Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus [Reprint 2021 ed.] 9783112526347, 9783112526330

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Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus [Reprint 2021 ed.]
 9783112526347, 9783112526330

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Zur Kritik der VERLAG BERLIN HERAUSGEGEBEN VON MANFRED BUHR

ALEXANDER ABUSCH

Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus

Alexander Abusch Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus

ZUR KRITIK DER BÜRGERLICHEN IDEOLOGIE

H E R A U S G E G E B E N V O N MANFRED B U H R

ALEXANDER ABUSCH

Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus

AKADEMIE-VERLAG BERLIN 1971

„ . . . bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine .dritte' Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt... niemals eine außerhalb der Klassen und über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie." Lenin

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Vorbemerkung

Der revolutionäre Charakter des Marxismus-Leninismus als einer Wissenschaft des Kampfes, des Klassenkampfes, impliziert die kontinuierlich geführte prinzipielle Auseinandersetzung mit allen Erscheinungsformen der bürgerlichen und revisionistischen Ideologie. So gesehen ist der ideologische Klassenkampf ein unabdingbarer Bestandteil der im Kommunistischen Manifest wissenschaftlich begründeten welthistorischen Mission des Proletariats. Der Kampf der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei verlangt dergestalt zur Durchführung der sozialistischen Revolution, zur Errichtung ihrer politischen Herrschaft, der Diktatur des Proletariats, und zur erfolgreichen Gestaltung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft nicht nur die politische und ökonomische, sondern ebensosehr die konsequente ideologische und theoretische Entmachtung der Bourgeoisie. Anliegen der Reihe Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie ist es deshalb, die verschiedenen Erscheinungsformen der bürgerlichen und revisionistischen Ideologie der kritischen, das heißt der marxistisch-leninistischen Analyse zu unterziehen und in diesem Prozeß die prinzipiellen Positionen des MarxismusLeninismus zu festigen. In sie wurde die kritische, die historischen Grenzen markierende Behandlung des humanistischen ideologischen Erbes der progressiven Bourgeoisie einbezogen, um die Tendenz seiner Verwirklichung, seiner Weiter- und Höherentwicklung im Prozeß der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft aufzuweisen und es gegen seine falschen Nachkommen, die Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie, zu verteidigen. Bei der Durchführung des Anliegens der Reihe sind sich 5.

Autoren und Herausgeber der optimistischen Mahnung von Marx bewußt: „Die Arbeiterklasse verlangt keine Wunder... Sie hat keine fix und fertigen Utopien... Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten . . d a ß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen." Und: „Im vollen Bewußtsein ihrer geschichtlichen Tendenz und mit dem Heldenentschluß, ihrer würdig zu handeln, kann die Arbeiterklasse sich begnügen, zu lächeln gegenüber den plumpen Schimpfereien der Lakaien von der Presse wie gegenüber der lehrhaften Protektion wohlmeinender Bourgeoisiedoktrinäre, die ihre unwissenden Gemeinplätze und Sektierermarotten im Orakelton wissenschaftlicher Unfehlbarkeit abpredigen." Manfred Buhr

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Inhalt

Vorbemerkung des Herausgebers

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Vorwort 9 Alexander von Humboldt Gelehrter - Humanist - Freund der Völker 11 Hölderlins poetischer Traum einer neuen Menschengemeinschaft 25 Hegels Werk in unserer Zeit 47 Erben und Vollstrecker des Manifestes 69 Lenin - Hirn und Herz der Revolution 91 Johannes R. Bechers streitbarer Humanismus 113 Brecht und die Politik auf dem Theater 127 Gedenkworte für Arnold Zweig 137 Anna Seghers und ihre Leser 145 Kulturelle Aufgaben im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus 155 Das geistig-moralische Antlitz des neuen Menschen 193 Drucknachweise Namenverzeichnis

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Vorwort

Dieser Band mit Arbeiten aus den drei Jahren 1968 bis 1970 hat zum Grundgedanken die Traditionskraft und revolutionierende Lebensverbundenheit der Theorie und Praxis des sozialistischen Humanismus in unserer Deutschen Demokratischen Republik. Den hier zusammengefaßten Arbeiten, ob sie von Humboldt, Hölderlin, Hegel, Marx und Engels handeln, ist immanent die tiefe Verbundenheit der Ideen und der Wirklichkeit unserer neuen Gesellschaft mit dem Erbe humanistischer Wissenschaft, Literatur und Kunst der Vergangenheit. Zugleich dienen sie der Herausarbeitung der historisch neuen Qualität der Kultur des sozialistischen Humanismus, die nicht allein die edelsten Hoffnungen, Ideen, programmatische Forderungen humanistischer Denker und Kämpfer früherer Zeiten verwirklicht, sondern sie auch nach den Erfordernissen unserer Epoche und kommender Zeiten schöpferisch weiter- und höherentwickelt. Friedrich Schillers Forderung an die Künstler: „Fern dämmere schon in Eurem Spiegel / Das kommende Jahrhundert auf!" verwandelt sich bei uns bereits in die wissenschaftliche Prognostik naher Zukunft. Der im Titel erscheinende Begriff Tradition meint aber ebenso unsere neue und neueste Tradition im revolutionären Übergang vom bürgerlichen zum sozialistischen Humanismus. Sie entstand und entsteht in der kritischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie in ihren alten oder neuartig verkappten Erscheinungsformen. Sie widerspiegelt den Kampf sozialistischer Humanisten und ihrer Verbündeten im weltumspannenden Kampf gegen die Mächte des Imperialismus. Dafür stehen in diesem Band neben dem großen Namen Wladimir Iljitsch Lenins die Namen von Johannes R. Becher, Ber-

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tolt Brecht, Arnold Zweig und Anna Seghers, die im Bereich der Literatur eine bereits klassisch zu nennende Verkörperung dieser neuen Tradition darstellen. Ich bin mir bewußt, daß der Titel dieses Bandes nur voll gültig sein kann, wenn der Leser ihn im Zusammenhang mit meinen Arbeiten über Shakespeare, Schiller, Goethe und Fichte, über eine Reihe neuerer Schriftsteller und Künstler und überhaupt über kulturpolitische Fragen in meinen anderen Büchern sieht. Dennoch bedeutet diese Sammlung von Reden und Essays der Jahre 1968/70 nicht nur eine Anwendung früher ausgedrückter Gedanken auf andere Gegenstände; sie erstrebt - wie könnte es anders sein? - ihre Vertiefung mit den fortschreitenden Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnissen, die das Leben in unserem sozialistischen deutschen Nationalstaat uns bringt und täglich erneut von uns fordert. Alexander Abusch Berlin, im November 1970

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Alexander von Humboldt Gelehrter - Humanist - Freund der Völker

Nur einem einzigen Ausländer wurde im 19. Jahrhundert der höchste Ehrentitel der mexikanischen Republik verliehen. Es war Alexander von Humboldt, dessen 200. Geburtstag wir in diesen Tagen in unserer Deutschen Demokratischen Republik ebenso festlich begehen wie die Völker Lateinamerikas, der Sowjetunion, Frankreichs und anderer Länder. Benito Juárez, Nationalheld und erster Präsident des unabhängigen, freien Mexiko, erließ am 29. Juni 1859 ein Dekret, das Alexander von Humboldt diesen Ehrentitel eines „benemérito de la patria", eines Wohltäters des Vaterlandes, zuerkannte. So erhob sich, schon wenige Wochen nach seinem Tode, sein Nachruhm dort, wo der Glanz seines humanistischen Geistes den Unterdrückten geleuchtet hatte. Ein zweiter Ehrentitel steht in erhabenen Lettern auf dem Denkmal vor dieser Universität, die seit ihrer Wiedereröffnung nach dem Sieg der sowjetischen Befreierarmee und der Heere der Antihitlerkoalition den verpflichtenden Namen der Brüder Humboldt trägt. Die von der Universität Havanna, mit der unsere Berliner Universität freundschaftliche Beziehungen unterhält, gestiftete Inschrift feiert Alexander von Humboldt als „segundo descubridor de Cuba", als zweiten Entdecker Cubas. Wir dürfen die Widmung im Sinne aller Völker Mittel- und Südamerikas erweitern - und ich tue es nach meinen persönlichen Erfahrungen: Wir sprechen von Alexander von Humboldt als dem zweiten, wissenschaftlichen Entdecker Amerikas. In der Zeit der faschistischen Herrschaft über Deutschland gelang es deutschen Antifaschisten, in Mexiko ein Asyl zu finden. Auch ich gehörte zu jenen, die der erneuten Verfolgung durch den Faschismus nach der Invasion in Frankreich entkamen 11

und - noch gefährlicher als zu Humboldts Zeiten - auf einer abenteuerlichen Fahrt, zwischen hitlerdeutschen und englischen U-Booten, über den Atlantik Veracruz erreichten. Wir deutschen Antifaschisten, von der nationalrevolutionären Regierung Mexikos großherzig aufgenommen, haben eigentlich erst in diesem Lande die in unserem Jahrhundert noch lebendige Wirkung Alexander von Humboldts verstehen gelernt. Gewiß, wir wußten auch vorher von Humboldts gewaltiger wissenschaftlich-humanistischer Leistung und seinem Ruf in den lateinamerikanischen Staaten. Das alle Vorstellungen überragende Maß der Hochachtung für sein Werk und seine Persönlichkeit wurde für uns zu einem Erlebnis, wie man es nur an Ort und Stelle erwerben kann. Die Erinnerung an Humboldt zu pflegen, indem sein Werk und sein humanistisches Vermächtnis zu gesellschaftlicher Wirkung begracht wird - das ist dort kein Privileg der Fachleute, der Naturwissenschaftler, der Ökonomen, der Politiker. Nicht nur Denkmäler künden von seinem Ruhm; Straßen und öffentliche Gebäude, Schulen, Parks, Hotels und Haziendas tragen in den Ländern Lateinamerikas seinen Namen. Nicht nur an Gedenktagen erscheint sein Name in Zeitungen und Zeitschriften. Selbst die Schmach, die Hitlers bestialischer Rassenwahn über Deutschland gebracht hatte, konnte - und das gilt bis auf den heutigen Tag - nichts daran ändern, daß Humboldts Ideen den sozialen und nationalen Befreiungskampf der Völker Lateinamerikas durchdringen. Als Gegenstand der Wissenschaften findet dort jede bedeutende ausländische Publikation über ihn sachkundige, verständnisvolle Interpreten, die sich mit Liebe und Leidenschaft für die Ergänzung der Kenntnis über den großen Freund der Völker Lateinamerikas einsetzen. Es ist nicht übertrieben: Von allen Großen des deutschen Geistes, von allen bedeutenden Kulturleistungen, die der klassische deutsche Humanismus der Welt gegeben hat, wird Alexander von Humboldts Beitrag wegen seines direkten Bezugs auf die lateinamerikanischen Völker von ihnen am meisten geschätzt. So war in den ersten Dezennien der Existenz unabhängiger, freier Staaten in Lateinamerika im vorigen Jahrhundert auch die ideelle Stellungnahme für oder gegen Humboldt gleichbedeutend mit dem Engagement für den demokratischen Fortschritt oder die Reaktion. 12

Humboldts geradezu legendärer Ruhm in Lateinamerika hat seine historisch konkreten Ursachen. Der junge Wissenschaftler, der zusammen mit dem französischen Botaniker Aimé Bonplana von 1799 bis 1804 in einer strapazenreichen, wissenschaftlich außerordentlich ergiebigen Forschungsreise durch die Gebiete der heutigen Staaten Venezuela, Cuba, Columbien, Ecuador, Peru und Mexiko fuhr, kam nicht als Conquistador im Stile eines Cortez und seiner Spießgesellen. Seine Reise war eine Conquista anderer Art, eine wissenschaftliche Eroberung weiter Gebiete Lateinamerikas. Die Forschungsergebnisse Humboldts bedeuteten damals nicht nur eine außerordentliche Bereicherung und Erweiterung des wissenschaftlichen Weltbildes; sie waren auch für die Völker Lateinamerikas eine unmittelbare Hilfe für ihre wirtschaftliche, geistig-kulturelle und politische Entwicklung, für ihren in jenen Jahrzehnten aufflammenden Kampf um die nationale Unabhängigkeit von der kolonialen Knechtung und Ausbeutung durch Spanien - und später dann gegen den Landraub durch Nordamerika. Humboldts Ideen konnten unmittelbar wirken, weil sie sich nicht auf die Naturwissenschaften beschränkten, sondern auf Beobachtungen und Feststellungen eines Gelehrten beruhten, der aus seinem politischen Engagement für die Ideen der französischen Revolution keinen Hehl machte. Humboldt, dem preußischen Hofadel entstammend, die Bindung an ihn als Kammerherr von zwei preußischen Königen bis zum Ende seines Lebens nie ganz aufgebend, geriet immer erneut in Widersprüche zu dem reaktionären, bornierten Geist der Adelskaste. Ein entscheidendes Bildungserlebnis verdankte er dem Entdeckungsreisenden und revolutionären Demokraten Georg Forster, einem der wenigen hervorragenden deutschen Gelehrten, die direkt von den jakobinischen Ideen beeinflußt wurden. Liest man Forsters Einschätzung, daß die Geschichte Lateinamerikas nach der Conquista eine lange und grausame Chronik des Raubbaus an den Naturschätzen, zugleich eine Chronik der Versklavung und Ausbeutung ihrer Bevölkerung zugunsten der Bereicherung parasitärer, zahlenmäßig kleiner herrschenden Klassen von Großgrundbesitzern und Kolonialisten sei, so wird klar, von welchen Ideen auch Humboldts Weltanschauung maßgebend geprägt wurde. Als 1789 die bürgerliche französische Revolution ihre Ideen der Freiheit, 13

Gleichheit und Brüderlichkeit ausstrahlte, fand sie deshalb in dem zwanzigjährigen Alexander von Humboldt einen im Sinne der deutschen Aufklärung erzogenen Anhänger, der sich fortan den „Ideen von 1789", wie er selbst bekannte, verpflichtet fühlte. Humboldts aufklärerisches Temperament war auch Geist vom Geiste Lessings, der sich einer „Freiheit" schämte, die verlangt, daß Menschen des Menschen Sklaven seien. Es war Geist vom Geiste Herders, der einen Zustand wollte, in dem jeder im Volk als Mitarbeiter an einem Bau der Humanität anerkannt werde. Es war Geist vom Geiste Fichtes, der forderte „Freiheit, gegründet auf die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt". Es war noch im Alter Geist vom Geiste seines Freundes Goethe, der davon träumte, mit freiem Volk auf freiem Grund zu stehen. Die Ideale seiner Jugend wurden zur geistigen Leitlinie der wissenschaftlichen Arbeit Alexander von Humboldts. An ihnen, im politischen Wechsel der Zeiten in Preußen, auch unter Metternichs Reaktion nach 1818 festhaltend, hat er jede Art von Vorrechten, ob die eines Standes, einer Rasse, einer Nation oder eines Glaubens, konsequent abgelehnt und mit seinem wissenschaftlichen Wort bekämpft. Dazu gehörte ein hohes Maß von Überzeugungstreue und der Mut einer Persönlichkeit von unbestechlichem Charakter, denn er lebte ja in einer Welt, in der Anschauungen von der Überlegenheit der weißen Rasse bei den Herrschenden als unantastbar und die rücksichtslose Ausbeutung von Kolonien als selbstverständlich galten. In Humboldts wissenschaftlichem Werk wie in seinen nahezu 50 000 Briefen findet man stets kurze Bemerkungen oder ausführliche Darlegungen, in denen koloniale Unterdrückung als unmenschlich angeprangert und die allerorts in Lateinamerika festgestellte erbarmungslose Ausplünderung der eingeborenen Bevölkerung als die Hauptursache für das Zurückbleiben dieser Länder verurteilt werden. „Die spanischen Kolonien gleichen in allem der Unwissenheit und Finsternis des 16. Jahrhunderts." 1 Dieses klare Urteil notierte Humboldt in seinem bisher unveröffentlichten Tagebuch, das die Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin als kostbares Zeugnis der Menschlichkeit aufbewahrt. 1

A . v. Humboldt, Tagebuch, II u. VI, 2 0 9 , Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin

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Was Alexander von Humboldts Anschauungen eine so nachhaltige Wirksamkeit verleiht, ist die Tatsache, daß sie nicht nur aus der Emotion einer noblen Persönlichkeit kommen, sondern daß sie von ihm wissenschaftlich exakt begründet und durch sorgfältige Beobachtungen gesichert sind. In seinem „Versuch über Cuba" zum Beispiel führte er den Nachweis, daß die von ihm gehaßte Sklaverei nicht nur aus moralischen Erwägungen verwerflich sei, sondern auch als ökonomisches Prinzip überholt und ein historischer Anachronismus. Humboldt war eben - und das macht seine Universalität aus - mehr als nur ein Naturwissenschaftler von bedeutendem Rang. Er begriff sich selbst zugleich als Historiker und als Gesellschaftswissenschaftler, den das Leben des Volkes, insbesondere der „letzten Klassen", mindestens in gleichem Maße interessierte wie geographische oder botanische Fakten. Ja, er wurde auch zum Literaturhistoriker, wie zum Beispiel seine in materialistischem Geist gehaltene Untersuchung über die Beziehung der Dichtung der semitischen und aramäischen Völker zu ihrer Naturerkenntnis bezeugt. Alexander vom Humboldt erhob energischen Protest, als im Jahre 1856 bei einer Übersetzung seiner Schrift über den politischen Zustand der Insel Cuba in New York das Kapitel „Betrachtungen über die Sklaverei" weggelassen wurde: „Auf diesen Teil meiner Schrift lege ich eine weit größere Wichtigkeit als auf die mühevollen Arbeiten astronomischer Ortbestimmungen, magnetischer Intensitätsversuche oder statistischer Angaben." Er hob mit Freimut hervor, wie wichtig ihm besonders die Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Kolonien war. D a ihn die Lage der arbeitenden Bevölkerung mit tiefer Empörung erfüllte, nannte er die Ursachen ihrer schändlichen Situation offen beim Namen. In seinem Werk „Reise in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents" lesen wir: „Die das Land bauen, sind meist nicht Eigentümer desselben. Die Frucht ihrer Arbeit gehört dem Adel, und das Lehnssystem, das solange ganz Europa unglücklich gemacht hat, läßt auch heute noch das Volk der Kanarien zu keiner Blüte gelangen." 3 2

A. v. Humboldt, Reise in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents. Bd. 1, Stuttgart 1859, S. 91

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Das war Ausdruck der Ideen von 1789. Es weist uns in seiner geistigen Kühnheit Humboldt als einen Außenseiter der preußischen Gesellschaft seines Zeitalters aus. Er wußte übrigens genau um diese Rolle. Noch der Zweiundsiebzigjährige bekennt in einem Brief an den Freiherrn von Bunsen: Ich, „den die aristokratische P a r t e i . . . wütig h a ß t , . . . bin jener Partei ein alter trikolorer Lappen, den man konserviert und der (kommt einmal die Not wieder) deployiert werden kann." 3 Humboldt, von den preußischen Junkern beschimpft als „trikolorer Lappen" - das erinnert daran, daß auch Johann Gottlieb Fichte von ihnen den „Schimpfnamen" eines Jakobiners erhielt. Aber gerade durch diese geistige Haltung war Humboldt imstande, die Ursachen gesellschaftlicher Mißstände tiefer zu durchschauen und zu dokumentieren, seiner Zeit weit vorauszublicken. Ich möchte einen Gedanken meines Freundes Egon Erwin Kisch erweitern, indem ich sage, daß Alexander von Humboldt ideell in der Epoche zwischen dem Humanismus Johann Wolfgang Goethes und dem sozialistischen Humanismus von Karl Marx steht. Wir Heutigen, mit den Erkenntnissen von Marx und Lenin die Welt erhellend, lesen jetzt noch mit Bewunderung Passagen, die Alexander von Humboldt auch als Historiker weit über die Fachkollegen seiner Zeit hinausheben. Als Beispiel dafür nur eine Stelle aus dem „Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien": „Die Geschichte der letzten Klassen eines Volkes ist nichts als die Erzählung der Ereignisse, welche die große Ungleichheit des Vermögens, der Genüsse und des individuellen Glücks begründet, und damit nach und nach einen Teil der Nation unter die Vormundschaft und die Abhängigkeit des Anderen gesetzt haben. Aber diese Erzählung suchen wir beinah vergebens in den Annalen der Geschichte. Sie bewahren wohl das Andenken an große politische Revolutionen, an Kriege, Eroberungen und andere Geißeln, welche die Menschheit betroffen haben, aber sie lassen uns nur weniges über das mehr oder minder klägliche Schicksal der ärmsten und zahlreichsten Klasse der Gesellschaft [wissen]."4 3

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Briefe von A. v. Humboldt an Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen, Leipzig 1869, Seite 51 A. v. Humboldt, Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien, Bd. 1, Tübingen 1809, S. 140-141

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Diese grundlegende historische Erkenntnis Humboldts läßt, in literarischer Parallele, an Bertolt Brechts Gedicht über die Fragen eines lesenden Arbeiters denken. Trotz der ideellen Einflüsse, die Alexander von Humboldt von Forster und dem philosophischen und literarischen Humanismus des jungen deutschen Bürgertums empfing, konnte er bei den damaligen Klassenverhältnissen in den deutschen Einzelstaaten und unter den besonderen Verhältnissen in Preußen nicht zu einem Revolutionär werden. E r erlebte, wie die preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein in der Ära der Reaktion Metternichs entmachtet und geschmäht, die bürgerlich-demokratischen Bildungsreformen seines Bruders Wilhelm von Humboldt sabotiert wurden - und es hing mit jener Atmosphäre in Preußen zusammen, daß er ernstlich mit dem Gedanken umging, nach Mexiko überzusiedeln und dort eine Akademie zu leiten. Doch dann entschied er sich zu seiner russisch-asiatischen Reise, deren Ergebnisse wiederum zu einem Zeugnis für die geistige Einheit seiner Persönlichkeit als Wissenschaftler und Humanist wurden und ihm die Freundschaft von bedeutenden russischen Gelehrten eintrugen. Aus Humboldts gesellschaftlicher Situation, die ihn nicht selten intern zu geharnischten Protesten gegen geplante reaktionäre Gesetze in Preußen, z. B. über die Juden bewog, ist es zu erklären, daß der große Gelehrte bis zuletzt noch - wenn auch meist vergeblich - an die Weisheit der Regierenden appellierte mit seinen Empfehlungen einer „grundlegenden Veränderung der Verfassung". D i e Logik und die Dialektik der Geschichte brachten es indessen mit sich, daß Humboldts ungeschminkte Darstellung der kolonialen Mißstände, der Ausplünderung der Indios und der Negersklaverei objektiv revolutionierend zugunsten der nationalen Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika wirkte. D i e Ideen Alexander von Humboldts sind im ersten Band des „ K o s m o s " klassisch formuliert: „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechtes behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenrassen. E s gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Kultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt, zur Freiheit, welche in roheren Zuständen dem Einzelnen, in dem Staatenleben bei dem 2

Abusch

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Genuß politischer Institutionen der Gesamtheit als Berechtigung zukommt." 5 Dabei zitiert Alexander von Humboldt seinen Bruder Wilhelm, der gleichermaßen die Idee der Humanität ausgedrückt hatte. An einer anderen Stelle, im 2. Band des „Kosmos", bekennt er: „Das Prinzip der individuellen und der politischen Freiheit ist in der unvertilgbaren Überzeugung verwurzelt von der gleichen Berechtigung des einigen Menschengeschlechts. " 6 Es gehört gewiß zu den makabersten Szenen in der an solchen nicht armen Geschichte der Hitlerzeit, daß ausgerechnet vor den Denkmälern der Brüder Humboldt, die ihr Credo der Humanität schrieben, am 10. Mai 1933 Bücher öffentlich verbrannt wurden, die von Humboldts Geist der Universalität und Menschenverbrüderung beseelt waren. Daß nicht auch Alexander von Humboldts Bücher dem Scheiterhaufen überantwortet wurden, lag gewiß nicht am Respekt vor seinem Werk. Wann hätten denn die faschistischen Rassenhetzer, Schänder der Menschlichkeit und Geist-Verfälscher jemals Respekt vor Leistungen humanistischen Geistes gehabt? Aber sie wollten das ökonomische und politische Eindringen des deutschen Imperialismus in die Länder Lateinamerikas, das er im Konkurrenzkampf mit den nordamerikanischen Imperialisten betrieb, weiterführen auch in der kulturellen Verkleidung eines Alexander von Humboldt. Es ist eine traurige Tatsache, daß auch das Iberoamerikanische Institut in Berlin für diese ebenso antiwissenschaftliche wie antihumanistische Zielsetzung des deutschen Imperialismus mißbraucht wurde. Doch alle Machenschaften in der Ära des deutschen Imperialismus und Faschismus vermochten nicht zu verfälschen, was mit Humboldts Namen an menschlichen Idealen verknüpft ist: die Würde des Menschen zu wahren, seine Existenz durch geistige Kultur und durch Verbesserungen der gesellschaftlichen Verhältnisse menschlicher zu machen, die Ausbeutung der Indios und der Negersklaven durch den spanischen Adel, den römischen Klerus und die indianischen Kaziken zu beseitigen. Diese seine erklärten Ziele trugen Alexander von Humboldt die Freundschaft und das ehrenvolle Gedenken der lateinameri5

A . v. Humboldt, Kosmos, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1 8 4 5 , S. 3 8 5

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A . v. Humboldt, Kosmos, Bd. 2, Stuttgart und Tübingen 1 8 4 7 , S. 2 3 5

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kanischen Völker ein, ihrer großen Volkshelden, der Kämpfer für ihre Freiheit, von Simón Bolívar bis zu Benito Juárez. Ihren freundschaftlichen Empfindungen gab der mexikanische Minister Alamán Ausdruck, als er am 21. Juli 1824 an Humboldt schrieb: „ D a s ganze Volk ist von den Gefühlen der Dankbarkeit für Ihre Arbeiten erfüllt, die der Welt gezeigt haben, was es zu werden imstande ist." 7 D i e wahren Volksfreunde Lateinamerikas vermochten, mit Hilfe und an der Spitze ihrer Völker, in den kühnen und siegreichen revolutionären Erhebungen des 19. und 20. Jahrhunderts bereits so viel an Freiheit zu verwirklichen, daß die ausgehaltenen Fronvögte des Auslands, von Porfirio Díaz bis zu Batista und Trujillo, ja bis in die Gegenwart nicht vermochten, den Geist des nationalen und sozialen Unabhängigkeitskampfes in Lateinamerika auszulöschen, der einst von Humboldt ideell mitbegründet worden war. In Erkenntnis der Rolle Humboldts haben wir als deutsche Antifaschisten und Antiimperialisten in Lateinamerika während des Hitlerkrieges seinen humanistischen Geist in unserer Zeitschrift „Freies Deutschland" 8 und dann in unserer „Bewegung Freies Deutschland" mit zu unserem Banner erhoben. Gleichzeitig waren wir über die Weltmeere und Kriegsfronten politisch verbunden mit dem Kampf des „Nationalkomitees Freies Deutschland" in Moskau, in dem die Einheitsfront- und Volksfrontpolitik unserer revolutionären Partei der Arbeiterklasse ihre kontinuierliche Weiterführung fand. Weil unsere lateinamerikanischen Gastgeber in uns die wahren Vertreter des humboldtschen Deutschland sahen, schlössen sie Freundschaft mit uns; sie gewährten uns - auch damals imperialistischen Kreisen der U S A zum Trotz - ihre Hilfe, um in schwerer Zeit das antifaschistische und humanistische deutsche Wort zu bewahren. In dieser Stunde sei eines Mannes gedacht, der es verdient, ein wissenschaftlicher Nachfahre Humboldts genannt zu wer7

A. v. Humboldt, Correspondance (P. 1) Paris 1865, S. 2 2 5 - 2 2 6

8

Egon Erwin Kisch, Humboldt, politisch und Deutschland", Mexico, D . F., Nr. 7, Mai 1942 Egon Erwin Kisch, Nr. 11, Sept. 1942



Die

(. . .) publ. par de L a

wissenschaftliche

privat,

Conquista,

in: in:

Roquette, „Freies Ebenda,

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den, dem aber leider die Rückkehr nach Deutschland versagt blieb. Ich spreche von Professor Alfons Goldschmidt, der jetzt sein 90. Lebensjahr vollendet hätte. Von dem Lateinamerikanischen Wirtschaftsinstitut in Berlin, das er begründet hatte, durch den deutschen Faschismus verjagt, lehrte Goldschmidt Wirtschaftswissenschaft an der Universität Mexiko und starb 1940 in Cuernavaca. Die mexikanische Regierung gewährte ihm ein Staatsbegräbnis und begründete ihren Beschluß mit dem großen Wort, daß Goldschmidt „nach Alexander von Humboldt der am meisten um Mexiko verdiente Deutsche" war. Ja, Alfons Goldschmidt, schon in den zwanziger Jahren bekannt durch seine Bücher über Argentinien und Mexiko, von denen eines den Titel „Die dritte Eroberung Amerikas" trägt, verdiente geradezu in diesem Humboldt-Jahr eine eingehendere Würdigung. Er war im Geiste seines großen Vorgängers ein Freund der indianischen Menschen, der „braunen Bauern" in ihrem harten Alltag. Nicht zufällig trägt Goldschmidts letztes Buch den Titel „Tierra y Libertad" (Boden und Freiheit), die Losung der mexikanischen Revolution im 20. Jahrhundert, und trägt den Untertitel „El desarrollo campesino en Mexico". Vergessen wir nicht, daß er dieses Buch schrieb, als Mexikos Volk unter der Führung von Lazaro Cardenas die Ölkapitalisten aus den USA enteignet und das Land der Großgrundbesitzer aufgeteilt hatte. Auch Goldschmidt, Wirtschaftswissenschaftler und Dichter zugleich, träumte kämpfend von einer Zukunft, in der alle Völker in einer großen Brüderlichkeit verbunden sein werden, indem sie ihre materiellen und geistigen Leistungen ohne diskriminierende Bedingungen austauschen werden zu gegenseitigem Nutzen. Alfons Goldschmidt war deshalb ein streitbarer Freund der Sowjetunion und ihres sozialistischen Humanismus. Kämpfend für die Befreiung Deutschlands, in brüderlicher Liebe verbunden mit den Menschen Lateinamerikas, lehrten damals antifaschistische deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller an ihren Universitäten und auch an der Universidad Obrera ihres Gewerkschaftsbundes: Ludwig Renn an der Universität Morelia, Professor Johann L. Schmidt mit zwei Lehrstühlen an der staatlichen und der gewerkschaftlichen Universität in der mexikanischen Hauptstadt, Georg Stibi, Professor 20

Otmar Lendle und andere an der Universidad Obrera. Meine Vorlesungen an dieser über die sozialen Wurzeln des deutschen Faschismus trugen zum Entstehen meines Buches „Der Irrweg einer Nation" bei. Unsere Zeitschrift „Freies Deutschland" wurde zu einem politisch-literarischen Sammelpunkt aller großen und reinen Stimmen des deutschen Humanismus im Exil, der emigrierten Schriftsteller weit über die beiden Amerikas hinaus bis zu ihren Kampfgefährten in der Sowjetunion. So ist es gewiß kein Zufall der Geschichte, daß fast alle, die in den finsteren Jahren des Nazismus durch ihr dichterisches, wissenschaftliches und politisches Wort in den Staaten Lateinamerikas im Geiste Humboldts wirkten, bei ihrer Rückkehr nach 1945 das Gebiet unserer heutigen Deutschen Demokratischen Republik wählten, in der die Losung „Tierra y Libertad" konsequent verwirklicht und die antifaschistisch-demokratische Macht der Arbeiter und Bauern errichtet wurde, die in einer zweiten Revolution hinüberwuchs in die Macht des Sozialismus. Sie wählten das freie, das real humanistische Deutschland, verkörpert in unserer Republik. Deutsche Humanisten kehrten damals zu uns zurück, weil sie auch die Traditionen Alexander von Humboldts, für deren Wert und Würde sie gestritten, in der gesellschaftlichen Gestaltung und in der Staatspolitik unserer Republik lebendig werden lassen konnten. Die gastfreundliche Hilfe, die die Völker Lateinamerikas unseren exilierten deutschen Kulturschaffenden erwiesen haben, ist unvergänglich in die Kulturgeschichte unseres neuen antifaschistischen und antiimperialistischen Deutschland eingegangen. Dafür zeugen auch Romane und Erzählungen von Anna Seghers, Ludwig Renn, Bodo Uhse und Kurt Stern, die vom Lebenskreis der lateinamerikanischen Menschen handeln. Dafür zeugt der Lyriker Erich Arendt, der schon in Columbien begann, die Poesie des Chilenen Pablo Neruda und des Cubaners Nicolás Guillén in Nachdichtungen von hohem Rang ins Deutsche zu übertragen. Ein Blick in unsere Verlage zeigt heute, wie zahlreich in den zwanzig Jahren unserer Republik die erschienenen Bücher aus und über Lateinamerika sind. Tief und stark sind die Gefühle der Politiker und Wissenschaftler unserer sozialistischen Republik für den Kampf der Völker Lateinamerikas um ihre volle soziale und nationale Freiheit. 21

Was Alexander von Humboldt vorgeahnt und vorgebildet hat, ein neues Deutschland der Humanität, wird in unserer Deutschen Demokratischen Republik verwirklicht, die geführt wird von in Jahrzehnten bewährten antiimperialistischen Kämpfern, an ihrer Spitze Walter Ulbricht. Das lebenslange Wirken Humboldts gegen jede Art von Rassendiskriminierung, gegen jede Art von kolonialer Ausbeutung, für die Brüderlichkeit der Menschen aller Hautfarben, ist in unserem ersten sozialistischen Staat deutscher Nation zu neuer geschichtlicher Qualität entwickelt. Seine ethisch-moralischen Prinzipien sind zur Verfassungswirklichkeit in unserem Staat geworden. Unsere neue Gesellschaft ist die Schöpferin einer sozialistischen Kultur und Bildung für das ganze Volk ohne Klassenund Standesschranken. So kann unsere Deutsche Demokratische Republik für sich in Anspruch nehmen, auch der legitime Erbe und Verwirklicher der edlen Ideen Alexander von Humboldts und seines Bruders Wilhelm zu sein. Unsere wissenschaftlichen Institutionen, voran die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ehren Alexander von Humboldt durch zahlreiche Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen zu seinem 200. Geburtstag. Wir haben eine tiefschürfende Humboldt-Forschung, das umfassendste Humboldt-Archiv und in Verbindung damit seit 1956 eine ständige Arbeitsstelle bei der Akademie. All dies ist jedoch nur der wissenschaftliche Ausdruck dafür, daß Humboldts Ideen bei uns zur Macht des Lebens geworden sind. Humboldt durch Geistestaten zu ehren, ist bei uns ein natürlicher Bestandteil unserer Staatspolitik, denn unsere Republik ist das Deutschland Humboldts, das antiimperialistische Deutschland. Auch deshalb wächst von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat das internationale Ansehen unserer Republik in den Staaten Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, mit denen wir uns in ihrem gerechten Kampf gegen Imperialismus und Neokolonialismus leidenschaftlich verbündet fühlen. So besteht auch ein tiefer geistiger Zusammenhang zwischen den Feiern zu Ehren Alexander von Humboldts und den Feiern zum 20. Jahrestag unserer Deutschen Demokratischen Republik. Wir wenden uns hier und heute zugleich gegen den Mißbrauch des humboldtschen Namens und seines Erbes durch den westdeutschen Staat, der in modern getarnter Form die impe22

rialistischen Traditionen des wilhelminischen und des faschistischen Deutschlands fortführt. W o immer, wie in Vietnam oder im Nahen Osten, Aggressionskrieg mit barbarischen Mitteln geführt wird, wo immer unter Mißbrauch ökonomischer Macht und dem Deckmantel sogenannter „Entwicklungshilfe" eine neokolonialistische Ausplünderung der Völker betrieben wird, dort sind mit Sicherheit Westdeutschlands Imperialisten mit im Geschäft. Wen wundert es, wenn heute im westdeutschen Staat ein Sprecher der Neofaschisten die Vergasung von Millionen angeblich „rassisch minderwertiger" Menschen durch Hitler öffentlich und ungestraft als eine „normale Art", Menschen umzubringen, bezeichnen d a r f ? ! Wem klingt nicht die bestialische nazistische Bezeichnung „Untermenschen" wieder in den Ohren, wenn heute der westdeutsche Finanzminister Franz Josef Strauß politische Gegner „Tiere, für die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist", zu nennen wagen d a r f ? ! Es ist ideologische Falschmünzerei des westdeutschen Staates, an Alexander von Humboldts 200. Geburtstag humboldtisch zu reden und in der politischen Praxis antihumboldtisch zu handeln. W i r sind davon überzeugt, daß auch jene westdeutschen Geistesschaffenden, denen Humboldts großer humaner Geist viel bedeutet, diesen Widerspruch erkennen. Wir, im sozialistischen Staat deutscher Nation, ehren in Humboldts wissenschaftlichem und ideellem Vermächtnis vor allem sein kämpferisches Menschentum. In unserem Zeitalter der Wissensvermehrung von ungekanntem Ausmaß und der wissenschaftlich-technischen Revolution steht mehr denn je zuvor die Grundfrage, ob die Erkenntnisse und Errungenschaften der Wissenschaften vom Imperialismus gegen die menschliche Existenz mißbraucht werden - oder ob durch den Sozialismus der humane Sinn der Wissenschaften zum Wohle der Völker voll erfüllt wird. Im Zeichen dieser weltweiten Auseinandersetzung machen seine Liebe zu den Menschen und zur Natur, die uns aus seinen Werken noch heute entgegenströmt, sein humaner Geist, Alexander von Humboldt des Ruhmes und der Ehre würdig, die ihm die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin und die Humboldt-Universität zu seinem 200. Geburtstag erweisen. 23

E s ist schwer, knapp und gültig eine Formel zu seiner Würdigung zu finden. Wir möchten es deshalb mit Goethe halten, der, nachdem er am 11. Dezember 1826 ein langes freundschaftliches Gespräch mit Alexander von Humboldt geführt hatte, zu Eckermann sagte: „Was ist das für ein M a n n ! " Dieser Mann, Alexander von Humboldt, und unsere deutsche sozialistische Republik - sie sind miteinander verbunden in einer großen geschichtlichen und geistigen Kontinuität. Humboldts E r b e ist für uns und wird für uns immer sein: das Bekenntnis zu einem tätigen Humanismus im Geiste unserer sozialistischen Menschengemeinschaft. 1969

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Hölderlins poetischer Traum einer neuen Menschengemeinschaft

Klingt es seltsam, eine Ansprache zum 200. Geburtstag von Friedrich Hölderlin im Weimarer Nationaltheater mit der Frage zu beginnen: Wer eigentlich war Hölderlin? War er, unerreicht oft in der Schönheit und Harmonie seiner Sprachgestalt, ein mythisch abstrakter Hymniker, nur der „deutsche Grieche" unter den Lyrikern? Oder war er Sänger der Todessehnsucht, für irgendein Vaterland der Deutschen zu sterben, durch seine hohe Kunstform besonders zur Verlockung einer esoterisch gebildeten Jugend geeignet? Oder war er das Genie deutscher Poesie mit dem kühnen jakobinischen Geist, unter den Dichtern seiner geschichtlichen Zeit derjenige, der das Humanistische und das Vaterländische am konsequentesten vereinte, aber tragisch an der für ihn unfaßbaren Misere seiner Lebenswirklichkeit zerbrach, in Wahnsinn verdämmerte? Allein schon die Tatsache, daß wir zweihundert Jahre nach Hölderlins Geburt die Frage aufwerfen müssen: „Wer eigentlich war Hölderlin?", offenbart die noch nicht beendete geistige Auseinandersetzung um Hölderlins Wesen zwischen den Literaturhistorikern; vor allem zwischen denen unserer Deutschen Demokratischen Republik und den meisten der westdeutschen Bundesrepublik, doch auch zwischen Hölderlin-Forschern vieler Länder. Indem wir Friedrich Hölderlin, der physisch bis in ein spätes Lebensalter dahinsiechte, aber uns im Geist seiner Dichtung wie in der edlen Gestalt eines ewigen Jünglings bewahrt geblieben ist, hier und heute auferstehen lassen, müssen wir deshalb unseren Blick auf die Klassenkämpfe und das ideelle Ringen seiner Epoche richten, um das Wesen und das fortwirkende geistig-poetische Erbe seiner Dichtung wirklich zu erschließen.

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Von diesem Nationaltheater Weimar sind es nur wenige Kilometer durch die thüringische Landschaft nach J e n a : W i r schreiben die Jahre 1794/95. Johann Gottlieb Fichte, der 1793 in zwei Streitschriften die Maßnahmen der französischen bürgerlichen Revolution verteidigt und von den Fürsten Europas die Denkfreiheit zurückgefordert hatte, lehrt an der Universität. Friedrich Schiller, Professor an der gleichen Universität, schließt um diese Zeit seine schöpferische Dichterfreundschaft mit Goethe in Weimar, die von so grundlegender Bedeutung für die Herausarbeitung der Theorie der Ästhetik des Realismus und für Schillers eigenes Bühnenschaffen werden sollte. D e r vierundzwanzigjährige Friedrich Hölderlin ist von seinem schwäbischen Landsmann Schiller durch Abdruck von Gedichten und einem Fragment des „Hyperion" in seiner Zeitschrift „ D i e neue Thalia" bereits als bedeutender Dichter bekannt gemacht. Doch Hölderlin sitzt im Hörsaal zu Fichtes Füßen - und schreibt Ende November 1794 voll tiefer Bewunderung an seinen Freund Ludwig Neuffen „Fichte ist jetzt die Seele von J e n a . . . Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn' ich sonst nicht. In den entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen, und mit gleicher Kraft des Geistes die entlegensten kühnsten Folgerungen aus diesen Prinzipien zu denken, und trotz der Gewalt der Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen mit einem Feuer und einer B e s t i m m t h e i t . . . - dies . . . ist gewiß nicht zu viel gesagt von diesem Manne." 1 Hölderlins leidenschaftliches Bekenntnis zu Fichte, der als „geistiger Jakobiner" von einer feudal-reaktionären Meute geschmäht wurde und tatsächlich jakobinische Gedanken verfocht, war Ausdruck des von ihm bereits erreichten ideell-politischen Weltbildes. In Frankreich hatte zwar einige Monate vorher, am 27. Juli 1794, dem 9. Thermidor, die Konterrevolution über die Jakobiner gesiegt; aber nicht ausgelöscht waren damit ihre weltbewegenden Ideen, die auf Fichte und Hölderlin so stark wirkten. Hegel, der einst im Tübinger Theologenstift mit seinen Freunden Hölderlin und Schelling in einem gemein1

F. Hölderlin, Sämtliche Wecke, Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6. 1, Stuttgart 1 9 4 3 - 1 9 5 6 ,

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S. 1 4 0 (im folgenden abgekürzt zitiert: St. A . )

samen Zimmer gewohnt und mit ihnen sich für die französische Revolution begeistert hatte, sagte nun Ende Januar 1795 in einem Brief an Schelling: „Hölderlin schreibt mir zuweilen aus J e n a . . . Er hört Fichte'n und spricht mit Begeisterung von ihm als einem Titanen, ider für die Menschheit kämpft und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände eines Auditoriums bleiben werde . . ," 2 In den Jahren zuvor hatte der revolutionäre Terror der Jakobiner, von Karl Marx charakterisiert als die „plebejische Manier, mit den feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum, fertigzuwerden"3, selbst bei Dichtern wie Klopstock und Schiller, die zuerst der Revolution in Frankreich zugejubelt, Verwirrung hervorgerufen. Sie waren vor dem neuen gesellschaftlichen Inhalt und den Methoden der Revolution zurückgeschaudert, was allerdings danach nicht hinderte, daß die geistigen Ergebnisse der französischen Revolution die Werke von Schiller, Goethe und anderen deutschen Dichtern tief befruchteten. Fichtes - und damit auch Hölderlins - entschiedenere Hinneigung zu jakobinischen Ideen entstand zwar nicht erst nach dem Thermidor, aber bezeugte sich besonders in dieser Zeit der konterrevolutionären Hexenjagd gegen die „geistigen Jakobiner". Schon in meiner Rede zu Fichtes 200. Geburtstag legte ich dar, daß dieser weiterhin seine Treue zu dem Programm einer völligen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bekundete.4 Ja, Fichte ließ sogar im Jahre 1795, als diese Hexenjagd einen Höhepunkt erreichte und ihn selber schon erstmalig die Verjagung aus Amt und Würden bedrohte, seine 1793 anonym erschienene Streitschrift „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" in einer unveränderten zweiten Auflage erscheinen. Der Name des Autors war weiten Kreisen nicht unbekannt geblieben. Doch Hölderlin erklärte sich, „trotz der Gewalt der Finsternis", zu den gleichen kühnen Ideen. 2

F. Hölderlin, Werke, Briefe, Dokumente, hrsg. von Pierre Bertaux, München 1 9 6 3 , S. 8 0 3

3

Marx/Engels, Werke, Bd. 6, S. 1 0 7

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A . Abusch, Johann Gottlieb Fichte und die Zukunft der Nation, Berlin 1 9 6 2 , S. 1 6

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Hölderlins ideell-politische Haltung bewog ihn in jenen Jahren zu immer neuen Fassungen bei der Bemühung um einen vollendeteren Ausdruck seiner Ideen in Gedichten und dramatischen Entwürfen, und sie führte zu seinem „Hyperion". Sie war gewiß nicht allein das Ergebnis seiner so bedeutungsvollen Begegnung mit Johann Gottlieb Fichte in Jena. Hölderlin besaß eine besondere geistige Bereitschaft zur Aufnahme der politischen Ideen Fichtes, weil sein gesellschaftlicher Blick bereits durch die Literatur des deutschen klassischen Humanismus, die Schriften französischer Aufklärer und dann durch das erschütternde Ereignis der Revolution in Frankreich dafür geweitet war. Als der vierzehnjährige Hölderlin in eine seiner beiden Vorschulen für das Theologenstift in Tübingen eintrat, rief gerade des jungen Schiller „Kabale und Liebe" stürmisch die Herzen der Zuschauer gegen den Mißbrauch fürstlicher Macht auf. Das rebellisch-trotzende „In tyrannos" gab das große Thema für viele Werke der zeitgenössischen Literatur. Hölderlins frühe Dichtungen stehen geistig und auch formal noch im Zeichen des bewunderten Schiller, der in seinen Anfängen ebenfalls von Klopstocks Ruf zur Freiheit und seinen dichterischen Formen beeinflußt war. Mit gleichgesinnten Studenten vereinte Hölderlin sich im Tübinger Stift zu einem „Dichterbund"; sie trugen einige Gedichte vor und sangen Freiheitslieder, besonders Schillers Ode „An die Freude", die später über Jahrzehnte wiederholt in Beethovens musikalischem Werk zum Anklingen kam, bis er sie dann zum mächtigen weltverbrüdernden Ausklang seiner IX. Sinfonie erhob. Hölderlin wurde als Siebzehnjähriger beflügelt von Schillers Forderung nach dem „kühnen Traumbild eines neuen Staates", wobei er die frühe, viel radikaler gegen die klerikale Inquisition und die Fürstenwillkür gerichtete Fassung von Schillers „Don Carlos" in der Zeitschrift „Thalia" gekannt hat. Im Jahre des Sturmes auf die Bastille von Paris begegnete Hölderlin dem Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart, den der fürstliche Despot von Württemberg zehn Jahre auf dem Hohenasperg gefangen gehalten hatte, - und wenn Hölderlin seiner Mutter schrieb: „O es wär eine Freude, so eines Mannes Freund zu sein",5 so widerklingt darin 5

St. A., Bd. 6.1, S. 45

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fast wörtlich Schillers: „Wem der große Wurf gelungen, / Eines Freundes Freund zu sein . . . " Jean Jacques Rousseau, geistiger Verfechter der Volkssouveränität, gab dem politischen Weltbild, dem Ideengang, dem Dichten Hölderlins noch in einem besonderen Maße die Richtung. „Vom großen Jean Jacques" hatte er sich „ein wenig über Menschenrecht belehren lassen", wie er schon am 28. November 1791 dem Freund Neuffer mitteilte,6 Rousseaus „Contrat social" entnahm er die Überzeugung, daß der einzelne gesellschaftlich wirken muß, wenn er sich als Persönlichkeit verwirklichen will. Eine spätere, unvollendet gebliebene Ode an Rousseau prägt einen Gedanken, der ihn wohl schon in den Tübinger Jahren bewegt hatte: Kennt er im ersten Zeichen Vollendetes schon Und fliegt, der kühne Geist, wie Adler den Gewittern, weissagend seinen Kommenden Göttern, voraus . . ? Auch Hölderlins ideeller Weg ging durch Widersprüche. So verstand er während der französischen Revolution mehr den historischen Sinn des Jakobinertums, aber weniger die revolutionären Methoden Marats und Robespierres. Doch es ist schwer zu wissen, wo seine Briefe Ausdruck zeitweiliger Desorientierung gewesen sein mögen, und wo Verhüllung seiner wahren Ansichten, da ihn schon 1792 sein Tübinger Freund Magenau gewarnt hatte: „Briefe haben Ohren." Bisweilen erhoffte auch er, gleich anderen Dichtern, eine Besserung der menschenfeindlichen Armut des Volkes und die Überwindung der unwürdigen Zustände, wie im Gedicht „Die Bücher der Zeiten: von der guten Fürstenhand", also von diesem oder jenem „aufgeklärten" Monarchen.8 Hölderlins Annäherung an die jakobinischen Ideen reifte jedoch in der nachthermidorianischen Zeit unter der machtvollen Ausstrahlung der Persönlichkeit Fichtes in Jena. Obwohl Schiller den jungen Hölderlin zum Mitarbeiter der Hören ge6 7

8

St. A„ Bd. 6.1, S. 70 F. Hölderlin, Sämtliche Werke, Leipzig 1965 S. 2 3 8 - 2 3 9 (im folgenden abgekürzt zitiert: Werke) Werke, S. 60

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macht und ihn liebevoll gefördert hatte, dieser „so viel Menschlichkeit bei so viel Größe" an Goethe bewunderte (wie er 1795 nach einem Zusammentreffen mit ihm an Hegel schrieb),9 entfernte sich Hölderlin dennoch mehr und mehr von ihnen durch seinen kühneren, sich auf jakobinische Ideen orientierenden Geistesflug. Sein Revolutionsbild formte sich anders als etwa bei Schiller. Dieser hatte sich in seiner künstlerischen Schaffenskrise als Historiker in Jena „Der Geschichte des Abfalls der Niederlande", also der Darstellung einer Volksrevolution zugewandt, deren Inhalt und Methoden einer weniger ausgereiften Entwicklungsstufe der Klassenkämpfe entsprachen. Hölderlins Vorstellung von der Revolution hingegen wuchs unter dem unmittelbaren Erlebnis des historisch neuen Inhalts der Volkserhebung in Frankreich, der neben den antiabsolutistischen und antifeudalen Zügen nun schon starke plebejische und kleinbürgerlich-revolutionäre Elemente aufwies. Diese jakobinischen Ideen zielten konsequent auf die Umwälzung der gesamten Gesellschaft, ihrer sozialökonomischen Ordnung, ihrer Moral und ihrer Sitten im Sinne der bürgerlichen Revolution. Daran hat Hölderlin festgehalten, als die Thermidorianer die Revolution bereits verraten hatten - und auch als der in seinem herrlichen Gedicht „Buonaparte" besungene junge Revolutionsgeneral von dem Geist eines Jünglings sich zum Geist eines imperialen Diktators wandelte. Ja, der Dichter entwickelte seine Ideen in der platten Misere der deutschen Lande weiter: in dem griechischen Gewände seiner Dichtung und mit einer ins Utopische aufsteigenden Sehnsucht nach einem wirklichen Vaterland des Volkes, wie sie dem Geist des Jakobinismus entsprungen. Es wäre eine völlig ungenügende Erklärung, Hölderlins Griechentum als das Vorbild für das Vaterländische allein auf die Rezeption der Antike durch die deutsche humanistische Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zugleich auf die politische Nachwirkung des griechischen Freiheitskampfes gegen die Türken von 1770 zu beziehen. Es hat nichts mit einer vulgärsoziologischen Anschauung zu tun, wenn man ergründet, wie alle großen geistigen Bewegungen seines 9

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St. A „

Bd. 6.1,

S. 1 5 5

Zeitalters, in ihrer besonderen nationalen Erscheinung der deutschen Kleinstaaterei, ständig in komplizierter Wechselbeziehung zu dem Ringen um den Übergang vom Absolutismus und Feudalismus zum Kapitalismus standen. Sie wirkten oft unmittelbar, zuweilen indirekt auf Friedrich Hölderlins poetisch-philosophischen Werdegang. Der wahre ideelle Gehalt seines Griechentums erklärt sich allseitiger, bedenkt man das Jakobinische seiner Ideen und auch die tödliche Bedrohung durch die Gefahren fürstlicher Unterdrückergewalt. Das Schicksal Schubarts in der finsteren Haft des Herzogs Karl Eugen von Württemberg auf dem Hohenasperg in Erinnerung und die Hexenjagd gegen die „Jakobiner", die 1799 schließlich doch zur Verjagung Johann Gottlieb Fichtes von der Jenenser Universität, mit Zustimmung des Weimarer „Musenfürsten" Karl August, führen sollte, vor den Augen, wählte Hölderlin die griechische Verkleidung zu seinem eigenen Schutz. Manch anderer deutsche Dichter hatte ja vor ihm fremde Länder als Schauplatz für seine Anklage gegen deutsche Zustände genommen. Diese „Verfremdung" (natürlich zu einem anderen historischen Zweck als bei Bertolt Brecht in unserem Jahrhundert) geschah bei Hölderlin in vielen Gedichten, dramatischen Entwürfen, im ideellen Gehalt seiner Nachdichtungen aus dem Griechischen und in dem so einmaligen Gebilde kristallener Sprachkunst: seinem lyrisch-zornvollen Roman „Hyperion". Nur in der Gestalt eines Griechen konnte er Hyperions Anklage gegen die Zustände in den deutschen Landen erheben, ihre feudale Entmenschlichung und die nicht weniger miserablen frühkapitalistischen Züge im Wesen seiner Zeitgenossen an den Pranger stellen - und sich zum Schmerzensschrei steigern: „Wohl dem Manne, dem ein blühend Vaterland das Herz erfreut und stärkt! Mir ist, als würd' ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdeckel über mir zu, wenn einer an das meinige mich mahnt, und wenn mich einer einen Griechen nennt, so wird mir immer, als schnürt er mit dem Halsband eines Hundes mir die Kehle zu." 10 Hölderlins Griechentum, mehr Sehnsucht, auf die menschliche Harmonie im Traumbild eines künftigen neuen Staates ,0

Werke, S. 491

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gerichtet, als Verklärung der antiken Vergangenheit, ermöglichte ihm die größere poetisch-politische Vision - und auch die realistischere Wirkung. Man muß als Beispiel dafür nur die große Rede des Empedokles an die Agrigenter hören, die verkündet: Dies ist die Zeit der Könige nicht m e h r . . . Schämet Euch, Daß ihr noch einen König w o l l t . . . Nach dem unmißverständlichen Vorwurf: „Euch ist nicht zu helfen, wenn Ihr Euch nicht h e l f t . . . " wendet sich Empedokles gegen die Erdenkinder, die meist das Neue und Fremde scheuen - und er ruft ihnen zu: So wagt's! Was ihr geerbt, was ihr erworben, Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, Gesetz' und Bräuch', der alten Götter Namen, Vergeßt es kühn, und hebt, wie Neugeborene, Die Augen auf zur göttlichen Natur! . . . dann reicht die Hände Euch wieder, gebt das Wort und teilt das Gut, O dann ihr Lieben teilet Tat und Ruhm Wie treue Dioskuren; jeder sei Wie a l l e . . Das „kühne Traumbild eines neuen Staates" von solcher Art hat Hölderlin weiter beschäftigt, bis er es in den „Anmerkungen zur Antigonä" im Jahre 1803 - in Deutschland hatte die feudale Reaktion ihre Position wieder gefestigt, in Frankreich herrschte Napoleon Bonaparte als Diktator - auch theoretisch fundiert, indem er schrieb: „Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr, wo es, sofern es vaterländische Sache ist, darauf ankommt, daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, und erschüttert, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist. Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen."

" Werke, S. 820-821

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„Vaterländische Umkehr" konnte für Hölderlin und seinen langjährigen Freund Isaak Sinclair nur Umsturz der deutschen Zustände bedeuten. So fährt der Dichter, nach weiterer Darstellung dieser „gänzlichen Umkehr", in den „Anmerkungen zur Antigonä" fort: „Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch, und zwar republikanisch . . ." 12 Das „Vaterländische", seit den Tübinger Hymnen an die Göttin der Harmonie, an die Freiheit, an die Menschheit, an die Schönheit, an die Freundschaft, an die Genien der Jugend und der Kühnheit im Zentrum seiner poetischen Bemühungen stehend, zugleich die Ideen seiner Begegnung mit dem Griechischen ausstrahlend, das große Humane seines philosophischen und politischen Denkens - : hier hat Hölderlin, fast am Ende seines bewußten Wirkens, noch einmal seinen parteilichen Sinn als den revolutionierenden „Geist der Zeit" zu definieren gesucht. Das Vaterländische - für ihn verschmolz es sich auf jakobinische Weise mit der gesellschaftlichen Veränderung, mit dem in hoher Dichtung geformten Traum einer neuen schönen Menschengemeinschaft. Das Vaterländische - für ihn wurde es auch sein verzweiflungsvolles Aufbegehren als Denker und Dichter gegen die Nichtbewältigung der geschichtlichen Notwendigkeiten, weil seinem Blick sich nirgendwo in den deutschen Landen eine revolutionär formierte Kraft des Volkes darbot. Im „Hyperion" hat er seinem poetischen Begriff von der Identität des Vaterländischen mit dem Menschheitlichen, ja im idealistisch-philosophischen Sinne Rousseaus und Robespierres mit der „zur Natur gewordenen Gesellschaft", in einer einzigartigen Kühnheit Gestalt verliehen: „Dann fing ich an, von besseren Tagen zu reden, und glänzend gehen die Augen ihnen auf, wenn sie des Bundes denken, der uns einmal einen soll, und das stolze Bild des werdenden Freistaates dämmerte vor ihnen." Dieses Wort, so großartig es ist, wird überragt von dem Leitspruch, den Hölderlin-Hyperion für den ersehnten Freistaat findet: „Alles für jeden und jeder für alle!" 1 3 12 13

3

Werke, S. 1 2 4 6 - 1 2 4 8 Werke, S. 596 Abusch

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„Alles" sagt er, nicht alle, wie manchmal falsch zitiert wurde, auch von Georg Lukäcs.1/1 Alles - das heißt aber: der ganze gesellschaftliche Reichtum, alle Bildung, alle Kultur für jeden, und jeder hat dafür einzustehen. Diese Forderung in dem griechisch-deutschen Sprachgewand des „Hyperion" stellt den höchsten revolutionären Ausklang der Dichtung des 18. Jahrhunderts dar: die Rebellion des jungen Schiller nun erhoben auf die geschichtliche Höhe der Jakobiner, in sich aufnehmend die Träume der großen Utopisten der Menschheitsgeschichte und auch die einstigen bäuerlich-revolutionären Forderungen Thomas Müntzers. Hölderlin wußte: Diesen Freistaat stiftet kein Gott; er muß erkämpft werden, von Menschen erkämpft: „Der Neue Geisterbund kann in der Luft nicht leben, die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben und diesen Platz erobern wir gewiß. Du wirst erobern, rief Diotima, und vergessen wofür? . . . Das ist grausam, Diotima, rief i c h . . . aber nein! nein! nein! der Knechtsdienst tötet, aber gerechter Krieg macht jede Seele l e b e n d i g . . . Das gibt erst dem Menschen seine ganze Jugend, daß er Fesseln zerreißt! Das rettet ihn allein, daß er sich aufmacht und die Natter zertritt, das kriechende Jahrhundert, das alle schöne Natur im Keime vergiftet!" 15 Das sind Worte Hölderlins, würdig einer großen Rede von Saint-Just vor dem französischen Konvent. Das ist alles andere als die Griechenlandschwärmerei eines weltfremden Dichters, alles andere als die Position einer romantischen Flucht. Es ist als Vision, als Hoffnung, als hinreißend schöner, zwar noch vergeblicher Ruf zur politischen Aktion eine ideelle Widerspiegelung der auch auf deutschem Boden herannahenden Kämpfe der Klassen, in welcher Form auch immer sie reifen sollten. „Wenn's sein muß, so zerbrechen wir unsere unglücklichen Saitenspiele, und tun, was die Künstler träumten" -, so hatte Hölderlin schon im November 1794 an den Freund Neuffer geschrieben.16 Noch prägnanter, konkreter nun in dem Brief zum 11

G. Lukäcs, Hölderlins Hyperion, in: Goethe und seine Zeit, Berlin 1950, S. 176

15

Werke, S. 580

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St. A., Bd. 6.1, S. 140

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Neujahr 1799 an den Bruder: „ . . . und wenn das Reich der Finsternis mit Gewalt einbrechen will, so werfen wir die Feder unter den Tisch und gehen in Gottes Namen dahin, wo die Not am größten ist, und wir am nötigsten sind!" 17 Beide Briefe wurden zu Zeiten geschrieben, in denen Hölderlin mit einer baldigen revolutionären Volkserhebung in Süddeutschland rechnen durfte. Hölderlin drückt in ihnen einen Gedanken der besten Köpfe seiner Zeit aus. Einer der konsequentesten jakobinischen Publizisten, Andreas Georg Friedrich Rebmann, rief damals seinen Freunden zu: „Laßt uns Gedichte tun, nicht dichten." 18 Nicht den Heeren der Koalition reaktionärer europäischer und deutscher Fürsten, nicht dem Usurpator Napoleon Bonaparte, sondern einem gerechten Krieg dafür, sein Vaterland als eine Republik der allgemeinen Freiheit des Volkes zu sehen, galt Hölderlins gewaltige dichterische Gestaltung seiner Bereitschaft zum Selbstopfer. So heißt es in der Ode „Der Tod für's Vaterland": Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee den Ehrelosen. . . . Umsonst zu sterben, lieb ich nicht, doch Lieb ich, zu fallen am Opferhügel Fürs Vaterland . . .19 Aus diesen Strophen kann man eine allgemeine Todessehnsucht nicht herauslesen; man kann sie nur hineinfälschen. Sie waren kämpferischer Ausdruck seines Willens von 1798, die von der französischen Revolution ausgestrahlten Ideen in einem gerechten Krieg zur Tat werden zu lassen und in ihm zuerst einen der ehrlosen, eigensüchtigen Fürsten, den Herzog von Württemberg zu stürzen. Zu den Republikanern, die dies planten, zählte Sinclair, der Hölderlin nach Rastatt eingeladen 17

St. A., Bd. 6.1, S. 3 0 7

18

H. Voegt, Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik

1789

bis 1 8 0 0 , Berlin 1 9 5 5 , S. 1 4 2 19

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Werke, S. 2 2 0

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hatte. Der erste Druck der Ode erschien im Jahre 1800. Sie zeugt davon, wie der Dichter sich den Umsturz, die Revolution, den Weg zum Freistaat und die später in den „Anmerkungen zur Antigonä" geforderte „gänzliche vaterländische Umkehr" vorgestellt. Doch in dem stolzen Ruf des Dichters klang an, den Kampf der Gerechten selbst um den äußersten Preis, vielleicht ohne Erfolg, zu wagen. Doch daß Hölderlin im tiefsten Grunde die Harmonie des Friedens ersehnt, drückt bald danach sein Gedicht „Der Frieden" aus, sich wendend gegen das Leid der Völker durch die alten Eroberer, beklagend das Leben der Armen, verzagt und kalt von Sorgen: Du aber wandelst ruhig die sichre Bahn, O Mutter Erd, im Lichte. Dein Frühling blüht, Melodischwechselnd gehen dir hin die Wachsenden Zeiten, du Lebensreiche! Mit deinem stillen Ruhme, Genügsame! Mit deinen ungeschriebnen Gesetzen auch, Mit deiner Liebe komm und gib ein Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder. Man käme zu einer von Hölderlins Lebenswirklichkeit abstrahierenden Darstellung seines poetisch-geistigen Höhenfluges und seines tragischen Zerbrechens, spräche man nicht über seine materielle Misere in den zehn Jahren, in denen seine schönsten und reifsten Dichtungen entstanden: die Hymnen, die Gedichte über die Landschaft, die Städte, die Flüsse und Ströme seiner Heimat, über seine Liebe zu Diotima, sein „Hyperion". Er hätte, wie es die Mutter wünschte, Pfarrer werden können, aber es war ihm zuwider, „an der Galeere der Theologie zu seufzen".20 So blieb ihm damals nur der Ausweg der Unbemittelten: Hofmeister, also Hauslehrer zu werden, eine Stellung, die viele Erniedrigungen mit sich brachte. Ende 1793, nach Abschluß seiner Studien, verheißungsvoller Dichter schon, trat er die erste, ihm durch Schiller vermittelte Stelle bei der Familie Charlotte von Kalbs in Waltershausen an. Mit den Kalbs zog er im nächsten Jahre nach Weimar und Jena. Als 20

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St. A., Bd. 6.1, S. 22

diese Tätigkeit nach einem Jahr geendet, blieb er noch sechs Monate in Jena, um Fichte zu hören. Doch die leibliche Not zwang ihn, erneut Hofmeister zu werden, diesmal im Hause des reichen Bankiers Gontard in Frankfurt. Gontards Frau Susette, Hölderlins Diotima, wurde das aufwühlende, in seiner Dichtung unsterblich gewordene Liebeserlebnis des Dichters. Mögen die zweieinhalb Jahre im Hause Gontard vielleicht deshalb glücklicher gewesen sein - ein Brief an die Mutter, in dem er sich bitter über die „geflissentliche tägliche Herabwürdigung aller Wissenschaft" beklagt, über die „beinahe täglichen Kränkungen", erklärt seine Gründe, auch diese Anstellung aufzugeben.21 Vergeblich versuchte er mehrmals, zu einem - wenngleich unbezahlten - Lehramt an der Universität Jena zu kommen. Sein Plan einer Zeitschrift „Iduna" scheiterte an den Wünschen des Verlegers, der ein Journal nach der gängigen Mode verlangte, wozu sich Hölderlin nicht bereit fand. Eine dritte Hofmeisterstelle in der Schweiz, anfangs des Jahres 1801, mußte er schon nach drei Monaten aufgeben. Als er nach all diesem Bemühen, sich ein Minimum sozialer Sicherheit für seine poetische Arbeit zu schaffen, wieder eine der verhaßten Hofmeisterstellen annahm, diesmal in Bordeaux, schrieb er dem Freunde Casimir Ulrich Böhlendorff jenen Abschiedsbrief, in dem er von seinen bitteren Tränen spricht, wegen seiner Herzens- und Nahrungsnot das Vaterland zu verlassen - und das schreckliche Wort: „Aber sie können mich nicht brauchen." 22 Doch nach einigen Monaten kehrte er zurück, verstört, nervlich völlig zerrüttet. Was ihm in Frankreich widerfuhr, ist nie bekannt geworden. Eine Aussage darüber findet sich vielleicht in seinem Gedicht „Andenken", aufleuchtend in seiner Sprachschönheit, schon voll dunklen Lichts, schweifend von den Gärten von Bordeaux und den Ufern der Garonne in die Fernen des Meeres, in dessen Mitte der Aufschrei steht: „Wo aber sind die Freunde? Bellarmin / Mit dem Gefährten? . . . " Das Gedicht endet in jäher Resignation: „Was bleibt aber, stiften die Dichter." Der Sinn dieses oft falsch zitierten Wortes war in Wahrheit eine Absage an seine Lebenswirklichkeit, die zu bewältigen ihm nicht mehr gelingen wollte. 21 22

St. A„ Bd. 6.1, S. 285 St. A„ Bd. 6.1, S. 428

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Es erhebt sich die Frage: Woran ist Hölderlin zerbrochen? Es trafen in seinem Leben mehrere Faktoren zusammen: der ihm als unlösbar erscheinende Widerspruch zwischen seinem jakobinisch-griechischen Ideal des Citoyen und der miserablen Wirklichkeit seiner deutschen Umwelt, sein zermürbender Kampf um die bescheidendste Existenz und seine gescheiterte Liebe zu Diotima. Doch das Entscheidende sagen die Verse einer Elegie: Indessen dünkt mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein, So zu harren, und was zu tun indes und zu sagen Weiß ich nicht, und wozu Dichter in dürftiger Zeit? Gerade an Hölderlin erweist sich, daß die Elegie nicht allein Ausdruck bestimmter Stimmungen im Auf und Ab des menschlichen Lebens ist, sondern besonders prägnant die Empfindung negativer gesellschaftlicher Zustände poetisch auszudrücken vermag. Was Hölderlin betrifft, so erhellt der französische Germanist Pierre Bertaux die Bedeutung eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses für Hölderlins geistiges Zerbrechen: Der Plan der Freiheitsfreunde um den Ludwigsburger Bürgermeister Baz, durch einen Aufstand der helvetischen die schwäbische Republik folgen zu lassen, hatte Schiffbruch erlitten. Der französische General Jordan hatte 1799 alle Hoffnung zerschlagen mit seiner Erklärung, alle revolutionären Bestrebungen zu bekämpfen. Doch nach Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux entstand eine neue Verschwörung in Württemberg. Sein Freund Sinclair und andere wurden im Jahre 1805 denunziert und verhaftet; Hölderlin wäre auch, wenigstens als Mitwisser, auf dem Hohenasperg, wie einst Schubart, eingesperrt worden, wenn ihm nicht, mit Hilfe des Landgrafen, ein Arzt in einem Gefälligkeitsgutachten bestätigt hätte, daß er wahnsinnig sei. Bis 1806 findet sich jedoch nirgends eine Spur geistiger Umnachtung in seinen Dichtungen. Als man Sinclair in diesem Jahr freilassen mußte, sollte Hölderlin mit Gewalt nach Tübingen gebracht werden. Der französische Germanist stützt sich auf den Bericht über einen herzzerreißenden dramatischen Auftritt. Bertaux schreibt: „Und von diesem Tag an war er wirklich wahnsinnig." 23 23

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Hölderlin-Jahrbuch, Bd. 15, Tübingen 1 9 6 9 , S. 6

Die deutsche Nationalliteratur hatte einen ihrer größten und revolutionärsten Dichter verloren, fast vier Jahrzehnte vor seinem leiblichen Tod. Es verdunkelten sich die Strophen Hölderlins, der die deutsche Sprache in Rhythmus, Harmonie und Bildhaftigkeit zu höchsten Höhen der Schönheit und Klarheit erhoben hatte. Aber kaum ein Jahr später, da sich „die dürftige Zeit" durch das Aufbegehren gegen Napoleon veränderte, begann Fichte, in Berlin seine „Reden an die deutsche Nation"zu halten. Der Sänger revolutionärer Hoffnung, der seiner Zeit so weit voraus gewesen, blieb lange ohne Echo. Erst im Wandel der deutschen Geschichte kam es wieder zu Versuchen, Hölderlins Dichtungen zum lebendigen Besitz des Volkes und besonders der Jugend zu machen. Georg Herwegh, die „eiserne Lerche", wie Heine ihn nannte, der einzige unter den Dichtern des Vormärz, der den Weg von der revolutionären Demokratie zum organisierten Kampf der deutschen Arbeiterklasse fand, erweckte das Gedenken an den „Verschollenen". In einer von deutschen Emigranten in der Schweiz herausgegebenen Zeitschrift „Deutsche Volkshalle" schrieb er 1839 in einem von revolutionärem Schwung erfüllten Aufsatz: „Hölderlin! von ihm wollte ich schreiben... Hölderlin, dem Deutschland eine große Schuld abzutragen hat, weil er an Deutschland zugrunde gegangen ist." 24 Herwegh hat ihm auch ein Sonett gewidmet, das im Stile jener Zeit von der Gottheit spricht, die Hölderlin gelegt „Mit weicher Hand ums Aug' des Wahnsinns Binde, Das es nie sehe, was das Herz verloren." Das Sonett endet: Nichts Irdisches kann fürder dich versehren, Und reiner, denn ein Stern zum Schoß der Nacht, Wirst du zurück zur großen Mutter kehren.25 Herweghs Aufsatz, der an Hölderlin gerade das hervorhebt, was ihn uns heute so teuer macht, die Vereinigung des Vaterländischen mit dem Aufrührerischen, auch sein Sonett, sind Ruhmesblätter in der Geschichte der Anfänge einer deutschen sozialistischen Literatur. Sie meldete damit ihren historischen 21

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Herweghs Werke, in drei Teilen, zweifer Teil, L e i p z i g - W i e n - S t u t t gart, o. J., S. 78 f. Ebenda, Erster Teil, S. 89

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Anspruch an, Hölderlins humanes und poetisches E r b e ebenso anzutreten, wie das von Lessing, Herder, Klopstock, G o e t h e und Schiller. Mehr noch als ein halbes Jahrhundert verging dann, ehe Hölderlin sozusagen wieder entdeckt und in zahlreichen Ausgaben gedruckt wurde. A b e r Hölderlin, nun zum Klassiker geweiht, erfuhr im Deutschland des wilhelminischen Imperialismus erneut das Schicksal der Verfälschung: D i e Dichterschule um Stefan G e o r g e entseelte ihn seines humanistisch-revolutionären Wesens, mystifizierte ihn, degradierte sein E r b e zu kalter, gekünstelt-dekadenter Formvollendung. G e o r g T r a k l übernahm nur die T r a u e r und den verdunkelten Geist des erkrankten Hölderlin. D i e Folgen davon wirken in der spätbürgerlichen Lyrik Westdeutschlands noch heute. D i e Jugend meiner Generation erhielt von bürgerlichen Literarhistorikern Hölderlin bestenfalls als schönheitstrunkenen unpolitischen Dichter dargeboten: „Ihr wandelt droben im Licht / Auf weichem Boden, selige G e n i e n ! " W i e in jeder echten Dichtung wirkt auch in der Hölderlins die dialektische Beziehung zwischen dem Historisch-Konkreten und dem Allgemein-Menschlichen, wandelt sich die klassenmäßig gesellschaftliche Wahrheit in allgemein-menschliche Wahrheit - und umgekehrt. G e r a d e dies macht ihre über viele Geschlechter gehende humane Wirkung aus. Doch es bedeutet die Leugnung dieses geistigen Grundzuges der Dichtung Hölderlins, etwa die wunderbare Strophe seines Schicksalsliedes als eine Verkündung von Pessimismus auszugeben: Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, E s schwinden, es fallen D i e leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, W i e Wasser von K l i p p e Zu K l i p p e geworfen, Jahrelang ins Ungewisse hinab. 2 6 2fi

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Werke, S. 192

Dieser Klang tief menschlicher Dichtung war und blieb in unseren Herzen. Aber wir wurden als Kämpfer der revolutionären Arbeiterjugend zum Protest herausgefordert und kamen zum Erkennen des wahren Hölderlin, als wir erlebten, wie die literarhistorischen Propagandisten des deutschen wilhelminischen Imperialismus ihn zu einem Vaterlandsdichter reaktionärer Gesinnung mißbrauchten, indem sie ihn der historischkonkreten, also der jakobinisch-vaterländischen Züge seiner Geisteshaltung beraubten. Natürlich hat man dazu besonders seine Ode „Der Tod fürs Vaterland" benützt. Man verband damit die Legende im ersten imperialistischen Weltkrieg, bei Langemarck in Flandern seien deutsche Studenten in Selbstaufopferung, mit Hölderlin im Tornister und dem Deutschlandlied auf den Lippen, in die Maschinengewehre gestürmt. Im zweiten Weltkrieg ließ sich der bürgerlich-liberale Herausgeber einer heutigen Hölderlin-Ausgabe in Westdeutschland, Friedrich Beißner, tatsächlich dazu herabwürdigen, eine „Feldausgabe" Hölderlins für die Hitlerarmee zu machen. Hölderlins Schändung erhielt dadurch eine neue Variante: im Tornister der millionenfachen Mörder der SS von Auschwitz. Soldaten der faschistischen Wehrmacht wurden mit Hölderlin in ihrem ungerechten Krieg gegen die sozialistische und demokratische Freiheit der ganzen Menschheit in die Granatwerfer von Stalingrad gejagt, für ein „Vaterland", das nicht das ihre war und auch nicht das Vaterland Hölderlins, wohl aber jenes der kapitalistischen Konzernherren, großagrarischen Junker und der preußisch-deutschen Generäle. Bei ihrer schlimmsten Pervertierung deutschen Geistes begingen die faschistischen Gewalthaber auch literarische Leichenschändung an Hölderlin im Jahre 1943 zu seinem 100. Todestag. Doch zu dieser Zeit war es unsere illegale Kommunistische Partei Deutschlands, die in ihren unter Todesgefahr verbreiteten Schriften und Zeitungen mit allem Humanistischen auch Geist und Wort Hölderlins verteidigte. Nicht einen Klang, nicht eine Farbe, nicht ein Wort deutscher Kunst und Kultur wollten wir den Faschisten überlassen; schon gar nicht, um mit Johannes R. Becher zu sprechen, „das erhabenste Denkmal deutscher Sprache, wie es Hölderlin in seinen Gedichten geschaffen hat".

4.1

Als das offizielle Hölderlin-Bild nur noch die braune Farbe kannte, war es Johannes R. Becher, der - wie hundert Jahre vor ihm Herwegh - wieder in einer von deutschen Emigranten herausgegebenen Zeitschrift, die „Internationale Literatur" in Moskau, Hölderlins Dichtung in Ergriffenheit neu erlebte als Ruf zum Kampf gegen die faschistischen Schänder des Vaterlandes. Wohl war Becher bereits in seinen frühen Anfängen als Dichter von Hölderlin beeinflußt, aber es wäre vereinfacht, nicht zugleich zu sagen, wie stark Schiller und Kleist, aber auch Rimbaud und Baudelaire auf seinen Sturm und Drang einwirkten. Doch mit Johannes R. Bechers Wandlungen und poetischer Reife verwurzelte sich auch seine Beziehung zu Hölderlin tiefer. Im Sommer 1927 stand ich mit Becher auf der Brücke über den Neckar; wir waren aus Urach gekommen und blickten zu dem Haus, in dem Hölderlin, mit sich verdunkelndem Geist, durch lange 37 Jahre den Tod erwartete. Becher hatte schon wunderbar klare Gedichte über die Menschen des Bauernkrieges in Süddeutschland geschrieben - und auch in unseren Gesprächen ging es darum, wie Hölderlin es verstanden hatte, seine Heimat in großer nationaler Dichtung von Weltbedeutung zu gestalten. In Bechers Gedicht „Nachfolge" von 1941 findet sich dann, mitten im Hitlerkrieg, das lang vorbereitete, bewußte Neuerleben Hölderlins durch Becher, nun das überhaupt nicht formal gemeinte Bekenntnis unseres größten sozialistischen Lyrikers: „Dem Großen wahrhaft folgend." In jenen schweren Jahren trugen die Helden des deutschen antifaschistischen Kampfes auch Hölderlins Namen auf ihrer Fahne. Verbunden mit der Sowjetunion, deren Arbeiter- und Bauernmacht die jakobinischen Ideen für die revolutionären Erfordernisse des 20. Jahrhunderts höher entwickelt hatte, machten wir deutschen Antifaschisten das von Becher angerufene Wort Hölderlins in den Befreiungstaten, die zum Jahr 1945 führten, zur Wirklichkeit des Lebens: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. In den Kriegsjahren war es, besonders in westlichen Emigrationsländern, gar nicht so einfach, Hyperions berühmte Klage über die Deutschen als Zeugnis der hohen Gesinnung 42

deutscher humanistischer Geister der Vergangenheit zu drukken. Als wir dies in der Zeitschrift „Freies Deutschland" in Mexiko im Jahre 1944 taten, wurde diese Klage von manchen Lesern, die über die gerade enthüllten Mordlager von Treblinka und Auschwitz entsetzt waren, mißverstanden als Beweis für die „ewige reaktionäre Misere in Deutschland". In heißen Diskussionen mußten wir den Sinn der Worte Hölderlins als Ausdruck des fortgesetzten Kampfes der guten Kräfte in der deutschen Geschichte erklären. Es war eigentlich eine geschichtliche Lektion über den Zusammenhang zwischen dem Sehicksal humanistischer Dichter, die wie Hölderlin in Wahnsinn, Kleist in Selbstmord und Grabbe in Säuferwahn endeten, und dem Verlauf der deutschen Klassenkämpfe, die wir damals Emigranten bürgerlicher Abstammung jenseits des Ozeans nahebringen mußten. Jene Diskussion, die es ebenso in der deutschen Emigration in England und in den USA gab, hatte ihren Vorläufer bereits in einer Auseinandersetzung, die im Jahre 1843 zwischen Karl Marx und Arnold Rüge im ersten und einzigen Heft der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" erfolgte. Rüge hatte in einem Brief an Marx, ihn mit einem langen Zitat aus Hyperions Klage über die Deutschen einleitend, die Folgerung gegeben, das deutsche Volk habe keine Zukunft. Marx antwortete mit höflicher Ironie: „Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt, und sollt' es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen Wünsche." Karl Marx wußte natürlich, daß sogar Hölderlin in seinen Hoffnungen Rüge überlegen war, aber er ergänzte ihn mit dem weit vorausblickenden Realismus des politischen und sozialen Revolutionärs: „Von unserer Seite muß die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. J e länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, und der leidenden, sich zu sammeln, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schöße trägt." 27 So wandelte 27

Marx/Engels, Werke, Bd. 1, S. 338 ff.

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der 25jährige Karl Marx, fast ein halbes Jahrhundert nach dem „Hyperion", die historische Dimension des 25jährigen Hölderlin zu der neuen welthistorischen Dimension, die er, wenige Jahre später, mit Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest" genial ausarbeitete. Von dieser Diskussion zwischen Marx und Rüge führt eine interessante geistige Linie zu dem großen humanistischen Schriftsteller Thomas Mann. Im Jahre 1928, als er begann, vorsichtig abwägend, von seiner konservativen Geisteshaltung sich den Erkenntnissen des Sozialismus zuzuwenden, formulierte er in einem kleinen Aufsatz „Kultur und Sozialismus" die programmatische Forderung: „Was not t ä t e . . . wäre ein Bund und Pakt der konservativen Kulturidee mit dem revolutionären Gesellschaftsgedanken, zwischen Griechenland und Moskau, um es pointiert zu sagen . . . Ich sagte, gut werde es erst stehen um Deutschland, und dieses werde sich selbst gefunden haben, wenn Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben werde - , eine Begegnung, die übrigens im Begriffe sei, sich zu vollziehen. Ich vergaß, hinzuzufügen, daß eine einseitige Kenntnisnahme unfruchtbar bleiben müßte." 28 Natürlich hat Thomas Mann nicht daran gezweifelt, daß Karl Marx, der bedeutende Kenner klassischer Literatur, Hölderlin gelesen hatte. Seine Forderung war symbolisch: auf die dialektische Einheit des Marxismus mit dem humanistischen Kulturerbe auch des deutschen Bürgertums gerichtet. Thomas Mann hat später durch die persönlichen Erfahrungen, die ihm der Sieg des deutschen Faschismus von 1933 und die Kampfgemeinschaft mit deutschen Kommunisten vermittelten, die doppelseitige Kenntnisnahme selber entwickelt. Dadurch kam es zu dem Augenblick, da er in diesem Nationaltheater zu Weimar im Jahre 1949 die Hand Johannes R. Bechers drückte und unseren ersten Nationalpreis empfing, womit auch gesagt war, daß bei uns der Bund von Friedrich Hölderlin und Karl Marx in einem realen Humanismus geschaffen worden ist. In diesem Jahr, in dem wir den 100. Geburtstag des größten Revolutionärs unseres Jahrhunderts, Wladimir Iljitsch Lenin, begehen, sprechen wir erneut die Wahrheit der neueren deut28

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Th. Mann, Gesammelte Werke, Bd. 11, Berlin 1955, S. 714

sehen Kulturgeschichte aus: E s war gerade Lenin, dessen Erkenntnisse uns dazu verhalfen, in die Summe aller menschlichen Erfahrung, die der Kommunismus ist, das große E r b e deutscher humanistischer Kultur und damit auch Hölderlins E r b e mit voller Bewußtheit als lebendigen Bestandteil unserer sozialistischen Nationalkultur wieder zu erwecken. Zum 200. Geburtstag Hölderlins mutet es geradezu anachronistisch an, wenn wir lesen, daß ein 1968 gehaltener Vortrag des französischen Germanisten Pierre Bertaux „Hölderlin und die französische Revolution" im offiziellen Tagungsbericht der westdeutschen Hölderlin-Gesellschaft „provokatorisch" 29 genannt wird. Bertaux hatte nämlich, gestützt auf solide Dokumentation und Textinterpretation, die Feststellung gewagt: „ D e m deutschen Hölderlin-Bild, das ,in lieblicher Bläue blühet', fehlt eine Farbe: das Rote. Als ob die deutsche Forschung rotblind wäre; oder vielleicht rotscheu.,