Renaissance und Humanismus in Mittel- und Osteuropa, II [Reprint 2021 ed.] 9783112598481, 9783112598474

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German Pages 350 [345] Year 1963

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Renaissance und Humanismus in Mittel- und Osteuropa, II [Reprint 2021 ed.]
 9783112598481, 9783112598474

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DEUTSCHE

AKADEMIE

DER

WISSENSCHAFTEN

ZU

BERLIN

SCHRIFTEN DER SEKTION FÜR ALTERTUMSWISSENSCHAFT 32

RENAISSANCE UND HUMANISMUS IN MITTEL- UND OSTEUROPA E I N E SAMMLUNG VON

MATERIALIEN

BESORGT VON JOHANNESIRMSCHER

II

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1962

Johanneä Irmscher ist Mitglied der Sektion für Altertumswissenschaft

Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktor dieses Bandes: Gabriele Bockisch

Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , Berlin W 8, Leipziger Str. 3—4 Copyright 1962 b y Akademie-Verlag G m b H Lizenz-Nr. 202 . 100/99/62 Gesamtherstellung: Druckhaus ,,Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2067/32/11 . E S 7 M • Preis: 4 5 , - D U

Inhaltsverzeichnis BAND I Geleitwort A. Allgemeine Probleme Gerhard Harig (Leipzig) Die Aneignung des antiken Wissens auf dem Gebiet der Naturwissenschaften in der Renaissance Georg Max Hartmann (Brandenburg) Das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance Margarete Steinhoff (Berlin) Jacob Burckhardt in der Kritik Antonio Gramscis Heinz Herz (Jena) Die Rezeption des römischen Rechts im Blickfeld des historischen Materialismus Anton Blaschka (Halle/Saale) Urkunde und Humanismus Friedrich Pfister (Würzburg) Die Entdeckung Alexanders des Großen durch die Humanisten Wilhelmina Lepik-Kopaczynska (Wroclaw) Das antike Inkarnat in der Überlieferung der mittelalterlichen Humanisten Alois Gerlo (Bruxelles) Klassische Philologie und Neolatinität B. Westeuropa und Deutschland Heinrich Alexander Stoll (Thyrow/Mark) Erasmisches und Reuchlinisches Griechisch? Helmut Roob (Gotha) Humanistenhandschriften in der Gothaer Bibliothek Wolfgang Altmann (Suhl/Thüringen) Die medizinische Fakultät der Universität Erfurt im Zeitalter der Spätscholastik und des Humanismus (1392—1524) Helmut Wilsdorf (Freiberg/Sachsen) Die Auseinandersetzung der Humanisten mit der Antike beim Aufbau der Bergbaukunde

IV

Inhaltsverzeichnis

Georg Fraustadt (Dresden) Georgius Agrícola und die antike Metrologie Joachim Rogge (Berlin) Humanistisches Gedankengut bei Johann Agrícola (Islebius) Karl Jordan (Kiel) Heinrich Rantzau als Wegbereiter des Humanismus in Schleswig-Holstein Heinrich L. Nickel (Halle/Saale) Die Epitaphien der Ägidienkapelle zu Schleusingen und der Jüjiglingskopf von Krosigk Ingrid Schulze (Halle/Saale) Zum Problem der Verweltlichung religiöser Bildformen in der deutschen Kunst des 16. Jahrhunderts und der Folgezeit Heinrich Alexander Stoll (Thyrow/Mark) Winckelmann und seine Drucker Berthold Häsler (Halle/Saale) John Flaxman, ein Philhellene der Goethezeit C. Süd- und Osteuropa Andreas Angyal (Debrecen) Südosteuropäische Spätrenaissance Andre Ojetea (Bucurejti) Wittenberg et la Moldavie George Oprescu (Buoure^ti) Die Renaissance im Zuge der Kunstentwicklung der rumänischen Länder Tudor Vianu (Bucure?ti) Die Rezeption der Antike in der rumänischen Literatur Veselin Begevliev (Sofija) Fragmente aus der Korrespondenz eines bulgarischen Humanisten im 9. und 10. Jahrhundert Ivan Dujcev (Sofija) Klassisches Altertum im mittelalterlichen Bulgarien Alexander K. Burmov (Sofija) Renaissance-Elemente im mittelalterlichen Bulgarien Christo Gandev (Sofija) Die antike Kultur in der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt (1780—1877) Janis Kurtis (Wärszawa) L'humanisme de la poésie crétoise Mihovil Abramié (Split) Griechische Funde an der adriatischen Ostküste in Jugoslawien

Inhaltsverzeichnis

V

Mihovil Abrami6 (Split) Der Palast des Kaisers Diokletian in Split (Spalato) Konrad Onasch (Halle/Saale) Theophanes der Grieche. Ein Maler der Frührenaissance in Rußland Fairy von Lilienfeld (Naumburg/Saale) Vorboten und Träger des „Humanismus" im Bußland Ivans III.

BAND II D. Probleme der Renaissance und des Humanismus in Ungarn Tibor Kardos (Budapest) Entwicklungsgang und osteuropäische Merkmale des ungarischen Humanismus . . .

3

Klara Csapodi-Gärdonyi (Budapest) Bericht über neuere Forschungen auf dem Gebiet der Bibliotheca Corvina

9

Lâszlô Gerevich (Budapest) Bemerkungen über die pannonische Renaissance

14

Jânos Balàzs (Budapest) Johannes Sylvester und der Humanismus in Mittel- und Osteuropa

19

Henrik Becker (Jena) Balassas weltweite Verknüpfungen

38

Antal Pirnât (Budapest) Der antitrinitarische Humanist Johann Sommer und seine Tätigkeit in Klausenburg .

49

Tibor Klaniczay (Budapest) Probleme der ungarischen Spätrenaissance

61

Maria Berényi-Révész (Budapest) Humanistische Anregungen bei den Anfängen des ungarischen Romans

95

E. Probleme der Renaissance und des Humanismus in Polen Kazimierz Kumaniecki (Warszawa) Die lateinische Dichtung in Polen in der Zeit der Renaissance (1460—1620)

107

Maria Bohonos-LewaAska (Warszawa) Un aperçu de la métrique des poètes polono-latins du 16e au 17e siècle

121

Antonina Jelicz (Warszawa) Die Dichtung des Andreas Cricius

131

Lidia Winniczuk (Warszawa) Die lateinische Dichtung des Simon Simonides (1558—1629)

139

VI

Inhaltsver zeichnis

Stanislaw Skimina (Krakôw) De Mathiae Casimiri Sarbiewski, Horatii Sarmatici, artis poetioae praeceptis

. . . .

149

Jerzy Krôkowski (Wroclaw) Laurentius Corvinus und seine Beziehungen zu Polen

153

Alodia Kawecka-Gryczowa (Warszawa) Polonia Typographica Saeculi Sedecimi

173

Irmina Lichoâska (Wroclaw) Die handschriftlichen Grundlagen der neuen Ausgabe von Philipp Kallimachus' Schrift Historia rerum gestarum in Hungaria et contra Turcos per Vladislaum Poloniae et Hungariae regem 176 Wladyslaw Madyda (Krakôw) Johannes Longinus Dhigosz als Vorläufer des Humanismus in Polen

185

Marie Cytowska (Warszawa) L'influence d'Erasme en Pologne au 16e siècle

192

Alois Gerlo (Bruxelles) Copernic et Simon Stévin

197

Karol GUombiowski (Warszawa) Über die Verbreitung der Schriften des Erasmus von Rotterdam in Schlesien im 16. Jahrhundert 208 Kazimierz Lepszy (Krakôw) Die Ergebnisse der Reformation in Polen und ihre Rolle in der europäischen Renaissance 210 Günter Mühlpfordt (Halle/Saale) Arianische Exulanten als Vorboten der Aufklärung

220

F. Probleme der Renaissance und des Humanismus in der Tschechoslowakei Antonin Salac (Praha) Ein zusammenhängendes Werk über die humanistische Literatur in Böhmen und Mähren 249 Josef Hrabâk (Brno) Die Bedeutung des lateinischen Humanismus für die tschechische Literatur und seine Beziehimg zur tschechischen Wirklichkeit 251 Antonin Skarka (Praha) Komenskys Beziehungen zum nationalen Humanismus

258

Peter Ratkoä (Brno) Die Problematik des Humanismus und der Renaissance in der Slowakei

270

Jiri Klabouch (Praha) Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung in den böhmischen Ländern 279 Antonin Salac (Praha) Zur Geschichte der Bautätigkeit Karls IV. auf der Prager Burg

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Inhaltsverzeichnis

VII

0. Zu Gegenwartsproblemen der Renaissance und des Humanismus Hans Drexler (Göttingen) Zur Idee des neueren Humanismus. Versuch einer positiven Kritik

309

Hartmut von Hentig (Tübingen) Humanismus als Methode

316

Otto Tacke (Berlin) Der Latein- und Griechischunterricht in der DDR vor neuen Möglichkeiten und Aufgaben 323 Tudor Vianu (Bucureçti) Épilogue critique

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Entwicklungsgang und osteuropäische Merkmale des ungarischen Humanismus Tibor Kardos

In diesem Vortrage möchte ich kurz schildern, unter welchen eigenständigen Bedingungen und auf welche Weise der italienische Renaissance-Humanismus in Ungarn heimisch wurde, wie sich die ungarische Variante des Humanismus weiter entwickelte, auf welche Weise sich sein Charakter veränderte, und endlich, wie die Volkssprache und besonders die plebejische Linie des Humanismus durch die deutsche Reformation gefördert wurde. Begreiflicherweise können wir hier nur die Grundlinien und Grundprobleme berühren, trotzdem hoffen wir, dadurch der richtigen, geschichtsmäßigen Auffassung einer potenten und verwickelten, mit dem Heute eng verflochtenen kulturellen Strömung näherkommen zu können. Die Schnelligkeit der Verbreitung einer kulturellen Strömung wie zum Beispiel des Averroismus oder des Humanismus ist davon abhängig, ob beide Gesellschaften, die übermittelnde sowohl wie die empfangende, eine Identität der Entwicklungsphase aufweisen können. Der arabische Averroismus konnte auf den französischen und italienischen Universitäten erst dann Boden fassen — und er tat dies auch auf einen Schlag —, als die geistige Autonomie des Bürgertums diese spätmittelalterliche Kernform des Materialismus unerläßlich machte. Wenn eine Gleichheit der Phasen besteht, muß das Maß der Entwicklung nicht das gleiche sein. Nach den Kreuzzügen gediehen die italienischen Comuni so rasch, daß sie schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts alle ähnlichen Städte Westeuropas überflügelten. Ein zweites Firenze fand sich nie mehr vor! Die Zentralisation zum Beispiel entwickelte sich besser und auf eine genuine Weise in Frankreich und in Spanien, ihre Theorie jedoch, „II Principe", wurde in Firenze geschrieben. Ein noch größerer Unterschied ist zwischen Italien und den osteuropäischen Ländern wahrzunehmen. Der Bürgerstand, insofern er überhaupt vorhanden ist, besteht in diesen Ländern aus Kaufleuten; nicht einmal vereinzelte Merkmale einer „primären Akkumulation" sind bemerkbar, die in den Mittelmeerstädten hier und da schon zum Vorschein kommen. Das entstehende Bürgertum konzentriert sich in Städten bei wichtigen Verkehrsknotenpunkten, hauptsächlich aber in den Haupt- und Residenzstädten der Kaiser und Könige; bedeutendere Gruppierungen von Intellektuellen bilden sich ebenfalls hier. So schließen sich die Universitäten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an Hauptstädte wie 1*

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Tibor Kardos

Prag, Krakau und Wien an. Interessanterweise hat Ludwig von Anjou im Jahre 1367 in Ungarn die Universität nicht in Buda, sondern in P6cs gegründet, das an der Südgrenze des Landes liegt, wahrscheinlich aus einem Beweggrund seiner Expansivpolitik. Aber es ist bezeichnend, daß die ersten Phänomene des Humanismus in Mittel- und Osteuropa in der kaiserlichen Kanzlei zu Prag sowie in der Kanzlei zu Buda und auf der Universität zu P4cs zum Vorschein kommen. Diese Erscheinung geht auf mehrere Komponenten zurück, welche alle symptomatisch sind. Erstens bestanden zwischen Prag und Buda dynastische, beziehungsweise persönliche Verbindungen: Kaiser Karl IV. und Ludwig von Anjou waren verschwägert. Außerdem wurde Wilhelm, der ungarische Kanzler und Leiter der Universität zu P6cs, auch von Karl IV. hochgeschätzt. Gleichzeitig bestanden zwischen Kanzlei und Universität enge Beziehungen. Es gab noch einen anderen wichtigen Faktor: die Frage des internationalen Verbreitungsweges des Humanismus. Nach Prag kam diese geistige Strömung, weil sie hier in Zusammenhang mit der Antike dem mittelalterlichen Wesen des Kaisertums eine neue Glorie verlieh. Nach Buda und nach P^cs hingegen, deren Universität nach jener in Bologna organisiert wurde, kam der Humanismus deshalb zu so früher Zeit, weil Ludwig von Anjou und seine Nachkommen schon in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wechselhafte, aber enge Beziehungen zu Oberitalien hatten. Sie unterhielten hauptsächlich Verbindungen mit Venedig und Padua, und zwar mehr kulturelle, aber immer doch enge Beziehungen auch mit Firenze und Bologna. Der venezianische Kreis Petrarcas spielt bei der Gestaltung der Anfänge des Humanismus in der imgarischen Kanzlei eine ausschlaggebende Rolle. Auch Pier Paolo Vergerio, der höchste Inspirator des ungarischen Humanismus, stammte aus dieser Gegend, aus Istrien, und zu seinem einstigen Schulkameraden Guarino da Verona wurde der junge Janus Pannonius in die Lehre geschickt, der dann als höchster Stern des ungarischen Humanismus glänzte. Auf die Universität zu P6cs hingegen gelangte hauptsächlich der Geist des Schülerkreises von Petrarca aus Bologna. Es ist nicht zu bestreiten, daß der Humanismus in Ungarn zur Zeit der Verstärkung der Königsgewalt im Spätmittelalter, als die Entwicklung des Bürgertums schon zu sehen war, im Zeichen einer neuartigen Bildung erschienen ist. Eben deshalb reagierte er so stark auf jede dynastische Veränderung, wie z. B. nach dem Tode Ludwigs von Anjou oder des Königs Sigismund von Luxemburg, als das Reich jedesmal in eine Anarchie versank. Die Hauptfunktion des ungarischen Humanismus besteht darin, die Zentralisation und den Verwaltungsapparat der Hunyadi-Dynastie in einem Lande auszubilden, wo kein nationaler Markt und nur einige Bestrebungen zu einer größeren wirtschaftlichen Einheit zu finden waren. Dieses Land aber wurde von einer drohenden Gewalt, von den Türken, von Osten her bedrängt, und diese Gefahr beschleunigte die Entwicklung. Der Humanismus bekam eine Staatsfunktion: Er wurde in den Dienst der Zentralisation des feudalen Königtums gestellt, was auch in Ungarn zur Heraus-

Merkmale des ungarischen Humanismus

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bildung des Feudalabsolutismus, des höchstentwickelten Typus der feudalen Gesellschaftsordnung, führte. Gleichzeitig müssen wir aber feststellen, d a ß die ungarischen Humanisten ein Jahrhundert lang fast ausschließlich aus kirchlichen Kreisen kamen oder als Staatsangestellte kirchliche Pfründe genossen. Daher wurde bei uns der Humanismus durch eine mehr oder weniger kirchliche Gesellschaftsschicht vertreten und fortentwickelt. So sucht man auch umsonst im Humanismus eines J o h a n n Vit£z, eines Peter Vdradi und anderer den Ton von Lorenzo Valla. Am meisten nähert sich noch Janus Pannonius, der in Italien erzogen und mit dem Freidenker Galeotto Marzio innigst befreundet war, dem mehr profanen Wesen des italienischen Humanismus. E r löst den Begriff der Religion in dem Neoplatonismus und allgemein in einer Philosophie stark pantheistischer Färbung auf. Seine witzsprühenden Epigramme, seine Elegien, die individuelles Leiden, tief menschliche Familienbeziehungen und die Schönheit der N a t u r entdecken, geben seiner Dichtung eine neue weltliche Färbung, die dem ungarischen Humanismus als Vorbild diente. Jedoch ist f ü r das erste Jahrhundert des ungarischen Humanismus jene Kompromißform charakteristisch, die mit Hilfe von Autoritäten wie Hieronymus, Augustinus, Lactantius, Basilius Magnus zu den antiken Quellen zurückgreift, welche die moderne Gesinnung förderten. Das erklärt auch die Tatsache, daß vor der Reformation, schon im Geiste des wittenbergischen Humanismus, f r ü h jene Eigenschaft der devotio moderna zur Geltung gebracht wird, die so bezeichnend ist und die auch in der Gestaltung der Persönlichkeit eines Erasmus ausschlaggebend wurde. Wir meinen den gewissen Kompromiß zwischen Humanismus und Christentum besonders in den sich berührenden Punkten der stoischen und der christlichen Moral, was immer mit einer gewissen Betonung des Praktischen, mit einem persönlichen Charakter der Religiosität und mit hochgradigem Individualismus verbunden war. Deshalb bekommen wir schon so früh, nämlich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, eine Übersetzung und bald danach eine Kopie der „Sieben Bußpsalmen" Petrarcas, deshalb werden auch in der Kodex-Literatur in ungarischer Sprache mehrfach, eben durch die devotio moderna verursacht, die klassischen Beispiele erwähnt. Diese kompromißvolle, jedoch zu gleicher Zeit stark fortschrittliche Eigenart unseres Humanismus geht mit der Tätigkeit des im Dienste der königlichen Kanzlei und der Zentralisierung der königlichen Administration stehenden Hofhumanismus und mit dessen literarischen Werken zweifellos vollkommen parallel. Dieser Hofhumanismus verwendete auch die im geselligen Ton geschriebene satirische Epigrammdichtung von Janus Pannonius und näherte sich auch mit Vorliebe der anekdotischen Geschichtsschreibung, die aus Galeotto Marzios Feder entsprossen ist. I h r charakteristisches Merkmal ist es, daß sie die Geschichte berücksichtigten wie auch die von Bonfini und von Nikolaus 014h verfaßten Werke. Diese Entdeckung des eigenen Vaterlandes, so wie wir es in der Italia Illustrata

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Tibor Kardos

des Flavius Blondus oder in den historisch-geographischen Werken des Aeneas Sylvius sehen, ist als eine der wichtigsten Errungenschaften des osteuropäischen Humanismus zu betrachten. Die ungarischen Humanisten ahmten zweifellos Aeneas Sylvius nach, der früher an dem kaiserlichen Hof verweilte. Aber sie gehen auch weiter. Römische Tradition, klassisch verkleidete Überlieferung der ungarischen Tradition, Vereinigung der geographischen und ethnographischen Faktoren durch Schilderung der geschichtlichen Veränderungen bis zur Gegenwart sind bezeichnend für das musterhafte Werk Bonfinis Berum Ungaricarum Decades und für die Hungaria et Attila des Nicolaus Olah. Die vorwiegende Rolle des ungarischen Staatshumanismus gab den Ausschlag dafür, daß seine wichtigste literarische Gattung gerade die nationale Geschichtsschreibung in lateinischer Sprache wurde, die später in den Werken von Anton Verancsics, Franz Forgach, Nicolaus Istvänffi, Stephan Szamosközy ihre Spitzenleistung erreichte. Obwohl der ungarische Humanismus wegen der oben genannten Gründe lange Zeit kein unmittelbarer Ausdruck des Bürgertums, sondern eher des zentralisierten Staates war und erst unter den Jagelionen und nach der Katastrophe bei Mohäcs nur teilweise und mehr im Sinne der Klassenzugehörigkeit bürgerlich wurde, hat er trotzdem unbestritten die Kultur in die Richtung moderner bürgerlicher Ideale weitergebildet, d.h. er hat sie im „Interesse der Menschheit" gelenkt. Dieser Humanismus ist aber unvorstellbar ohne den mächtigen Drang der unterjochten Massen, der in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters für Europa so bezeichnend geworden war. Die großen, religiös verhüllten Volksbewegungen wie der Patarenismus im 14., die Hussitenbewegung im 15. Jahrhundert, der halb religiöse und halb laizistische Bauernkrieg von 1514, die humanistischen Forderungen des Dözsa-Krieges, die fortwährenden Kämpfe der Bauern um das Recht des freien Übersiedeins, um die Möglichkeit zu erhalten, aus ihrer materiell wie moralisch mehr und mehr unerträglichen Stellung herauszubrechen, dazu das steigende Selbstbewußtsein der reichen Handwerker und Kaufleute bildeten den Hintergrund, der, zu gleicher Zeit positiv und negativ wirkend, den Humanismus nicht nur ermöglichte, sondern für führende Intellektuellen sogar unerläßlich machte. Gleichzeitig hat sich langsam eine dem Volke verbündete, mit ihm fühlende, volkstümliche, plebejische Form des Humanismus herausgebildet, die auf den Schriften klassisch wohlgeschulter oder wenigstens die Grundlinien der klassischen Kultur besitzender Intellektueller beruhte. Einige Anzeichen haben wir davon schon in den Textinterpretationen der ungarischen Bibelübersetzer, die in Prag studierten, oder bei den Führern des Dözsa-Aufstandes, die in Krakau oder auch zu Hause geschult wurden. Aber wir werden sie verstärkt in der Reformation wiedersehen. Nach 1530, als der Humanismus sich schon der ungarischen Sprache bediente, treten uns diese Formen im Lust- und Trauerspiel, in den Versnovellen und in Versromanen sowie auch in der Lyrik entgegen. Die antifeudalen Möglichkeiten, welche die lutherische Reformation in sich barg, kommen in den

Merkmale des ungarischen Humanismus

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Komödien von Michael Sztdrai Comoedia de matrimonio Sacerdotum, 1550, Comoedia lepidissima de sacerdotio, 1559, offen zum Vorschein. Unbestritten ist die Verbindung des Verfassers mit den satirischen Spielen der lutherischen Reformation, gleichzeitig aber lassen sich auch starke Spuren der Beschäftigung mit Plautus nachweisen. Er verhöhnt in einer kräftigen Volkssprache mit starkem plebejischen Humor die Gewalttätigkeit, die Ignoranz, die Faulheit der mittelalterlichen Kirche. Aber zum richtigen Repräsentanten des plebejischen Humanismus macht ihn erst die Tatsache, daß sein Ideal der gebildete, um das Wohlsein des Volkes bestrebte Priester ist. Die durch Sztärai vertretene Tendenz gipfelt in der im Jahre 1569 herausgegebenen, aber einige Jahre früher verfaßten „Komödie über den Verrat des Melchior von Balassa" sowie in der „Disputatio von Debrezin", die im Jahre 1571 erschien. Beide Lustspiele müssen auf den antitrinitarischen Kreis von Klausenberg des Franz David und des Caspar Heltai zurückgeführt werden. Es ist das gebildete, sanfte Benehmen des Franz David, das Melanchthon ähnlich ist, seine humanistische Theologie, sein volksfreundlicher Geist, die beide Lustspiele durchströmen. Es geht daraus eine plebejische Entlarvung der barbarischen, ungebildeten, gewalttätigen, verräterischen feudalen Barone sowie der katholischen und kalvinistischen Kirchenfürsten hervor, jedoch auf eine kunstvolle Weise, die er durch eine starke Individualisierung der Charaktere und der Sprache erreicht. Der andere für die Menschenrechte kämpfende Zweig unserer ungarischen Literatur im 16. Jahrhundert, die Versnovellen, haben eine weniger plebejische Färbung. Der Versroman „Volter und Griseldis" (Historia regis Volter), 1539, stammt noch aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Er wurde von Paul Istvänffi übersetzt, einer berühmten durch Petrarca umgearbeiteten Novelle Boccaccios entnommen und ist eine Glorifikation der weiblichen Standhaftigkeit und der heroischen Tugenden. Ebenso früh, wahrscheinlich durch südslawische Übermittlung, sehen wir in dem Versroman von Caspar Rdskai: „Historie des Helden Francisco" ein anderes Motiv von Boccaccio in Ungarn auftauchen. Er ist die Geschichte des treuen, als Mann verkleideten und jede Probe mannhaft bestehenden Weibes. Es ist sehr interessant, daß in unserer so reichen Versnovellenliteratur die Liebesrechte nur gegen 1570 das führende Wort bekommen. Sie sind dann freilich stark emporgehoben und erscheinen als eine Lobhymne der menschlichen Gleichberechtigung. Die moderne ungarische Literaturforschung bringt dieses Aufblühen, diesen Ton mit der gleichzeitig erfolgten Unterdrückung der antitrinitarischen Bewegung in Verbindung, die daran zweifellos teilhatte. Dieselbe Tendenz offenbart sich auch in der „Schönen Historie des Euryalus und der Lukretia", 1577, einem unserer schönsten Versromane, dessen Original von Aeneas Sylvius stammt. Die Tiefe der gesellschaftlichen Differenzen treibt, gepaart mit der Liebesleidenschaft, die Heldin der Erzählung zum Tode. In „Gismunda und Gisquardus" (Historia elegantissima regis Tancredi filiae necnon

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Tibor Kardos

secretarii regis Gisquardi, 1574) paart sich das Recht zur Liebe mit dem Recht des Talents und der Bildung. In der „Historie des Telamon", 1578, wird entschieden letzteres betont: Der Sohn des Königs Telamon, Diomedes, wirft sich, als er erfährt, daß seine Braut ertränkt wurde, nach ihr in den Fluß. Der Zusammenhang zwischen diesem Versroman und einer ungarischen Volksballade ist so augenscheinlich, daß wir hinsichtlich des gemeinsamen Stoffes an gar nichts anderes denken können als an eine Begegnung der volkstümlichen und der plebejisch-humanistischen Denkungsart. Andere humanistische Verfasser behandeln unter dem Einfluß der Reformation unstreitig auch dort die ganze Gesellschaft berührende Probleme auf volkstümliche Weise, wo man sie nicht als Vertreter des plebejischen Humanismus betrachten kann. Peter Bornemisza, ein hervorragender Vertreter der lutherischen Reformation und des ungarischen Humanismus, rügt in seiner Übersetzung der „Elektra" nicht nur die Mächtigen, sondern er kämpft auch gegen die Tyrannei, und zwar gegen fremde Tyrannei. Die Lyrik seines Schülers, des hochadeligen Valentin von Balassa, ist die erste echt europäisch klingende Lyrik, die wir in ungarischer Sprache besitzen. Der aristokratische Charakter wird aber in seiner Dichtung nur dort bemerkbar, wo er um die Liebe vornehmer Frauen wirbt; sei aber diese Lyrik im allgemeinen noch so selbstbewußt, seine patriotischen Grenzburg-Gedichte, seine religiösen Psalmen, seine volkstümlichen Naturbilder und Gleichnisse wenden sich an einen weit größeren Kreis als seinen aristokratischen Stand. Es ist jedenfalls eine Tatsache, daß der ungarische Humanismus sich nach den osteuropäischen Verhältnissen entwickelte. Seine Form, die die Zentralisation förderte, wesentlich profan war und sich dabei mit der klassisch gebildeten Patristik alliierte, wurde dominierend und bewährte sich auch weiterhin. Diese seine Eigenart verstärkte sich noch durch die devotio moderna, ferner durch eine auf der Universität zu Wittenberg und durch den Einfluß des Melanchthon ausgebildete Form der lutherischen Reformation und ebenso durch das Sturmsche Schulwesen. Die vielleicht am meisten antifeudal gesinnte und höchste humane Form erhielt er durch die antitrinitarische Richtung. Die Grundlinien des ungarischen Humanismus verblieben also nach der Reformation nicht nur ungebrochen, sondern dauerten fort und verstärkten sich. Der plebejische Zweig unseres Humanismus gewann dabei ein eigenes scharfes Profil, aber auch im allgemeinen wandte sich der ungarische Humanismus dem Volke zu. Es wäre ergebnisreich, diesen Fortgang besonders mit den böhmisch-mährischen, religiösen und humanistischen Bewegungen sowie mit dem pohlischen Humanismus zu vergleichen, deren Ähnlichkeiten schon allein die wechselseitigen Rückwirkungen begründen. Zu dieser Arbeit sind wir veranlaßt von all dem, was wir über die Persönlichkeit eines Chelcicky, eines Comenius wissen, und was die polnische Literaturforschung bisher über den polnischen Humanismus im 16. Jahrhundert erfahren hat.

Bericht über neuere Forschungen auf dem Gebiet der Bibliotheca Corvina Klara Csapodi-Gärdonyi

Seit mehr als zweihundertfünfzig Jahren beschäftigt sich die wissenschaftliche Literatur mit der von dem Gesichtspunkt der allgemeinen Kulturgeschichte so. bedeutenden Bibliothek des ungarischen Königs Matthias Corvinus. Die einstige Pracht und der Reichtum des Bücherbestandes an geistigem und künstlerischem Wert, wovon die auf uns gebliebenen ungefähr 173 Bände einen überzeugenden Beweis liefern, übten und üben eine besondere Anziehungskraft auf einen ganzen Kreis von Wissenschaftlern aus — sowohl in Ungarn als auch im Ausland —, die der Entstehung und der Entwicklungsgeschichte des Humanismus ihre Aufmerksamkeit zuwandten oder zuwenden. Es ist selbstverständlich, daß neben allgemeiner Kulturgeschichte und Philologie die Buch- und Bibliotheksgeschichte den größten Anteil bei der Aufschließung der spezialen Fragen der Bibliothek einnimmt. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts sind schon zwei Werke entstanden1, in denen versucht wurde, eine Gesamtdarstellung der Bibliothek zu bieten; sie sind auch heute noch benützte Handbücher, besitzen aber nur noch einen historischen Wert. Weniger bekannt als diese ist vielleicht eine viel modernere, jedoch nur in ungarischer Sprache zugängliche Schilderung der Bibliothek von Josef Fitz 2 . Ein allgemein brauchbares und unentbehrliches Handbuch für weitere Forschungen ist das ausführliche, in systematische Ordnung eingeteilte bibliographische Werk von Klara Zolnai3, das auch die bis heute vollständigste Aufzählung der aus der Bibliotheca Corvina auf uns gebliebenen Bände nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort enthält. Es wird vielleicht nicht ohne Interesse sein, einen kurzen Blick auf die Forschungen und wissenschaftlichen Ergebnisse zu werfen, die seit dem Erscheinen der obenerwähnten Bibliographie zustande gekommen sind oder noch in Arbeit stehen. Das Bedeutendste ist, daß neulich in verschiedenen Bibliotheken auf ganz verschiedenem Wege drei neue authentische Corvina-Bände entdeckt wurden: ein 1

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A. de Hevesy, La Bibliothèque du Roi Matthias Corvin, Paris 1923; Bibliotheca Corvina. Die Bibliothek des Königs Matthias Corvin, geschrieben von V. Fraknöi, J . Fögel, P. Gulyâs und E. Hoffmann, Budapest 1927. J . Fitz, Mâtyâs kirâly a könyvbarät, in: Mâtyâs kirâly Emlékkônyv 2, Budapest 1940, 209-249. K . Zolnai, Bibliographia Bibliothecae regis Matthiae Corvini, Budapest 1942.

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Klara Csapodi-Gárdonyi

Arrianus-Kodex in der Vatikanischen Bibliothek, ein Aulus Gellius in Manchester (Chetham Library) und ein Petrarca-Kodex in Paris (Bibliothèque Nationale). Letzterer wurde noch im Jahre 1940 durch T. de Marinis bekanntgegeben1, wird jedoch in der im Jahre 1942 erschienenen Bibliographie von Zolnai noch nicht erwähnt. Erst im Jahre 1958 konnten die ungarischen Corvina-Forscher davon Kenntnis nehmen, als die Aufmerksamkeit des Gideon Borsa durch den Artikel A. R. A. Hobsons über zwei Renaissanceeinbände2 darauf gelenkt wurde. Der Aulus Gellius und der Petrarca-Kodex werden nächstens den Lesern des Magyar Könyvszemle bekannt gemacht3. Den Arrianus-Kodex entdeckte ein englischer Wissenschaftler, D. J . A. Ross in Rom, und er besprach ihn in einem ausführlichen Aufsatz in der Zeitschrift Scriptorium4. Die ungarische Bibliothekare erhielten darüber schon im Magyar Könyvszemle Nachricht, und eine kurze Anmeldung gibt auch die Bibliotheca Classica Orientalis5. Von den Persönlichkeiten, die mit dem ungarischen Renaissancekönig und seiner Bibliothek in Beziehung standen, steht der Florentiner Humanist Naldus Naldius im Vordergrund. Er ließ mehrere Kodizes in Florenz für Matthias abschreiben, und er hat außerdem, obwohl er nie in Ungarn war, in einem längeren Gedicht die Bibliotheca Corvina besungen®. Es wird einerseits eine neue kritische Ausgabe des in Torun befindlichen Originals seines Gedichts durch Ladislaus Juhâsz in gemeinsamer Arbeit mit einem polnischen und einem italienischen Kollegen vorbereitet ; andererseits wird in einem bald erscheinenden Aufsatze von Csaba Csapodi die Authentizität des Berichts des Naldus Naldius über die Bibliothek kritisch untersucht7. Der künstlerische Schmuck der Kodizes überhaupt und besonders der der Corvinen war und ist eines der Lieblingsthemen der Kunstgeschichte. Jolân Balogh hat neulich in einem großen, in zwei Bände geteilten Werk unter dem Titel „König Matthias und die Kunst" alle diesbezüglichen historischen Dokumente in Text und Bild bearbeitet. Das Werk ist druckfertig, und man will es auch in deutscher Übersetzung herausgeben. Auch andere ungarische Kunsthistoriker, wie Helene Berkovits und Elisabeth Soltész, beschäftigen sich mit den Fragen der Miniaturen der Corvinianischen Kodizes. 1 2 3

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T. de Marinis, Appunti e ricerche bibliografiche, Milano 1940, 91, tab. CLVI. A. R. A. Hobson, Two renaissance bindings, The Book Collector 7, 1958, 265—269. Einen kurzen Bericht über Aulus Gellius gibt schon G. Borsa in : Élet és Tudomány vom 28. 1. 1959, 159. D. J . A. Ross, A Corvinus manuscript recovered, Scriptorium 11, 1957, 104—108. Klara Csapodi-Gárdonyi, Corvinaként felsimert kódex a Vatikán konyvtárában, Magyar Könyvszemle 2, 1958, 161 ; siehe noch von demselben Autor ein Referat in der Bibliotheca Classica Orientalis 4, 1959, 130f. Epistola de laudibus bibliothecae atque libri IV. versibus scripti eodem argumento ad Mathiam Corvinum Pannoniae regem serenissimum. Cs. Csapodi, Naldus Naldius hitelességének kerdése, Magyar Könyvszemle 76, 1960,299 — 302.

Bericht über die Bibliotheca Corvina

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In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt — da es ebenfalls den Kreis der Kunstgeschichte betrifft —, daß in Ungarn eine planmäßige, systematische Aufschließung der Geschichte des Bucheinbandes auf Grund historischer Dokumente vor sich geht und daß die Untersuchungen von Eva Koroknay auf diesem Gebiete schon zu bedeutenden Ergebnissen geführt haben. In einem bald erscheinenden Aufsatze bringt sie neue Ergebnisse für die Vorgeschichte der mit Gold gezierten Corvina-Einbände in Ungarn, anderswo wird sie Dokumente für zeitgenössische Renaissance-Einbände und das Weiterleben des Corvina-Einbandstils in Ungarn erörtern. Aus einem bis jetzt fast ganz vernachlässigten Gesichtspunkt beschäftigt sich die Verfasserin dieses Berichts mit der Bibliotheca Corvina: nämlich mit der Untersuchung und Vergleichung der Schrift der einzelnen Bände 1 . In der bis jetzt bekannten wissenschaftlichen Literatur wurde die Schrift der auf uns gebliebenen Bände noch nie systematisch untersucht und miteinander verglichen. Vielleicht war der Grund dafür, daß die auf uns gebliebenen Bände in mehr als 40 Bibliotheken der Welt zerstreut aufzufinden sind, und so können im Original nur die zufällig an einem Ort befindlichen verglichen werden. Für die anderen gibt es nur Mikrofilme oder Photoaufnahmen, mit denen man sehr vorsichtig verfahren muß : Faksimiles oder Photoaufnahmen kommen bei einer paläographischen oder schriftgeschichtlichen Untersuchung immer nur in zweiter Linie in Betracht und können nie ganz die Benützung des Originals ersetzen. In der letzten Zeit wendet die Paläographie und die Schriftgeschichte eine größere Aufmerksamkeit der Handschrift bzw. der Buchschrift des 15. Jahrhunderts zu, als es früher der Fall war 2 . Heute ist es schon klar, daß die Schrift der einzelnen Kodizes und die Person des Schreibers mindestens so bedeutend sind wie der Buchdrucker und der Typ eines Wiegendrucks. Die Zeit — die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts —, in der mit Hand geschriebene und gedruckte Bücher nebeneinander entstehen, ist aus diesem Gesichtspunkt die wichtigste. Es soll dabei nicht vergessen werden, daß bei der Untersuchung der Schrift nicht mit der gleichen Sicherheit zu verfahren ist wie bei den Wiegendrucken, da die Methoden der Schriftvergleichung noch nicht so weit entwickelt sind. Dennoch bringt die Untersuchung der einzelnen Handschriften viel mehr Ergebnisse, als man früher gedacht hat. Das Gesamtwerk eines Schreibers kann auf Grund des Charakters der Schrift zusammengestellt werden, und auf diese Weise kann man den kulturellen und geistigen Urquellen auf die Spur kommen. Was die Anwendung der schriftvergleichenden Methode bei unserem Gegenstand betrifft, kann schon auf Grund der bisherigen Untersuchungen festgestellt 1 2

Klara Csapodi-Gârdonyi, Mâtyâs kirâly kônyvtârânak scriptorai. Petrus Cenninius, Magyar Könyvszemle 4, 1958, 327 —344. Siehe hauptsächlich folgende Werke: M. G. Battelli, Nomenclature des Écritures humanistiques, Paris 1954; G. Cencetti, Lineamenti di storia della scrittura latina, Bologna 1954; J. Kirchner, Scriptura latina libraria, Monachii 1955.

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Klara Csapodi-Gârdonyi

werden, daß man in den einzelnen Bänden der Corvina alle charakteristischen Schrifttypen des abendländischen Europas auffinden kann. Wir besprechen nur die zur Regierungszeit des Königs Matthias entstandenen lateinischen Kodizes und nicht jene, die früheren Ursprungs sind. Der Name des Scriptors ist in 29 Corvina-Kodizes angegeben (ohne die Sigla), und da einige Namen in mehreren (2—3) Kodizes vorkommen, kennen wir bis jetzt insgesamt die Namen von 23 Schreibern, von denen Bände in der Bibliotheca Corvina aufzufinden sind. Durch Vergleichung der Schrift der einzelnen Kodizes können dann auch die nicht signierten Stücke dem einen oder anderen Scriptor oder wenigstens dem einen oder anderen Schrifttyp zugeschrieben werden. Dadurch kommen wir in der Geschichte der Bibliothek einen beträchtlichen Schritt vorwärts. Die Klarlegung aller diesbezüglichen Probleme wird eine Arbeit von noch mehreren Jahren sein. Ein Beispiel der Erfolge, die dabei zu erwarten sind, soll die bisher teilweise schon untersuchte Wirksamkeit eines einzigen Scriptors, Petrus Cenninius, geben. Er bot sich von selbst als erster Gegenstand unserer Betrachtungen, da von den allgemein bekannten und von ihm geschriebenen Kodizes einige in Ungarn aufzufinden und so im Original zugänglich sind. Außerdem war er auch einer der frühesten Lieferanten der Bibliothek zu Buda — aus dem Jahre 1467 sind drei von den Bänden, die seine Hand geschrieben hat, datiert. Er wurde in Florenz im Jahre 1445 geboren, im gleichen Jahr mit seinem späteren treuen Freund, dem berühmten Humanisten Bartolomäus Fontius. Er war der Sohn des Florentiner Goldschmiedes und Stempelschneiders Bernardo Cennini, dessen größtes Verdienst es ist, daß er, obwohl er die Geheimnisse der Technik des Buchdrucks nicht kannte, mit Hilfe seiner Söhne die Buchdruckerei sozusagen neu entdeckt und die erste Buchdruckerwerkstatt in Florenz errichtete. Das einzige bekannte Produkt dieser Druckerei ist der Vergilius-Kommentar des Servius Honoratus. Er erschien in den Jahren 1471—1472 und wurde durch Petrus Cenninius emendiert. Wir haben mehrere Beweise dafür, daß er sich auch mit humanistischen Studien beschäftigte; sein Broterwerb war jedoch ohne Zweifel die Kunst des Schreibens, die er in hohem Maße ausübte. Eine Aufzählung aller bekannten von ihm stammenden Bände gibt J. Ruysschaert in der Zeitschrift La Bibliofilia1. Unter den 18 Kodizes werden auch zwei Corvinianische aufgezählt: der Curtius Rufus (Budapest, Sz6ch6nyi-Nationalbibliothek) und der Frontinus (Krakau, Czartoryski-Bibliothek). Durch unsere Forschungen kann man noch zwei Kodizes, die nicht signiert sind, doch ohne Zweifel von seiner Hand stammen, dazu zählen: den Blondus Flavius in der Erzbischöflichen Bibliothek zu Györ (Raab), der eine authentische Corvina ist, und den Suetonius Tranquillus in der 1

J. Ruysschaert, Dix-huit manuscrits copiés par le Florentin Pietro Cennini, La Bibliofilia 59, 1957, 108-112.

Bericht über die Bibliotheca Corvina

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Universitätsbibliothek zu Budapest, der keine unbedingten Merkmale eines Corvina-Bandes aufweisen kann, jedoch ohne Zweifel von Petrus Cenninius geschrieben wurde. Dieser Umstand sollte auch für die Abstammung des Bandes aus der Bibliothek zu Ofen sprechen. Heute wissen wir nicht mehr genau, wie und auf welchem Wege Cenninius mit dem königlichen Hofe zu Buda in Verbindung kam. Es ist jedoch eine handschriftliche Aufzeichnung von Nicolaus Jankovits (berühmter imgarischer Kunstsammler im 19. Jahrhundert) auf uns gekommen, nach welcher in den Rechnungsbüchern des Königs Matthias — die seither leider verschollen sind — der Name des Petrus Cenninius oft erwähnt wird. Auch spricht er davon, daß er mehrere tausend Florins an verschiedene Scriptoren für König Matthias ausgezahlt hat. Wahrscheinlich sind uns nicht alle von Cenninius abgeschriebenen Bände erhalten geblieben; aber durch die Erhöhung der Zahl der von ihm geschriebenen Kodizes wächst seine Bedeutung in der Geschichte der Bibliotheea Corvina. Die Züge seiner Buchschrift sind unverkennbar charakteristisch: Er schrieb eine fast ganz stehende humanistische Kursive, die sich durch ihre natürliche Kalligraphie auszeichnet. Die Ausstattung aller von ihm geschriebenen Kodizes zeigt künstlerischen Geschmack und Sinn für dekorative Formgebung. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß auch der dekorative Schmuck der von ihm abgeschriebenen Kodizes von seiner Hand stammt. Ein weiteres Studium der Schrift der Corvina-Kodizes wird mit Sicherheit ergeben, daß noch mehrere Bände als seine Arbeit erkannt werden. Im Fünfjahrplan der Ungarischen Akademie der Wissenschaften steht eine Unternehmung großen Stils, die mit unserem Thema eng zusammenhängt: Es soll eine allgemeine Rekonstruktion des Bücherbestandes der Bibliotheca Corvina auf Grund der Ergebnisse der neuesten Forschungen durchgeführt werden; es werden dabei nicht nur die als authentisch anerkannten, sondern auch die zweifelhaften und die nur dem Titel nach bekannten Corvina-Bände mit der modernsten Methode in allen Beziehungen bearbeitet und beschrieben. Die Vorbereitungen dazu sind schon getan, es unterliegt aber keinem Zweifel, daß zuerst die Spezialfragen der Bibliothek auf allen Gebieten bearbeitet werden müssen. Erst nachher kann eine Synthese folgen, wobei alle Einzelergebnisse miteinander vereinigt und in Beziehung gebracht werden sollen. Wir werden dabei die Mitarbeit aller ausländischen Kollegen mit verbindlichem Dank bestätigen.

Bemerkungen über die pannonische Renaissance Làszló Gerevich

Die ungarische Forschung über die Gotik und die Renaissance erzielte in den letzten Jahren namhafte Erfolge. Diese sind in erster Reihe den Ausgrabungen großen Stils zu verdanken, welche sich die Erforschung der königlichen Zentren des Mittelalters, vor allem Esztergoms, später Budas und Visegr&ds als Ziel setzten. Neben dem reichen und vielfältig zutage gekommenen Fundmaterial wurde auch das Sammeln von Urkunden auf breitester Grundlage in Angriff genommen, um die Entstehung und die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Namen der Künstler und die in dieser Zeit schaffenden Schulen zu erforschen. Auf Grund des neuen vielseitigen Materials ging man daran, die modernsten Gesichtspunkte berücksichtigend, die ungarische Renaissance auch theoretisch zu bearbeiten. Das erste Ergebnis war, daß unsere bisherigen Auffassungen über die Spätgotik in Ungarn in wesentlichen Zügen modifiziert werden mußten und zahlreiche Erscheinungen der vorangehenden Epoche, nämlich des 14. Jahrhunderts, eine treffendere Erklärung fanden. Die Spärlichkeit der ungarischen Denkmäler des 14. Jahrhunderts bot bis jetzt keine Möglichkeit, einige Schöpfungen von ganz hervorragender Bedeutung zufriedenstellend zu erklären. Neuere Funde sichern die wissenschaftliche Grundlage zur Lösung verschiedener, bis jetzt dunkler Zusammenhänge. Sie ermöglichen weiter das Eindringen in die künstlerischen Bestrebungen dieses Jahrhunderts, das Aufdecken der Genetik dieser großartigen Werke in regionaler und chronologischer Hinsicht, vor allem aber die Erforschung der ständigen Wirkung der mediterranen, genauer der italienischen Kunst auf die spätgotische Kunst dieser Zeit, da eben die italienische Kunst zuerst einen Wandel und danach eine Umgestaltung bewirkte. Diese Untersuchungen der Kunst der Protorenaissance verursacht eine solche Änderung in unserer Betrachtung der gotischen Kunst, daß die beiden Epochen — nämlich die klassische Gotik und die Spätgotik — eben wegen der Änderung der grundlegenden Tendenzen scharf zu trennen sind. Diese neuen Ideen, welche der fortschrittlichen Renaissance den Weg bahnten, kamen besonders in der Auffassung und Bildung des Raumes und im Naturalismus der Spätgotik zum Ausdruck, wenn auch vorläufig noch akzessorische Elemente wie Verzierung und Gestaltung unverändert blieben. Diese kunsthistorische Auffassung ist weniger schematisch und entspricht besser den Tatsachen der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser Gedankengang folgt logisch aus der

Bemerkungen über die pannonische Renaissance

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Untersuchung des neuen, heute zur Verfügung stehenden, hauptsächlich baugeschichtlichen Materials. Es zeigt sich nämlich, daß auch die ungarische — ich meine die in Ungarn vorherrschende — Kirnst des 14. Jahrhunderts weit über die Grenzen des mittelalterlichen Ungarn verbreitet war. Wir können von der Ausbildung einer mitteleuropäischen und ostmitteleuropäischen Kunst sprechen, die ihre Zentren in Prag, Buda, Krakau und Wien hatte. Die räumliche Ausbreitung dieser Kunst fällt in die Regierungszeit der Anjou-Könige und erlitt unter Sigismund von Luxemburg keinesfalls eine Unterbrechung, als das künstlerische Schaffen in Westeuropa infolge des hundertjährigen französischen Krieges und die Zersplitterung des Deutschen Reiches ins Stocken geriet. In der Integration der mitteleuropäischen Kunst fiel damals der fortschrittlichsten Kunst, der italienischen, die determinierende Rolle zu. Nach diesen Voraussetzungen wird das Auftauchen des reifen Quattrocento in Ungarn bereits in den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts — also zuerst vor allen anderen Ländern jenseits der Alpen — um vieles verständlicher. An die Fresken Masolinos gewöhnt, staunte man nicht über die Werke Benedetto da Majanos, der Robbias oder Verrocchios, ja man erhob auf sie Anspruch, da die großen Bronzegießereien von Nagyv&rad und später die von Buda ungefähr von den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts an bis zum 16. Jahrhundert anscheinend bereits auf Bestellungen Statuen, die auf öffentlichen Plätzen aufgestellt wurden, Torflügel, Brunnen, Kandelaber und kleinere Bildwerke herstellten. Der Zudrang italienischer Künstler erreichte besonders um das Jahr 1476 und in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre seinen Höhepunkt. Sie sicherten in der ungarischen Schule dem toskanischen Stil Bürgerrecht. Neben den italienischen Kunstrichtungen müssen wir auch mit der intensiven gegenseitigen Wirkung der hier lebenden italienischen Künstler und der stilbildenden Kraft der lokalen Traditionen rechnen. Diese Stilmischung läßt sich am klarsten an einer untergeordneteren, aber im Hinblick auf die Ausbildung der ungarischen Renaissancekunst sehr wichtigen Keramikgattung von großer Vergangenheit, nämlich an den bunten Ofenkacheln ablesen (Abb. 1). Gegen Ende dieses und zu Beginn des folgenden Jahrhunderts kamen auch schon die zur Romantik neigenden, aufgelockerten lombardischen Stilrichtungen zur Geltung, aber die innere Entwicklung der ungarischen Schule und die Übernahme der Motive und Stilmerkmale charakterisieren noch immer die Werke der nach Krakau ausgewanderten Künstler, so z. B. auch des Franciscus Fiorentinus (die Grabdenkmäler der Werkstatt des Johann Albrecht und die Fenster des Wawels). Neben den bereits erwähnten und die Renaissanceschule Ungarns bestimmenden Umständen können wir gegen Ende des Jahrhunderts die Wirkung einer neueren stilbildenden Bewegung beobachten, die bereits dem Boden des gelehrten Humanismus entwuchs. Sie zeigt schon jene schöpferische Wechselwirkung von Wissenschaft und Kunst, die uns seit den Forschungen Burckhardts in Italien so klar vor Augen steht.

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Läszlö Gerevich

In Italien bewirkte das Interesse für römische Altertümer — dank wahrer wissenschaftlicher Vertiefung — die bewußte Reproduktion der antiken Formen. Diese Richtung ist viel jüngeren Ursprungs als das Sammeln von Texten oder der Literatur; sie war also eine charakteristische Eigenheit der klassischen Epoche des Humanismus. Das Studium der Altertümer und der Denkmäler hatte auch in der Renaissance Ungarns Anhänger. Außer dem Sammeln von Büchern — erwarb doch Sigismund von Luxemburg auch einen Teil der Bibliothek seines Bruders Wenzel — haben wir schon vom Beginn des 15. Jahrhunderts Berichte, wonach der eine oder andere Humanist des Königs die Altertümer studierte und sie sogar für ihn sammelte, wie z. B. Ciriaco d'Ancona. Später sammelten nur einige Kirchenfürsten antike Denkmäler, doch bald darauf setzte Matthias Corvinus die Sammeltätigkeit in großem Maße fort. Jener Brief ist allgemein bekannt, in dem er den Ankauf einer antiken Bacchus-Statue veranlaßte. Er ließ mit großem Kostenaufwand nach antiken Sammlungen suchen (z. B. seine Bemühungen um das Erwerben der berühmten Münz- und Gemmensammlung des Kardinals von Mantua). Nach einer Bemerkimg seiner Gemahlin Beatrice von Aragon hatte er eine große Vorliebe für antike Gegenstände. Es ist möglich, daß das Fragment einer Marmorstatue (Abb. 2), welches im Laufe der Ausgrabungen in der Burg von Buda nebst zahlreichen anderen antiken Funden, Münzen, ja sogar einer neolithischen Steinaxt zum Vorschein kam (Abb. 3), eben das in dem Brief erwähnte Stück ist. Wir haben Kunde davon, daß damals auch schon einige Bürger von Buda eifrige Münzsammler waren. Außer den Kleinfunden kennen wir auch zahlreiche in der Burg von Buda zum Vorschein gekommene Steindenkmäler und Grabsteine, deren sekundäre Lage beweist, daß sie nicht in neuerer Zeit hierher gebracht wurden, obwohl bis jetzt keine Spur einer römischen Siedlung entdeckt wurde. Außer den Funden geben die zeitgenössischen Schriftsteller einen sehr stimmungsvollen Bericht über die archäologische Tätigkeit in Buda (Bonfini, Antiquus, Apianus, Althamarus, Irenicus, Justinianus, Megyericsei, Lazius, Accursius, wobei die späteren Schriftsteller in diesem Zusammenhang nicht mehr interessant sind). Viel interessanter als die aristokratischen und königlichen Sammlungen ist die Tatsache, daß auch in Bürgerhäusern oder in deren Höfen, in Gärten und Kreuzgängen alter Klöster, an Häuserwänden und öffentlichen Plätzen — gerade so, wie heute in Italien — römische Grabsteine und Altäre aus Aquincum aufgestellt wurden. In diesem Zusammenhang scheint es überraschend, daß die humanistische Denkungsart hier schon so tiefe Wurzeln hatte und ihr schon breitere Massen verschiedener gesellschaftlicher Klassen folgten. Der Umstand, daß das eine oder das andere reich geschmückte antike Denkmal mit Inschrift im Verlauf von ein oder zwei Jahrzehnten drei oder viermal seinen Besitzer wechselte und in immer vornehmere Häuser gelangte, beweist das große Interesse für Altertümer. Abgesehen von der Inschrift des Steines, die natürlicherweise

Abb. 1. Mehrfarbige Ofenkachel mit der Darstellung des Königs Matthias. Budapest, Schloßmuseum

Abb. 2. Fragment einer Bacchus-Statue. Budapest, Schloßmuseum

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Abb. 4. Grabstele von Marcus Valerius Anifidus. Budapest, Museum von Aquincum

Abb. 5. Grabstele von Caius Secconius Paternus. Budapest, Museum von Aquincum

Abb. 6. Grabstele von Tiberius Claudius Satto. Budapest, Museum von Aquincum

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Abb. 7. Grabstele von Caius Caereins Sabinus. Budapest. Museum von Aquincum

Abb. 8. Joannes Fiorentinus: Fragment eines Grabsteines aus der Dominikanerkirche von Buda. Budapest, Schloßmuseum

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Abb. 9. Joannes Fiorentinus: Grabplatte von J . Gruszczynski. Gniezno, Kathedrale

Abb. 10. Joannes Fiorentinus: Grabplatte von A. Boryszewski. Gniezno, Kathedrale

Abb. 11. Joannes Fiorentinus: Grabplatte von A. t a s k i . Gniezno, Kathedrale

Abb. 12. Römischer Grabstein aus der Burg von Buda. Budapest, Museum von Aquincum

Bemerkungen über die pannonische Renaissance

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den unmittelbaren Gegenstand des Interesses bildete, legte man auch großen Wert auf die formalen Eigentümlichkeiten der Denkmäler. Was ist natürlicher, als daß auch auf die italienischen Künstler, welche hier längere Zeit verweilten, die Romanisierung ihrer neuen Heimat, die noch verhältnismäßig gut erhaltenen Ruinen von Aquincum, die an allen Ecken und Enden aufgestellten Denkmäler, vor allem aber die prachtvolle Sammlung des Königs Matthias Corvinus, wo auch Meisterwerke italienischer Kunst zu sehen waren, nicht ohne Wirkung blieben. Bei Betrachtung der Ursachen, welche die Eigentümlichkeiten der ungarischen Renaissance bedingten, wurde bis jetzt die Wirkung des römischen Pannonien als anregender Faktor außer acht gelassen. Von der mit innerer Kraft erfüllten pannonischen Renaissance soll in diesem Vortrag zum erstenmal berichtet werden. Der beliebteste Grabsteintypus der Renaissance war allem Anschein nach die Kopie eines gewissen Typus von römischen Grabsteinen, deren Zentrum Aquincum und deren Verbreitungsgebiet Pannonien und Noricum waren. Es sind vom Beginn des 2. Jahrhunderts mehrere Dutzend von solchen erhalten (Abb. 4—7). Das Hauptmotiv dieser außerordentlich einfachen Stelen ist ein Lorbeerkranz unter dem Giebel im oberen Felde, zu beiden Seiten Pilaster oder Rankenwerk, darunter eine Tafel mit der Inschrift, welche mit Blätterschmuck oder Traubenranken umgeben ist. Viele Grabsteine der ungarischen Renaissance ahmen in ihren wesentlichen Zügen diesen Typus nach, wobei natürlich den neuen Ansprüchen Rechnung getragen wurde (Abb. 8). Ihr Meister, Joannes Fiorentinus, der an mehreren Grabsteinen, so auch an dem des Erzbischofs von Gnesen, Jan Laski, seinen Namen einmeißelte, ließ den Giebel weg, stellte den mit flatternden Bändern, mit einer Taenia, zusammengehaltenen Kranz — dem illusionistischen Stil entsprechend — aufgehängt dar und faßte die Grabinschrift als befestigte Tafel auf. Der Erzbischof Laski bestellte bei ihm in Esztergom sieben Grabsteine aus rotem Marmor und ließ sie nach Polen bringen (Abb. 9—11), wo sich die Wirkung dieses Typus lange Zeit hindurch auch noch an Grabsteinen aus Spätrenaissance und Barock sogar außerhalb Polens nachweisen läßt. Zahlreiche Denkmäler seiner für weite Gebiete arbeitenden Werkstatt blieben auch in Ungarn erhalten. Eine andere Wirkung zur Ausbildung dieses Typus kam natürlich aus Italien. Nicht nur diese formalen Eigenheiten bezeugen die Tatsache der Kopie römischer, mit einem Kranz geschmückter Grabsteine, sondern auch die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung durch einige ähnliche Stelen, welche in der Burg von Buda zum Vorschein kamen. Als Muster mag auch jenes reich verzierte, aus Noricum stammende Grabmal von der Wende des 1. zum 2. Jahrhundert gedient haben, auf dem ein Frauenporträt von einem durch ein flatterndes Band zusammengefaßten Kranz umrahmt ist (Abb. 12). Der Motivschatz der Grabtafel übte einen großen Einfluß auf die Steinmetzen von Aquincum aus und mag auch eines der Muster für die Stelen mit Kranzmotiv gewesen sein. Dieser große römische Grabstein stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Sammlung des Matthias 2

Kenaissance, Band I I

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Laszlö Gerevich

Corvinus. Joannes Fiorentinus mußte also außer den einfachen mit einem Kranz geschmückten Grabsteinen auch diesen Prototypus gesehen haben. Dieses Beispiel der Nachahmung heimischer, römischer Vorbilder verhilft uns zum besseren Verstehen der ungarischen Renaissance und lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf jene Richtung der Renaissance, die die lokalen Traditionen der Antike untrennbar mit der damaligen Kunst verbindet. Diese Gesinnung folgte naturgemäß aus dem Wesen der Renaissance, das die konkreten Forschungen als ein unvermeidliches Erfordernis betrachtete. In der ungarischen Renaissance regten sich auch selbständige Bestrebungen, die ihren wahren Höhepunkt in künstlerischen Schöpfungen von solchen Ausmaßen erreichten, wie die etwa 25 m breite und sehr lange Stiege, die zu dem hoch schwebenden Hof zwischen den beiden an den steilen Hängen des Berges erbauten mächtigen Palästen von Visegräd führte. Eine andere bühnenartige Stiege leitete zu dem gewaltigen, die Taten des Herkules darstellenden Bronzetor des unvollendeten Palastes des Matthias Corvinus in Buda; auf einer Stufe war Raum genug für zwanzig Menschen. Diese fast an das Barocke gemahnenden Vorstellungen übertrafen selbst die Dimensionen der Bauten kleinerer italienischer Fürsten.

Johannes Sylvester und der Humanismus in Mittel- und Osteuropa János Balázs

1. Studien in der Heimat Der bedeutendste ungarische Erasmist, der erste ungarische Verfasser von Grammatiken, der erste wirkliche Künstler des ungarischen metrischen Verses, Johannes Sylvester, der auch die erste vollständige ungarische Übersetzung des Neuen Testamentes drucken ließ, wurde um 1504/05 in Szinérváralja im Komitat Sathmar geboren. Sein Vater war Hintersasse mit einigem Vermögen; er schickte seinen begabten Sohn höchstwahrscheinlich in die am nächsten gelegene städtische Schule von Frauenbach (Nagybánya). Die in Ungarn am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts gebrauchten lateinischen Grammatikbücher, Lesebücher und lateinisch-ungarischen Nomenklaturen bezeugen, daß die Schüler der ungarischen Schulen schon in der Heimat lateinische Studien von entsprechendem Niveau zu betreiben vermochten. Gewiß erwarb sich auch Sylvester — wahrscheinlich in der städtischen Schule von Frauenbach — sehr solide Kenntnisse im Lateinischen. Bis zum Jahre 1526 war Gabriel Perényi der Gutsherr von Szinérváralja. Da Sylvester der Perényis in seiner lateinisch-ungarischen Grammatik mit Liebe und Dankbarkeit gedenkt, dürfen wir annehmen, daß ihn Gabriel Perényi und seine Gemahlin, beide begeisterte Humanisten, in seinen Studien förderten.

2. Sylvester und der Humanismus

in Polen

Sylvester bezog einige Wochen nach der Niederlage bei Mohâcs (25. August 1526), am 26. Oktober, die Universität Krakau. Zu dieser Zeit war Krakau ein sehr bedeutendes Handels- und Gewerbezentrum. Die Ideologie der frühkapitalistischen Bürgerschaft von Krakau war von starker antifeudaler Prägung und stand in scharfem Gegensatz zur Ideenwelt der geistlichen und weltlichen Oligarchie und der alten, feudal gesinnten städtischen Patrizier. Diese Ideologie vertrat damals den Fortschritt und übte ihre Wirkung zur Zeit der Renaissance auch auf die Krakauer merklich aus. Im Geistesleben der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts machten sich auch in Mittel- und Osteuropa zwei einander ergänzende Strömungen geltend: der Humanismus einerseits und die volkhaft-revolutionären, antifeudalen Bestrebun2*

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János Balázs

gen andererseits, die für die Rechte der Nationalsprachen eintraten. Sylvesters Entwicklung wurde schon in Krakau von beiden Richtungen stark beeinflußt. Auf das polnische Geistesleben, vor allem auf die höfischen Humanisten von Krakau und auf gewisse Universitätskreise, übte damals Erasmus die größte Wirkimg aus. Bald nach seiner Ankunft in Krakau kam Sylvester mit dem Krakauer Erasmistenkreis in Berührung, an dessen Spitze der königliche Rat Justus Decius, ein einflußreicher Diplomat und namhafter Historiker, stand. Diese Gemeinschaft nahm auch Männer von plebejischer Herkunft unter ihre Mitglieder auf, z. B. Severin Boner und seine Söhne, den Schlesier Anseimus Ephorinus, den Krakauer Aychler, wie auch den englischen fahrenden Humanisten Leonhard Cox, der auch Ungarn, Kaschau und Leutschau besucht hatte. Im Namen der Krakauer Erasmisten lud der Bischof und Dichter Cricius im Dezember 1525 Erasmus nach Krakau ein. Der Basler Humanistenfürst schlug aber die Bitte höflich ab. In den Krakauer Druckereien erschienen zu jener Zeit zahlreiche Werke von Erasmus. Auch diese Tatsache bezeugt, daß der Krakauer Humanismus auf dem Gebiete der Philologie durch die Aufnahme des erasmischen Geistes seinen Gipfelpunkt erreichte. Nun erstarkten aber zur selben Zeit im polnischen geistigen Leben auch die antifeudalen, völkischen Bestrebungen, deren Zweck es war, daß im Staatsleben, im Schulunterricht, auf dem Gebiet der Wissenschaften und der Literatur statt des Lateinischen die Sprache des Volkes vorherrschend werde. Latein wurde seit langem in ganz Europa auf der Elementarstufe in den Vulgärsprachen unterrichtet. Die Lateinlehrer legten auch die Elemente des grammatischen Systems der Muttersprache mit denen des Lateinischen dar. So entstanden die vulgärsprachlichen Erklärungen der lateinischen Grammatikbücher, dann auf einer höheren Stufe die zweisprachigen lateinisch-vulgärsprachlichen Grammatiken, und schließlich erschienen die selbständigen Grammatiken der Vulgärsprachen (lateinisch oder in der betreffenden Vulgärsprache). In Mittel- und Osteuropa war die um 1412 verfaßte Orthographia Bohémica von Johann Hus das erste Werk, das zusammenhängende Erörterungen über das Lautsystem und die Schreibweise einer Vulgärsprache enthält. Die Rechtschreibimg von Hus beeinflußte nicht nur die Entfaltung der tschechischen, sondern auch die Entwicklung der polnischen und imgarischen Orthographie in bedeutendem Maße. Einleitend wird von Hus festgestellt, daß „das lateinische Alphabet zur Schreibung tschechischer Wörter nicht genüge". Es sei also notwendig, das lateinische Alphabet entsprechend umzuformen, die Lücken auszufüllen, die Unterschiede der einzelnen lateinischen und tschechischen Laute klarzustellen, sodann den Lautwert der Schriftzeichen des vorgeschlagenen neuen Systems zuerst vereinzelt und schließlich auch durch Heranziehung bestimmter Wörter zu erklären. Das lateinische Alphabet wäre aber vollkommen entbehrlich, wenn die Tschechen für ihre Sprache geformte Buchstaben verwenden würden. Hus dachte dabei offenbar an das Vorbild der glagolitischen und kyrillischen Schrift.

Johannes Sylvester und der Humanismus in Mittel- und Osteuropa

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Die lateinischen Buchstaben seien aber nach der Meinung von Hus nicht nur zur Bezeichnung bestimmter Laute des Tschechischen, sondern auch anderer Sprachen ungeeignet. Hus erwähnt dabei ausdrücklich das Griechische, Hebräische und Deutsche, aber nebenbei auch andere, näher nicht genannte Sprachen. So sei z. B. neben dem Buchstaben für den Laut s in der hebräischen und glagolitischen Schrift ein besonderes Zeichen für den Laut s vorhanden (im Hebräischen im Glagolitischen in), den das Griechische und Lateinische nicht kennen und den man in der deutschen und tschechischen Schrift nur mit zusammengesetzten Zeichen (mit seh, beziehungsweise ss) schreiben könne. Es sei nun offensichtlich, daß derartige besondere Zeichen auch in der tschechischen Schrift notwendig wären. Hus erwähnt somit die hebräische Schrift als die erste, in der zur Schreibung des im Griechischen und Lateinischen unbekannten Lautes 1 ein besonderes Zeichen vorhanden ist. Die Überlegenheit der hebräischen Schrift gegenüber der griechischen und lateinischen war seit Hieronymus wohlbekannt. Als Beispiel des reicheren hebräischen Bezeichnungssystems wurde von Hieronymus wiederholt das Vorhandensein des hebräischen Zeichens jp angeführt. Den Ausgangspunkt zum Aufbau des ganzen Schriftsystems des Hus bildete eben die Schreibweise des s, das weder in der kyrillischen noch in der glagolitischen Schrift mit Nebenzeichen geschrieben wurde. Nun setzt man aber bekannterweise im Hebräischen auch über das Schriftzeichen des s einen diakritischen Punkt, und zwar entweder nach rechts (sin dextrum) oder nach links (sin sinistrum, fp); mit dem ersteren wird der Laut s, mit dem letzteren der Laut s bezeichnet. Im System des Hus wird der Laut I ebenso mit einem diakritischen Punkt (s) geschrieben wie im Hebräischen. So kann also meiner Ansicht nach mit Recht angenommen werden, daß Hus die Anregung zu der neuen Schreibweise von der hebräischen Schrift erhielt 1 . Um 1440 schrieb Parkoszowicz, Professor an der Universität Krakau, in Anlehnung an Hus eine lateinische Abhandlung über die Fragen der polnischen Rechtschreibung. Diese Abhandlung ist aber nur im Manuskript erhalten. Im Jahre 1512 oder 1513 erschien in Krakau die lateinische Orthographie Zaborowskis über die Probleme der polnischen Rechtschreibung. Diese Arbeit ist die erste gedruckte lateinische Abhandlung über Orthographie in Osteuropa. Die neueren Auflagen dieser hervorragenden Schöpfung erschienen gerade in den Jahren, als Matthias Dövai Biro, der später das erste ungarische Werk über Orthographie verfaßte, und Johannes Sylvester auf der Krakauer Universität studierten. Parkoszowicz, genauso wie Hus, berücksichtigte nicht nur die lateinische und griechische, sondern auch die hebräische Schrift; auch das Schriftsystem des Hus war ihm wohl bekannt. Zaborowski folgte gleichfalls dem System des Hus. Das 1

Vgl. darüber ausführlicher in meinem Aufsatz: Zur Frage der Typologie europäischer Schriftsysteme mit lateinischen Buchstaben, Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 4, 1958, 251—292; besonders 275—283.

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Jdnos Baläzs

beweisen besonders seine Bemerkungen über die Schreibweise des t und s. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, kann die Schreibung Zaborowskis als ausgezeichnet und fast tadellos beurteilt werden. Zur Durchsetzung der polnischen Sprache haben die Buchdrucker von Krakau, besonders der aus Schlesien stammende Vietor, viel beigetragen. Die Wirksamkeit dieses Mannes zeigt anschaulich, daß die beiden großen Strömungen des Jahrhunderts, der klassische und christliche Humanismus einerseits und die für die Rechte der Volkssprache eintretende Bewegung andererseits, gar nicht in Widerspruch zueinander, sondern im Gegenteil in vollstem Einklang waren. Auch eine Bemerkung des Erasmus in einem Briefe aus dem Jahre 1521 beweist, daß die beiden Richtungen am Anfang des 16. Jahrhunderts einander immer näher gekommen waren. Hiervon zeugt auch Sylvesters Wirken in Krakau. Auf die Nachwelt gekommen ist das lateinische Grammatikbüchlein Rudimenta, dessen lateinisches Vorwort Vietor Ende Juni 1527 verfaßte. Der lateinische Teil dieses Werkes stammt von dem deutschen Humanisten Christoph Hegendorf, einem gebürtigen Leipziger. Den lateinischen Text ergänzen ab und zu deutsche, polnische und ungarische Bedeutungsangaben. Der ungarische Text stammt nahezu sicher von Sylvester. Für die ungarische grammatische Literatur sind diese Rudimenta deshalb bedeutend, weil ihre ungarischen Bedeutungsangaben erstmalig Umrisse des morphologischen Systems der ungarischen Sprache andeuten. Es gibt zwar Hinweise auf frühere Grammatikversuche, doch sind diese Berichte völlig unzuverlässig. Wir müssen also Johannes Sylvester, den Studenten der Universität Krakau, als den Bahnbrecher der ungarischen grammatischen Literatur betrachten. Die Rudimenta sind übrigens das erste auf uns gekommene Druckwerk, in dem ein zusammenhängender ungarischer Text vorliegt 1 . 1527 gab Vietor in Krakau die lateinischen Schulgespräche des deutschen Schulmeisters Sebaldus Heyden aus Nürnberg unter dem Titel Puerilium colloquiorum formulae heraus. Darin sind die lateinischen Texte mit deutscher, polnischer und ungarischer Übersetzung versehen. Obwohl dieses Werk nur die Welt der Schulkinder umfaßt, erinnern Titel und Konstruktion an die berühmten Familiarum colloquiorum formulae des Erasmus. Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit behauptet werden, daß die ungarischen Bedeutungsangaben auch hier von Sylvester verfaßt wurden. Die ungarischen Übersetzungen haben die charakteristischen Redewendungen der ungarischen Umgangssprache vom Anfang des 16. Jahrhunderts sowie die alten ungarischen Namen von Gegenständen, Möbelstücken und Geräten dieser Zeit festgehalten. Den Angaben von polnischen Bibliographen zufolge erschien 1531 in Krakau in Vietors Druckerei ein Werk unter dem Titel Diccionarius latine, germanice, polonice et ungarice, zu dem angeblich auch Sylvester eine Widmung schrieb. Von 1

Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zur Trage des Erwachens der osteuropäischen Nationalsprachen, in: Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Festschrift Eduard Winter, Berlin 1956, 3 3 - 7 3 ; besonders 60—64.

Johannes Sylvester und der Humanismus in Mittel- und Osteuropa

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diesem Werk aber, das das erste gedruckte ungarische Wörterbuch gewesen sein sollte, blieb leider kein einziges Exemplar erhalten. Sind die Angaben über diese Arbeit glaubwürdig, so war dieses Wörterbuch vermutlich eine mit ungarischen Bedeutungsangaben erweiterte, neuere Ausgabe des 1526 in Krakau mit Cox' Widmung erschienenen Dictionarius von Murmellius. Wahrscheinlich stammten die ungarischen Bedeutungsangaben dieses Buches ebenfalls von Sylvester.

3. Sylvester und der deutsche

Humanismus

Am 31. Juli 1529 ließ sich Sylvester, vermutlich dem Rate von Leonhard Cox, dem ehemaligen Schüler Melanchthons, folgend, in der Universität Wittenberg einschreiben. Auf der erst 1502 gegründeten Wittenberger Universität erschienen bereits 1521/22 nach den ersten Wellen der Reformation die ersten ungarländischen Studenten, anfangs meist deutsche städtische Bürgersöhne, später aber auch Hörer ungarischer Herkunft. Das Jahr 1508 brachte ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte der jungen Lehranstalt, die von Friedrich dem Weisen, dem Kurfürsten von Sachsen, gegründet wurde. Dazumal begann Martin Luther als Lektor seine Vorlesungen über Philosophie mit heftigen Angriffen gegen die Scholastik. Luther stand trotz seiner humanistischen Bildung dem Humanismus ziemlich fern. Aber in seinem Kampf um die Reformation konnte er die Hilfe der Humanisten nicht entbehren. Im Frühjahr des Jahres 1518, als die Theologen auch die Universität Wittenberg reformieren wollten, drängten Luther und Karlstadt am heftigsten auf die „endgültige Vertreibung der Barbaren". Luther hielt die Reform der Universität im humanistischen Geist für eine Voraussetzung der kirchlichen Reformen. Für den Unterricht des Griechischen und Hebräischen wurden an der Universität neue Lehrstühle errichtet. Den Lehrstuhl für Griechisch übernahm Philipp Melanchthon, der, kaum 21 Jahre alt, am 25. August 1518 in Wittenberg ankam und bereits am 29. August seinen Antritts Vortrag über die Verbesserung der Studien der Jugend (De corrigendis adulescentium studiis) hielt. Melanchthon veröffentlichte 1519 in Wittenberg seine Rhetorik, 1520 — in neuer Auflage — seine griechische Grammatik, 1523 in Hagenau seine lateinische Grammatik, 1526 ebenda seine lateinische Syntax. Seit 1518 wurde an der Wittenberger Universität auch Hebräisch unterrichtet. Hier erschien 1526 das Werk De Hebraeis urbium, locorum, populorumque nominibus . . . von Aurogallus, der erste Versuch zur Beschreibung des antiken Palästina sowie zur Geographie des Ostens im allgemeinen. Gewiß kannte auch Sylvester diese Publikationen gut. In einer Rede ermahnte Melanchthon im Jahre 1525 die Universitätshörer, in ihren humanistischen Studien nicht übereilt vorzuschreiten. Was Melanchthon von der Vernachlässigung der Anfangsgründe sagte, darüber beklagte sich, ohne

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Zweifel im Anschluß an den großen praeceptor, später auch Sylvester in der Widmung zu seiner lateinisch-ungarischen Grammatik. Die deutschen Humanisten konnten sich nicht auf starke Bürgerschichten stützen. Ihrem Wirken fehlte es eben deshalb an dem für den italienischen Humanismus so bezeichnenden freien Geist, am gesunden Zweifel, an Kühnheit und an Großzügigkeit. Der Humanismus der Wittenberger Universität mochte auf die städtische Bürgerschaft nur sehr geringfügig eingewirkt haben. Die Stadt Wittenberg zählte damals kaum 20000 Einwohner, und der Wille des Kurfürsten war für die Universität bestimmend. Das Leben im Städtchen war beengend. Trotzdem zogen die Berühmtheiten der Universität, Luther und Melanchthon, die Jugend an. Auch Sylvester wurde in Wittenberg am meisten durch Melanchthon beeinflußt. So nannte er ihn auch in seiner lateinisch-ungarischen Grammatik praeceptor noster. Nie erwähnte er dagegen in seinen Werken den Namen Luthers. Als Sylvester in Wittenberg weilte, hatte der deutsche Humanismus — auch von den Kräften der Reformation unterstützt — bereits gewisse Erfolge in der Ausbildung der deutschen Literatursprache gezeitigt, wenn diese auch nicht so beachtlich waren wie die der italienischen, der spanischen und zum Teil der französischen Humanisten. Obwohl von abweichenden Kräften, dem Kanzleihumanismus bzw. von der Reformation getragen, waren die deutschen orthographischen Werke des 15. und des angehenden 16. Jahrhunderts (Werke von Steinhöwel, Hueber, dann von Ickelsamer, Kolross, femer von Jordan und Fuchssperger sowie von Fabian Frangk und Meißner) in ihrer Methode doch von einheitlicher Prägung. Sie kamen mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets aus, und wo diese — wie bei einigen deutschen Vokalen — zur Schreibung der Laute ihrer Muttersprache nicht ausreichten, wandten sie doppelte Lautzeichen, d. h. übereinander geschriebene Buchstaben (ä, 6, ü usw.) an. Die Italiener (Trissino) und einige Franzosen versuchten, einzelne Buchstaben der griechischen Schrift zu übernehmen, um gewisse Laute vollkommener wiedergeben zu können. E s ist bezeichnend, daß Trissino, der italienische Humanist, einige Schriftzeichen für die italienische Schrift (nämlich das e und das w) zur Zeit des Humanismus, also im Zeitalter der außerordentlichen Autorität der drei „heiligen Sprachen", dem griechischen Alphabet entnahm. Seit Hieronymus erfreuten sich das Griechische, Lateinische und Hebräische in der christlichen Welt einer privilegierten Lage. Melanchthon verlieh der herrschenden Auffassung des Zeitalters Ausdruck, als er in seiner lateinischen Vorrede zur hebräischen Grammatik Böschensteins unmißverständlich feststellte, daß nur der Gelehrte, der alle drei heiligen Sprachen beherrschte, etwas wirklich Bedeutsames auf dem Gebiete der Wissenschaft leisten könne. Es ist also gar nicht überraschend, daß nicht nur Trissino, der mißglückte Reformator der italienischen Orthographie des 16. Jahrhunderts, sondern auch Hus, der Urheber des bis heute erfolgreich verwendeten diakritischen Schriftsystems, innerhalb des Kreises der „heiligen Sprachen" verblieben waren. Hus, der Theologe, wurde durch die hebräische Bezeichnungs-

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art inspiriert; Trissino, der Humanist, schöpfte hingegen aus der griechischen Schrift 1 . Der Einfluß dieser Systeme ist in der Ausgestaltung der orthographischen Prinzipien Sylvesters deutlich zu erkennen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren Melanchthons angeführte Werke auf dem Gebiet der griechischen und lateinischen grammatischen Literatur in Deutschland ohne Zweifel die bedeutendsten. Wichtig waren noch die hebräischen Grammatiken der deutschen Humanisten (Reuchlin, Böschenstein, Aurogallus). Die Ausarbeitung einer deutschen Grammatik blieb aber noch immer aus. Noch im Jahre 1531 hielt Fabian Frangk diesen Umstand für beklagenswert, und zwar mit Recht: In Italien hatte bereits 1495 ein unbekannter italienischer Verfasser die Regeln der Sprache von Florenz in italienischer Sprache zusammengestellt ; im Jahre 1492 hatte der Spanier Nebrija seine in der Vulgärsprache verfaßte spanische Grammatik im Druck veröffentlicht. Die erste französische Grammatik schrieb 1530 der Engländer Palsgrave. Die zur selben Zeit erschienene Arbeit des Franzosen Dubois war noch zweisprachig: eine lateinisch-französiche Grammatik. Die Deutschen waren auf diesem Gebiet noch mehr zurückgeblieben. Die erste deutsche Grammatik, das Werk des Laurentius Albertus, erschien erst im Jahre 1573. So konnte Sylvester zur Ausarbeitung der nationalsprachlichen Grammatik auf deutschem Boden kaum Anregung erhalten. In Melanchthons lateinischen und griechischen Grammatiken lagen nur vereinzelte Bemerkungen über die grammatischen Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache vor. Die Lage der deutschen nationalen Rhetorik und Poetik war zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch nicht viel beruhigender. Melanchthons lateinische Rhetorik und seine erstmalig 1529 herausgegebene lateinische Prosodie waren vorzügliche Werke, gaben aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keine Anregung zum Verfassen der deutschen Rhetorik und Metrik, obwohl um diese Zeit, im Jahre 1529, Trissinos italienische Poetik und im Jahre 1535 eine Abhandlung über italienische Verslehre von Claudio Tolomei erschienen; und der Franzose Du Beilay verkündete 1549 stolz, daß auch die französische Nation die Vollkommenheit der griechischen und lateinischen Klassiker erreichen könne. Um so größer mußte die Anregung gewesen sein, die Sylvester von der Bibelübersetzung Luthers erhielt. Luthers Übersetzung des Neuen Testaments erschien im September 1522. Eine weitere sorgfältig überprüfte Ausgabe des berühmten Werkes erschien 1530, also eben zu Sylvesters Studienzeit in Wittenberg. Und im September 1534, als Sylvester Wittenberg angeblich wieder besuchte, erschien auch Luthers Übersetzung der gesamten Bibel nach wiederholter Revision des Neuen Testaments. Bei der Übertragung des griechischen Textes war Melanchthon, bei der Übersetzung des hebräischen Originals des Alten Testaments Aurogallus Luther behilflich. Der deutsche Reformator kannte aber auch die lateinische Übersetzung 1

Siehe darüber ausführlicher: Studia Slavica 4, 1948, 291—292.

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des Neuen Testaments von Erasmus und die von Erasmus herausgegebenen berühmten Adnotationes von Lorenzo Valla. Bekanntlich ließ Erasmus nach Vergleichung vieler griechischer Bibelmanuskripte im Februar 1516 in der Basler Frobenius-Druckerei den ursprünglichen griechischen Text des Neuen Testaments drucken, zusammen mit seiner lateinischen Übersetzung, die an manchen Stellen von der Vulgata abweicht. Aus dem Vorwort dieser Publikation strahlt uns der Geist der Frühreformation, der neuen Glaubensform, der humaneren, modernen Denkweise entgegen. Erasmus hielt es in seinem Vorwort für angemessen und erwünscht, die Bibel auch in die Sprache des Volkes zu übersetzen. Luther wollte gerade solchen Wünschen Genüge tun, als er sein deutsches Neues Testament herausgab. Die Bibelerklärungslehre (Exegetik) pflegte seit dem Mittelater vier mögliche Deutungen der Heiligen Schrift zu unterscheiden: die wortgetreue (sensus lateralis, verbalis), die übertragene (sensus allegoricus), die von sittlicher Tendenz (sensus moralis) und die anagogische (sensus anagogicus). Diese Lehre förderte nachhaltig die Entwicklung der theologisch ausgerichteten grammatischen, semasiologischen, rhetorischen und stilistischen Studien. Oft neigte Erasmus zur allegorischen Deutung der Bibel. Luther aber hielt das Heranziehen der viererlei Deutungen für kindische Spielerei. Er meinte, man müsse die wörtliche Bedeutung der Bibel auf grammatischer Grundlage mit philologischer Sorgfalt feststellen. Wie es Luthers Beispiel zeigt, trug die entsprechende vulgärsprachliche Deutung der Bibeltexte in hohem Maße dazu bei, gewisse grammatische und stilistische Eigentümlichkeiten der Nationalsprachen zu erkennen. Sylvester kannte sicherlich dieses Werk sowie Luthers Bibelübersetzung, obwohl er den Namen Luthers in keinem seiner Bücher und Briefe erwähnt. Innerlich stand nämlich Sylvester Melanchthon näher, ihn nannte er seinen Meister und mit ihm polemisierte er achtungsvoll auch in seiner Grammatik. Vermutlich kehrte Sylvester schon im Jahre 1530 oder im folgenden Jahre in seine Heimat zurück. Zu dieser Zeit dürfte er auch sein Vermögen verloren haben, was er am Anfang seiner lateinisch-ungarischen Grammatik im Brief an seinen Sohn erwähnt. Da er unmittelbar nach seinen Wittenberger Studien sein Vermögen einbüßte, ist es keineswegs unmöglich, daß er in seiner Heimat für einen Lutheraner gehalten und deshalb verfolgt wurde, obwohl dies aus den uns erhaltenen Angaben nicht deutlich erhellt.

4. Sylvesters

Wirken in der Heimat

Anfang Mai 1534 kam Sylvester durch Vermittlung des Erlauer Kustoden Thomas Mindszenti, des Kaufmanns und Ofner Stadtrichters Nikolaus Thurkowyth und des Lehrers in Papa Peter Gyzdawith, eines Anhängers der Reformation in Transdanubien, in Särvar am Hofe des Thomas Nädasdi an.

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Sylvester wurde in Särvär sofort Rektor der Schule, die Thomas Nädasdi neben dem Schloß, auf einer Insel zwischen den Flüssen Raab und Gyöngyös, aus Ziegeln erbauen ließ. Es ist möglich, daß Sylvester bis zur Fertigstellung der Schule vom Herbst 1534 an ein oder höchstens anderthalb Jahre wieder auf der Universität in Wittenberg studierte. 1535, ein Jahr nach Sylvesters Ankunft in S&rvär, kam auch Matthias Devai Bir6, eine hervorragende Persönlichkeit der Heldenzeit des imgarischen Protestantismus, der „imgarische Luther", nach Särv&r und reiste im Herbst des Jahres 1536 mit N&dasdis Wissen nach Deutschland. Anfang 1537 suchte er auch Melanchthon auf. Durch ihn erhielt der große Humanist Kenntnis vom Bau der Schule in Särvar und von Sylvesters Tätigkeit in Ujsziget. In einem an Nadasdi gerichteten lateinischen Brief vom 9. Oktober 1537 lobte er die Freigebigkeit des gebildeten ungarischen Magnaten und empfahl die beiden Schüler Dövai und Sylvester seiner Gunst. N&dasdi errichtete — offenbar auf Sylvesters Rat — in der zweiten Hälfte des Jahres 1536 in Ujsziget bei S&rvär neben der neuen Schule auch eine Druckerei, um die Drucklegung von Sylvesters lateinisch-ungarischer Grammatik, die bis zu dieser Zeit wahrscheinlich schon fertiggestellt war, und von seiner in Vorbereitung befindlichen ungarischen Übersetzung des Neuen Testaments zu ermöglichen. In seinem lateinischen Brief vom 23. April 1538 benachrichtigte Sylvester Nädasdi, daß inzwischen der bereits im Juni 1536 empfohlene deutsche Buchdrucker, ein gewisser Strutius, in Särvar angekommen sei. Der fremde Buchdrucker arbeitete nachlässig. Nach vielen Schwierigkeiten erschien aber im Juni 1539 doch das erste Werk der Druckerei, Sylvesters lateinisch-ungarische Grammatik. Die Druckerei in S&rvar-Ujsziget war bekanntlich die erste ungarländische Offizin, in der ungarische Texte gedruckt wurden. Bevor aber dieses bedeutende Grammatikbuch erschien, wurde — vielleicht im Frühjahr 1538 (möglicherweise früher?) — wahrscheinlich in Krakau in Vietors Druckerei die Orthographia Ungarica sowie etwa zur selben Zeit der Katechismus Devais in ungarischer Sprache in Druck gelegt. Alle oder zumindest das eine von diesen Werken, die für die Geschichte der ungarischen Orthographie wichtig sind, muß Sylvester noch im Sommer desselben Jahres erhalten und durchgesehen haben, wie es aus gewissen Feststellungen seiner Grammatik und eines lateinischen Briefes von ihm erhellt. Devais ungarisches orthographisches System weist die Einwirkung der tschechisch-hussitischen und der von dieser beeinflußten polnischen Orthographie, andererseits die der deutschen Orthographie auf. Es ist möglich, daß der Verfasser mit den Doppelbuchstaben der Vokale gewisse ungarische mundartliche Varianten der Aussprache alternativ zu bezeichnen suchte. Nach der Herausgabe der Orthographie verließ Devai endgültig Sarvär. Das Schwerste der Arbeit aber wartete noch auf Sylvester; die Übersetzung des Neuen Testaments sollte gedruckt werden. Er traute sich nicht, diese Arbeit Strutius zu

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überlassen. Irgendwann zu Beginn des Jahres 1540 ließ er, vielleicht auf Devais Empfehlung, Benedikt Abadi vermutlich aus Krakau nach S&rvär kommen. Der neue Buchdrucker arbeitete erfolgreicher als Strutius. Er änderte das Letterngut entsprechend um und beendigte nach einem knappen Jahr Ende 1540 oder Anfang 1541 den Druck der zweibändigen Übersetzung.

5. Sylvesters Grammatica Hungarolatina und die grammatische Literatur

humanistische

Sylvesters zweisprachige Grammatik vertritt in der Entwicklung der europäischen humanistischen grammatischen Literatur die mittlere Stufe, die Dubois' lateinisch-französische Grammatik am Anfang der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts erreicht hatte. Die italienische und die spanische vulgärsprachliche grammatische Literatur standen zu dieser Zeit schon auf einer höheren Entwicklungsstufe, die deutsche und die polnische grammatische Literatur aber waren erst bei dem Typus angelangt, dessen charakteristische Exemplare in Zaborowskis, Melanchthons, Moibanus' und Hegendorfs lateinischen Grammatiken mit vulgärsprachlichen Übersetzungen vorlagen. Somit stellte Sylvesters Grammatik, in der neben dem lateinischen Teil der ungarische schon beinahe eine gleichrangige Rolle spielte, einen Typus dar, der im Vergleich zu Hegendorfs Rudimenta wesentlich höher stand und im Verhältnis zum allgemeinen europäischen Entwicklungsgang als sehr zeitgemäß anzusehen war. Zur Zeit des Humanismus erleichterte die lateinische Sprache die Vereinigung der antifeudalen Kräfte und ihre Organisierung zum gemeinsamen Zweck. In der lateinischen Grammatik bot sich das herkömmliche System der grammatischen Kategorien von selbst zum Abriß der ersten vulgärsprachlichen Grammatiken dar. Das Lateinische hemmte und hinderte aber zugleich den Sieg der Vulgärsprachen, und die lateinische Grammatik bedeutete — infolge ihres ein Jahrtausend alten Ansehens — oft eher Fesseln für die Schaffung der selbständigen nationalen Grammatiken, die die Eigentümlichkeiten der Sprache in ein System bringen wollten. Als sich die einzelnen Vulgärsprachen nach und nach von der Vormundschaft des Lateinischen befreiten, entfaltete sich unter ihnen ein Wettstreit um die Nachfolge. In diesem Wetteifer äußerte auch Sylvester seine Meinung. Hierbei aber ließ er sich nicht von extremnationaler Voreingenommenheit, sondern vom aufgeklärten humanistischen Patriotismus leiten. Die Quellen des l a t e i n i s c h e n Teiles: a) Die Werke der lateinischen Grammatiker des Altertums: die zwei Grammatiken von Donatus, die Grammatik von Priscianus, die Kommentare von Servius

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und Werke anderer antiker lateinischer Grammatiker, wie dies schon von früheren Forschern aufgedeckt wurde. Der lateinische Teil in Sylvesters Grammatik folgt im ganzen Aufbau und System der herkömmlichen Aufteilung der klassischen griechisch-lateinischen Grammatiken: Laut, Silbe, Wort, Redeteile und ihre Akzidenzien. b) Quellen dieses Teiles waren auch die humanistischen lateinischen Grammatiken, und zwar neben den lateinischen Grammatiken von Melanchthon und Moibanus auch Werke anderer humanistischer Grammatiker. c) Innerhalb der europäischen lateinischen grammatischen Literatur müssen wir außer dem Humanismus von Krakau und Wittenberg auch mit dem Einfluß des von den ungarländischen Humanisten ausgestalteten Grammatikunterrichts rechnen. Die Quellen des ungarischen Teiles: a) Die herkömmliche Einteilung und das System der lateinischen Grammatik von Donatus hat Sylvester beim Aufriß der Elemente der ungarischen Grammatik beachtet und angewandt. Er billigte die Ergänzung des ungarischen Alphabets mit griechischen Buchstaben nicht, denn er hielt jede Abweichung von der lateinischen Überlieferung für unnötig. Aber bei der Darstellung des ungarischen grammatischen Systems hielt er sich weniger an die Kategorien der lateinischen Grammatik, er wich von diesen, wenn nötig, auch ab, so besonders in den Kapiteln über den ungarischen Artikel, über den Zusammenhang der Personal- und Possessivpronomina und der Possessiv- und Verbalsuffixe, ferner in dem über die ungarische objektive Konjugation. Er erkannte, daß die Nennwörter im Ungarischen — vom Lateinischen abweichend — nur eine Deklination haben, daß die ungarischen Kasussuffixe den lateinischen Kasus nicht immer entsprechen und daß die ungarische Wortfügung oft sehr wesentlich von der lateinischen abweicht. b) Sylvester folgte bei der Interpretation der lateinischen Lehre von Kasus und Verba nachweisbar der auf diesem Gebiet in Ungarn während der Jahrhunderte herausgebildeten Überlieferung. Die ungarischen Entsprechungen der lateinischen Kasus, besonders die Interpretationen des lateinischen Genitivs stimmen sowohl in den Rudimenta als auch in der Grammatik im wesentlichen überein, und diese Darstellungsweise blieb im wesentlichen jahrhundertelang auch in solchen ungarischen Grammatiken unverändert, deren Verfasser Sylvesters Werke gar nicht kannten. c) Eine sehr wichtige, obwohl bis zu dieser Zeit wenig beachtete Quelle des ungarischen grammatischen Teiles war die hebräische Grammatik. Indem Sylvester die Grammatik seiner von den indoeuropäischen Sprachen wesentlich abweichenden Muttersprache abfaßte, machte er — nach Erkenntnis der elemen-

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t a r e n V e r w a n d t s c h a f t zwischen dem Hebräischen und dem Ungarischen auf gewissen Gebieten — einige grundlegende Feststellungen, auf die er kaum gekommen wäre, wenn er bloß die lateinische und die griechische Grammatik gekannt hätte. Besonders an drei Punkten schöpfte er aus der hebräischen Grammatik mit Erfolg: 1. beim Systematisieren der ungarischen Vokale, wo er Reuchlins Rudimenta Hebraica vor Augen h a t t e ; 2. bei der Behandlung der Schreib- und Sprechweise der ungarischen s-Laute, wobei er sich auf Überlieferungen bis zu Hieronymus zurück stützte, und 3. bei den Ausführungen über die Übereinstimmung der ungarischen possessiven und verbalen Personalsuffixe mit den Personalpronomina, zu denen er ebenfalls durch die hebräischen Grammatiken, genauer gesagt, wahrscheinlich durch Reuchlins oben genanntes Werk Anregung erhalten haben mochte. d) Wie aus den Bemerkungen über den bestimmten Artikel und die ungarischen Distributiva erhellt, h a t Sylvester viel aus der Bibelübersetzung des Erasmus und aus dessen Anmerkungen gelernt. Den Grundgedanken der vergleichenden Methode h a t er gewiß aus diesen geschöpft. Seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der ungarischen können wir folgendermaßen zusammenfassen:

Grammatik

a) Den Grund zu den systematischen Forschungen auf dem Gebiete der ungarischen Lautlehre legte Sylvester hauptsächlich durch die Gruppierung der ungarischen Selbstlaute und durch die Erörterungen über die imgarischen sLaute. b) I n seinem orthographischen System nahm Sylvester im Gegensatz zu Matthias Ddvai Birö f ü r die etymologisierende Schreibweise Stellung. I n Anlehnung an die hussitische Rechtschreibung hielt er die Schreibung der von den lateinischen Lauten abweichenden ungarischen Laute mit diakritischen Zeichen für angemessen, und er faßte die Prinzipien dieses Systems in Regeln zusammen. c) Auch im Aufriß des Systems der ungarischen Morphologie ist Sylvesters Tätigkeit von Bedeutung. Wichtig sind seine Feststellungen über den Zusammenhang der ungarischen possessiven und verbalen Personalsuffixe sowie auch seine Versuche, die ungarische subjektive und objektive Konjugation zu unterscheiden. d) öfters befaßt er sich mit syntaktischen Fragen, so z. B. mit der von der lateinischen abweichenden Konstruktionsweise der ungarischen Beifügung der Zahlwörter, mit der Übersetzung des lateinischen ablativus absolutus ins Ungarische, mit dem Gebrauch der ungarischen hinweisenden Fürwörter und des ungarischen Artikels im Satze, mit der syntaktischen Funktion des BesiteZeichens -6 und anderen ähnlichen Fragen. Besonders wertvoll sind seine Ausführungen über den ungarischen bestimmten Artikel.

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Seine Ergebnisse auf dem Gebiete der Grammatik sind nicht nur deshalb wertvoll, weil er beim Verfassen seines Werkes neue Wege einschlug, sondern auch deshalb, weil ein beträchtlicher Teil seiner Feststellungen, selbst am heutigen Maßstab gemessen, wissenschaftlichen Wert besitzt 1 .

6. Sylvesters Bibelübersetzung und der deutsche

Humanismus

Sylvester widmete seine Anfang 1541 erschienene Übersetzung des Neuen Testaments mit Nâdasdis Wissen und Zustimmung in einer lateinischen Zueignung' Ferdinand und seinen Söhnen. Aus dem Gedankengang dieser Widmimg ist der Einfluß des Erasmus deutlich zu erkennen. Die Schlußworte verdienen besondere Beachtung, denn die darin dargelegten Gedanken erscheinen auch in seinen berühmten ungarischen Distichen. Wir verdanken Sylvester die erste überlieferte vollständige Übersetzung der neutestamentlichen Schriften. In den alten imgarischen Kodizes können wir zahlreiche Teile der Bibel in imgarischer Übersetzung lesen. Der uns überkommene Teil der ersten bekannten handschriftlichen ungarischen Bibelübersetzung, der sogenannten Hussitenbibel, enthält nur die vier vollständigen Evangelien des Neuen Testamentes. Auch die Übersetzung im Jordanszky-Kodex umfaßt nicht das ganze Neue Testament. Das in Krakau 1533 gedruckte Werk von Benedikt Komjâthi enthält bloß die ungarische Übersetzung der Briefe des Paulus; das in Wien 1536 veröffentlichte ungarische Neue Testament von Gabriel Pesthi enthält nur die vier Evangelien. Der Text der Übersetzung Sylvesters stimmt in einzelnen Teilen mit den früheren Übersetzungen überein. Der gelehrte Übersetzer von Sârvâr hielt aber aus sprachlichen (grammatischen und stilistischen) Gründen die Leistungen seiner Vorgänger nicht für entsprechend, da jene größtenteils nur nach der Vulgataübersetzung gearbeitet hatten. Er aber verbesserte, vervollkommnete die früheren ungarischen Übersetzungen unter Beachtung des von Erasmus herausgegebenen griechischen Originaltextes wie auch der Bemerkungen von Valla und Erasmus, ferner der lateinischen Übersetzung und der Paraphrasen des letzteren. Darum bedeutete sein Werk in philologischer, textkritischer und ungarischer sprachwissenschaftlicher Hinsicht auch im Vergleich zu Gabriel Pesthis Übersetzung — der hauptsächlich die lateinische Übersetzung des Erasmus zugrunde lag — einen Fortschritt, obwohl es weniger kunstvoll und bündig als diese war. Dieses Werk der Druckerei von Sârvâr-Ujsziget läßt die Entwicklung der ungarischen 1

Zur Stellung der Grammatica Hungarolatina zur hebräischen Grammatik Reuchlins vgl. meinen Aufsatz : Une adaption humaniste du vocalisme hébraïque, Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 7, 1957, 65—75; zum Problem der Entstehung des bestimmten Artikels im Ungarischen den Auszug meines Aufsatzes in der Bibliotheca Classica Orientalis 3, 1958, 266—275.

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Literatursprache im 16. Jahrhundert sinnfällig erkennen, vor allem was den Wortschatz, die Lautlehre, die Morphologie, die Syntax und die stilistische Nuancierung betrifft. Seine stilistischen und übersetzerischen Grundsätze erörtert Sylvester in einem lateinischen Brief an Thomas N&dasdi vom Herbst 1547. Der Inhalt dieses Briefes zeigt in charakteristischer Weise die Verwandtschaft von Sylvesters Ansichten mit den stilistisch-rhetorischen Grundsätzen von Erasmus-und Melanchthon. Einige Bemerkungen über Sprachrichtigkeit können als Anfänge der ungarischen stilistischen Literatur betrachtet werden; Umständlichkeit, viele Umschreibungen, das Streben nach möglichst großer Genauigkeit, Korrektheit charakterisieren seinen Übersetzerstil. Auch hierin schwebte ihm das Beispiel des Erasmus vor; auch der große Basler Humanist hatte den Text des Neuen Testamentes in eine umfangreiche Paraphrase aufgelöst, um den Inhalt möglichst deutlich und verständlich zu machen. Für die Entwicklung der stilistischen Literatur in ungarischer Sprache sind die Bemerkungen Sylvesters von großer Wichtigkeit, die er in den beigefügten ungarischen Anmerkungen über die bildliche Sprache der Bibel macht. Die oft metaphorische Ausdrucksweise der Bibel lenkte die Aufmerksamkeit der Übersetzer imwillkürlich auf die stilistische Untersuchung der bildlichen Rede. Erasmus schrieb ein selbständiges kleines Werk über die Parabel und ihre Anwendung. Im Anschluß daran sprach bereits Gabriel Pesthi in seiner ungarischen Äsopübersetzung über die Rolle der Parabeln in der Sprache. Wir können die Spuren des humanistischen Gedankenganges des Erasmus auch bei Sylvester in seinen bedeutenden Anmerkungen über die parabolische Ausdrucksweise der alten ungarischen Liebeslieder entdecken. Seine häufig erwähnten und gelobten rhetorisch-stilistischen Bemerkungen weisen darauf hin, daß er den Stoff seiner stilistisch-rhetorischen Forschungen immer mehr erweiterte. Die Rhetorik hatte anfangs ihre Beispiele nur den Werken der griechischen und lateinischen Klassiker entnommen. Die durch den christlichen Humanismus verfeinerte biblische Stilistik ergänzte diese Beispielsammlung mit Materialien aus dem Alten und Neuen Testament; neben die Werke der „heidnischen" Klassiker stellte sie — als mindestens gleichrangige — die biblischen Texte. Auf der nächstfolgenden Stufe der Entwicklung — die nach gewissen provenzalischen und italienischen Ansätzen auch Sylvester erreichte — mischen sich unter die klassischen und biblischen Texte auch Literatur und Dichtung der Vulgärsprachen, die weder klassisch noch heilig, wohl aber barbarisch und profan, vulgär und national sind. Am Ende der Übersetzung des Neuen Testamentes behandelt Sylvester in anderen ungarischen Anmerkungen nach alphabetischer Reihenfolge auch Wörter, die im Text der Übersetzung aus irgendeinem Grunde erklärt werden mußten. Hier befaßt er sich mit der Bedeutung von mehr als 30 hebräischen und 10 griechischen Wörtern und mit der Herkunft von 13 ungarischen Wörtern, außerdem deutet und erklärt er noch 11 ungarische Wörter. Den größten Teil seiner Er-

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klärungen nahm er — wie es scheint — aus den lateinischen Anmerkungen des Neuen Testaments von Erasmus. Seine ungarischen Etymologien hatten trotz ihrer Fehler epochale Bedeutung. Seine Anmerkungen über die im Neuen Testament erwähnten Maße und Münzen deuten darauf hin, daß er bei deren Abfassung außer den Werken von Erasmus auch die Arbeiten anderer Autoren las. Vermutlich kannte er auch das berühmte lateinisch verfaßte münzgeschichtliche Werk von Guillaume Budö (Budaeus), das unter dem Titel De asse 1515 in Paris erschien. Zum Schluß spricht Sylvester kurz von den Krankheiten, die im Text der Evangelien erwähnt werden. In seinen Anmerkungen, die insgesamt 12—13 Seiten ausmachen, liegen uns die Anfänge der philologischen Literatur in ungarischer Sprache vor. Sylvester schickte mehreren neutestamentlichen Schriften Summarien in ungarischen Distichen voraus. Diese waren aber erst gegen Ende des Jahres 1540 fertig. Da aber bis dahin die ganze Übersetzung fertig gedruckt war, konnten diese Verse nicht mehr an die entsprechenden Stellen vor die einzelnen Kapitel eingerückt werden. So kamen die Summarien zum Evangelium des Matthäus, des Lukas und des Johannes wie auch zur Apostelgeschichte nach der letzten paginierten Seite des zweiten Bandes, vor die oben erwähnten Anmerkungen. Johann Horvath nimmt an, daß Sylvester vielleicht beim Korrigieren der letzten Seiten seines Neuen Testamentes entdeckte, daß die Sätze seiner Prosaübersetzung an manchen Stellen daktylischen Rhythmus haben. Das ist gewiß möglich. Wir können es aber auch nicht für ausgeschlossen halten, daß er auch von anderer Seite her erfuhr, daß sich unsere Sprache zum klassischen Vers eignet. Im Prosatext eines 1521 geschriebenen Kodexes ist ein verborgener ungarischer Hexameter erhalten. Dieser ist der bisher älteste bekannte ungarische Hexameter. Auch in der 1536 erschienenen Äsopübersetzung von Gabriel Pesthi kommen einzelne ungarische Verszeilen mit daktylischem Rhythmus vor. In der Orthograpkia Ungarica von Matthias Dövai Bir6 findet sich ein vierzeiliger „Vers" genannter Teil. In diesen vier Zeilen sah einer unserer Forscher die ersten ungarischen Distichen. Sicher hatte Sylvester diesen gelesen, und wahrscheinlich kannte er auch das ungarische Calendarium, das vermutlich in Krakau noch vor 1538 gedruckt worden war; in diesem finden sich auch hexameterartige Zeilen. So hatten bereits vor Sylvester auch andere versucht, ungarische Verse in griechischrömischem Versmaß zu schreiben. Dies aber tut dem Verdienst des gelehrten Meisters von Ujsziget keinen Abbruch. Die Lehren der antiken griechischen und römischen Prosodie fanden — wegen der in dieser Hinsicht sehr günstigen Beschaffenheit der ungarischen und tschechischen Sprache — zur Zeit des Humanismus in Ungarn und in Böhmen fruchtbaren Boden. Diese beiden Sprachen wiesen ihrer Natur nach von der Betonung unabhängige, scharf abgegrenzte kurze und lange Vokale sowie entsprechend wechselnde kurze und lange Silben auf. So war in den beiden Sprachen die Möglichkeit gegeben, Verse in klassischem Versmaß zu schreiben. Sylvester schuf seine 3

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wohlklingenden ungarischen Distichen drei Jahrzehnte früher als der sich im quantitierenden Versbau versuchende Tscheche Blahoslav und anderthalb Jahrzehnte früher als der Deutsche Gessner. Er verfaßte vier Summarien und außerdem eine Widmung in klassischen Versen. Die mit sehr großer Freiheit nachgeahmten Muster seiner Summarien waren die lateinischen Summarien des Erasmus. Der Gedankengang seiner Verswidmung stimmt, wie bereits erwähnt, an manchen Punkten mit dem Inhalt seiner lateinischen Prosawidmung und der berühmten lateinischen Widmung der Bibelübersetzung des Erasmus überein. Sylvester bewies mit seinen kunstvollen Distichen, daß sich unsere Sprache für den klassischen Vers ausgezeichnet eignet.

7. Sylvester und der Humanismus

in Wien

Sylvester ließ sich im Herbst des Jahres 1542 an der Wiener Universität einschreiben. Hier suchte er ein neues Arbeitsgebiet, um sich seinen Fähigkeiten entsprechend durchzusetzen. In Ungarn konnte der Sarv&rer Rektor nach Eroberung Ofens, der Hauptstadt des Landes, und nach dem weiteren Vordringen der Türken nicht auf ein Auskommen rechnen, das seiner Begabung entsprochen hätte. Universitäten und Hochschulen gab es damals auf ungarischem Boden nicht mehr, und der Unterricht kleiner Schulkinder in Ujsziget konnte den Ehrgeiz eines Sylvester nicht befriedigen. Nun aber gab es nicht weit von Sarvär die 1365 gegründete Wiener Universität, die die lernbegierige ungarländische Jugend, besonders die deutschsprachigen städtischen Bürgersöhne, von Anfang an angezogen hatte. Als sich das Habsburgerreich — infolge seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie auch durch die ständige Türkengefahr genötigt — in eine zentralisierte Monarchie umzuwandeln begann, wurde allmählich auch die Wiener Universität umgestaltet; mit Aufgabe ihrer feudalen Autonomie wurde sie zu einer staatlichen Bildungsanstalt, die immer mehr praktische Aufgaben zu lösen hatte. Sie sollte für den Staat Beamte, Ärzte und Pädagogen, eine neue, im wachsenden Maße weltliche Intelligenz heranbilden. Ferdinand begann 1533 die Reorganisierung der Universität und setzte sie 1537 fort. Die zwölf Professoren der philosophischen Fakultät hatten ursprünglich im Gebäude des Collegium archiducale gewohnt. Sie konnten bis zur Verbreitung der Reformation nur geistliche Personen, also Unverheiratete, sein. Aber in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts fanden sich nicht genug einheimische unverheiratete Professoren. Deshalb wurden an die Facultas artium fünf andere österreichische Professoren berufen, und es wurde ihnen gestattet, außerhalb zu wohnen. Aber auch so blieben sieben Lehrstühle unbesetzt. An diese berief Ferdinand Ausländer. So kam, offenbar von Thomas N&dasdi, dem alten

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Vertrauten des Königs, unterstützt, auch Johann Sylvester an die philosophische Fakultät. Den Lehrstuhl übernahm er zu Beginn des Wintersemesters 1543/44. Zu dieser Zeit verließ Antonius Margaritha, Professor der hebräischen Sprache, die Universität, und als dessen Nachfolger wurde Sylvester zweiter Professor für diese Sprache in Wien. Sylvester wurde der erste Ausländer, der zu dieser Zeit an der Universität angestellt wurde. Nach ihm wurden noch sechs ausländische Professoren ernannt. In den ersten Monaten seiner Professur erschien in Wien sein lateinisches Werk: De Bello Tunis Inferendo Elegia, dessen Widmung vom 18. Januar 1544 datiert ist. Auf der siebenten Seite dieses Werkes wird Sylvester als öffentlicher Professor der hebräischen Sprache (Professor Hebraicarum Literarum publicus) erwähnt. Dieses in lateinischen Distichen verfaßte Gedicht war höchstwahrscheinlich durch Martin Nagyszombatis 1522 oder spätestens 1523 in Wien erschienenes Gedicht von mehr als 900 Distichen angeregt. Darin werden der grausame Angriff der Türken gegen Sirmien im Herbst 1521 und die Fragen der Landesverteidigung behandelt. Sylvesters Werk wurde auch durch die im März 1530 erschienene berühmte Flugschrift von Erasmus (Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo) beeinflußt, in der dieser die Fragen eines Krieges gegen die Türken erörterte. Die Frage der Türkenkriege war damals Gemeinplatz. Selbst in den Schulen wurde die Vertreibung der Türken in den lateinischen Deklamationen oft erwähnt. Bezeichnend ist hierfür die 1542 in Wittenberg erschienene erweiterte Ausgabe der Rhetorik Melanchthons, worin der Verfasser die Disputation über den Türkenkrieg als ein sehr geeignetes Thema für die Streitrede (genus deliberativum) empfiehlt. Auch Sylvester schrieb sein Gedicht, offenbar von seinem geliebten Meister beeinflußt, in Anlehnung an den üblichen Aufbau der Deklamationen. Im wesentlichen stimmt der Gedankengang dieses Werkes des ungarischen Humanisten mit dem der erwähnten Flugschrift des Erasmus überein. Doch deuten die Versform, der patriotische Zorn und auch die Anschauung der ungarischen Vergangenheit auf Nagyszombatis Gedicht, der Aufbau des Werkes aber auf Melanchthons Rhetorik hin. Dieses ist Sylvesters bedeutendstes lateinisches Gedicht. Bartholomaeus Reisacher, der berühmte Mathematiker, Astronom und spätere Arzt, an der Universität Professor der Mathematik, verfaßte über alle im Wintersemester 1550/51 in Wien lehrenden Professoren, unter ihnen auch über Sylvester, eine Erinnerung von einigen lateinischen Distichen. Er rühmt Sylvesters griechische, hebräische und lateinische Sprachkenntnisse sowie seine dichterische Begabung und erwähnt teilnahmsvoll sein Fußleiden. Wie aus einem unlängst aufgefundenen Aktenstück erhellt, ersuchte Sylvester im Jahre 1550 Ferdinand, ihn im Grundbesitz in Gogänfalva zu bestätigen und darin einzusetzen. Der König gab der Bitte Gehör und beauftragte den Prämonstratenserkonvent von Csorna, die Einsetzung durchzuführen. Sie erfolgte am 3*

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14. Oktober 1550. Auf Nädasdis Anweisung aber vertrieben die Leibeigenen Sylvester vom Hause in Gogänfalva, warfen seine Habe auf die Straße, verjagten seine Familie und nahmen das Gut mit Gewalt für ihre Herrschaft zurück. Nun beschwerte sich Sylvester bei Ferdinand. Der König beauftragte am 1. Mai 1551 das Eisenburger Domkapitel, die Sache zu untersuchen. Nädasdis Gutsverwalter erklärten die Verfügung ihrer Herrschaft damit, daß Sylvester undankbar (ingratus) gewesen sei, als er den König gebeten habe, das von NMasdi nur zur Benützung überlassene Gut auf seinen Namen umschreiben zu lassen. Wahrscheinlich zu dieser Zeit erschien das aus 31 asklepiadeischen Versen bestehende lateinische Gedicht Sylvesters, betitelt Querela Domini Jesu Besurgentis carminibus lyricis conscripta, ohne Orts- und Jahresangabe, aber nach den Buchstaben zu urteilen in Wien. Aus der vom 8. Oktober 1551 datierten, ebenfalls an Ferdinand gerichteten lateinischen Zueignung seines anderen religiösen lateinischen Gedichtes, Querela Fidei, erhellt, daß Sylvester auf Grund der Anordnung des Königs (vermutlich etwa im August oder September 1551) auf dem Gut von Gögänfalva wieder erschien, aber von Nädasdis Leibeigenen wieder vertrieben wurde. Dieses Gedicht von 212 lateinischen Distichen ist die Klage des personifizierten christlichen Glaubens. Fides klagt darüber, daß sie, obwohl sie Jahrhunderte lang Frieden und Glück auf Erden gesichert hatte, jetzt von ihren eigenen Knechten und Dienern und von den gottlosen Ketzern (athei) verfolgt werde. I. Trencsenyi-Waldapfel brachte dieses Werk Sylvesters — mit Recht — zu der Querela Pacis von Erasmus in Beziehung. Sylvester spielt nämlich in den 76—77 Versen seines Werkes offensichtlich auf die Arbeit des Erasmus an. Nach Erasmus ist der auf Frömmigkeit beruhende lebendige persönliche Glaube das Wichtigste, diesen müßten die Fürsten in Schutz nehmen. Dies wollte auch Sylvester in seinem Werk in erster Linie ausdrücken. Wie sein großes Vorbild Erasmus betrachtete auch er die radikaleren reformatorischen Bewegungen mit Mißtrauen und Unruhe. Unter den athei, die er die Hauptfeinde nennt, müssen wir wahrscheinlich die dem linken Flügel der Reformation angehörenden Antitrinitarier verstehen, die zu jener Zeit in Österreich, Böhmen und Mähren den radikalen Flügel der anabaptistischen Bewegung bildeten und sich immer mehr Popularität verschafften. Die Querela Fidei ist nicht das Werk eines protestantischen Verfassers, sondern ausdrücklich das eines Erasmisten. Die Erasmisten betrachteten aber nicht die Gewinnung und Führung der unzufriedenen Massen, sondern die Pflege der Philologie, die stille wissenschaftliche Arbeit als ihre Aufgabe. Seit den Bauernkriegen mieden diese wissenschaftlich veranlagten Reformisten und Revisionisten ängstlich die revolutionären Bewegungen, sie schraken zurück und blieben auf halbem Wege stehen. Darum wurden die Erasmisten von den orthodoxen Katholiken oft als Protestanten, als Ketzer, von den Protestanten aber für Leute betrachtet, die dem alten Glauben zugeneigt waren.

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Als Sylvester im Oktober 1551 die Querela Fidei veröffentlichte, erwartete er von Ferdinand eine günstige Erledigung seiner Streitsache. Im folgenden Jahre zürnte der König Nädasdi einige Zeit lang, vielleicht gerade wegen der Vertreibung Sylvesters, versöhnte sich aber mit ihm bald, wie wir es aus einem Brief des S4rvärer Herrn vom 4. September 1552 erfahren. Dies bedeutete aber, daß Sylvesters Schicksal besiegelt war. Nunmehr konnte Sylvester weder in Gögdnfalva noch an der Wiener Universität verbleiben. Von 1552 an kommt sein Name in den Aufzeichnungen der Universität nicht mehr vor. Es ist also unwahrscheinlich, daß er — wie man früher dachte — seinen Lehrstuhl deshalb verlor, weil er sich den Protestanten offen angeschlossen hatte. Sylvesters weiteres Lebensgeschick ist völlig in Dunkel gehüllt. Als er Wien verließ, dürfte er kaum fünfzig Jahre alt gewesen sein. Aber er hatte seit langem gekränkelt. Auch sonst widerfuhr ihm viel Ungemach und Bitternis. Es ist durchaus möglich, daß er den Verlust seiner Wiener Stellung und seines kleinen Landgutes nicht überleben konnte. Die Nachrichten, daß er nach seiner Wiener Professor protestantischer Prediger in Debrezin, später evangelischer Geistlicher in Leutschau gewesen oder von Wien nach Böhmen geflüchtet und dort 1572 gestorben sei, haben sich als unrichtig erwiesen. Seine Werke scheinen zu seiner Zeit und selbst im 17. Jahrhundert kaum einigermaßen gewirkt zu haben. Man Heß seine Bibelübersetzung außer acht, die späteren Grammatikschreiber benutzten seine Grammatik nicht und kannten sie vielleicht überhaupt nicht. Auf die Bedeutung seines Lebenswerkes besann man sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit erst würdigte man seine in quantitierender Versform geschriebenen Gedichte nach Gebühr, und seine Grammatik wurde erst am Anfang des 19. Jahrhunderts von Franz Kazinczy erneut herausgegeben. Kazinczy, dieser bedeutende Vertreter der ungarischen Aufklärung, würdigte als erster Sylvesters epochale Verdienste; er feiert in unserem großen nationalen Humanisten einen frühen Vorläufer der Aufklärung, den großen ungarischen Schüler von Melanchthon und Erasmus. Jede konfessionelle Wertung verwerfend, können wir in Sylvester heute einen frühen Vertreter der ganzen osteuropäischen Aufklärung, einen der bedeutendsten ungarischen Grammatiker und den größten ungarischen nationalen Humanisten ehren 1 . 1

Über Sylvester und seine Wirksamkeit vgl. mein Buch: Sylvester Jänoa 6s kora, Budapest 1958, 1—438 auf ungarisch; 439—457 mit deutschem Auszug.

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Wo man von Humanismus und Renaissance in Mittel- und Osteuropa spricht, muß der Name des ersten großen ungarischen Dichters genannt werden: Balassa Bdlint 1 , von den Humanisten seiner Umwelt als Balassius ins Latein gesetzt, während er selbst Valentinus Balassi de Gyarmath zeichnete, deutsch Valentin Ballaschj von Giermath, Ich Balassi Balint von Gyarmath Freyherr und noch anders 2 . Als er im Jahre 1594, nur wenig über vierzigjährig, bei der Belagerung von Gran-Esztergom den Tod durch eine Türkenkugel fand, setzten ihm seine Freunde ein dichterisches Totenmal 3 , das in Ungarn nicht viele seinesgleichen hat, großenteils in lateinischen Versen, die uns allein schon auf seine enge Verbindung zum Humanismus hinweisen. Allerdings müssen wir diesen merkwürdigen Mann immer zumindest auf zwei Formeln setzen, also im gleichen Augenblick auch betonen, daß er ein ganz ungarischer Dichter ist. Diese Widerspruchsfülle und Doppelnatur ist weitestgehend eine Folge der schrecklichen Zerrissenheit seiner Heimat. Vom ungarischen Land bildete ja ein Teil unter halber Freiheit Siebenbürgen, dessen Fürst B&thory die Hand nach der polnischen Krone ausstrecken konnte und so auf zwei Pferden ritt. Der Rest war Kampfplatz zwischen den Kaisern in Wien und in Istambul, beide keine guten Herrn für die Ungarn. Der Habsburger paarte Gegenreformation und nationale Unterdrückung, der Osmane gab wohl religiös keiner Partei die Macht, aber letzten Endes machte er sich doch allen verhaßt. So war Balassa Krieger und Sänger, miles et poeta, 1

Aus der sehr umfangreichen Literatur zu Balassa enthalten folgende drei Werke die nötigen Belege, die darum abgekürzt zitiert werden: E = Balassa Bálint összes müvei, hg. Eckardt Sándor, Budapest 1951 —1954, D = Balassa Bálint minden munkái, hg. Dézsi Lajos, Budapest 1923, R = Rimay János munkai, hg. Báró Radványi Béla, Budapest 1904.

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Die Namenform Balassa ist neuere Konvention; er schrieb sich meist mit dem in Ungarn üblichen Abieiter Balassi. Die angeführten Unterschriften E 324, 325, R 257. Epitaphia generosorum et magnifieorum dominorum Valentini et Francisci Balassa de Gyarmath fratrum germanorum, pie et gloriose pro fide Christiana in diversis praeliis extinctorum, gratitudinis ergo a diversis conscripta, Bartphae David Outgesel excudebat Anno 1595, mit Beiträgen von Christopherus Darholc, Janus Balog, Andreas Mudronius, Leonhardus, Stanislaus und Martinus Mokoschinus, Michael Petri, von den Jesuitenzöglingen zu Thuróc (D 625—654), vgl. dazu János Rimay (R 1, 37—66, 2 4 9 - 2 5 9 , 267f.); Rimay war von Balassa selbst gebeten worden, seinen Tod dichterisch zu verherrlichen.

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und seine Freunde nannten ihn bald ranggemäß magnificus et Uber Baro, bald seiner besonderen Leistung gemäß eruditissimtis dominus, musarum acerrimus mysta1. So können wir sein Leben doppelt erzählen. Die eine Schilderung berichtet von einem Patrioten und Kämpfer um die Erhaltung seines bedrohten Standes. Nach guter Vorbildung und Studien in Wien und Krakau kam er vielleicht durch vertriebene Adlige in erste Berührung mit serbokroatischer Dichtung und ließ 1572 in Krakau eine erste Prosaarbeit erscheinen, die Übersetzung des zehn Jahre zuvor erschienenen Büchleins „Würz-Gärtlein für die kranken Seelen" des Michael Bock, ein protestantisches Werk. Der Achtzehnj ährige schrieb es seinen bedrängten Eltern zuliebe. Der Vater saß damals als patriotischer Verschwörer auf Leben und Tod im Kerker des Kaisers, der ihm vielleicht ein Todesurteil gefällt hätte, ehe er seine verhältnismäßige Unschuld dartun konnte. Die Mutter rettete ihn durch eine abenteuerliche Flucht, aus der er zu unsicherer Gnade zurückkehrte. Wohl auch dem Vater zuliebe schloß sich Balassa 1575 einem Unternehmen gegen Siebenbürgen an, das schlecht auslief. Mit wundem Kopf kam er in eine Gefangenschaft allerdings mildester Art, die nur für sein Herz gefährlich und für seine Bildung heilsam wurde. Er griff dort die Mode der Blumenüeder auf, die einer Dame mit meist sehr umständlichem Akrostichen gewidmet sind. Wohl nur elegante Huldigung an Judit Bebek, die Tochter eines ungarischen Flüchtlings aus Überzeugung, war die erste solche Übung in einer so ganz anderen Gattung als das erste Werk, aber weitere Huldigungen gehen an verheiratete Frauen. Das begann besonders in Polen, wohin ihn B&thory im März 1576 vor dem Auslieferungsverlangen des Sultans gelegentlich seiner Krönungsfahrt rettete und von wo er heimkehrte. Zu Hause wurde 1578—1583 Anna Losoncy seine große Liebe, damals verheiratet. Eine ernste Enttäuschung berichtet übrigens eines der frühen Lieder 2 , das schildert, wie einem von zwei Schwänen, die so friedlich nebeneinander schwammen, der Gefährte durch einen Messerhelden geraubt wurde. Durch kleinere Ämter und sogar Pferdehandel hielt sich Balassa längere Zeit über Wasser, dann überfiel er die Stadt Särospatak 3 in der Weihnachtsnacht 1584, trat in die Kirche, nahm seine reiche Kusine Christina Dobo an der Hand und ließ sich einfach mit ihr trauen; der Putsch selbst gelang freilich nicht. Zu den vielen Prozessen, die er schon führte, darunter gegen einen treulosen Onkel, hatte er nun einen ziemlich gefährlichen auf dem Hals. Den Hals selbst behielt er, aber die Ehe wurde für ungültig erklärt, und er saß wieder arm da. Vergeblich warb er 1588—1589 um die inzwischen verwitwete Anna Losoncy, die er nach dem Vorbild der Humanisten unter einem Decknamen besang; wohl nach Joannes Secundus wählte er dazu J u l i a , wie er auch die Heldin der Übersetzung von Castellettis Hirtenspiel 1 2 3

R 257, in Urkunden passim. Aenigma E 12. Diese Zwischenfälle sind auch in nichtungarischen Schriftstücken, zum Teil sehr lustbarlich zu lesen, festgehalten, so der Putsch in Patak, deutsch D 554ff.

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Amarilli umtaufte. Auch ein erneuter, also dritter Aufenthalt in Polen (1589 bis 1591) brachte kein Glück. Darauf schloß er sich dem nächsten Türkenkrieg an, in dem er, zugleich mit seinem Bruder, das schon erwähnte kriegerische Ende fand. Wenn schon in diese ernste Fassung seines Lebensbildes eigenartige Züge einfließen mußten, so läßt sich durchaus ein zweites, keineswegs für ihn vorteilhaftes Bild zeichnen. Gleich in seinen ersten erhaltenen Briefen gesteht er in Geheimschrift, aber ganz geradezu und fast zynisch, daß er zwei Herzensangelegenheiten zugleich hatte, wobei ihm Ilona Krusit nur halb am Herzen lag, auf deren Namen er auf italienische Melodie dichtete, während er vielleicht von ihr seine kroatischen Melodien erhielt, etwa zu dem erwähnten „Aenigma" von den zwei Schwänen. Zweifellos hat er später seinen „Minnesang" ganz berechnend in seine Geldheiratspläne eingebaut, bedichtete auch leichte Mädchen und schrieb Liebeswerbungen für andere. Er ist, um noch weiteren Verfolgungen zu entgehen, zum katholischen Glauben übergetreten, weswegen dennoch seine geistlichen Lieder im reformierten wie im unitarischen Gesangbuch eine lange und reiche Verbreitung fanden. Er steckte nicht nur in sehr zahlreichen Prozessen, wo er zumindest das Recht auf seiner Seite wähnen konnte. Er hat seine Schuldner ebenso scharf ausgepreßt wie seine Gläubiger geprellt. Wahrscheinlich hat er sogar Anna Losoncy, der er im letzten Gedicht Rache schwört, wegen ihrer früheren Beziehungen während ihrer Ehe bei Gericht angezeigt. Eine andere schöne Frau wurde von seiner gewalttätigen Werbung nur durch Vorbeikommende gerettet und hat Anzeige erstattet, die allerdings friedlich beigelegt wurde. Das sind nur Beispiele und doch gewiß reichliche Zugeständnisse an die wirren Zeiten! Oder sollen wir sagen: ein echter Renaissancemensch in Jacob Burckhardts etwas trübem Sinne? Kritisch müssen wir auch seinen geistig-künstlerischen Beziehungen gegenüberstehen. Es sei mir gestattet, die überreiche Liste zu übergehen, die sein Freund, Schüler und Bewunderer J&nos Rimay 1 aufgestellt hat. Auch die neuere Literaturforschung hat reichlich Quellen namhaft gemacht, von denen wir nur die wichtigsten nennen wollen. Zunächst volkssprachliche: Balassa selbst nennt deutsche, polnische, kroatische, rumänische und türkische Grundlagen. Wichtiger sind die lateinischen 2. So erscheint uns durch sein Schaffen ein dichtes Netz von der Antike bis ins Morgenland gewoben zu sein. Wir begrüßen in den Anklängen und An1

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Rimay nennt: Ausonius, Dante, Petrarca, Bocatius, Eneas Silvius als Grundlage, dann Sanazarius, Auratus, Marenius, Veselius, Cordelius, Monemius, Samartanus, Passeratius, Auratus (versehentlich zweimal), Bellaius, Johannes Secundus, Petrus Lotichius, Vulteius; als Vorbilder Plautus, Terentius, Ovidius, Catullus, Tibullus, Propertius, Cornelius Gallus, Horatius, Martialis (R 255). Zur folgenden Liste nahm ich nicht die Zusammenstellung D LXXXII oder gar noch weitergehende Vorschläge an, sondern lediglich das, was in der neuen Ausgabe noch diskutiert wird (E Register).

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spielungen Griechen wie Homer, Anakreon, Aristoteles und Epikur. Die Römer marschieren auf mit Vergil, Horaz, Properz, Ovid, Terenz und Cato. Ein reichliches halbes Dutzend italienische Humanisten ergänzen ebenso viele Nationaldichter Italiens zum Dutzend. Clément Marot und Pierre Ronsard vertreten Frankreich. George Buchanan, Nicolaus Haemingius und Erdmundus Campianus, dessen „Zehn Ursachen" Balassa als zweite, nunmehr katholische Prosaarbeit übersetzte, bedeuten England. Ein spanisches Werk ist auch da, ganz zu schweigen von den nahen Nachbarn. Diese weiten Beziehungen vorzutragen, sollte der Hauptzweck dieses Beitrags sein. Manches von dieser Weltschau ist durchaus begründet. Das ziemlich frühe Gedicht mit dem Akrostichon Chak B o r b a l a é r t 1 (In Sachen Barbara Csâky) kann man nur mit einem Hinweis auf Ovids Heroinenbriefe voll erklären. Hier wie dort schreibt der Dichter im Namen einer Frau, um den Geliebten zurückzugewinnen (Adhortatio Barbarae Chak in quendam iuvenem ut in pristinum amorem rediret). In den weitgeschwungenen Strophen der 1577 erschienenen Übersetzung von Eneas Silvius' großer erfolgreicher Liebesbriefgeschichte Euryalus und Lucretia, an die auch sonst einige Stellen anklingen, legt Barbara ihren Kummer dar, und wenn noch Zweifel an der Beziehung zu Ovid bestehen könnten, die letzte Zeile läßt die Tränen der Schreiberin genau so auf das Papier fließen wie Ovid im 3. Brief zu Beginn dieser schweren Schreibarbeit, was übrigens eher weniger gut paßt. Ein anderes Beispiel 2 : Der Dichter klagt über Liebesleid, besonders durch Frauen verursacht. Erst erzählt er nach Baptista Fulgosius (Factorum dictorumque memorabilium libri novem, Antwerpen 1565) unter Nennung des Verfassers die Geschichte von dem Adler, der aus Liebe zu einem Mädchen stirbt. Ohne Quellenangabe folgen in anmutigem oder auch zufälligem Wechsel biblische und antike Beispiele : Eva, Samson, Aristoteles, Theseus, Paris, Absalon, Urias, Medea, Helena, Acontius (am Rand Hinweis auf Ovid), Piramus, Polyxena, Lavinia, dazwischen die ungarisch bereits verarbeiteten Gisquardus und Gismunda, Lucretia, Deiphobus, die karthagische Elisa, Diomedes (zwar ungarisch 1578, aber dort' ist es kein Bademädchen, das seinen Tod verschuldet, sondern eine Schusterstochter), Leander, Procris, dazwischen DonyaLiciza,Penelope, Magelone, Demophon, Leukippe, Theagenes, — das ist eine Liste von an dreißig unglücklich Liebenden aus humanistischem oder verwandtem Schrifttum. 1

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E Nr. 3, S. 35 und 169; D 8 4 ; dieses Lied hatte eine sonderbare Nachblüte, da Ferene Batthânyi es gleichfalls für eine Dame vom Stamme Csâky umdichtete. Da sie aber Eva hieß, ließ er einige Strophen weg und drehte an anderen: 1—4 blieben, 5—6 verschwanden, 7 wurde Rajtam szabad vagy te zu Én velem vagy te szabad, 8 Birsz ugyanis zu Ugyanis birsz (U = V), 9 entfällt, 10 Làm az Aetna zu Az Etna, 11 Az én szivemnek zu Én szivemnek, 12, 14 und 15 entfallen, 11 macht mit 13 und 16 die Nachsilbe ért „für" aus. Solche Dinge konnten in Ungarn um 1600 ohne weiteres noch geschehen, für andere Länder waren solche humanistischen Parodien schon seltener. Nebenbei gesagt, litt der Verstakt und manchmal auch der Sinn etwas, aber Balassas lyrischer Schwung verträgt sogar solche Heimsuchungen. E Nr. 19, S. 50 und 180, D 110.

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Allerdings erleidet dieser Reichtum einige Wertminderung. Nicht der Adler ernährte romantisch das Mädchen, sondern das Mädchen zog den Adler auf, der ihr dann nachstarb. Aristoteles wurde nicht von seiner eigenen Gattin, sondern von Alexanders Geliebten reingelegt. Theseus tötete nicht zunächst den Bruder der Ariadne, Medeas Unglück war doch nicht ihre Liebe zu Jason, sondern dessen Untreue mit Rreusa. Von Deiphobus und einer Lyda weiß niemand etwas, also hat sich Balassa wohl etwas zurechtgedacht. Elisa hat er sichtlich mit Dido verwechselt. Die Donya Liciza soll aus einer sonst unbekannten spanischen Quelle stammen; das macht einem bange, zumal man, strenggenommen, auch die „Witwenschaft" Penelopes und Magelonens Warten im Spital nicht als Liebesunglück bezeichnen dürfte. Der Dichter gab sichtlich alles, was ihm an Liebesleid noch einfiel, zum besten. Bei soviel Fehlern kann man das ernditissimus der Lobredner nicht mehr ganz unterschreiben! Es ist klar, daß Balassa keine gutgegründete Gelehrsamkeit besaß, sondern als großer Herr und Dichter mit dem Vorhandenen schaltete. Die nachweisbaren Anregungen gehen auf nicht viel mehr als fünf bis sechs Bücher zurück, sobald man die imgarischen Quellen ausschaltet. Ähnlich steht es mit den volkssprachlichen Beziehungen. Ein ernstes Verhältnis zum Wort zeigt Balassa fast nur bei den polnischen Liedern1. Sofort rühmt er aber auch, daß er „wörtlich" (ig^röl igere) übersetzt hat. Im ganzen müssen wir annehmen, daß es ihm überwiegend um die Musik zu tun war. Er schrieb auf deutsche und italienische Villanellen, deren er einige kannte, deutsche, serbokroatische, polnische und — als erster eine rumänische Volksliedzeile anführend — 1

E Nr. 4, Egy lengyel enek, S. 36 und 162: Äldj meg minket Üristen az te jövoltodböl Vilagosits meg minket irgalmass&godböl Orcäd villägossagäval, lelkek ajdnd6käval, Hogy ¿ltünkben ez földön jarjunk igazs&ggal. Segne uns, Herrgott, aus deinem Gutsein! Erleuchte uns aus deiner Barmherzigkeit mit Deines Antlitzes Helligkeit, mit dem Geschenk der Seelen, daß wir in unserem Leben auf dieser Erde einhergehen mit Gerechtigkeit! Lubelczyk, Psalterz Dawida . . . Kröla y Prorokd, Krakau 1558: Blagoslaw nas nasz Panie z milosierdzia twego Oswieciwszy swiatloscia oblicza swojego Aby chmy tu na ziemi snali drogie twoje Oka£ nam to przed ludzmi milosierdzie swoje. Segne uns, unser Herr, aus deiner Barmherzigkeit, ausstrahlend die Helligkeit deines Antlitzes, daß wir vermögen hier auf Erden zu kennen deine Wege, zeige uns vor den Leuten deine Barmherzigkeit! Bei Übernahme einer Melodie braucht übrigens nicht einmal die Strophenform übereinzustimmen. Etwa füllt Balassa im folgenden Beispiel einer deutschen Villanella die Wiederholungen jeweils mit fortlaufendem Text, hat also doppelt soviel Text wie das Vorbild:

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auf ein rumänisches Lied, dazu noch auf die Weise, „mit der das rumänische Mädchen die verlaufenen Kühe beweint". Bei den türkischen Liedern führt er den türkischen Text an, bei den anderen nicht. Manche der Quellen kann man nicht auffinden, es sind also kurzlebige Modeliedchen gewesen. Bei anderen ist es gelungen. D. Sztankö Vujicsics teilte mir freundlicherweise mit, daß er soeben wiederum zwei kroatische Weisen festlegen konnte. Die deutschen gehen alle, außer der unbekannten Oh kleines K i n d (?), auf Regnarts Liederbuch zurück. Aber die hübschen Wienermadeln Susanne und Annemarie besingt Balassa auf eine kroatische oder wahlweise polnische Melodie. Wir dürfen nicht eine große internationale Liedgemeinschaft ansetzen, sondern nur ein waches Horchen unseres Dichters. Vermutlich in persönlichem zufälligem Austausch mit Mittelsleuten erhält er seine Anregungen. Die ungarischen Texte sind meist völlig eigene. Hier zeigt sich, daß die vom rednerischen Wort unmäßig überzeugten Humanisten die Musik zu wenig beachtet hatten; um der Musik willen greift Balassa zu den volkssprachlichen Anregungen und zu recht vielseitigen. Ebenso wie diese Beziehung müssen wir noch andere zurechtrücken. Etwa hat man aus einer Strophe vom 24. August 1589 auf eine ganze Dichterschule geschlossen. Sie lautet: „Ein armer Pilger hat das euch alten Freunden gesungen, die im Verfassen ungarischer Verse miteinander wetteiferten, den die große Falschheit und Undankbarkeit in die weite Welt hinaustrieb." Man hat diesen „Troubadourkreis" geradezu namhaft gemacht. Dabei steht die Stelle in einem Echolied, betitelt: Colloquium octo viatorum et deae Echo vocatae1, also ein Wettbewerb von acht, mit Schäfernamen belegten Jünglingen, einen Echoreim auf ihre Liebste zu finden. Mehr als auf diesen Wettbewerb würde ich aus dieser Zeile nicht schließen. Prüfen wir in diesem Sinne die Humanistenweit2 Balassas: Bei den Griechen mußten wir schon seine irrige Auffassung des A r i s t o t e l e s anfechten; anderswo

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Regnart: Ich hab vermeint, ich hab vermeint, Balassa: Remens6gem nincs mdr nekem Übers. Hoffnung habe ich schon keine mehr ich sey zum besten dran, ich sei zum besten dran' ez földön ¿Itemben senki szerelmiben im Leben auf dieser Welt auf irgendeine Liebe Da nun Balassa dieses Spiel wiederholt, kann er sehr viel mehr in einer Strophe aussagen; E 15 hat 60 Silben, Regnart hat zwar 40 Noten (deren erste 20 Balassa willkürlich wiederholt), aber nur 30 verschiedene Silben, da die ersten 10 wiederholt werden müssen. Das gibt der leichten Villanella natürlich ein ganz anderes Gewicht! E Nr. 72, S. 115 und 250, D 125 — Die Echoreime sind: (Sage mir, welche Seligkeit meine Seele) wünsche = kivänna (Anna), wenn das Eis glatt ist = jeg amikor sik (Orsik = Ursel), (ein mit Gutem gefüllter) Korb = kosära (Sara), (liebt meine Seele) irgendwen = immäi kit (Markit = heute Margit, Margarete), (Venus') flüchtiger Sohn = futosö fia (Sofia), (den man mit Pein) quäle = märja (Maria), (mit Pein) folterte = märta (Martha); der Einbau ungarischer Formen, besonders ganzer Verbformen, gibt also erstaunliche Ergebnisse. E Register, soweit nicht besondere Bemerkungen.

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verwechselt zumindest die Handschrift D i a n n a mit der dem Herkules tödlichen Deianira. Ein deutlicher Anklang an A n a k r e o n ist zweifellos durch Castelletti vermittelt, die Homeranklänge finden sich bei Ovid und Äneas Silvius. E p i k u r ist für ihn nur ein wilder Bacchant und Verführer. Den Ausblick ins Griechentum dürfen wir also ganz abstreichen! Von den R ö m e r n wird Cicero mehrfach als von ihm gelesener Redner und die Freundschaft von Cato und Terenz anspielungsweise erwähnt. Einen seiner Diener nennt er e i n e Art Galen (Galenus—szabäsu)1, F u l v i a erscheint als Deckname. Die Anklänge an H o r a z 2 in einem geistlichen Lied weisen aber auf eine Zwischenstufe hin, eine lateinische geistliche „Parodie". In dem sehr verdächtigen jesuitischen Bericht über sein Ende wird ihm ein V e r g i l w o r t in den Mund gelegt: Nunc animis opus, Aenea, nunc pectore firmo\ An P r o p e r z klingt der Schluß des erwähnten Briefgedichts auf Barbara Chaks Namen an; doch steht dasselbe auch bei Ovid; die andere, auch mit Ovid geteilte Wirkung des Properz können wir auf einen polnischen Vermittler abschieben; Balassa braucht also den damals sowieso nicht in erster Reihe stehenden Properz nicht gekannt zu haben. Ovid hingegen hat öfters gewirkt. So eindeutig also die gute Latein kenntnis Balassas feststeht, so eng ist die Wirkung klassischer Lateiner. Sicher ist keiner außer Ovid! Dieser aber — und das ist wichtig zur Bewertung des Tatbestandes — ist ihm wirklich immer wieder Meister und Führer. Von den H u m a n i s t e n steht am sichersten F u l g o s i u s , da er bei zweien der drei Einflußstellen mit Namen genannt wird. Genannt wird auch B u c h an an für die Psalmendichtung, bei der sich Balassa begreiflicherweise durchaus auf ihn stützt. Er scheint auch dessen lateinisches Trauerspiel J e p h t e übersetzt zu haben. E n e a s S i l v i u s begleitet mit dem damals gerade (1577) auch ins Ungarische übersetzten „Euryalus und Lucretia" das ganze Werk Balassas. Kein Zweifel besteht gegen starke Benutzung von A n g e r i a n u s und Marullus. Man möchte der Vermutung der Ungarn zustimmen, daß er dafür folgende Ausgabe benutzte: Poetae tres elegantissimi, emendati et aucti, Michael Marullus, Hieronymus Angerianus, Ioannes Secundus, Paris 1582. Dank diesem späten Datum der Quelle versteht man auch, warum die später keineswegs seltenen Spuren dieser Dichter erst nach dem ersten Liebeswerben um Anna Losoncy einsetzen. Erstaunlich ist höchstens, daß von Joannes Secundus, außer dem Namen Julia für die Geliebte, kaum handgreifliche Spuren vorhanden sind. Dabei sind der Stil und die Denkweise von Everaerts bekanntlich sehr wirksam und leicht erkennbar. Über diesen Punkt haben wir aber für die nächste Zukunft eine klärende Untersuchung zu erwarten; und immerhin bedeutet der Name Julia den Höhepunkt in Balassas Schaffen; auch gibt es nun einmal andere als handgreifliche Einflüsse, 1 2

E 316 und 397 (Briefe 2 und 48). E 165, vgl. I. Waldapfel, Irodalomtörtclneti közlemfeyek 31, 1927, 77; E 252 bezieht sich nicht auf Balassa selbst.

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und diese können gerade von der liebesschwangeren Welt des Joannes Secundus ausgehen. Ob ein lateinisches Vagantenlied in Balassas Schaffen hineinspielt, dürfen wir gern offen lassen. Halten wir fest: Wie der Einfluß Ovids, so ist der Einfluß der drei Neulateiner Buchanan, Angerianus und Marullus eindeutig, alles andere mehr als zweifelhaft und fern. Bei den I t a l i e n e r n können wir ähnlich reich und überzeugend C a s t e l l e t t i s Wirkung nachweisen. Denn vermutlich wird die soeben in der Wiener Nationalbibliothek glücklich aufgefundene vollständige Fassung des Hirtenspiels von Credulus und J u l i a diese Quelle bestätigen, des genannten Amarilli. Anklänge an dieses eine Werk finden wir in Balassas Liedern sehr häufig, begreiflicherweise am meisten in der Zeit, wo er an der Übersetzung arbeitete. Das ist ein glatter Fall, und daraus scheint auch hervorzugehen, daß er italienisch las oder jemanden hatte, der ihm dabei half, italienisch über lateinische Ähnlichkeiten zu lesen. Trotzdem dürfen wir an der reichen Belesenheit zweifeln, die ihm unterlegt wird. Warum Kenntnis von Bembo fordern, nur um sich selbst einer Nachtigall zu vergleichen? Das kommt in den türkischen Liedern und auch bei Angerianus vor, falls Balassa nicht selber darauf verfällt. Die andere angebliche Parallele lautet: Gioia m'abonda al cor tanta e si pura, Tosto che la mia donna scorgo et miro (Bembo) Nö az ¿n örömem most az en sz6p szerelmem erre val6 nözetöben (Balassa). Bembo sagt: Freude überströmt mir das Herz so groß und rein, sowie ich meine Herrin erblicke und bewundere — Balassa aber: Es wächst jetzt meine Freude beim Hierherblicken meiner schönen Liebe. Das ist doch fast das Umgekehrte, und über diese Zeile (die übrigens als vereinzelter Liedanfang in einem Liederbuch gestanden haben könnte) geht das Vergleichbare nicht hinaus. Ebensowenig darf man P e t r a r c a als Quelle Balassas ansetzen, weil ihn Rimay 1 später in seiner Liste der großen Vorbilder der Dichtung nennt oder weil bei beiden Dichtern ein Schmetterling im Kerzenlicht verbrennen will. Doch kann jedermann dies in der italienisch verfaßten Studie 2 des unermüdlichen Balassaforschers S&ndor Eckhardt selbst prüfen. An T a s s o erinnert nur der Jünglingsname A m i n t a (72, 9) im Echolied, was auch keine Kenntnis voraussetzte. Gegen alle kleineren Vergleichsstellen mit weniger bekannten Italienern habe ich Bedenken (Pignat e l l i = Aufleben des Liebesfeuers, R a g n i n i = heimliche Liebe). Also: auch bei 1

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E 226 zugleich mit dem Stoff zur Widerlegung, dazu 197 über die Frage, was mit der Melodie „Gianetta Padovana" gemeint sein kann. Ein leichtsinniges Lied über eine Kurtisane, also ein Gassenhauer, der in kein Liederbuch kam? Balassa e Petrarca, Corvina 1921.

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den Italienern ist der Einfluß nicht so breit und geht fast nur von nächsten Zeitgenossen aus. Die ungarische Forschung selbst hat die F r a n z o s e n Marot und R o n s a r d aufgegeben. Von den E n g l ä n d e r n sind nicht eigentlich dichterische, sondern nur theologisch-moralische Wirkungen ausgegangen. Es sei auf diese Ausschließung Westeuropas nachdrücklich verwiesen, da französisch immerhin damals schon Weltsprache war. Bemerkenswert ist auch das Fehlen d e u t s c h e r H u m a n i s t e n . Balassa nennt nur mit Beza M e l a n c h t h o n , S t r i e g e l und B u l l i n g e r in seinen Ehescheidungsnöten als Rechtsgutachter. Die k r o a t i s c h e n 1 Humanisten, mit denen er verkehrte und deren einem er Verse mitteilte, scheinen auf ihn nicht rückgewirkt zuhaben. Dagegen hat er in P o l e n sichtlich Anregungen empfangen. So will auch der meist elegische polnische Dichter K o c h a n o w s k i in einer seiner heiteren Stimmungen (Fraszkija II) seine Verse ins Feuer werfen, abermals tut das Muster dies am Anfang, Balassa benutzt den Gedanken nicht unpassend am Ende einer Dichtung. Da ist es auch glaubhaft, daß die Anklänge an Properz über die polnische Bearbeitung desselben Dichters gegangen sind. Doch gehen diese polnischen wie auch die t ü r k i s c h e n Beziehungen über den Fragenkreis dieses Vortrags hinaus. Diese Andeutungen zeigen aber, wie weit und auf welche Weise damals Anregungen wanderten. Das Ergebnis dieser kritischen Betrachtung und Berichterstattung nimmt von den ungarischen Forschungen nur eines nicht an: den Glauben, daß damals in den unruhigen Zeitläuften ein Mann wie Balassa gewissermaßen alles in sich einsaugte, was in der humanistischen Welt lebte und vor sich ging. Man darf nach meiner Meinung kaum sagen: „Er las die italienischen Hirtenspiele"2. Da hätte doch Tassos A m i n t a deutlichere Spuren hinterlassen müssen, so wie bei anderen Völkern. Man muß sagen: Er bekam die Amarilli fast zufällig in die Hand und wußte daraus viel zu machen. Ich würde darum zwei Dinge anders als üblich formulieren: Im Zusammenhang der ungarischen wie der europäischen Literaturentwicklung möchte ich die höhere Selbständigkeit Balassas betonen. Das Thema dieser Tagung verbietet mir, den ganzen Reichtum an Tönen und den Schwung der Gefühle darzustellen, mit dem dieser Dichter hoch über allen Zeitgenossen steht. Größer sind als Lyriker in seinem Zeitraum nur der 30 Jahre ältere R o n s a r d und der zehn Jahre jüngere S h a k e s p e a r e , neben denen er sich aber nicht etwa verstecken muß. Er beurkundete als erster und kräftig die erstaunliche Eignung 1

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Da eine diesbezügliche Arbeit im Werden ist, lasse ich in den kroatischen Beziehungen bewußt eine Lücke. Ich nehme an, daß gerade bei meiner Auffassung, daß die erstaunliche Spiegelung der humanistischen und Renaissancesprache in Balassas Werk nicht planmäßigen Studien, sondern anregenden Begegnungen zu verdanken ist, hier noch manches zu sagen bleibt. Die Begegnungen mit kroatischen Humanisten (Posedarski = Johannes Aquilinus Torquatus) sind sicher. E 250.

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seiner Sprache für die Lyrik, die ja nur wegen der Übersetzungsschwierigkeiten nicht weltanerkannt ist. Er ist ein würdiger Vorfahr C s o k o n a i s , P e t ö f i s , A r a n y s , A d y s u n d J ö z s e f s — u m nur die fünf Großmeister der neueren ungarischen Lyrik zu nennen. Dabei lebte er durchaus in den zeitüblichen Bildern, er ist ein Renaissancepoet 1 mit allen Grenzen dieser Kunstauffassung. Aber er schafft aus kräftigen Erlebnissen und aus echtem stürmischen Wollen heraus, während ein ganz großer Teil der Humanistenlyrik doch reichlich in sich gekehrt und rein sprachkünstlerisch ist. E r gehört, auch i m europäischen Maßstab, unter die wenigen großen und echten Lyriker zwischen Petrarka u n d Vondel, der ja gleichfalls aus Sprachgründen nicht ganz zum Zuge k o m m t . E r ist auch ohne die v o n mir eingeschränkte Quellenfülle eine stolze Erscheinung. I m übrigen lebt aber in seinem Werk genug Humanistenerbe, u m ihn geradezu als Sammelpunkt dieser Welt, durch seine türkische Lyrik sogar noch für mehr hinstellen zu dürfen. Ob er hymnisch an Gott oder elegisch an sein Vaterland dichtet, ob er Heldenlieder oder Klagelieder anstimmt, ob er eine große D a m e oder eine kleine polnische Zitherspielerin preist, ob er Liebesschmerzen deutet oder einen latricanus versus — einen zuchtlosen Vers 2 schreibt, in dieser durchaus eigen 1

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Wie schwierig diese Vermittlungsarbeit war, sehen wir an der meist sehr geschickten Art, mit der Balassa die Anspielungen erklärt, ohne das Dichterische zu nehmen. Als weiteren Beleg möchte ich einige Stellen der lateinischen Aufschriften von Rimay anführen zugleich mit der (infolge des Erklärungsbedürfhisses) meist fast doppelt so langen ungarischen Übersetzung: Apollinis et Musarum ad busturn Balassiorum Valentini et Francisci fratrum germanorum excubias agentium, ad viatorem allocutio, omnium vero nomine Clio inquit: Az mely Mtizsäk, az az, tudomänyoknak kilencz isten asszony, Clio, Calliope, Urania, Polymnia, Terpsichore, Talia, Euterpe, Melpomene, Erato, Apolloval öszve az Balassiak koporsöjat örzik es vigyäzza, (igy) azoknak az koporsö lätogatö emberekhöz valö szavok. Clio felel penig mindennek, az ki oda megyen, az többi kepeben meg, s igy szöl: Wörtliche Übersetzung des ungarischen Textes: Jene Musen, das heißt, die neun Gottfrauen der Wissenschaften . . . mit Apollo zusammen den Sarg (zu beachten die Aufgabe des antiken Scheiterhaufens, in einer Zeit, wo Scheiterhaufen genug brannten!) der Balassas bewachen und bewahren, (so) dieser an die den Sarg besuchenden Menschen gerichteten Worte. Clio antwortet aber allen denen, die dorthin gehen (Wanderer!) in Vertretung der übrigen mit und spricht so: R 61; ähnlich R 106, wo das Wort Tugend umschrieben werden muß. Im Gedicht selbst heißt sie mit dem lateinischen Wort Virtus, lelki jösag, „Tugend, geistige Güte". Das heute übliche Wort ereny hat erst 1792 Baröti Szabö geschaffen, auch mußte es sich durch vierzehn Mitbewerber durchschlagen (vgl. Szily, A magyar nyelvujitäs szötara, Budapest 1902 und meine Zwei Sprachanschlüsse, Leipzig 1948, 78). Dieses „lateinische" Wort war im ungarländischen Latein üblich, etwa wird 1636 dem frommen Dichter Geleji Katona bestätigt, sein Werk sei „nem valami fajtalan, latrikämos fuszfa poetanak szemtelen beszede", nicht irgendeines unzüchtigen, latrikanischen Dichterlings schamlose Rede; Balassas Vers (E 87) handelt von einer Cortigiana, Hannuska Budowskionka (Budowcionka?). Das ist allerhand Unbefangenheit. Da in dem Gedicht auch zur Bezeichnung der adligen Damen das deutsche Wort fraj vorkommt, hat es in seinen acht Zeilen wirklich reiche Beziehungen!

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wüchsigen Dichtung strömt all das an Bildern und Ausdrucksmöglichkeiten zusammen, was von den bisher genannten und auch den nicht genannten Sprachmeistern des Humanismus und der Renaissance geschaffen worden ist. So ist er gewiß Sammlung, aber ohne jeden geschichtlich-antiquarischen Rückblick. Er lebt ganz in seiner Zeit und ihren zufällig auftauchenden Werken. Er ist schon ein Spiegel des späteren Humanismus und dabei und vielleicht gerade dadurch ein trefflicher Ausgangspunkt zu der seitherigen großen Entwicklung der ungarischen Dichtung. Darum schließen wir uns Rimays Wunsch 1 an, daß Balassas varii generis carmina . . . locum superiorem authoritatis et laudis occupent. 1

R 249 — aus dem blühenden Humanistenstil von einem Schock auf neun Wörter zurückgebracht.

Der antitrinitarische Humanist Johann Sommer und seine Tätigkeit in Klausenburg Antal Pirndt

Johann Sommer ist um 1540 in Deutschland in der Stadt Pirna geboren worden. Er erwarb sich eine gründliche humanistische Bildung. Die lateinische Stilkunst dieses begabten Mannes erhob sich über den Durchschnitt. Von seiner großen Belesenheit zeugen alle seine Werke, er machte auch gute Verse in griechischer, deutscher und lateinischer Sprache. Nach der Absolvierung seiner Studien trat er in den Dienst des Moldauer Thronbewerbers Jacobus Basileus Heraclides Despota. Mit seiner Tätigkeit in Moldau und in den siebenbürgisch-sächsischen Städten Kronstadt und Bistritz nach dem Sturz von Heraclides befaßte sich vor allem die sächsische Fachliteratur von Siebenbürgen und auch die rumänische ziemlich eingehend. Ebendeshalb haben wir jetzt die Möglichkeit, unsere Forschungen nur auf die letzten 5 Jahre seines Lebens, die er im Zentrum des siebenbürgischen Antitrinitarismus, in Klausenburg, verbrachte, zu beschränken. Die antitrinitarischen Lehren, die Georg Blandrata, der Hofarzt des Fürsten Johann Siegmund, im Jahre 1565 in Siebenbürgen eingeführt hatte, hat die mächtige Propagandatätigkeit von Franz David, der in einer Person Superintendent der ungarischen Protestanten, Hofprediger des Fürsten und Klausenburger Stadtpfarrer war, unter dem ungarischen Bürgertum und Adel des Landes sehr schnell verbreitet. Sommer hat sich unter den lutherischen Sachsen ziemlich gut eingefügt. Von den seit 1566 immer heftiger werdenden religiösen Streitigkeiten über die Dreifaltigkeitslehre hielt er sich bis zum Jahre 1570 völlig fern. Seine humanistischen Vorbilder, hauptsächlich die Schriften von Erasmus und die des Baseler Kreises von Castellio, hielten ihn davon zurück, daß er ein fanatischer Lutheraner wurde. Die überall in Siebenbürgen schriftlich und mündlich ertönenden Religionsstreitigkeiten konnte er jedenfalls beobachten und näherte sich dabei immer mehr dem antitrinitarischen Standpunkt. Er war sich natürlich dessen wohl bewußt, daß er im Falle eines Anschlusses an die Arianer nicht länger in Bistritz verbleiben könne. Ebendeshalb trachtete er danach, einen einflußreichen Beschützer unter den Anhängern der neuen Lehren zu finden, bevor er mit seinen sich entfaltenden religiösen Anschauungen vor die Öffentlichkeit trat. Am 1. Januar 1570 widmete er sein neuestes, nach lukianischem Muster geschriebenes komisches Werk Colicae et Podagrae tyranni dem Hofarzt Georg Blandrata. 4

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Die Annäherung Sommers wurde von den Antitrinitariern freundlich aufgenommen. Im Vorwort seines nächsten erhalten gebliebenen Werkes, der im Jahre 1570 geschriebenen Acontius-Umarbeitung, nennt er sich schon lector scholae Claudiopolitanae. Kurz nach seiner Niederlassung in Klausenburg heiratete er, dies war auch eine Bedingung zur Erlangung des Bürgerrechtes. Wie sehr er das Vertrauen der leitenden Antitrinitarier genoß, beweist die Tatsache, daß Franz David ihm seine Tochter zur Frau gab. Nach seinem Anschluß an die Bewegung der Antitrinitarier ist seine erste Arbeit die bereits erwähnte antitrinitarische Umarbeitung des Werkes Satanae stratagematum libri octo des italienischen Humanisten Jacobus Acontius. Auch jene Hypothese ist nicht unwahrscheinlich, daß eben die Wirkung der Satanae stratagemata den Humanisten Sommer zum Anschluß an die antitrinitarische Bewegung veranlaßte. Das Werk von Acontius hob bei aller Nachsicht den Leitern und Institutionen der reformierten Kirche gegenüber die verwandten Züge der protestantischen Orthodoxie und des Papismus ziemlich stark hervor; zur Verwirklichung der von ihm vertretenen Ideen gab es nur innerhalb der antitrinitarischen Konfession eine Möglichkeit. Diese Richtung wurde von jeder rezipierten Konfession verflucht und wurde mit Ausnahme von Siebenbürgen auf der ganzen Welt verfolgt. Doch gleichzeitig war sie von der Sektenbeschränktheit der Anabaptisten bis zu einem gewissen Grade frei. Kurz nach seinem Erscheinen, also bereits um 1566, konnte das Buch Satanae stratagemata nach Siebenbürgen gelangen. Auch Sommer lernte es kennen, als er noch Lehrer in Kronstadt oder Bistritz war. Dabei deutet auch das Vorwort der Umarbeitung Sommers an, daß das originale Acontius-Werk im Reich von Johann Siegmund allgemein verbreitet war. Sommer fand im Buch von Acontius die Gedanken, welche, wie wir noch sehen werden, seine reformatorische Tätigkeit in den nächsten Jahren bis zu seinem im Jahre 1574 erfolgten Tode völlig bestimmten. Er schloß sich der neuen Richtung an und sah seine erste Aufgabe in der Verbreitung dieser für ihn sehr anziehenden und in Siebenbürgen um 1570 sehr aktuellen Gedanken. Das Werk Satanae stratagemata entsprach aber in seiner ursprünglichen Form nicht vollkommen den Ansprüchen der Antitrinitarier. Das Buch wurde gegen die haarspalterischen dogmatischen Dispute geschrieben; doch erwartete der Verfasser die Verwirklichung seiner Vorstellungen von den in Westeuropa vorherrschenden protestantischen Konfessionen. Daher trachtete er teils aus Taktgefühl, teils aus Überzeugung danach, die grundlegenden protestantischen Dogmen, unter ihnen auch die traditionelle Vorstellung über die Dreifaltigkeit, in Ehren zu halten. Für die verschiedenen Verirrungen sucht er absichtlich Beispiele immer aus dem Leben der katholischen Kirche, jedoch weist er oft darauf hin, daß die Protestanten auch nicht frei von ihnen sind. Sommer war nicht nur mit den dogmatischen Meinungsverschiedenheiten, sondern auch mit dem Stil des Buches nicht zufrieden. Acontius war kein guter

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Stilist, und so ist sein Latein hier und da ein wenig mittelalterlich. Sommer war schon früher von ernsten Uterarischen Ambitionen geleitet, und über die schöne lateinische Prosa hatte er seine entschieden eigenen Vorstellungen. Im Vorwort seiner Umarbeitung unterzog er den Stil von Acontius einer Kritik: Dieser ist seiner Ansicht nach unklar und eben für den einfacheren Leser nicht immer verständlich. Wie aus der Kritik und der Art der Umarbeitung hervorgeht, vermißte Sommer bei Acontius das feine, doch einfache Latein des Erasmus. Er hatte gewiß auch Einwände gegen die zu weitverzweigte, ungeordnete Komposition des ursprünglichen Werkes. Das aus 8 Büchern bestehende Werk von Acontius hatte Sommer unter Bewahrung der wesentlichen Elemente des Gedankenganges in 5 Büchern zusammengefaßt und vollständig neu bearbeitet. Die Sommersche Umarbeitung der Satanae stratagemata macht auf diese Weise gleichsam den Eindruck, als wenn jemand frei aus dem Gedächtnis die bei Acontius gelesenen Gedanken vortragen würde. Die neue Version ist für einen Menschen von humanistischer Bildung ohne Zweifel klarer als das Original, doch ist sie wegen der angehäuften antiken Zitate und Andeutungen keine leichte Lektüre für den, der über eine solche Bildung nicht verfügt. Im Laufe der Umarbeitung veränderte sich das Beispielmaterial des Buches grundlegend. Die Kritik an den speziell katholischen Dogmen trat in den Hintergrund, um der Kritik an der auch von den Protestanten angenommenen Lehre über die Dreifaltigkeit Platz zu machen. Die Teile, in denen die unantastbaren Grundsätze der christlichen Religion dargelegt werden, zeigen nicht mehr die Ansichten von Acontius, der einen Ausgleich zwischen den lutherischen und kalvinischen Gegensätzen anstrebte, sondern die damals in der Entwicklung begriffenen, eigenartigen, noch liberaleren Vorstellungen von Sommer. Sommer hütete sich, übrigens im Geiste des originalen Werkes, auch in diesen Teilen vor einer Aufstellung neuer Dogmen; er versuchte eher die Freiheit des Denkens dadurch zu sichern, daß er die Zahl der zur Seligkeit unbedingt nötigen Grundthesen auf noch eine kleinere als die von Acontius angegebene Anzahl verringert und ihnen eine solche Formulierung zu geben versucht, die eine breite Skala der möglichen Vorstellungen enthalten kann. Sommers Umarbeitung der Satanae stratagemata eröffnet durch die immer weiter führende Rezeption ihrer Gedanken eine einzigartige kühne Entwicklung der antitrinitarischen Bewegung in den Jahren 1570—1579. Die reformatorische Tätigkeit von Franz David und seinen Anhängern beschränkt sich ab 1565 darauf, daß sie in der Frage der Dreifaltigkeit und der Taufe statt der — ihrer Ansicht nach — nicht biblischen traditionellen Dogmen neue zu entwickeln versuchten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese neuen Dogmen rationaler sind als die alten und — in statu nascendi — auch elastischer, doch tragen sie die Möglichkeit der Erstarrung ebenso in sich wie die früheren protestantischen Glaubenssysteme. 4*

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Die großen Religionsstreitigkeiten mit den Kalvinisten gelangten um 1570 im wesentlichen in ihre Endphase. In den nun folgenden Disputen drehte sich der erbitterte Wortstreit unverändert um dieselben Fragen. Als sich beide Partner davon überzeugen mußten, daß einer den anderen mit seinen Argumenten nicht überzeugen konnte, suchten sie ihre vorhandenen Positionen mit Hilfe einer politischen Macht zu festigen. Die Unitarier konnten mit der Unterstützung von Johann Siegmund rechnen; die Kalvinisten hingegen trachteten danach, mit Hilfe der Gutsbesitzer von Ostungarn ihr Gebiet zu behalten. Daß die antitrinitarische Bewegung nach diesen Ereignissen bereits um 1570 zu keiner starren dogmatischen Sekte wurde, sondern auf dem Wege der Entwicklung des modernen bürgerlichen Denkens noch schneller fortschreiten konnte als in dem vorhergehenden Jahrzehnt, ist hauptsächlich den humanistischen Ideen zu verdanken, die Sommer als erster in einflußreicher Form durch seine Acontius Umarbeitung den Siebenbürgern vermittelte. Sommer widmete sein Werk im Vorwort dem Siebenbürger Klerus und erwartete von der Wirkung des Buches die Milderung der Religionsstreitigkeiten, das Aufhören der konfessionellen Gegensätze und die Reinigung des Christentums. Die Widmung lobt in schönen pathetischen Worten Acontius, der die Menschheit von der Macht des Bösen ebenso befreite wie Harmodios und Aristogeiton Athen vom Tyrannen. Aus den begeisterten Worten fühlt man den in die unbedingt überzeugende Kraft des rationellen Denkens gesetzten ehrwürdigen naiven Glauben, den Glauben, der alle bedeutenden Ideologen des Bürgertums bis zur Epoche der Aufklärung tief durchdrang. Es wäre interessant zu wissen, in welchem Ausmaße diese wichtige Arbeit in ihrem Zeitalter in Siebenbürgen verbreitet wurde. Sommer schreibt in der erwähnten Widmung von der Publikation der Acontius-Umarbeitung. Diese Ausgabe ist heute unbekannt. Wir wissen nur von einer einzigen handschriftlichen Kopie dieses Werkes von Sommer. Sommer hatte in Klausenburg in der unmittelbaren Umgebung von Franz David die Gelegenheit, mit Schrift und Wort auf die Leiter der Bewegung und auf die seiner Zucht entwachsene neue Generation der Geistlichen einzuwirken. Die Schrift Satanae stratagemata lieferte dem antitrinitarischen Klerus neue Argumente gegen die Dreifaltigkeit in den beinahe vergeblich werdenden Disputen und ermöglichte die weitaus freiere und neue Abfassung ihrer Thesen. Nach der Meinung von Acontius und Sommer ist es nämlich nicht notwendig, die orthodoxen Anschauungen von Punkt zu Punkt zu widerlegen, da die scholastische dogmatische Haarspalterei keines Menschen Seligkeit dient, doch begeht derjenige einen großen Fehler, der solche Geistesprodukte seinem Nächsten gewaltsam aufzwingt. Demnach konnte sich also der Schwerpunkt der Dispute über die Frage, ob die Dreifaltigkeitslehre wahr sei, dahin verlagern, ob sie notwendig sei. Also genügte es auch zur Verurteilung des Gegners, das Unwesentliche dieser auf Leben und Tod verteidigten Lehren zu beweisen.

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Noch anregender wirkten die durch Sommer vermittelten Lehren auf das innere Leben der unitarischen Konfession. Das methodische Zweifeln konnte keine einzige These der Religion unberührt lassen, und wirklich, innerhalb von 2 Jahren erhoben sich Dispute außer über die Dreifaltigkeitslehre auch über die gesamten Sakramente, über die Liturgie und über die Dogmen der Prädestination, der Erbsünde, der Rechtfertigung und der Unsterblichkeit der Seele. Zur gleichen Zeit, als sich der befruchtende Einfluß der humanistischen Freidenkerei innerhalb der antitrinitarischen Bewegung in die verschiedensten Richtungen entfaltete, konnte die von Acontius herrührende breite Auslegung der religiösen Toleranz, bis zum tragischen Zusammenstoß von David und Blandrata im Jahre 1579, eine gewisse Einheit der Konfession bewahren. Daher gewährte die unter Johann Siegmund erreichte gesetzliche Rezeption auch den Vertretern der sich neu ausbildenden kühnen und neuen Vorstellungen einen Schutz. Wie paradox es auch Idingen mag, diese plötzliche Ideenentwicklung wurde dadurch ermöglicht, weil die Siebenbürger Gesellschaft relativ unentwickelt war. Sommer konnte ruhig das Prinzip der communis prophetia verkünden, über die buchstäbliche praktische Anwendung haben wir keine einzige Angabe. Die immer wieder aufflammenden Szekler-Aufstände setzten sich zum Schutze der alten Rechte ein. Vielleicht blieben die Szekler-Massen ebendeshalb den neuen Lehren gegenüber ziemlich indifferent. Die Mehrheit des rumänischen Bauerntums war noch zum Verständnis irgendwelcher Formen der Reformation völlig unreif. Es scheint, daß auch die ungarischen Bauern — im engeren Sinne von Siebenbürgen — die durch die neuen radikalen Richtungen gebotenen Möglichkeiten der antitrinitarischen Bewegung vom Gesichtspunkte ihres Klassenkampfes nicht erkannten. Der Hauptsitz der Bewegung, Klausenburg, war in diesen Jahren eine kleine, aufblühende, gebildete und lebendige Stadt. Nach den erhalten gebliebenen Preis- und Lohnlimitationen können wir uns über die Lebensverhältnisse der Einwohner eine klare Vorstellung machen. Infolge des wirtschaftlichen Aufschwunges waren die Klassengegensätze innerhalb der Stadt nicht zu scharf. Den Anzeichen nach hatte jeder in Klausenburg zu dieser Zeit sein Auskommen. Der Lohn der ärmsten Schichten, der Hintersassen, der Weinbauern, der Kutscher, genügte noch zur Anschaffung der notwendigsten Lebensmittel und Kleidung sowie zu einer Grundausbildung der Kinder. In der Zeit um 1570 kennen wir nur eine einzige entschlossenere Bewegung der niedrigeren Volksschichten, nämlich den Streik der Goldschmiedeburschen, den aber der Stadtrat sehr leicht besänftigen konnte. Er entschied den Streit charakteristischerweise eher zugunsten der Burschen als der Meister. Daraus kann man schließen, daß im Rat eine gewisse Mehrheit der zur Zunft gehörigen Kleingewerbetreibenden gegenüber den größeren Unternehmern saß. Im übrigen gaben die Goldschmiedeburschen ihrer isolierten gewerblichen Bewegung keinerlei religiöse Färbung und konnten ihr auch keine geben. So, wie auch die gerichtlichen Protokolle bezeugen, versuchten die in einer bäuerlichen, abergläubischen Welt lebenden Kleinhäusler auch nie, sich

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in die für sie oft unverständlichen Religionsstreitigkeiten der Prediger einzumischen, die meist an ausländischen Universitäten studiert hatten und dazu oft noch fremder Abstammung waren. Die übrigen Siebenbürger ungarischen Städtchen glichen wenig entwickelten Dorfsiedlungen, so daß man auf den massenrevolutionierenden Einfluß der radikalen religiösen Neuerungen auch hier nicht rechnen kann. So war nichts, was die gebildeten Bürger und die Adeligen vom freieren Denken abschreckte, und der reine logische Aufbau der neuen Lehren und ihre überzeugende Kraft konnten ohne Hindernis zur Geltung kommen. Anders verhielten sich die Dinge unter den Sachsen oder in Ostungarn. In den alten sächsischen Städten, deren Entwicklung in diesem Zeitalter stagnierte, oder in dem verarmten und verzweifelten Ostungarn, das dauernden Kriegszügen ausgesetzt war, paarten sich die radikalen religiösen Lehren leichter mit den revolutionären Bewegungen, wie der Bauernaufstand der Debreziner Anabaptisten beweist, der von dem Siebenbürger Antitrinitarismus wahrscheinlich unabhängig war. Diese gespanntere Lage erklärt den Umstand, daß sich die Sachsen oder das Debreziner Bürgertum und der Adel von Ostungarn bereits um 1560 den Neuerungen von Franz David starr verschlossen hatten und bei den weitaus konservativeren lutherischen bzw. kalvinischen Formen der Reformation verblieben. Um 1570 sind bereits die Grenzen der einzelnen Konfessionen zu erkennen. Diese Grenzen konnten sich dann zur Zeit des Fürsten Stefan B&thory nur auf Kosten der Antitrinitarier modifizieren, da er als Katholik eine zielbewußte Politik trieb und sich auf die führende Schicht der Sachsen und Ostungarn stützte. Daraus erklärt sich auch, daß die mit Sommers Acontius-Umarbeitung beginnenden Bewegungen auf gewissen geographisch und gesellschaftlich ziemlich gut umgrenzbaren Gebieten solche überraschenden Erfolge erreichen konnten, aber zugleich an anderen Orten überhaupt keinen Anklang fanden, so daß man von ihrem Dasein gar nicht wußte. Der Tod von Johann Siegmund im Jahre 1571 versetzte den Antitrinitariern einen schweren Schlag, obwohl der Verlust des fürstlichen Gönners auf die Entwicklung auch anregend wirkte; denn die allmähliche Entfremdung eines Teiles der Aristokraten, die dem Herrscher zuliebe zum unitarischen Glauben übergetreten waren, verstärkte die führende Rolle des Bürgertums in der Bewegung. Im Jahre 1571, nach dem Tode von Johann Siegmund und noch vor der Wahl Stefan Bäthorys, ließ Sommer in Klausenburg in Heltais Druckerei ein kleines Buch herausgeben. Das Büchlein beginnt mit einer Oratio funebris, die die Verdienste des verstorbenen Herrschers würdigte; in seinem zweiten Teil findet man verschiedene kleinere griechische und lateinische Dichtungen über Leben und Tod des Johann Siegmund. Sommer ist hierin bemüht, die Religionspolitik und die Türkenfreundschaft des gestorbenen Fürsten zu bestätigen und außerdem die allgemeine Stimmung derart zu beeinflussen, daß ein solcher Fürst gewählt würde, der geneigt sei,

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diese Politik fortzusetzen. Sommer, der von Deutschland nach Klausenburg kam, schrieb in dieser Arbeit als erster jene Gedanken nieder, die im nächsten Jahrhundert die Grundprinzipien der eigenartigen siebenbürgisch-ungarischen Politik wurden. Wenn er das Schicksal von Johann Siegmund mit dem des Königs Matthias vergleicht und eine Parallele zwischen der Kulturpolitik der zwei Herrscher zieht, so versucht er zum ersten Mal diese eigene siebenbürgische Politik in die ungarischen nationalen Überlieferungen einzureihen. Wie sehr sich der Ausländer Sommer mit dem ungarischen Unabhängigkeitsgedanken identifizierte, der durch die fortschrittliche religiöse Bewegung angeregt wurde, die ausschließlich auf ungarischem Gebiet um sich griff, dafür ist nichts charakteristischer, als daß er Johann Siegmund im Titel des sich an die Rede anschließenden griechischen und lateinischen Epitaphs üaiwvtov ßaaiXeij? TOxvuaTaToe bzw. rex Hungariae ultimus nennt: Der in Wien lebende Habsburger Herrscher ist für ihn kein ungarischer König. Dieses Werk von Sommer ist das einzige aus der ziemlich umfangreichen ungarischen antitrinitarischen Literatur des 16. Jahrhunderts, das sich unmittelbar mit den aktuellen politischen Fragen befaßt. Die in der ein wenig idealisierten Gestalt von Johann Siegmund verkörperte politische Vorstellung, die Auffassung von einem Siebenbürgen, das unter dem Schutz der Türken sich entwickelt und die fortschrittlichsten europäischen Ideen aufnimmt, erwiesen sich, wie die Geschichte bezeugt, lange Zeit hindurch als richtig. In der Sommerschen Abfassung brechen aber die konfessionellen und regionalen Schranken dieser Auffassung ziemlich scharf durch. Fast absichtlich nimmt er von den schädlichen Folgen der Türkeneroberung keine Kenntnis, und seine Aufmerksamkeit gleitet über die noch sehr lebendigen Kräfte und Traditionen hinweg, die Siebenbürgen mit den übrigen Teilen Ungarns verknüpften. Dieser Fehler wegen ist die politische Konzeption der Oratio funebris ziemlich abstrakt. Die von Sommer hochgepriesene einseitig türkenfreundliche Politik führte auch Johann Siegmund nur aus Notwendigkeit durch. In den letzten Jahren setzte er alles daran, um damit zu brechen und sein Verhältnis mit den westlichen Mächten, vor allem mit den Habsburgern, zu ordnen. Die Oratio funebris war demnach nicht im mindesten zur Unterstützung von Kaspar Bekes geeignet, der den Vertrag von Speyer zustande brachte und für seine Siebenbürger Herrschaft österreichische Hilfe erhoffte, und einen anderen aussichtsreichen Anwärter auf den Siebenbürger Thron hatten die Unitarier nicht. Wenn wir annehmen, daß diese Arbeit von Sommer die Ansichten des Kreises von Franz David, der leitenden bürgerlichen intellektuellen Gruppe der antitrinitarischen Bewegung, zeigt, so wird es verständlich, warum die Antitrinitarier zwischen 1571 und 1575 auf die für sie entscheidenden politischen Fragen so spärlichen Einfluß hatten. Diese Vertreter des Bürgertums haben in der aktiven Leitung der Landespolitik noch gar keine Praxis und erkennen zwar auf längere Zeit gültige, richtige politische Grundprinzipien, sie fassen sie aber zu einseitig auf;

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zu ihrer Verwirklichung machen sie fast keinen Versuch; denn sie besitzen kaum eine Vorstellung davon, wie sie die vorhandenen politischen Kräfte im Interesse ihrer Ziele mobilisieren könnten. So bleiben diese bürgerlichen Denker, obwohl ihr Ansehen auf dem religiösen und wissenschaftlichen Gebiet nicht gering ist, die passiven Beobachter und machtlosen Spielzeuge der adeligen Politik. Peter Käroli, Prediger von Großwardein, schrieb im Jahre 1570 ein Buch Brevis erudita et perspicua explicatio orthodoxae fidei gegen die Antitrinitarier, persönlich gegen David und Blandrata, und Heß es im nächsten Jahr in Wittenberg herausgeben. Die Arbeit enthält nebst den gewohnten Beweisen der Dreieinigkeit grobe persönliche Angriffe gegen die Antitrinitarier und ist, was Davids Kreis sehr unangenehm berühren mußte, einem der einflußreichsten unitarischen Magnaten, Christoph Hagym&si, gewidmet. Da die Arbeit im Ausland in lateinischer Sprache erschienen ist, war für die Unitarier die effektvolle Widerlegung mit hohem wissenschaftlichem Niveau besonders wichtig, da sie sich so vor der öffentlichen Meinung der ganzen Welt rechtfertigen konnten. Das zeigt die Tatsache, daß auf Kärolis Schrift sogar zwei der angesehensten antitrinitarischen Verfasser antworteten: Palaeologus und Sommer. Von den zwei Antworten ist die von Sommer bedeutender, nicht nur wegen ihres feineren Stils und größeren Umfangs, sondern auch wegen ihrer umfassenderen theoretischen Begründimg. Es ist kein Zufall, daß die Unitarier, als sich 8 Jahre nach dem Tode des Verfassers im Jahre 1582 die Möglichkeit zur Herausgabe bot, die Veröffentlichung der letzteren besorgten. Sommers Refutatio scripti Petri Caroli wurde nach dem Vorwort am 24. Juni 1572 fertiggestellt. Die Bedeutung des Buches besteht nicht in den dogmatischen Neuerungen, wie dies die unitarische Kirchengeschichtsschreibung bisher hinstellte, sondern in seiner Methode. Auf dem Gebiete der Glaubenssätze bietet dieses Werk von Sommer fast nichts Neues, was auch verständlich ist, ist ja die primäre Aufgabe des Buches der Schutz der zwischen 1566 und 1569 entwickelten Ansichten von David und Blandrata. In dieser Verteidigung wurden aber die traditionellen theologischen Methoden, die um 1560 die siebenbürgischen Antitrinitarier ausschließlich benutzten, in den Hintergrund gedrängt. Sie finden nur in dem zweiten Teil Platz, der die biblischen Stellen erklärt, während die Methode in der Präfation und im ersten Buch völlig neuartig ist. Wahrscheinlich bedeutet sie auch in der Geschichte des ganzen europäischen Denkens einen bahnbrechenden Versuch. Die richtige Deutung der Heiligen Schrift ist nach Sommers Ansicht im Laufe der Zeiten ganz verblaßt. Den Grund dieser Irrtümer und Wirrnisse sieht er, ebenso wie Acontius, in der maßlosen cpiXooma und im sich daraus nährenden gelehrten Hochmut und Egoismus der Geistlichen. Die Klärung des richtigen Sinnes der Schrift begann zusammen mit der Entdeckung der antiken Literatur — Sommer betrachtet die Reformation und den Humanismus als eine Einheit —, doch während der Entdecker des Werkes eines profanen Verfassers oder dessen

Der antitrinitarische Humanist Johann Sommer

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Auslegung von der ganzen Welt gefeiert wird, werden die Erforscher des Sinnes der Heiligen Schrift feindlich empfangen. Die Reinigung des Christentums von den jahrhundertelangen irrigen Traditionen ist eine ebensolche wissenschaftliche Aufgabe wie die Entdeckung der antiken Literatur und kann nicht auf einmal gelöst werden. Sommer behauptet auch von sich selbst nicht, im Besitze der völligen Wahrheit zu sein: Deren Aufdeckung beansprucht — seiner Ansicht nach — noch lange Generationen hindurch die Arbeit zahlreicher Wissenschaftler. Doch ebendeshalb ist der Zorn der orthodox-protestantischen Theologen gegenüber den Antitrinitariern nicht verständlich; denn sie setzten nur die Arbeit fort, welche die großen Reformatoren Hus, Luther, Zwingli, Kalvin usw. begonnen haben. Über den Sinn der Bibel darf man und muß man disputieren, besonders im Falle solcher Thesen, die, wie z. B. die Dreieinigkeit, in der Heiligen Schrift expressis verbis nicht zu finden sind und so zur Seligkeit nicht unumgänglich nötig sind. Jesus verfluchte sogar die die Unsterblichkeit der Seele leugnenden Sadduzäer nicht — das Beispiel ist für Siebenbürgen zu dieser Zeit äußerst aktuell! —, er belehrte sie lediglich, daß sie eine falsche Auffassung von der Schrift haben. Bis zu diesem Punkte beruht Sommers Gedankengang im wesentlichen auf den humanistischen Lehren von Acontius, die religiöse Toleranz und freie Untersuchung fordern. Sodann versucht Sommer — und das ist der interessanteste und wahrscheinlich völlig originale Teil des Buches —, den historischen Verlauf der Entstehung der Dreieinigkeitslehre zu entwerfen. Das Dreifaltigkeitsdogma ist seiner Ansicht nach älter als das Christentum und stammt aus der antiken Philosophie. Der mit der Gottheit identische, doch eigentümliche Xoyoi; bzw. voü?, der Begriff der verkörperten göttlichen Vernunft, ebenso wie der Gedanke des Weltgeistes (7weü[xa), aus dem der Begriff des Heiligen Geistes entstand, ist schon bei Piaton zu finden. Sommer weist vor allem auf den Dialog Timaios als Quelle hin, und in der späteren platonischen Philosophie gelangten diese Begriffe zu immer größerer Bedeutung. Die einzelnen Personen der Dreieinigkeit brachte die heidnische Philosophie zustande, und Sommer versucht, den Zeitpunkt festzustellen, als diese Begriffe in das christliche Denken aufgenommen wurden. Infolge der ziemlich gründlichen Kenntnis der Literatur der Patristik und der antiken Philosophie, obwohl er sie wahrscheinlich aus zweiter Hand erhielt, ist Sommer der Ansicht, daß dies am Anfang des 3. Jahrhunderts im Kreise des Clemens Alexandrinus und Origenes geschah, die unter dem Einfluß des platonischen Philosophen Ammonios (Sakkas) standen. In diesem Zusammenhang zitiert er auf Grund des Werkes De orbis terrae concordia des Humanisten Postellus die Erklärung des Ammonios-Schülers Amelius, nach dem der erste Abschnitt des Johannes-Evangeliums eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Lehren von Piaton und Herakleitos bietet, 7repi Xo-fou apx?j