich eine theologische Herausforderung enthalten ist.13 Die Paradoxie ist deutlich genug: Auf der einen Seite wird Maschinen menschliche Würde zugesprochen, indem sie als autonom bezeichnet werden. Diese Depotenzierung des Menschen wird auf der an-

13 Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017.

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deren Seite dadurch kompensiert, dass die heraufziehende neue Spezies als ‚Homo Deus‘ bezeichnet wird. In einer solchen Situation ist beides von gleicher Dringlichkeit: dass wir die Würde des Menschen und den Wert von Maschinen voneinander unterscheiden, und dass wir die Differenz zwischen Gott und Mensch neu bedenken. Kurzum: Wir leben in spannenden Zeiten.

Die letzten Europäer: Eine jüdische Perspektive Natan Sznaider

Auch stünde es schlimm um Europa, wenn die kulturellen Energien der Juden es verließen. Walter Benjamin

Diese Worte hat Walter Benjamin als Zwanzigjähriger 1912 an seinen zionistischen Freund Ludwig Strauss geschrieben, und sie sind auch das zentrale Thema dieses Essays. Es geht um Juden und Europa, um eine nicht erwiderte Beziehung, die tragisch endete. „Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde“, schrieb Hannah Arendt am 21. Oktober 1940, also 28 Jahre später, an Gershom Scholem in Jerusalem. Arendt informierte Scholem mit diesen Worten auch über den Selbstmord von Walter Benjamin. Benjamin hatte sich einen Monat zuvor in Port Bou das Leben genommen, als er auf der Flucht vor den Nazis nach Amerika wollte. Er wurde von spanischen Grenzbeamten abgewiesen, die ihn nach Frankreich zurückschicken wollten. Arendt schrieb später über Benjamin: „Außerdem zog ihn nichts nach Amerika, wo man, wie er gelegentlich sagte, mit ihm wohl nichts anderes werde anfangen können, als ihn zu Ausstellungszwecken als letzten Europäer durch die Lande zu karren.“1 Einige Monate später, im Mai 1941, erreichten Hannah Arendt und Heinrich Blücher New York, und zwar auf demselben Wege, auf dem Benjamin vorher gescheitert war. Das Leben hing vom Zufall ab: „Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen 1

Arendt, Hannah: „Walter Benjamin“. In: Schöttker, Detlev / Wiziska, Erdmut (Hg.): Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt a.M. 2006, 45–97.

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Tag später hätte man in Marseille gewusst, dass man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.“ Dieses Gefühl der Zufälligkeit, sowohl des Lebens wie auch des Todes, sollte Arendt nicht mehr loslassen.2 Es wurde zu einer Metapher für Europa und die Juden. In ihrem Gepäck brachte Arendt Benjamins letztes Manuskript Über den Begriff der Geschichte mit, ein Dokument des „letzten Europäers“, das in den USA eine erneute Kariere erleben sollte. Ein Dokument der Katastrophe, des Bruches, des Endes einer Epoche. Ein Dokument, das Kultur und Barbarei gemeinsam liest, sogar Kultur als Barbarei verstehen will. Kurz bevor Arendt Europa verließ, diskutierte sie nach Angaben ihrer Biografin Elisabeth Young-Bruehl den Text mit ihrem Mann Heinrich Blücher in Lissabon.3 In diesem Essay geht es um jüdische Orte und jüdische Menschen wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Arnold Zweig, Moritz Goldstein, Theodor Herzl, Max Nordau, Karl Marx, Bruno Schulz, aber auch alle Unbekannten, die exemplarisch für das „Wir und Europa“ stehen. Es geht sowohl um die Hoffnung als auch um das Ende der europäisch-jüdischen Beziehung.

PERSPEKTIVE EUROPA Will man sich aus jüdischer Perspektive Europa nähern, dann scheint es, als befinde man sich in einem Spiegelkabinett. Die Perspektiven verschieben sich ständig, und je näher man rückt, desto verzerrter werden sie. Gibt es überhaupt ein Europa der jüdischen Perspektive, ein jüdisches Europa, ein Europa der Juden? Auf der einen Seite sehen wir heute die Entwicklung eines transnationalen Raums und die ständige Erweiterung der europäischen Einheit vom Westen nach Osten und nach Süden. Europa ist nicht mehr nur Metapher, sondern hat auch das Potenzial zu einer neuen gelebten post-nationalen Existenz und Praxis zu werden. Auf der anderen Seite gibt es die ständige Suche nach teilbarer Identität und Kultur. Europa braucht Europäer. Und Europäer sind Bürger ihrer Länder. Gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem neuen transnationalen Raum Europas und der jüdischen Transnationalität noch vor Beginn der Moderne? Europa sucht nach Europäern. Und gleichzeitig sucht es auch nach seinen nicht mehr existierenden Juden. Die Europa-Idee begann nicht nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern ist alt und geht bis auf die Antike zurück, aber der Integrationsprozess, der

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Ebd., 65.

3

Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. For Love of the World, Yale University Press 1983, 159ff.

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nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, stammt wiederum aus der Erfahrung der Weltkriege, der verfeindeten Nationen, des Ost-West-Konflikts, der Versöhnung ehemaliger Feinde und der Judenvernichtung. Europäer haben also nicht nur eine gemeinsame Vergangenheit, sondern auch eine gemeinsame Geschichte der Feindschaft, die es zu überwinden gilt.4 Heute ist Europa weder Empire noch Nationalstaat, sondern eher eine Gesellschaft von Gesellschaften, die aus Staaten, verschiedenen Kulturen, Rechtstraditionen und auch Sprachen besteht. Europa ist viel- und mehrsprachig, obwohl die Bildungspolitik der einzelnen Länder weiterhin auf Einsprachigkeit pocht. Aus dieser weltgesellschaftlichen Perspektive Europas stellt sich die Frage nach dem „Europäer“, die sich höchstens als fließende Identität einfangen lässt. Neue Metaphern wie die der „Ströme“, „Netzwerke“, „Hybride“ und „Melange“, die im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Europa und die Moderne verwendet werden, charakterisieren Europa als ein Projekt der Mobilität. Das heißt nicht weniger, als dass Strukturen jüdischer Lebenswelten vor der Homogenisierung des europäischen Nationalstaats nun zur selbsterklärten Ideologie eines sich verwirklichenden europäischen Projektes werden. Damit werden Themen europäischer universaler Werte offengelegt, die sich zwar auf Juden im Abstrakten beziehen – insbesondere, wenn man die Judenvernichtung als eine für Europa maßgebliche Erinnerung betrachtet –, die aber auf der anderen Seite ohne die Präsenz wesentlicher jüdischer Lebenswelten auskommen müssen. Ist die europäische Identität deshalb nichts weiter als eine Illusion? Ein jüdischer Blick auf Europa sprengt die Dichotomien zwischen Einheit und Vielfalt, Kontinuitäten und Brüchen, Isolation und Assimilation, Heimat und Exil. Ein anderes Europa öffnet sich dem Blick.

ASSIMILATION UND DIASPORA: „WIR UND EUROPA“ Gibt es jüdische Antworten auf europäische Fragen? Das sind beileibe keine Randfragen, sondern Schlüsselfragen, die das Tor zu den Rätseln und Unbegreifbarkeiten im Gedächtnisraum Europa aufschließen: Gab und gibt es eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über Grenzen hinweg in Europa lebt(e)? Waren die europäischen Juden gleichzeitig assimiliert, orthodox, jüdisch und nicht-jüdisch? Und ist es gerade dieses Nicht-Dazugehören, das auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschieden-

4

Im Jahre 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis vor allem für ihre Rolle in der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.

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heit des antisemitischen Staates traf, diese transnationalen jüdischen Kulturen und kosmopolitischen Kleingesellschaften im Herzen Europas auszumerzen? Und nicht zuletzt: Ist das tatsächlich ein historisch längst überwundener Ausnahmezustand? Oder gibt es versetzte Parallelen, die tief im europäischen Selbstverständnis spätestens seit der Französischen Revolution mit ihrem Postulat der universellen Gleichheit aller Menschen eingelassen sind, weil dieser universalistische Stolz Europas es den Juden zwar erlaubte, als Gleiche, das heißt als Deutsche, Franzosen etc. sich in Europa zu integrieren, aber eben nicht als Juden? Mussten die Juden nicht gerade auch in Europa ihr Jüdischsein als Privatangelegenheit zur Konfession machen, ja sogar konvertieren, sich assimilieren, um als Gleiche anerkannt zu werden? Ist also immer noch im Bilde Europas der wahre Jude der Nicht-Jude (ebenso wie der wahre Schwarze der NichtSchwarze oder der wahre Muslim der Nicht-Muslim ist)? Wohin gehören die Juden also? Und insbesondere: Gehören die Juden zu Europa, sind eigentlich Europäer par excellence, oder stehen sie außerhalb der europäischen Kultur? Als kleines Beispiel schrieb Arnold Zweig in seinem kurzen Essay Jude und Europäer in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude schon 1918: „Sie verstehen uns nicht; obwohl wir mit ihnen leben, solange sie selbst dies Land als kultiviertes besiedeln. Wohin immer der Jude gehöre: Europäer ist er nicht, das ist damit in einem sehr tiefen Sinne festgestellt.“5 Es sind genau diese Fragen, gestellt einige Jahrzehnte, bevor die Juden in Europa systematisch vernichtet wurden, ob Juden zu Europa gehören oder nicht, die von jüdischen Intellektuellen wie Benjamin und Zweig diskutiert werden. War die zionistische Bewegung nicht genau der Versuch, den europäischen Nationalismus auf die Juden, diese aber aus Europa in den Orient zu übertragen? Das hatte schon der jüdische Journalist Moritz Goldstein in seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Essay Wir und Europa erörtert.6 Sein Schluss ist klar. Der Zionismus ist eine europäische Bewegung. Die Juden sind die Europäer par excellence, oder in seinen Worten: „[…] stellen wir uns, als letzte Kon-

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Zweig, Arnold: „Jude und Europäer“. Der Jude, vol.2, 1917–1918, 23. Arnold Zweig verließ Deutschland 1933, lebte zwischen 1934 und 1948 in Palästina und emigrierte von dort 1948 nach Ost-Berlin, wo er 1968 verstarb.

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Dieser Aufsatz erschien in einem vom Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag herausgegebenen Sammelband Vom Judentum, der 1914 im Kurt Wolff Verlag in Leipzig veröffentlicht wurde. Dort findet man verschiedene Aufsätze, die sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit Juden eigentlich zum Orient gehören. Siehe Goldsteins Aufsatz 195–209. Moritz Goldstein verließ Deutschland 1933 und wanderte über einige Stationen in die USA aus, wo er 1977 verstarb.

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sequenz außerhalb Europas. Wir werden hypereuropäisch, und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten geht von Judäa das Heil aus.“ 7 So stritt man sich schon vor 100 Jahren um die Zukunft Europas und um die Frage, welche Rolle Juden dabei spielen sollten. Es sind klassische europäische Fragen. Kann Demokratie nur funktionieren, wenn es eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Lebensbezüge und ein gemeinsames Projekt gibt? Oder kann man dagegen jüdisch argumentieren und behaupten, dass für Europa das Beispiel der jüdischen Diaspora maßgeblich sein kann? Verkürzt gesagt gibt es zwei Wege, die sich in Europa kreuzen. Der eine Weg ist die kulturelle Monogamie, die Einsprachigkeit: der Versuch eine nationale Loyalität verbindlich zu machen. Der andere Weg ist die kulturelle Polygamie: die Liebe zu vielen Sprachen und Kulturen samt ihren Lebens- und Liebesformen. Die jüdische Kultur gerade in der Diaspora aber ist das beste Beispiel für die Polygamie der Kultur, für die Liebe der Vielfalt. So hatten sich einige zionistische Denker wie Theodor Herzl das nationale Projekt der Juden vorgestellt.8 Aber das war nicht unumstritten und keinesfalls eindeutig, denn Zionismus bedeutete gleichzeitig den Auszug aus Europa, die Schaffung einer jüdischen und israelischen Nationalkultur, die zwar aus Europa stammen mag, aber nicht mehr in Europa zu finden ist. Die Juden mussten also weiterwandern, damit sie aufhören konnten, Wanderer zu sein.9 So stritt man darüber in der zionistischen Bewegung, und so wird bis heute in Europa und in dem vom Zionismus gegründeten Israel weitergestritten. Max Nordau, Zionist der ersten Stunde, und ein enger Vertrauter Theodor Herzls, schrieb eine Verteidigungsschrift für einen europäischen Zionismus, die er am 13. März 1903 in der deutschsprachigen zionistischen Zeitschrift Die Welt veröffentlichte: Wir wollen, dass das wiedergeeinte, befreite jüdische Volk ein Kulturvolk bleibt, soweit es dies schon jetzt ist, ein Kulturvolk wird, soweit es dies noch nicht ist. Wir ahmen dabei niemand nach, wir benützen und entwickeln nur unser Eigentum. Wir haben an der europäischen Kultur mitgearbeitet, mehr als an unserem Teil, sie ist unser in demselben Masse

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Ebd., 209.

8

Für die Aktualität Herzls für das aktuelle Europa und Israel siehe: Rabinovici, Doron / Sznaider, Natan: Herzl Reloaded, Berlin 2016.

9

Als klassischen soziologischen Text für die jüdische Wanderschaft siehe Simmel, Georg: „Exkurs über den Fremden“. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, 509–512. Siehe auch Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft, eine journalistische Analyse der jüdischen Diaspora, 1928 veröffentlicht.

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wie der Deutschen, Franzosen, Engländer. Wir gestatten nicht, dass man einen Gegensatz zwischen Jüdisch, unserem Jüdisch, und Europäisch konstruiere.10

Aber es war auch klar, dass die zionistische Bewegung und die Massen, die sie ansprach, vor allem in Osteuropa kein Deutsch sprachen. Eher wohl Jiddisch, Polnisch oder Russisch. Herzl und Nordau mussten sich gegen Angriffe der Zionisten Osteuropas verteidigen, die den Zionismus nicht als europäisches Kulturprojekt verstanden. Es war vor allem Ahad Haam, was auf Hebräisch „Einer aus dem Volke“ heißt, dessen wahrer Name Ascher Ginsberg war, der Herzl immer wieder vorwarf, vom Judentum nichts zu verstehen. Er glaubte, dass die wahren Juden die Ostjuden seien, lange Jahre ehe im Zionismus überhaupt Juden aus dem Orient wahrgenommen wurden. Ahad Haam machte sich über ihren westlichen Kosmopolitismus lustig und nannte ihren Plan eine Affen-Imitation ohne wirkliche jüdische Werte. Es ging also wieder um die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus.11

ZWISCHEN UNIVERSALISMUS UND PARTIKULARISMUS Es gibt eine bittere Erfahrung der jüdischen Geschichte, die sich quer zu der Vision einer von Europa ausgehenden kosmopolitischen Welt stellt – und das nicht zuletzt deshalb, weil diese Erfahrung in der Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus angesiedelt ist. Was heißt das? Partikularismus handelt von Identität, und Identität exkludiert. Jedem Wir steht ein Die gegenüber, die Menschen, die nicht wie wir sind. Ohne diese scharfe Grenzziehung ist es zweifelhaft, ob wir überhaupt eine Identität ausbilden können (heißt es). Die partikularistischen Welten sind antagonistisch. Die kulturell Anderen werden in einer Wertehierarchie verortet. Es geht um Kampf, Ehre und Ruhm, im Grenzfall sogar um den eigenen Tod als Ausweis der existentiellen Ernsthaftigkeit. Und die Juden Europas standen immer schon stellvertretend für diesen Partikularismus. Die Antithese dieses ethnischen Partikularismus – das Prinzip des Universalismus – ist ihrerseits zutiefst zweischneidig. Auf der einen Seite wird die Ver-

10 Sowohl Herzl als auch Nordau waren gebürtige Habsburger. Sie wurden in Ungarn geboren, und als aufgeklärte Juden sprachen und schrieben sie in deutscher Sprache. Erinnert sei hier auch an den Deutsch schreibenden Franz Kafka, der in Habsburg geboren wurde und in der Tschechoslowakei starb. 11 Ginsberg wurde in der Ukraine geboren, am östlichen Ausläufer Europas. Er schrieb vor allen Dingen auf Russisch und Hebräisch.

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schiedenartigkeit der Rassen, Nationen, Religionen aufgehoben, und die Gleichheit aller Menschen, einschließlich gleicher Rechte, wird behauptet und auf die Fahnen geschrieben. Andererseits wird die kulturelle Differenz und Partikularität in der Gleichheit aller nicht nur aufgehoben, sondern auch ihrer spezifischen Würde und Bürde beraubt. Der universalistische Traum ist Platos Traum, der die ideale Welt, die Welt der Ideen, hinter den Partikularitäten und Konflikten vermutet. Es ist der Traum der Rationalität, die eine Welt der universalistischen Regeln gegen das Chaos des Lebendigen setzt, ein Reich ewiger Gültigkeiten jenseits des Hier und Jetzt. Dabei geht es um „Wahrheit“, und zwar um eine solche, die wahr ist für jeden zu allen Zeiten und an allen Orten, und je universeller eine Kultur, eine Nation sich versteht, desto näher kommt sie dieser Wahrheit. Darin lag auch die christliche Revolte gegen das Jüdische. Die Geschichte des Menschen – darin spiegelt sich das europäische Selbstverständnis bis hin zur Aufklärung – ist die Geschichte, die von engen Bindungen an Stämme, Stadtstaaten, Nationen hin zu universalistischen Prinzipien wie Menschenrecht und „Global Governance“ verläuft. Alles Partikulare – die Welt der Sinne und Leidenschaften – ist die Quelle der Konflikte, Vorurteile, Irrtümer und Kriege, die letztendlich, wenn der Universalismus gesiegt hat, zum „ewigen Frieden“ führen wird, wie ihn Kant (durchaus ironisch gebrochen) verheißen hat. Die jüdische Erfahrung durch die Geschichte hindurch enthält allerdings eine andere Lehre, nämlich die, dass der Universalismus eine unangemessene Antwort auf die Herausforderung des Partikularismus ist, und zwar eine solche, die kaum weniger gefährlich ist. Und hierin liegt auch das Dilemma der jüdischen Assimilation begründet. Je mehr Juden sich assimilierten (also universal sein wollten), desto weniger wollten und konnten sie Juden sein. Und wenn sie sich trotzdem wie Juden fühlen, obwohl sie sich anziehen wie die Nicht-Juden und so reden und schreiben wie sie, wenn sie wirklich Teil der nicht-jüdischen Leitkultur werden, aber trotzdem noch Juden sein wollen, dann beweist das nur, dass sie nicht assimiliert sind. Das ist sowohl ein jüdisches als auch ein europäisches Dilemma. Es war das Dilemma der Juden in Europa und ist bis heute das Dilemma aller Minderheiten.

FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND EMANZIPATION Wenn also Nicht-Juden und Juden darüber debattierten, ob man als Jude zu Europa gehört oder nicht, wenn der Zionismus sowohl als Scheitern der Emanzipation oder auch als seine wahre Erfüllung zu verstehen war, dann beginnt das moderne jüdisch-europäische Dilemma in der Tat mit der Emanzipation und der Französischen Revolution. Es ging um den modernen Nationenbegriff und die

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Frage, wie individuelle Freiheit innerhalb der Nation garantiert werden kann. Für Juden war das Emanzipationsversprechen der französischen Revolutionäre auch eine politische Lösung des Exils. Es war ein verlockendes Angebot, dem Exil ein Ende zu setzen und Teil der Staatsnation zu werden. Die französischen Revolutionäre verlangten die Auflösung aller Stände wie auch der Zünfte. Erinnern wir uns kurz an die Rede des Comte Clermont-Tonnerre vom 23. Dezember 1789, die in den Debatten um die jüdische Emanzipation in Europa schon beinahe einen ikonischen Charakter gewonnen hat: Aber, so wird man mir antworten, haben die Juden nicht ihre eigenen Richter und Gesetze? Das aber, antworte ich, ist euer Fehler, und ihr solltet es nicht dulden. Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren. Man darf ihre Richter nicht anerkennen, denn sie sollen nur die unseren haben… Sie dürfen innerhalb des Staates keine politische Körperschaft, keinen Orden bilden. Sie sollen Bürger werden. Nun behauptet man, sie selbst wollen keine Bürger sein. Mögen sie es nur ausdrücklich erklären, dann sollen sie des Landes verwiesen werden. Es ist nicht hinzunehmen, dass es eine Gesellschaft von Nicht-Bürgern im Staate gibt und eine Nation in der Nation.12

Hier öffnete sich eine scheinbare Hoffnung. Das Exil kann in der Tat beendet werden. Die Emanzipation, die bürgerliche Gleichstellung sind Schlüssel dafür. Juden sind nicht mehr die Wanderer, sie können gleichberechtigte Mitglieder einer vermeintlichen Volksgemeinschaft sein, so wie alle anderen auch. Und in diesem Versprechen machte sich gerade im Westen Europas der Widerspruch zwischen Nationalismus als homogenisierender Kraft einerseits und der Zerstreuung andererseits geltend. Im allgemeinen Willen der Nation darf es keinen partikularen Willen mehr geben. Ein wahrhaft revolutionärer Gedanke. Aber gleichzeitig der Beginn der Gewalt gegen diejenigen, die sich dem universalen Angebot widersetzen wollten. Partikulare Juden gehörten der Vergangenheit an, mussten „verbessert“ werden, um zu Menschen zu werden.13 Wie jedes Erlösungsversprechen war es ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite brachte die Emanzipation die sogenannte „Jüdische Frage“ erst ins Bewusstsein, aber gleichzeitig war die jüdische Emanzipation für viele Juden in der Tat Befreiung. Dies bedeutete, dass die Ablehnung der Gleichberechtigung für Juden nicht länger toleriert werden sollte und dass Juden als Menschen eines bestimm12 Battenberg, Friedrich: Das Europäische Zeitalter der Juden, II, Darmstadt 1990, 90. 13 Bezeichnend dafür ist die Streitschrift eines der preußischen Befürworter der jüdischen Emanzipation, Christian Konrad Wilhelm von Dohm aus dem Jahre 1781 Über die Bürgerliche Verbesserung der Juden.

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ten Glaubens (oder überhaupt eines Glaubens) in eine Gesellschaft gleicher Bürger integriert werden sollten. Die ständischen Beschränkungen sollten aufgehoben werden. Juden konnten theoretisch „gleich“ werden.

KARL MARX UND DIE JUDENFRAGE Nicht lange nach der Französischen Revolution dachte Karl Marx 1843 über die politische Emanzipation der Juden und ihr Scheitern nach und stellte das Versprechen der jüdischen Emanzipation infrage. Es ging Marx um die menschliche Emanzipation. Aber auch hier ging es um das Ende des Exils. Für Marx unterlief die Figur des Juden den universalen Anspruch der liberalen Gesellschaft. Damit wurden die Juden zur Minderheit. Wie Marx in seinem Essay Zur Judenfrage (ein Schlüsseltext für die europäische Judenfrage – oder besser NichtJudenfrage) betonen wollte, waren Juden zentral für die Herausbildung der modernen Gesellschaft mit ihren kapitalistischen und säkularen Zügen. Europäische Juden wurden zu den Hauptakteuren des europäischen Dramas, sie wurden zum Symbol der europäischen Moderne überhaupt und ihrer von vielen wahrgenommen Schattenseiten. Das war eine weitere Karikatur und wieder eine, die viel Macht über die Menschen ausgeübt hat und noch immer ausübt. Juden wurden Symbole für alle Paradoxien der Moderne, sie galten als Figuren der Partikularität, die den universellen Anspruch der Aufklärung unterlaufen. Juden wurden zu Außenseitern der Aufklärung, immer noch von traditionellen Riten und Gesetzen abhängig (das Problem der Emanzipation); aber gleichzeitig fungierten Juden als Symbol für Transnationalität, Heimatlosigkeit, Abstraktion, für mehrere Loyalitäten und die Geldwirtschaft (das Problem der Minderheiten). Das war das Paradox der europäischen Juden – ihre Partikularität war transnational. Und ihre Transnationalität war partikular. Dieses Paradox dürfte auch der Schlüssel zum europäischen Antisemitismus sein. Und es war einer der Gründe, warum sich so viele Juden zum Marxismus hingezogen fühlten.14

JUDEN ZWISCHEN VOLK, STAAT UND NATION Juden im Westen Europas wurden durch die Frage der politischen Gleichstellung und Staatsbürgerschaft definiert, während sie im Osten als Ethnie, als Kollektiv,

14 Der Text endet mit dem folgenden Satz: „Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“

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als Minderheit verstanden wurden. Das drückt sich in den verschiedenen Historiografien europäischer Juden aus.15 Auch wird dadurch der Ort Europa anders verstanden. Orte mögen geografisch und politisch Österreich, Polen, Sowjetunion oder Ukraine heißen; aus jüdischer Perspektive heißt der Ort zum Beispiel Galizien, eine Bezeichnung, die der Habsburgischen Verwaltungsbürokratie folgt. Während Europa vor 1945 Teil der jüdischen Hoffnung auf Freiheit war, ist dieser europäische jüdische Traum heute entweder in den USA oder in Israel angesiedelt. In Amerika Jude zu sein wurde zu einer Variante der amerikanischen Identität, während in Europa Jude zu sein bedeutete, kein Europäer zu sein. Amerika wurde zur Erfüllung des europäischen Traums, weil zur Emanzipation nur der Atlantik überquert werden musste. Man konnte Gleicher unter Vielen sein. Israel wurde zur Erfüllung des europäischen Traums, weil Minderheitenrechte nun in Mehrheitenrechte übersetzt wurden. Es war die Erfüllung der Emanzipationshoffnung im eigenen Land. Europa blieb nach 1945 weiterhin eine jüdische Hoffnung, aber nicht mehr auf europäischem Territorium. Die Juden Europas stellten damit die drei Homogenitätsprämissen, die stets nationalstaatlich geprägt und begrenzt gedacht wurden, infrage: die Homogenität von Raum und Zeit, die Homogenität von Raum und Bevölkerung und die Homogenität von Vergangenheit und Zukunft.16 Jüdische Lebenswelten in Europa sind in der Vormoderne geprägt worden, und damit ist auch ihre Integration in die moderne europäische Welt der Nationalstaaten gescheitert. Hier sollte man die religiösen Wurzeln des Exilbegriffs genauer betrachten. Dabei geht es nicht um Bibelexegese, sondern um das Nachdenken über unsere Lage, in der wir uns als Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts befinden. Dabei fällt auf, dass zwei (miteinander verwobene) Grenzsituationen normal, ja geradezu zur conditio humana am Beginn des 21. Jahrhunderts geworden sind: zum einen das alltägliche Ineinander der Welten, das an allen Orten der Welt zur Grunderfahrung geworden ist. Zum anderen bricht dieses ganz normale Chaos des Ineinander der Welten auch in den vielfältigen Formen hervor, in denen die drohende Apokalypse sich in unseren Alltag eingenistet hat. Diese Spannung ist schon im biblischen Exilbegriff zu finden. 15 Siehe ausführlich: Diner, Dan: Gedächtniszeiten, München 2003. 16 Diese Homogenitätsprämissen (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt) sind die Grundlagen des europäischen Nationalstaates (so auch dargelegt von dem Staatsrechtler Georg Jellinek in seiner 1900 veröffentlichten Allgemeinen Staatslehre, von Jellinek Drei-Elementen-Lehre genannt). Die aus Europa stammende zionistische Theorie wollte diesen souveränen Nationalstaat eines Volkes auch auf die Juden übertragen. Das war nur außerhalb Europas möglich. Die schon erwähnte Hannah Arendt kritisierte diese Staatsform aufgrund ihrer Flüchtlingserfahrung. Dazu später mehr.

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Schauen wir auch auf den paradigmatischen Fall des Exils, auf das 5. Buch Moses, Kapitel 28, Vers 64–67, wo es um Segen und Fluch geht: Und JHWH wird dich unter alle Völker zerstreuen, von einem Ende der Erde bis zum anderen Ende der Erde; und du wirst daselbst anderen Götzen dienen, die du nicht gekannt hast, du noch deine Väter, – Holz und Stein. Und unter jenen Nationen wirst du nicht rasten, und deine Fußsohle wird keine Ruhestätte finden; und JHWH wird dir daselbst ein zitterndes Herz geben, Erlöschen der Augen und Verschmachten der Seele. Und dein Leben wird schwebend vor dir hängen, und du wirst dich fürchten Nacht und Tag und deinem Leben nicht trauen. Am Morgen wirst du sagen: Wäre es doch Abend! und am Abend wirst du sagen: Wäre es doch Morgen!

Ein Fluch in der Tat. Strafe und Schicksal, und beides gleichzeitig. Erlösung vom Exil ist nur in der Rückkehr zu Gott möglich. In jüdischer Geschichte und Theologie unterscheidet man dann auch zwischen Exil (Galut) und Diaspora (Gola). Zwei verschiedene Begriffe, die in ständiger Spannung zwischen der Welt jenseits und diesseits stehen. Es geht sowohl um Politik als auch um Theologie. Natürlich sind die Begriffe miteinander verwandt, aber während „Exil“ als Strafe aufgefasst wird, als ein nicht gewollter Zustand des „Nicht-zu-Hause-seinKönnens“, ewig wandernd, ewig machtlos, beinhaltet der Diasporabegriff natürlich auch Chancen, sicher in sich ruhend mit anderen Gemeinschaften zu leben. Diaspora ist ja auch gleichzeitig der Begriff, der auf seinen Zustand hindeutet. Es ist ein griechisches Wort für Gola oder Zerstreuung und stammt aus der griechischen Bibelübersetzung, die ebenfalls erst durch die Zerstreuung zustande kam. Denn ohne die zerstreuten jüdischen Gemeinden wäre eine griechische Bibelübersetzung gar nicht notwendig gewesen. Aber wir haben hier mit diesem Terminus in erster Linie einen theologischen Begriff vor uns, der natürlich auch politisch gefärbt ist. Er bezeichnet Strafe für die Ungehorsamkeit, aber ebenso Trauer um die verlorene Einheit von Gott, Volk und Land. Diaspora ist hier kein theoretisches oder diskursives Konzept, sondern Teil der historischen Lebenserfahrung. In der jüdischen Tradition sind es zwei Begriffe – Exil und Diaspora – , die in ständiger Auseinandersetzung miteinander umzugehen haben. Aber genau hier lag auch die Chance für eine andere Interpretation. Gerade in der Befreiung von Staat und Territorium liegt eine ethische (und ethnische) Macht, die durchaus als Gegenmacht zur staatlichen betrachtet werden kann.

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„WIR UND EUROPA VOR 1945“: VON DROHOBYTSCH NACH LISSABON Wir beenden die jüdische Annäherung an Europa mit Bruno Schulz und Hannah Arendt sowie mit zwei europäischen Erinnerungsorten, die das Ende des jüdischen Europas symbolisieren: Drohobytsch und Lissabon. Die kulturellen Energien der Juden haben Europa in der Tat verlassen. Das jüdische Europa wird uns klarer, wenn wir das künstlerische Erbe eines einzigen Holocaustopfers betrachten, dessen Geschichte die Fäden noch einmal miteinander verknüpft. Knapp jenseits der östlichen Grenze des geeinten Europa, an einer der Stellen also, an denen die Europäische Union aufhört, befindet sich Drohobytsch. Dort liegt in einem Massengrab Bruno Schulz, Maler, Dichter, Schriftsteller. 1892 in Drohobytsch geboren, verbrachte Schulz sein Leben an diesem Ort, der stets von wechselnden Herrschern regiert wurde. Geboren in Österreich-Ungarn, blieb er am selben Ort, der nun aber polnisch wurde. Von 1939 bis 1941 lebte er unter sowjetischer Besatzung und wurde nach dem Einfall der Deutschen 1942 von den Nazis ermordet. 1939 lebten in Drohobytsch zehntausend Polen, zehntausend Ukrainer und fünfzehntausend Juden. Schulz sprach und schrieb auf Polnisch und Deutsch. Bekannt geworden ist er für seine Erzählung Die Zimtläden. Wahrscheinlich konnte er auch ein wenig Hebräisch und Jiddisch. Er hasste es zu reisen und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Drohobytsch in Ostgalizien, die einzige Bezeichnung für den Ort, die für Juden Sinn ergibt, während für andere ethnische Gruppen die geografischen und politischen Tatsachen (Österreich, Polen, Sowjetunion, Ukraine) natürlich entscheidender sind. Schulz war ein Phantom. Wie die Figuren in seinen surrealistischen Geschichten schwebte er über der Welt, war aber immer nur in Drohobytsch zu Hause.17 1942 zwang der in Lemberg kommandierende SS-Offizier Felix Landau Schulz, die Wände des Schlafzimmers seiner Kinder in seiner Villa in Drohobytsch zu bemalen. Schulz malte Motive aus Grimms Märchen, Motive, die aus der deutschen Tradition und Folklore stammen. Kurz darauf, am 19. November, wurde Schulz von einem anderen deutschen Offizier, Karl Günther, auf offener Straße erschossen. 18 An diesem Tage starben hunderte Juden in Drohobytsch. Drohobytsch wurde nach dem Krieg Teil der Sowjetunion und gehört seit 1991 zur Ukraine. War Schulz Pole im Leben und Jude im Tod? War er Ukrainer? Wem gehört die Wand, die er

17 Bruno Schulz galt für viele als der „polnische Kafka“. Seine Verlobte Jozefina Szelinska übersetzte mit seiner Hilfe in der Tat mehrere Werke Kafkas ins Polnische. 18 Siehe Ficowski, Jerzy: Bruno Schulz 1892–1942. Ein Künstlerleben in Galizien, München 2008.

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1942 bemalt hat? Diese Wand wurde 2001 von einem deutschen Dokumentarfilmer wiederentdeckt, war jedoch kurz nach ihrer Wiederentdeckung verschwunden, um daraufhin im Holocaustmuseum Yad Vashem in Jerusalem wieder aufzutauchen. Die Wand wurde in Ostgalizien – einst eines der Zentren der jüdischen europäischen Kultur und heute eine Region, die kaum noch jüdisches Leben und jüdische Kultur beherbergt – ab- und in Jerusalem wieder aufgebaut. Das Holocaustmuseum Yad Vashem in Jerusalem ging davon aus, dass Schulz einer der von den Nazis ermordeten Juden war, dass er also in seinem Tod ein Opfer des Holocaust wurde und dass die Erinnerung an ihn im Museum in Jerusalem am besten aufgehoben sei. Das war der Grund dafür, dass die Gesandten des Museums den Hausbesitzern in Drohobytsch die Wand abkauften, sie abbauten und nach Jerusalem brachten. Damit werden Fragen nach einem jüdischen Europa oder Europa der Juden gestellt: Ist Kultur sprachlich definiert und Bruno Schulz folglich ein polnischer Dichter? Ist Kultur territorial definiert? Was heißt das dann für ein Territorium, das immer wieder unterschiedlichen Nationen zugeschlagen war? Ist Kultur ethnisch bestimmt? Oder durch die Erfahrung, ja durch den Tod? Dann ist Bruno Schulz ein jüdischer Künstler. Kann Schulz alles gleichzeitig sein? Das heißt auch Israeli. Gehört er gar sogar allen? Womit sich weitere Fragen verbinden und zu unserer Ausgangsfrage zurückführen: Ist die jüdische Kultur Teil der europäischen Kultur oder ist sie autonom? In der territorialen Lesart ist Bruno Schulz – heute – ein ukrainischer Künstler. Wie ein Großteil des globalen Diskurses heute bewegt sich die Problematik des Kulturbesitzes zwischen dem Partikularismus der Nation und dem Universalismus der Welt. So kann auch die Erfahrung des Holocaust entweder als eine jüdische Erfahrung oder als eine Katastrophe verstanden werden, die der Welt gehört. Genauso kann man auch Bruno Schulz als Künstler verstehen, der der Welt gehört, oder wenigstens der Welt von Osteuropa jenseits der Grenze zur Europäischen Union. Diese Welt ist heute vergessen. Ostgalizien (Westukraine) wurde in der jüdischen Erinnerung ein Ort des Grauens, der Vernichtung, des Hasses. Von der ethnischen Vielfalt Österreich-Ungarns ist nichts mehr übriggeblieben. Der ethnische Nationalstaat hat sich über das multiethnische Imperium gesetzt. Von den einstmals fünfzehntausend Juden, die in Drohobytsch lebten, ist die jüdische Präsenz auf vierhundert Personen geschrumpft. Die ethnischen Gruppen der Polen, Ukrainer und Juden, die in Ostgalizien lebten, fanden sich häufig auch als Gegner wieder. In den verschiedenen ethnischen Erinnerungen der Region wird das eigene Leid gegen das Leid der anderen ausgespielt. So erinnern sich Ukrainer zwar an die von polnischer Seite gegen sie ausgeführten Massaker, wollen sich aber nicht an ihre Kooperation mit den Nazis bei der Judenvernichtung erinnern. Was tun also mit den deutschen Märchenmotiven, die unter Zwang von

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einem von den Polen gefeierten Künstler gemalt wurden, während der Künstler selbst Zeit seines Lebens im ostgalizischen Drohobytsch zu Hause war, das heute in der Ukraine liegt, und als Jude von den Nazis ermordet wurde? Der Holocaust wurde zu einem (west-)europäischen Gründungsmoment, während er am Ort des Geschehens im Osten Europas zu einem Hemm-Mechanismus wurde, der das eigene ethnische Leiden in den Hintergrund rückte. Das hat wenig mit der Formel „geteilte Erinnerung“ zu tun. Eher ist es eine Inversionserinnerung, bei der man sich gegenseitig den Spiegel des Leids vorhält. Und die Abwesenheit der Juden gilt eigentlich als „normal“, da ethnische Homogenität als normal gilt und man fast von einer zweiten Stufe der Verdrängung sprechen kann, wenn eine Gruppe vergisst, dass sie vergaß. Und mehr als 3.600 km südöstlich von Drohobytsch finden wir Lissabon auf der anderen Seite von Europa. Dort spielte sich zur gleichen Zeit ein anderes Drama für diejenigen Juden ab, die Glück hatten, fliehen konnten und sich von dort in ein anderes gelobtes Land einschifften. Das Ziel war der neue Kontinent, Amerika. Zwischen Drohobytsch und Lissabon liegen die Zentren jüdischer Kultur Europas, die zu Beginn der 1940er-Jahre systematisch vernichtet wurden: Lemberg, Krakau, Warschau, Budapest, Prag, Wien, Berlin, Paris und viele mehr. Diese jüdischen Orte wurden zu Erinnerungsorten, ja zu Friedhöfen. Lissabon, der westlichste Teil des Kontinents, wurde für viele die letzte Station Europas. Andere – wie Benjamin – schafften den Weg nicht mehr. Während im Osten Europas die Juden vernichtet wurden, sind sie im Westen zu einem anderen Menschentypus, nämlich dem des Flüchtlings geworden. Sehr eindringlich hat das Hannah Arendt in ihrem 1943 veröffentlichten Essay We Refugees geschildert. Arendt selbst wartete im Frühjahr 1941 in Lissabon drei Monate auf ein rettendes Schiff, das sie dann nach New York brachte. Davor war sie in Südfrankreich im Lager Gurs interniert, aus dem sie entkommen konnte. Arendt schrieb einige Briefe aus Lissabon, von denen wir über die Situation der Flüchtlinge und das Warten auf ein erlösendes Schiff erfahren.19 Das geeinte Europa ist aus der Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust mitentstanden, und heute stellt das Flüchtlingsproblem (nicht mehr Juden, sondern andere Minderheiten wie Mus19 Dieses waren Briefe an Salomon Adler-Rudel, ein Freund und jüdischer Politiker, der Arendt aus dem Exil schrieb, in: Arendt, Hannah / Adler-Rudel, Salomon: „Briefwechsel 1941–1943“. Siehe http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/ 72/108. Der Essay Wir Flüchtlinge wurde 2018 bei Reclam aus aktuellem Anlass neu aufgelegt. Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Arendts Essay wurde in New York eine Studie des Instituts for Jewish Affairs vorgelegt: The Jewish Refugee, New York 1944. Diese Studie war der erste Versuch, das jüdische Flüchtlingsproblem soziologisch zu verstehen.

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lime) eine der großen Bedrohungen dieses Projekts dar. Auf der anderen Seite ist das Schicksal der heutigen Flüchtlinge mit dem der jüdischen Flüchtlinge der 1940er-Jahre schwer zu vergleichen. Gerade auch, weil das jüdische Flüchtlingsproblem mit der Vernichtung der europäischen Juden endete, genießen Flüchtlinge heute trotz ihrer prekären Situation mehr Rechte und Sympathien als damals.20 In den eindringlichen Worten Hannah Arendts aus dem Jahre 1943 zeichnet sich das Ende des europäischen Judentums ab: Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch der privaten Welt.21

Ungefähr 40.000 Flüchtlinge kamen zwischen 1940 und 1944 durch Lissabon.22 Es war die letzte und fast die einzige Station, von wo aus man Europa auf der Flucht vor den Nazis verlassen konnte.23 Einer, der es nicht mehr schaffte, war 20 Die deutsche Bundeskanzlerin Angelika Merkel hat nach ihrem Beschluss vom Sommer 2015, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen, oft auf die Verpflichtung gegenüber der deutschen Vergangenheit hingewiesen, eine Verpflichtung, an die sich trotz der EU andere Nationen weniger gebunden fühlen. 21 Arendt, Hannah: „Wir Flüchtlinge“. In: Knott, Luise Marie (Hg.): Zur Zeit: Politische Essays, Frankfurt 1989, 7f. Vgl. auch Arthur Koestler in seinen 1941 und 1943 verfassten autobiographischen Schriften The Scum of the Earth und Arrival and Departure, die seine Flucht aus Frankreich über Portugal beschreiben. Koestler wartete sieben Wochen im Herbst in Lissabon auf seine Flucht nach England. 22 von Mühlen, Patrik: Fluchtweg Spanien–Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933–1945, Forschungsinstitut der Friedrich Ebert Stiftung 1992. Schröttner, Bea: „Lissabon“. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Band 3, 2012, 520–525. 23 Für literarische Darstellungen, die zeigen, dass das Flüchtlingsproblem nicht nur Juden betraf, also auch eine Verallgemeinerung zulassen, die in den letzten Jahren immer relevanter wird, siehe die Romane Transit (1944) von Anna Seghers und Die Nacht von Lissabon (1962) von Erich Maria Remarque. Berühmt wurde Lissabon als Tor zur Freiheit auch durch den Film Casablanca aus dem Jahre 1942, also in „real time“. Der Erzähler begann den Film mit einer Szene von Flüchtlingen: „With the

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Walter Benjamin, mit dem wir diesen Essay begannen. Auf dem Weg nach Lissabon beging „der letzte Europäer“ im September 1940 in Port Bou an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich Selbstmord. Lissabon wurde zum Symbol der letzten Europäer, zur letzten europäischen Station auf dem Weg in die sogenannte „Neue Welt“. Lissabon war eine letzte europäische Durchgangsstation, kein Ort des Exils, wie vorher vielleicht Paris, sondern ein Ort des Wartens, am westlichsten Punkt des europäischen Festlandes, das nur in diese Richtung verlassen werden wollte. Alles, was östlich war, Tausende von Kilometern, war eine Bedrohung. Portugal hatte für Juden seit der Austreibung und Inquisition im 15. und 16. Jahrhundert so gut wie keine Bedeutung mehr. Plötzlich war es im Mittelpunkt einer weiteren Austreibung und Flucht. 24 Mehrere amerikanischjüdische Organisationen wie HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society), eine amerikanisch-jüdische Organisation, die im späten 19. Jahrhundert in den USA gegründet wurde, um die Ausreise von Juden aus dem Russischen Reich zu erleichtern, arbeiteten seit 1940 in Lissabon.25 Schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen hatte es sich HIAS zur Aufgabe gemacht, die Ausreise von jüdischen Flüchtlingen aus Europa und ihre Einreise in die USA zu erleichtern. Sie war nicht die einzige Organisation. HIAS kann durchaus als Symbol für das Ende des europäischen Judentums angesehen werden, dessen Schwerpunkt sich in die USA verlagerte. Eine der Freiwilligen, die für die HIAS auf Ellis Island in New York mit jüdischen Einwandern und Flüchtlingen arbeitete, war die Dichterin Emma Lazarus. Ihr Gedicht The New Colossus wurde zu einem universalen Hilfeschrei für alle Flüchtlinge der Welt und im Podest der New Yorker Freiheitsstatue eingracoming of the Second World War, many eyes in imprisoned Europe turned hopefully, or desperately, toward the freedom of the Americas. Lisbon became the great embarkation point. But not everybody could get to Lisbon directly; and so, a tortuous, roundabout refugee trail sprang up.“ 24 Siehe auch: Milgram, Avraham: Portugal, Salazar and the Jews, Jerusalem 2011. In dieser Studie wird auch die Geschichte des portugiesischen Generalkonsuls in Bordeaux, Aristides de Sousa Mendes, erzählt, der gegen den Willen der eigenen Regierung Zehntausende von Visa für Portugal ausstellte und das auch nach 1940, als Frankreich von den Nazis besetzt wurde. 25 Am 27. Oktober 2018 wurde die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh von einem Attentäter angegriffen, dessen Anschlag unter anderem dadurch motiviert war, dass die Synagoge eng mit HIAS verknüpft war. Bei dem Anschlag wurden 11 Menschen ermordet. HIAS kümmert sich schon länger nicht mehr ausschließlich um jüdische Flüchtlinge, sondern hat diese Arbeit ausgeweitet. Siehe auch die Webseite von HIAS: www.hias.org.

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viert: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“ heißt es da. Dieser Begriff der „geknechteten Massen“ (huddled masses) wurde zum Aufschrei einer neuen verallgemeinerten Politik gegenüber Flüchtlingen. Juden sollten nicht als Juden, sondern als abstrakte Mitglieder der Menschheit geschützt werden. Das war auch die Absicht hinter der UNVölkermordkonvention vom 9. Dezember 1948, die dieses Verbrechen als „Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische, oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ definiert.26 Das spezifisch Jüdische wurde hier in „Gruppe“ umgewandelt, ein Opfer ohne Souveränität, während auf der anderen Seite der souveräne Staat Israel eine Alternative für die Machtlosigkeit der Juden wurde. Wie es Arendt in ihrem Aufschrei von 1943 beschrieb: „Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentierten die Avantgarde ihrer Völker. […] Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr; sie ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen.“27 Trotz der prekären Situation schaffte Arendt es, aus Lissabon herauszukommen. Wie sie in ihrem Brief vom April 1941 an Adler-Rudel schrieb: „[…] aber um die Plätze findet hier eine wahre Schlacht statt, [...] Diese ganze Emigration erinnert mich an das alte gute Spiel ,Mensch ärger Dich nicht‘, bei dem man würfelt und je nach dem Resultat unerwartet viele Punkte vor- oder zurückrücken muss, oder gar von vorne anfängt. [...]“. Was heute noch an Arendt in Lissabon erinnert, ist eine kleine Plakette an der Hauswand, wo sie wohnte, in der Rua Sociedada Farmaceutica 6, die im Dezember 2018 dort mit einer Aufschrift über ihren Essay Wir Flüchtlinge angebracht wurde.28 Am 10. Mai 1941 schiffte sie sich auf der S/S Guine nach New York ein.29

26 https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.1 _Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20 Crime%20of%20Genocide.pdf Siehe auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. 27 Arendt: „Wir Flüchtlinge“, 21. 28 http://espacocriticonaescola.blogspot.com/2018/12/hannah-arendt-em-lisboa.html. 29 Teixeria, Christina: „Wartesaal Lissabon 1941: Hannah Arendt und Heinrich Blücher“, http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/99/164, Ausgabe 1, Band 2, 2006.

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SCHLUSS Gibt es überhaupt eine geteilte Vergangenheit zwischen Juden und Nicht-Juden? Schaut man sich die verschiedensten Schulbücher und Enzyklopädien an, wird diese gemeinsame Vergangenheit und Identität mit dem Griechisch-Römischen Erbe, dem Humanismus der Renaissance, der Aufklärung, der Demokratie, also mit dem christlichen Erbe gleichgesetzt. Selbst der Begriff „Europa“ wird ursprünglich mit griechischer Mythologie und dem westlichen Christentum assoziiert. Die Grenzen zum Osten, zum Islam und zum orthodoxen Christentum definieren Europa als Europa. Europa als Abendland war ein Europa der Religionen. Und was ist mit den heutigen jüdischen Bürgern Europas? Etwas über 1,5 Millionen Juden leben zu Beginn des dritten Jahrtausends in Europa. Ist ihre Vergangenheit und Identität von den restlichen knapp 500 Millionen Menschen in Europa abgekoppelt? Oder handelt es sich bei Europa um eine „transnationale Normativität“, an der alle teilhaben können, die diese oben genannten Werte teilen? Darf demnach jeder Europäer sein? Wenn Europa nicht Inhalt ist, sondern Kommunikation, dann ist Europa auch nicht Geografie und Politik, sondern eine permanente Neuschöpfung. Sicher gibt es wieder und immer noch Juden in Europa. Und es gibt stolze jüdische Gemeinschaften gerade in England und Frankreich. Aber diese können keinen wirklichen dritten Raum jenseits von den USA und Israel für sich reklamieren 30. Die große jüdisch-europäische Kultur, sowohl im Westen als auch im Osten Europas, ist verschwunden. Jenseits von Antisemitismus und Holocaust und jenseits von Europa befinden sich die amerikanischjüdischen und die israelisch-jüdischen Existenzen. Oft sind es gerade NichtJuden, die diese sogenannten jüdischen Räume in Europa füllen, ob es sich dabei um jüdische Forschungseinrichtungen oder Klezmermusik handelt. Juden können daher auch nur symbolisch als die Repräsentanten eines neuen transnationalen Europas dienen. Wenn Juden dann als die ultimativen neuen Europäer gelten, dann ist diese Figur nur eine Fiktion, ein postmoderner Imaginationsraum, der ohne jüdische Zeit und Präsenz auskommen muss. Aber nicht ohne jüdische Touristen (oder Pilger), die aus den jüdischen Räumen Israel und USA nach Europa kommen, um dort die Spuren ihrer eigenen jüdischen Identität zu finden. Gerade osteuropäische Orte werden dadurch zu solchen Orten Chagall’scher Nostalgie, Orten der Vernichtung, wo man sein eigenes Leben und das Leben

30 Der Begriff des Dritten Raumes stammt aus der postkolonialistischen Theorie. Subjekte sind ständig in Bewegung. Für Juden und Europa wurde dieses Konzept vor allen von Diana Pinto verwendet: Pinto, Diana: Europa – ein neuer „jüdischer Ort“. In Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, Berlin 1999, 15–34.

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des jüdischen Kollektivs über die Orte der europäischen Vernichtung stellen kann. Osteuropa existiert nur noch als ein Erinnerungsort. Gleichzeitig romantisiert und exotisch verklärt, dienen seine Orte jüdischen Touristen aus Israel und USA als Folien. Viele der Juden Europas leben in einer Spannung zwischen der Souveränität des Staates Israel, dem sie sich mehr oder weniger verpflichtet fühlen, und einer gleichzeitigen europäischen Einschränkung der Souveränität, die das Recht von Minderheiten garantiert und letztlich auch zur Flüchtlingswelle in Europa geführt hat. Diese Welle, die zu einem Großteil aus muslimischen Menschen besteht, wird dann wiederum von vielen Juden als Bedrohung ihrer eigenen Existenz empfunden. Franz Kafka soll einst gesagt haben: „Es gibt unendlich viel ‎Hoffnung, nur nicht für uns.“

Euro-Islam: Der (Un-)Sinn eines Begriffs Mahmoud Abdallah

„I have learned that we can find good answers even to difficult questions, if we always try to view the world through the eyes of others. If we respect other people’s history, traditions, religion and identity.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel)1

EINLEITUNG Kurz vor der Europawahl 2019 war ich unterwegs, um einige Lehrveranstaltungen zum Islam abzuhalten und Gespräche mit einigen muslimischen Akteuren zu führen. Nach einem Treffen am Freitag mit dem Vorstehenden einer großen Moschee traf ich auf einen jungen Mann mit ländlichem Dialekt, der für sich in der Gemeinde Werbung machte. Er sei ein Muslim und wolle für die Europawahl kandidieren. Lautstarke Empörung war die Reaktion der Gemeinde: Vertreter der älteren Generation warnten ihn, dass er als Muslim gegen den Islam eingesetzt würde; eine Stimme bezeichnete ihn als armselig und naiv, ein weiterer behauptete, er sei unerfahren und habe keine Ahnung von der Politik und deren Vorhaben gegen die Muslime und (den) Islam. Weniger begeistert waren die Stimmen, die sein Vorhaben begrüßten. Ein europäischer Muslim, der die Zukunft dieser Gesellschaft mitgestalten möchte, hat – wie deutlich wurde – mit zahlreichen oppositionellen Stimmen zu rechnen, die die Zurückgezogenheit aus Gesellschaft und Politik bevorzugen.

1

https://www.youtube.com/watch?v=8fLS8v3VSxk&feature=share 01.06.2019).

(letzter

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Zwei unterschiedliche Welten prallen aufeinander: Partizipation vs. Misstrauen in Staat und Politik, was zeigen kann, warum der Euro-Islam noch mit großer Vorsicht genossen wird. In diesem Klima des Misstrauens werden Stimmen laut, ob bzw. wie man den Islam in Europa beheimaten könne. Leider wird der Diskurs mehrheitlich nicht von Theologen, sondern von Philosophen, Politikwissenschaftlern, Literaten und Publizisten geprägt. Es dominieren drei Szenarien: der Islam und, in, oder aus und für Europa. 2018 sprach Innenminister Horst Seehofer auf der Deutschen Islam Konferenz (DIK), deren Mitglied der Autor dieses Beitrages ist, vom Islam in, aus und für Europa. Ist die Vision von einem europäischen Islam tatsächlich der Schlüssel zu der Problematik? Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, den Diskurs um den Euro-Islam in seiner ganzen Breite vorzustellen. Ausgehend vom Titel möchte ich vielmehr auf das Konzept selbst eingehen und schließlich die Frage beantworten, ob ein „Euro-Islam“ das Modell der Zukunft sein wird oder ob eine Alternative entstehen kann bzw. sollte. In diesem Zusammenhang werde ich meine eigene Version vom Euro-Islam, die Theologie des Zusammenlebens, in Umrissen vorstellen.

1.

BEGRIFFSGESCHICHTE UND -WAHRNEHMUNG

„Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen“. Auch wenn Max Frisch sich mit dieser Äußerung 1965 auf in Deutschland arbeitende Italiener bezog, lässt sich sein Ansatz auf die Situation der Muslime in Europa mühelos übertragen. Als gläubige Menschen suchten die Gastarbeiter Orte zum Beten, in Kellern, Vereinen, Hinterhöfen oder Teestuben. In den 80er-Jahren entstanden die meisten uns heute bekannten Dachverbände. Die heutige Debatte um „Identität“, „Leitkultur“, „Euro-Islam“ und „Integration“ kam den ersten muslimischen Gastarbeitern niemals in den Sinn. Auch europäische Politiker hatten diese Entwicklung nicht vorhergesehen und betrachteten Muslime in Deutschland als ein vorübergehendes Phänomen, weshalb sie deren religiösen Bedürfnissen wenig Beachtung schenkten. Erst ab den 90er-Jahren erlebt der Islamdiskurs einen Aufschwung, die Debatte um einen „Euro-Islam“ wird intensiver und kontroverser. Es wurden Fragen formuliert, die die Gegenwart und Zukunft des Islam in Europa betrafen. In diesem Zeitraum erschien auch der Begriff Euro-Islam. Seit dem 11. September 2001 ist eine stetige Verschärfung und negative Ausrichtung der Debatte auf dem Vormarsch, häufig mit Stammtischqualität. Oft wird der Öffentlichkeit ein Islambild vermittelt, welches ihn als eine gewalttätige

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Religion darstellt, die mit der Moderne unvereinbar sei. Der Begriff „EuroIslam“ ist somit derart emotional aufgeladen, dass eine Analyse schwerfällt. Zudem beteiligten sich an der Debatte weitere politische Akteure, Theologen, Islamexperten sowie Funktionäre, was die Soziologin Nilüfer Göle zu der Feststellung veranlasst, dass es schwer falle, alle Stimmen zum Euro-Islam in eine gemeinsame Kategorie einzuordnen.2 Im Groben sind doch zwei Richtungen zu unterscheiden: die des Göttinger Politikwissenschaftlers Bassam Tibi und die des Schweizer Islamwissenschaftlers Tariq Ramadan. 1.1 Bassam Tibi Tibi ist ein deutscher Politikwissenschaftler syrischer Herkunft, der den Neologismus Euro-Islam in den 90er-Jahren prägte.3 Er sieht die Europäisierung des Islam als notwendig für die Integration von Muslimen in die europäische Gesellschaft an. Muslime müssten integriert werden, sodass sie zum einen von den nichtmuslimischen Europäern als ein Teil Europas gesehen werden und sich zum anderen selbst als Europäer begreifen. Ein einheimischer Islam in Europa solle entwickelt werden, der mit den Idealen von Individualismus und Religionsfreiheit vereinbar ist. Muslime sollten zu europäischen Bürgern des Herzens – und nicht mehr nur des Passes – werden. Tibi schreibt:

2

Vgl. für einen Einblick in den Diskurs Chervel, Thierry / Seelige, Anja (Hg.): Islam in Europa – Eine internationale Debatte, Berlin 2007. In diesem Buch liegen die Beiträge der Debatte vor, die der französische Philosoph Pascal Bruckner zu seiner Polemik gegen den anglo-niederländischen Schriftsteller Ian Buruma und den britischen Historiker Timothy Garton Ash veranlasst hat. Bruckner kritisiert den vermeintlich liberalen Konsens im Umgang mit dem Islam. Darauf haben nicht nur die beiden geantwortet, sondern auch weitere Intellektuelle wie Paul Cliteur, Lars Gustafsson, Ulrike Ackermann, Necla Kelek, und Bassam Tibi. Des Weiteren haben muslimische Theologen wie der bosnische Enes Karić, der ägyptische Naṣr Ḥāmid Abū Zaid, der Muslimbruder-nahe Yūsuf al-Qaraḍāwī (un)bewusst an dem Diskurs mitgewirkt.

3

Zur Begriffsgeschichte bei Tibi vgl. Ders.: Europa und seine Islamischen Enklaven – welche Voraussetzung müssen für ein gemeinsames Leben in einer Zivilgesellschaft erfüllt werden? Die These von der Europäisierung des Islam. In: Altermatt, Urs / Delgado, Mariano / Vergauwen, Guido (Hg.): Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart 2006, 41–64. Zur Debatte über die Begriffsschöpfung als Neologismus vgl. Ertugrul, Sahin: Europäischer Islam-Diskurs im Spannungsfeld von Universalität, Historizität, Normativität und Empirizität [sic], Berlin 2017, 32f.

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Ich bezwecke mit dem Konzept ‚europäischer Islam‘, dass Muslime, die in Europa leben, wenn sie dieses Konzept annehmen, dass sie europäische Bürger werden. Und es gibt einen Begriff, den ich in Amerika gelernt habe. Der heißt citizens of the heart.4

In seinem Konzept sieht Tibi fünf Elemente als für die europäische Kultur zentral an, die auch Eingang in den Euro-Islam finden sollten: Demokratie, Trennung von Staat und Religion, Pluralismus, säkulare Toleranz und Menschenrechte.5 Muslime müssten diese Grundwerte anhand von Reformen übernehmen, um ihrer Religion in der Moderne einen Platz zu ermöglichen. Gleichzeitig fordert Tibi von den Europäern bessere Kenntnis um den Islam und seine Geschichte. In Tibis Ausführungen überwiegt die Überlegenheit und Höherwertigkeit Europas, was die Zurückweisung seiner These seitens vieler Muslime erklärt. Ihm wird vorgeworfen, er verdichte Islam und Europa zu asymmetrischen Gebilden und schreibe dem Islam eine Natur zu, die ihn von Europa unterscheidet. Seine Forderungen werden als Bedrohung der islamischen Identität und als Aufforderung zur Assimilation empfunden. Tibi selbst weist diese Vorwürfe zurück. 6 Er spricht zwar von Assimilation und Integration als zwei vorhandenen Möglichkeiten, räumt aber ein, dass Assimilation kein möglicher Weg sei und dass die Muslime sich darauf nicht einlassen würden.7 Gleichzeitig ist er überzeugt, dass eine „Europeanization“, d.h. Europäisierung des Islam für das Territorium der EU möglich ist: Wenn es möglich war, dass sich arabische Muslime und Europäer in der Vergangenheit auf der Grundlage eines auf ʿAql / Vernunft basierenden Geistes begegneten, so muss es genauso möglich sein, diese Tradition und ihren Geist als Bezugsrahmen für den notwendigen Dialog in unserem Zeitalter und zu neuem Leben zu erwecken. 8

4

„Bejahung der säkularen Demokratie“, Interview, https://www.deutschlandfunk.de /bassam-tibi-ueber-den-euro-islam-bejahung-der-saekulaeren.886.de.htmldram:aricle_ _id=361560 (letzter Abruf: 16.05.2019).

5

Vgl. Tibi: Europa und seine Islamischen Enklaven, 51f.

6

Vgl. Tibi, Bassam: Der Euro-Islam als Brücke zwischen Islam und Europa, https:/ /www.perlentaucher.de/essay/der-euro-islam-als-brueckezwischen-islam-und-europa. html (letzter Abruf: 16.05.2019)

7

Vgl. bspw. Tibi: Europa und seine Islamischen Enklaven, 53f.

8

Tibi, Bassam: Europa ohne Identität, München 1998, 124.

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1.2 Tariq Ramadan Tariq Ramadan ist ein Schweizer Theologe ägyptischer Herkunft und bekannt als der zweite Vordenker eines „europäischen Islam“, der diesen Terminus zudem 1999 prägte. Er hebt das europäische Muslimsein hervor und erhebt Anspruch auf ein umfangreiches und kohärentes Konzept mit normativer Handlungsorientierung.9 Durch kontextbezogene Interpretation und eine Anbindung des Wissens an die Narrative der Vergangenheit versucht Ramadan eine islamische Reform voranzutreiben, welche die Tradition und die Moderne verbindet. Er fordert von den Muslimen, eine aktivere Rolle in Europa zu übernehmen. Ramadan ist der Ansicht, dass die positiven Beiträge der islamischen Zivilisation hervorgehoben werden sollten, statt ständig die Konfliktpunkte ins Zentrum der Debatte zu rücken. Im Zuge dessen verweist er anhand des maurischen Spanien auf die gemeinsame Geschichte, ob der sich Muslime in Europa heimisch fühlen können. Tatsächlich ist die Geschichte des Islam in Europa viel älter als die gegenwärtige Debatte, die Bereicherung des Westens10 durch den Islam geht bis ins Mittelalter zurück. Der Islam in Europa im heutigen Sinne existiert erst seit 1973 und erreichte seinen Höhepunkt mit der Fatwa gegen Salman Rushdie, ehe die Lage nach dem 11. September eskalierte, so der Historiker Gilles Kepel.11 Als Enkel des Gründers der Muslimbrüderschaft, Hasan al-Banna,12 und charismatischer Redner gilt Ramadan für viele junge Muslime als Vorbild. „Die meisten von uns Gefragten schätzen es sehr, dass seine Analysen die europäische Realität des Islam in Betracht ziehen“, so Göle in einer Studie. 13 Es ist jedoch umstritten, ob man in Ramadan einen liberalen Reformer oder einen missionierenden Konservativen sehen soll. Um dies zu beantworten, soll sein Euro-IslamKonzept einer genaueren Untersuchung unterzogen werden

9

Vgl. Ramadan, Tariq: Muslimsein in Europa. Eine Untersuchung der islamischen Quellen im europäischen Kontext, Marburg 2001.

10 Ausführlich dazu mit Beispielen vgl. Watt, W. Montgomery: Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin 1972. 11 Vgl. Kepel, Gilles: Der Islam Europas zwischen Integration und Kommunitarismus. In: Altermatt / Delgado / Vergauwen (Hg.): Der Islam in Europa, 23–40, 24ff. 12 Der Gründer der Muslimbrüder Hasan al-Banna ist der Großvater mütterlicherseits von Tariq Ramadan. 13 Göle, Nilüfer: Europäischer Islam: Muslime im Alltag, übers. v. Galli, Bertold, Berlin 2016, 60.

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2. EURO-ISLAM ZWISCHEN ANSPRUCH UND WAHRNEHMUNG Im Euro-Islam-Diskurs fällt – trotz aller Vielfalt – schnell auf, welche Themen oft damit verbunden werden. Der Schleier, Intoleranz und Terrorismus, Frauendiskriminierung, Bilderverbot, antidemokratische Einstellung und Desintegration werden häufig als Gründe dafür herangezogen, warum man den Euro-Islam braucht. Ursula Spuler-Stegemann (2010) beispielsweise assoziiert den EuroIslam mit „Problemen wie Apostasie, Gleichberechtigung der Frau, Homosexualität und gesellschaftlicher Partizipation“.14 Der somalisch-niederländischen Feministin und Euro-Islam-Befürworterin Ayaan Hirsi Ali wird auch vorgeworfen, dass sie „Teil jenes dominanten ,rechten‘ Diskurses über den Islam in den Niederlanden geworden [ist], der islamische Migranten als das Problem und als Feinde der Nation begreift“.15 Damit knüpft der Diskurs unbewusst an das Bild vom Islam in den Schriften italienischer Autoren des 15. Jahrhunderts an, als Europa als eine Einheit in scharfem Gegensatz zur islamischen Welt dargestellt wurde,16 und sorgt dafür, dass „[…] das Stichwort ,Euro-Islam‘ bei einer Mehrheit unter den Muslimen irritierte Assoziationen herauf[beschwört]“17 und zur Bildung eines gegnerischen Lagers führt. Für einen Euro-Islam sprechen sich nichtsdestoweniger Islamexperten sowie muslimische Theologen und Akteure aus. So ist Erdal Toprakyaran, muslimischer Theologe und Historiker, der Meinung, dass der Euro-Islam eine Zukunftsvision repräsentiert und mehr leisten kann als nur passiv die „universale

14 Ursula Spuler-Stegemann ist eine deutsche Turkologin, Autorin und Professorin mit dem Schwerpunkt Islam in der Gegenwart. Zit. n. Ertugrul: Europäischer Islam, 7. Ausführlich dazu siehe ihre Antwort auf die Frage „Brauchen wir einen Euro-Islam und wenn ja, was ist das?“, die im Fragenkatalog für die öffentliche Anhörung im Bundestag gestellt worden war. 15 Ghorash, Halleh: https://www.perlentaucher.de/essay/es-ist-ein-grosser-fehler-diedissidenten-innerhalb-des-islams-zu-ignorieren.html (letzter Abruf: 27.05.2019). 16 Vgl. Konrad, Felix: Von der ,Türkengefahr‘ zu Exotismus und Orientalismus. Der Islam als Antithese Europas (1453–1914). Konrad gelingt es, in diesem Beitrag den Diskurs der Überlegenheit in der Islam-Europa-Beziehung anschaulich zu machen: http://ieg-ego.eu/de/threads/modelle-und-stereotypen/tuerkengefahr-exotismus-orienta lismus/felix-konrad-von-der-tuerkengefahr-zu-exotismus-und-orientalismus-1453-19 14 (letzter Abruf: 15.05.2019). 17 Steinbach, Udo: Euro-Islam? https://www.nzz.ch/articlecmtqu-1.126072 (letzter Abruf: 15.05.2019).

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Aufklärung“ zu rezipieren.18 Die Gründung von Zentren für Islamische Theologie in Deutschland müsse dazu beitragen, dass auf deutschem Boden ein Islam gelebt und kultiviert werde, „der freiheitlich, streitbar, kritikfähig, mutig, idealistisch und visionär ist“.19 Der Islamwissenschaftler Halm betrachtet den EuroIslam als eines von vier möglichen Szenarien einer künftigen (Des-)Integration des Islam in Deutschland.20 Der Islamwissenschaftler Abou-Taam spricht sich ebenfalls für einen Euro-Islam aus. Ihm zufolge muss jedoch die Transformation „innerhalb des Islam stattfinden und europäische Werte enthalten, die islamisch begründet sind“.21 Mit diesem letzten Satz nimmt er den Gegnern vorab die Möglichkeit, den Euro-Islam als politisches Produkt zu verteufeln. Auch der heutige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Deutschlands, Aiman Mazyek, zeigt sich demgegenüber positiv eingestellt. Ihm zufolge kann das Konzept der Umma (Glaubensgemeinschaft) für einen Muslim das Verständnis für die Konzeption eines Bürgers in der Moderne vermitteln. 22 Mazyek definiert leider nicht, was er unter Umma versteht, obwohl dieser Begriff gerade in den aktuellen Konflikten, auch innerislamisch, oft zur Ab- und Ausgrenzung herangezogen wird. Ungeachtet dessen ist ein Misstrauen gegen das Konzept des Euro-Islam unter Muslimen durchaus präsent. So erwiderte einer der Mitdiskutanten auf meine Frage nach dem Grund für die Zurückhaltung gegenüber dem Euro-Islam wört18 Vgl. Toprakyaran, Erdal: Der deutsche Islam als Objekt und Subjekt der universalen Aufklärung. In: Hasselfeldt, Gerda u.a. (Hg.): Islam und Staat, Berlin 2017, 33–42, 33. 19 Toprakyaran: Der deutsche Islam als Objekt und Subjekt, 39. Ähnlich sieht es auch der österreichische Theologe und Religionspädagoge Sejdini. Vgl. Sejdini, Zekirija: Der Islam als Teil der europäischen Gesellschaft. In: Österreichischer Integrationsfonds (Hg.): Islam als Teil der Gemeinde. Islam in Österreich, Moscheebau & Dialog, Wien 2015, 9–30. 20 Diese vier sind der ‚Kampf der Kulturen‘, die Etablierung eines ‚Euro-Islam‘, die Entstehung von ‚Parallelgesellschaften‘ sowie der gesellschaftliche Bedeutungsverlust von Religion; vgl. Halm, Dirk: Der Islam als Diskursfeld: Bilder des Islams in Deutschland, Wiesbaden 2008, 115ff. 21 Abou-Taam, Marwan: Euro-Islam – Idee oder Ideal? In: Ders. / Esser, Jost / Foroutan, Naika (Hg.): Zwischen Konfrontation und Dialog. Der Islam als politische Größe. Wiesbaden 2010, 115–128, 124. 22 Mazyek, Aiman: Aufklärung, Leitkultur, Integration und der muslimische citoyen. In: Hasselfeldt, Gerda u.a. (Hg.): Islam und Staat, 75–86, 78. Zum Umma-Konzept vgl. Abdallah, Mahmoud: Gemeinschaft im Koran zwischen dogmatischer Homogenität und kultureller Vielfalt. In: Theologische Quartalschrift Tübingen 197 (2/2017), 155– 181.

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lich Folgendes: „Man möchte einen Islam haben, der weder Hand noch Fuß hat, den man, wie man möchte, rasieren und schminken kann.“ Die zurückweisende Haltung unter den Muslimen (auch Nicht-Muslime zeigen sich gegenüber dem Euro-Islam skeptisch) lässt sich unterschiedlich begründen: Zum einen vermittelt das Spektrum an Themen, die für gewöhnlich mit dem Euro-Islam in Zusammenhang gebracht werden, dass der Euro-Islam die Antwort auf den Islamismus und eine antidemokratische Einstellung sei. Zum anderen sorgt das politische Beharren auf ihm dafür, dass der Euro-Islam als verlängerter Arm der Politik in der Theologie wahrgenommen wird. So meinte die Politikwissenschaftlerin Sabine Riedel, dass die Debatte lediglich dazu diene, „Einfluss auf das Identitätsbewusstsein der Muslime in Europa zu gewinnen und sich so eine Interpretationshoheit über den Islam zu sichern“. 23 Zudem wird der Begriff fast ausschließlich mit Islamkritikern verbunden, die keine Theologen oder keine Muslime sind. Dementsprechend warnte 2007 der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash, dass es ein großer Fehler sei, diejenigen innerhalb des Islam zu ignorieren, die zwecks einer Islamreform behaupten, der Islam sei mit der Moderne nicht vereinbar, denn diese bedienten sich des gleichen Diskurses wie die Radikalen.24 Diese Zurückhaltung ist allerdings nicht als eine Geste gegen den Euro-Islam an sich zu verstehen, sondern eher als ein Protest gegen seine politische Instrumentalisierung. Die Forderungen nach Reform, nach Neu- und Re-Interpretation kommen nicht einzig von außerhalb, auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft werden sie immer lauter. Zudem hält der Euro-Islam bereits seit Jahren in Deutschland Einzug, nicht zuletzt in Form der Etablierung von Disziplinen wie der Islamischen Theologie und der Islamischen Seelsorge in den universitären Kontext oder des Islamischen Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen für muslimische Kinder, die „nunmehr in der zweiten oder bereits dritten Generation eine neue Kultur- und Religionsausprägung als ‚Euro-Islam‘ verkörpern und selbst mit und neu definieren“.25 Für eine zukünftige Vision des Islam in Europa ist es demzufolge sehr wichtig, (1) die Debatte zu entpersonalisieren und (2) sachlich zu führen. Daran an23 Riedel, Sabine: Zwischen „Euro-Islam“ und Islamophobie. In: Internationale Politik, 9, Ausgabe: Islam in Europa, September 2007, 36–45, 39. 24 Vgl. Ash, Timothy Garton: Es ist ein großer Fehler, die Dissidenten innerhalb des Islams zu ignorieren, https://www.perlentaucher.de/essay/es-ist-ein-grosser-fehler-diedissidenten-innerhalb-des-islams-zu-ignorieren.html (letzter Abruf: 27.05.2109). 25 Leggewie, Claus: Auf dem Weg zum Euro-Islam? Moscheen und Muslime in der Bundesrepublik Deutschland. In: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.), Bad Homburg v.d. Hohe 2002.

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schließend (3) ist die Frage nach den Akteuren zu klären. 26 Zudem müssen (4) die Themenbereiche, die mit dem Euro-Islam verbunden sind, neugedacht werden. Es soll klargestellt werden, dass es beim Euro-Islam nicht um eine (politische) Reaktion auf die Angst vor einer Islamisierung Europas geht, sondern um eine theologisch fundierte Reaktion auf den neuen Kontext und seine Herausforderungen an die Muslime in Europa.

3. EURO-ISLAM: VON DER SICHTBAREN MINDERHEIT ZU AKTIVEN BÜRGERINNEN UND BÜRGERN Ein Euro-Islam sollte die Religion nicht als ein Hindernis für Partizipation begreifen, vielmehr soll er über die Religion Vertrauen in Staat und Politik zurückgewinnen. Die Auseinandersetzung mit den beiden vorgestellten Positionen zeigt, dass beide Vordenker des Euro-Islam sich trotz unterschiedlicher Visionen aktive Bürger muslimischen Glaubens wünschen. Diese Partizipation setzt voraus, dass Muslime ihre binäre Weltsicht (wir – die Anderen) überdenken. Dabei kann die Islamische Theologie eine entscheidende Rolle spielen, indem sie die Herausforderungen und Fragestellungen des europäischen Kontextes reflektiert und darauf Antworten gibt. Dafür werden europäische Muslime benötigt, die den europäischen Kontext kennen, und nicht Gelehrte aus Fern-/Nah-Ost oder den USA, die den Muslimen in Europa den Islam erklären. 27 Der Euro-Islam steht jedoch – wie anfangs erwähnt – vor der Herausforderung, dass mit ihm Denkmuster assoziiert werden, die die Überlegenheit und Besserwertigkeit Europas bald implizit, bald gar explizit betonen, was Angstund Feindbildern, ergo einer Islamophobie, einen willkommenen Nährboden bereitet. Die Suche nach einem Ausweg ist dringend geboten. Im Rahmen dieser Suche möchte ich im Folgenden meine Vorstellung vom Euro-Islam, nämlich die Theologie des Zusammenlebens, präsentieren.

26 Vgl. Abdallah, Mahmoud: Wer kann und darf auslegen? Autorität und Legitimität von Auslegenden – Eine sunnitische Perspektive. In: Loccumer Protokolle 60/2017, 133– 154. Vgl. auch Steinbach: Euro-Islam? 27 In ihrer Studie zur Transnational Umma stellt Garbi Schmidt fest, dass Muslime in Dänemark mehrheitlich Theologen aus den USA einladen. Vgl. Schmidt, Garbi: The Transnational Umma – Myth or Reality? Examples from the Western Diasporas. In: The Muslim World 95 (4), November 2005, 575–586.

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4.

THEOLOGIE DES ZUSAMMENLEBENS

In den Formulierungen der Thesen zum Euro-Islam erkennt man eine deutliche Neigung zu einem pragmatischen Konzept. Erarbeitet ist es aus einer Perspektive, die eine enge Anbindung an die europäische Umgebung anstrebt, damit Muslime besser in die europäischen Gesellschaften integriert werden können. Eine Theologie des Zusammenlebens geht jedoch über einen solchen Pragmatismus hinaus und beruht auf der Vorstellung, dass in den Religionen prinzipiell die Grundlage für Menschenrechte, religiösen und kulturellen Pluralismus und somit für ein friedliches Zusammenleben und gegenseitiges Bereichern gegeben ist. Dabei sollen die gemeinsamen Glaubensgrundlagen aller Muslime, sowohl von Sunniten als auch von Schiiten, berücksichtigt werden, um zum einen größere Resonanz unter den Muslimen zu erzeugen und zum anderen Dialogfähigkeit auf intra- und interreligiöser Ebene zu gewährleisten. Mein Vorschlag einer Theologie des Zusammenlebens zielt nicht auf eine „entkonfessionalisierte“ Theologie ab, die religiöse Differenzen zu nivellieren sucht, sondern auf eine dezidiert Islamische Theologie, die in, aus und für Europa entsteht, sich jedoch als überregional versteht. 28 Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Ich beziehe mich zunächst auf das muslimische Leben in der pluralen Gesellschaft, greife im zweiten Schritt zwei wichtige Dimensionen Islamischer Theologie heraus und versuche im dritten Schritt, die Rolle des Individuums als Subjekt herauszuarbeiten und eine stichhaltige Perspektive für die Theologie des Zusammenlebens zu entwickeln. Die Fragen nach dem Menschen, nach seiner Freiheit und seiner Selbstbestimmung sollen im Licht der Frage nach seiner Verantwortung für sich und die Gemeinschaft beantwortet werden. Eine Theologie des Zusammenlebens betrachtet – anders als der Euro-Islam – die Geschichte der Interaktion zwischen Europa und „dem“ Islam nicht als Geschichte von Konflikten und Bedrohungen, von Polemik und Abgrenzungen, sondern als eine Geschichte der gemeinsamen Verantwortung und gegenseitigen Bereicherung, und verringert somit die religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Distanz zwischen Muslimen und Europa. In diesem Konzept werden Islam und Staat, Islam und andere Religionen nicht einander gegenübergestellt, sondern sie treten in Beziehung zueinander, um den Sinn und die Bedeutung des Pluralismus

28 Vgl. zum Folgenden: Abdallah, Mahmoud: Theologie des Zusammenlebens: Von der Glaubensorientierung zum interaktiven Miteinander? Islamische Perspektive. In: Hilberath, Bernd Jochen / Abdallah, Mahmoud (Hg.): „Theologie des Zusammenlebens“ – Christliche und muslimische Beiträge, Bd. 1 (Christen und Muslime beginnen einen Weg), Stuttgart 2017, 215–240, 215.

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zu stärken.29 Meine Einstellung basiert nicht auf der These von einer „Wiederkehr der Götter“30, denn Gott war aus meiner Sicht nie fern der Gesellschaft. 31 Ganz im Gegenteil geht es hier um die Suche nach einer bisher wenig beachteten Nähe zwischen den verschiedenen Gottesbotschaften. Eine Theologie des Zusammenlebens bringt neben dieser wichtigen Differenzierung auch weitere Facetten mit ins Spiel, deren eine die Hervorhebung der jeweiligen europäischen Sprachen ist, ohne die Integration und Zusammenleben schwer vorstellbar sind, eine weitere die Vermeidung einer regionalen Beschränkung auf Europa. Zudem setzt die Theologie des Zusammenlebens keine tendenzielle Abkoppelung der Muslime von den Strukturen und Lehrinhalten ihrer Religion voraus, womit ein für viele Muslime wichtiges, der Zurückweisung eines Euro-Islam zugrundeliegendes Motiv entfällt. Mit dem Fokus auf das Zusammenleben wird der Rahmen für ein weltoffenes, pluralistisches und friedliches Islambild geschaffen, die Phalanx aus „Islamisierung“ oder „Europäisierung“ als einzig gangbare Wege wird dadurch durchbrochen.32 Bei den Fragestellungen und Herausforderungen einer Theologie des Zusammenlebens mögen sich die Muslime Europas zwar von denen in der übrigen Welt unterscheiden und europaweit als Einheit – im Sinne von gemeinsamen kontextuell-bedingten Herausforderungen – erfassen lassen, doch die innereuro29 Die Darstellung des Islam als Antithese zu Europa erweckt das Gefühl der Konfrontation und sogar der Anfeindung bei vielen Rezipienten und behindert nicht zuletzt die Integration der Muslime in Europa. Vgl. Asad, Talal: Muslim and European Identity, Can Europe Represent Islam? In: Pagden, Anthony (Hg.): The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union, London 2002, 209–227. Abrufbar unter: http://www.urbanlab.org/articles/Articles%20S.%20Mayor/Asad,%20Talal.%20''Musl ims%20and%20European%20Identity''.pdf 30 Zur Debatte über Religion in der Moderne vgl. Graf, Friedrich: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. Zu der Rolle der Glaubensgemeinschaften in der Postmoderne vgl. Habermas, Jürgen: Der Riss der Sprachlosigkeit. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 240, 16. Okt. 2001. 31 Vgl. dazu mein Thesenpapier Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), http://www.bpb.de/veranstaltungen/ dokumentation/193975/ix-zukunftsforum-islam (Letzter Abruf: 06.07.2019). 32 Zur Perspektive von zwei konkurrierenden Optionen vgl. AlSayyad, Nezar / Castells, Manuel (Hg.): Muslim Europe or Euro-Islam: Politics, Culture, and Citizenship in the Age of Globalization, Berkeley 2002. Diese konkurrierende Option erreicht mittlerweile viele Bereiche im Alltag und in der Forschung. 2006 wurde in Tübingen eine Dissertation zum Thema „Islamisierung der Soziologie oder Sozialisierung des Islam“ von Kerim Edipoğlu verteidigt.

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päische Konvergenz und regionale Divergenz, also die Berücksichtigung historischer oder kultureller Differenzen, machen das Zusammenleben aus und sind für die Weiterentwicklung einer Theologie des Zusammenlebens ausschlaggebend. Steinbach prophezeit: Das Thema „Euro-Islam“ wird seine Konjunktur in dem Masse [sic] verlieren, in dem Muslime ihre Lebensweise in Europa im Sinne der Integration organisieren. Nach Lage der Dinge aber wird dies nicht eine „europäische“ Lebensweise sein. Vielmehr werden Muslime in jedem europäischen Land ihre Lebensweisen gemäss [sic] den jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Traditionen sowie gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gestalten. Wie gross [sic] die Unterschiede dabei sind, lässt sich schon an zwei Nachbarländern wie Deutschland und Österreich ablesen. 33

Eine Theologie des Zusammenlebens ist darüber hinaus in der Hinsicht vorteilhaft, dass sie Muslimen ins Bewusstsein ruft, dass sie in einer pluralen Gesellschaft leben, dass sie sich mit deren Herausforderungen auseinanderzusetzen und ihnen bei neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen haben. In meinem Gründungsartikel habe ich gezeigt, dass ein konstruktives Konzept einer Theologie des Zusammenlebens mindestens vier große Bereiche einschließen soll, die eng miteinander verknüpft sind. Dabei baut einer auf dem anderen auf. 34 Diese Bereiche möchte ich im Folgenden vorstellen. 4.1 Der dogmatische Bereich Eine Theologie des Zusammenlebens hat ohne ein Konzept für das Zusammenleben auf dogmatischer Ebene keine Zukunftsperspektive. Das heißt, dass die Basis für das Zusammenleben (ob mit anderen Religionen oder mit NichtGläubigen) aus der Theologie hergeleitet werden muss. Das gilt mit Blick auf die einzelnen Subjekte, die Personalisierung und Individualisierung des Glaubensvollzugs einerseits und mit Blick auf die veränderten Rahmenbedingungen pluralistischer Gesellschaften andererseits. Tibi selbst beschreibt den Zivilisationskonflikt, für den der Euro-Islam die Lösung sein soll, universalistisch: „Der unterstellte Krieg der Zivilisationen ist ein Krieg miteinander in Konflikt liegender Weltsichten, die entweder Universalität für sich selbst beanspruchen oder aber

33 Steinbach: Euro-Islam? 34 Vgl. Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, 221f.

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den ihnen auferlegten Universalitätsanspruch anderer bestreiten.“35 Muslime müssen erkennen können, dass die freiheitlich-liberale Grundordnung Europas religiöse Entfaltungsoptionen bietet. Ähnlich spricht Muhanad Khorchide von einer islamischen Grundidentität, die durch europäische Werte angereichert werden kann.36 Dies macht eine Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis und der Selbstpositionierung der Glaubensgemeinschaft nach innen (Verhältnis zu eigenen Mitgliedern) wie nach außen (Verhältnis zu anderen Glaubensgemeinschaften und zur Gesamtgesellschaft) erforderlich. Das neue Umma-Verständnis soll einen Raum für Dissens beinhalten. Und dieser darf nicht nur auf dem Gedanken der Toleranz basieren, sondern auf dem koranischen Prinzip der Glaubensfreiheit, denn Toleranz ist auf Dauer schwach und unbeständig.37 „Toleranz ist trügerisch […] denn sie impliziert ein Machtverhältnis zwischen den Tolerierenden und den Tolerierten“, schreibt Abou-Taam.38 Eine Theologie des Zusammenlebens kann also „nichts anderes sein als ein Islam im Verständnis Goethes, das heißt ein Islam, im welchem die Werte der Toleranz, wie Goethe sie einst in den Lehren des Propheten Mohammed erkannt hat, wieder an oberster Stelle stehen“.39 Diese Toleranz, ja dieses Recht, anders zu glauben und zu sein, wird in Sure 2, Vers 256 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: „Kein Zwang im Glauben“. Dieser Vers – so meine These40– bietet eine Hauptgrundlage für eine Theologie des Zusammenlebens und verdient mehr Beachtung in der Islamischen Theologie. Er lässt sich sowohl intrareligiös als auch interreligiös interpretieren. Im innerislamischen Rahmen untersagt der Vers einem Muslim, einen anderen Muslim zur Glaubenspraxis zu zwingen. Dementsprechend muss die soziale Kontrolle durch die Umma in einer pluralen Gesellschaft neu gedacht werden.41 Der Zwang zum Kopftuch oder zum Fasten 35 Tibi, Bassam: Internationale Moralität und kulturübergreifender Brückenschlag. In: Roman, Herzog (Hg.): Wider den Kampf der Kulturen. Eine Friedensstrategie für das 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000, 139–168, 155. 36 Vgl. Khorchide, Muhanad: Islam europäischer Prägung, in: Österreichischer Integrationsfonds (Hg.): Perspektiven Integration, 2/2017, 49. 37 Ich nenne es „das Humanisierungspotenzial“ im Menschenbild; vgl. dazu meinen Beitrag: „Bei den Menschen sein“: Islamische Seelsorge und soziale Arbeit – Neudenken des Menschenbildes im Islam. In: Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagogik (JIThR), Jahrgang 5/2016 (Was ist der Mensch?), 147–176. 38 Abou-Taam: Euro-Islam – Idee oder Ideal?, 128. 39 Peter Anton von Arnim in seinem Nachwort zu Mommsens Werk Goethe und der Islam; Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Frankfurt a.M. 2001, 446. 40 Vgl. Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, 221 f. 41 Vgl. Abdallah, Mahmoud: Soziale Kontrolle durch religiöse Gemeinschaften – Eine

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beispielsweise ist ein gesellschaftlich-kultureller und nicht ein religiöser. Muslime stammen aus Gesellschaften, in denen darauf geachtet wird, wer in die Moschee geht und wer nicht, wer das Kopftuch trägt und wer nicht. Beim Aushandeln der Grenzen religiöser Praxis in der Öffentlichkeit muss der neuen Realität Rechnung getragen werden. Interreligiös besehen soll der Vers unterbinden, dass ein Muslim einem Andersgläubigen den Islam aufzwingt, denn, so führt der Koran an einer weiteren Stelle aus: „Und wenn dein Herr wollte, hätte Er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie bleiben doch uneinig.“ (11/118)42 Das Zusammenleben von Muslimen mit Andersgläubigen ist weder ein frommer Wunsch noch eine zeitbedingte Praxis. Neben den bekannten Beispielen aus Andalusien schreibt Markus Koller Folgendes über das Leben in Südosteuropa zur Zeit der osmanischen Herrschaft: Das religiöse Leben Südosteuropas prägten interreligiöse synkretistische Erscheinungsformen, wenn Muslime und Christen beispielsweise die gleichen Wallfahrtsorte aufsuchten, Muslime ihre Kinder taufen ließen oder Christen den Imam um Gebete für ihren Nachwuchs ersuchten.43

In jüngerer Zeit versuchte der ehemalige ägyptische Präsident Anwar as-Sadat ein ähnliches Modell auf der Halbinsel Sinai ins Leben zu rufen. Er war sich der Tatsache bewusst, dass Juden, Christen und Muslime ihren Glauben aus den gleichen Wurzeln empfangen haben und dass sie an den einen Gott glauben. Deshalb war er bestrebt, auf Sinai eine Art religiösen Campus, bestehend aus einer Moschee, einer Kirche und einer Synagoge, zu gründen. Sure 2/256 wirkt der verbreiteten Praxis entgegen, die Menschheit in Gläubige und Ungläubige, Erlöste und Verdammte, Gerettete und Verlorene zu klassifizieren und daraus die Konsequenz zu ziehen, anderen etwas aufzuzwingen (vgl. auch 2/62 und 22/17). Wird hier weitergedacht, kann aus denjenigen Passagen im Koran, die Glaubensfreiheit – im Sinne Tibis, aber auch des Grundgesetislamische Perspektive. In: Ströble, Christian u.a. (Hg.): Welche Macht hat Religion? Fragen an Christentum und Islam, Regensburg 2019, 177–201. 42 Vgl. Abdallah, Mahmoud: Gewissens- und Glaubensfreiheit im Islam: altes Thema – neue Debatte. In: Cibedo-Beiträge zum Gespräch zw. Christen und Muslimen, (1/2015), 24–34. 43 Koller, Markus: Die osmanische Geschichte Südosteuropas, 36, online abrufbar unter:http://ieg-ego.eu/de/threads/modelle-und-stereotypen/tuerkengefahr-exotismusorientalismus/markus-koller-die-osmanische-geschichte-suedosteuropas (letzter Abruf: 29.05.2109).

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zes – proklamieren, eine Theologie mit einer eindeutigen Positionierung in Richtung Pluralität und Koexistenz der Religionen begründet werden. Diese Positionierung umreißt Helmut Schmidt derart: [S]ie sollen begreifen, dass die Menschen, die einer anderen Religion anhängen, ähnlich gläubig sind wie sie selbst, sie sind Gott so nah oder so fern wie sie selbst: Auch wenn ihre Gebete, ihre Traditionen, Gebräuche und Sitten, sich von den unsrigen noch so stark unterscheiden, haben sie Anspruch auf den gleichen Respekt, den wir für uns selber wünschen.44

4.2 Der relationale Bereich Der bekannte tunesische Intellektuelle und Schriftsteller Abdelwahab Meddeb äußert sich in einem Interview zu seinem 2003 erschienenen Buch Contreprêches45 wie folgt: Mir scheint, bezüglich des Multikulturalismus müssten wir vorsichtig sein. Natürlich ist es sehr wichtig, dass wir uns in Europa mit anderen Kulturen und deren Werten auseinandersetzen. Doch der Multikulturalismus ist kein Ort, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Es darf nicht sein, dass die grundlegenden Werte verschwinden. 46

Es wird also für einen Islam in Europa, gerade beim Aushandeln einer Theologie des Zusammenlebens, darauf ankommen, die Möglichkeiten und Grenzen islamischer Praxis zu diskutieren. Es ist gewiss nicht möglich, an dieser Stelle die Bedeutung der relationalen Ebene hinreichend zu erläutern. In meinem Gründungsbeitrag habe ich anhand einer Geschichte aus der Zeit des Propheten Muḥammad dargestellt, „dass, auch wenn sich die Religionen in Fragen des Glaubens stark unterscheiden mögen, sie in Fragen des praktischen, ethischen Verhaltens ähnliche Antworten geben“. 47 Aus dieser Geschichte geht unmissverständlich hervor, dass die persönliche Erfahrung mit den Menschen entscheidend ist. Auf die persönliche Erfahrung verweist auch der Koran vielfach. Sure 49/13 deklariert die zwischenmenschliche 44 Schmidt, Helmut: Vorwort, in: Sadat, Jehan: Meine Hoffnung auf Frieden, Hamburg 2009, 13. 45 Die deutsche Übersetzung von Rainer G. Schmidt erschien 2007 in Heidelberg unter dem Titel „Zwischen Europa und Islam – 115 Gegenpredigten“. 46 https://de.qantara.de/inhalt/interview-mit-abdelwahab-meddeb-auf-der-suche-nachder-griechischen-dimension-des-islam (letzter Abruf: 07.06.2019). 47 Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, 225.

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Beziehung als eine Ursache und einen Zweck der Schöpfung. Sure 60/8 korrigiert sogar das falsche Verständnis einiger der Gläubigen, dass die Verschiedenheit der Glaubensüberzeugung als Grund dafür dienen könne, es anderen Menschen gegenüber an Güte und Gerechtigkeit mangeln zu lassen. Der Grund für die Offenbarung dieses Verses ist die Weigerung einer der Frauen des Propheten, ihre Mutter in ihr Haus einzulassen, mit der Begründung, dass diese eine Nichtmuslima war.48 60/8 spricht wörtlich von birr, „an tabarrūhum“, einem Begriff, der oftmals im Zusammenhang mit den Eltern fällt und der sich als erweiterte Grundlage für eine islamische Ethik und Seelsorge anbietet. In dem Vers wird anschaulich gezeigt, dass das besondere Vertrauen des Glaubens und das allgemeinmenschliche Vertrauen in einem engen wechselseitigen Verhältnis stehen. Existierende religiöse Normen und ethische Werte stellen die Liebe zum Universum dar, um mit Sadat zu sprechen: Meine Liebe zum Universum entstammte meiner Liebe zu Gott. Da der Schöpfer mein Freund war, so konnte ich doch nicht wohl Angst vor den Menschen haben. […] Alle Kreaturen wurden meine Freunde, denn alle sind von Gott geschaffen worden: Der Baum, der gewachsen war, weil Gott ihm befohlen hatte, der Samen, den Gott durch seinen Willen hat wachsen lassen, der in Wirklichkeit seine Liebe ist; die Blumen, die Berge, die Früchte, die Wurzeln, die Zweige, Menschen aller Farben und Arten. Alles Bestehende ist ein Gegenstand der Liebe, denn so wie ich ist alles erschaffen worden und besteht durch Gottes Liebe für die Kreatur und durch die Liebe der Kreatur zu Gott.49

Diese zwei Ebenen, die persönliche und die gesellschaftliche, sind das Kerngeschäft einer Theologie des Zusammenlebens auf der relationalen Ebene. Es geht darum, menschliche Werte zu stärken und Vertrauen aufzubauen. Vertrauen ist nicht nur nötig und wichtig, sondern es spiegelt uns wider, unser Inneres und unsere Willenskraft; es „ist ein Ausdruck von innerer Stärke“. 50 Diese Werte müs-

48 Ausführlich vgl. Ibn ʿĀšūr, Muḥammad aṭ-Ṭāhir, at-Taḥrīr wa t-tanwīr, Tunis 1984, Bd. 28, 152f. 49 As-Sadat, Anwar: Autobiographie, 95, zit. n. Kuschel, Karl-Josef: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“. Helmut Schmidt begegnet Anwar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil, Stuttgart 2018, 71f. 50 Waigel, Theo: Vertrauen als Grundvoraussetzung für Handeln in Wirtschaft und Politik. In: Kirschner, Martin / Pittrof, Thomas (Hg.): Vertrauen, St. Ottilien 2018, 37–48, 37.

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sen gelebt werden, denn wenn dies nicht geschieht, bleiben sie leere Parolen, so Muhanad Khorchide.51 In seinem 1996 erschienenen Werk Weggefährten schildert Helmut Schmidt, was Vertrauen ist und wohin eine positive relationale Beziehung zu einem Menschen – in diesem konkreten Fall zu Anwar as-Sadat – führen kann: „Unsere nächtliche Unterhaltung auf dem Nil gehört zu den glücklichsten Erinnerungen meines politischen Lebens.“52 Der Einfluss Sadats auf Schmidt zeigt, wie wichtig die konkrete Begegnung – i.e. die relationale Ebene – für grundlegende Veränderungen im Leben und für ein richtiges Kennenlernen des Anderen ist. Interreligiöses Lernen ist „kein Luxus“, sondern die Vorstufe des Zusammenlebens. „Ich habe ihn geliebt“, schreibt Schmidt abschließend über as-Sadat. Auf der relationalen Ebene soll die Theologie des Zusammenlebens dementsprechend die zwischenmenschliche Begegnung in der Gesellschaft stärken, Misstrauen unter den Mitbürgerinnen und Mitbürgern abbauen und sich mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn das Bild des Islam, welches in der Öffentlichkeit vorherrscht und meist einen Konflikt zwischen Osten und Westen propagiert, sich ändert, sodass Europa den Islam nicht mehr als fremden Körper in seinem Kulturraum betrachtet, sondern als Teil seiner pluralen Gesellschaft. Das Zusammenleben auf relationaler Ebene soll die Tatsache ans Licht bringen, dass – um mit Henri-Pirenne zu sprechen – „Europa als Abendland und der Islam als Zivilisation historisch gemeinsam entstanden und […] eine Herausforderung füreinander [sind]“, nicht jedoch Feinde.53 4.3 Der wirtschaftliche Bereich Sure 2/177 versteht finanzielle Zuwendungen an bestimmte Personengruppen als ein Zeichen des richtigen Glaubens: „daß man, trotz Liebe zu Ihm, den Verwandten, den Waisen, den Bedürftigen, dem Reisenden und den Bettlern Geld zukommen läßt“. Die Orient-Okzident-Beziehung litt nicht selten an Epochen der Ausbeutung und wirtschaftlicher Abhängigkeit, nicht zuletzt in der Kolonialzeit. Zudem sind wirtschaftliche Beziehungen immer eine Herausforderung im zwischenmenschlichen Bereich. Eine Theologie des Zusammenlebens im Zusammenhang mit der Wirtschaft muss sich dieser Herausforderung stellen. Muslime in Europa sind zerrissen zwischen ihren muslimischen Herkunftsländern 51 Vgl. Khorchide, Muhanad: Islam europäischer Prägung, in: Österreichischer Integrationsfonds (Hg.): Perspektiven Integration, 2/2017, 4–9. 52 Schmidt: Weggefährten, 344. 53 Zit. n. Tibi: Der Euro-Islam als Brücke, 2.

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und ihren europäischen Heimatländern, wenn es um Spendenaktionen geht. Oft bekommt man als Theologe die Frage gestellt, wohin man z.B. seine Almosen geben kann/darf: nach Europa oder ins Herkunftsland. Solche Fragen erwecken den Eindruck, dass man sich zumindest nicht ausschließlich als Teil dieser Gesellschaft fühlt. Durch das wirtschaftliche Engagement werden nicht nur Brücken gebaut, sondern es wird auch Vertrauen gewonnen. Theo Waigel, der als Finanzmister der Bundesrepublik die finanziellen Bedingungen des Abzugs sowjetischer Truppen aus der DDR verhandelt hat, zeigt in einem Beitrag über Vertrauen in Wirtschaft und Politik auf, wie sehr die Politik von einer Vertrauensbasis abhängt und diese pflegen muss. 54 Dieses Vertrauen kann man nicht verlangen, sondern es realisiert sich, wie Martin Kirschner schreibt, „indem es vollzogen wird und gewinnt darin seine eigene Evidenz (Gewissheit), ohne dass es in der Beobachtungsperspektive vergewissert, bewiesen oder zureichend begründet werden kann“.55 Die Frage nach dem Herkunftsland darf nicht als Misstrauen in das jeweilige europäische Heimatland gewertet werden, sondern erklärt sich dadurch, dass dort das Geld mehr gebraucht wird. In meinem Gründungsbeitrag habe ich erklärt, dass es im Rahmen einer Theologie des Zusammenlebens nicht um die Frage geht, welche Handlungen oder Handlungsaspekte als Vertrauensausdruck gewertet werden können, auch nicht um die Frage nach Entstehung und Festigung des Vertrauens unter den Anhängern der verschiedenen Religionen. Es geht um die Frage, ob die grundlegende Voraussetzung für die Ausbildung von Vertrauensbeziehungen unter den Menschen von den Religionen gegeben ist.56

Eine Theologie des Zusammenlebens in der pluralen Gesellschaft muss im wirtschaftlichen Bereich eine weitere Herausforderung meistern. Die Religiosität darf keine Voraussetzung, aber auch kein Hindernis für die Bekleidung einer 54 Vgl. Waigel: Vertrauen als Grundvoraussetzung für Handeln in Wirtschaft und Politik, 37–48. 55 Kirschner, Martin: Vertrauen – ein Ausnahmezustand? In: Kirschner / Pittrof (Hg.): Vertrauen, 11–34, 29. Ähnlich dazu appelliert eine prophetische Überlieferung in Ṣaḥīḥ al-Buḫārī; vgl. al-Buḫārī, Muhammad b. Ismāʿīl, Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Kairo 2000, Nr. 2076. Nach Luhmann setzt die menschliche Kommunikation sogar Kritik, abweichendes Verhalten und initiatives Vertrauen voraus. Dementsprechend ist Vielfalt und das Recht darauf, anders zu sein, ebenso als Zeichen des Vertrauens wahrzunehmen. Luhmann, Niklas: Vertrauen, Stuttgart 2000, 52f. 56 Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, 227.

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(Führungs-)Position sein.57 Die eingangs angeführte Geschichte hat anschaulich gemacht, wie Muslime ihre zurückhaltende Beteiligung an der Europawahl mit der Angst um ihre Religion zu begründen versuchten. Wenn wir dieser Vorstellung nicht entgegenwirken, werden wir ein System haben, das für die Fundamentalisten auf beiden Seiten förderlich ist. Die Debatte über ein Kopftuchverbot und deren Missbrauch seitens der Radikalen machen diese Herausforderung anschaulich. Zudem dürfen die muslimischen Einwanderer nicht als Konkurrenten im Wettbewerb auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt gesehen werden, die aus irgendwelchen Gründen ein geringeres Anrecht oder einen geringeren Anspruch auf Arbeit und Zuhause hätten, wie dies heute die Rechtsradikalen oder die AfD tun. Diese Sachlage wird aufgrund einer zukünftig verschärften wirtschaftlichen Situation „zur Ablehnung und zur sozialen Unzufriedenheit [führen]. Auf der anderen Seite sehen die Minderheiten jedoch die Potenziale, die sie nie erreichen werden. Somit haben wir alle Zutaten für eine zunehmende Radikalisierung“, warnt Abou-Taam.58 Eine Theologie des Zusammenlebens kann einen Beitrag dazu leisten, diese Situation zu entschärfen bzw. zu verhindern, indem sie durch das Schaffen von Vertrauen auf der relationalen Ebene zu besseren Job-Chancen für Muslime führen kann. Dies trägt dazu bei, dass Muslime am wirtschaftlichen Geschehen in der Gesellschaft, in der sie leben, partizipieren, und verringert den Abstand zur Mehrheitsgesellschaft auf wirtschaftlicher Ebene. 4.4 Der politische Bereich In den obigen Ausführungen habe ich mich immer wieder auf den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat und den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt bezogen. Diese beiden großen Politiker des 20. Jahrhunderts haben eine enge Freundschaft gepflegt, in der die Religion den Anstoß und die Triebkraft darstellte.59 Die Beziehung zwischen den beiden Staatsmännern stellt einen Idealfall einer Theologie des Zusammenlebens auf politischer Ebene dar. Der ägyptische Präsident as-Sadat war von seiner Religion her überzeugt, dass er mit Israel einen Friedensvertrag schließen und somit Jahrzehnte der politischen, religiösen und wirtschaftlichen Anfeindungen beenden könne, weil „wir alle Kinder Abrahams sind“. Dies wusste Helmut Schmidt 57 Vgl. al-ʿAwwa, Muḥammad Salīm: Fī an-Niẓām as-syāsīy li ad-daūla al-islāmīya, Kairo 2012, 249ff. 58 Abou-Taam: Euro-Islam – Idee oder Ideal?, 120. 59 Ausführlich zu der Geschichte vgl. Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind…“, besonders Kapitel 4 und 5. Das Buch erscheint ebenfalls in arabischer Sprache, übers. vom Autor dieses Beitrages, Kairo 2020 (im Druck).

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nicht, und er fing nach einem intensiven Gespräch mit seinem ägyptischen Kollegen über die Religionen an, sich für Religion, für Weltethos und für den Islam zu interessieren: „Viele Jahrzehnte später hat die Begegnung mit dem Ägypter Anwar as-Sadat mich dazu geführt, dass ich mich näher und inhaltlich mit Religion befasst habe. Allerdings nicht nur der meinigen, sondern mit allen drei abrahamischen Religionen zugleich.“60 As-Sadats Überzeugung von einer religionsmotivierten Friedenspolitik hat ebenso den amerikanischen Amtskollegen Jimmy Carter inspiriert. Diesen Einfluss verrät schon der Titel des Buches, in dem er seine politischen Erfahrungen mit dem Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel beschreibt: The Blood of Abraham. Carter schließt sein Buch mit einer Anspielung auf die Brudermordgeschichte von Kain und Abel in der Bibel (Gen 4,9–11), die auch im Koran ihre Entsprechung hat (Sure 5/27–31). Sein abschließender Kommentar dazu lautet: Das Blut Abrahams, des von Gott bestimmten Vaters, fließt noch in den Adern von Arabern, Juden und Christen, und zu viel davon ist vergossen worden im Zugriff auf die Erbschaft des verehrten Patriarchen im Mittleren Osten. Das vergossene Blut im Heiligen Land schreit noch zu Gott – ein schmerzerfüllter Schrei nach Frieden. 61

Bei einer Theologie des Zusammenlebens auf politischer Ebene soll es um die Frage gehen, wie Religion auch politische Impulse geben kann. Hier ist keinesfalls eine Politisierung der Religion gemeint, da eine solche nur zum „Kampf der Kulturen“ beitragen kann. Im politischen Diskurs wird der Islam teilweise so interpretiert, dass es dabei vorrangig um die Schaffung eines „Islamischen Staates“ gehen soll, wofür Radikale in den Quellen krampfhaft nach Rechtfertigungen suchen. In meinem Gründungsbeitrag habe ich betont, dass eine Theologie des Zusammenlebens religiös motivierte Konflikte nicht marginalisieren darf.62 Mit dem Verweis auf Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe als dem Islam inhärente Werte spricht eine Theologie des Zusammenlebens gewalttätigen Menschen im Namen der Religion jegliche Rechtmäßigkeit in ihrem Handeln ab. „Es ist nicht Gott, der uns zu Konfrontationen oder brutalen Handlungen in seinem Namen auffordert. Solches Tun spiegelt die Schwächen und die Beschränktheit der Menschen wider“, schrieb die Ehefrau von as-Sadat.63

60 Schmidt, Helmut: Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2011, 175f. 61 Zit. n. Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“, 124. 62 Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, 232f. 63 Sadat, Jehan: Meine Hoffnung auf Frieden, 145.

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In einer Theologie des Zusammenlebens auf politischer Ebene spielt die Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Ein primäres Ziel ist die Entwicklung eines „Wir-Bewusstseins“, in dem jede Glaubensgemeinschaft sich selbst und die anderen als Teil eines großen Ganzen betrachtet, wie es im Vertrag von Medina zum Ausdruck gekommen war. Religionsvertretern kommt hier die große Verantwortung zu, den Menschen die gemeinsamen Wurzeln der monotheistischen Religionen vor Augen zu führen. Kuschel beklagt sich darüber, dass sie stattdessen oft genug „Keime zu gegenseitiger Feindschaft“ gesät hätten.64 Schmidt zieht eine ähnliche Bilanz: „[V]iele Rabbiner, Priester und Pastoren, Mullahs, Ayatollahs und Bischöfe verschweigen ihren Gläubigen diese gemeinsame Botschaft [, dass nämlich Koran, Bibel und Thora alle zum Frieden aufrufen]. Viele lehren die Gläubigen im Gegenteil, über andere Religionen abfällig und ablehnend zu denken.“65 Aber auch den Politikern kommt diese Verantwortung zu. Die Geschichte von Helmut Schmidt und Anwar as-Sadat ist inspirierend. Schmidt erzählt sie „niemals nostalgisch oder anekdotisch verklärend, sondern gezielt religionspolitisch“, wie Kuschel anmerkt. 66 As-Sadat war fest überzeugt, dass Religionen Frieden stiften und Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen zum Zusammenleben bringen können. Davon war Helmut Schmidt, der sich für Religion zunächst nicht interessierte, besonders berührt. Er schreibt dazu: „Besonders beeindruckt hat mich Sadats Darstellung, wonach alle drei monotheistischen Schriftreligionen ihre Offenbarung am Sinai erfahren hatten, dass wir alle Kinder Abrahams seien“.67 Die Geschichte Schmidts zeigt auch, dass man kein religiöser Mensch sein muss, um von Fragen des Vertrauens, Fragen des Zusammenlebens angesprochen zu werden. Als nicht-religiöser Mensch hat Helmut Schmidt für sich die Religion als zweite „Weltmacht“ entdeckt und war bemüht, sie „für eine globale Ethik nutzbar zu machen“. 68 Neben Bildung und Dialog soll eine Theologie des Zusammenlebens auf politischer Ebene Orte des Vertrauens, räumlich-gemeinsame „Pilgerorte“ ermöglichen, wo die Anhänger unterschiedlicher Weltanschauungen gemeinsam, aber jeder nach seiner Überzeugung, beten und meditieren können, wie Sadat dies einst vorhatte. Eine Formulierung von Helmut Schmidt fasst dies treffend zusammen: „Vertrauen auf 64 Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“, 17. 65 Schmidt: Vorwort, in: Sadat, Jehan: Meine Hoffnung auf Frieden, 13. 66 Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“, 15. 67 Schmidt, Helmut: „Islam“-Symposion der Zeit, 1993, zit. n. Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“, 7. 68 Karlauf, Thomas: Die späten Jahre des alten Kanzlers, München 2016, 266. Karlauf betont diese Entwicklung bei Helmut Schmidt, indem er einem Kapitel des Buches die Überschrift „Entdeckung einer Weltmacht“ gibt. Vgl. ebd., 250–279.

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den Herrn der Geschichte gibt uns auch den Mut, Ängste auszuhalten; diese Welt, so wie sie wirklich ist, als Heimat anzunehmen, und diese Welt, wo sie noch nicht Heimat ist oder wo sie ist nicht mehr ist, wieder zur Heimat zu machen“69, denn, so Schmidt weiter, „unsere moralischen Grundwerte liegen viel näher beieinander, als einige christliche Lehrer und Oberhirten, als viele Scharfmacher und Fundamentalisten auf allen Seiten glauben machen wollen“. 70

5. ABSCHLIESSENDE ÜBERLEGUNGEN UND AUSBLICK Der Begriff Euro-Islam wird häufig ohne genauere Definition verwendet. Er geht auf Tibi zurück, während der Begriff „europäischer Islam“ von Tarek Ramadan stammt. Tibi steht für eine Europäisierung des Islams, während Ramadan eine islamische Subkultur in Europa propagiert. Der Euro-Islam ist weder ein neuer Islam, noch einer, der Muslime in Europa von deren Glaubensgeschwistern außerhalb Europas abgrenzen soll, sondern er ist ein Resultat des Wechselverhältnisses des Islam mit dem europäischen Kontext, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen erste Ansätze auf dem Balkan längst existierten.71 Neue Konzepte der Islamischen Theologie wie Islamische Seelsorge, Religionspädagogik und selbst die Bezeichnung „Theologie“ sind Resultate der Beheimatung des Islam in Europa und stellen somit einige Bestandteile eines Euro-Islam dar. Um Misstrauen und Skepsis unter Muslimen zu zerstreuen, sollen Themen und Inhalte des Euro-Islam neu festgelegt werden und dessen Verfechter Theologen sein, die mit dem europäischen Kontext vertraut sind. Als Zukunftsversion des Euro-Islam betrachte ich eine Theologie des Zusammenlebens. Diese soll wechselseitige Spannungen zwischen Einzelnen, der Gemeinschaft und der Gesellschaft mindern, indem sie kritisch und konstruktiv religiöse Praktiken zum Gegenstand macht und Orientierungswissen zur Gestaltung des Zusammenlebens bereitstellt. Die Theologie des Zusammenlebens besitzt ein Humanisierungspotenzial, da sie die Denk- und Handlungsfreiheit des Menschen ins Zentrum rückt. Als zu-

69 Schmidt: Religion in der Verantwortung, 101. 70 Ebd., 138. 71 Zum Islam auf dem Balkan vgl. Telbizova-Sack, Jordanka: Die Balkan-Muslime und Europa,

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Euro-Islam: Der (Un-)Sinn eines Begriffs | 159

kunftsorientiertes Modell ist die Theologie des Zusammenlebens im Wesentlichen ein interdisziplinäres, innerislamisches und interreligiöses Projekt, das kooperativ gedacht ist. Zugleich sucht sie den Kontakt und wechselseitigen Wissenstransfer mit religiösen und politischen Akteuren in der Gesellschaft. Um ihren Aufgaben gewachsen zu sein, soll eine Theologie des Zusammenlebens dogmatische, relationale, wirtschaftliche und politische Fragen bearbeiten. Dabei geht sie von der menschlichen Selbstverantwortung bei der Gestaltung von Lebensentwürfen, Lebensformen und Lebensentscheidungen aus. Dem entspricht in theologischer Hinsicht der Respekt vor der persönlichen Entscheidung und in normativer Hinsicht die Gewährleistung von entsprechenden Handlungsspielräumen. Schließen möchte ich mit der Hoffnung, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn eine Theologie des Zusammenlebens zu einem Exportschlager würde und „auf der ganzen Welt als kulturelle und spirituelle Bereicherung gesehen wird; von Muslimen wie auch von religiösen und areligiösen Nicht-Muslimen“.72

72 Toprakyaran, Erdal: Der deutsche Islam als Objekt und Subjekt, 42.

Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einem Diskurs 1 Leonid Luks

1. Debatten über Russland werden im Westen, und zwar schon seit Generationen, oft emotional geführt. Von manchen Beobachtern wird das Land dämonisiert, von anderen verklärt. Eine adäquate Beurteilung Russlands fällt vielen schwer. Worauf lässt sich diese so oft verzerrte westliche Wahrnehmung Russlands zurückführen? Es hat sicherlich damit zu tun, dass Russland dem Westen zugleich fremd und verwandt ist. Man hat immerhin gemeinsame christliche Wurzeln, die gleiche Heilige Schrift. Russland ist also für den Westen nicht so exotisch wie z.B. China oder Indien. Nicht zuletzt deshalb werden die kulturellen Unterschiede zwischen Russland und dem Westen als eine Art Abweichung von der Norm betrachtet. Europa wird in der Regel nur mit dem Westen assoziiert. Die Tatsache, dass es auch einen orthodoxen Osten hat, wird unterschätzt. So entsteht die paradoxe Situation, dass solche Schriftsteller wie Tolstoj, Dostoevskij, Čechov und Pasternak, solche Philosophen wie Vladimir Solov’ev oder Nikolaj Berdjaev, Maler wie Kandinskij und Malevič, welche die europäische Kultur als solche außerordentlich bereichert haben, quasi aus dem gemeinsamen „europäischen Haus“ verbannt werden. Und diese Verbannung müsste sich eigentlich auch auf unzählige westliche Künstler und Schriftsteller erstrecken, deren Werke entscheidend durch die russische Malerei, Musik oder Litera-

1

Bei diesem Text handelt es sich um eine revidierte und erweiterte Fassung meines Beitrags, der in der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 7 (2003), Heft 2, 171–191 erschienen ist.

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tur inspiriert wurden, so z.B. auf Thomas Mann, der in einer seiner Novellen sogar von der „anbetungswürdigen [...], heiligen russischen Literatur“ spricht. 2 Andererseits wären Dostoevskij und Tolstoj ohne Cervantes, Rousseau oder Goethe unvorstellbar. So schließt sich der Kreis, und es wird offensichtlich, dass beide Teile Europas geradezu essenziell aufeinander angewiesen sind, und dass ihre allzu lange Trennung schmerzliche Folgen für den Kontinent als solchen nach sich zieht. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler hat vor einigen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die angebliche Nichtzugehörigkeit Russlands zu Europa damit begründet, dass das „orthodoxe Christentum sich noch immer zutiefst vom protestantischen und römisch-katholischen Europa unterscheidet.“3 In der Tat. Das gemeinsame europäische Erbe wird im Osten nicht selten anders interpretiert als im Westen. So kannte zum Beispiel das östliche, von Byzanz dominierte Christentum nicht den Streit zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht, der die Frühgeschichte des Abendlandes sehr stark prägte und der zur Entstehung des bis heute vorherrschenden westlichen Pluralismus entscheidend beitrug. Prägend für das östliche Christentum – so für Byzanz und für Russland – war hingegen der Begriff der „Symphonie“, der Eintracht zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht. Dort hat sich das „cäsaropapistische“ System etabliert, in dem die Kirche sich unter die Obhut der weltlichen Herrscher und damit in eine weitgehende Abhängigkeit von ihnen begab. Der politische Pluralismus westlicher Prägung hatte angesichts einer solchen Ausgangssituation wenige Entfaltungsmöglichkeiten. In seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung weist Hans-Ulrich Wehler auch mit Recht darauf hin, dass das östliche Christentum keine Reformation erlebt hat und durch die Aufklärung nur ansatzweise gestreift wurde. Die Liste der Unterschiede zwischen Ost und West ließe sich beliebig verlängern. Sind es aber nicht gerade diese Unterschiede, die die gegenseitige Befruchtung ermöglichen? Die ost-westliche kulturelle Symbiose ist gerade deshalb möglich, weil Europa ein janusköpfiges Gebilde darstellt – mit einem gemeinsamen Fundament und unterschiedlichen Gesichtern. Wäre der Osten nur eine Kopie des Westens oder umgekehrt, hätten sie voneinander kaum profitieren können. Welch fruchtbare Auswirkungen eine Begegnung zwischen Ost und West haben kann, offenbarte sich mit voller Deutlichkeit im 15. Jahrhundert, als

2

Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a.M. 1990, hier Bd. 8, 300, Bd. 10, 595.

3

Wehler, Hans-Ulrich: Lasst Amerika stark sein! Europa bleibt eine Mittelmacht: Eine Antwort auf Jürgen Habermas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.6.2003.

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viele byzantinische Flüchtlinge den italienischen Gelehrten und Künstlern dazu verhalfen, die Kultur der griechischen Antike neu zu entdecken. 4 Die zur Zeit der Renaissance erfolgte Begegnung zwischen Ost und West schien allerdings für lange Zeit nur eine Episode zu sein, denn die isolationistischen Tendenzen in beiden Teilen des Kontinents blieben weiterhin äußerst wirksam. Jeder Teil neigte dazu, sich als Ganzes zu sehen und strotzte geradezu vor Selbstzufriedenheit. Beispielhaft hierfür war das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Moskauer Großfürstentum bzw. Zarentum, das nach dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 zum neuen Zentrum der Orthodoxie wurde.

2. Im frühen Mittelalter stellte Russland für den Westen eine durchaus bekannte Größe dar. Dynastische Verbindungen und Handelsbeziehungen zwischen der Kiever Rus’ und den westlichen Staaten waren damals recht intensiv. 5 1240 geriet Russland allerdings für beinahe zweieinhalb Jahrhunderte unter die Herrschaft der Tataren und verschwand weitgehend aus dem abendländischen Bewusstsein. Erst zu Beginn der Neuzeit, vor allem im 16. Jahrhundert, wurde es neu entdeckt – also etwa zur gleichen Zeit wie Amerika. Viele Diplomaten, Kaufleute, aber auch Abenteurer gelangten nun nach Moskovien – so wurde Russland damals genannt – und schrieben über das Erlebte Reiseberichte. In der Flut der damals erschienenen Reisebeschreibungen ragen insbesondere drei Werke heraus: die Schrift des österreichischen Gesandten in Russland Sigmund Freiherr von Herberstein aus dem Jahr 1549, das Werk des Jesuiten Antonio Possevino aus dem Jahr 1583 und der Bericht des englischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher, der im Jahre 1589 verfasst wurde. Alle diese Autoren betrachteten Russland als eine Despotie. Die Macht der Moskauer Herrscher war ihrer Ansicht nach durch keine Schranken begrenzt, ähnlich wie diejenige der türkischen Sultane. Herberstein schreibt: „Der Moskauer Großfürst verfügt aus freier Willkür über aller Leben und Gut. Von seinen Beratern hat keiner das Ansehen, um der Meinung des Herrn widersprechen zu dürfen. Sie bekennen offen:

4

Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien: ein Versuch, Stuttgart 1976, 182–183, 194, 205; Ostrogorsky, Georg: Geschichte des byzantinischen Staates, München 1963, 473.

5

Vgl. dazu u.a. Donnert, Erich: Russland (860–1917). Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit, Regensburg 1998, 21f.

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Des Fürsten Wille sei Gottes Wille, also was der Fürst tut, das tut er aus dem Willen Gottes.“6 Auch Possevino und Fletcher sprechen von der Allmacht der russischen Herrscher, die beliebig über das Leben und den Besitz ihrer Untertanen verfügen konnten. Sie sprechen aber nicht nur von der Allmacht der Herrscher, sondern auch von der Sklavenmentalität der Beherrschten. Herberstein schreibt: „Das Volk ist von solcher Natur, dass es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut. Sterbende lassen in ihren Verfügungen oft Leibeigene frei: diese bleiben selten in der Freiheit, sondern verkaufen sich dann selbst an andere Herren.“ 7 Possevino fügt hinzu, man könne meinen, dieses Volk sei dazu prädestiniert, in der Sklaverei zu leben, die Sklaverei scheine zu seiner zweiten Natur geworden zu sein.8 Indes vermittelten Herberstein, Possevino und andere westliche Beobachter kein adäquates Russlandbild. Für sie war Russland eine Art orientalische Despotie, weil sie westliche Maßstäbe anlegten. Viele Institutionen und Kräfte, die im Westen die Macht der Herrscher einschränkten, waren in Russland entweder unzureichend entwickelt oder erfüllten eine ganz andere Funktion. Im Westen wurde die Macht der Monarchen vor allem durch die verbrieften Rechte der Stände, der Korporationen und der Kirche beschränkt. In Russland konnte sich dieses System von Checks and Balances nicht in einem solchen Ausmaß wie im Westen etablieren. Hier verkörperte beinahe ausschließlich der Monarch den Staat. Der russische Staat war nicht absolutistisch wie z.B. Frankreich unter der Herrschaft Ludwigs XIV., sondern autokratisch. All das scheint die These vieler westlicher Beobachter, die Russland als eine orientalische Despotie bezeichneten, zu bestätigen. In Wirklichkeit war auch die 6

Herberstein, Sigmund v.: Das alte Russland, Zürich 1984, 61f.

7

Ebd., 134.

8

Vgl. Possevino, Antonio: Moskovskoe posol’stvo. In: Ders.: Istoričeskie sočinenija o Rossii XVI veka, Moskau 1983, 24, 48f.; siehe dazu auch Fletcher, Giles: Of the Russe Comonwealth. In: Russia at the Close of the Sixteenth Century. Works issued by the Haklyut Society, o.O. o.J., 26–29, 44f. In seinem Buch über das englische Russlandbild im 16. Jahrhundert schreibt Karl Heinz Ruffmann: „Die carische Regierungsform und Regierungsweise erschien den Engländern fremdartig, barbarisch und unchristlich“ (Ruffmann, Karl Heinz: Das Russlandbild im England Shakespeares, Göttingen 1952, 82). Recht verbreitet war im damaligen Europa, nicht zuletzt in Polen, die These vom „asiatischen“ Charakter des Moskauer Großfürstentums. So setzt z.B. der polnische Geograf Johannes von Glogau im Jahre 1494 Moskau mit dem „asiatischen Sarmatien“ gleich (Klug, Ekkehard: Das „asiatische“ Russland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils. In: Historische Zeitschrift 245 (1987), 273).

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Macht der Zaren durchaus bestimmten Schranken unterworfen. Diese Schranken waren aber eher sittlicher als rechtlicher oder institutioneller Natur. Deshalb waren sie für viele westliche Beobachter nicht erfassbar. So musste z.B. das Verhalten des Zaren einem bestimmten Gerechtigkeitsideal entsprechen, er musste nach Wahrheit streben. Dabei ist der russische Begriff „Wahrheit“, „pravda“, in westliche Sprachen nicht übersetzbar. Bei der „pravda“ handelte es sich um eine Art Synthese, die aus Begriffen wie Gerechtigkeit, Anstand, Wahrhaftigkeit etc. besteht.9 Wenn der Zar diesem Ideal nicht entsprach, durfte ihm der Gehorsam verweigert werden. Der Mönch Iosif Volockij, dessen politisch-theologische Schriften zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine außerordentliche Verbreitung in Russland fanden, schreibt: „Dem Zaren, der den Willen Gottes erfüllt, muss man wie Gott dem Allmächtigen gehorchen. Aber wenn der Zar sich den Geboten Gottes widersetzt, dann ist er kein Zar mehr, sondern ein Peiniger und ein Diener Satans.“10 Ein derart eng verstandenes Widerstandsrecht erschwerte allerdings den Kampf gegen die Willkür der Herrscher, solange sie das Ideal der äußeren Frömmigkeit nicht infrage stellten. Dies betraf z.B. den Zaren Ivan den Schrecklichen. Dieser Despot beachtete peinlich genau die kirchlichen Rituale und hielt sich selbst für einen tief religiösen Menschen. Wie beim russisch-englischen Historiker Michael Cherniavsky zu lesen ist: Tagsüber mordete er, in der Nacht aber betete er.11 Man darf dennoch nicht vergessen, dass die von Iosif Volockij geprägte politische Doktrin im Moskauer Staat keineswegs unangefochten war. Ihre Kritiker, 9

Frank, Semen: Russische Weltanschauung, Berlin 1926, 26f.

10 Zimin, A. / Lur’e, J. (Hg.): Poslanija Iosifa Volockogo, Moskau – Leningrad 1959, 184; siehe dazu auch Val’denberg, V.: Drevnerusskie učenija o predelach carskoj vlasti, Petrograd 1916, 213f.; D’jakonov, M.: Vlast’ moskovskich gosudarej. Očerki iz istorii političeskich idej drevnej Rusi do konca 16 veka, St. Petersburg 1889, 95–99; Budovnic, I.: Russkaja publicistika XVI veka, Moskau 1947, 97; Širinjanc, A. / Pereverzencev, S.: Russkaja social´no-političeskaja mysl´ XI-XVII veka, Moskau 2011, 143–148. 11 Vgl. Cherniavsky, Michael: Khan or Basileus. An Aspect of Russian Medieval Political Theory. In: Ders.: The Structure of Russian History. Interpretative Essays, New York 1970, 74; zum Weltbild Ivans des Schrecklichen siehe auch Lur´e, Ja. / Rykov, Ju. (Hg.): Perepiska Ivana Groznogo s Kurbskim, Leningrad 1979; Adrianova-Peretc, V.: Pslanija Ivana Groznogo, Moskau 1951; Šmidt, S.: Stanovlenie russkogo samoderžavija. Issledovanija social´no-političeskoj istorii vremen Ivana Groznogo, Moskau 1973; Val´denberg: Drevnerusskie učenija o predelach carskoj vlasti, 346ff.; Širinjanc / Pereverzencev: Russkaja social´no-političeskaja mysl´ XI-XVII veka, 237–304.

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in erster Linie Nil Sorskij und seine Anhänger, vertraten das Ideal einer inneren Frömmigkeit und lehnten eine allzu enge Anlehnung der Kirche an den Staat ab.12 Zwar setzten sich die Gegner des „Iosifljanstvo“ (also der Lehre Iosif Volockij) nicht durch, dennoch hörte die von ihnen vertretene freiheitliche Tendenz niemals auf, bestimmte Teile der russischen Gesellschaft zu inspirieren. Und auch der Terror Ivans des Schrecklichen blieb nicht unwidersprochen. Zur Symbolfigur des Widerstandes gegen den Tyrannen wurde der Moskauer Metropolit Filipp. Über diesen unbeugsamen Geistlichen, den der Zar 1569 ermorden ließ, schrieb ein anderer orthodoxer Geistlicher, Aleksandr Men´, der im September 1990 unter mysteriösen Umständen ebenfalls ermordet wurde, Folgendes: „Im Konflikt zwischen dem Metropoliten Filipp und dem Zaren [handelte es sich] um einen Zusammenstoß eines durch das Evangelium inspirierten Geistes mit einer Macht, die alle ethischen und rechtlichen Normen mit den Füßen trat“.13

3. In den bereits zitierten Berichten der westlichen Reisenden, die Moskovien zu Beginn der Neuzeit besuchten, spiegelt sich ein beispielloses Überlegenheitsgefühl der Westeuropäer Russland gegenüber wider. Nicht anders verhielt es sich aber mit der damaligen Einstellung Russlands zum Westen. Auch in Russland war das Gefühl des eigenen Auserwähltseins außerordentlich tief verankert. Symbolisiert wurde dieses Überlegenheitsgefühl durch die Theorie von Moskau als dem „dritten Rom“. Nach dem Fall des alten Roms und von Byzanz, dem „zweiten Rom“, galt Moskau in den Augen vieler orthodoxer Christen als das dritte unvergängliche Rom. Anders als oft vermutet, hatte die Theorie von Moskau als dem dritten Rom eher einen defensiven Charakter. Ursprünglich von Mönch Filofej aus Pskov zu Beginn des 16. Jahrhunderts formuliert, stellte sie einen Appell an den damals in

12 Lilienfeld, Fairy v.: Nil Sorskij und seine Schriften. Die Krise der Tradition im Russland Ivans III, Berlin 1963; Smolitsch, Igor: Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen. 988–1917, Amsterdam 1978, 107–114; Fedotov, Georgij: Svjatye drevnej Rusi, Paris 1931, 166–175; Florovskij, Georgij: Puti russkogo bogoslovija, Paris 1983, 20–24; Širinjanc / Pereverzencev: Russkaja social´no-političeskaja mysl´ XI-XVII veka, 148–170. 13 Men´, Aleksandr: Vozvraščenie k istokam. In: http://www.vehi.net/men/fedotov2html, 6.

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Moskau herrschenden Großfürsten Vasilij III. dar, die Reinheit der Orthodoxie zu schützen und zu bewahren. Den Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 führte der Mönch auf die Abkehr des byzantinischen Kaiserreiches von der reinen Lehre der Kirche und auf den moralischen Verfall zurück. 14 Nach dem Untergang von Byzanz und der Abschüttelung des Tatarenjochs im Jahre 1480 blieb Russland als der einzige unabhängige Staat übrig, in dem der orthodoxe Glaube herrschte. Deshalb musste es sich in eine unangreifbare Festung der Orthodoxie verwandeln. Der Moskauer Staat wurde nun von einigen politischen Denkern Russlands als eine Art Abbild des Himmelreichs auf Erden betrachtet, als ein Staat, der auf Wahrheit beruhte („gosudarstvo pravdy“).15 Die technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands gegenüber dem Westen rief im Lande keine Minderwertigkeitskomplexe hervor, denn die Leistungen des Abendlandes galten im Wesentlichen als irrelevant, da es keinen richtigen Glauben besaß. Allmählich geriet aber der Moskauer Staat, der seit der Terrorherrschaft Ivans des Schrecklichen außerordentliche Identitätsschwierigkeiten verkraften musste, in eine immer tiefer werdende innere Krise. Symbolisiert wurde diese durch die sogenannten „Wirren“ (smuta) zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die zu einer vorübergehenden Auflösung der russischen Staatlichkeit führten und durch die Kirchenspaltung (raskol) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Auf eine genauere Schilderung dieser Vorgänge kann ich hier nicht eingehen, weil dies den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Eines muss man aber in diesem Zusammenhang hervorheben: Aufgrund dieser Identitätskrise geriet Russland im Verlaufe des 17. Jahrhunderts in eine immer tiefer werdende kulturelle Stagnation. Um diese Stagnation zu überwinden, benötigte das Land dringend kulturelle Anregungen von außen, und woher sonst konnten sie kommen, wenn nicht aus dem Westen? Es sei kein Zufall gewesen, dass Peter der Große, als er Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts grundlegend reformieren wollte, das Fenster nicht nach Mekka, nicht nach Lhasa, sondern nach Europa geöffnet habe, sagt in 14 Vgl. dazu Poslanija starca Filofeja. In: Pamjatniki Literatury Drevnej Rusi. Konec XV-pervaja polovina XVI veka, hg. v. Dmitriev, L. / Lichačev, D.: Moskau 1984, 436–455; Hösch, Edgar: Orthodoxie und „Rechtgläubigkeit“ im Moskauer Russland. In: Halbach, Uwe / Hecker, Hans / Kappeler, Andreas (Hg.): Geschichte Altrusslands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl, Stuttgart 1986, 60; Zimin, A.: Rossija na poroge novogo vremeni. Očerki političeskoj istorii Rossii pervoj treti XVI veka, Moskau 1972, 340ff. 15 Vgl. dazu u.a. Luks, Leonid: Gosudarstvo pravdy. Rossija i Zapad na poroge Novogo vremeni. In: Ders.: Tretij Rim? Tretij Reich? Tretij put´? Istoričeskie očerki o Rossii, Germanii i Zapade, Moskau 2002, 6–32.

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diesem Zusammenhang der russische Kulturhistoriker Vladimir Vejdle. Peters Vision sei zwar ausschließlich technokratischer Natur gewesen, so Vejdle. Er habe die Kultur mit der technischen Zivilisation gleichgesetzt. Intuitiv habe er indes durch die Wiederherstellung der Einheit der europäischen Welt den für die russische Kultur fruchtbarsten Weg gewählt. 16

4. Die Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit der russischen Gesellschaft gingen mit den Umwälzungen Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen brach jetzt eine Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst modernisiert werden musste. Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte die bestehende Wertehierarchie so stark wie die petrinische. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich im Wesentlichen mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein. Nun aber zurück zur Einstellung der Westeuropäer zu Russland. Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halbbarbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert. Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich zu Wort. JeanJacques Rousseau warf dem Zaren vor, er habe seine Untertanen zu früh europäisiert: „Er sah die Rohheit seines Volkes, sah jedoch nicht, dass es für höhere Gesittung noch nicht reif war; er wollte es zivilisieren, als es erst der Zucht bedurfte.“ Und dann entwickelte Rousseau folgende düstere Vision: „Die Tataren, seine Untertanen oder Nachbarn, werden seine und unsere Herren werden; diese völlige Umwälzung scheint mir unabwendbar. Alle Könige Europas arbeiten einmütig daran, sie zu beschleunigen.“17

16 Vejdle, Vladimir: Zadača Rossii, New York 1956. 17 Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1971, 51f.

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Diese Prognose hatte mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihrer westlichen Koalitionspartner, und auch bei genauerem Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Russland zum Abendland hinwiesen. Mehr noch: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug das Zarenreich entscheidend dazu bei, dass der napoleonische Versuch, das europäische Gleichgewicht zu zerstören, scheiterte. Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich die Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zu Russland schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen.18 Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden antirussischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der Dichter und Altphilologe Vladimir Pečerin dar, der im Jahre 1836 seine Heimat beinahe fluchtartig verließ, um sie bis zu seinem Tode fünfzig Jahre später nicht wiederzusehen. In seinen Erinnerungen schrieb er: „Mitte Mai habe ich das mir verhasste Moskau verlassen [...Ich hatte] den festen Willen, nie wieder nach Russland zurückzukehren. So habe ich alles verloren, was ein Mensch im Leben schätzt – das Vaterland, die

18 Siehe dazu u.a. Tschižewskij, Dmitrij / Groh, Dieter: Europa und Russland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959; Groh, Dieter: Russland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, 3, 14f., 97, 319–321; Gleason, J. H.: The Genesis of Russophobia in Great Britain. A Study of Interaction of Policy and Public Opinion, Cambridge Mass. 1950; McNally, R. T.: Das Russlandbild der französischen Publizistik zwischen 1814 und 1843. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 6 (1958), 82–169; Ders.: The Origins of Russophobia in France: 1812–1830. In: The American Slavic and East European Review 17 (1958), 173–189; Müller, Lore: Das Russlandbild der deutschen politischen Flugschriften, Reisewerke und Nachschlagewerke und einiger führender Zeitschriften und Zeitungen während der Jahre 1832– 1853, Diss. München 1953; Anderson, M.S.: The Ascendancy of Europe. Aspects of European History 1815–1914, London 1972, 6f.; Oberländer, Erwin: Das „Testament“ Peters des Großen. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), 46–60.

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Familie, das Vermögen, bürgerliche Rechte [...] alles, alles! Dafür habe ich aber meine Menschenwürde und geistige Unabhängigkeit bewahrt.“ 19 Im gleichen Jahr, in dem Pečerin das ihm „verhasste Moskau“ verließ, erschien in der Moskauer Zeitschrift Teleskop der berühmte Philosophische Brief Petr Čaadaevs, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Ideengeschichte einleitete. Während Pečerin seinem Protest gegen die Zustände im Lande durch eine verzweifelte Tat Ausdruck verliehen hatte, tat Čaadaev das Gleiche in der Form einer schonungslosen, wenn auch in manchen Punkten überzogenen geschichtsphilosophischen Diagnose. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Čaadaev in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt: „Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.“20 Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den „Westlern“, massiv infrage gestellt. Čaadaev lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigenart trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten ungerechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine nicht weniger emotionale, oft unkritische Apologie zu Folge. Typisch hierfür waren die Gedankengänge der slawophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik mit den Thesen Čaadaevs und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.21 19 Pečerin, Vladimir: Zamogil’nye zapiski, Moskau 1932, 37. 20 Čaadaev, Petr: Filosofičeskie pis’ma adresovannye dame. Pis’mo pervoe, abgedruckt in: Russkoe obščestvo 30-ch godov XIX v. Ljudi i idei. Memuary sovremennikov, Red. I.A.Fedosov, Moskau 1989 (deutsche Übersetzung in: Tschižewskij / Groh: Europa und Russland, 84). 21 Siehe u.a. Berdjaev, Nikolaj: Russkaja ideja. Osnovnye problemy russkoj mysli XIX veka i načala XX veka, Paris 1971; Zen’kovskij, Vasilij: Russkie mysliteli i Evropa. Kritika evropejskoj kul’tury u russkich myslitelej, Paris 1955; Riasanovsky, Nicholas: Russia and the West in the Teachings of Slavophiles. A Study of Romantic Ideology, Harvard University Press 1952; Ders.: Nicholas I and official Nationality in Russia 1825–1855, Berkeley 1959; Ders.: A Parting of Ways. Government and the educated

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Bezeichnenderweise handelte es sich bei den führenden Slawophilen (Aleksej Chomjakov, Ivan Kireevskij, Konstantin Aksakov) ursprünglich um Bewunderer der westlichen Kultur bzw. um deren ausgezeichnete Kenner. Sie profitierten bei der Entwicklung ihrer Konzepte nicht selten von den Anregungen westlicher Denker – Herder, Schelling, Hegel u.a. So handelte es sich bei dem Slawophilentum, trotz seiner antiwestlichen Spitze, im Grunde um einen Bestandteil des allgemein europäischen Diskurses. Im Gegensatz zu Čaadaev betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sich von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Čaadaev, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß. Die Orthodoxie, so die Slawophilen, postuliere eine völlig andere Gesellschafts- und Staatsordnung als der Katholizismus bzw. Protestantismus. In ihrem Zentrum liege der Gedanke der Harmonie, der religiös geprägten, organischen Gemeinschaft (sobornost’). Dieser Gedanke söhne das Individuum mit dem Kollektiv, den Herrscher mit den Beherrschten aus. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur hingegen stünden Egoismus, Konflikt und Gewalt.22 Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russland übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie zurück, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht gewesen war. 23

Public in Russia in 1801–1855, Oxford 1976; Christoff, P.K.: An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism, 3 Bände (Bd.1 A.S. Xomyakov, Bd. 2 I.V.Kireevskij, Bd.3 K.S. Aksakov), S.-Gravenhage-Princeton / N.J., The Hague, Paris 1961–1982; Walicki, Andrzej: The Slavophile Controversy: History of Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought, Oxford 1969; Širinjanc, Aleksandr (Hg.): Russkaja social´no-političeskaja mysl´. Pervaja polovina XIX veka. Chrestomatija, Moskau 2011. 22 Siehe dazu u.a. Kireevskij, Ivan: Izbrannye stat’i, Moskau 1984. 23 Zur Kritik der Westler an dieser Verklärung des alten Russland durch die Slavophilen siehe u.a. Čičerin, Boris: Vospominanija. Moskva sorokovych godov, Moskau 1929, 20–22; 225–238.

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5. Die Infragestellung westlicher Werte durch die Slawophilen ereignete sich ausgerechnet in der Zeit, in der auch manche westliche Denker von Selbstzweifeln geplagt wurden. Pessimistische Strömungen nahmen hier nach der Bezwingung des napoleonischen Frankreich außerordentlich an Stärke zu. Überall war von der Dekadenz, vom Verwelken der westlichen Kultur die Rede. Einige westliche Intellektuelle blickten mit Hoffnung auf den scheinbar noch vitalen, „unverbrauchten“ Osten. So erwartete der Münchener Philosoph Franz von Baader von Russland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. 1841 schrieb er: „Gottes Fürsorge hielt die russische Kirche von der europäischen Weltbewegung, somit auch von der Bewegung zur Dechristianisierung sowohl der Wissenschaft als auch der bürgerlichen Societät bis dahin fern.“ Daher sei diese Kirche, so Baader, „im Stande [...], befreiend auf das Abendland rückzuwirken“. 24 Die westlichen Dekadenzängste blieben in Russland natürlich nicht unbemerkt und stärkten wiederum das Sendungsbewusstsein der Slawophilen, vor allem aber der Panslawisten. Mit besonderer Vehemenz vertrat das panslawistische Sendungsbewusstsein um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Dichter Fedor Tjutčev.25 Die Panslawisten verklärten den imperialen Gedanken und die russische Autokratie, insofern unterschieden sie sich grundlegend von den kontemplativ veranlagten Slawophilen, die sich gegenüber der herrschenden Bürokratie sehr kritisch verhielten. Da im Zentrum ihrer Weltanschauung die Religion stand, betrachteten sie den Staat als solchen mit allen seinen Implikationen außerordentlich skeptisch.26 Das bürokratische Regiment Nikolaus I. (1825–1855) distanzierte sich indes von beiden Sendungsideen, sogar von derjenigen der regimetreuen Panslawisten. Die Gesellschaft hatte nach der Vorstellung Nikolaus I. nur zu gehorchen und durfte sich in die Angelegenheiten der Regierung nicht einmal mit beratender Stimme einmischen.27

24 Siehe bei Tschižewskij / Groh: Europa und Russland, 102f. 25 Tjutčev, Fedor: Političeskie stat´i, Paris 1976. 26 Berdjaev: Russkaja ideja, 51f., 148f. 27 Riasanovsky: A Parting of Ways, 105, 134f.; Ders.: Nicholas I and official Nationality 36f., 42–44, 50–53; Tjutčeva, A.F.: Pri dvore dvuch imperatorov, Moskau 1928, 96– 98; Čičerin: Vospominanija, 15–156.

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6. 1853 brach der vielbeschworene Kampf zwischen Ost und West – der Krimkrieg – aus.28 Die Tatsache, dass die Petersburger Autokratie alle freien Regungen innerhalb der Gesellschaft zu ersticken versuchte, führte dazu, dass das Regime nach dem Beginn des Krimkrieges nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch isoliert war. Von einer Aufbruchsstimmung, ähnlich wie sie 1812 – während des Russlandfeldzugs Napoleons – geherrscht hatte, konnte keine Rede sein.29 Die Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg offenbarte in solch einer drastischen Weise die Rückständigkeit der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen Russlands, dass ihre radikale Änderung zu einem der wichtigsten Anliegen der Regierung wurde. Der Nachfolger des 1855 verstorbenen Nikolaus I., Alexander II. (1855–1881), leitete nun ein ehrgeiziges Reformwerk in die Wege, das an die petrinischen Reformen erinnerte und das man als die zweite Westernisierung bzw. Europäisierung Russlands bezeichnen kann. Die Leibeigenschaft wurde 1861 abgeschafft, die Zensur erheblich gelockert, die Justizreform von 1864 schuf unabhängige Gerichte und verankerte damit die ersten Ansätze der Gewaltenteilung im Lande. Viele der Forderungen, die seit Generationen von den Kritikern der russischen Autokratie aufgestellt worden waren, waren nun eine nach der anderen erfüllt worden. Was die Stellung Russlands zum Westen anbetrifft, so wurde diese Frage in der russischen Öffentlichkeit nach der Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg höchst unterschiedlich beurteilt. Einige Autoren hielten den Ost-WestGegensatz für unüberbrückbar und den nächsten Waffengang für unvermeidlich. Zu ihnen zählte der Kulturhistoriker und Naturwissenschaftler Nikolaj Danilevskij, der 1869 ein vielbeachtetes Buch, Russland und Europa, veröffent-

28 Siehe dazu u.a. Rich, Norman: Why the Crimean War? A Cautionary Tale, Hannover 1985; Schroeder, Paul: Austria, Great Britain and the Crimean War. The Destruction of the European Concert, Ithaca, N.Y. 1972; Zajončkovskij, A.M.: Vostočnaja vojna, Band 1–2, Sankt Petersburg 1908–1913; Baumgart, Winfried: Der Friede von Paris. Studien zum Verhältnis von Kriegsführung, Politik und Friedensbewegung, München – Wien 1972; Luks, Leonid: Dekadenzängste und Russlandfurcht – zwischen Wiener Kongress und Krimkrieg. In: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 24 (1995), 15–39. 29 Siehe Riasanovsky: A Parting of Ways, 256.

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licht hatte.30 Viele betrachten Danilevskij als einen Vorläufer Oswald Spenglers, denn er entwickelte eine Lehre vom biologischen Alter der Kulturen, die nach der Vollendung eines bestimmten Zyklus von der geschichtlichen Bühne abtreten. Die romanisch-germanische Kultur befand sich nach Ansicht Danilevskijs bereits im Stadium des Verfalls und die ihr wesensfremde slawische in einem Aufstieg. Antirussische Emotionen im Westen führte Danilevskij in erster Linie auf diese Wesensfremdheit, auf kulturtypologische Unterschiede zurück. Mit einer atemberaubenden Selbstgerechtigkeit schilderte er das Anwachsen des russischen Imperiums in den letzten Jahrhunderten und verlieh ihm eine völlig andere Qualität als den Eroberungen der Westmächte. Nicht anders argumentierten damals allerdings auch die deutschen, die französischen oder die englischen Nationalisten. Die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes durch Danilevskij entsprach durchaus dem Geist der Zeit. Auch in einem anderen Punkt passte sich sein panslawistisches Konzept an die geistige Atmosphäre der Epoche an. Seiner auf biologistischem Determinismus basierenden Sendungsidee fehlten universale Elemente. Sie war durch und durch partikularistisch. Insofern unterschied sie sich grundlegend von dem Konzept Fedor Dostoevskijs, der von einer universalen religiösen Sendung des Russentums sprach; die russische Orthodoxie sollte die gesamte Christenheit erneuern. Dennoch stimmte Dostoevskij mit Danilevskij vor allem in einem Punkt überein. Auch er war nämlich von einer abgrundtiefen Abneigung des Westens gegenüber Russland überzeugt. 1877 schrieb er: „Über Russland [...] verbreitet man jetzt selbst in den gebildetsten Staaten den größten Unsinn. Auch früher kannte man uns in Europa wenig, sogar so wenig, dass man sich immer nur wundern musste, wie dermaßen aufgeklärte Völker so wenig bestrebt sein konnten, jenes Volk kennen zu lernen, das sie doch alle von jeher hassen und fürchten.“31 Als Dostoevskij diese Worte schrieb, klangen sie bereits etwas anachronistisch. Nach der Niederlage im Krimkrieg galt das Zarenreich nicht mehr als unbesiegbar bzw. als Garant der bestehenden Ordnung in Europa. Die westliche Russlandfurcht ließ eindeutig nach. Das vereinte Deutschland übernahm die Nachfolge Russlands als Anwärter auf die europäische Hegemonie. Der OstWest-Gegensatz verlor damals die Brisanz, die ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und dies trug dazu bei, dass Russland sich in einem viel stärkeren Ausmaß als bisher gegenüber den westlichen Ideen und Strömungen öffnete. Der Siegeszug des Liberalismus, der in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz Europa erfasste, dehnte sich auch auf das Zarenreich aus. Diese Tendenzen 30 Danilevskij, Nikolaj: Rossija i Evropa. Vzgljad na kul’turnye i političeskie otnošenija Slavjanskogo mira k Germano-Romanskomu, London 1966. 31 Dostoevskij, Fedor: Tagebuch eines Schriftstellers, München 1977, 430.

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wurden von manchen konservativen russischen Staatsmännern und Denkern des ausgehenden 19. Jahrhunderts leidenschaftlich bekämpft, so von Konstantin Leont’ev und von Konstantin Pobedonoscev. 32 Um Russland von den aus dem Westen stammenden Ideen abzuschirmen, wollten sie es, wie sie es selbst formulierten, in seiner Entwicklung „einfrieren“. Jedoch standen sie auf verlorenem Posten.

7. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die russischen Westler den Konflikt mit den Slawophilen und Panslawisten endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Der Dichter Aleksandr Blok schrieb 1908 von einem „,barbarischen‘ Streit zwischen Westlern und Slawophilen – einem ausschließlich russischen Streit, der für die Europäer unverständlich und uninteressant ist“.33 Als Blok diese Worte schrieb, mutete die Kontroverse, die seit den 1830erJahren den roten Faden der russischen Ideengeschichte dargestellt hatte, in der Tat antiquiert an. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Einen ähnlichen „Modernisierungsprozess“ erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der „Fin de Siècle“-Stimmung erfasst; die russische Avantgarde stellte einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen. Die Revolution von 1917 und der durch sie ausgelöste Bürgerkrieg führten zunächst nicht zu einer Wiederbelebung der alten Kontroverse zwischen Kritikern und Apologeten des Westens. Die Fronten verliefen damals ganz anders. Weder die ,Roten‘ noch die ‚Weißen‘ konnten in der Regel als Gegner der westlichen Kultur als solcher bezeichnet werden. Beide Bürgerkriegsparteien wurden

32 Pobedonoscev,

Konstantin:

Moskovskij

sbornik,

Moskau

1896;

Pis’ma

Pobedonosceva Aleksandru III, hg. v. Pokrovskij, Michail, Band 1–2, Moskau 1925; Byrnes, Robert F.: Pobedonoscev. His Life and Thought, Bloomington 1968; Leont’ev, Konstantin: Vostok, Rossija i Slavjanstvo, Sankt Petersburg 1885–1886, Band 2, 136, 186f. 33 Blok, Aleksandr: Sobranie sočinenij. Moskau – Leningrad 1962, Band 5, 332.

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von westlichen Ideen inspiriert – vom Marxismus im einen und vom Nationalismus im anderen Fall. Erst die 1921 im russischen Exil entstandene Eurasierbewegung sollte mit ihrer schrillen Kampfansage an die westliche Kultur in ihrer Gesamtheit neue Akzente im innerrussischen Disput setzen. Erneut wurde die Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa leidenschaftlich diskutiert. Diese Diskussion fand allerdings nur im russischen Exil statt. In Russland selbst, unter den Bedingungen der bolschewistischen Diktatur, war eine offene Diskussion über diese Frage nicht mehr möglich. Über den Sinn der russischen Geschichte durfte nur die Partei allein reflektieren, einen Dialog mit sich ließ sie nicht zu. Der Sieg der bolschewistischen Revolution lieferte auch der westlichen Diskussion über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa zusätzliche Impulse. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Russlands zur Folge gehabt. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.34 Als Weber diese Worte schrieb, bahnte sich gerade in Deutschland eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes an, die den gesamten Kontinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar. Man darf auch nicht vergessen, dass die soziale Utopie, welche die Bolschewiki in Russland zu verwirklichen suchten, westlichen Ursprungs war.

8. Die Eurasierbewegung zählte zu den originellsten Strömungen im russischen Exil. Ähnlich wie viele westliche Autoren waren auch die Eurasier der Meinung, Russland habe in Europa nichts zu suchen. Es müsse sich dem Osten zuwenden und das Fenster nach Europa, das Peter der Große geöffnet hatte, schließen. Ihr erster Sammelband trug den programmatischen Titel Der Auszug nach Osten [Ischod k vostoku]: „Kein europäischer Staat lasse sich mit Russland vergleichen“, so die Autoren der Schrift, „denn es handele sich bei Russland nicht um

34 Weber, Alfred: Die Krise des modernen Staatsdenkens in Europa, Stuttgart 1925, 119.

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ein Land im herkömmlichen Sinne, sondern um einen eigenständigen Kontinent – Eurasien“.35 Diejenigen Beobachter, die die Eurasier als Fortsetzer der slawophilen und panslawistischen Strömungen betrachten, unterschätzen die Radikalität der eurasischen Kampfansage an den Westen. Ihren angeblich slawophilen Vorgängern warfen die Gründer der Eurasierbewegung, so der Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubeckoj oder der Geograf Petr Saviskij, vor, diese hätten die Tatsache, dass Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liege, vernachlässigt. Die Worte des slawophilen Denkers Aleksej Chomjakov oder Fedor Dostoevskijs über die anbetungswürdigen Schätze der westlichen Kultur, über die „heiligen Steine“ des Westens, wären bei den Eurasiern undenkbar gewesen. Ebenso unvorstellbar wäre im eurasischen Vokabular die These Chomjakovs von Russland als einem Schutzwall Europas gegen die asiatische (tatarische) Gefahr.36 So bleibt die Suche nach den direkten Vorgängern der Eurasier in der russischen Ideengeschichte ergebnislos. Ihre Ideen entsprachen durchaus dem revolutionären Charakter der Epoche, in der sie agierten. Dazu zählte z.B. die These, dass Russland und die von den Europäern unterworfenen Kolonialvölker eine Solidargemeinschaft bildeten. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer einer weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne, so Nikolaj Trubeckoj in seiner 1920 erschienenen Schrift Europa und die Menschheit.37 Hier sind verblüffende Ähnlichkeiten zur Argumentation der Bolschewiki sichtbar, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Hegemonie machen wollten. Indes bestand zwischen den beiden Programmen ein grundlegender Unterschied. Im Gegensatz zu den Eurasiern glaubten die Bolschewiki keineswegs an den Eigenwert der nichteuropäischen Kulturen. Ähnlich wie die Mehrheit der von den Eurasiern so scharf kritisierten West35 Ischod ,k vostoku. Predčuvstvija i sveršenija. Utverždenie evrazijcev, Sofia 1921. Zur Geschichte der Eurasierbewegung siehe u.a. Böss, Otto: Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961; Wiederkehr, Stefan: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln 2007; Laruelle, Marlène: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, Baltimore 2008; Luks, Leonid: Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), 374–395. 36 Chomjakov, Aleksej: Sobranie sočinenij v dvuch tomach, Moskau 1995, Band 1, 453. 37 Trubeckoj, Nikolaj: Evropa i čelovečestvo. In: Ders.: Istorija. Kul´tura. Jazyk, Moskau 1995, 55–104.

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europäer glaubten auch die Bolschewiki daran, dass die westliche Kultur einen universalen Charakter habe. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb Lenin über den asiatischen Befreiungskampf, der sich damals intensivierte: Heißt das vielleicht, dass der materialistische Westen verfault ist und das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchte? Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, dass der Osten endgültig den Weg des Westens betreten hat, dass neue Hunderte und Aberhunderte Millionen von Menschen jetzt am Kampfe für die Ideale teilnehmen, zu denen sich der Westen durchgekämpft hatte. Verfault ist die Bourgeoisie des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht – das Proletariat.38

Die Revolte, die den Eurasiern vorschwebte, unterschied sich radikal von derjenigen, die Lenin anstrebte. Sie sollte sich nicht nur nach außen, sondern auch und vor allem nach innen richten. Die Nichteuropäer müssten nämlich das vom Westen übernommene Vorurteil von der Minderwertigkeit der eigenen Kultur überwinden und die Egozentrik, die hinter diesem angeblichen Universalismus der Westeuropäer stecke, entlarven.39 In der Erschütterung des eurozentrischen Weltbildes der „romano-germanischen“ Völker sahen die Eurasier ihre wohl wichtigste Mission. Der Umwälzung, für die die Eurasier plädierten, war auch das futuristische Pathos der bolschewistischen Revolution fremd. Ihr „Goldenes Zeitalter“ lag nicht in der „lichten Zukunft“, sondern in der Vergangenheit. Aber nicht in der unmittelbaren Vergangenheit, wie dies bei den russischen Monarchisten der Fall war, sondern in der fernen Vorzeit. Das radikal Neue stelle im Grunde die Erneuerung des ganz Alten dar, sagte im Jahre 1923 Nikolaj Trubeckoj in diesem Zusammenhang. Jede radikale Erneuerung knüpfe an die ganz alte und nicht an die unmittelbare Vergangenheit an.40 Trubeckoj bezog sich hier auf die Tatsache, dass die Eurasier das Petersburger Russland im Namen des alten Moskauer Russland, im Namen der Idee vom „Dritten Rom“ ablehnten. So handelte es sich bei den Eurasiern um Revolutionäre und Traditionalisten zugleich, um „konservative Revolutionäre“. Damit ähnelte die Ideologie der Eurasier in verblüffender Weise der etwa zur gleichen Zeit entstandenen Ideologie der deutschen „konservativen Revolution“, die in der Geschichte der Weimarer 38 Lenin, Vladimir: Polnoe sobranie sočinenij. 5. Aufl. Band 1–55, Moskau 1958–1965, hier Band 21, 402. 39 Trubeckoj: Evropa i čelovečestvo, 57–65, 89–104. 40 Trubeckoj, Nikolaj: U dverej reakcija? Revoljucija?. In: Evrazijskij vremennik (1923) Nr.3, 18–29.

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Republik eine derart verhängnisvolle Rolle spielen sollte. Ähnlich wie die Eurasier wollten auch die konservativen Revolutionäre die bestehende Ordnung nicht im Namen der „lichten Zukunft“, sondern im Namen der Vergangenheit, und zwar einer sehr fernen Vergangenheit überwinden. Die unmittelbare deutsche Vergangenheit – den Wilhelminismus – lehnten die Autoren der konservativen Revolution genauso scharf ab, wie die Eurasier dies mit dem Petersburger Russland getan hatten. Dem von den Eurasiern verklärten Bild des Moskauer Russland entsprach die Verklärung der mittelalterlichen Reichsidee durch die konservativen Revolutionäre, in deren Namen sie die von ihnen abgelehnte Weimarer Ordnung bekämpften.41 Die Kampfansage der Eurasier an den Westen rief im russischen Exil höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Von vielen Vertretern der russischen Bildungsschicht, die den Streit zwischen Westlern und Slawophilen für längst überwunden hielten, wurden die Eurasier mit äußerster Schärfe kritisiert. Man dürfe nicht Europa und Asien als zwei Zimmer ansehen, in denen Russland abwechselnd leben könne, polemisierte der Philosoph Fedor Stepun 1924 gegen die Eurasier. Das Europäische und das Asiatische seien zwei Bestandteile des Wesens Russlands. Auf keine dieser Komponenten könne Russland verzichten, vor keiner könne es fliehen.42 Es sei wenig wahrscheinlich, fügte Nikolaj Berdjaev hinzu, dass irgendeine Kultur, z.B. die westliche, ein ausschließlicher Träger des Bösen sein könne, wie die Eurasier dies meinten. Das Christentum lasse eine solche geografische Einteilung des Guten und des Bösen nicht zu. 43 Dennoch rief der radikale Antiokzidentalismus der Eurasier nicht nur negative Reaktionen in der russischen Emigration hervor. Ihre Kampfansage an die abendländische Kultur verkündeten die Eurasier unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage der Gegner der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Diese Niederlage führten viele Emigranten auf die mangelnde Unterstützung und die inkonsequente Haltung der Westmächte zurück. Auch die Art, wie die Angehörigen der geschlagenen „weißen“ Armeen nach ihrer Flucht aus Russland von den westlichen Verbündeten behandelt wurden, verletzte den Stolz vieler Russen. Dazu kamen noch die drückende Not des Emigrantendaseins und Anpassungsschwierigkeiten in der fremden, nicht immer wohlgesonnenen Umgebung. All das trug zur Verstärkung antiwestlicher Ressentiments im antibolschewistischen Emigrantenlager bei. 41 Vgl. dazu u.a. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Erster Band. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2002, 524. 42 Stepun, Fedor: Evraziskij vremennik. In: Sovremennye zapiski (1924) Nr.21, 405f. 43 Berdjaev, Nikolaj: Evrazijcy. In: Put´ 1 (1925) Nr. 1, 135–138.

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Die Eurasier träumten davon, die bolschewistische Partei zu beerben. Die Lage in der Sowjetunion sei zwar besorgniserregend, aber nicht aussichtslos, schrieb Nikolaj Trubeckoj ausgerechnet im Jahre 1937, als der stalinistische Terror in der UdSSR seinen Höhepunkt erreichte: „Den Ausweg stellt die Ablösung des Marxismus durch eine andere herrschende Idee dar“, so Trubeckoj.44 Und es bestand für Trubeckoj kein Zweifel daran, dass diese andere Idee nur die „eurasische“ sein könne. Ein Jahr später starb Trubeckoj. Sein Tod symbolisierte das Ende des ,klassischen‘ Eurasiertums. Es verließ, wie es damals schien, endgültig die politische Bühne. Trotz ihres unermesslichen Ehrgeizes vermochten die Eurasier keine wirksame Alternative zur kommunistischen Ideologie zu entwickeln. Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Indes herrschen in der Welt der Ideen eigentümliche Gesetze, die immer wieder Überraschungen bereithalten. Die Ende der 1930er-Jahre scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen sollten fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Bereits in der Endphase der Gorbačevschen Perestrojka, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken.

9. Wie bereits angedeutet, waren die Bolschewiki ihrem Selbstverständnis nach „Europäer“ gewesen. Wenn sie von der proletarischen Weltrevolution träumten, dann bezog sich diese ihre Vision in erster Linie auf die hochentwickelten Industrienationen des Westens. Was Russland anbetrifft, so verwandelten sie das von ihnen beherrschte Land in ein Experimentierfeld zur Verwirklichung von Ideen, die sie für die höchste Ausprägung des europäischen Geistes hielten. Ihrem Selbstverständnis nach setzten sie auch das Werk Peters des Großen fort, indem sie die „rückständigen“ russischen Strukturen zu modernisieren suchten. Die Folgen ihrer Handlungen waren allerdings denjenigen ihres großen Vorgängers geradezu entgegengesetzt. Peter der Große hatte die Kluft zwischen Ost und West, zumindest teilweise, überwunden, die Bolschewiki hingegen schotteten Russland erneut von der Außenwelt ab. Das Land wurde wieder, ähnlich wie

44 Trubeckoj: Evropa i čelovečestvo, 448.

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der Moskauer Staat im 16. und im 17. Jahrhundert, autark und verlor den Anschluss an die Moderne. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Vasallenstaaten Moskaus, die ab 1945 zum Bestandteil des „äußeren“ Sowjetimperiums wurden.

10. Umso erstaunlicher waren die Prozesse, die sich auf dem Kontinent in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts anbahnten. Zwei Teile Europas, die siebzig Jahre lang voneinander getrennt gewesen waren, begannen zusammenzuwachsen. Ein Teil der russischen Eliten wurde nun von der Sehnsucht erfasst, nach Europa zurückzukehren. Und es wäre völlig verfehlt, diese Sehnsucht als „romantische Schwärmerei“ abzutun, wie dies gelegentlich geschieht. Denn sie hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolutionen von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese „Sehnsucht“ und ohne den Verzicht des Reformflügels in der Gorbačev-Equipe auf die „Brežnev-Doktrin“, die der Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses“ eklatant widersprach, undenkbar gewesen. Die Heimat der „Diktatur des Proletariats“, das „Mekka“ der Unterdrückten der Erde wurde nun ähnlich „entzaubert“, wie Peter der Große dies vor dreihundert Jahren mit Moskau, dem unvergänglichen „Dritten Rom“ getan hatte. Nach dem petrinischen Verzicht auf den russischen „Sonderweg“ hatte das Land eine Chance erhalten, prägend an der Weiterentwicklung der europäischen Kultur in ihrer Gesamtheit mitzuwirken. Die Gorbačevsche Umwälzung schien Russland diese Chance erneut zu gewähren, nach einer etwa siebzigjährigen Trennung vom westlichen Diskurs. Inzwischen ist allerdings die Euphorie der Jahre 1989–91 verflogen. Isolationistische Kräfte nehmen sowohl im Westen als auch im Osten an Stärke zu und stellen den europäischen Charakter Russlands infrage. Die russischen „Europäer“, denen der Kontinent die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im Wesentlichen verdankt, stehen zur Zeit mit dem Rücken zur Wand und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens im Lande verloren zu haben – dies vor allem nach der Errichtung der „gelenkten Demokratie“ Vladimir Putins im Jahre 2000. Vladimir Putin profitierte von der Erosion sowohl des kommunistischen als auch des demokratischen Gesellschaftsentwurfs, die in Russland kurz nacheinander erfolgten. Die von vielen Russen als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion, die wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung zunächst beinahe halbierte und der immer schärfer werdende Kon-

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flikt zwischen dem Staatspräsidenten und dem Obersten Sowjet, der im Oktober 1993 zu bewaffneten Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt führte, trugen erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee bei. In das nun entstandene weltanschauliche Vakuum stieß das Putinsche System mit der Hervorhebung des Law-and-Order-Prinzips, einer bescheidenen Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung dank der vorübergehend hohen Preise für die Energieträger. Aus all diesen Gründen war das unter Putin entwickelte System der „gelenkten Demokratie“ durchaus populär. Eines wurde aber dabei außer Acht gelassen, nämlich die Tatsache, dass sich im System der „gelenkten Demokratie“ die herrschenden Gruppierungen der gesellschaftlichen Kontrolle weitgehend entziehen, was gefährliche Folgen für das Land haben kann. Die im Jahr 2000 vollzogene autoritäre Wende wird in Russland in einem immer stärkeren Ausmaß durch die Abkehr von den europäischen Ideen und durch die Liebeserklärung der Kreml-Führung an die eigene Nation begleitet. Nach der Angliederung der Krim an die Russische Föderation im März 2014 erreichte diese Tendenz ihren vorläufigen Höhepunkt. Russland gilt nun für die Verfechter der „gelenkten Demokratie“ als Hort der traditionellen Werte, die vom „dekadenten“ Westen angeblich verraten worden seien. Dem russozentrischen Konstrukt, das zu einer Art offizieller Ideologie des Putin-Systems wurde, fehlen aber gerade diejenigen Elemente, die z.B. der russischen Literatur eine außergewöhnliche Attraktivität verliehen. Denn zum Wesen der russischen Literatur gehörten ihre Wahrheitssuche und ihr Freiheitsdrang. Die Verteidiger der „gelenkten Demokratie“ hingegen haben ihre „Wahrheit“ bereits längst gefunden. Durch ihre Selbstbeweihräucherung verzichten die Moskauer Russozentristen ausdrücklich auf das Vermächtnis Peters des Großen, das die russische Kultur gegenüber der Außenwelt öffnete und ihr zur außerordentlichen Blüte verhalf. Dessen ungeachtet bleibt Russland, trotz der antiwestlichen Tiraden seiner heutigen Machthaber, weiterhin eine „europäische Macht“, wie Katharina die Große 1767 das von ihr regierte Land definierte. Das „Fenster nach Europa“, das Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts geöffnet hatte, veränderte den Charakter Russlands so stark, dass es für die Kritiker der petrinischen Reform nicht mehr möglich war, das Rad der Geschichte auf Dauer zurückzudrehen. Man kann davon ausgehen, dass auch die heutige Infragestellung der „europäischen Wahl“ Russlands nicht von Dauer sein wird. Früher oder später wird das Land den zu Beginn dieses Jahrhunderts unterbrochenen Prozess seiner „Rückkehr nach Europa“ sicherlich wieder aufnehmen.

„This European world of ours“? Perspektiven auf Europa in der englischen Literatur Bea Klüsener

1. DEAL, BAD DEAL OR NO-DEAL? „This European world of ours“ – mit dieser Phrase beschrieb der Philosoph Edmund Burke im späten 18. Jahrhundert den Zustand der Welt angesichts der Französischen Revolution. Interessanterweise stand am Ende dieser Phrase kein Fragezeichen. Aus Burkes Sicht war Großbritannien, vereinfacht gesagt, durchaus europäisch.1 Das war nicht immer so und wird auch im gegenwärtigen Diskurs wieder kontrovers diskutiert. Die aktuelle Debatte um den „Brexit“ erscheint in den Medien auf den ersten Blick vor allem als eine Diskussion über die wirtschaftliche und politische Positionierung Großbritanniens im Verhältnis zu Europa bzw. zur europäischen Union. Zölle, Märkte und Grenzen sind in diesem Kontext nur einige Schlagworte. Für Unsicherheit sorgt auch die Frage danach, wie die Situation der im EU-Ausland lebenden britischen Staatsangehörigen bzw. der EU-Bürgerinnen und -Bürger, die sich in Großbritannien aufhalten, nach dem Brexit aussehen wird. Hier geht es nicht nur um ökonomische Fragen, sondern auch um Fragen von Identität und Zugehörigkeitsgefühl.

1

Vgl. Stanlis, Peter: Burke, Rousseau, and the French Revolution. In: Blakemore, Steven (Hg.): Burke and the French Revolution, Athens 1992, 97–119.

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In der Auseinandersetzung zwischen Europaskeptikern und -befürwortern manifestiert sich eine Thematik, die eine lange Historie aufweist, nämlich die Frage danach, ob und in welchem Ausmaße sich Großbritannien als zu Europa bzw. zur Europäischen Union zugehörig oder als davon abgegrenzt konzeptualisiert.2 Vor diesem Hintergrund scheint es lohnenswert, die historischen Dimensionen britischer Perspektiven auf Europa zu beleuchten. Sowohl geografische als auch kulturelle sowie politische Definitionen von Europa sind in politischen Abhandlungen, Streitschriften, aber auch in literarischen Texten immer wieder ausgehandelt worden. Die Auseinandersetzung mit Europa scheint dabei im englischen Kontext ein wiederkehrendes Motiv darzustellen, wie dies auch Conal Condren zusammengefasst hat: „[…] the notions of Britain and Europe are mutually informing.“3 Man kann die Hypothese aufstellen, dass Europa im englischen Kontext als eine Art „counter-space“, als Gegenraum, aber auch als Spiegelbild konstruiert worden ist. Dieser Gegenraum kann positiv oder negativ besetzt sein, er kann Züge einer Utopie oder auch einer Dystopie tragen – und er kann in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft gespiegelt werden. 4 Wie haben sich also auf englischer Seite die Vorstellungen davon, was man als Europa bezeichnet, im Laufe der Jahrhunderte gewandelt? Wann und unter welchen Bedingungen hat man über Großbritannien als zu Europa zugehörig oder als davon abgegrenzt diskutiert? Der Beitrag beleuchtet kursorisch Perspektiven auf Europa in der englischen Literatur und zeigt an einigen Stellen exemplarisch Mechanismen der Annäherung beziehungsweise der Abgrenzung von Europa auf.5

2

Vgl. Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Wien 2001, sowie Anderson, Benedict: Imagined Communities, Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991 und Hague, Euan: Benedict Anderson. In: Hubbard, Phil / Kitchin, Rob / Valentine, Gill (Hg.): Key Thinkers on Space and Place, London 2004, 16–21.

3

Condren, Conal: English Historiography and the Invention of Britain and Europe. In: Milfull, John (Hg.): Britain in Europe: Prospects for Change, Aldershot 1999, 11–27, 12.

4

Vgl. Rau, Susanne: Räume, Frankfurt 2013, 96; 89.

5

Der vorliegende Beitrag erscheint in englischer Sprache unter dem Titel „‘This European world of ours‘? Perspectives on Europe in British Literature“ auch in Nate, Richard / Wiedemann, Julia (Hg.): Remembering Places. Perspectives from Scholarship and the Arts, Würzburg 2019, 55–76.

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2. „THAT PARTE OF THE WORLDE, WHYCHE WE DO INHABYTE“? 6 MITTELALTER UND RENAISSANCE Die wechselseitigen Beziehungen zwischen England und Europa blicken zweifelsfrei auf eine lange Historie zurück, beginnend mit der römischen Besetzung Britanniens um 43 nach Christus.7 Die römischen Einflüsse manifestierten sich unter anderem im Import römischer Erfindungen und der lateinischen Sprache. Weitere Prägungen resultierten aus den Angriffen der Angeln, der Sachsen und der Jüten ab dem 5. Jahrhundert.8 Mit dem Wirken des von Papst Gregor gesandten Augustinus und seiner Mönche in Kent um das Jahr 600 gingen die Christianisierung sowie der weitere Vormarsch des Lateinischen als Sprache der Gelehrten einher.9 Gerade vor dem Hintergrund der Christianisierung kam es zu einem regen kulturellen Austausch mit dem europäischen Kontinent. Alcuin of York wurde auf Einladung Karls des Großen hin gar oberster Gelehrter am Karolingischen Hof, was den regen intellektuellen Verkehr zwischen Britannien und dem Kontinent unterstreicht. Dies setzte sich unter der Herrschaft Alfreds von Wessex fort, der nach dem Vorbild Karls des Großen Schulen und Klöster gründen und seine Schüler einen Dialog mit europäischen Gelehrten verfolgen ließ.10 Die Herrschaft Wilhelms I. ab 1066 ist hier ein weiterer katalytischer Faktor, was sich nicht zuletzt aus sprachgeschichtlicher Perspektive erkennen lässt: Das Englische existierte als Volkssprache, das Lateinische als Sprache der Gelehrten sowie der Kirche und das normannische Altfranzösisch als Sprache der Herrschenden. Trotz oder gerade aufgrund dieser kontinentalen Einflüsse verwendeten englische Autoren die englische Sprache bewusst, etwa in Texten rund um die Artus-Legende.11 Hier eröffnet sich denn auch bereits das charakteristische Spannungsfeld zwischen Identifikation und Abgrenzung, das auch die folgenden Jahrhunderte prägen sollte. 6

Elyot, Thomas: The Dictionary of Syr Thomas Eliot Knyght, London 1538, s.v. Europa.

7

Vgl. Höttemann, Benedikt: Shakespeare and Italy, Münster 2011, 29, sowie Richmond, I.A.: Roman Britain, Harmondsworth 1963.

8

Vgl. Krieger, Karl-Friedrich: Geschichte Englands von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, München 1990, 31.

9

Vgl. Höttemann: Shakespeare and Italy, 29.

10 Vgl. Krieger: Geschichte Englands, 66. 11 Vgl. Nowak, Helge: Literature in Britain and Ireland, Tübingen 2010, 15.

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Manfred Pfister hat zutreffenderweise betont, dass wechselseitige Einflüsse zwischen Europa und England zwar schon früh existierten, dass man aber im englischen Kontext zumindest im Mittelalter noch nicht über Europa im Sinne einer gemeinsamen Kultur reflektierte.12 Der Terminus „Europe“ war nichtsdestominder bereits im Gebrauch. Geoffrey Chaucer, der beispielsweise Frankreich und Italien bereiste und sich Aspekte der italienischen Literatur für seine eigenen Werke nutzbar machte, erwähnt Europa in einigen seiner Texte, wobei Europa hier vor allem als geografische Kategorie in Erscheinung tritt.13 In der frühen Neuzeit kam es zu einer Intensivierung der Beziehungen zwischen England und Europa, nahm doch der Kontinent, insbesondere Italien, während der Renaissance bekanntermaßen eine Vorbildfunktion ein. Problematisch wurde dies erst im 16. Jahrhundert mit der Abspaltung der Anglikanischen Kirche von der Katholischen Kirche unter Heinrich VIII. in den Jahren 1533/34. 14 Vor dem Hintergrund des Bruchs mit Rom sowie zahlreicher Versuche der Rekatholisierung Englands in den Folgejahren war die Rezeption des Kontinents bei allem Enthusiasmus doch gleichzeitig auch von deutlicher Skepsis geprägt. 15 Mag die Begründung der Anglikanischen Kirche zunächst also als eine rein englische Angelegenheit erscheinen, so war sie de facto eng verwoben mit den religiös motivierten Konflikten auf dem europäischen Kontinent.16 Darüber hinaus befanden sich unter anderem England, Spanien und Portugal im Wettstreit um die koloniale Expansion – und damit gleichsam um die Verbreitung des Protestantismus bzw. des Katholizismus, aber auch um Rohstoffe und Sklaven. 17 Auf der einen Seite stand so also die ökonomische und interkonfessionelle Konkurrenz, die eine Besinnung auf die jeweils eigene Kultur mit sich brachte. Auf der anderen Seite jedoch stand die kollektive Konstruktion eines gemeinsamen Feindbilds in Form nicht-christlicher Gruppierungen, auf die man im Zuge der Kolonialisierung unweigerlich traf. Zudem wurde das Osmanische Reich als ein

12 Pfister, Manfred: Europa / Europe: Myths and Muddles. In: Littlejohns, Richard / Soncini, Sara (Hg.): Myths of Europe, Amsterdam 2007, 21–33, 25. 13 Vgl. Pfister: Europa / Europe, 26. 14 Vgl. Hiscock, Andrew: The Renaissance, 1485–1660. In: Poplawski, Paul (Hg.): English Literature in Context, Cambridge 2008, 110–210, 112f. 15 Vgl. Davies, Norman: Europe: A History, New York 1996, 545. 16 Vgl. Hadfield, Andrew: Introduction. In: Hadfield, Andrew / Hammond, Paul (Hg.): Shakespeare and Renaissance Europe, London 2005, 1–20, 5. 17 Vgl. Davies: Europe, 510ff.

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Feind begriffen, den christlich geprägte Länder notfalls gemeinsam zu bekämpfen hätten.18 Enzyklopädien der Zeit stellen Europa jedoch in der Regel primär als geografisches Gebilde dar. The Dictionary of Sir Thomas Elyot beschreibt „Europe“ als „that parte of the worlde, whyche we do inhabyte“ 19 – England ist hier also ein Teil von Europa. Für John Bullokar ist es „one of the three parts of the world lying toward the West. In it are contained England, Spain, France, Germany, Italie, all Greece, Crete, or Candy, beside many other kingdoms, great countries and Islands.“20 Auch Henry Cockeram definiert Europa als „This part of the world, contayning England, France, Spaine, &c.“21 Edmund Bohun kombiniert geografische und weitere Kategorien: „Europe, Europa, is the least, but most celebrated of the four general parts of the World, as to Arts, Commerce, Religion, Government and War.“22 Und für ihn gehört England eindeutig zu Europa: „Europe is now divided into the Kingdoms of Great Britain and Ireland, […].“23 Die geografische Zugehörigkeit Englands zu Europa wird also offenbar nicht infrage gestellt. Tendenzen der Abgrenzung zeigen sich dagegen in der Rezeption des Kontinents in zeitgenössischen Lehrwerken und Reiseberichten. Roger Ascham lobt in The Scholemaster (1563; 1570) unter anderem die italienische Gelehrtheit, die Sprache sowie die Jurisdiktion, stellt aber auch heraus, dass Italien in der Vergangenheit zwar groß gewesen, nun aber in einem Zustand des Niedergangs be-

18 Vgl. Kewes, Paulina: Contemporary Europe in Elizabethan and Early Stuart Drama. In: Hadfield, Andrew / Hammond, Paul (Hg.): Shakespeare and Renaissance Europe, 162. 19 Elyot: The Dictionary of Syr Thomas Eliot Knyght, s.v. Europa. 20 Bullokar, John: An English Expositor: Teaching the Interpretation of the Hardest Words Vsed in Our Language. With Sundry Explications, Descriptions, and Discourses, London 1616, s.v. Europa. 21 Cockeram, Henry: English Dictionarie: Or, An Interpreter of Hard English Words, London 1623, s.v. Europe. 22 Bohun, Edmund: A Geographical Dictionary: Representing the Present and Ancient Names of All the Counties, Provinces, Remarkable Cities, Universities, Ports, Towns, Mountains, Seas, Streights, Fountains, and Rivers of the Whole World, London 1693, s.v. Europe. 23 Bohun: Geographical Dictionary, s.v. Europe.

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fangen sei: „Italie […] is now […] in all corrupt manners.“24 Thomas Coryates Coryat’s Crudities Hastily Gobbled Up in Five Months Travels in France, Italy, & c (1611) rechnet ebenfalls mit Frankreich und erneut mit Italien ab. 25 Letzteres sei ein „irreligious place“ voller „diabolical perswasions“. Zwar sei insbesondere Venedig eine bewunderswerte Stadt und gewissermaßen jungfräulich, „a mayden city“26, da bislang noch nie erobert. Dennoch handele es sich bei Venedig auch um einen Hort der Sündhaftigkeit, was sich allein schon an den zahlreichen Prostituierten zeige, die die Stadt bevölkerten. Auch im zeitgenössischen Drama finden sich Verweise auf Europa als geografische Kategorie sowie auf katholisch geprägte Länder des Kontinents als negative Gegenräume zum gelobten England. Darüber hinaus stellt der Verweis auf die osmanische Gefahr für ein christliches Europa ein wiederkehrendes Motiv dar. In Christopher Marlowes Tragödie Tamburlaine the Great (1587/88) etwa wird behauptet, Europa befinde sich in einem Zustand der Angst ob der osmanischen Bedrohung – „[All Europe is] quak[ing] […] for fear“.27 Und die Darstellung Venedigs und Zyperns in Shakespeares Othello (1603/1604) bedient nicht nur englische Vorstellungen hinsichtlich der vermeintlichen Unmoral Italiens, sondern schürt zudem auch die Angst vor dem „turbaned Turk“.28 Interessanterweise kommt es gerade in Othello zu aussagekräftigen Überblendungen: Die Venezianer, so suggeriert der Text immer wieder, seien im Prinzip keinen Deut besser als die gefürchteten Türken. Shakespeare lässt etwa eine seiner venezianischen Figuren ob der zunehmenden Verrohung ihrer Sitten auf Zypern fragen: „Are we turned Turk?“29 In der Tragödie werden so das katholische Italien und die vermeintlichen Heiden miteinander gleichgesetzt und damit indirekt abgewertet.

24 Ascham, Roger: The Scholemaster, http://www.gutenberg.org/cache/epub/1844/ pg1844.html 20.1.2016, s.p. Vgl. Lamb, Julian: Rules of Use: Language and Instruction in Early Modern England, London 2014, 41f. 25 Coryate, Thomas: Coryate’s Crudities Hastily Gobbled Up in Five Months Travels in France, Italy, & c., http://www.archive.org/stream/coryatscrudities01coryuoft/coryat scrudities01coryuoft_djvu.tt 12.12.2018, 170. 26 Coryate: Coryate’s Crudities, 312. 27 Vgl. Marlowe, Christopher: Tamburlaine the Great I. http://www.gutenberg.org/ files/1094/1094-h/1094-h.htm, 30.6.2016, s.p. 28 Vgl. Shakespeare, William: Othello, Stuttgart 2013, Akt 5, Szene 2, Zeile 369. 29 Shakespeare: Othello, Akt 2, Szene 3, Zeile 161.

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Philosophische Abhandlungen des frühen 17. Jahrhunderts nehmen ebenfalls auf Europa Rekurs, wobei sich auch hier ein Spannungsfeld zwischen Identifikation und Abgrenzung eröffnet.30 Francis Bacon schlägt zum Beispiel in The Advancement of Learning (1605) eine enge Kooperation zwischen den europäischen Universitäten vor: […] the proficience of learning […] would be yet more advanced, if there were more intelligence mutual between the universities of Europe than now there is. […] [There should] be a fraternity in learning and illumination, relating to that paternity which is attributed to God, who is called the Father of illuminations or lights.31

Im Novum Organum (1620) äußert sich Bacon zudem zu einer vermeintlich überlegenen europäischen Kultur: „For there are deserts and wastes in times as in countries, and we can only reckon up three revolutions and epochs of philosophy. 1. The Greek. 2. The Roman. 3. Our own, that is the philosophy of the western nations of Europe […].“32 Und Thomas Sprat postuliert in seiner History of the Royal Society (1667) gar eine Vorrangstellung Englands in Europa: I have already […] insisted on some of the prerogatives of England; whereby it may justly lay claim to be the Head of a philosophical league, above all other countries in Europe. I have urged its […] present genius, and the disposition of its Merchants; and many more such arguments to encourage us. 33

Obschon der Begriff „Europe“ in Texten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in Verweisen auf Geografie, Kultur oder auch Sprache durchaus Verwendung findet, sucht man ein kohärentes Konzept Europas vergeblich. Mit Manfred Pfister mag man hier festhalten, dass eine Gemeinschaft meist dann beschworen wird, wenn es darum geht, sich von einem nicht-christlichen Feindbild abzugrenzen, 30 Vgl. Klein, Jürgen: Francis Bacon oder die Modernisierung Englands, Hildesheim 1987, 20, sowie Quinton, Anthony: Francis Bacon, Oxford 1980. 31 Bacon, Francis: The Advancement of Learning. http://www.gutenberg.org/files/5500 /5500-h/5500-h.htm, 28.2.2016, Book II, § 13, s.p. 32 Bacon, Francis: Novum Organum. http://www.gutenberg.org/files/45988/45988h/45988-h.htm, 28.2.2016, § LXXVIII, s.p. 33 Sprat, Thomas: The History of the Royal Society of London, For the Improving of Natural Knowledge, London 1667, https://books.google.de/books?hl=de&id=g30O AAAAQAAJ&q=europe#v=onepage&q=savage&f=false, 22.7.2015, 113f.

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das „den Westen“, den „Okzident“ oder die Christenheit34 bedroht. Ganz anders sieht es aus, wenn es um interkonfessionelle Konflikte innerhalb der christlichen Gruppierungen geht.35 Eine dezidiert „europäische Identität“ wird nicht konstruiert, aber Europa ist dennoch mehr als ein rein geografisches Gebilde: es erscheint als ein Pol, an dem sich englische Selbstbilder reiben, „sometimes emphasiz[ing] common European identity and sometimes embod[ying] insular notions of Englishness“36, wie es Paulina Kewes beschrieben hat.

3.

„[A] STATE OF EUROPE“? 37 ZWISCHEN WELTBÜRGERTUM UND ABGRENZUNG

Dieses Spannungsfeld tritt auch im späten 17. sowie im frühen 18. Jahrhundert hervor, wird jedoch um Ideen einer supra-nationalen Einheit ergänzt. Konfessionelle Konflikte prägen die englische Politik weiterhin, sowohl auf der nationalen wie auch auf der internationalen Ebene. Die Glorious Revolution von 1688 sowie die Durchsetzung der Bill of Rights im Folgejahr stellen hier nur zwei zentrale Momente dar.38 Norman Davies stellt zu Recht heraus, dass die Glorious Revolution in der Folgezeit zu einem regelrechten Mythos avanciert sei: England habe in diesem Ereignis sein Parlament gestärkt und der absoluten Monarchie sowie seinem katholisch orientierten Monarchen eine Absage erteilt. 39 Auch der fortschreitende Prozess der Kolonialisierung spielt für das Zusammenspiel der Nationen Europas eine Rolle.40 Außereuropäische Räume dienen dabei oftmals als Spiegel europäischer Verhältnisse, das Fremde als Spiegel des Selbst. Eine interessante Perspektive bringt der gebürtige Engländer (und spätere Gründer Pennsylvanias) William Penn mit seinem Essay Towards the Present and Future Peace of Europe by the Establishment of an European Dyet, Parliament, or Estates (1693) ein. Wie für viele seiner Zeitgenossen ist England für 34 Pfister: Europa / Europe, 26. 35 Vgl. Hadfield: Shakespeare and Renaissance Europe, 3. 36 Kewes: Contemporary Europe in Elizabethan and Early Stuart Drama, 150. 37 Penn, William: An Essay Towards the Present and Future Peace of Europe by the Establishment of an European Dyet, Parliament, or Estates, Boston 1912, 406. 38 Vgl. Morissey, Lee: The Restoration and Eighteenth Century, 1660–1780. In: Poplawski, Paul (Hg.): English Literature in Context, Cambridge 2008, 211–305, 220. 39 Davies: Europe, 631. 40 Morissey: The Restoration and Eighteenth Century, 1660–1780, 216.

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Penn ohne Frage ein Teil des geografischen Gebildes Europa. Die religiös motivierten Konflikte mit dem Kontinent sieht er jedoch ganz klar als einen separierenden Faktor. Um diesem Missstand zu begegnen, schlägt Penn eine Reorganisation europäischer Politik in Form einer supra-nationalen „Universal Monarchy“ vor.41 Die Kriege der Vergangenheit und der Gegenwart hätten den Kontinent und auch England im Grunde nur geschwächt und stünden im Widerspruch zu jedweder christlichen Überzeugung. 42 Die Lösung sieht Penn in der Gründung eines europäischen Parlaments, „the Parliament, or State of Europe“ 43, das sich regelmäßig beraten solle. Dies solle mittelfristig den „harrassed inhabitants“44 Europas den Frieden bringen. Ziel sei die Etablierung einer „Balance [that] cannot well be broken.“45 Und bezeichnenderweise ergänzt Penn seine Argumentation durch den Verweis auf das gemeinsame Feindbild in Form nichtchristlicher Gruppen: „Another Advantage is, the Great Security it will be to Christians against the Inroads of the Turk.“ 46 In Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) zeichnen sich wiederum Mechanismen der Abgrenzung und der Identifikation mit Europa vor dem Hintergrund einer exotischen Kulisse ab. Defoe lässt den Erzähler insbesondere dann auf eine imaginierte Gemeinschaft der Länder Europas zurückgreifen, wenn es darum geht, sich von nicht-europäischen Settings und nichteuropäischen, d.h. hier vor allem auch von nicht-christlichen Gruppen abzugrenzen. Indem Crusoe die Insel kolonialisiert, „europäisiert“ er sie gleichzeitig auch. So ist es für ihn bedeutsam, europäische Güter aus dem Wrack zu bergen: „a little remainder of European corn“ und „European coin“.47 Zudem führt Crusoe einen Kalender über die „European seasons“48 und etabliert auf der Insel mehr oder weniger seinen eigenen „europäischen“ Kosmos, der durch Crusoes Entdeckung eines Fußabdrucks im Sand erschüttert wird. Noch vor dem ersten Kontakt assoziiert Crusoe die Vertreter des Fremden mit Kannibalismus und sieht sich als „Europäer“ durch diese bedroht: „[I thought about] how I might fall into

41 Penn: An Essay Towards the Present and Future Peace of Europe, 415. 42 Vgl. ebd., 404. 43 Ebd., 406. 44 Ebd., 406. 45 Ebd., 407. 46 Ebd., 416. 47 Vgl. Defoe, Daniel: Robinson Crusoe, London 1994, 67ff. 48 Vgl. ebd., 107.

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the hands of savages […] [and how] they might kill me, as many Europeans who had fallen into their hands [...].“49 Der Erzähler distanziert sich jedoch ebenso immer wieder von Europa, wobei der Faktor Religion auch hier eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielt. Die koloniale Expansionspolitik Europas wird gar als dem christlichen Glauben diametral entgegengesetzt präsentiert: Crusoe erwähnt etwa „the Spaniards in all their barbarities practised in America, where they destroyed millions of these people“50 und prangert dieses Verhalten der katholischen Spanier an. Es gelte bei allen anderen Ländern Europas als Barbarei: „[It is seen] by all other Christian nations of Europe, as mere butchery.“51 Im 17. und frühen 18. Jahrhundert setzt sich eine Tendenz fort, die sich auch in der Renaissance beobachten lässt. Der Begriff Europa wird vor allem dann über geografische Aspekte hinausgehend verwendet, wenn es darum geht, sich von nicht-christlichen Gruppen als vermeintlich „Wilden“ abzugrenzen. Darüber hinaus wird Europa aber auch als eine Art im Geiste der Vernunft geeinte Gemeinschaft definiert, so etwa bei William Penn. Hier beginnt sich gerade auch vor dem Hintergrund „exotischer“ Szenerien – sei es die neue Welt, sei es Crusoes Insel – die Idee einer Art Weltbürgertum zu entwickeln.

4. „THIS EUROPEAN WORLD OF OURS“? ROMANTISCHE PERSPEKTIVEN AUF EUROPA Noch einmal facettenreicher gestalten sich Perspektiven auf Europa dann im Kontext der politischen Umbrüche zum Ende des späten 18. Jahrhunderts. Die Amerikanische und die Französische Revolution stellten existierende Machtkonstellationen und Normen infrage. Das Postulat der Menschenrechte, der Ruf nach Freiheit, Gleichheit sowie die Forderung nach dem Recht auf politischen Widerstand sowie politische Teilhabe müssten unweigerlich die Neugestaltung politischer Systeme in ganz Europa nach sich ziehen, so die Überzeugung vieler Zeitgenossen.52 In Großbritannien fielen die Reaktionen auf die Ereignisse in Frankreich durchaus kontrovers aus. Die Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der Französischen Revolution ist dabei vor allem im sogenannten 49 Ebd., 124. 50 Ebd., 169. 51 Ebd., 169. 52 Davies: Europe, 675.

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pamphlet war, aber auch in literarischen Texten nachvollziehbar. Ihren Befürwortern galt die Revolution als Schlag gegen solche Institutionen, die man als Instrumente der Unterdrückung verstand: Monarchie, das Ständesystem sowie die institutionalisierte Religion. Viele waren der Überzeugung, die Franzosen würden nun das vollenden, was die Briten 1688 mit der Glorious Revolution zwar vielversprechend begonnen, dann aber nicht zu Ende geführt hätten. 53 Unter anderem die liberale Revolution Society machte sich für politische Reform und für die Idee der Menschenrechte stark. Ihren Gegnern galt die Französische Revolution dagegen als Inbegriff von Gewalt, Anarchie und Chaos, insbesondere nach der Hinrichtung des französischen Monarchen.54 Die kriegerischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre spielten im britischen Kontext den Gegnern politischer Neuerung in die Hände. Reformer und Radikale wurden zu Staatsfeinden erklärt, und William Pitt ging als Premierminister mit harten Bandagen gegen das sogenannte „levelling“55 vor. Sein Seditious Meetings Act und der Treason Act mündeten in ein Versammlungsverbot und in die Verhaftungen zahlreicher liberaler Denker. 56 Die gravierenden Auswirkungen sowie die zunehmende Dynamik und Beschleunigung der von Frankreich ausstrahlenden Veränderungen führten zu einer Debatte über die Zukunft nicht nur Großbritanniens, sondern interessanterweise auch Europas. Der Begriff „Europe“ wurde in einem relativ dichten Netzwerk von Texten neu ausgehandelt und erfuhr während dieser Schwellenzeit eine Resemantisierung. Insbesondere die Texte der pamphlet wars sowie die zeitgenössische Lyrik verhandeln Europa dabei im Spannungsfeld zwischen Utopie und Dystopie. Bereits im Jahr 1789 glorifizierte Richard Price in seiner Schrift A Discourse on the Love of Our Country die Ereignisse in Frankreich. Die im Titel erwähnte Liebe zum eigenen Land sei bedeutsam, solle jedoch nicht den kritischen Blick auf eventuelle Missstände verhindern. Price meint dabei mit „country“ nicht so sehr ein geografisches Gebilde, sondern vielmehr eine Art imaginierter Gemeinschaft, „[…] that body of companions and friends and kindred who are associated with us under the same constitution or government, protected by the same laws, and bound together by the same civil polity.“ Auch bedeute die Liebe zum eigenen Land nicht, dass man dieses als anderen Ländern überlegen begreife: 53 Vgl. Condren: English Historiography and the Invention of Britain and Europe, 14. 54 Davies: Europe, 677. 55 Claeys, Gregory: The French Revolution Debate in Britain, Basingstoke 2007, 68. 56 Vgl. ebd., ix ff.

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„[…] It is proper to observe […] that even in this sense of our country, that love of it which is our duty, does not imply any particular conviction of the superior value of it to other countries, or any particular reference of its laws and constitution of government.“57 Unbedingt zu vermeiden sei ein „spirit of rivalship […] among nations“58, da ein solches Rivalisieren lediglich in Krieg resultiere. Price spricht sich dagegen für eine supra-nationale Perspektive bzw. für eine Art Weltbürgertum aus: „[…] we ought to consider ourselves as citizens of the world, and take care to maintain a just regard to the rights of other countries.“59 Der gegenwärtige Zeitpunkt sei eine Gelegenheit, solche Ideale nunmehr in die Praxis zu überführen. Die politischen Umbrüche in Frankreich hätten, ganz ähnlich wie ein Jahrhundert zuvor die Glorious Revolution in England, diese Chance eröffnet60: Thirty millions of people, indignant and resolute, [can be seen] spurning at slavery, and demanding liberty with an irresistible voice; […] and an arbitrary monarch surrendering himself to his subjects. […] [The revolution] warms and illuminates Europe.61

Price stilisiert den Kontinent, insbesondere Frankreich, zum Vorbild und Lichtbringer für Großbritannien. Das Grenzen transzendierende Weltbürgertum in Europa wird als eine Art utopischer Zukunftsvision präsentiert, die sich von Frankreich aus verwirklichen soll. Eine ähnlich enthusiastische Reaktion zeigt sich auch in Maria de Fleurys Gedicht British Liberty Established (1789). Wie Price sieht sie die Welt im Umbruch begriffen. Die Vergangenheit sei ein Zeitalter der Tyrannei gewesen, das nun sein Ende finde: Let Tyrants tremble, while his awful roar Confusion flings on arbitrary pow’r; […] let despotism flee, European bosoms pant for Liberty; 57 Price, Richard: A Discourse on the Love of Our Country, Delivered on November 4th at the Meeting House of the Old Jewry, London 1789. In: Butler, Marilyn (Hg.): Burke, Paine, Godwin and the Revolution Controversy, Cambridge 1984, 23–33, 25. 58 Ebd., 25. 59 Ebd., 26. 60 Ebd., 28. 61 Ebd., 31.

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An injur’d People claim the rights of men, A mighty good, well bought with present pain.62

In Europa stünde die Umsetzung der Idee der Menschenrechte auf dem Spiel, für die es sich auch den mit den aktuellen Umwälzungen verbundenen Schmerz zu erdulden lohne. De Fleury inkludiert zudem einen Verweis auf die Vorreiterrolle Großbritanniens mit Blick auf die Ereignisse von 1688: „Gallia no more shall under bondage groan, / But boast a Constitution like our own. The British.“63 Wenn der Geist der Glorious Revolution nach Europa überspringe, dann sei dort eine neue politische Ordnung denkbar. Auch William Blake kommentiert die Französische Revolution bereits recht früh in seinem Gedicht The French Revolution (1791). Der Autor verlegt die Generalversammlung der Stände 1789 von Versailles nach Paris 64 und zeichnet eine finstere Endzeitvision des französischen Systems: „The Dead brood over Europe: the cloud and vision descends over cheerful France; […].“65 Der französische Monarch sei „sick, sick“66, nicht mehr länger in der Lage, die Insignien seiner Macht zu halten. Die „darkness of old times“67, das alte System, wird durch die Bastille symbolisiert, die nun vom Licht der neuen Ära geflutet wird: But the dens shook and trembled: the prisoners look up and assay to shout; they listen, / Then laugh in the dismal den, then are silent; and a light walks round the dark towers / For the Commons convene in the Hall of the Nation; like spirits of fire in the beautiful / Porches of the Sun, to plant beauty in the desert craving abyss, they gleam / On the anxious city: […].68

Wie Richard Price bedient sich Blake hier der Bildlichkeit von Licht und Dunkel und assoziiert die neue Zeit mit prometheischem Feuer. Aus konservativer Sicht äußert sich dagegen der Philosoph und Politiker Edmund Burke. In seinem Essay Towards An Abridgment of English History 62 De Fleury, Maria: British Liberty Established and Gallic Liberty Restored; or: The Triumph of Freedom: A Poem, London 1790, 21. 63 De Fleury: British Liberty Established and Gallic Liberty Restored, 21. 64 Vgl. Erdman, David V.: Blake: Prophet Against Empire, New York 1977, 164. 65 Blake, William: The French Revolution: A Poem, London 1791, Zeile 1. 66 Ebd., Zeile 2. 67 Ebd., Zeile 17. 68 Ebd., Zeilen 52 ff..

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(1757) lobt Burke zunächst die bisherigen Errungenschaften Europas. Er sieht dabei verschiedene Länder geeint durch gemeinsame europäische Wurzeln, die er gemäß Peter Stanlis wie folgt beschreibt: „Graeco-Roman culture and especially Roman civil law, Christian religion and morality, and the Teutonic customs and manners of the tribes which had overrun the Roman Empire.“69 Dementsprechend stellt Burke die Französische Revolution als ein Ereignis dar, das diese gewachsene Kultur und Ordnung zu zerstören drohe. In seinen Letters on a Regicide Peace (1796–97) entwickelt er die Idee eines „commonwealth of Europe“70, das in der Vergangenheit existiert und auf allen Ländern Europas gemeinsamen Charakteristika beruht habe: From this resemblance in the modes of intercourse, and in the whole form and fashion of life, no citizen of Europe could be altogether an exile in any part of it. There was nothing more than a pleasing variety to recreate and instruct the mind, to enrich the imagination, and to meliorate the heart. When a man travelled or resided, for health, pleasure, business, or necessity, from his own country, he never felt himself quite abroad. 71

Während Price also eine Art Weltbürgertum und eine länderübergreifende Gemeinschaft in die Zukunft projiziert, sieht Burke diese in der Vergangenheit liegend und nunmehr bedroht. Ähnlich skeptisch hinsichtlich der Ereignisse in Frankreich äußert sich William Hamilton in seinen Letters on the Principles of the French Democracy (1792), in denen er die französischen Vordenker der Revolution der Sophisterei bezichtigt.72 Zwar brüste man sich mit einer vermeintlichen Besinnung auf die Vernunft als oberstes Prinzip, das Resultat sei jedoch lediglich die Entfesselung von „anarchy, that universal monster of destruction“.73 Damit werde nunmehr der Frieden in Europa gefährdet.74 Die Idee gleicher Rechte für alle Menschen sei eine Illusion: „It exists only in that archetype of false reasoning, that proten69 Vgl. Stanlis: Burke, Rousseau, and the French Revolution, 99. 70 Burke, Edmund: Select Works of Edmund Burke, vol. 3 (Letters on a Regicide Peace). https://oll.libertyfund.org/titles/burke-select-works-of-edmund-burke-vol-3, 29.1.2019, s.p. vgl. Stanlis: Burke, Rousseau, and the French Revolution, 104. 71 Burke: Select Works, s.p. 72 Hamilton, William: Letters on the Principles of the French Democracy, Dublin 1792, 7. 73 Ebd., 8. 74 Ebd., 12.

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tous meteor of discord, which the National Assembly of France has floated in the troubled atmosphere of Europe.“75 Unterstützer politischer Reform gelten Hamilton als „enemies of mankind“76 und werden damit auch im eigenen Lande regelrecht dämonisiert. Im Gegensatz zu Richard Price sieht Hamilton Europa als bedrohlichen Gegenraum zu Großbritannien, von dem es sich abzugrenzen gelte. Zwar lobt er, wie Burke, europäische kulturelle Errungenschaften der Vergangenheit, distanziert sich aber ebenso wie Burke von den Entwicklungen der Gegenwart. Ein ganz anderes Bild von Europa zeichnet wiederum Mary Wollstonecraft. An Historical and Moral View of the Origin and Progress of the French Revolution and the Effect it Has Produced in Europe (1795) beschreibt die Gegenwart als eine Zeitenwende, auf die eine glorreiche Zukunft folgen solle. Gegenwärtig befinde sich Europa in einer Art Übergangsphase: „Europe will probably be, for some years to come, in a state of anarchy; till a change of sentiments, gradually undermining the strong-holds of custom, alters the manners […].“77 In der Zukunft jedoch sollten Menschen sich nicht mehr einem Land zugehörig fühlen, sondern sich als „citizens of the world“ begreifen. Dieses Selbstverständnis, so Wollstonecraft, werde soziale Gerechtigkeit und Frieden nach sich ziehen: „Let not […] the happiness of one half of mankind be built on the misery of the other, and humanity will take place of charity, and all the […] virtues of an universal aristocracy.“78 Und auch Thomas Paine übt in seinen Rights of Man (1791 und 1792) Kritik an Burkes Glorifizierung der Vergangenheit eines vermeintlich großen „commonwealth of Europe“. Aus diesem Grunde lobt er die Französische Revolution als Vorbild für den Rest Europas und betont die Notwendigkeit der Revolution: „[Revolutions] arise, as an unavoidable consequence, out of the ill construction of all old governments in Europe, England included with the rest.“79 Die postrevolutionäre Zukunft Europas soll dagegen, so Paines Idee, nach einer Phase des Übergangs geprägt sein von einer Art Weltbürgertum, „[a] universal 75 Ebd., 36. 76 Ebd., 47. 77 Wollstonecraft, Mary: An Historical and Moral View of the Origin and Progress of the French Revolution and the Effect it Has Produced in Europe. https://oll.libertyfund. org/titles/wollstonecraft-an-historical-and-moral-view-of-the-origin-and-progress-ofthe-french-revolution, 29.1.2019, s.p. 78 Wollstonecraft: An Historical and Moral View, s.p. 79 Paine, Thomas: Rights of Man. https://oll.libertyfund.org/titles/paine-the-rights-ofman-part-i-1791-ed, 29.1.2019, 37.

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right of citizenship“80. Dies führe, und hier zeigt sich schon eine heilsgeschichtlich anmutende Rhetorik, zu einer „regeneration of man“81. Europa solle von einem „European Congress“82 regiert werden, damit schließlich eine transnationale Einheit entstehen könne. Für solche Perspektiven wurden Paine und seine Mitstreitenden unter anderem von Arthur Young in dessen Streitschrift The Example of France: A Warning to Britain (1794) heftig kritisiert. Frankreich, und mit ihm ganz Europa befinde sich in einem Zustand der Anarchie und des Zerfalls, weshalb man sich aus britischer Perspektive abzugrenzen habe.83 Ähnlich lautet auch die Kritik James Halls in The Lord’s Voice Crying to the Nations of Europe (1794). Hall beschuldigt Frankreich der Amoral und sieht die Gefahr der Verbreitung solcher Ideen in Europa.84 Für die Zukunft jedoch hofft Hall auf eine politische Neuorientierung Frankreichs und Europas und auf ein gemeinsames Hinwirken auf Freiheit und Frieden im christlichen Glauben: „We hope to see the Glorious day, when Britons and Frenchmen will join in singing a hymn to Liberty: when the silly ca ira shall be exchanged for the sublime strains of praise to the Giver of all good.“85 Kritische Perspektiven auf den revolutionären Raum Europa finden sich in der zeitgenössischen Lyrik gleichermaßen. Ein anonym publizierter Text, The Republicans to the Devil (1794), sieht die Anhänger republikanischer Ideen in England gar als mit dem Teufel im Bunde: To Satan in Hell, where he sat on his Throne, A few Rebels from Britain preferr’d their petition, That he for his friends would Republicans own, And proclaim them, his fav'rite sons of sedition; For this was their aim, Wherever they came, To set all in confusion, the world in a flame:

80 Ebd., 82. 81 Ebd., 122. 82 Ebd., 168. 83 Young, Arthur: The Example of France: A Warning to Britain, London 1794, 9. Vgl. auch ebd., 32. 84 Hall, James: The Lord’s Voice Crying to the Nations of Europe, Glasgow 1794, 14ff. 85 Ebd., 18. Ähnlich auch Anonym: Europe in Danger, London 1794.

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And they begg’d he’d instruct them now best to convey Wealth, Glory, and Freedom, from Britain away. 86

Schlüge man in Großbritannien einen ähnlichen Weg ein wie in Frankreich, so führe dies unweigerlich in den Untergang. Sogar Autoren, die sich zuvor für den politischen Umbruch stark gemacht hatten, nahmen um die Wende zum 19. Jahrhundert davon Abstand, wie etwa William Wordsworth in Great Men have been among us: Great men have been among us; hands that penned And tongues that uttered wisdom – better none: The later Sidney, Marvel, Harrington, Young Vane, and others who called Milton friend. These moralists could act and comprehend: They knew how genuine glory was put on; Taught us how rightfully nation shone In splendour: what strength was, that would not bend But in magnanimous meekness. France, ‘tis strange, Hath brought forth no such souls as we had then. Perpetual emptiness! unceasing change! No single volume paramount, no code, No master spirit, no determined road; But equally a want of books and men!87

Der pro-europäischen Orientierung einiger seiner liberalen Zeitgenossen stellt Wordsworth hier eine Besinnung auf das genuin „Britische“ als etwa Frankreich überlegen entgegen. Und auch Anna Laetitia Barbauld zeichnet in Eighteen Hundred and Eleven (1812) eine düstere Vision des zukünftigen Großbritanniens und Europas insgesamt. Man solle in Großbritannien den Blick nicht nur auf die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent richten. Vielmehr gebe es im eigenen Land hinreichend Bedarf für politische Reformen, an denen man sich jedoch 86 Anonym: The Republicans to the Devil. In: The Gentleman’s Magazine, London (1794) 558. 87 Wordsworth, William: Great Men Have Been Among Us. In: Ders. (Hg.): Poems by William Wordsworth: Including Lyrical Ballads, and the Miscellaneous Pieces of the Author, London 1807, 213.

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nicht versuche, sondern leider den externen Feind Frankreich fokussiere. Aufgrund der widrigen Umstände in Großbritannien finde nämlich eine Abwanderung von Menschen in die neue Welt statt, wo man sich bessere Lebensbedingungen erhoffe.88 Die Zukunft sowohl Großbritanniens als auch Europas sieht Barbauld daher als finster: England, the seat of arts, be only known By the gray ruin and the mouldering stone; That Time may tear the garland from her brow, And Europe sit in dust […]. […] The worm is in thy core, thy glories pass away; […] With grandeur’s growth the mass of misery grows. For see, – to other climes the Genius soars, He turns from Europe’s desolated shores […].89

Hoffnungen, die im Zuge des pamphlet war also auf Europa projiziert worden waren, werden nunmehr in die Ferne übertragen, nachdem der gemeinsame Raum Europa als gescheitert dargestellt wird. Der Begriff Europa erfährt im späten 18. Jahrhundert tatsächlich eine Resemantisierung. Stärker als zuvor wird er nicht mehr zwingend nur im geografischen Sinne verwendet. Vielmehr wird Europa im zeitgenössischen Diskurs dezidiert als grenzübergreifendes kulturelles und politisches Gebilde konstruiert und erfüllt verschiedene Funktionen. Bei Burke und anderen konservativen Denkern wird Europa als kulturelle Gemeinschaft in die Vergangenheit gespiegelt. Großbritannien wird dabei als Teil Europas gesehen, müsse sich nun aber aufgrund der politischen Erschütterungen auf dem Kontinent davon lösen und seinen eigenen Weg gehen. Liberale Autorinnen und Autoren wie Mary Wollstonecraft oder Mary de Fleury projizieren Europa als transnationalen Raum dagegen in eine unbestimmte Zukunft, verbunden mit der Realisierung der Idee der Menschenrechte und des Friedens. Insbesondere vor dem Hintergrund der Koalitionskriege und der verheerenden kriegerischen Auseinandersetzungen des frühen 19. Jahrhunderts stellt die Abgrenzung von Europa jedoch die dominierende Tendenz dar.

88 Barbauld, Anna Laetitia: Eighteen Hundred and Eleven. In: Wu, Duncan (Hg.): Romanticism: An Anthology, Chichester 2012, 46–55, Zeile 71. 89 Barbauld: Eighteen Hundred and Eleven, Zeilen 123–126; 314; 320–322.

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5. „FRIGHTFUL NATIONALIST QUARRELS“ 90 BRITISCHE EUROPABILDER IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Dass Beziehungen zwischen Großbritannien und Europa in den folgenden Jahrhunderten nicht minder problematisch waren, ist bekannt. Auch im 19. Jahrhundert ist die britische Politik beeinflusst von politischen Entwicklungen und Konflikten auf dem Kontinent. International baut das Britische Empire seine Vormachtstellung zunehmend aus und erreicht zum Ende des 19. Jahrhunderts seine maximale Ausdehnung. Darwinismus, Sozialdarwinismus, aber auch kriminalanthropologische Theorien dienen dabei dazu, die eigene vermeintliche Vormachtstellung auf dem internationalen Parkett zu legitimieren. Davon legen wissenschaftliche Abhandlungen, Reiseberichte und auch Romane des 19. Jahrhunderts immer wieder Zeugnis ab. Eine Figur wie Bram Stokers Vampir Dracula (1897) symbolisiert unter anderem die Angst vor der zunehmenden Einwanderung von Menschen aus dem Osten Europas. Im Roman wird diese Gegend auch zu „one of the wildest and least known portions of Europe“91 erklärt. Und Dracula selbst äußert, er entstamme einem „whirlpool of European races“92. Dass der Vampir als vermeintlich „degeneriert“ und biologisch „minderwertig“ gezeichnet wird, ist aus dem wissenschaftlichen Diskurs der Zeit heraus erklärbar und durchaus im Einklang mit Tendenzen der Abgrenzung von allem Fremden bei gleichzeitiger Wertschätzung des Britischen. Das Fremde kann hier nun auch kontinentaler Natur sein – die Idee des Weltbürgertums weicht zunehmend einer Besinnung auf die Nation. Eine männerdominierte, starke und auch militärisch wehrhafte Christenheit, eine sogenannte „muscular Christianity“93, solle Großbritannien vor den vermeintlichen Bedrohungen beschützen und so – hier zeigen sich Spuren eugenischer Theorien – den Fortbestand der Briten gewährleisten. 90 Churchill, Winston: Mr Winston Churchill speaking in Zurich 19th September 1946. http://www.churchill-society-london.org.uk/astonish.html, 15.1.2019, s.p. 91 Stoker, Bram: Dracula. https://en.wikisource.org/wiki/Dracula, 29.1.2019, 2. 92 Ebd., 32. 93 Nünning, Ansgar: Das Britische Empire in der viktorianischen Literatur. In: Nünning, Vera (Hg.): Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Gegenwart bis zur Renaissance, Tübingen 2005, 196–206, 200. Vgl. auch Hall, Donald E.: Muscular Christianity: Reading and Writing the Victorian Male Social Body. In: Ders. (Hg.): Muscular Christianity: Embodying the Victorian Age, Cambridge 1994, 3–13.

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Europa, beziehungsweise einzelne Länder Europas, sind dabei immer auch Konkurrenten im kolonialen Wettstreit. Joseph Conrad lässt seinen Erzähler Marlow in Heart of Darkness (1901) diesbezüglich eine interessante Bemerkung machen. Wenn Marlow den ehrgeizigen belgischen Elfenbeinjäger Kurtz sowie dessen Gräueltaten im Kongo beschreibt, liest sich dies wie folgt: „All Europe had contributed to the making of Kurtz.“ 94 Europa wird mit Gier und ökonomischer Zügellosigkeit assoziiert, wenngleich es bei Conrad auch ein Stück weit Spiegel Großbritanniens und seiner Rolle als Kolonialmacht sein mag. Ideale wie das einer „muscular Christianity“ erfahren in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zwar ihre Erschütterungen; nichtsdestominder bleibt der Fokus auf kolonialer Expansion und Konkurrenz noch relativ lange bestehen und prägt britische Selbstbilder – auch in Abgrenzung von kontinentalen Gegnern. Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spricht Winston Churchill dann in seiner berühmten Rede an der Universität Zürich von der „Tragedy of Europe“95. Dabei entwirft Churchill ein Szenario, das Europa einen Neuanfang ermöglichen soll. Dazu müssten die Europäer die von den „Teutonic nations“ angezettelten „frightful nationalistic quarrels“ beilegen. So sei die „European Family“ neu zu erschaffen und es sei der Weg geebnet für die „United States of Europe“. Großbritannien, das Commonwealth, Amerika, im Idealfall auch die Sowjetunion müssten „the friends and sponsors of the new Europe“ 96 sein. Von einer aktiven Teilhabe Großbritanniens an der europäischen Integration war also nicht die Rede, wogegen man eine „special relationship“97 mit den Vereinigten Staaten durchaus anstrebte. Eine Einschränkung nationaler Souveränität auf britischer Seite wurde nicht ins Auge gefasst.

94 Conrad, Joseph: Heart of Darkness, Boston 1996, 66. 95 Churchill, Winston: Mr Winston Churchill speaking in Zurich 19th September 1946, s.p. 96 Churchill, Winston: Mr Winston Churchill speaking in Zurich 19th September 1946, s.p. 97 Vgl. Reynolds, David: The Churchill Government and the Black American Troops in Britain during World War II. In: Transactions of the Royal Historical Society 35 (1985) 113–133.

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6. ZWISCHEN BREXIT BLUES UND FULL ENGLISH BREXIT – AUSBLICK Eine politische Annäherung Großbritanniens an Europa gestaltete sich in der Folgezeit weiterhin schwierig und mündet schließlich in das bekannte Referendum am 23. Juni 2016. Die Diskussion um den Brexit in Großbritannien manifestiert sich nicht nur in den Printmedien, im TV sowie in unzähligen Blogs, sondern auch in zeitgenössischer Musik. Isaac Adni besingt in seinem Brexit Blues etwa die Gespaltenheit vieler Briten bezüglich des Referendums: „People voted / Without knowing what for / They blamed the immigrants / For making them poor […]“.98 Und Folk-Musiker Billy Bragg lässt in Full English Brexit einen fiktiven Brexit-Befürworter zu Wort kommen: „Once we ruled over an empire / So it feels like some kind of defeat / To comply with rules drawn up by strangers / And measure in metres not feet […].“99 Betrachtet man diesen Songtext sowie weitere Dokumente der aktuellen Brexit-Debatte vor dem Hintergrund der zuvor angesprochenen Quellen, so lassen sich durchaus Bezüge herstellen. Das Beharren auf Souveränität, die Glorifizierung eines vergangenen Empires, die Angst vor vermeintlicher „Überfremdung“, aber auch das (schon in der Romantik zutage tretende) Sympathisieren mit Europa als idealisiertem Raum – all dies sind Elemente in der gegenwärtigen Diskussion, die historisch verortbar sind. Ob dies ein Verständnis aktueller Zusammenhänge erleichtert, muss sicher ein Stück weit offen bleiben. Fest steht aber doch: „Großbritannien“, und eben auch Europa erscheinen nach wie vor als kontingente Räume, deren Semantik einer ständigen Neuaushandlung bedarf und es auch weiterhin bedürfen wird.

98 Adni, Isaac: Brexit Blues. https://www.youtube.com/watch?v=GncH2H9eHSQ (15.1. 2019). 99 Bragg, Billy: Full English Brexit. In: Ders.: Bridges Not Walls. Cooking Vinyl 2017.

Europäische Träume: Überlegungen zu Europanarrativen der Moderne Richard Nate

Seit die Europäische Union zunehmend durch Krisenerscheinungen geprägt ist, wird häufig die Frage gestellt, ob Europa nicht ein Narrativ benötige, damit mehr Menschen sich mit dieser politischen Idee identifizieren können.1 Im Vergleich zu den sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Nationalgeschichten, deren identitätsstiftende Wirkung nach wie vor evident ist, hat es tatsächlich den Anschein, als würde die Europäische Union über keine vergleichbare Erzählung verfügen.2 Wie aber könnte eine solche Erzählung aussehen? Weitgehend einig war man sich bislang, dass der Integrationsprozess, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Westeuropa begann und sich nach 1990 auch auf mittel- und osteuro-

1

So etwa Weidenfeld, Werner: Europa muss seine Seele wiederfinden. In: Politikum 3, 1 (2017), 74–75, 75. Siehe zu dieser Debatte auch schon Schönhoven, Klaus: Europa als Erinnerungsgemeinschaft. Abschiedsvorlesung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim am 13. September 2007, Bonn 2007, 12. Auf die identitätsstiftende Funktion von kulturellen Erzählungen haben Theoretiker des kulturellen Gedächtnisses immer wieder hingewiesen, vgl. etwa Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 40ff. Kritisch zu etablierten EU-Narrativen wie dem der Friedenssicherung oder der Überwindung des Nationalismus äußerte sich hingegen unlängst Lübbe-Wolff, Gertrud: Ein Narrativ für die Europäische Union? Gegen den verbreiteten politischen Kitsch im Verhältnis zu Europa. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.1.2018, 9.

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Hroch, Miroslav: Zwischen nationaler und europäischer Identität. In: Boer, Pim den et al. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, 75–87, 78.

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päische Länder erstreckte, sich für eine heroisierende Darstellung nach dem Vorbild der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kaum eignet. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass dieser Integrationsprozess vor allem negativen Erfahrungen geschuldet ist. So ist unstrittig, dass der europäische Einigungsgedanke der Nachkriegszeit sich nicht einem Stolz auf gemeinsam Erreichtes verdankte, sondern auf der Einsicht beruhte, dass die dahin beschrittenen Wege einer Korrektur bedurften. Während die nationalgeschichtliche Erinnerung des 19. Jahrhunderts auf kollektive Mythen gesetzt hatte – die sie ihren wechselnden Bedürfnissen mitunter recht freimütig anzupassen verstand –,3 empfand man ein solches Verfahren bei dem Bemühen um die Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses offenbar als weniger angemessen. Nach zwei verheerenden Kriegen schien eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte kontinentaler Zerwürfnisse allemal angezeigter als eine Fortführung der nationalen Erinnerungskultur auf europäischer Ebene. Als Ulrich Beck 2006 für eine kritische Selbstreflexion warb, um als Basis für die Entwicklung eines „kosmopolitischen Europas“ zu dienen, brachte er diesen Gedanken noch einmal auf den Punkt. Nach seiner Ansicht bildete das nach 1945 etablierte Europa nichts anderes als die „Antithese zum nationalistischen Europa und seiner moralischen und physischen Verwüstung“. 4 Ein „selbstkritisches Experimentaleuropa“, das gleichsam eine „institutionalisierte Kritik des europäischen Weges an sich selbst“ darstellte, sollte sich nach Becks Vorstellung zwar in seiner Geschichte verwurzelt wissen, gleichzeitig aber auch mit seiner Tradition brechen und gerade hieraus seine besondere Stärke gewinnen. 5 Mit anderen Worten: Nicht um eine in sich geschlossene und deshalb leicht konsumierbare Europa-Erzählung ging es dem Autor, sondern um die Bereitschaft zur Unterbrechung einer allzu publikumsfreundlichen Erzählung. So sinnvoll Becks Überlegungen angesichts der traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts anmuten, so deutlich zeichnet sich in den letzten Jahren ab, wie wenig geeignet sie sind, in Krisenzeiten eine Bindungskraft zu entfalten. Vergleicht man das Programm des Autors mit den traditionellen „Meistererzäh-

3

Siehe hierzu in vergleichender Perspektive die Beiträge in Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, München – Berlin 22001, für die Nationalmythen der Deutschen Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, 31ff.

4

Beck, Ulrich: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt a.M. 2006,

5

Beck: Der kosmopolitische Blick, 252.

252.

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lungen“ nationalgeschichtlicher Provenienz,6 dann erweisen sie sich eher als sperrig. Tatsächlich widerspricht Becks Forderung, Europa solle seine „Identität im Bruch“ finden, ja geradezu dem Prinzip einer kohärenten Erzählung. Becks Überlegungen verdanken sich, wie es scheint, eher dem Einfluss kritischer Revisionen der Nationalgeschichte, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in der westlichen Welt herausbildeten. Nicht mehr auf die „großen Erzählungen“ – etwa die im Begriff „manifest destiny“ enthaltene Vorstellung eines göttlichen Auftrags zur Eroberung des amerikanischen Kontinents – konzentrierte sich hier das historische Interesse. Vielmehr wurden nun verstärkt die oftmals negativen Erfahrungen von ethnischen und kulturellen Minderheiten in den Blick genommen. Solche Neuorientierungen standen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang mit einer verstärkten Reflexion des Verhältnisses von Sprache und Erinnerung. Eine Publikation, die hier exemplarisch für viele andere angeführt werden kann, ist George Lakoffs und Mark Johnsons Buch Metaphors We Live By (1980), in dem es eigentlich um metaphorisch geprägte Formen der Wirklichkeitserfahrung ging, in dem die Autoren aber auch Überlegungen zur Janusgesichtigkeit identitätsstiftender Mythen anstellten. Wenn festgestellt wurde, solche Erzählungen erfüllten die überaus wichtige Funktion, kollektive Erfahrungen zu strukturieren und das Alltagsleben zu erleichtern,7 war dies zunächst ein seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgerufener Topos.8 Nach Ansicht von Lakoff und Johnson barg die Ordnungsfunktion von Mythen aber zusätzlich ein ernsthaftes Problem. Da, wie alle sprachlichen Repräsentationen, auch kollektive Erzählungen von Zuspitzungen und Verkürzungen geprägt waren, gerieten bestimmte Aspekte der historischen Realität regelmäßig in den Vordergrund, während andere vernachlässigt wurden. Bezogen auf den nordamerikanischen Kontinent ließe sich etwa an die lange Zeit gefeierte verkehrstechnische Erschließung desselben denken, in deren Licht die damit einhergehende Verdrängung indigener Lebensformen schlichtweg aus dem Blick geriet. 6

Der Begriff leitet sich aus dem englischen Wort „master narrative“ ab. Zu dessen theoriegeschichtlichen Hintergründen vgl. Nate, Richard: „Master Tropes“ und „Master Narratives“: Zu den rhetorischen Implikationen literatur- und kulturwissenschaftlicher Konzepte. In: Ueding, Gert / Kalivoda, Gregor (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung: Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, Berlin – New York 2014, 113–128.

7

Lakoff, George / Johnson, Mark: Metaphors We Live By, Chicago – London 1980,

8

Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, Stutt-

185. gart 2005, 7.

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Identitätsstiftende Mythen bargen nach Ansicht von Lakoff und Johnson deshalb die Gefahr, im schlimmsten Fall auch eine „human degradation“ nach sich zu ziehen.9 Bezieht man diese Beobachtungen auf Ulrich Becks Anregungen zu einer europäischen Erinnerungskultur, so lässt sich feststellen, dass für diese der Aspekt der „human degradation“ tatsächlich den Ausgangspunkt bildet. Nicht zufällig verweist Beck darauf, dass sich im totalitären Europa ein „Anti-Humanismus“ habe durchsetzen können, in dem versucht wurde, missliebige Menschen „auszusondern, auszuschließen, umzumodellieren oder zu vernichten“. 10 Ein solcher Befund erklärt zugleich, warum die Suche nach einer identitätsstiftenden europäischen Erzählung, die man den alten nationalstaatlichen Erzählungen an die Seite stellen könnte, von vornherein großen Belastungen ausgesetzt ist. Zumindest wäre ein mögliches Europa-Narrativ kontinuierlich daraufhin zu befragen, welche Konsequenzen sich mit ihm für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen des Kontinents verbinden. Mit anderen Worten, es wäre darauf zu achten, dass das stets zu innerer Kohärenz strebende Narrativ nicht in einen Konflikt mit Prinzipien wie Pluralität und Diversität gerät. Dass die Suche nach einem europäischen Narrativ keineswegs etwas Neues darstellt, zeigt ein Blick in die Geschichte. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die „europäische Frage“ intensiv diskutiert. In einer Zeit, in der sowohl der amerikanische Unabhängigkeitskrieg als auch die Französische Revolution für politische Umbrüche sorgten, ging es dabei nicht nur um kulturelle Selbstvergewisserung, sondern auch um die Frage, welche Rolle Europa in einer künftigen Welt spielen könnte.11 Seither ist die Diskussion hierüber nicht mehr zum Erliegen gekommen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass das, was einzelne Autoren mit dem Begriff „Europa“ jeweils verbanden, sehr unterschiedlich sein konnte. Einige Beispiele sollen dies im Folgenden verdeutlichen.

9

Lakoff / Johnson: Metaphors, 236.

10 Beck: Der kosmopolitische Blick, 252. 11 Boer, Pim den: Europe to 1914: The Making of an Idea, in: Wilson, Kevin / Dussen, Jan van der (Hg.): The History of the Idea of Europe, London – New York 1995, 13– 82, 14. Einen Überblick für deutsche Autoren bietet im Übrigen Lützeler, Paul Michael: Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld 2007. Vgl. für das frühe 20. Jahrhundert auch die von Lützeler herausgegebene Anthologie Plädoyers für Europa: Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949, Frankfurt a.M. 1987.

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1. DAS „MENSCHLICHE JAHRHUNDERT“: HÖHEPUNKT UND ABKEHR In seiner Jenaer Antrittsvorlesung schwärmte der junge Friedrich Schiller 1789: „Die europäische Staatengemeinschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.“ 12 Tatsächlich konnte es in diesem Jahr so scheinen, als würden sich die politischen Hoffnungen der europäischen Aufklärung in absehbarer Zeit erfüllen. Mit der Französischen Revolution verband sich schließlich nicht nur der Gedanke einer nationalen Demokratisierung, sondern auch die Durchsetzung des Prinzips der Menschenrechte. Schillers europäische „Familie“ besaß damit in gewisser Hinsicht schon jene kosmopolitische Dimension, die Ulrich Beck später für ein Nachdenken über Europa forderte. Optimistisch heißt es bei Schiller: „Die Schranken sind zerbrochen, welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band […]“.13 In „universalhistorischer“ Perspektive kennzeichnete Schiller diesen Zustand als das Ergebnis, auf welches die Menschheitsgeschichte sich seit langem zubewegt habe. Mit „Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung“, so schrieb er, hätten vorangegangene Geschlechter daran gearbeitet, das gegenwärtige „menschliche Jahrhundert herbei zu führen“.14 In Schillers Worten wird erkennbar, was über die politische Stimmungslage des ausgehenden 18. Jahrhunderts insgesamt gesagt worden ist. Die Menschen dieser Zeit, so heißt es in der Einleitung zu dem 2012 erschienenen Band Europäische Erinnerungsorte, „empfanden und erlebten [eine] ‚Europäizität‘“, welche sich vor allem der Aufklärung und dem Klassizismus verdankte. Man habe in dem Gefühl gelebt, „ein und derselben Kultur und Kulturgemeinschaft anzugehören“.15 Freilich entbehrt es in der Rückschau nicht einer gewissen Ironie, dass Schiller seine optimistische Perspektive ausgerechnet 1789 formulierte – in jenem Jahr also, in dem sich mit der Erklärung der Menschenrechte die Ideale des Humanismus und der Aufklärung zwar zunächst durchzusetzen schienen, das aber zugleich einen historischen Wendepunkt markiert, weil sich mit dem Ende des Ständestaates zugleich ein neuartiges Verständnis von Volk und Nation her-

12 Schiller, Friedrich: Universalhistorische Schriften. Hg. v. Otto Dann, Frankfurt a.M. – Leipzig 1999, 22. 13 Schiller: Universalhistorische Schriften, 21. 14 Schiller: Universalhistorische Schriften, 34. 15 Boer, Pim den et al.: Einleitung. In: Dies.: Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, 7–12, 9.

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ausbildete, welches erst in den anti-napoleonischen Kriegen zur vollen Entfaltung gelangen sollte.16 Die Umbrüche, mit denen die europäischen Gesellschaften um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konfrontiert waren, werden deutlich, wenn man Schillers universalhistorische Überlegungen mit Texten aus den nachfolgenden Jahrzehnten kontrastiert. Lag Schillers Europaverständnis noch ein optimistisches Fortschrittsnarrativ zugrunde, so beschrieb Novalis in Die Christenheit oder Europa (1799) die jüngere europäische Vergangenheit bereits als eine Geschichte des Niedergangs. Nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit war das, was Novalis faszinierte. Während Schiller den Humanismus und die Wissenschaftliche Revolution der Frühen Neuzeit noch als Meilensteine auf dem Weg zu einem „philosophischen Verstand“ hatte würdigen können, 17 karikierte Novalis die moderne Wissenschaft als eine „neue Kirche“, deren Mitglieder bemüht seien, „jede Spur des Heiligen“ aus der Welt zu tilgen. „Das Licht“, so schrieb der Autor mit einem Seitenhieb auf Isaac Newtons Entdeckung der Spektralfarben, „war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft Aufklärung.“18 Wie deutlich wird, betrachtete Novalis den frühneuzeitlichen Prozess, den Max Weber einmal als „Entzauberung der Welt“ charakterisiert hat, mit Argwohn. Den von Kant beschworenen „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wertete der junge Kulturkritiker nicht etwa als europäischen Erfolg, sondern als dessen Gegenteil. Seine Forderung nach einer „Romantisierung der Welt“ lässt sich als Ausdruck eines gegenaufklärerischen Programms begreifen, als eine Rückbesinnung auf den Mythos als Instrument der Weltdeutung. Tatsächlich lässt sich Novalis’ Europa-Rede selbst als die Erfindung eines solchen Mythos verstehen. Nicht historische Fakten lagen dabei im Interesse des Romantikers, sondern die Konstruktion eines letztlich heilsgeschichtlich inspirierten Narrativs, zu dessen Grundelementen die Abkehr von einem ursprünglichen Ideal, ein anschließender Niedergang und die Prophezeiung

16 Siehe zu dieser Konstellation auch die Darstellung in Alter, Peter: Nationalismus: Ein Essay über Europa, Stuttgart 2016, 99f. 17 Schiller: Universalhistorische Schriften, 30. 18 Novalis (Friedrich von Hardenberg): Die Christenheit oder Europa. In: Ders.: Werke in 2 Bänden. Bd. 2, Köln 1996, 23–43, 33.

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einer künftigen Wiedergeburt gehörten.19 Da es dem Autor eher um die Schaffung eines Mythos als um historiografisches Rekonstruieren ging, gestaltete er die Darstellung des anfänglichen Idealzustandes ebenso poetisch kunstvoll wie inhaltlich vage. Was seine Charakterisierung auszeichnet, ist das Beschwören einer Homogenität, die sich mit einem modernen Pluralismusideal nur schwer verträgt: Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte.20

Nach einer Zeit der Vorherrschaft profanen Geschäftswesens, wissenschaftlicher Faktenhuberei und religiöser Spaltungen, so Novalis, deute nun alles darauf hin, dass die lang ersehnte „Zeit der Auferstehung“ endlich nahe sei. Mit der Bemerkung, insbesondere in Deutschland breche sich ein neuer Geist Bahn, so dass dieses Land „einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern“ vorausgehe,21 dürfte der junge Autor vor allem jene romantische Strömung im Sinn gehabt haben, der er selber angehörte. Eine nationalistische Position sollte man aus solchen Formulierungen indes nicht ableiten. Im Gegenteil warnte Novalis: „Es wird solange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden.“22 Allerdings sah er die Lösung nicht in einem demokratischen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Europa, sondern in der Rückkehr zu einer supranationalen Theokratie. Sein europageschichtliches Narrativ beendete er denn auch mit einer Geste, die sich vielleicht am besten als eine eschatologisch gefärbte translatio imperii interpretieren lässt: „Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die neue Hauptstadt der Welt sein wird.“23 Wenn man bedenkt, dass Novalis seinen Text nicht etwa als bekennender Katholik, sondern als Mitglied der lutherischen Kirche verfasste, erhält man einen Hinweis auf dessen Modernität. Zwar gab der Autor vor, sich an der Ver19 Northrop Frye spricht mit Bezug auf die aus den biblischen Texten abgeleitete Heilsgeschichte von einer wiederkehrenden „U-shaped narrative structure“, Frye, Northrop: The Great Code: The Bible and Literature, San Diego 1981, 169. 20 Novalis: Christenheit, 34, Hervorhebung im Original. 21 Novalis: Christenheit, 36. 22 Novalis: Christenheit, 41. 23 Novalis: Christenheit, 43.

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gangenheit zu orientieren, doch stellte diese in erster Linie ein Produkt seiner kreativen Phantasie dar. Ähnlich wie in den fundamentalistischen Strömungen späterer Zeiten ging es Novalis nicht um ein kritisches Aufarbeiten geschichtlicher Prozesse – um die Anerkenntnis eines „Bruchs“ im Sinne Ulrich Becks –, sondern um die Beschwörung eines Idealbildes, das den zeitgenössischen Krisenerfahrungen entgegengestellt werden sollte. Eine Lektüre von Novalis’ Essay zeigt sehr schnell, dass dessen Mittelalter keine Größe ist, die einer historiografischen Überprüfung in irgendeiner Weise standhielte. Vielmehr handelt es sich um einen in die Vergangenheit projizierten Sehnsuchtsort, der eine Rückkehr in die verlorene Heimat zwar verspricht, im Grunde aber durch eine eskapistische Haltung geprägt ist. Mit einem unlängst von Zygmunt Bauman in die Diskussion gebrachten Begriff ließe sich Novalis’ Vision auch als eine vergangenheitsorientierte „Retrotopie“ charakterisieren.24

2. ABGRENZUNGSNARRATIVE ZWISCHEN 1800 UND 1945 Während Novalis Deutschland im Jahr 1799 noch nicht als Nationalstaat, sondern als Zentrum des Heiligen Römischen Reiches in den Blick nahm, zeigt sich in Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) bereits ein Bild, das für das 19. Jahrhundert prägend werden sollte. Unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft verfasst, zeichnet sich Fichtes Text vor allem durch antifranzösische Polemik aus. Damit markiert er den Beginn des nachhaltigen Mythos vom „Erbfeind Frankreich“, der erst im Zuge der deutschfranzösischen Aussöhnung nach 1945 an Einfluss verlieren sollte. Zugleich zeigt sich in Fichtes Text ein politischer Partikularismus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an die Stelle der im Prinzip universalistisch orientierten Aufklärung trat. Fichtes Ausgangsüberlegungen sind sprachtheoretischer Natur. Mit der Aufgabe ihrer angestammten Sprache, so spekuliert der Autor, hätten die unter römischer Besatzung lebenden Gallier seinerzeit auch ihren Volkscharakter eingebüßt. Daraus ergebe sich für die Gegenwart, dass im Vergleich zu den Franzosen eben nur noch „der [d]eutsche […] Mensch ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig ist“.25 Erkennbar ist hier der Versuch, die Behauptung einer

24 Begriff nach Bauman, Zygmunt: Retrotopia, Cambridge 2017. 25 Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, Hamburg 1978, 125.

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ethnisch-kulturellen Überlegenheit Deutschlands mit einem Rückgriff auf die sich gerade etablierende historische Sprachwissenschaft zu begründen. Mehr noch, wenn Fichte am Ende seiner 14. Rede warnte: „[W]enn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung“26, so legte er damit, wenn vermutlich auch eher ungewollt, einen Grundstock für den im Kaiserreich populären Gedanken einer „deutschen Sendung“, die sich nicht nur auf Europa, sondern auf die gesamte Welt beziehen sollte.27 In Heinrich von Treitschkes nach der deutschen Reichsgründung entstandenem Werk Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (1879–1894) wird die von Fichte und anderen Autoren aus der Zeit der Befreiungskriege geforderte Besinnung auf das Nationale bereits als heroische Tat gewürdigt und damit selbst zum Teil eines nationalgeschichtlichen Narrativs. Wenn der Autor einem Teil der romantischen Autoren „Nationalhass“ bescheinigte, so war das keineswegs negativ, sondern anerkennend gemeint.28 Treitschkes Darstellung ist insofern aufschlussreich, als sie eine doppelte Narrativierung erkennen lässt. Die kulturkritische Erzählung der Romantik erscheint in seinem Text bereits als Beginn des Prozesses nationaler Selbstfindung. Johann Gottlieb Fichte wird dabei zu einem Heros stilisiert, der sein Land aus den Fallstricken einer kosmopolitisch orientierten Aufklärung errettet habe. Treitschkes Stil ist entsprechend pathosgeladen: „Darauf riß [Fichte] die Gedemütigten wieder mit sich empor und schilderte ihnen die unverwüstliche Kraft und Majestät des deutschen Wesens so groß, so kühn, so selbstbewusst, wie in diesen zwei Jahrhunderten des Weltbürgertums niemand mehr zu unserem Volk geredet hatte.“29 Vom Ideal der Völkerverständigung, wie es der junge Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung beschworen hatte, ist bei Treitschke nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, das von Fichte und anderen Autoren geschaffene Feindbild der Franzosen hat sich hier bereits verfestigt: „Nur aus deutscher Erde sprang der Quell der Wahrheit; unter den Welschen herrschte der Lügengeist.“ 30 Ersteres assoziiert Treitschke mit romantischer Gefühlstiefe, Letzteres mit dem Prinzip berechnender Rationalität. Auch von Europa ist nun nicht mehr die Rede – es sei 26 Ebd., 246. 27 Vgl. stellvertretend für andere Autoren der Zeit die kulturimperialistischen Überlegungen in Rohrbach, Paul: Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf – Leipzig 1912. 28 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Zusammenbruch und nationale Erhebung. Hg. v. Heinrich Heffter, Leipzig 1934, 181. 29 Treitschke: Deutsche Geschichte, 239. 30 Treitschke: Deutsche Geschichte, 243.

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denn, man preist ein nicht näher beschriebenes Deutschtum als die Rettung des Kontinents. Es wäre nun freilich unsinnig, wollte man nationalistische Töne dieser Art auf das deutschsprachige Schrifttum beschränken. Vielmehr handelte es sich bei dem nationalistischen Denken, wie es in Treitschkes Text erkennbar wird, um ein gesamteuropäisches Phänomen.31 Was die unterschiedlichen Nationalismen miteinander verband, war die Übertragung einer religiös geprägten Erlösungsrhetorik auf den Bereich der Politik – ein Phänomen, das Eric Voegelin später mit dem Begriff der „politischen Religionen“ umschreiben sollte. 32 Bereits 1924 stellte Heinrich Mann über diese Sakralisierung des Nationalen fest: „Die Nationen, im Mittelalter nur als Teile der Christenheit vorhanden, wurden im neunzehnten Jahrhundert selbst Religion, wurden Dogma und unbezweifelbar.“ 33 Fragt man nach den narrativen Mustern, in denen sich solche nationalen Selbstvergewisserungen vollzogen, so ist neben dem bereits erwähnten Rückgriff auf traditionelle Mythen das Ideal des Heldentums zu nennen. Nicht zu Unrecht hat Aleida Assmann unlängst noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass die nationale Identität im 19. Jahrhundert in aller Regel „auf ein heroisches Selbstbild gegründet“ worden sei.34 Für die Herausbildung der modernen Heldenvorstellung besitzen die Schriften des britischen Autors Thomas Carlyle eine besondere Bedeutung. Carlyles Einfluss erstreckte sich über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus vor allem nach Deutschland. Der Schriftsteller Walter von Molo etwa bezeichnete Carlyles Werk als „eine moralische Macht von großer Bedeutung“, die dazu berufen sei, „heute den Weg zu erleuchten, der gegangen werden muß, um nicht im Chaos der Umformung aller Werte zu versinken“.35 Tatsächlich hatte Carlyle mit seinem Buch Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History (1841) der antimodernistischen Kulturkritik des 19. Jahrhunderts 31 François, Etienne / Schulze, Hagen: Das emotionale Fundament der Nationen. In: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. München – Berlin 22001, 17–32, 17. Die Autoren verweisen auf die Homogenität der europäischen Nationalvorstellungen in dieser Zeit. 32 Voegelin, Eric: Die politischen Religionen. Hg. v. Peter J. Opitz, München 32007. 33 Mann, Heinrich: VSE (Vereinigte Staaten von Europa). In: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Plädoyers für Europa: Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915– 1949, Frankfurt a.M. 1987, 98–108, 101. 34 Assmann, Aleida: Der europäische Traum: Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018, 129. 35 Molo, Walter von: Vorwort zu Thomas Carlyle: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Übers. J. Neuberg u. W. v. Molo, Berlin 1917, 5.

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die entscheidenden Argumente geliefert. An die Stelle des Verfassungsprinzips hatte der Autor das Idealbild des heroischen Führers gesetzt. Dieses, so meinte er, habe den Gang der Geschichte schon immer bestimmt. Carlyles Kernthese lautete: „Universal History, the history of what man has accomplished in this world, is at bottom the History of the Great Men who have worked there. They were the leaders of men, the great ones.”36 In seiner zwei Jahre später verfassten Schrift Past and Present erklärte der Autor die gegenwärtige Misere Großbritanniens damit, dass im Merkantilismus des 18. Jahrhunderts der britischen Bevölkerung alte Tugenden wie Führertum und treue Gefolgschaft abhandengekommen seien. Carlyles Position lässt sich als ebenso aufklärungskritisch wie antidemokratisch beschreiben. Demokratie war für ihn nichts weiter als ein toter Mechanismus, geschuldet allein der Verzweiflung darüber, dass es der Moderne an wirklichen Führerfiguren mangele. 37 Da die Geschichte aber nun einmal keine bloße Abfolge von Ereignissen darstelle, sondern als ein Heldenepos (epic) begriffen werden müsse,38 benötige auch Großbritannien eine Rückbesinnung auf das Heldenideal: „[W]e must learn to do our Hero-worship better; that to do it better, means the awakening of the Nation’s soul from its asphyxia, and the return of blessed life to us.“39 Für Europa erhoffte Carlyle sich Rettung durch einen „neuen Adel“, der sich nicht länger durch Erbrecht, sondern durch eine heroische Gesinnung legitimieren sollte. „If the convulsive struggles of the last Half-Century have taught poor struggling convulsed Europe any truth“, schrieb er, spätere Elitekonzeptionen vorwegnehmend, „it may perhaps be this as the essence of innumerable others: That Europe requires a real Aristocracy, a real Priesthood, or it cannot continue to exist.“40 Wenn Carlyle den Begriff Europa verwendete, dann bezog er sich damit nicht auf eine selbstständige, supranationale Größe, sondern auf eine Ansammlung eigenständiger, letztlich ethnisch definierter Staaten und Kulturen. Und deshalb ließen sich seine Ideen auch ohne Schwierigkeiten in die nationale Rhetorik späterer Jahrzehnte integrieren. Der schon erwähnte Walter von Molo erblickte in dem britischen Autor im Ersten Weltkrieg gar einen politischen Verbündeten, habe doch Carlyle in der „deutschen Geisteshaltung […] einzig das 36 Carlyle, Thomas: Sartor Resartus and On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History, Toronto 1908, 239. 37 Carlyle, Thomas: Past and Present. Hg. v. Richard D. Altick, New York 1965, 149, 215. 38 Carlyle: Past and Present, 240. 39 Carlyle: Past and Present, 39. 40 Carlyle: Past and Present, 240.

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Hoffnungslicht für die menschliche Zukunft“ gesehen. Wie von Molo spekulierte, hätte Carlyle in der gegenwärtigen, von „materialistischer Nüchternheit und vernünftelnder Nützlichkeitsbehäbigkeit“ geprägten Zeit „Preußen-Deutschland“ ohnehin den „Vorsitz Europas“ zuerkannt.41 Die politischen Intentionen, die mit nationalgeschichtlichen Narrativen der hier vorgestellten Art verbunden wurden, lassen sich anhand einer populärgeschichtlichen Anthologie aus dem Jahr 1905 exemplarisch aufzeigen. Im Vorwort zu dem Werk mit dem Titel Deutschlands Ruhmeshalle meldete sich niemand Geringeres als Kaiser Wilhelm II. zu Wort: Ich glaube, daß gerade durch das Studium der Geschichte das Volk eingeführt werden kann in die Elemente, aus denen seine Entfaltung und seine Kraft sich aufgebaut haben. Je mehr und eifriger und eingehender die Geschichte dem Volke eingeprägt wird, desto sicherer wird es Verständnis für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und Denken erzogen werden. 42

Dass der Bevölkerung des Deutschen Reiches ihre gemeinsame Geschichte hier nicht vermittelt, sondern „eingeprägt“ werden soll, zeugt von der autoritären Gesinnung, welche die zeitgenössische Politik bestimmte. Das „großartige[ ] Handeln“, von dem im Text so hoffnungsvoll die Rede ist, umfasste, wie man annehmen darf, neun Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs schließlich auch die Bereitschaft zur Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen.

3.

ZWISCHENKRIEGSZEIT UND ZWEITER WELTKRIEG

Wenn Intellektuelle der Zwischenkriegszeit transnationale Perspektiven entwickelten, so lassen sich diese als eine Antwort auf die fatalen Konsequenzen begreifen, die eine unkritische Glorifizierung der jeweils eigenen Nation zwischen 1914 und 1918 gezeitigt hatte. Aufschluss bieten in dieser Hinsicht einige selbstkritische Betrachtungen, die der britische Schriftsteller H.G. Wells 1934 in seinem Buch Experiment in Autobiography anstellte. Seine Überlegungen stehen ganz im Zeichen der ein Jahr zuvor erfolgten nationalsozialistischen Machtübernahme, die der Hoffnung auf eine dauerhafte Verständigung zwischen den europäischen Staaten erst einmal ein Ende setzte. Wells, der sich seit Beginn des 20. 41 Molo: Vorwort, 7. 42 Wilhelm II. In: Müller-Bohn, Hermann: Deutschlands Ruhmeshalle: Ein Buch für Haus und Familie. 2 Bde., Berlin 1905, o.S.

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Jahrhunderts als Verfechter der Idee eines Weltstaats hervorgetan hatte, war zugleich ein Anhänger des universalgeschichtlichen Paradigmas. Einen Niederschlag fand diese Haltung in seinem Buch A Short History of the World (1922). 1929 hatte Wells im deutschen Reichstag noch eine Rede mit dem Titel The Common-Sense of World Peace gehalten; fünf Jahre später stellte er sich nun die Frage, wie es im europäischen Nachbarland zu einem Rückfall in einen aggressiven Nationalismus hatte kommen können. Interessanterweise bezog Wells seine Beispiele dabei weniger aus der deutschen als aus der britischen Vergangenheit. So verwies er etwa auf die im 19. Jahrhundert verbreitete Vorstellung, die Angelsachsen seien ein zur Eroberung und Kultivierung der Welt ausersehenes Volk. „It was made a matter of general congratulation about me that I was English“, schrieb Wells und gab dabei das von seinen Lehrern vermittelte Narrativ wie folgt wieder: „We English, by sheer native superiority, practically without trying, had possessed ourselves of an Empire on which the sun never set, and through the errors and infirmities of other races were being forced slowly but steadily – and quite modestly – towards world dominion.“43 Ausschließlich englische Geschichte habe er während seiner Schulzeit kennengelernt, erinnert sich Wells und verzichtet dabei nicht darauf, die zu dieser Zeit populäre Vorstellung einer Überlegenheit der „arischen Völker“ zu erwähnen, die auch er seinerzeit geteilt habe. Von den Ansichten des deutschen Diktators hätten sich seine eigenen Ideen gar nicht so sehr unterschieden: „In those days I had ideas about Aryans extraordinarily like Mr. Hitler’s. The more I hear of him the more I am convinced that his mind is almost the twin of my thirteen year old mind in 1879; but heard through a megaphone and – implemented.“44 Wells’ selbstkritischer Rückblick zeugt von der Absicht, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass ein übersteigerter, sich aus rassistischen Ideen speisender Nationalismus nicht etwa eine typisch deutsche Eigenschaft war, sondern eine Gefahr, der Menschen in anderen Ländern ebenfalls anheimfallen konnten. Sein offenherziges Bekenntnis, auch er sei mit seinen imperialistischen Jugendphantasien einmal ein kleiner „Hitler“ gewesen, 45 war dabei nicht zuletzt dem frühen Datum der Veröffentlichung seines Buches geschuldet. Dass der Autor sich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, spätestens jedoch nach Bekanntwerden des Holocaust, zu solch leichtfertigen Vergleichen noch einmal hätte hinreißen lassen, ist eher unwahrscheinlich. 43 Wells, H.G.: Experiment in Autobiography: Discoveries and Conclusions of a Very Ordinary Brain. 2 Bde., London 1934, 99. 44 Wells: Experiment, 100. 45 Wells: Experiment, 102: „In fact Adolf Hitler is nothing more than one of my thirteen year old reveries come real.“

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Auf Wells musste die europäische Entwicklung der frühen 1930er-Jahre irritierend wirken. Immerhin hatte er schon 1901 das baldige Ende der Nationalstaaten prophezeit. „Geographical contours, economic forces, the trend of invention and social development, point to a unification of Western Europe“, heißt es in seinen Anticipations aus dem Jahr 1901. Für den Beginn des 21. Jahrhunderts hatte Wells gar die Verwirklichung eines „splendid dream of a Federal Europe“ in Aussicht gestellt.46 Mit seiner Forderung nach einer Überwindung nationaler Vorurteile stand der Autor in dieser Zeit nicht allein. Für die Gründung eines „Europäischen Staatenbundes“ hatte sich etwa auch die Pazifistin Bertha von Suttner 1892 ausgesprochen,47 und 1932 erinnerte sich der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig daran, dass er und seine Freunde am Beginn des Jahrhunderts vom „europäischen Geist“ erfüllt gewesen seien: So fühlten wir junge, zeitgläubige Menschen, die in dem neuen Jahrhundert aufgewachsen waren und in allen Ländern, in Frankreich, in England, in Italien, Spanien und Nordland Freunde gefunden hatten und Kameraden in der gemeinschaftlichen Arbeit, die ganze Welt schon in Freundschaft verbunden, die vereinigten Staaten von Europa schon Wirklichkeit, und wie glücklich waren wir schon in diesem Vorgefühl. 48

Zweigs nostalgischer Rückblick entstand bereits unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. „Und gerade dieser unserer Generation, die an die Einheit Europas glaubte wie an ein Evangelium, war es verhängt, die Vernichtung aller Hoffnungen, den größten Krieg zwischen allen Nationen zu erleben“, heißt es in dem Essay weiter. Es werde deshalb wohl noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis das „geeinte Europa“ Wirklichkeit werde. 49 Dass Zweig, der jüdischer Abstammung war, sich zehn Jahre später an Europa nur noch als eine untergegangene Welt zurückerinnern würde, konnte er 1932 freilich noch nicht ahnen. Am Beginn der 1940er-Jahre notierte er in seinem brasilianischen Exil jedoch voller Resignation: So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege. Wider meinen Willen bin ich Zeuge 46 Wells, H.G.: Anticipations and Other Papers, London 1924, 224. 47 Siehe dazu Lützeler: Kontinentalisierung, 231ff. 48 Zweig, Stefan: Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. In: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Plädoyers für Europa: Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949, Frankfurt a.M., 187–209, 205. 49 Zweig: Der europäische Gedanke, 208.

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geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphes der Brutalität […].50

Zweigs Buch trug den bezeichnenden Titel Die Welt von gestern: Erinnerungen eines Europäers. Es sollten die letzten Äußerungen des Autors zu Europa sein. 1942 setzte er seinem Leben ein Ende. Es wäre sicherlich verfehlt, in allen Entwürfen der Zwischenkriegszeit, die ein einheitliches „Europa“ forderten, zugleich geistige Vorläufer der späteren EU zu vermuten. Ein Blick in Texte, die zu dieser Zeit veröffentlicht wurden, lässt an einer Kontinuitätsthese eher Zweifel aufkommen. Auch Richard Coudenhove-Kalergi, dessen 1923 gegründete Pan-Europa-Bewegung aufgrund des ihr zugrundeliegenden Versöhnungsgedankens häufig zu den Wegbereitern der EU gerechnet wird,51 offenbart in einigen seiner Schriften noch eine deutliche Orientierung am Denken der Zwischenkriegszeit – so etwa, wenn er von einem biologisch definierten „neuen Adel“ schrieb, der die geistige Führungselite eines „neuen Europa“ bilden könne.52 Noch abenteuerlicher gestalten sich aus gegenwärtiger Sicht einige Ideen, die der Münchener Ingenieur Hermann Sörgel in den zwanziger und dreißiger Jahren, angeregt durch Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union, entwickelte. Sörgels Projekt, das zunächst den Namen „Panropa“ führte und ab 1932 als „Atlantropa“ bekannt wurde, war als zukunftsweisende geopolitische Maßnahme gedacht. Es basierte auf dem Gedanken dreier Machtblöcke, der so genannten „drei großen A“, die die Welt in Zukunft unter sich aufteilen würden. Dazu sollte neben Amerika und Asien das neu zu schaffende Atlantropa zählen, das als Verbindung der Kontinente Europa und Afrika auf technologischer Basis gedacht war.53 Möglich werden sollte diese geostrategische Vision durch einen gigantischen, vor der Meerenge von Gibraltar zu errichtenden Staudamm, der eine Absenkung des Mittelmeeres um etwa 100 Meter nach sich ziehen und so eine Verbindung zwischen den beiden Kontinenten schaffen sollte. Obwohl Sörgel für sein Vorhaben im Sinne eines Friedenspro50 Zweig, Stefan: Die Welt von gestern: Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 2010, 10. 51 Wie Lützeler: Kontinentalisierung, 232f., anmerkt, geht der Begriff „Pan-Europa“ auf Bertha von Suttner zurück. 52 Siehe hierzu ausführlicher Gerstner, Alexandra: A Paneurope of Supermen: Coudenhove-Kalergi’s European Vision. In: Nate, Richard / Klüsener, Bea (Hg.): Culture and Biology: Perspectives on the European Modern Age, Würzburg 2011, 131–146. 53 Voigt, Wolfgang: Atlantropa: Weltbauen am Mittelmeer: Ein Architektentraum der Moderne, Hamburg 22007, 101.

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jekts warb, war es der Tradition kolonialistischen Denkens doch noch immer verpflichtet.54 Ein wesentlicher Vorteil Atlantropas sollte etwa darin bestehen, dass Europa hierdurch einen leichteren Zugang zu den afrikanischen Rohstoffen erhielt. Tatsächlich hätte Atlantropa so wohl eher eine noch stärkere europäische Dominanz über den afrikanischen Kontinent bedeutet als eine Annäherung auf Augenhöhe. Weitere Beispiele für eine auf dem Gedanken der Abgrenzung nach außen basierenden Europakonzeption ließen sich anführen. Eines ist das von Wilhelm Baron von Richthofen propagierte „Brito-Germania“, das zwar einen nationenübergreifenden Charakter besaß und sich als Überwindung jener Konflikte anbot, die den Ersten Weltkrieg verursacht hatten, das aber zugleich ethnisch definiert war, indem es als Mitglieder nur die „germanische“ Bevölkerung Deutschlands, Großbritanniens, der Niederlande und Skandinaviens sowie der baltischen Staaten vorsah.55 Trotz oberflächlicher Friedensrhetorik lässt sich „BritoGermania“ deshalb vor allem als Abkömmling ethnisch orientierter PanBewegungen des 19. Jahrhunderts, wie Pangermanismus und Panslawismus, charakterisieren. Auch die von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs angestrebte „Neuordnung Europas“ war rassenideologisch motiviert. 56 Ein vom „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach 1942 gegründeter „Europäischer Jugendverband“, der als Gegenmodell zur internationalen Pfadfinderbewegung gedacht war, stand im Zeichen nationalsozialistischer Eroberungspolitik. 57 Wenn in einem 1942 erschienenen BDM-Buch von „Mädel[n] im neuen Europa“ die Rede war, dann wurde damit sprachlich bereits ein unter deutscher Vorherrschaft stehendes Europa vorweggenommen, wie es dem deutschen Kriegsziel ent-

54 Voigt: Atlantropa, 100. 55 Richthofen, Wilhelm Baron von: Brito-Germania: Die Erlösung Europas, Berlin 1926. Näheres zu diesem Projekt, an dem auch der Brite Henry Rolf Gardiner beteiligt war, in Nate, Richard: „Brito-Germania“: Zu den Hintergründen von Rolf Gardiners europäischem Jugendprogramm der Zwischenkriegszeit. In: Selheim, Claudia / Schmidt, Alexander (Hg.): Grauzone: Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus, Nürnberg 2017, 35–47. 56 Siehe zum NS-Begriff der „Neuordnung Europas“ Schmitz-Berning, Cornelia: Neuordnung Europas. In: Dies.: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin – New York, 2

2007.

57 Lützeler: Kontinentalisierung, 236f.

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sprach.58 Was bei oberflächlicher Betrachtung wie ein Vorläufer späterer Schüleraustauschprogramme anmuten könnte, erweist sich bei genauerer Hinsicht als Propaganda für das angestrebte „Großgermanische Reich Deutscher Nation“. „Unsere Gruppen fahren ins Ausland, um die Sitten und Gebräuche anderer Völker und vor allen Dingen die Jugend dieser Länder kennenzulernen; aber auch um ihr eigenes Vaterland von außen zu sehen und unsere deutschen Jungen und Mädel jenseits der Grenzen zu besuchen“,59 heißt es zunächst ganz harmlos. Am Ende zeigt sich dann das von Eroberungsphantasien geprägte Programm, das letztlich weniger nationalistisch als imperialistisch definiert war: „Alle diese jungen Kräfte finden sich mit Deutschland zusammen und wollen einen Stoßtrupp bilden, um die Zukunft Europas zu sichern und an der Neuordnung dieses Erdteils mitzuarbeiten.“60 Einen Europa-Begriff, der eher durch Abgrenzung nach außen als durch inhaltliche Kriterien bestimmt war, hatte in den zwanziger Jahren bereits der von Thomas Carlyle beeinflusste Arthur Moeller van den Bruck vertreten. 61 Geleitet vom Gedanken eines allgemeinen kulturellen Niedergangs hatte er in seinem Buch Das dritte Reich (1923) geschrieben: Wir denken nicht an das Europa von heute, das zu verächtlich ist, um irgendwie gewertet zu werden. Wir denken an das Europa von gestern, und an das, was sich aus ihm vielleicht noch einmal in ein Morgen hinüberretten wird. [...] Das Tier im Menschen kriecht heran. Afrika dunkelt in Europa herauf. Wir haben die Wächter zu sein an der Schwelle der Werte.62

Bei dem Europa, das Moeller van den Bruck vorschwebte, handelt es sich in etwa um das Gegenteil dessen, was Ulrich Beck 2006 als „kosmopolitisches Europa“ beschrieb.63 Wenn Moeller van den Bruck von einer Verteidigung europäischer Werte sprach, dann waren damit ganz offenkundig andere Werte gemeint als die, auf die man sich später im Vertrag von Lissabon verständigen sollte. 58 Zur „nationalsozialistischen Europaideologie“ vgl. bereits den frühen Beitrag von Kluke, Paul: Nationalsozialistische Europaideologie. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), 240–275. 59 Wedel, Elka von: Mädel im neuen Europa. In: Röh, Ursula (Hg.): Ins Leben hinaus: Ein buntes Mädelbuch. 12. Bd., Stuttgart 1942, 175–179, 176. 60 Wedel: Mädel, 179. 61 Siehe zu Moeller van den Bruck ausführlich Stern, Fritz: The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1974, 183ff. 62 Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Hamburg 21934, 245. 63 Beck: Der kosmopolitische Blick, 245 ff.

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Nicht eine Öffnung gegenüber der schon am Beginn des 20. Jahrhunderts durch zahllose wirtschaftliche Verflechtungen gekennzeichneten Welt hatte Moeller van den Bruck im Sinn, sondern eine Abwehr fremder Kulturen, deren Angehörigen er, zumindest sprachlich, nicht einmal einen menschlichen Status zuerkannte. Tatsächlich hatten sich, nachdem der europäische Expansionsprozess mit der Kolonialisierung der beiden Amerikas, weiter Teile Asiens, Afrikas und Australiens an sein Ende gelangt war, bei einigen europäischen Intellektuellen bereits Ängste vor einer möglichen Umkehrung dieser Bewegungsrichtung breitgemacht. Warnungen vor einer biologischen „Degeneration“ der europäischen Bevölkerung bzw. vor einer „Entartung“ ihrer Kultur, Hinweise auf eine „yellow peril“ bzw. „gelbe Gefahr“, und nicht zuletzt die weit verbreitete Rede vom „Untergang des Abendlandes“ infolge der gleichnamigen Publikation Oswald Spenglers gehören in diesen Kontext.

4.

DIE NACHKRIEGSJAHRZEHNTE

Bedenkt man, dass Europa 1940 weitgehend von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dominiert wurde, dann erscheint es nicht verwunderlich, dass an die Stelle des Europa-Optimismus, den H.G. Wells zehn Jahre zuvor noch hatte erkennen lassen, nun Ernüchterung trat. „Few Europeans think of themselves as ‚Europeans‘“,64 stellte Wells fest und schloss sich aus dieser Gruppe selbst nicht aus. Nicht dem Kontinent, sondern der englischsprachigen Welt fühlte er sich nun verbunden. Damit formulierte er bereits Ideen zu einer transatlantischen Allianz, wie sie ein Jahr später, zunächst mit der Atlantik-Charta und schließlich mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg, Realität werden sollte. Wells nutzte die Gelegenheit aber auch, um noch einmal auf seine alte Idee vom Weltstaat zurückzukommen. „It would, I suggest, be far easier to create the United States of the World“, schrieb er „than to get together the so-called continent of Europe into any sort of unity.“ 65 Mochten solche Ideen manchen seiner Zeitgenossen auch utopisch anmuten, so befand sich Wells mit seiner kosmopolitischen Orientierung doch im Trend der Zeit. So wichtig der von Robert Schuman 1950 vorgestellte Plan einer gemeinsamen Verwaltung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie für den nachfolgenden europäischen Integrationsprozess auch gewesen

64 Wells, H.G.: The New World Order: Whether It Is Attainable, How It Can Be Attained, and What Sort of World a World at Peace Will Have to Be, London 1940, 103. 65 Wells: The New World Order, 104.

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sein mag, sollte man den weltpolitischen Rahmen, in dem er formuliert wurde, nicht außer Acht lassen. Wie Kiran Klaus Patel hervorgehoben hat, stellte dieser Vorläufer der späteren EU in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur „eine von vielen“ internationalen Organisationen dar, die sich in Abgrenzung zu den „zurückliegenden Dekaden mit Weltkriegen, Völkermord und Vertreibungen“ konstituierten.66 Ein nationenübergreifendes Denken hatte bereits der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in seiner „Four-Freedoms“-Rede vom Januar 1941 als Grundbedingung für eine zukünftige friedliche Weltordnung eingefordert.67 Die ein Jahr später verfasste, von 26 Staaten unterzeichnete „Deklaration der Vereinten Nationen“, die zunächst als Bekräftigung und Ausweitung der Atlantik-Charta gedacht war, sowie die im Oktober 1945 verabschiedete „Charta der Vereinten Nationen“ können als Umsetzungen dieser Ideen begriffen werden. Von dem Grundgedanken einer wechselseitigen internationalen Verantwortung getragen war auch Roosevelts letzte, heute kaum noch erinnerte Inaugurationsrede vom 20. Januar 1945, in der es heißt: Today, in this year of war, 1945, we have learned lessons – at a fearful cost – and we shall profit by them. We have learned that we cannot live alone, at peace; that our own wellbeing is dependent on the well-being of other Nations, far away. We have learned that we must live as men and not as ostriches, nor as dogs in the manger. We have learned to be citizens of the world, members of the human community.68

Diese Worte lassen sich durchaus im Sinne einer Fortsetzung der von Schiller etablierten universalhistorischen Perspektive verstehen. Nach dem gescheiterten Völkerbund stellten die Vereinten Nationen einen erneuten Versuch dar, einem auf wechselseitiger Ab- und Ausgrenzung beruhenden und daher friedensgefährdenden Nationalismus entgegenzuwirken. Auch die 1948 von der UNVollversammlung verabschiedete „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ lässt sich dieser neuen weltpolitischen Orientierung zuordnen. Sie war es, die sich der Europarat 1950 für seine „Konvention zum Schutz der Menschenrechte 66 Patel, Kiran Klaus: Projekt Europa: Eine kritische Geschichte, München 2018, 23. 67 Die vier Freiheiten umfassen die der Rede und der Religionsausübung sowie die Freiheit von Armut und Furcht, vgl. Roosevelt, Franklin D.: The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt. Ed. Samuel I. Rosenman. 13 Bde., New York, 1938–1950; rpt. New York 1966–1969, Bd. 9, 672. 68 Roosevelt: The Public Papers, Bd. 8, 524. Wie wenig selbstverständlich die von Roosevelt formulierten Prinzipien sind, verdeutlicht nicht zuletzt ein Vergleich seiner Rede mit der auf den Tag genau 72 Jahre später gehaltenen Inaugurationsrede Donald Trumps.

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und Grundfreiheiten“ zum Vorbild nahm.69 Der europäische Integrationsprozess, der nicht zufällig an einer Überwindung jenes Gegensatzes ansetzte, der mit den anti-napoleonischen Kriegen seinen Anfang genommen hatte, wurde auch begünstigt durch ein in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch vorherrschendes Klima internationaler Verständigung. In der oft betonten „Offenheit“ der Europäischen Union als einer politischen Gemeinschaft, die weniger auf dem Gedanken geografischer oder ethnischer Abgrenzung als auf dem Prinzip geteilter Werte beruht, zeigen sich noch heute dessen Nachwirkungen. Gleichwohl bedeutete die von Roosevelt propagierte neue Weltordnung nicht, dass damit überkommene nationale Interessen in Europa gänzlich in den Hintergrund gedrängt worden wären. Ein Beispiel hierfür ist die oft zitierte Europa-Rede, die Winston Churchill am 19. September 1946 in der Universität Zürich hielt. Churchill griff mit seinem Vorschlag zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ zwar einen Gedanken auf, der bereits in den zwanziger Jahren formuliert worden war, doch begriff er sein eigenes Land, das für ihn noch immer das Zentrum des britischen Empire bildete, nicht als Teil dieser Staatengemeinschaft. Vielmehr rechnete er Großbritannien einer Gruppe von wohlmeinenden „friends and sponsors“ zu, zu der auch die Vereinigten Staaten gehören sollten. Dass Churchill in das kulturelle Gedächtnis Europas eher als ein Vordenker der Europäischen Union denn als Befürworter eines britischen „Sonderwegs“ eingegangen ist,70 deutet auf eine Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Europa-Begriffen hin. Während „Europa“ auf dem Kontinent häufig über seine gemeinsamen kulturellen Traditionen definiert wird, zu denen in der Regel diejenigen der Antike, des Alten und Neuen Testaments sowie der europäischen Aufklärung gerechnet werden, blieb im Vereinigten Königreich zusätzlich ein Europa-Begriff in Gebrauch, der den Kontinent als Gegenüber der Britischen Inseln versteht. Es ist daher auch kein Zufall, dass George Orwell, als er in seiner Dystopie Nineteen Eighty-Four (1949) die Welt in drei politische Machtblöcke aufgespaltet sah, die Britischen Inseln nicht etwa dem europäischen Kontinent zuschlug, sondern – im Rückgriff auf die Vorstellung einer transatlantischen „special relationship“ – einer Großmacht namens „Ozeanien“, deren Widersa69 Wolgast, Eike: Menschenrechte. In: Boer, Pim den et al. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, 165–176, 174. 70 Zum Konzept eines britischen „Sonderwegs“ siehe Wellenreuther, Hermann: England und Europa: Überlegungen zum Problem des englischen Sonderwegs in der europäischen Geschichte. In: Finzsch, Norbert / Wellenreuther, Hermann (Hg.): Liberitas: Festschrift für Erich Angermann zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1992, 89–123.

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cher das kontinentale Reich „Eurasien“ bildete. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, wenn sich in der gegenwärtigen „Brexit“-Diskussion der Hauptkonflikt gerade an der Frage des Verhältnisses zwischen Nord- und Südirland entzündet, denn schließlich verläuft die Grenze in diesem Fall ja nicht, wie es einer weit verbreiteten mentalen Landkarte entsprechen würde, zwischen den Britischen Inseln und dem Kontinent, sondern innerhalb der Britischen Inseln. Bekanntlich erleben nationalgeschichtliche Narrative, wie sie im 19. Jahrhundert etabliert und gefestigt wurden, in Europa derzeit eine Renaissance. Dass die Bestimmungen dessen, was das Nationale eigentlich ausmacht, am Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso wenig selbstverständlich sind wie schon in den letzten beiden Jahrhunderten, zeigen die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien, in denen jeweils ein Nationenbegriff gegen einen anderen – in diesem Falle Großbritannien und Spanien – ins Feld geführt wird. An der allgemeinen Popularität nationalstaatlicher Narrative scheinen solche Widersprüche jedoch wenig zu ändern. Am Beginn dieses Jahrhunderts mochte eine Rückkehr zum politischen Partikularismus vielen Zeitgenossen noch eher unwahrscheinlich anmuten. 2004 beispielsweise feierte der amerikanische Journalist und Ökonom Jeremy Rifkin, ähnlich wie Schiller zweihundert Jahre vor ihm, die Erfolge der europäischen Verständigung als geschichtlich bedeutsames Ereignis. Dem national definierten „American Dream“ stellte er dabei einen supranationalen „European Dream“ gegenüber.71 Zu den besonders zukunftsträchtigen Elementen der Europäischen Union zählte für den Amerikaner interessanterweise gerade der Umstand, dass man hier auf ein heroisierendes Narrativ zur Stabilisierung der eigenen kollektiven Identität verzichtete. Was Beck zwei Jahre später als Bereitschaft zum Bruch mit den eigenen Mythen bezeichnen sollte, liest sich bei Rifkin wie folgt: Unlike past states and empires, whose origins are embedded in the myth of heroic victories on the battlefield, the EU is novel in being the very first mega-governing institution in all of history to be born out of the ashes of defeat. Rather than commemorate a noble past, it sought to ensure that the past would never be repeated.72 71 Bereits ein Jahr zuvor hatte Ute Frevert einen „europäischen Traum […] ohne Rassenhass und Nationalismus“ beschrieben, der aus den negativen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erwachsen könne, Frevert, Ute: Eurovisionen: Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003, 183. Im vergangenen Jahr griff Aleida Assmann die Metapher des „europäischen Traums“ erneut auf, vgl. Assmann: Der europäische Traum. 72 Rifkin, Jeremy: The European Dream: How Europe’s Vision of the Future Is Quietly Eclipsing the American Dream, New York 2004, 200.

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Nach Rifkins Einschätzung barg nicht das amerikanische, sondern das europäische Modell ein Versprechen auf die Zukunft. Wenn der Autor dabei hervorhob, der europäische Traum favorisiere im Gegensatz zum amerikanischen nicht Einzelkämpfertum, sondern Gemeinschaftssinn,73 dann bezog er sich auf das Modell der sozialen Marktwirtschaft, das in den Vereinigten Staaten allenfalls in den Roosevelt-Jahren und während der Amtszeit Lyndon B. Johnsons ernsthaft diskutiert worden war. Auch wenn fairerweise angemerkt werden muss, dass der Sozialstaat kein Verdienst der EU darstellt, sondern sich vielmehr nationalstaatlichen Entwicklungen verdankt, spielten solche Differenzierungen für Rifkins Darstellung keine zentrale Rolle. Was ihn interessierte, war unter anderem der anti-heroische Geist, den er in der EU verkörpert sah. „We Americans used to say that the American Dream is worth dying for. The new European Dream is worth living for,“74 lautete sein Fazit. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im Jahr 2012 schien den von Rifkin behaupteten Erfolg des europäischen Modells noch einmal zu bestätigen. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt auch schon deutliche Erschütterungen im europäischen Selbstverständnis wahrzunehmen. Hierzu gehören das Scheitern des europäischen Verfassungsentwurfs und die Nachwirkungen der Euro-Krise. Seither verknüpft sich mit dem Begriff „Europa“ – trotz nach wie vor formulierter politischer Visionen75 – für viele eher der Eindruck eines zunehmend schwieriger werdenden politischen Krisenmanagements als eine optimistische Zukunftserwartung. Ob sich der Europa-Optimismus Jeremy Rifkins, ähnlich wie im Falle Friedrich Schillers, im Nachhinein bereits als Höhe- und zugleich Wendepunkt vorangegangener Entwicklungen herausstellen wird, kann nur die Zukunft zeigen.

73 Rifkin: The European Dream, 3. 74 Rifkin: The European Dream, 385. 75 So etwa in Guérot, Ulrike: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Bonn 2016.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Mahmoud Abdallah, Dr. phil., von 2016 bis 2019 Leiter des Projektes „Wissenschaftliche Bildung und gesellschaftliche Verantwortung“ am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen, Senior Scientist am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik der Universität Innsbruck. Otfried Höffe, Dr. phil. Dr. h.c. mult., seit 2011 emeritierter Professor für Philosophie an der Philosophischen Fakultät und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie am Philosophischen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Wolfgang Huber, Dr. theol., Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Heidelberg und der Universität Stellenbosch, Bischof a.D. der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands. Martin Kirschner, Dr. theol., Inhaber der Heisenberg-Professur für Theologie in Transformationsprozessen der Gegenwart an der Theologischen Fakultät und Beauftragter für den Aufbau des KU Zentrums Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel (ZRKG) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bea Klüsener, Dr. phil., Habilitandin am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Fachbereichsleiterin für Englisch und seltener unterrichtete Sprachen an der Bergischen Volkshochschule (Solingen/Wuppertal). Leonid Luks, Dr. phil., von 1995 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, von 2011

228 | Europa – Krisen, Vergewisserungen, Visionen

bis 2015 Direktor des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Dr. rer. pol., Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Inhaberin eines Jean-MonnetLehrstuhls. Richard Nate, Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Englische Literaturwissenschaft an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät und Mentor des Europastudiengangs der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Regina Polak, Dr. theol., Assoziierte Professorin und Institutsvorstand des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Theologische Beraterin der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Martin Schulz, Politiker, von 1994 bis 2017 Mitglied und von 2012 bis 2017 Vorsitzender des Europäischen Parlaments, von 1999 bis 2018 im Bundesvorstand und Parteipräsidium der SPD, von 2017 bis 2018 SPD-Parteivorsitzender. Natan Sznaider, Dr. phil., Professor für Soziologie am Academic College Tel Aviv-Yaffo.

Dank

Ebenso wie die vorangegangenen sieben Bände der Reihe K’Universale Eichstätt ging auch der vorliegende Band aus einer Vorlesungsreihe der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hervor. Unser Dank gilt zuerst den Autorinnen und Autoren für ihre engagierte Mitwirkung an diesem Band und auch den übrigen Referentinnen und Referenten, die zu der Vorlesungsreihe in unterschiedlichen Formaten beigetragen haben. Für die Organisation der Veranstaltungen im Wintersemester 2018/19 sowie für seine engagierte und wertvolle Mitarbeit möchten wir uns bei Dr. Michael Winklmann sehr herzlich bedanken. Dass der Vorlesungsbetrieb auch bei einigen unvorhergesehenen Änderungen so reibungslos verlief, ist im Wesentlichen sein Verdienst. Michael Graßl M.A. gilt unser Dank für seine Unterstützung bei der Organisation und bei der Transkription der Rede von Martin Schulz. Zudem geht unser Dank an das Präsidium der Universität für die großzügige Übernahme der Druckkosten. Dem transcript-Verlag danken wir herzlich für die Bereitschaft, die Buchreihe K’Universale Eichstätt in das Verlagsprogramm aufzunehmen. Auch der vorliegende Band wurde wieder in gewohnt kompetenter und effizienter Weise satztechnisch betreut und fertiggestellt von cand. phil. Verena Lauerer M.A. Für ihren unermüdlichen Einsatz, nicht zuletzt in der sehr arbeitsintensiven Endphase des Projekts, sagen wir ihr unseren ganz herzlichen Dank! Eichstätt, im September 2019

Die Herausgeber

Herausgeberin und Herausgeber der Reihe Forum K’Universale Eichstätt

Gabriele Gien, Dr. phil., seit 2009 Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, seit 2014 Präsidentin der Universität. Ulrich Kropač, Dr. theol., Dipl.-Math., seit 2007 Professor für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, seit 2015 Stellvertretender Vorsitzender des Hochschulrates. Thomas Pittrof, Dr. phil., seit 2002 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bernhard Sill, Dr. theol., seit 1997 Professor für Moraltheologie an der Fakultät für Religionspädagogik / Kirchliche Bildungsarbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

In der Reihe Forum K’Universale Eichstätt sind bisher im EOS-Verlag erschienen: Band 1 Band 2 Band 3 Band 4 Band 5 Band 6 Band 7

Scheitern Zeitzeichen Bildung und Univers(al)ität Alter(n) Flucht Gewalt Vertrauen

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

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