Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker 9783666560071, 9783525560075

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Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker
 9783666560071, 9783525560075

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Martin George / Jens Herlth / Christian Münch / Ulrich Schmid (Hg.)

Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker Übersetzung der Tolstoj-Texte von Olga Radetzkaja und Dorothea Trottenberg, Kommentierung von Daniel Riniker

2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Arbeit der Übersetzerinnen wurde vom Deutschen Übersetzerfonds (DÜF) gefördert, das wissenschaftliche Projekt vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert und die Publikation von der Burgergemeinde Bern und dem Fonds für ökumenische und historische Theologie (Bern) unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56007-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Michail Nesterov, Porträt von Graf Lev Tolstoj (1907) © 2015, 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Dörlemann, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theologische und kirchenkritische Schriften Aus dem Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an A.A. Tolstaja (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christlicher Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wessen sind wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beichte (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an A.A. Tolstaja (1880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung der dogmatischen Theologie (Schlussbetrachtung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Glaube (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an Alexander III. (1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurze Darlegung des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wunder der Auferstehung Christi . . . . . . . . . . . . . . . Über das Leben (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . Das Reich Gottes ist in euch (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen? Was ist Kunst? (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanken über Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung eines Gottesdienstes aus dem Roman Auferstehung . Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar 1901 An die Geistlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Briefe an V.K. Zavolokin (1900/1901) . . . . . . . . . . . . . Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wesen der christlichen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an I.I. Solov’ev (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Tage (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . Gleichnisse (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . Aphorismen (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . Gebet (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . . .

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87 102 125 134 164 174 180 182 188 211 215 223 234 240 249 270 282 285 290 292 299 304 310

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Inhalt

Brief an I.I. Perper (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Aus dem Tagebuch nur für mich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Tolstojs Theologie: Systematische und historische Einordnungen 1. Kernkonzepte . . . . . . . . .

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323 339 355 373 389 408 433 449 462

Jens Herlth: Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schmid: Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer Ilja Karenovics: Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . Ulrich Schmid: Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . Olga Caspers: Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pål Kolstø: Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich Bryner: Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schmid: Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Goldt: Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schmid: Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radha Balasubramanian: Buddhismus . . . . . . . . . .

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477 491 499 516 521 528 541 554 557 571 575

Georgij Orechanov: Russische Orthodoxe Kirche . . . . . . Regula Zwahlen: Russische Religionsphilosophie . . . . . . Martin Tamcke: Protestantische Theologie . . . . . . . . . . Ulrich Schmid: Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . Olga Caspers: Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Münch: Religiöser Sozialismus in der Schweiz . . Robert Hodel: Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . Rainer Grübel: Existenzialismus (Sˇestov, Heidegger, Camus, Sartre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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585 594 608 620 628 638 653

Christian Münch: Glaube und Vernunft . Christian Münch: Offenbarung und Bibel Martin George: Gott . . . . . . . . . . . Christian Münch: Jesus Christus . . . . . Martin George: Kirche . . . . . . . . . . Holger Kuße: Religion . . . . . . . . . . . Holger Kuße: Anthropologie . . . . . . . Jens Herlth: Staat und Gesellschaft . . . . Sylvia Sasse: Kunst . . . . . . . . . . . . .

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2. Tolstojs Auseinandersetzung mit der Philosophie und den religiösen Traditionen

3. Rezeption und Wirkung der Theologie Tolstojs

. . . 668

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Inhalt

Ludger Udolph: Mahatma Gandhi . . . . . . . Ilja Karenovics: Rudolf Steiner . . . . . . . . . Sergei Zhuk: Die Stundisten in der Ukraine . . . Andrew Donskov: Die Duchoborzen in Kanada

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683 692 707 719

Verzeichnis der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs .

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Bibliographie der deutschen Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . .

735

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Inhalt

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Vorwort

Dieses Buch nahm seinen Anfang an einem sonnigen Frühlingstag des Jahres 2007 im Innenhof der Unitobler – der zu einem Institutsgebäude der Universität Bern umgebauten Schokoladenfabrik der »Toblerone«. Damals trafen sich Christian Münch und Ulrich Schmid und sinnierten über den verkannten späten Tolstoj, den sich viele Leser bis heute als Moralprediger ohne philosophischen Tiefgang vorstellen. Der hundertste Todestag Tolstojs am 20. November 2010 hat die Relevanz dieses Autors noch einmal deutlich gemacht – aber auch dieses Jubiläum hat sich vornehmlich mit dem Romancier beschäftigt und den Denker, Pazifisten und Theologen weitgehend ausgeblendet. Der vorliegende Band will diesen »anderen Tolstoj« neu beurteilen und kritisch würdigen. Die Publikation besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen: einem Quellenteil mit ausgewählten theologischen Texten Tolstojs in neuer, teilweise erstmaliger deutscher Übersetzung und einem Aufsatzteil mit Beiträgen über »Tolstojs Theologie«, ihren ideengeschichtlichen Kontext und Einfluss. Die Übersetzung der Primärtexte im ersten Teil besorgten Olga Radetzkaja (f 37–173) und Dorothea Trottenberg (f 174–318), während die Beiträge des zweiten Teils von zwanzig Fachleuten aus Theologie, Slavistik und Philosophie verfasst und mehrheitlich an einer Tagung in Fischingen (Schweiz) vom 25. bis 27. August 2009 präsentiert wurden. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Die Kosten für Projekt und Tagung hat der Schweizerische Nationalfonds getragen, dem wir hier unseren großen Dank aussprechen. Die Übersetzerinnen ihrerseits danken dem Deutschen Übersetzerfonds (DFÜ) für die Unterstützung durch ein Arbeitsstipendium. Der Burgergemeinde Bern und dem Fonds für ökumenische und historische Theologie der Fontes-Stiftung (Bern) verdanken wir Druckkostenzuschüsse. Ein weiterer Dank geht an Sonja Geninazzi, Andrea Meier und Michael Reinhard für die organisatorisch-technische Unterstützung sowie für die Mitarbeit bei der Übersetzung der Beiträge von Radha Balasubramanian, Sergei Zhuk und Andrew Donskov. Ebenfalls danken wir Daniel Riniker für die redaktionelle Hilfe in der Endphase des Projektes. Daniel Riniker hat die Einleitungen und die meisten Anmerkungen zu Tolstojs Texten verfasst, den Beitrag von Pål Kolstø aus dem Englischen übersetzt und sich als Co-Übersetzer der Beiträge von Radha Balasubramanian, Georgij Orechanov und Andrew Donskov betätigt. Ein letzter Dank gehört dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die große Geduld und das Verständnis bei der Erstellung dieses Bandes.

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Vorwort

Texte und Zitate Tolstojs werden nach der neunzigbändigen sowjetischen Gesamtausgabe (Polnoe sobranie soˇcinenij = PSS) übersetzt, Verweise erfolgen mit entsprechender Bandnummer und Seitenzahl (PSS Bd.: S.). Querverweise innerhalb der vorliegenden Publikation, vor allem Verweise auf Textstellen im ersten Teil, sind mit Pfeil (f) und Seitenzahl angegeben. Die Wiedergabe von russischen Wörtern, Eigennamen und Werktiteln folgt der philologisch-wissenschaftlichen Transkription, die Datierung von Ereignissen aus Tolstojs Leben dem julianischen Kalender.

Die Herausgeber

Problematik und Forschungsstand

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Einleitung

Problematik und Forschungsstand Lev Tolstoj (1828–1910) gilt heute unbestritten als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Weltliteratur. Dass der Autor von Krieg und Frieden (1864–68) und Anna Karenina (1875–77) vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens zahlreiche theologische und kirchenkritische Schriften verfasste, die breit rezipiert wurden, geriet gegenüber der alles überragenden Wirkung der literarischen Texte schnell in den Hintergrund. Und wo doch beide Hauptlinien des Werks in Betrachtung gezogen wurden, wurde dem Schriftsteller gegenüber der Theologe und Kirchenkritiker meist radikal abgewertet. Diese weithin etablierte Rezeptionspraxis verkennt allerdings, dass Kunst und Moral, Narration und Predigt bei Tolstoj stets Hand in Hand gehen. Es ist ebenfalls irreführend, von einer radikalen Wende zu sprechen, die Tolstoj nach der Lebenskrise der 1870er Jahre vollzogen habe. Zwar unterscheidet er in seiner autobiografischen Beichte (1879–82) deutlich ein »Vorher« von einem »Nachher«, allerdings dient dieser rhetorisch komplexe Text im Wesentlichen der Selbstüberzeugung: Tolstoj insistiert immer wieder darauf, dass er das »falsche Schreiben« erst im Moment der Einsicht in die religiöse Wahrheit durch das »richtige Leben« ersetzt habe. Tatsächlich aber ziehen sich Krisenperioden und Konversionsmomente seit den ersten Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1847 durch seine Selbstbeobachtungen wie durch sein ganzes literarisches Werk hindurch. Auch die Religion spielte schon früh eine eminente Rolle in Tolstojs Leben. Bereits 1855 findet sich ein Tagebucheintrag, in dem er darüber nachdenkt, eine neue Religion zu gründen, und zwar eine »Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht zukünftige Glückseligkeit verspricht, sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt«.1 In so gut wie jedem seiner erzählerischen Werke finden sich lebensphilosophische Passagen, die eine deutliche religiöse Dimension aufweisen. Mit seiner späteren Diagnose bagatellisiert Tolstoj das aufrichtige Streben nach moralischer Selbstdisziplinierung, das ihn bereits als jungen Mann angetrieben hatte. Gleichzeitig behandelt er die im Zeichen religiösen Sendungsbewusstseins verfassten Werke seiner späten Jahre, wie etwa die Erzählungen Die Kreutzersonate oder Hadˇzi Murat, als Nebenprodukte seiner eigentlichen religiösen Mission und verwendet auf ihre Publikation deutlich weniger Energie als auf die Verbreitung seiner Traktate oder die Erledigung

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Einleitung

seiner umfangreichen Korrespondenz. Und wenn der späte Tolstoj sich doch der Literatur widmete, so vor allem in provokatorischer Absicht. Der Roman Auferstehung (1899) markiert einen Höhepunkt in seinem Kampf gegen alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Tolstoj beschreibt hier in grotesker Verfremdung einen orthodoxen Gottesdienst.2 Die Reaktion der Kirche war scharf: 1901 stellte der Heilige Synod, das oberste Entscheidungsorgan der Russischen Orthodoxen Kirche, den Abfall Tolstojs von der Kirche fest. Einige Geistliche identifizierten Tolstoj gar als Antichrist. Der 1990 heilig gesprochene Priester Ioann von Kronstadt sah in ihm den »größten Komplizen des Teufels« und den »berüchtigsten Gegner Christi«.3 Aber auch Tolstoj war in seiner Wortwahl nicht zimperlich. Ein gut meinender Priester suchte am 4. Januar 1908 den Grafen auf seinem Landgut Jasnaja Poljana auf und erklärte ihm, dass die orthodoxen Rituale wie eine Eierschale seien. Wenn man die Schale zu früh zerstöre, dann könne das Küken nicht schlüpfen. Tolstoj erklärte später gegenüber seinem Sekretär Nikolaj Gusev: »Ich sagte ihm, dass die Schale der Körper, das Küken der Geist sei, eure Lehre aber der Mist auf der Schale. Er war sehr beleidigt. Ich hatte es sogar schärfer ausgedrückt, nicht mit M, sondern mit Sch.«4 Tolstojs theologische Traktate, die vor dem Ersten Weltkrieg für weltweites Aufsehen sorgten, sind heute weitgehend vergessen und werden auch von der Forschung kaum beachtet. Dieses Defizit ist in Russland und im Westen auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. In Russland wurden Tolstojs theologische Entwürfe hauptsächlich bis zur Oktoberrevolution, im Westen bis zum Zweiten Weltkrieg rege diskutiert. Die Religionsphilosophen Vasilij Rozanov, Lev Sˇestov, Dmitrij Mereˇzkovskij, Semen Frank, Evgenij Trubeckoj, Sergej Bulgakov, Nikolaj Losskij, Nikolaj Berdjaev, Vasilij Zen’kovskij, Fedor Stepun und Ivan Il’in beurteilten Tolstojs theologisches Denken überwiegend kritisch bis ablehnend.5 Als repräsentativ für diese Rezeptionslinie darf der Moskauer Sammelband O religii L’va Tolstogo (Über die Religion Lev Tolstojs) aus dem Jahr 1912 gelten, in dem vier Positionen vertreten werden: Der geniale Künstler sei erstens ein flacher Denker,6 zweitens stelle er sich außerhalb des Christentums,7 drittens vertrete er einen Pantheismus8 und viertens predige er einen zerstörerischen Rationalismus.9 Eine neuere nennenswerte Schrift über Tolstojs Theologie, die von einem russischen Theologen verfasst wurde und einen breiten Leserkreis erreichte, stammt vom Priester und Dissidenten Aleksandr Men’. Sie trägt den Titel »Bogoslovie« L’va Tolstogo i christianstvo (Die »Theologie« Lev Tolstojs und das Christentum).10 Men’ knüpft darin an Bulgakov und Berdjaev an und gibt vorwiegend deren Ansichten wieder, die in der Sowjetunion der 1980er Jahre weitgehend vergessen waren. Seine Abhandlung, die seit der Pere-

Problematik und Forschungsstand

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strojka mehrmals gedruckt wurde, hat v.a. zum Ziel, den »anderen Tolstoj« – den Theologen und Religionsphilosophen – wieder ins Gespräch zu bringen. In gebotener Loyalität zur Orthodoxen Kirche hat Men’ jedoch manche Vorurteile aus der vorrevolutionären Zeit übernommen. Die religionspolitische Wende des Jahres 1988 mit der aufwändigen Jahrtausendfeier der Christianisierung Russlands bahnte auch den Weg für eine neue Beschäftigung mit Tolstojs Theologie. So stellte der Philosoph Vladimir Nazarov11 1991 in seinem Aufsatz Metafory neponimanija. L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ v sovremennom mire (Metaphern des Unverständnisses. L.N. Tolstoj und die Russische Kirche in der modernen Welt) fest, dass »die polemische Auseinandersetzung Tolstojs mit dem kirchlich-christlichen Gedankengut nicht auf eine Verwerfung, Entstellung, Verneinung der fundamentalen Glaubensgrundlagen hinauslief, sondern auf eine hermeneutische Methode«. Folgerichtig konfrontierte Nazarov die Kirche mit der Frage, »ob es nicht Zeit sei, Tolstoj zu verstehen und aufzunehmen als einen großen russischen Christen, der in seiner Lehre über das Gesetz der Liebe, über die Gewaltlosigkeit auch angesichts des Bösen die unerschöpflichen humanistischen Möglichkeiten der russischen Orthodoxie ausgedrückt hat?«12 Diese Frage wurde in den 1990er Jahren wiederholt gestellt,13 auch im Rahmen einer 1996 publizierten Vortragsreihe Tolstoj i religija (Tolstoj und die Religion) der Moskauer Tolstoj-Gesellschaft.14 Allerdings zog die Kirche 2001 einen vorläufigen Schlussstrich unter diese Diskussion und bestätigte Tolstojs Exkommunikation: Der »geniale Schriftsteller« habe neben Meisterwerken wie Krieg und Frieden auch »antichristliche Werke« verfasst.15 Vor diesem Hintergrund ist eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Tolstojs theologischen Schriften an Russlands Geistlichen Akademien bis auf weiteres nicht zu erwarten. Selbst Nazarov modifizierte daraufhin seine Ansichten und vertrat später in einem kirchlichen Interview die These von der Selbstexkommunikation Tolstojs. Gleichzeitig plädierte er jedoch (in freier Anlehnung an Bultmann) dafür, Tolstoj als einen »existenzialen Theologen« ernst zu nehmen: Denn Tolstoj könne durchaus als Theologe bezeichnet werden, insofern die Suche nach Gott den Nerv seines gesamten Schaffens und spirituellen Suchens bilde. »In diesem Fall ist sein Gottsuchertum«, so Nazarov, »eine besondere Art der Theologie« – eine »existenziale Theologie, da Tolstoj vom Leben ausgeht; allerdings liegt zwischen der existenzialen Theologie, zumal protestantischer Ausprägung, und dem orthodoxen christlichen theologischen Denken eine gewaltige Distanz.«16 Damit reanimiert Nazarov die alte These von Tolstojs (Krypto-)Protestantismus.17 Neuerdings untersucht der Kirchenhistoriker Georgij Orechanov die Wechselwirkung zwischen der zeitgenössischen orthodoxen Theologie und Tolstojs theologischen Schriften. Auch er stellt sich aber auf den Standpunkt, Tolstoj sei zu Recht exkommuniziert worden.18

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Einleitung

Im Westen zeigt sich ein anderes Bild. Tolstojs theologische Schriften wurden zunächst von einem breiteren Publikum als in Russland diskutiert.19 Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Interesse jedoch merklich ab. Die verheerende Erfahrung des Nationalsozialismus schienen Tolstojs aufklärerisch-idealistisches Menschenbild und insbesondere sein Gebot, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, widerlegt zu haben. Tolstojs vermeintlicher Vernunftglaube, sein religiöser Anarchismus und seine Vision eines immanenten Gottesreiches wurden zunehmend als Irrtum oder Schwärmerei abgetan.20 Ähnlich wie in Russland unterschied man fortan den »genialen Künstler« vom »flachen Denker«. Wenn Johannes von Guenther 1964 in seinem Buch Die Literatur Russlands schrieb, dass Tolstoj »bis zu einem primitiven Christentum für Primitive abgeglitten« sei,21 so gab er eine verbreitete Meinung wieder. Tolstojs theologische Schriften stießen besonders bei deutschsprachigen evangelischen Theologen auf Interesse.22 Freilich neigten diese dazu, den pazifistischen Grafen im Rahmen der eigenen Theologie zu instrumentalisieren, sei es als leuchtendes oder fragwürdiges Beispiel. An den evangelischtheologischen Fakultäten stand Tolstoj nicht so sehr als Religionsphilosoph im Blickpunkt des Interesses als vielmehr in seiner Eigenschaft als Bibelinterpret.23 Auch sein Verhältnis zum Protestantismus wurde mehrfach untersucht.24 Im Gegensatz zu protestantischen Autoren zeigte die römisch-katholische Theologie bislang wenig Interesse an Tolstoj, vermutlich vor allem aufgrund tief greifender Unterschiede im Verständnis der Kirche.25 Untersuchungen zu Tolstojs Religion kommen seit einigen Jahren vor allem aus der Literaturwissenschaft.26 Hervorgehoben seien hier die Publikationen der amerikanischen Slavisten David Matual und Richard Gustafson27 sowie die Dissertation des französischen Slavisten Nicolas Weisbein, L’évolution religieuse de Tolstoï (Paris 1960). Letztere bietet anhand von Tolstojs dichterischen und theologischen Schriften eine umfassende Darstellung seiner religiösen Biografie.28 Theologische Fragen werden außerdem von der norwegischen Russistik untersucht29 und in Publikationen über »Tolstoj und Gandhi« gestreift.30 In philosophischen Fachzeitschriften werden vereinzelt Themen wie »Tolstoj und Wittgenstein«, »Tolstoj und Schopenhauer« beleuchtet.31 2008 legte die amerikanische Slavistin Inessa Medzhibovskaya eine Studie vor, in der sie die Entwicklungsgeschichte von Tolstojs philosophisch-religiösem Projekt im Kontext religionsgeschichtlicher und philosophisch-literarischer Strömungen und Entwicklungen der Epoche untersucht.32 Schließlich hat das Jubiläumsjahr 2010 das Interesse am theologischen und philosophischen Denken Tolstojs neu belebt: Martin Tamcke legt eine »spirituelle Biographie« Tolstojs vor,33 Jan Rohls würdigt Tolstoj als Propheten eines neuen Christentums34 und Holger Kuße untersucht aus linguistischer Perspektive Tolstojs »Sprache der Weisheit«.35

Tolstoj als theologischer Denker?

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Die vorliegende Publikation will vor allem den späten Tolstoj als ernstzunehmenden religiösen und theologischen Denker rehabilitieren. Aus der enormen Masse seiner Traktate, Briefe und literarischen Werke mit theologischer Relevanz haben die Herausgeber jene Texte ausgewählt, die Tolstojs Position am deutlichsten wiedergeben. Die vorgestellten Quellen sollen nicht nur die Spannbreite von Tolstojs Interessen erkennbar machen, sondern auch einen Einblick in die narrative und rhetorische Aufbereitung seiner religiösen Suche bieten. Anschließend wird in einzelnen analytischen Beiträgen Tolstojs intensive Auseinandersetzung mit religiös-philosophischen und konfessionellen Fragen dargestellt. Auch hier zeigt sich, wie enzyklopädisch Tolstojs Lektüre war und wie intensiv er sich mit fremden Gedankenentwürfen auseinandersetzte. Schließlich wird Tolstojs Rezeption in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts skizziert. Seine Entwürfe wurden von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Ludwig Wittgenstein, Rudolf Steiner oder Mahatma Gandhi diskutiert. Sie haben auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren. Gerade die Erfahrungen des noch jungen 21. Jahrhunderts zeigen, wie blutig die Trennlinien zwischen den Religionen sein können und wie sinnlos alle Versuche einer militärischen Eindämmung religiöser Konflikte ausfallen.

Tolstoj als theologischer Denker? Tolstojs theologisches Denken ist nie gebührend gewürdigt worden und stellt nach wie vor eine Herausforderung dar. Zwar liegen zu Teilaspekten verdienstvolle größere Untersuchungen vor, doch präsentieren sie großenteils unbefriedigende Forschungsergebnisse, die widersprüchlicher nicht sein könnten: So gilt Tolstoj bald als Nichtchrist, bald als Urchrist, bald als Pantheist, bald als judaistischer Monotheist, bald als Quasi-Buddhist, bald als Protestant, bald als Rationalist, bald als Mystiker, bald als Nihilist, bald als Maximalist, bald als Idealist, bald als Realist, bald als Genie, bald als Dilettant, bald als finsterer Asket, bald als Freigeist und Aufklärer. Solch bunte Befunde spiegeln vor allem die Volatilität von Tolstojs Denken und zeigen, dass sich seine Ansichten nicht in ein theologisches oder ethisch-religiöses System pressen lassen. Allen synkretistischen Zügen zum Trotz sind die theologischen Entwürfe Tolstojs durchaus originell, und sie verlangen nach anderen als den bisher gewählten Herangehensweisen. Aber handelt es sich wirklich um dezidiert theologische Entwürfe oder eher um nicht genauer zu qualifizierende religiöse Schriften? Die Herausgeber sprechen bewusst von Tolstojs theologischen Schriften und theologischen Traktaten aus den letzten drei Jahrzehnten seines Schaffens und

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Einleitung

gebrauchen dabei die Begriffe Theologie und theologisch nicht mit Anführungszeichen im uneigentlichen Sinn wie manche russische Autoren.36 Das bedarf der Begründung. Tolstojs Traktate, die teils biblisch-exegetische, teils kirchlich-dogmatische, teils religiös-philosophische, teils sozial-ethische Fragen behandeln, sind hinsichtlich ihrer Gattung und Fachrichtung schwer unter einen Nenner zu bringen. Oft werden sie unter den Sammelbezeichnungen religionsund gesellschaftskritische Schriften, religiös-ethische oder religiös-philosophische Werke zusammengefasst. Wir bezeichnen sie generell als theologische Traktate oder Werke, nicht nur weil sich darunter Schriften zur Bibelexegese und zur dogmatischen Theologie befinden, sondern weil sie fast alle (die sozialkritischen Flugschriften eingeschlossen) theologische Implikationen aufweisen. Nicht selten werden Tolstojs Entwürfe zu Kirche und Religion – entsprechend der orthodoxen und römisch-katholischen Terminologie – der Laientheologie zugeordnet (oder, um den kirchlich konnotierten Begriff der Theologie zu vermeiden, der Religionsphilosophie). Diese Zuordnung ist insofern zutreffend, als es sich hier weder um theologische Entwürfe eines akademisch geschulten oder positionierten Theologen handelt noch um die eines Klerikers. Da der Begriff Laientheologie aber auch im Rahmen eines Dualismus Klerus – Laien gebraucht wird, der in der theologischen Lehre von der Kirche, der Ekklesiologie, umstrittenen ist und zudem oft einen pejorativen Beiklang hat, wird er von den Herausgebern im vorliegenden Zusammenhang vermieden. Dies umso mehr, als Tolstoj nicht einer Kirche angehören wollte, die sich in Klerus und Laien gliedert, und zumal er sich selbst weder im ekklesiologischen Sinne als Laie verstanden hat, der einem Klerus in seinem theologischen Schaffen Rechenschaft schuldig wäre, noch als theologischer Laie im Sinne eines Amateurs ohne theologische Bildung. Tolstojs religiöse Schriften werden stattdessen in dieser Publikation als Niederschlag seines theologischen Denkens bezeichnet, und zwar im Sinne einer Theologie, die als intuitive, analytische oder künstlerische Auseinandersetzung mit den Quellen und der Praxis des religiösen, namentlich des christlichen Glaubens außerhalb kirchlicher Bekenntnisgebundenheit steht, aber selbst aus der Praxis namentlich des christlichen Glaubens kommt und zu ihr führen will. Dieser weite Theologiebegriff bedarf der Erläuterung, da er für die abendländische Denktradition ungewöhnlich ist. Christliche Theologie hat sich bis ins hohe Mittelalter nicht, und seitdem in weiten Teilen nicht in erster Linie als akademische Disziplin verstanden. Entstanden ist sie in den ersten Jahrhunderten der Alten Kirche als intuitives und kritisches Verstehen der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus. Dieses Verstehen setzt den glaubenden und persönlich betroffenen Umgang mit der Offenbarung voraus und hat zum Ziel, mittels denkerischer Anstrengung den christlichen Glau-

Tolstoj als theologischer Denker?

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ben zu erfassen und zu vertiefen und, wo im Streit der Meinungen nötig, zu korrigieren. Im engeren Sinn bezeichnete Theologie in der Alten Kirche die Lehre von Gott im Unterschied zur Lehre vom Menschen, der geschaffenen Welt usw. Alle diese altkirchlichen Konnotationen von Theologie treffen auf das Denken und die Schriften Tolstojs zu, auch auf seinen sehr innovativen, ja, revolutionären Umgang mit der Bibel als dem schriftlichen Zeugnis der göttlichen Offenbarung in Christus. Darüber hinaus wird man Tolstoj gerade aus dem traditionellen Theologieverständnis der östlichen Orthodoxie heraus als Theologen bezeichnen dürfen. Folgende Eckpunkte orthodoxen Verständnisses christlicher Theologie kann man auch für Tolstojs Denken geltend machen: 1. In orthodoxer Theologie haben Glaubenssätze (Dogmen) nicht die alles überragende Hauptrolle. Orthodoxe Theologie definiert sich als Akt des Gotteslobes – wie der orthodoxe Gottesdienst, die Liturgie. 2. In der orthodoxen Theologie hat die negative Theologie eine lange Tradition, welche die Undefinierbarkeit und Unaussagbarkeit Gottes zu seinen Wesenseigenschaften zählt und ein Gegengewicht zu den positiven dogmatischen Aussagen über Gott bildet. 3. Die persönliche Gotteserfahrung des Einzelnen – allerdings immer im kirchlichen Rahmen erfolgend – ist in der orthodoxen Theologie Grundlage seiner Aussagen über Gott. 4. Theologie ist zuerst eine spirituelle, erst dann eine akademische Disziplin. Besonders als monastische Theologie, die einen Großteil orthodoxer Theologie ausmacht, hat sie eine mystische Komponente. Dort wird Theologie teilweise als Bezeichnung für die intuitive und unmittelbare Gotteserkenntnis nach längerer Kontemplation verwendet.37 5. Theologie als kirchlich eingebundene Disziplin hat den Anspruch, das alltägliche Leben derer, die vom theologischen Denken erreicht werden, effektiv zu prägen. Sie ist von daher stets praktische Theologie. 6. Christliche Theologie in diesem umfassenden Sinn einer persönlichen Lebensdisziplin soll nach einer speziellen Tradition der östlichen Orthodoxie zur allmählichen Vergöttlichung des Menschen, der sie betreibt, führen, d.h. den Menschen immer vollkommener in der Befolgung der Gebote Christi machen und ihn seinem ewigen Heil näher bringen. Diese Charakteristika eines spezifisch orthodoxen Theologieverständnisses sind in der einen oder anderen Form bei Tolstoj wieder zu finden, wie die einzelnen Artikel im zweiten Teil dieses Buches zeigen. Andererseits gibt es wichtige Aspekte orthodoxer Theologie, die Tolstoj strikt abgelehnt hat, vor allem die Gebundenheit der Auslegung der Bibel an die apostolische kirchliche Tradition und deren Überwachung durch orthodoxe Bischöfe als Hü-

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ter der apostolischen Tradition sowie die Beachtung der kirchlichen Tradition in Liturgie und Frömmigkeit als weiterer Quelle des theologischen Denkens. Aber seine Frontstellung gegen die kirchlich gebundene Theologie und diejenige der Theologischen Akademien der Russischen Orthodoxen Kirche seiner Zeit im Besonderen darf nicht die breite Einbindung seines theologischen Denkens in die Muster altkirchlicher und östlich-orthodoxer Theologie in den Hintergrund rücken. Dem entspricht, dass gerade russische Denker, welche die genannten geistesgeschichtlichen Zusammenhänge kennen, nämlich Religionsphilosophen wie Sergej Bulgakov, Lev Sˇestov, Vladimir E˙rn, Michail Novoselov, Vasilij Rozanov und Fedor Stepun von Tolstojs »theologischen Werken« (bogoslovskie soˇcinenija resp. bogoslovskie trudy) bzw. seiner »Theologie« (bogoslovie) sprechen.38 Die Inhalte der Theologie Tolstojs, die zur öffentlichen Feststellung seines Abfalls vom orthodoxen Glauben durch den Heiligen Synod der Russischen Orthodoxen Kirche führten, sprechen nicht gegen die Charakterisierung seines Denkens über Gott, die Kirche und die Welt als theologisches Denken. Sie sind zwar in der Tat nach traditionellen Maßstäben unorthodox und in höchstem Maße revolutionär für sein orthodoxes Umfeld. Jedoch ist Kirchenkritik auch in der theologischen Tradition der Orthodoxie ureigenste Sache der Theologie, und das Gleiche gilt für Kritik am Gottesbegriff theologischer Schulen. Nur in ihrer Radikalität, in ihrem Umfang, in ihrer Schroffheit und Unversöhnlichkeit ist Tolstojs Kirchen- und Theologiekritik für die Orthodoxie ungewöhnlich, die Tatsache fundamentaler Kritik als solche ist es nicht. Insofern ist es keine abendländisch-protestantische Verengung der Perspektive, wenn wir Tolstoj als theologischen Autor betrachten und untersuchen.

Genres der narrativen Theologie Tolstoj gilt in erster Linie als Epiker. Er hat in seiner Jugend aber auch epigonal-romantische Gedichte verfasst; außerdem ist er Autor einiger bekannter Theaterstücke. Für die Präsentation seines religiösen Programms hat Tolstoj alle Genreregister gezogen, die ihm zur Verfügung standen. Auffällig ist die hohe Rekurrenz persönlich adressierter Textsorten: Appell, Brief, Sendschreiben. Gerade die hohe Sorgfalt, mit der er die auf ihn einbrechende immense Korrespondenz bewältigte, zeugt von der Wichtigkeit der persönlichen Kommunikation in seinem Selbstverständnis. Er beantwortete viele Briefe persönlich, bisweilen mit erstaunlicher Ausführlichkeit. Mit besonde-

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rer Aufmerksamkeit bedachte er Zuschriften von ausländischen Korrespondenten, die sich für seine religiösen Ideen interessierten. In der Hoffnung, seinem Programm weltweit Nachachtung zu verschaffen, wiederholte er unermüdlich seine zentralen Glaubenspunkte: Das Leben ist Gott, Gott ist im Menschen, das Böse darf nicht mit Gewalt bekämpft werden, staatliche, gesellschaftliche und kirchliche Institutionen bringen nur Betrug und Verbrechen hervor, persönliches Eigentum führt zu Habgier und Egoismus. Als Ziel schwebte Tolstoj die brüderliche Vereinigung der Menschheit im Zeichen dieser Ideale vor. Deshalb verhielt er sich auch äußerst skeptisch gegenüber den Tolstojanern, weil sie in seinen Augen der religiösen Zersplitterung nur weiter Vorschub leisteten, indem sie sich zu einer neuen Sekte formierten.39 Tolstoj handelte nur konsequent, wenn er der privaten Korrespondenz mit einzelnen Personen den Vorzug vor der Organisation einer neuen konfessionellen Gruppierung gab. Die Funktion des religiösen Briefes veränderte sich indes über die Jahre. Die frühe Korrespondenz mit der Tante Alexandrine diente vor allem der Selbstreflexion über religiöse Dinge. Tolstoj dozierte hier noch nicht, sondern erklärte seiner Vertrauten die theologischen Dilemmata, die ihn umtrieben. Auch in den ausgedehnten Briefwechseln mit den Freunden Afanasij Fet und Nikolaj Strachov in den krisenhaften 1870er Jahren experimentierte er mit einer lebensphilosophischen Argumentation und entwarf diskursive Versatzstücke, die später in seine programmatischen Texte Eingang fanden.40 Eine Wende bringt die Beichte, die eigentlich dem Genre des offenen Briefs zugerechnet werden muss. Der theologische Gehalt dieses Werks ist letztlich zweitrangig. Tolstoj bündelt hier eigentlich nur jene religiösen Gedanken, die er bereits seit seiner Jugend entwickelt hat.41 Viel wichtiger ist die Beichte als Sprechakt, in dem Tolstoj seine eigene Umkehr als Vorbild für die Leser darstellt.42 Die meisten Briefe, die Tolstoj nach der Beichte geschrieben hat, folgen demselben rhetorischen Muster, das gewissermaßen das Ideal einer religiösen Vereinigung der Menschen im Rahmen herrschaftsfreier Kommunikation vorwegnimmt. Tolstoj dankt dem Korrespondenten für seine Zuschrift und erklärt ihn so zu einem gleichwertigen Autor. Dann leitet er zu einem Bescheidenheitstopos über und vermittelt dem Briefpartner, den Eindruck, auf einer Ebene mit ihm zu stehen. Dieser Mechanismus funktioniert nicht nur nach unten, vom berühmten Grafen zum Ratsuchenden, sondern auch nach oben, zum Monarchen. So schreibt Tolstoj am 8. März 1881 an Alexander III.: »Ich werde nicht in dem Ton schreiben, in dem man gewöhnlich an Herrscher schreibt, in jenem unterwürfigen und heuchlerischen gedrechselten Stil, der Gefühle wie Gedanken nur verschleiert. Ich will einfach schreiben, von Mensch zu Mensch. Mein wahres Gefühl der Achtung für Sie, als Mensch wie als Zar, wird ohne solche Ausschmückungen deutlicher sichtbar

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werden«.43 Im Hauptteil seiner Briefe erklärt Tolstoj in der Regel noch einmal geduldig diesen oder jenen Punkt seiner religiösen Überzeugungen. Den Abschluss bietet eine unzeremonielle Grußformel, durch die er seine Verbundenheit mit dem Adressaten zum Ausdruck bringt. Jeder einzelne Briefschreiber war für Tolstoj ein kleiner Beweis der Wirkmächtigkeit seiner Anschauungen, und deshalb scheute er keine Mühe, diese potentiellen Multiplikatoren zu unterstützen. Welchen immensen Aufwand Tolstoj in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens mit der persönlichen Korrespondenz trieb, wird nur schon an deren schierem Umfang deutlich: In der 90-bändigen Gesamtausgabe finden die Briefe der Jahre 1844–1879 in vier Bänden Platz, während die Schreiben der folgenden Jahre 26 Bände füllen. Ergänzt wurde diese epistolarische Schwerstarbeit durch ein publizistisches Großprojekt, dem Tolstoj in seinem letzten Lebensjahrzehnt viel Zeit und Energie widmete. Er wollte seine Ideen mit Lesebüchern unter das Volk bringen. Dabei konnte er auf Erfahrungen aus seinen pädagogischen Experimenten auf Jasnaja Poljana in den 1860er und 1870er Jahren zurückgreifen. Für seine Schule hatte er selbst Lesefibeln entworfen, denen er höchste Bedeutung beimaß. Nach der Beichte richtete sich Tolstoj mit diesem Genre auch an Erwachsene. Um nachzuweisen, dass Denker, Schriftsteller und Weise aller Kulturen und Epochen dasselbe wie er gepredigt hätten, stellte er Anthologien mit eigenen und fremden Aphorismen und Prosastücken zusammen. Auf diese Weise versuchte er, die wichtigsten Werke der religiösen Literatur zu einem einheitlichen Text zu verbinden, der als eine Art Handbuch zum richtigen Leben dienen könnte. Dabei wurden die Aphorismen in einem Kalender nach Daten geordnet und dem Leser ein bestimmtes Tagespensum auferlegt (so in der Anthologie Für jeden Tag, 1907–1910). Entsprechend seiner kunstkritischen Ästhetik bevorzugte der späte Tolstoj eine formelhafte Darlegung der Wahrheit. Zwar hatte er mit seinen Volkserzählungen auf die Wirkung einer narrativen Theologie gesetzt, doch sah er in der künstlerischen Ausgestaltung von Glaubensinhalten auch das Risiko einer Verfälschung. Einen religiösen Text, der nicht unmittelbar verständlich war, befand er für ungültig. Sogar die Bibel erschien ihm verbesserungsbedürftig, weshalb er 1880/81 eine eigene Evangelienharmonie anfertigte. Tolstojs Anspruch lag darin, die biblische Wahrheit so zu präsentieren, dass sie unmittelbar, ohne weitere Interpretation von Priestern, Theologen oder Kirchenfürsten aufgenommen werden konnte. Besonders auffällig ist dabei die volksnahe Lexik: Kirchenslavische Wörter werden konsequent durch russische ersetzt.44 Damit wollte Tolstoj den Wirkungskreis seiner Evangelienharmonie so weit wie möglich ausdehnen und einem wenig gebildeten Publikum das Verständnis dieses Textes erleichtern.

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In der Schrift Mein Glaube (1883/84) insistierte Tolstoj erneut auf der unmittelbaren Verständlichkeit der religiösen Wahrheit, die gar keine theologische Auslegung erfordere: »Nicht auslegen will ich Christi Lehre! Ich will nur erzählen, wie mir das, was in ihr einfach, klar und verständlich, unzweifelhaft und an alle Menschen gerichtet ist, klar wurde, und wie das, was mir klar geworden ist, meine Seele umgewandelt und mir Frieden und Glück gegeben hat. Nicht auslegen will ich Christi Lehre; nur eines möchte ich: verhindern, dass sie ausgelegt wird«.45 In diesem programmatischen Bekenntnis zeigt sich auch die innere Widersprüchlichkeit von Tolstojs Hermeneutik: Auf der einen Seite ist er zuversichtlich, die Wahrheit des biblischen Textes durch eine Nacherzählung herauspräparieren zu können, auf der anderen Seite glaubt er, dass bei dieser narrativen Reduktion auf das Verständliche keine Auslegung stattfinde. Die Legitimation für diese kühne Operation findet Tolstoj in einer Apotheose des Verstehens. Nur ein verstandener Glaubensinhalt kann auch wahr sein. Deshalb übersetzt er den berühmten Anfang des Johannesevangeliums ganz in seinem eigenen Sinne. Der »Logos« wird bei ihm zum »Verständnis des Lebens«: »Im Allgrund und Allbeginn ward das Verständnis des Lebens. Und das Verständnis des Lebens trat an Gottes Stelle. Das Verständnis des Lebens ist Gott«.46 An die Stelle der Autorität des biblischen Textes tritt das Wahrheitskriterium der Verständlichkeit. Dunkle, komplizierte Stellen müssen neu erzählt oder – besser noch – weggelassen werden. Insofern ist die narrative Theologie für Tolstoj nur die zweitbeste Möglichkeit. Idealerweise müsste sich die Religion in einigen formelhaften Merksätzen ausdrücken lassen. Eine literarische Präsentation der Religion ist nur dann zu rechtfertigen, wenn man die Menschen nicht anders erreichen kann. Für Tolstoj gab es keinen Zweifel, dass seine eigenen Zusammenfassungen des Evangeliums höher als der Originaltext standen. Den besonderen Zorn des Grafen zog der Evangelist Matthäus auf sich. Der Leibarzt Duˇsan Makovick´y notierte am 22. Oktober 1910 Tolstojs vernichtendes Urteil über den stilistischen Ausdruck der Bergpredigt: »Viel Überflüssiges, mühsam zu lesen. Noch schlechter geschrieben als Dostoevskij. In diesen vier Evangelien hat man weniger Unsinn gefunden als in den übrigen, und man hat sie zur Heiligen Schrift gemacht. Bemerkenswert ist der Götzendienst am wörtlichen Ausdruck des Evangeliums.«47 Der Vergleich der Bergpredigt mit Dostoevskij wird noch deutlicher, wenn man Tolstojs Kritik am Autor von Verbrechen und Strafe kennt. Tolstoj bemängelte in einem Gespräch mit Aleksandr Cinger, dass »Dostoevskij nie schreiben konnte, weil er immer zu viele Gedanken hatte, er musste zuviel sagen.«48 Genau dasselbe trifft aus Tolstojs Sicht auch auf das Evangelium und die Bergpredigt im Besonderen zu. Der Sinn des gesamten Matthäus-Evangeliums lässt sich für Tolstoj auf den Vers Mt 5,39 reduzieren: »Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt«.

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Wie Tolstoj in Mein Glaube ausführt, setzte sein Verständnis der Religion erst ein, als ihm dieser Satz in seiner ganzen Bedeutung klar wurde. Hinderlich für das Verständnis war in Tolstojs Umkehrschluss also das gesamte Wortgeklingel, das den so einfachen Sinn dieses einen Satzes übertönte. Tolstojs narrative Theologie beschreibt einen Bogen, der von der monumentalen Explikation seiner religiösen Ansichten im Levin-Handlungsstrang von Anna Karenina über den autobiografischen Großbrief der Beichte zu den parabelhaften Erzählungen der Leseanthologien und der eigenwilligen Zusammenfassung der Evangelien reicht. Tolstoj reduzierte nicht nur den Umfang, sondern auch die Komplexität seiner religiösen Erzählungen immer weiter, bis er bei der Zusammenstellung einzelner Maximen und Spruchweisheiten anlangte.

Argumentationsstil und Denkfiguren Die Sprache, die Argumentationsweise und die Erzählverfahren der Briefe, der theologischen Traktate und publizistischen Interventionen Tolstojs unterscheiden sich nicht wesentlich von den im engeren Sinne literarischen Texten. Die Abspaltung des »Moralisten« vom »großen Erzähler«, die Tolstoj selbst mit seiner in der Beichte öffentlich zelebrierten Konversion und der radikalen Absage an jegliche Elitenkultur in Was ist Kunst? festgeschrieben hatte und der die kritische Rezeption so dankbar Folge leisten sollte, ist nur auch schon deshalb kaum zu halten, weil sein literarisches Schreiben durchgängig von einem machtvollen moralischen Impuls regiert wird. Schon in den Kaukasus- und Sevastopol’-Erzählungen der 1850er Jahre finden sich ausführliche Überlegungen zu Fragen von Moral und Politik, genauso wie Apostrophen an Gott als höchste, allwissende Instanz des moralischen Urteils.49 Auch die Schilderung der Figuren, ihrer Reflexionen und innersten seelischen Regungen weist stets einen moralischen Unterton auf: Es geht Tolstoj um die Offenlegung der wirklichen Motive, um die »Wahrheit«, wie er am Ende von Sevastopol’ im Mai 1855 pathetisch formuliert. Diese Wahrheit ist für ihn immer das Unverstellte, Echte, Unmittelbare. Es ist eine spezifische Wahrheit, eine Wahrheit der Entlarvung, die den Menschen nur dort als authentisch sieht, wo er vom Ballast der kulturellen Ordnung befreit ist. So befindet der Erzähler im autobiografischen Roman Knabenalter (1854): »[…] [M]einer Meinung nach ist die Divergenz zwischen der Lage eines Menschen und seiner moralischen Tätigkeit das sicherste Zeichen der Wahrheit.«50 Das literarische Verfahren, das Tolstoj zur Offenlegung dieser »Wahrheit« verwendet, ist von dem berühmten russischen Literaturtheoretiker Viktor Sˇklovskij als priem ostranenija (Verfahren der Verfremdung) beschrieben

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worden.51 Tolstoj präsentiert scheinbar Bekanntes aus einer kritischen Perspektive und erreicht bei seinem Leser eine »Deautomatisierung der Wahrnehmung«. Dieses Verfahren liegt ebenso der Darstellung der Oper in Krieg und Frieden zugrunde wie der Analyse von Wagners Siegfried im Traktat Was ist Kunst?, ebenso der Schilderung des Gottesdienstes in Auferstehung wie der Analyse der Dogmen und Sakramente in der Untersuchung der dogmatischen Theologie. Dabei ist dieses Verfahren bei Tolstoj, was Sˇklovskij nicht sehen wollte, stets philosophisch-ideologisch motiviert: Es vollzieht sich durch die imaginierte Mimesis des unverfälschten, klaren Blicks des rousseauschen homme naturel – wie ihn Tolstoj in den Kindern und vor allem in den einfachen russischen Bauersleuten erkennen wollte – auf die menschliche Kultur und Zivilisation. Solcherart ihrer symbolischen Voraussetzungen enthoben, wirken die Rituale der Kultur und der Religion als sinnlose und lächerliche Spektakel. Alle sorgfältigen »Manipulationen«, wie sie etwa der Priester während des Gottesdienstes in Auferstehung vollzieht, versperren nur den Blick auf den eigentlichen Sinn – oder eben die Sinnlosigkeit – einer Handlung, eines kulturellen Phänomens, einer Institution. In seinem Schreiben geht es Tolstoj um die Herstellung einer absoluten Transparenz der »Wahrheit«. In der polemischen Auseinandersetzung mit den fremden Texten und kulturell-zivilisatorischen Konfigurationen führt der Weg zur Wahrheit notwendig über die Entlarvung logischer Haltlosigkeiten und innerer Widersprüche. Wo er die eigene Position dagegensetzt, bemüht sich Tolstoj stets, einen direkten Durchblick auf die von ihm vertretene »Wahrheit« sicherzustellen. An erster Stelle steht hier die Beglaubigung durch Erfahrung, und dies kann, wo es um grundlegende Fragen des menschlichen Lebens geht, immer zuerst nur die eigene Erfahrung sein. Das Muster einer induktiven Herleitung der Wahrheit aus den eigenen vortheoretischen Beobachtungen und Empfindungen verbindet etwa die pädagogischen Artikel der selbst gegründeten Zeitschrift Jasnaja Poljana (1862/63) mit den Reflexionen zum Gottesbegriff in der Beichte. Tolstoj bewegt sich in zwei verschiedenen Diskursen: auf der einen Seite der Diskurs der Kultur und des herkömmlichen Schrifttums, in dem die Wahrheit verstellt ist und entlarvt werden muss, und auf der anderen Seite die eigenen Schriften, die gemäß dem Anspruch ihres Autors den direkten Zugriff auf die in ihnen formulierte Wahrheit erlauben.52 Der angestrebten absoluten Transparenz seiner »Wahrheit« hilft Tolstoj mit einem reichen Arsenal an rhetorischen Mitteln nach. Ein charakteristisches Merkmal seines Stils sind die zu Steigerungsketten geformten Aufzählungen. Oftmals bestehen diese aus einer Reihung von rhetorischen Fragen, die in ihrer offenen Adressierung die Dringlichkeit einer tua res agitur-Situation provozieren. Die Steigerungsketten gipfeln vielfach in Hyperbeln, die buchstäblich aus dem Paradigma der vorher genannten Elemente ausbre-

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chen und den eigentlichen Hauptgedanken vermitteln. Eine anaphorische Verknüpfung der Satzperioden sorgt für Eingängigkeit und unterstreicht den didaktischen Anspruch der Texte. Dieser Stil der Dringlichkeit und Entlarvung, angereichert mit Elementen des Sarkasmus, der Ironie und der Satire, weicht, wo es um die Herausstellung der eigenen Wahrheit geht, in der Regel einer ruhigen, in einfachem Satzbau gehaltenen Rede. Der apodiktische Tonfall signalisiert: Hier geht es um Wahrheiten, die keiner weiteren Begründung bedürfen. Allenfalls werden zur Verdeutlichung einfache parabelhafte Vergleichskonstellationen oder ein gewissermaßen katechetischer Wechsel aus Frage und Antwort eingeschaltet. Das natürliche Ziel der genannten Tendenzen lässt sich dann etwa in den Sprüchesammlungen betrachten, wo Tolstoj zwischen die zitierten Weisheiten der großen Philosophen und Religionsdenker eigene aphoristisch zugespitzte Lehrsätze einschaltet und dabei in der Formulierung einfachster Wahrheiten auch vor Banalitäten nicht zurückschreckt. Ein stilistisches Vorbild sind hier die Lehrsätze und Gleichniserzählungen Jesu. War in der Beichte wie auch in den epischen Großprojekten bis hin zu Auferstehung noch die Biografie das Maß für die Entwicklung eines exemplarischen Läuterungsgeschehens, so fragmentarisiert der späte Tolstoj die erzählerischen Sequenzen zunehmend: Nun sind es nur noch einzelne, punktuelle narrative Konstellationen, anhand derer sich die Perspektive auf die moralische Wahrheit, auf die Dimension des Nicht-Irdischen, des religiösen Bewusstseins öffnet. Der Sinn, nach dem Tolstoj zeitlebens suchte, lässt sich nicht in einer Erzählung immanentisieren: Er ist immer ein Bruch, der den Blick auf eine andere Dimension erlaubt. Daher ist die angemessenste Form der Aphorismus, die Kurzerzählung und natürlich die Tagebuchaufzeichnung – denn hier müssen nicht durch fiktionale Konstruktion Zusammenhänge simuliert werden, vielmehr kann sich das Schreiben ganz auf das punktuelle Durchscheinen der Wahrheit konzentrieren. Der einfache Soldat Platon Karataev in Krieg und Frieden, der dem Romanhelden Bezuchov als »runde und ewige Verkörperung des Geistes der Einfachheit und Wahrheit« erscheint, ist dermaßen authentisch und präsent, dass er selbst auf Aufforderung nicht zu wiederholen vermag, was er noch vor einigen Augenblicken geäußert hat. Oftmals sagt er sogar das genaue Gegenteil des zuvor Verlautbarten, aber »das eine wie das andere war richtig«. Als solcherart selbstvergessener Aphoristiker gibt er das Idealmodell für das Schreiben Tolstojs in den letzten Schaffensjahren ab. Das zentrale Element in Tolstojs Argumentation sind Gegensatzkonstellationen: »rein« und »schmutzig«, »geistig« und »körperlich« bzw. »tierisch«, »gut« und »böse«, »wahr« und »falsch«, »Glaube« und »Aberglaube« – dies sind nur einige der grundlegenden Oppositionen, die seine theologischen Traktate durchziehen. Oftmals vertauscht Tolstoj die Positionen ironisch,

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um die eigentlich perverse Struktur einer schon lange bestehenden und allgemein für »richtig« befundenen Situation zu entlarven. Besonders markant ist dabei das Mittel der ironischen Periphrase, einer nachgestellten Begriffserläuterung, die die Diskrepanz zwischen Wort und bezeichnetem Konzept umso klarer hervortreten lässt. Die Pointe besteht dabei immer in der Umkehrung einer geläufigen Sichtweise: So wird etwa die gegenwärtige politische »Ordnung« zur Unordnung erklärt, weil in ihr die moralischen Werte pervertiert würden. Holger Kuße hat eine überzeugende Systematisierung für dieses Denken in Gegensätzen vorgeschlagen.53 Als Grundopposition für alle weiteren argumentativen Operationen dient die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung. Tolstoj erblickt seine eigentliche philosophische Leistung in der Erschließung dessen, was »wahr« ist. Das entscheidende Kriterium ist für ihn dabei die allgemeine Einsehbarkeit dieser »Wahrheit«, die aber in der Regel gerade nicht mit einer traditionellen Wahrnehmungskonvention zusammenfällt. Mehr noch: Die Wahrheit der gesellschaftlichen Institutionen ist eine absichtliche Täuschung, die es in einem hermeneutischen Akt zu entlarven und zu überwinden gilt. Die suchende Verstandestätigkeit des Menschen führt Tolstoj auf einen zweiten Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Zwar ist der Mensch in sein Dasein hineingeworfen, er kann aber seine göttliche Mission in sich selbst erkennen. Tolstoj propagiert eine Überwindung dieses Gegensatzes in der mystischen Denkfigur des göttlichen Funkens, der dem Menschen innewohnt. Die Göttlichkeit des Menschen bezieht sich aus Tolstojs Sicht jedoch ausschließlich auf seinen Geist, das Fleisch mit seinen Trieben und Bedürfnissen wird abgelehnt. Der unversöhnliche Gegensatz von Geist und Fleisch wird überlagert vom komplementären Gegensatz von Mann und Frau. Der Mann ist aus Tolstojs Sicht zwar zu geistiger Arbeit berufen, muss sich aber ständig der Anfechtungen des Fleisches erwehren – und Agentin dieser Versuchung ist die Frau, die in den späten Erzählungen immer wieder als Teufel apostrophiert wird. Kuße sieht die vier Gegensätze in einer letzten Opposition aufgehoben: Tod und »wahres« Leben fallen in einem ultimativen Erkenntnisakt in eins. Der Tod ist nichts anderes als das Erwachen aus einem falschen Leben. Er scheidet die Wahrheit von der Täuschung, er führt den Menschen von seiner finsteren Existenz zum Licht, das in ihm leuchtet, und befreit ihn von der eigenen Fleischlichkeit, die nicht nur durch die Sexualität, sondern auch durch körperliche Beschwerden abgewertet wird. Paradigmatisch lässt sich dieser Vorgang in der berühmten Schlusspassage der Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc ablesen: »›Und der Tod, wo ist er?‹ Er suchte seine frühere Todesangst und fand sie nicht. Wo ist er? Welcher Tod? Er hatte überhaupt keine Angst, denn es gab keinen Tod. Anstelle des Todes war Licht.«54

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Tolstoj war sich der Problematik des Denkens in Oppositionen durchaus bewusst. Das Gegenüberstellen von »Gut« und »Böse«, von »Wahr« und »Falsch« eröffnete eine große Restkategorie von negativen Phänomenen, die eigentlich in seiner universalen Heilsvision keinen Platz hatten. Deshalb verwendete er diesen Argumentationsstil eigentlich nur im polemischen Tagesgeschäft, wenn es eine bestimmte Position zu bekämpfen galt. Möglicherweise liegt hier auch der tiefere Grund dafür, dass Tolstoj bis zuletzt an seiner literarischen Tätigkeit festhielt, obwohl er diese ja öffentlich immer wieder verworfen hatte. Denn letztlich verfügt der literarische Diskurs über höhere Wahrheitschancen, indem er neben dem schwarzweißmalerischen Denken auch sich gegenseitig logisch ausschließende Positionen zulässt. Kuße entdeckt in Tolstojs spätesten Werken eine weitere Möglichkeit, Wahrheit jenseits aller Partikularismen und außerhalb der von ihm selbst verpönten Ästhetisierung auszudrücken. Vor allem in seinen Spruchsammlungen verwendet Tolstoj eine »Sprache der Weisheit«, die nicht auf dem Ausspielen von rationalen Argumenten beruht, sondern eine fast mystische Suggestionskraft entfaltet. Bereits 1894 hatte Tolstoj das Journal intime des Genfer Philosophen Henri-Frédéric Amiel gepriesen, weil es jenseits aller Gattungsimperative als Modell eines authentischen Schreibens gelten dürfe: »Denn ein Schriftsteller kann uns nur in dem Maße teuer und nützlich sein, wie er uns seine innere Seelenarbeit eröffnet, selbstverständlich aber nur dann, wenn diese Arbeit neuartig ist und nicht bereits früher geleistet wurde. Was auch immer er geschrieben haben mag: ein Drama, eine wissenschaftliche Abhandlung, eine Erzählung, einen philosophischen Traktat, ein lyrisches Gedicht, eine Kritik, eine Satire – am Werk des Schriftstellers zählt für uns einzig diese innere Arbeit seiner Seele, und nicht jenes architektonische Gehäuse, dem er meistenteils, vielleicht sogar immer seine Gedanken und Gefühle einpasst, wobei er sie auch noch entstellt. Alles, was Amiel in eine vorgegebene Form gegossen hat: Vorlesungen, Traktate, Gedichte, all das war tot; sein Tagebuch jedoch, in dem er, ohne an die Form zu denken, einzig mit sich selber sprach, ist voller Leben, Weisheit, Lehrhaftigkeit, Trost, und es wird für immer eines der besten Bücher bleiben, die uns unverhofft hinterlassen wurden von Menschen wie Marc Aurel, Pascal, Epiktet.«55

Mediale Missionierung Spätestens nach dem triumphalen Erfolg seiner großen Romane war Tolstoj zu einer öffentlichen Figur geworden. Selbstbewusst warf der berühmte Schriftsteller sein literarisches Prestige in die Waage, um auch seinem religiösen Projekt zu einer ähnlichen Wirkung zu verhelfen.

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Er sorgte dafür, dass sein Publikum ihn nicht als Graf, sondern als einfachen Landarbeiter wahrnahm. Deshalb ließ er sich bereits 1873 von Nikolaj Kramskoj im Bauernkittel porträtieren. Anfang der 1880er Jahre traf Il’ja Repin den Grafen in Moskau und fertigte eine ganze Reihe von Porträts an, in Öl und Kohle, als Aquarell oder Bleistiftzeichnung. Einzelne dieser Porträts wurden als Chromolithografien vervielfältigt und verkauften sich schnell. Repin ist wesentlich verantwortlich für die bekannte Ikonografie des bärtigen Greises Tolstoj, der entweder in einem kargen Gewölbezimmer seiner literarischen Tätigkeit nachgeht oder seinen Acker pflügt. Tolstoj ist hier allerdings nicht einfach Gegenstand der Darstellung, sondern Origo einer Imagekampagne. Die sorgfältige Pflege des Autorbildes gehörte zu Tolstojs Publikationsstrategien: Die religiösen Traktate sollten durch eine makellose Lebensführung beglaubigt werden. Es ging Tolstoj dabei vor allem um den Nachweis, dass die Wechsel seiner Heilsversprechungen durch die biografische Wahrheit gedeckt sind. Deshalb verhielt sich Tolstoj auch gegenüber den neuen Medien sehr aufgeschlossen. Im Jahr 1909 ließ er sich beim Vorlesen seiner Leseanthologien auf Grammophon aufzeichnen. Die Schallplatten mit Tolstojs Aussprüchen in vier Sprachen (Russisch, Französisch, Englisch, Deutsch) wurden in ganz Europa verkauft und verbreitet. Auch das noch junge Kino versuchte den berühmten Schriftsteller vor die Kamera zu bekommen.56 Eine Gelegenheit bot sich im Jahr 1908 anlässlich des achtzigsten Geburtstags. Ein Petersburger Kinobesitzer sponserte eine Reise nach Jasnaja Poljana, wo der kranke Schriftsteller auf der Veranda seines Hauses gefilmt wurde. Im Jahr darauf wurden noch zwei weitere kurze Filme gedreht, die ihn auf einer Bahnstation und in Moskau zeigen. Die kurzen Aufnahmen wurden mit Erfolg in vielen russischen Städten gezeigt. Tolstoj war zurückhaltend mit seinen Auftritten, während seine Frau die Arbeit der Kameraleute nach Kräften unterstützte, weil sie ihren berühmten Mann auch in Alltagssituationen verewigt sehen wollte. Der Schriftsteller Leonid Andreev überredete allerdings Tolstoj bei einem Treffen am 21. April 1910, die Massenwirkung des Kinos auch für die Verbreitung seiner eigenen Ideen einzusetzen. Tolstojs Sekretär Valentin Bulgakov berichtet, wie Tolstoj nach einigem Zögern einwilligte: »Ich habe mich entschlossen, für den Kinematographen zu schreiben. Denn so etwas verstehen die großen Massen, und dazu noch über die nationalen Grenzen hinweg. Und hier kann man nicht vier oder fünf, sondern zehn, fünfzehn Akte schreiben. Aber es braucht natürlich einen Vorleser, der den Text präsentiert. Ohne Text geht es nicht. Ich werde unbedingt etwas schreiben, wenn ich es noch schaffe …«57 Bemerkenswert ist Tolstojs Insistieren auf einer profilierten Autorinstanz, die ja im szenisch erzählenden Film die Ausnahme darstellt. Das erklärende Kommentieren erschien ihm notwendig, wenn es um eine so wichtige Angelegen-

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heit wie die Verbreitung der religiösen Wahrheit ging. Gleichzeitig sah er in der visuellen Darstellung einer Handlung eine viel versprechende Möglichkeit, die Rezeptionschancen seiner Position zu optimieren. Allerdings verselbstständigte sich die Inszenierung von Tolstojs Großprojekt bald: Sein Tod im Jahr 1910 wurde zu einem der ersten Medienereignisse in Russland. Kaum war die Nachricht bekannt geworden, schickten alle russischen Kinofirmen ihre Kameraleute nach Astapovo. Gefilmt wurden die Hinterbliebenen, die Trauerprozession und natürlich die Menschenmassen, die Spalier standen. Gleichzeitig entsandte man auch Kamerateams nach Jasnaja Poljana, wo Tolstojs Pferd, sein Haus, seine Lieblingsorte gefilmt wurden. Allein in den ersten drei Tagen nach der Entwicklung der Negative konnten die beiden führenden Firmen Pathé und Chanˇzonkov über 500 Positivkopien ihrer Filme verkaufen. Neben der ikonografischen Präsenz des Autors spielte die physische Verbreitung von Tolstojs religiösen Schriften eine wichtige Rolle. 1884 gründete sein Mitstreiter Vladimir Cˇertkov den Verlag Posrednik (Der Vermittler), der bis 1925 existierte. In den folgenden Jahren veröffentlichte Tolstoj hier seine Volkserzählungen und religiösen Traktate in billigen Ausgaben mit hohen Auflagen. In den ersten vier Jahren brachte Posrednik etwa 12 Mio. Broschüren unter das lesende Publikum. Zunächst wurden die Ausgaben gratis verteilt, später zu einem sehr niedrigen Preis verkauft (acht Kopeken). Der publizistische Erfolg von Posrednik war nur möglich, weil Cˇertkov einerseits durch die Massenproduktion den Preis der einzelnen Broschüren stark drücken konnte und weil er andererseits eine großzügige Unterstützung von 20000 Rubeln jährlich von seiner reichen Mutter erhielt. Diese Publikationsoffensive bedeutete eine implizite Absage an die etablierten Formen der Literaturrezeption in Russland. Im 19. Jahrhundert wurde der Markt durch eine überschaubare Anzahl »dicker Zeitschriften« dominiert, die die literarischen Geschmacksnormen definierten. Tolstoj versuchte gar nicht, mit diesem Kommunikationskanal zu rivalisieren und wählte ein anderes Zielpublikum. Erfolg setzte er nicht mit dem Applaus der gesellschaftlichen Elite gleich, sondern mit der gezielten Beeinflussung seiner Leserschaft. Letztlich kam es Tolstoj also auf die Verbreitung seiner Ideen an, die sich durch Multiplikatoren über den ganzen Erdball verteilen sollten. Nach dem Tod Alexanders III. (1845–1894), der immer wieder seine schützende Hand über ihn gehalten hatte, geriet Tolstojs Publikationsmaschine ins Stottern. Seine theologischen Traktate wurden von der Zensur verboten und konnten nur von Emigrationsverlagen in Genf (bei M. E˙lpidin)58 oder Berlin gedruckt werden. Eine besondere Rolle spielte Vladimir Cˇertkovs Verlag Svobodnoe slovo im englischen Christchurch, wo nach 1898 auch Tolstojs Handschriften aufbewahrt wurden. Im Zarenreich fanden diese Werke vorerst nur in illegalen Abschriften Verbreitung. Künstleri-

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sche Texte konnten angesichts der Berühmtheit des Autors kaum durch die Zensur verboten werden. Erst im Zuge der durch die Revolution von 1905 ausgelösten gesellschaftlichen Liberalisierung konnten die Traktate in Zeitschriften wie dem Vsemirnyj vestnik und in Werkausgaben erscheinen. Nach der Oktoberrevolution gelang es Cˇertkov, Tolstojs offensive Publikationsstrategie weiter zu verfolgen – gegen den erklärten Widerstand von Tolstojs eigener Familie ging er einen Pakt mit den neuen Machthabern ein. Nach persönlichen Treffen mit Lenin und Stalin organisierte er mit dem sowjetischen Bildungskommissar Anatolij Lunaˇcarskij die Edition von Tolstojs Werken. Für die Bolschewiki war diese Ausgabe ein Prestigevorhaben, mit dem sich die neue russische Regierung vorteilhaft von der Zarenherrschaft mit ihrer Zensur und ideologischen Repression abheben wollte. Cˇertkov ließ sich als entschiedener Gegner der Bolschewiki von rein opportunistischen Überlegungen leiten. Er erblickte im neuen Staat ein mächtiges publizistisches Monopol, das er für die Verbreitung von Tolstojs Ideen instrumentalisieren wollte. Von Anfang an saß Cˇertkov aber am längeren Hebel, weil er den Überblick über Tolstojs gesamten handschriftlichen Nachlass hatte. Diese starke Position äußert sich direkt im Verlagsvertrag vom 2. April 1928, wo es unter dem vierten Punkt heißt: »Der verantwortliche Chefredakteur von L.N. Tolstojs Werken ist V.G. Cˇertkov, in dessen Redaktion der Staatsverlag nicht eingreifen darf. V.G. Cˇertkov wählt die Mitarbeiter der Ausgabe allein aus.« Bereits früher, am 25. November 1925, war es Cˇertkov in einer Sitzung mit Lunaˇcarskij gelungen, die Freigabe des Copyrights durchzusetzen, die an prominenter Stelle direkt nach der Titelei in jedem Band auf russisch und französisch signalisiert wird (»Reproduction libre pour tous les pays«).59 Damit war eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung von Tolstojs Ideen geschaffen. Es ist indes nicht nur der Religionsfeindlichkeit des Sowjetstaats zuzuschreiben, dass der theologische Denker Tolstoj weitgehend unbekannt geblieben ist: Zu zaghaft und allzu sehr beladen mit Vorurteilen hat man sich bisher auf Tolstojs theologische Entwürfe eingelassen. Die Herausgeber

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Einleitung

Anmerkungen 1 f 38; PSS 47: 37. 2 f 234–239; PSS 32: 134–139. 3 Ioann Kronˇs tadtskij, Otvet na obraˇscˇ enie gr. L.N. Tolstogo k duchovenstvu [1903], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra. Liˇcnost’ i tvorˇcestvo L’va Tolstogo v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej, St. Petersburg 2000, 366. 4 N.N. Gusev, Lev Tolstoj protiv gosudarstva i cerkvi. Leo Tolstoi wider Staat und Kirche. Berlin o.J., 15. 5 V.V. Rozanov, Eˇscˇ e o gr. L.N. Tolstom i ego uˇcenii o neprotivlenii zlu [1896]; ders., L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ [1912]; L. Sˇestov, Dobro v uˇcenii gr. Tolstogo i F. Nicˇse. Filosofija i propoved’ [1900]; ders., Jasnaja Poljana i Astapovo [1935]; D.S. Mere zˇ kovskij, Religija L. Tolstogo i Dostoevskogo [1902]; S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo [1908]; ders., Pamjati Tolstogo [1910]; E.N. Trubeckoj, Spor Tolstogo i Solov’eva o gosudarstve [1910]; S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj [1911]; ders., Prostota i oproˇscˇ enie [1912]; N.O. Losskij, Nravstvennaja liˇcnost’ Tolstogo [1911]; N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912]; ders., O religioznom znaˇcenii L’va Tolstogo [1912]; V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo [1912]; F.A. Stepun, Religioznaja tragedija L’va Tolstogo [1922]; I.A. Il’in, O soprotivlenii zlu siloj [1925]. 6 N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, in: ders., Filosofija tvorˇcestva, kul’tury i iskusstva, eingel., zus.gest. u. komm. v. R.A. Gal’ceva, Moskau 1994, Bd. 2, 463. 7 N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet, 466ff; V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, 527; S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj, in: ders., Tichie dumy. Iz statej 1911–1915 gg., zus.gest. u. komm. v. V.V. Sapov, Nachw. v. K.M. Dolgov, Moskau 1996, 240f. 8 N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet, 470f; V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija, 520f. 9 S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj, 238–240; N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet, 479f; G.V. Florovskij, Puti russkogo bogoslovija, Paris 31983, 409. 10 A.V. Men’, »Bogoslovie« L’va Tolstogo i christianstvo, in: L.N. Tolstoj, Cˇetveroevangelie. Soedinenie i perevod cˇ etyrech Evangelij, Moskau 2001, 747–763. 11 Nazarov ist Verfasser des Lehrbuchs Vvedenie v teologiju (Einführung in die Theologie, 2004) und Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Ethik und Religionswissenschaft an der Staatl. Päd. Universität Tula: www.tspu.tula.ru/content/faculties/art [07. 09. 2010]. Die Staatliche Pädagogische Universität (bis 1993: Staatl. Päd. Institut) Tula trägt seit 1958 den Namen Tolstojs. 1996 schuf sie einen unikalen »Lehrstuhl für das geistige Erbe L.N. Tolstojs« (kafedra duchovnogo nasledija L.N. Tolstogo), den die Philologin Julija Archangel’skaja innehat: www.tspu.tula.ru/content/depth/legacy [07. 09. 2010]. 12 V.N. Nazarov, Metafory neponimanija. L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ v sovremennom mire, in: Voprosy filosofii, 1991, Nr. 8, 156. 13 So u.a. auch vom Kunsthistoriker Boris Suˇskov: B.F. Suˇs kov, Kogda my reabilitiruem L’va Tolstogo?, in: Evangelie Tolstogo. Izbrannye religiozno-filosofskie proizvedenija L.N. Tolstogo, Moskau 1992, 3–16. 14 Tolstoj i religija, Moskau 1996 (= Nauˇcnye doklady Moskovskogo tolstovskogo obˇscˇ estva, 5). 15 NEWSru.com 04. 03. 2001 (= www.newsru.com/religy/04mar2001/aleksiy2_bigspeech.html [07. 09. 2010]). Vgl. auch Pravoslavie.Ru 03. 03. 2006 (= www.pravosla-

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vie.ru/news/060303172500 [07. 09. 2010]). Anlässlich von Tolstojs 100. Todestag folgte von Seiten des Moskauer Patriarchats eine erneute Bestätigung der Exkommunikation des »großen Schriftstellers«, der sich selbst von der Kirche getrennt habe: www.pravoslavie.ru/press/42885.htm [19. 11. 2010]. www.samara.orthodoxy.ru/Smi/Npg/041_5.html [07. 09. 2010]. Vgl. z.B. N.M. Minskij, Tolstoj i reformacija [1909], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, 437–444. Vgl.: »Man mag in Tolstojs religiösen Ansichten etwas ›spezifisch Russisches‹ sehen, sie sind aber in stärkstem Maße von der ›liberalen Theologie‹ des Protestantismus beeinflusst« (D. Tschi zˇ ewskij, Zwischen Ost und West. Russische Geistesgeschichte II. 18.–20. Jahrhundert, Reinbek b. Hamburg 1961, 127). Vgl. G. Orechanov, Russkaja pravoslavnaja cerkov’ i Lev Tolstoj. Priˇciny konflikta i ego vosprijatie sovremennikami. Avtoreferat dissertacii na soiskanie uˇcenoj stepeni doktora cerkovnoj istorii, Moskau 2009. Vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 38). Vgl. z.B. K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, Zollikon-Zürich 21957, 491; G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 21985, 15f; M. Honecker, Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin/ New York 1990, 271. J. v. Guenther, Die Literatur Russlands, Stuttgart 1964 (= Die Grossen der Kunst, Literatur und Musik: 2. Russland; 1), 105. L. Ragaz, Du sollst! Grundzüge einer sittlichen Weltanschauung, Ossmannstedt b. Weimar 1904; ders., Die Bergpredigt Jesu, Bern 1945; A. Schweitzer, Kultur und Ethik [1914–17]. Sonderausg. mit Einschluss von »Verfall und Wiederaufbau der Kultur«, München 1960; ders., Predigten 1898–1948, hg. v. R. Brüllmann u. E. Gräßer, München 2001; F. Rittelmeyer, Tolstojs religiöse Botschaft, Ulm 1905; K. Heim, Tolstoj und Jesus, Berlin 1922; E. Blum, Leo Tolstoj, Schlüchtern/Habertshof 1922; K. Holl, Tolstoj nach seinen Tagebüchern, Leipzig 1922; W. Nigg, Der Häretiker in der Ostkirche. Leo Tolstoj, in: ders., Das Buch der Ketzer, Zürich/Stuttgart 1949; W.-A. Hauck, Rudolph Sohm und Leo Tolstoi. Rechtsordnung und Gottesreich, Heidelberg 1950; K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, Zollikon-Zürich 21957; M. Doerne, Tolstoj und Dostojewskij. Zwei christliche Utopien, Göttingen 1969. J. Ackermann, Tolstoj und das Neue Testament. Diss. Leipzig 1927; K. Gaede, Das Schriftverständnis Lev Tolstojs und Fragen seines gesellschaftlichen Bezuges, Diss. theol., Humboldt-Univ., Berlin 1974. L. Müller, Russischer Geist und evangelisches Christentum. Die Kritik des Protestantismus in der russischen religiösen Philosophie und Dichtung im 19. und 20. Jh., Witten-Ruhr 1951; ders., Der Einfluss des Protestantismus auf das orthodoxe Kirchenund Geistesleben, in: E. Benz/L.A. Zander (Hg.), Evangelisches und orthodoxes Christentum in Begegnung und Auseinandersetzung, Hamburg 1952; R.A. Klostermann, Probleme der Ostkirche, Göteborg 1955; F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, Gießen 1959 (= Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe 2: Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, 2). R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten 1937; M. Machinek, Das Gesetz des Lebens? Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, St. Ottilien 1998 (= Moraltheologische Studien. Systematische Abt., 25). Zum Beispiel W. Kasack, Wege zu Gott bei Dostojewskij und Tolstoj, StZ 221, 2003, 173–184; G. Nivat, Tolstoj et le Christianisme, in: S. Graciotti (Hg.), Battesimo delle

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Einleitung terre russe. Bilancio di un millennio, Florenz 1991 (= Civiltà Veneziana Studi, 43), 381–391; M. Aucouturier/M. Sémon (Hg.), Tolstoï philosophe et penseur religieux, Paris 1985 (= Cahiers Léon Tolstoï, 2). D. Matual, Tolstoy’s Translation of the Gospels. A Critical Study, Mellen 1992; ders., The Gospel according to Tolstoy and the Gospel according to Proudhon, in: HThR 75, 1982, 117–128; ders., Echoes of Renan’s Vie de Jesus in Tolstoj’s Soedinenie i perevod chetyrekh evangelii, in: SVTQ 25, 1981, 85–94; ders., Tolstoj’s Gospel as a Polemic with Scientists, Politicians, and Churchmen, in: GOTR 25, 1980, 49–62; R.F. Gustafson, Leo Tolstoy. Resident and Stranger. A Study in Fiction and Theology, Princeton 1986. N. Weisbein, L’évolution religieuse de Tolstoï, Paris 1960. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph, übers. v. U. Hempen, Gernsbach 2001; P. Kolstø, A Mass for a Heretic? The Controversy over Leo Tolstoi’s Burial, in: Slavic Review 60, 2001, 75–95; ders., The Elder at Iasnaia Poliana. Lev Tolstoi and the Orthodox Starets Tradition, in: Explorations in Russian and Eurasian History 9, 2008, 533–554; ders., The Demonized Double. The Image of Lev Tolstoi in Russian Orthodox Polemics, in: Slavic Review 65, 2006, 304–324. J.D. Hunt, Gandhi, Tolstoy and the Tolstoyans, in: H.L. Dyck (Hg.), The Pacifist Impulse in Historical Perspectives, Toronto 1996, 260–277; H.-J. Klimkeit, Gottesreich bei Tolstoj und Gandhi, in: E.H. Schallenberger (Hg.), Religion und Zeitgeist im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982 (= StGG 2), 147–164. I. Somavilla, Spuren Tolstojs in Wittgensteins Tagebüchern von 1914–1916, in: Personen. Ein interdisziplinärer Dialog, Beiträge der Österr. L. Wittgenstein Gesellschaft des 25. Internat. Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg a. W., hg. v. Ch. Kanzian u.a., Kirchberg a.W. 2002, 237–240; N. Bogdanov, Leo N. Tolstoj und Ludwig Wittgenstein oder das Ethische als Grundprinzip, in: P. Kampits/A. Weiberg (Hg.), Angewandte Ethik. Akten des 21. Internationalen Wittgenstein-Symposiums, Wien 1999, 15–22; E.V. Thomas, Wittgenstein and Tolstoy. The Authentic Orientation, in: RelSt 33, 1997, 363–377; H. Hellerer, Tolstojs Kurze Auslegung des Evangeliums und Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus, in: W.L. Gombocz (Hg.), Religionsphilosophie. Akten des 8. Internationalen Wittgenstein-Symposiums, Wien 1984, 164–166; E.B. Greenwood, Tolstoy, Wittgenstein, Schopenhauer, in: Encounter 36/4, 1971; S. McLaughlin, Tolstoy and Schopenhauer, in: California Slavic Studies 5, 1970, 187–245. I. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time. A Biography of a Long Conversion, 1847–1887, Lanham u.a. 2008. M. Tamcke, Tolstoj und die Religion. Eine spirituelle Biographie, Frankfurt a.M. 2010. J. Rohls, Tolstoj und das Christentum, in: ZThk 108, 2011, 165–201. H. Kuße, Tolstojs Sprache der Weisheit. Göttingen 2010. A.V. Men’, »Bogoslovie« L’va Tolstogo, s.o. Anm. 10. So in der Philokalia (russisch: Dobrotoljubie), einer Kompilation monastischer theologischer Texte vom Berg Athos aus dem 18. Jh., die Tolstoj erst sehr spät kennen lernte. S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj [1911], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, 418; L. Sˇestov, Jasnaja Poljana i Astapovo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 139; V.F. E˙rn, Tolstoj protiv Tolstogo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 656; M.A. Novoselov, Otkrytoe pis’mo grafu L.N. Tolstomu [1901], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 378; V.V. Rozanov, L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 434; F.A. Stepun, Religioznaja tragedija L’va Tolstogo, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 457.

Anmerkungen

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39 Vgl. T.L. Suchotina-Tolstaja, Vospominanija, hg. v. A.I. Sˇifman, Moskau 1980, 419. 40 I. Paperno, Leo Tolstoy’s Correspondence with Nikolai Strakhov. The Dialogue on Faith, in: D. Orwin (Hg.), Anniversary Essays on Tolstoy, Cambridge 2010, 96–119. 41 R.F. Gustafson, Leo Tolstoy, xiv. 42 S. Sasse, Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009, 135. 43 f 126; PSS 63: 45. 44 So verwendet Tolstoj etwa »palec« statt »perst« (Finger), »ditjatko« statt »ˇcado« (Kind), »pastuch« statt »pastyr’« (Hirte). Auch die Statisten des Evangeliums werden regelmäßig als »muˇziki« (Bauern), »baby« (Bäuerinnen) oder »rabotniki« (Arbeiter) apostrophiert. Vgl. D. Matual, Tolstoy’s Translation of the Gospels, 40f. 45 PSS 23: 304. 46 PSS 24: 817. 46 D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910. Jasnopoljanskie zapiski, hg. v. der Akad.d.Wiss., Bd. 4, Moskau 1979 (= Literaturnoe nasledstvo, 90), 392. 48 A.V. Cinger, U Tolstych, in: Tolstoj v vospominanijach sovremennikov, hg. v. N.N. Gusev u. V.S. Misin, 2 Bd., Leningrad 1955, Bd. 1, 389–398, 391. 49 Vgl. L. Knapp, The Development of Style and Theme, in: The Cambridge Companion to Tolstoy, hg. v. D. Orwin, Cambridge 2002, 161–175, 169. 50 PSS 2: 55. 51 V.B. Sˇklovskij, Iskusstvo kak priem [1917], in: J. Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969 (= Theorie u. Gesch. der Lit. u. der schönen Künste, 6/1), 14–22. 52 Vgl. V.V. Vinogradov, O jazyke Tolstogo (50–60-e gody), in: Literaturnoe nasledstvo 35–36, Moskau 1939, 117–220, 162ff. 53 H. Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Göttingen 2010. 54 PSS 26: 113. 55 H.-F. Amiel, Tag für Tag. Textauswahl und Vorwort von L. Tolstoi, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. F.Ph. Ingold, übers. v. E. Frey, Zürich 2003, 9. 56 L.A. Anninskij, Ochota na L’va. Lev Tolstoj i kinematograf, Moskau 2000. 57 Ebd. Vgl. auch V.F. Bulgakov, L.N. Tolstoj v poslednij god ego zˇ izni. Dnevnik sekretarja L.N. Tolstogo, Moskau 1957, 201. 58 Folgende Werke Tolstojs wurden in russischer Sprache beim Verleger Michail E˙lpidin in Genf gedruckt (Erstpublikationen): Ispoved’ (Beichte, publ. 1884), V ˇcem moja vera? (Mein Glaube, 1888), Kratkoe izloˇzenie Evangelija (Kurze Darlegung des Evangeliums, 1890), Issledovanie dogmatiˇceskogo bogoslovija (Untersuchung der dogmatischen Theologie, 1891/96), O ˇzizni (Über das Leben, 1891), [Tak] ˇcto ˇze nam delat’? (Was sollen wir denn tun?, 1892), Soedinenie i perevod ˇcetyrech Evangelij (Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien, 1892–94), Carstvo boˇzie vnutri vas (Das Reich Gottes ist in euch, 1896). 59 L.A. Osterman, Sraˇzenie za Tolstogo, Moskau 2000.

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Einleitung

Theologische und kirchenkritische Schriften

Anmerkungen

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Aus dem Tagebuch

Tolstoj führte fast sein ganzes Leben lang Tagebuch. Die ersten Aufzeichnungen aus dem Jahr 1847 stammen aus der Feder des 18-jährigen Studenten der Jurisprudenz an der Universität Kazan’, die letzten Einträge machte der 82-jährige drei Tage vor seinem Tod im November 1910 auf seinem Sterbebett im Haus des Bahnhofvorstehers in Astapovo. Die frühen Tagebücher dienten dem jungen Schriftsteller v.a. zur Selbstbeobachtung, zur Reflexion und zur moralischen Selbstdisziplinierung. Im Laufe der Jahre wurde das Tagebuch für Tolstoj mehr und mehr zu einem Laboratorium, in dem er seine religiösen, philosophischen und sozialen Ideen entwickelte. Die hier übersetzten Tagebuchausschnitte stammen aus Tolstojs Militärzeit im Kaukasus. Sie zeigen, dass sich der Schriftsteller schon früh mit religiösen Fragen beschäftigte und dass er einige Grundgedanken, die als charakteristisch für seine Spätphase gelten, schon in jungen Jahren entwickelt hat. Vollständig wurden Tolstojs Tagebücher erstmals in der neunzigbändigen sowjetischen Gesamtausgabe publiziert (Moskau 1928–1958), in der sie insgesamt 13 Bände einnehmen (Bd. 46–58). Schon vorher erschienen Auszüge aus Tolstojs frühen Tagebüchern in Publikationen zu Leben und Werk, die Anhänger oder Vertraute des Schriftstellers besorgten. Die hier übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 46: 167f; 47: 37f).

8. Juli 1853 Ich kann mir nicht beweisen, dass Gott existiert, ich finde keinen tauglichen Beweis dafür und komme zum Schluss, dass diese Vorstellung entbehrlich ist. Die ewige Existenz der ganzen Welt mit ihrer unergründlich wunderbaren Ordnung ist leichter und einfacher zu begreifen als ein Wesen, das diese erschaffen hat. Dass der Mensch mit Leib und Seele nach dem Glück strebt, ist der einzige Weg zum Verständnis der Geheimnisse des Lebens. Wenn die Neigung der Seele mit der des Fleisches in Konflikt kommt, muss die erste die Oberhand behalten, denn die Seele ist unsterblich, und ebenso unsterblich ist das Glück, das sie erlangt. – Sie entwickelt sich, indem sie nach Glück strebt. – Die Laster der Seele sind verfehlte edle Bestrebungen. Ehrgeiz ist der Wunsch, mit sich zufrieden zu sein. Habsucht ist der Wunsch, mehr Gutes zu tun. Ich verstehe die Notwendigkeit der Existenz Gottes nicht, aber ich glaube an ihn und bitte ihn um Hilfe, auf dass ich lerne, ihn zu begreifen.

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Lev Tolstoj

4. März 1855 Heute ging ich zum Abendmahl. Gestern brachte mich das Gespräch über das Göttliche und den Glauben auf eine große, gewaltige Idee, deren Verwirklichung ich mein Leben widmen könnte. – Es ging um die Gründung einer neuen, der Entwicklung der Menschheit entsprechenden Religion, einer Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis, einer praktischen Religion, die nicht zukünftige Glückseligkeit verspricht, sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt. In die Tat umsetzen können diese Idee, so viel weiß ich, nur Generationen, die bewusst auf dieses Ziel hinarbeiten. Eine Generation vermacht die Idee der nächsten, bis Fanatismus oder Vernunft sie eines Tages in die Tat umsetzen. Bewusst auf die Vereinigung der Menschen mit der Religion hinzuwirken: das ist die Grundlage der Idee, die mich, so hoffe ich, mitreißen wird.

Brief an A.A. Tolstaja (1859)

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Brief an A.A. Tolstaja (1859)

Aleksandra Andreevna Tolstaja (1817–1904), von Tolstoj in seinen Briefen an sie scherzhaft »babuˇska« (Großmutter) genannt, war die um 11 Jahre ältere Tante zweiten Grades des Schriftstellers. Die Briefe an die Tante bilden einen eigenen Zyklus im epistolarischen Nachlass Tolstojs. Insgesamt liegen 136 Briefe vor, die zwischen 1857 und 1903 geschrieben wurden. In den ersten Jahren ihres Briefwechsels empfanden die beiden Korrespondenzpartner eine gegenseitige Zuneigung, die weit über verwandtschaftliche Gefühle hinausging und von beiden sowohl vor sich selbst als auch vor dem andern heruntergespielt wurde. Tolstojs Anrede »geliebte Großmutter« wurde in Tolstajas Briefen erwidert mit »lieber Enkel«. 1857 notierte Tolstoj im Tagebuch: »Wenn Alexandrine doch nur 10 Jahre jünger wäre«. Aleksandra Tolstaja war eine der wenigen Korrespondenten des Schriftstellers, der er sich vorbehaltlos anvertraute. Er weihte sie in seine literarischen Pläne ein und teilte seine Freuden und Zweifel mit ihr – nicht zuletzt hinsichtlich religiöser Fragen. Tolstojs Briefe an die Tante tragen stilistisch und inhaltlich zum Teil noch deutlich den Stempel des 18. Jahrhunderts und seiner psychologisierenden und moralisierenden Prosa. Tolstojs Korrespondenz mit Aleksandra Tolstaja wurde erstmals 1911 von V.I. Sreznevskij in Buchform veröffentlicht, z.T. mit zensurbedingten Auslassungen, die v.a. religiöse Angelegenheiten betrafen: Perepiska L.N. Tolstogo s gr. A.A. Tolstoj, St. Petersburg 1911. Die hier veröffentlichte Übersetzung folgt der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 60: 293–295).

Jasnaja Poljana, Ende April–3. Mai 1859 Herr jemine! Was für ein Donnerwetter! Wahrhaftig, ich weiß noch gar nicht, wo mir der Kopf steht! Doch Scherz beiseite, liebe Großmutter, ich bin ein elender Nichtsnutz und habe Ihnen wehgetan, aber müssen Sie mich gleich so hart bestrafen? Alles, was Sie sagen, ist zugleich wahr und nicht wahr. Die Überzeugungen eines Menschen, nicht die, von denen er spricht, sondern die, die er aus seinem ganzen Leben zieht, kann ein anderer schwer verstehen, und Sie kennen die meinen nicht. Würden Sie sie kennen, dann würden Sie nicht so über mich herfallen. – Ich will dennoch versuchen, meine profession de foi abzulegen. Als Kind glaubte ich heftig, sentimental und gedankenlos, dann, mit etwa vierzehn Jahren, begann ich über das Leben im Allgemeinen nachzudenken und stieß auf die Religion, die zu meinen Theorien nicht passte, und rechnete es mir selbstverständlich als Verdienst an, sie zu zerstören. Zehn Jahre etwa lebte ich seelenruhig ohne sie. Alles erschloss sich mir klar und logisch und unterteilte sich in Rubriken, für die Religion war kein Platz. Dann kam eine Zeit, in der alles erschlossen war, es gab keine Geheimnisse mehr im Leben, doch dieses Leben selbst verlor allmählich seinen Sinn.

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Ich lebte damals im Kaukasus und war einsam und unglücklich. Ich begann nachzudenken, auf eine Weise, wie Menschen nur einmal im Leben die Kraft haben nachzudenken. Ich habe noch meine Aufzeichnungen aus dieser Zeit, und als ich sie jetzt wieder las, war mir unbegreiflich, wie ein Mensch einen solchen Grad von geistiger Exaltation erreichen kann wie ich damals. Es war eine qualvolle und eine gute Zeit zugleich. Niemals zuvor und niemals danach war ich auf einer solchen gedanklichen Höhe und blickte hinüber, wie zu jener Zeit, die zwei Jahre dauerte. Alles, was ich damals fand, bleibt für immer meine Überzeugung. Ich kann nicht anders. Nach zwei Jahren geistiger Arbeit fand ich etwas ganz Einfaches und Altes, das ich aber weiß wie niemand sonst: Ich erkannte, dass es die Unsterblichkeit gibt, dass es die Liebe gibt und dass man für den anderen leben muss, um ewig glücklich zu sein. Es erstaunte mich, wie sehr diese Entdeckungen der christlichen Religion glichen, und ich begann, statt selbst zu forschen, im Evangelium zu suchen, fand aber wenig. Ich fand weder Gott, noch einen Erlöser, noch Sakramente1, nichts davon; dabei suchte ich mit aller, aller, aller Kraft meiner Seele, ich weinte und litt und verlangte nach nichts als der Wahrheit. Glauben Sie um Gottes Willen nicht, dass meine Worte Ihnen auch nur einen annähernden Begriff von der Kraft und Konzentration meines damaligen Suchens vermitteln könnten. Dies gehört zu den Geheimnissen der Seele, wie sie jeder von uns hat; aber ich kann sagen, dass ich selten bei einem Menschen eine solche Leidenschaft für die Wahrheit angetroffen habe, wie sie damals in mir lebte. So blieb ich bei meiner eigenen Religion, und ich fühlte mich wohl mit ihr. Doch noch etwas muss ich sagen. 3. Mai. So weit hatte ich gleich nach Erhalt Ihres Briefes geschrieben. Ich brach ab, weil ich mich überzeugt hatte, dass dieses ganze Geschwätz Ihnen nicht einmal ein Hundertstel von dem was war verständlich machen würde, und dass es keinen Sinn hatte, fortzufahren. Aber da ich mir gelobt habe, niemals Briefe an Sie zu ändern, schicke ich Ihnen auch dies. Die Sache ist die, dass ich die Religion liebe und achte, dass ich meine, dass der Mensch ohne sie weder gut noch glücklich sein kann, dass ich mehr als alles auf der Welt wünschte, ich hätte sie, dass ich fühle, wie mein Herz mit jedem Jahr mehr verdorrt, dass ich noch hoffe, und für kurze Momente scheinbar auch glaube, aber ich habe keine Religion und ich glaube nicht. – Außerdem macht bei mir das Leben die Religion, nicht die Religion das Leben. Wenn 1 In der Orthodoxen Kirche werden die Sakramente »Mysterien« genannt. Da sich Tolstojs Kirchenkritik aber nicht ausschließlich gegen die Orthodoxe Kirche richtet, wird ksl. tainstvo (für gr. mysterion) im Folgenden mit »Sakrament« übersetzt. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass sich Tolstojs Kritik oft auf das Verständnis des Sakraments als rational unzugängliches Mysterium bezieht, wie es besonders für die Ostkirche als charakteristisch gilt.

Brief an A.A. Tolstaja (1859)

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ich ein gutes Leben führe, bin ich ihr näher, mir scheint, ich bin kurz davor, in diese glückliche Welt einzutreten, wenn ich aber ein schlechtes Leben führe, scheint mir, dass ich sie gar nicht brauche. – In diesen Tagen auf dem Land bin ich mir selbst so zuwider, ich fühle eine solche Dürre im Herzen, dass es mir Angst und Abscheu einjagt und ich ihre Notwendigkeit deutlicher spüre. Vielleicht, mit Gottes Hilfe, wird sie sich einstellen. Sie lachen über die Natur und die Nachtigallen. Für mich ist die Natur die Wegbereiterin der Religion. Jede Seele hat ihren eigenen Weg, und diesen Weg kennt man nicht, man fühlt ihn nur in der Tiefe seiner Seele. Vielleicht liebe ich auch Sie nur deshalb. – Ach, liebe Freundin, liebe Großmutter. Schreiben Sie mir öfter. Mir ist jetzt so elend und traurig zumute auf dem Land. Solch eine Kälte und Dürre in meiner Seele, dass es zum Fürchten ist. Das Leben hat keinen Zweck. Gestern kamen mir diese Gedanken mit solcher Macht in den Sinn, als ich in mich hineinhorchte: Wem tue ich Gutes? Wen liebe ich? Niemanden! Nicht einmal trauern und um mich selbst weinen kann ich. Selbst meine Reue ist kalt. Überlegungen, weiter nichts. Es bleibt nur die Arbeit. Aber was ist die Arbeit? Belangloses Zeug – man vergräbt sich darin und müht sich ab, aber das Herz wird eng dabei, es vertrocknet und stirbt dahin. Ich schreibe Ihnen das nicht, damit Sie mir sagen, was das ist, was ich tun soll, damit Sie mich trösten. All das ist gar nicht möglich. Ich schreibe einfach deshalb, weil ich Sie liebe und Sie mich verstehen werden; Sie werden ein kleines Fenster in Ihrem Herzen öffnen und all diesen Unfug, den Ihr Enkel schreibt, hereinlassen und dann das Fenster wieder zuschließen – und all right! Ich bitte Sie, gehen Sie gar nicht darauf ein! Die Hauptsache ist, dass ich vor mir selbst nicht lügen kann. Ich habe eine kranke Schwester, eine betagte Tante, Bauern, denen ich nützlich sein kann, zu denen ich freundlich sein kann, doch mein Herz ist stumm, und ich schäme mich, vorsätzlich Gutes zu tun. Umso mehr, als ich (wie selten auch immer) das Glück erfahren habe, es unwissentlich zu tun, ohne Absicht, von Herzen. Dieses Herz verdorrt, stirbt ab, krampft sich zusammen, und ich kann nichts tun. Nicht schelten sollten Sie mit unsereinem, nicht böse sein, sondern mitfühlend und liebevoll. Sie haben es gut. Sie wissen immer, wo Ihre Seele sich wärmen kann, die meine aber verdorrt, ich fühle es und erschrecke – aber es gibt kein remède. Leben Sie wohl, grüßen Sie die Unseren und vergessen Sie mich nicht. Lauter Dummheiten sind das, Ihre höfischen Pflichten und all der Unfug, der Sie hindert, mir zu schreiben. Man möchte meinen, Ihr Enkel, der Sie liebt, ist wichtiger als alle Fanfaren der Welt! – Schwester und Tante lieben Sie und denken an Sie. – Noch einen Kummer habe ich. Meine Anna,2 die ich nach der Rückkehr aufs Land noch einmal ge2 »Anna« nannte Tolstoj seinen Kurzroman Familienglück (1859).

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lesen habe, hat sich als ein so schändliches Machwerk erwiesen, dass ich vor Scham halb tot bin und wohl nie mehr schreiben werde. Aber sie ist schon gedruckt. Auch hier sollen Sie mich nicht trösten. Ich weiß, was ich weiß. Und noch ein Kummer: Meiner Landwirtschaft geht es sehr schlecht, aber ich perseveriere und werde bald völlig ruiniert sein. Zu alledem ist dieses Jahr auch der Roggen verdorben. Aber jetzt möchte ich lachen und springen. Und das nur, weil mir vor fünf Minuten noch zum Weinen war, und weil ich Ihnen schreibe. L. Tolstoj

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Die Entstehungszeit dieses lange unveröffentlichten und hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Fragments lässt sich anhand eines Tagebucheintrags vom 16. Oktober 1865 bestimmen: »Habe die Religionsbeweise bei Guizot-Witt gelesen und einen ersten Aufsatz geschrieben nach einer Idee, die ich von Montaigne hatte.« Tolstoj erwähnt ein Werk von Henriette de Witt, geb. Guizot (1829–1908), von der damals drei Bücher erschienen waren: Petites méditations chrétiennes à l’usage du culte domestique (1862), Nouvelles petites méditations chrétiennes (1864) und Histoire sainte racontée aux enfants (1865). Inspiriert zu diesem Aufsatz haben Tolstoj Montaignes Essais, höchstwahrscheinlich die Apologie de Raimond Sebond (1. Buch, 12. Kapitel). Den ursprünglichen Titel Kann man Religion beweisen? gab Tolstoj zugunsten des neutraleren Über die Religion auf. Der Titel eines weiteren Aufsatzes, den Tolstoj nicht geschrieben hat (»Über den Liberalismus unseres Jahrhunderts und die Verfassung«), findet sich ebenfalls in diesem Manuskript; es handelt sich bei dem hier abgedruckten Fragment offensichtlich um den ersten Teil einer geplanten, jedoch nicht realisierten Aufsatzreihe. Über die Religion wurde erstmals 1932 in der sowjetischen Gesamtausgabe veröffentlicht (PSS 7: 125–127), deren Wortlaut die deutsche Übersetzung folgt.

Interessant wäre ein Buch, das alle Beweise für die Existenz eines lebendigen, freien Gottes versammeln würde, die seit Anbeginn der Menschheit geführt wurden. Dies wäre das gottloseste aller Bücher. Die Vielfalt der gedanklichen Kunstgriffe, die die Existenz Gottes beweisen sollen, ist gewaltig. Unter diesen Gottesbeweisen erscheint mir einer als der stärkste, weil er sich hauptsächlich auf die menschliche Natur stützt; doch in seiner Stärke liegt zugleich auch seine Schwäche.1 Man sagt, dass die Menschheit zu allen Zeiten und überall vor denselben Fragen stand: Was bin ich? Wozu lebe ich? Was kommt nach dem Tod? Bin ich von mir aus, alleine zur Welt gekommen, lebe ich unabhängig, oder gibt es einen, der mich gemacht hat und lenkt? Bestimmt der Zufall, was geschieht, oder steht ein Gedanke und eine höhere Macht dahinter, und gibt es eine Verbindung zwischen mir und dieser höheren Macht, kann ich sie um etwas bitten, zu ihr beten? Es gibt auch noch andere solche Fragen, und alle diese Fragen nennt man natürliche Probleme. Die Menschheit hat überall

1 Tolstoj verweist hier auf Kants Kritik der praktischen Vernunft, wo postuliert wird, dass es moralisch notwendig sei, die Existenz Gottes anzunehmen, damit alle Pflichten als göttliche Gebote erkannt werden können. Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Band.

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und immer versucht, sie zu lösen. Also sind diese Fragen und Lösungsversuche ein ewiger Bestandteil der menschlichen Natur. – Antworten können nur die Wissenschaft und der Glaube geben. Doch die Wissenschaft ist hier machtlos, einzig der Glaube – die Religion – hat eine Antwort. – Diese Argumentation ist zweifellos schlüssig. Doch was soll ein Mensch tun, der sich fragt, wozu er lebt und ob es Gott gibt usw., und den die Antwort, dass der lebendige Gott existiert und dass er selbst um seines künftigen Lebens willen lebt, nicht zufrieden stellt? Nicht aus Starrsinn kann er sich nicht damit zufrieden geben, sondern aus tausenderlei Gründen und Argumenten, die ihn trotz seines leidenschaftlichen Verlangens nach einer Antwort daran hindern, Antworten über die Religion für möglich zu halten, vielleicht, so heißt es, aufgrund einer falschen Anlage seines Verstandes. Aber was soll er denn tun? Was soll ein Mensch tun, der den leidenschaftlichen Wunsch empfindet, zu beten, und der sich plötzlich mit Bitterkeit daran erinnert, dass es niemanden gibt, zu dem man beten könnte, dass dort nichts ist? Es gibt sehr viele solche Menschen, und sie sind ebensogut Menschen wie die, die im Glauben an das künftige Leben und im Gebet Ruhe finden. Die oben angeführte Argumentation überzeugt sie nicht. Im Gegenteil: Wohl wissend, dass sie Menschen sind, und dass die ihnen innewohnenden Eigenheiten der menschlichen Natur sie nicht, wie sie es hätten tun sollen, zur Religion geführt haben, zweifeln sie an der Argumentation selbst. Sie zweifeln nicht nur an ihr, sondern halten sie geradezu für falsch, trotz ihrer Stringenz. So wie ein kranker Mensch eine Argumentation falsch findet, der zufolge er essen soll, obwohl er keinen Appetit hat und nichts zu sich nehmen kann. Der Fehler der Argumentation liegt in dem Satz, dass die gesamte Menschheit zu allen Zeiten vor diesen natürlichen Problemen stehe und versuche, eine Antwort auf sie zu finden. Das ist falsch, so wie immer alles falsch ist, was man von der gesamten Menschheit über Zeit und Raum hinweg sagt. Die Menschheit und ihr Leben durch die Jahrhunderte, das ist kein Begriff, sondern das sind Worte, die auf eine unendliche Kette von Ereignissen und Gedanken verweisen sollen und die völlig unbegreiflich sind. (Deshalb sind auch alle Reden der Historiker von der Entwicklung der Menschheit nichts als Worte, nebelhafte intellektuelle Spielereien ohne jede Bedeutung; doch dazu später.) Die Menschheit ist einer jener Begriffe, die wir uns zwar vorstellen können, mit denen wir aber nicht umzugehen wissen; die Menschheit ist nichts, und deshalb kommen wir, sobald wir den Begriff Menschheit in unsere gedanklichen Formeln einführen, ebenso wie wenn wir in der Mathematik unendlich große oder kleine Größen einführen, zu unbegründeten und falschen Ergebnissen. – Die Menschheit stellt sich keine Probleme und sucht keine Lösungen. Soweit ich weiß, haben Menschen sich nicht immer, sondern nur in bestimm-

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ten Phasen ihres Lebens Probleme gestellt und Antworten gesucht, vor allem aber habe ich selbst mir Probleme gestellt und versucht, darauf zu antworten. Das ist es, was man statt »Menschheit« sagen müsste, und eben deshalb führt die Argumentation des Gottesbeweises für diejenigen, die nicht glauben, in eine Sackgasse. Wenn ich aber sage, dass bestimmte Menschen, die ich kenne, und auch ich selbst, in bestimmten Momenten des Lebens dazu neigten und neigen, sich die natürlichen Probleme zu stellen und Antworten darauf zu suchen, dann schließe ich daraus nur, dass diese Neigung dem Menschen eigen ist, dass es viele gibt, die mit den Antworten der Religion zufrieden leben; viele begnügen sich aber auch mit den Fragen allein. Die Antworten der Religion genügen ihnen nicht, also bleiben sie ohne Antwort, was für sie kein Unglück ist, denn diese Fragen stellen sich ihnen nicht fortwährend, sondern nur ab und zu, und sie lassen sich beschwichtigen durch Leidenschaften und Interessen, durch Arbeit und durch die Gewohnheit, sie beiseite zu schieben. Es gibt Menschen, viele Menschen, die sterben, ohne an sie zu denken. Außerdem schließe ich aus meinen eigenen Beobachtungen, dass es den einen nicht besser ergeht als den anderen. Für die Gläubigen birgt der Glaube selbst einen heimlichen2 Zweifel, und denen, die nicht glauben, ersetzt das stolze Bewusstsein, dass sie sich selbst nicht betrügen, beruhigende Antworten. Weiter schließe ich, dass die Religion selbst nicht die Wahrheit ist – Religionen gibt es viele, es gab sie immer und wird sie immer geben –, sondern nur ein Produkt des menschlichen Verstandes, das (wie auch die Weissagungen, Lieder etc.) aus einer bestimmten Neigung entspringt. Man sagt uns, die Religion habe für alles eine Erklärung; wenn wir die Existenz Gottes einmal anerkannt hätten, wüssten wir alles: wie die Welt entstanden ist und wie der Mensch, warum es verschiedene Sprachen gibt und warum Regenbogen, was nach dem Tod kommt usw. Das ist wahr. Alles ist klar, außer der Religion selbst, die umso dunkler wird, je klarer alles andere ist. Religionen gibt es viele, und alle fordern Glauben und Nachsicht für ihre irrationale Grundlage, alles Übrige stellen sie als geklärt dar. (Ich kenne einen verrückten Priester, der behauptet, er sei der Gott Deir, seine Mutter Gargara habe die Welt in zwei Hemisphären geteilt, über deren eine er herrsche, über die andere aber Kartograj usw. Er hat eine komplizierte, verworrene Mythologie entwickelt, die die Anfänge aller Dinge erklärt, und er wird böse, wenn man ihn nach dem Ursprung fragt, doch dafür zeigt er einem anhand einfacher Lebensfragen lächelnd, wie alle Phänomene des Lebens seine Grundsätze bestätigen und wie klar diese sind.) – Für diejenigen aber, die sich mit den religiösen Antworten nicht zufrieden geben, sind alle Phänomene des Le-

2 Variante im Manuskript: dunklen.

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bens gleichermaßen unklar, dafür liegt aber auch in keinem von ihnen mehr Unklarheit als in einem anderen. Warum eine Pflanze wächst, und welche Kraft die Atome zusammenhält, ist ebenso unklar wie die Frage, was nach dem Tod kommt und wie der erste Mensch entstanden ist. – Der Wissenshorizont des Menschen ist ein locker gefädeltes Halsband. Unser Wissen, das sind die Perlen, die wir freudig betrachten und stolz durch die Hände gleiten lassen – der schwarze Faden aber ist das Chaos des Denkens, das Unbekannte, vor dem wir uns fürchten. Die Religion packt das Halsband mit elementarem Griff und schüttelt es, so dass alle Perlen beisammen sind; nur hat sie dann an einer anderen Stelle ein großes Stück schwarzen Fadens in der Hand, das wir nicht sehen sollen – dafür herrscht unter den zusammengeschobenen Perlen schönste Symmetrie, und für Zweifel bleibt kein Raum. Wer nicht glaubt, ordnet die Perlen mehr oder weniger geschickt in gleichen Abständen an, um den Faden zu verdecken, doch er bleibt in jeder Lücke zwischen zwei Perlen sichtbar. Sobald wir die Lücke vor unseren Augen schließen, wird sie auf der anderen Seite des Kreises umso größer.

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Der Christliche Katechismus ist einer der ersten Texte aus der Zeit, als Tolstoj sich infolge seiner Lebenskrise intensiv mit religiösen Fragen zu beschäftigen begann. Das Fragment, das hier erstmals auf Deutsch erscheint, lässt sich anhand eines Briefes von Tolstoj an Nikolaj Strachov vom 6. November 1877 datieren: »Vor ein paar Tagen war ich in einer Stunde dabei, als ein Priester Kindern den ›Katechismus‹ lehrte. Das war alles so widerlich. Es war so offensichtlich, dass die klugen Kinder diese Worte nicht nur nicht glauben konnten, sie konnten gar nicht anders, als sie zu verachten, deshalb wollte ich den Versuch wagen, in Form eines Katechismus das auszudrücken, was ich glaube, und das habe ich getan. Dieser Versuch hat mir gezeigt, wie schwierig das für mich ist oder, wie ich befürchte, völlig unmöglich. Und das stimmt mich traurig und bedrückt mich.« In diesem Brief erklärt Tolstoj gleich selbst, weshalb der Christliche Katechismus ein Fragment geblieben ist. Wenige Jahre später, 1884–1886, versuchte er sich in einem größeren Traktat mit dem Titel Die christliche Lehre nochmals an der Form des Katechismus, allerdings hatte seine Einstellung zum Christentum, zur Orthodoxen Kirche und ihren Dogmen bis dahin eine entscheidende Wende erfahren. Das Manuskript trägt keinen Titel, die Worte »Christlicher Katechismus« wurden am Schluss des Textes von Tolstoj hinzugefügt. Der Christliche Katechismus wurde erstmals 1936 in der sowjetischen Gesamtausgabe veröffentlicht (PSS 17: 363–368), deren Wortlaut die deutsche Übersetzung folgt.

»Ich glaube an die eine wahre, heilige Kirche, die in den Herzen aller Menschen und auf der ganzen Welt lebt und ihren Ausdruck im Wissen um das Gute findet, das in mir und in allen Menschen und im menschlichen Leben vorhanden ist. Ausdrücklich bekenne ich mich zum Glauben an die Christliche Lehre der orthodoxen Kirche, deshalb glaube ich an den einen Gott, den Vater usw.« Dies ist mein Glaubensbekenntnis, und darum lauten mein Katechismus und die Einführung dazu wie folgt:

Vom Glauben Frage: Was ist der rechtgläubige Katechismus? Antwort: Der rechtgläubige Katechismus ist eine Unterweisung im wahren Glauben für jeden Menschen allgemein und jeden rechtgläubigen Christen insbesondere, die seinem Seelenheil dient – also einem Leben, das nicht nur den Bedürfnissen des Körpers entspricht, sondern auch den Bedürfnissen der Seele, und in dem die Seele des Menschen die volle Befriedigung und Erfüllung ihrer Ansprüche findet.

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Frage: Wodurch unterscheiden sich die Bedürfnisse des Körpers von den Bedürfnissen der Seele? Sind sie nicht miteinander verschmolzen? Sind die von uns so genannten Bedürfnisse der Seele nicht nur komplexere Bedürfnisse des Körpers? Antwort: Die Bedürfnisse des Körpers zielen auf das persönliche Wohl. Die Bedürfnisse der Seele dagegen zielen auf das Wohl überhaupt, das dem persönlichen Wohl nicht nur häufig, sondern fast immer entgegengesetzt ist. Daher können die Bedürfnisse der Seele nicht komplexer sein als die Bedürfnisse des Körpers. Anmerkung: Die heutige Philosophie, besonders der Materialismus, behauptet: Was man bisher als Bedürfnisse der Seele bezeichnet habe, sei lediglich das komplexe Produkt der Befriedigung wiederum materieller Bedürfnisse, die sich sehr oft in der Leugnung direkter, nicht durch zerebrale Prozesse hindurchgegangener materieller Bedürfnisse niederschlage. Doch diese Behauptung entbehrt jeder Grundlage, und die Materialisten selbst räumen ein, dass sich ein solcher Prozess nicht nur nicht beobachten lässt, sondern dass es auch keinerlei Hinweise darauf gibt, wie er sich erklären ließe. – Doch selbst angenommen, dieser Prozess würde erforscht, so bliebe der Gegensatz von seelischen und körperlichen Bedürfnissen dennoch bestehen, und die Bedürfnisse der Seele, die auf das dem persönlichen entgegengesetzte allgemeine Wohl zielen, würden genauso nur auf dem Glauben an dieses Wohl beruhen. Frage: Was ist für das Seelenheil vonnöten, oder was braucht man, um zu wissen, worin die Bedürfnisse der Seele bestehen? Antwort: Eine klare Definition dessen, woran wir glauben, und ein Leben in Übereinstimmung mit dem, woran wir glauben. Frage: Was ist der Glaube? Antwort: Dem Apostel Paulus zufolge »eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.«1 Der Glaube ist ein zweifelsfreies Wissen um Dinge, die für die Vernunft unergründlich sind. Frage: Wodurch unterscheiden sich Glaubenswissen und Vernunftwissen? Antwort: Jedes Vernunftwissen gründet auf einem vorangegangenen anderen Wissen. Das Glaubenswissen aber hat seinen Grund in sich selbst. Frage: Gibt es ein Vernunftwissen ohne Glaubenswissen? Antwort: Nein, denn jedes Vernunftwissen gründet auf einem anderen Wissen, dieses andere aber muss auch auf etwas gründen. Daher schließt allein schon das Verfahren der Vernunft, das jedes Wissen auf einem anderen

1 Heb 11,1. Der Hebräerbrief galt damals als Paulusbrief. Im Folgenden werden Bibelzitate nach der Lutherbibel von 1912 wiedergegeben.

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gründet, die Möglichkeit eines Wissens aus, das nicht auf einem anderen, nicht durch Vernunft begründeten Wissen beruhen würde. Frage: Was für ein Wissen ist das? Antwort: Das Glaubenswissen. Frage: Was ist das Glaubenswissen und wo begegnet es uns? Antwort: Das Glaubenswissen ist jenes zweifelsfreie Wissen um den Sinn der uns umgebenden Erscheinungen, von dem wir uns in jeder Minute unseres Lebens leiten lassen. Frage: Wann lassen wir uns im Leben von einem Glaubenswissen leiten, das nicht auf vernünftigem Wissen beruht? Antwort: Wenn wir mit dem morgigen Tag rechnen, dann glauben wir daran, dass die Sonne wieder aufgehen wird und wir weiterleben werden; wenn wir einem anderen zu essen geben und Mitleid mit ihm haben, dann glauben wir, dass er hungrig ist und Schmerzen leidet; wenn wir an einen anderen Ort gehen, weil wir wissen, dass es auch dort Land und Menschen gibt, dann glauben wir. Keine einzige der einfachen Handlungen, aus denen unser Leben besteht, gründen wir auf der Vernunft, sondern alle auf dem Glauben. Frage: Wo in den Wissenschaften wird jenes Glaubenswissen sichtbar, auf dem sie gründen? Antwort: In der Astronomie haben wir zuerst an die Existenz der Himmelskörper und des unermesslichen Himmelsraumes geglaubt und erst dann deren Bewegung und Größe berechnet. In der Physik und Chemie glauben wir zunächst an die unendliche Teilbarkeit, an die Wirkung von Kräften, und erst dann berechnen wir sie. In den politischen Wissenschaften glauben wir zuallererst an den Sinn des Lebens der Menschen (den Fortschritt), und erst danach untersuchen wir die Phänomene dieses Lebens. Frage: Gibt es ein Glaubenswissen ohne Vernunftwissen? Antwort: Ja, denn das Glaubenswissen bedarf keiner Grundlage. Frage: Worin besteht dann die Unterweisung im wahren Glauben, wenn für das Glaubenswissen kein vernünftiges Wissen notwendig ist? Antwort: Sie zeigt die Grenzen des vernünftigen Wissens auf, an denen dieses stehen bleibt und zu eben jenen Grundlagen gelangt, auf denen es beruht.

Von der Offenbarung Frage: Woraus schöpfen wir die vernünftigen Ausdrucksformen des Glaubenswissens? Antwort: Das Glaubenswissen hat seine Grundlage in der menschlichen Seele, doch die Ausdrucksformen dieses Wissens werden von Mensch zu Mensch weitergegeben.

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Frage: Woher hat der Mensch dieses Wissen? Antwort: Aus der Quelle aller Dinge, von Gott. Frage: Wenn es weitergegeben wird, wo liegt dann der Hauptgrund seines Ursprungs, wer war der erste Mensch, der es erhalten hat? Antwort: Diese Frage gehört offensichtlich schon zum Gebiet des vernünftigen Wissens, da sie verlangt, dass das Wissen auf einem anderen, vorangegangenen Wissen beruht, und deshalb kann das Glaubenswissen darauf nicht antworten, dass es selbst direkt aus der Quelle alles Seienden stammt, nämlich von Gott, und dass man es Offenbarung nennt. Frage: Haben die Menschen nur dieses eine Wissen, das in den Herzen vorgezeichnet ist, und gibt es keine anderen Ausdrucksformen für dieses Wissen, das die Menschen einander weitergeben? Antwort: Das Glaubenswissen hat Gott den Menschen gegeben, unmittelbar in der Seele jedes einzelnen und mittelbar durch die Ausdrucksformen und die Überlieferung dessen, was den Menschen früher offenbart wurde. Frage: Hat Gott allen Menschen dieselbe Offenbarung gegeben? Antwort: In seiner Seele trägt jeder Mensch dasselbe von Gott offenbarte Glaubenswissen, aber das, was den Menschen früher offenbart wurde, ist nicht einheitlich überliefert, denn die Überlieferung dieses Glaubenswissens war bereits Sache des Vernunftwissens. Frage: Gibt es ein einziges wahres (allen Menschen gemeinsames) Glaubenswissen? Antwort: Dieses Wissen existiert im Herzen der Menschen. Dasjenige Wissen, das alle Menschen gemeinsam haben, ist das wahre Glaubenswissen. Frage: Sind die buddhistische, jüdische, christliche, mohammedanische Ausdrucksform des Glaubens wahr oder unwahr? Antwort: Es gibt nur ein wahres Glaubenswissen – nämlich jenes, das allen Menschen gemeinsam ist und das Gott in den Herzen der Menschen offenbart hat, und deshalb ist an allen Ausdrucksformen des Glaubens das wahr, was sie gemeinsam haben. Die äußeren Merkmale der Religionen sind dagegen nur Besonderheiten, die von historischen und geografischen Bedingungen abhängen, welche nicht zum Glaubenswissen, sondern zum Vernunftwissen gehören. – Frage: Ist der christliche Glaube, wie er gelehrt wird, wahr? Antwort: Er ist in dem Maße wahr, wie er das in den Herzen der Menschen offenbarte Glaubenswissen offenlegt, und sofern die Lehre diesem Wissen nicht widerspricht. Frage: Auf welche Weise wird das weitergegeben, was den Menschen früher offenbart wurde? Antwort: Durch die Heilige Schrift, die Heilige Überlieferung und durch Vorbilder. Frage: Was versteht man unter der Heiligen Schrift?

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Antwort: All jene Bücher, in denen die Menschen früher das ihrem Herzen offenbarte Glaubenswissen und alles Wissen, das dem Seelenheil diente, an andere Menschen weitergaben. Frage: Was versteht man unter der Heiligen Überlieferung? Antwort: Die Überlieferung (idem). Frage: Was versteht man unter einem Vorbild? Antwort: Taten, in denen das Glaubenswissen sichtbar wird und die somit dem Seelenheil dienen. Frage: Was ist allgemein unter der Heiligen Offenbarung zu verstehen, die durch Schrift, Überlieferung und Vorbilder weitergegeben wird? Antwort: Alles, was wahrhaft gläubige und gottesfürchtige Menschen zum Heil der Seele geschrieben und getan haben. Frage: Gibt es einen sicheren Hort für die Heilige Offenbarung? Antwort: Ja. Alle durch die Heilige Offenbarung vereinten wahrhaft Gläubigen bilden gemeinsam und über Generationen hinweg die Kirche, die die Heilige Offenbarung bewahrt. Frage: Wie verhält sich die christliche Kirche zur gemeinsamen Kirche Gottes? Antwort: Wie das Besondere zum Allgemeinen. Die christliche Kirche ist eine der Formen der universalen Kirche. Frage: Ist die christliche Kirche fehlbar? Antwort: Im Geist – nein, im Buchstaben aber – ja. Frage: Warum? Antwort: Der Geist stimmt immer mit dem Glaubenswissen im Herzen überein. Der Buchstabe dagegen ist ein Werkzeug der Überlieferung. Frage: Gilt das auch für die anderen Religionen? Antwort: Ja. Frage: Wie soll man sich gegenüber der christlichen Lehre verhalten, dort, wo sie der Vernunft widerspricht? Antwort: Wo diese Lehre der Lehre der universalen Kirche und dem Herzen nicht widerspricht, soll der Verstand sich der unbegreiflichen Lehre beugen. Frage: Und wenn sie dem Wissen des Herzens widerspricht? Antwort: Dann soll man sie verwerfen, um weiterhin der universalen Kirche anzugehören.

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Dieses Fragment entstand höchstwahrscheinlich Ende 1879, als Tolstoj sich mit dem Gedanken trug, seine religiösen Ansichten in systematischer Form zu Papier zu bringen. So darf es als Vorarbeit zu seinen größeren religiösen Schriften gelten – der Beichte, der Untersuchung der dogmatischen Theologie und Mein Glaube. Das Fragment wurde erstmals 1904 im 10. Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs von Vladimir Cˇertkov in England veröffentlicht (mit der Jahresangabe 1886): L.N. Tolstoj, Polnoe sobranie soˇcinenij, zapreˇsˇcennych v Rossii, Bd. 10, Christchurch 1904. Das Manuskript gilt als verschollen. Die vorliegende deutsche Erstübersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 90: 127–131).

Wessen sind wir – Gottes oder des Teufels? An wen glauben wir: an Gott oder an den Teufel? Wem dienen wir: Gott oder dem Teufel? Oder gibt es weder Gott noch den Teufel, weder das Gute noch das Böse, weil wir nicht fähig sind, zu unterscheiden, was gut und was böse ist? So würden wir gerne sprechen, aber wir können es nicht, wir Armen. Wüsstest du nicht, was Gut und Böse ist, du könntest gar nicht leben. Jeden Tag, jede Stunde muss man sich entscheiden: gehen oder bleiben, nehmen oder geben, töten oder vergeben. Schau zurück auf deinen Tag und erinnere dich, wie du ihn verlebt hast, und du wirst bei allem, was du getan hast, sehen, dass du es getan hast, weil du wusstest, dass das eine gut und das andere schlecht ist. In der Bibel heißt es, dass Adam im Paradies, bevor er die verbotene Frucht aß, nicht wusste, was Gut und Böse war. Er konnte damals sagen, er wisse nicht, was Gut und Böse ist. Wir aber können uns das nicht vorstellen. Nur beim Vieh sehen wir das: Es lebt, ohne zu wissen, was gut und was schlecht ist. Wo aber Menschen sind, dort ist auch ein Gesetz. Betrachtet man den einzelnen Menschen, so weiß ein jeder, was gut und was schlecht ist, und dementsprechend führt er sein Leben. Betrachtet man alle Menschen zusammen, so sieht man das Gesetz noch deutlicher: Es steht geschrieben, und ein jeder erkennt es entweder an, oder er erkennt es nicht an, weil er ein anderes, besseres Gesetz kennt. Aber wo und welcher Art ist dieses Gesetz, nach dem wir leben? Sag nicht, es sei das Gesetz, nach dem meinem Körper wohl ist: Essen, trinken, sich paaren, seine Jungen beschützen. Das ist kein Gesetz, das sind die Bedürfnisse des Fleisches, eben jene Bedürfnisse, die ein Gesetz notwendig machen, dieselben Bedürfnisse, die auch das Vieh hat. Die Tiere haben kein Gesetz, und die Begierden sind bei allen dieselben. Alle wollen dasselbe. Damit die Menschen nicht alle dasselbe essen und mit derselben Person schlafen wol-

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len, und damit sie einander nicht totschlagen, sodass keiner von ihnen bekommt, was er will, müssen sie teilen, müssen sie ein Gesetz aufstellen. Um teilen zu können, muss man der Begierde Grenzen setzen, und so entsteht im Herzen der Menschen ein Gesetz darüber, wie der Begierde Grenzen zu setzen sind. Wo Begierden sind, da ist auch ein Gesetz; denn das Gesetz ist nichts anderes als die Bezähmung und Bezwingung der Begierde dem Mitmenschen zuliebe. Im Herzen jedes Menschen gibt es viele solche Gesetze. Das Vieh hat kein Gesetz, und es braucht auch keines. Der Mensch kann, wie immer man das finden mag, ohne Gesetz nicht existieren: Das Gesetz ist in ihm selbst geschrieben. Und er hat auch nie ohne Gesetz gelebt. Als es nur Adam gab (ob es ihn wirklich gab oder nicht, spielt keine Rolle), nur einen Menschen, konnte er gut ohne Gesetz leben. Er war der Einzige, der Begierden hatte, und sie störten niemanden, aber sobald es zwei oder drei Menschen gab, prallten ihre Begierden schon aufeinander. Ich will diesen Apfel essen. Ich auch. Der Erste erschlägt den Zweiten mit einem Stein, dann kommt der Dritte dazu, der das nicht auf sich beruhen lassen will. In seiner Seele zeigt es Wirkung, ob der Erste gut oder schlecht gehandelt hat. Wenn ein Wolf einen anderen totbeißt, sagt und denkt der dritte Wolf nichts dazu, sondern frisst gemeinsam mit dem Mörder das Opfer. Ein Mensch aber sagt etwas dazu, er denkt nach: War das gut oder schlecht? Wenn du in deinem Herzen ein Gesetz vorfindest, dann sag nicht, es gäbe keines. Das Gesetz steht in deinem Herzen geschrieben. Selbst wenn du nur einen Tag unter Menschen lebtest und Geschäften nachgingest, würdest du auf Gesetze stoßen. Es gibt keine menschliche Angelegenheit, über die du in deiner Seele nicht ein Urteil hättest, das deinem eigenen Gesetz entspricht, und auch nichts Eigenes, wofür du kein Gesetz wüsstest. Wenn du sagst, dass es kein Gesetz gibt, dann meinst du, dass es heute so viele Gesetze gibt und dass diese Gesetze so verworren sind. Es kommt vor – und gar nicht selten –, dass ein Gesetz etwas vorschreibt, das ein anderes verbietet. Zudem gibt es Vorschriften, die Begierden nicht zügeln, sondern festlegen, wie man sie befriedigen soll. Auch sie nennt man Gesetze; und so leben die Menschen aufs Geratewohl in diesem Meer von Gesetzen und Vorschriften, befolgen kein Gesetz, verwechseln Vorschriften mit Gesetzen und leben weder nach diesen noch nach jenen, sondern nach ihrer Begierde. Wenn du das meinst, dann hast du Recht. Es ist wahr, dass es eine Vielzahl von Gesetzen und Vorschriften gibt, dass ein echtes Gesetz nirgends zu entdecken ist und dass man auch ohne Gesetz leben kann. Das ist wahr, und eben davon will ich sprechen, eben deshalb frage ich: Wessen sind wir – Gottes oder des Teufels? Ob wir nun nach dem Gesetz oder nach unseren Begierden leben, vergiss nicht: das Gesetz existiert; und nicht nur eines, sondern Unmengen von Gesetzen, und wir befolgen Tausende von ihnen, denn der Mensch hat niemals

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ohne sie gelebt und kann auch nicht ohne sie leben. Und inzwischen haben wir so viele Gesetze und finden uns so schlecht in ihnen zurecht, dass wir ebenso gut nach der Begierde leben können – und viele vor uns haben das getan, sie haben sich jene Gesetze ausgewählt, die ihnen passten und haben jene, die ihnen nicht passten, durch andere ersetzt. Und doch muss es Gesetze geben. Wo zwei Menschen nur drei Tage zusammen leben, gibt es Gesetze, und da sollten Millionen und Abermillionen von Menschen der Bibel zufolge 5000 Jahre, der Wissenschaft zufolge aber Millionen Jahre gelebt haben und sich keine Gesetze gegeben haben? Das ist Unsinn, über so etwas muss man gar nicht reden. In diesem Augenblick sitze ich in meinem Haus, meine Kinder lernen und spielen, meine Frau arbeitet, ich schreibe. All das geschieht nur, weil es von jedermann anerkannte Gesetze gibt. In meinem Haus lässt sich kein Fremder nieder, weil es mir gehört und weil nach dem zehnten Gebot niemand begehren soll, was seinem Nächsten gehört.1 Meine Kinder lernen – nach dem fünften Gebot – was ich angeordnet habe; meine Frau ist – nach dem siebten Gebot – vor Übergriffen sicher; ich tue – nach dem vierten Gebot – die Arbeit, die ich kann.2 Ich habe die Gebote des Moses genannt, ich hätte aber auch tausend staatliche Gesetze und Bräuche nennen können, von denen die Hälfte dasselbe besagt. Aber wenn ich wollte, könnte ich auf der Stelle auch andere Gesetze und Bräuche finden, die die ersten aufheben. Ich kann sagen: Wozu hast du ein Haus? Christus, dessen Leben uns Vorbild sein soll, hatte keinen Ort, wo er sein Haupt hätte hinlegen können.3 Warum hast du ein Haus, wenn es arme Leute ohne Obdach gibt? Warum hast du ein Haus, wenn es doch heißt, sorget euch nicht?4 Ich kann sagen: Warum sorgst du dich um deine Kinder? Kein Haar fällt ihnen vom Kopf, wenn der Himmlische Vater es nicht will.5 Warum unterrichtest du sie, wenn doch die Armen im Geiste selig sind?6 Ich kann einfach sagen: Wozu bringst du ihnen heidnische Weisheiten bei, wenn du ein Christ bist? Ich sage: Warum erziehst du sie zum Hochmut, wenn es besser wäre, das Land zu bestellen, warum hast du eine Frau, wenn das Heil darin liegt, nicht zu heiraten?7 Warum hast du eine Frau, wenn es doch heißt, wer seine Frau nicht verlässt … ist meiner nicht wert?8 Wozu arbeitest du und schreibst dies hier, statt Demut zu üben und dich um das Weltliche nicht zu sorgen? Wenn ich mein Haus, meine 1 2 3 4 5 6 7 8

Ex 20,17. Fünftes Gebot = Ex 20,12; siebtes Gebot = Ex 20,14; viertes Gebot = Ex 20,8–11. Vgl. Mt 8,20. Vgl. Mt 6,25–34. Vgl. Mt 10,29f. Vgl. Mt 5,3. Vgl. Mt 19,10–12. Vgl. Mt 10,35–38; 19,29.

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Frau, meine Kinder, meine Arbeit aufgeben würde, würde ich also ebenso dem göttlichen Gesetz folgen und fände auch staatliche Gesetze und Bräuche, die mich darin unterstützen. Frau und Kinder verlassen und ins Kloster gehen oder aber Frau und Kinder verlassen, sich scheiden lassen, eine andere heiraten und in Unzucht leben – für all das fände ich eine Bestätigung in göttlichen wie in menschlichen Gesetzen; also tu, was du willst – für alles lassen sich Gesetze anführen. So ist unsere Lage, und das ist nicht gut. Nicht, dass es keine Gesetze gibt, sondern dass es zu viele davon gibt und dass wir allzu klug geworden sind. Deshalb frage ich mich: Sind wir Gottes, oder sind wir des Teufels? Du aber wirst fragen: Was heißt das, Gottes oder des Teufels? Es ist Zeit, wirst du sagen, sich von diesen alten Wörtern zu verabschieden; lange genug hat man uns diese Märchen erzählt, von Gott und vom Teufel, und es ist schon zuviel Böses geschehen und zuviel Blut vergossen worden ihretwegen. Heute sind wir klüger, wir glauben nicht mehr an diese Märchengeschichten, an Gott und den Teufel. Wenn du sprechen willst, dann sprich so, dass man dich versteht, statt große und sinnlose Worte zu machen. Was ist Gott, was ist der Teufel? Keinen von beiden hat je ein Mensch gesehen, keinen von beiden kann man sich auch nur vorstellen. Es gibt die Menschen, und die Menschen haben Gott und den Teufel erfunden; sie haben sie erfunden und diese Erfindung längst wieder verworfen, weil sie sie nicht brauchen. Wenn du sprechen willst, dann sprich von den Menschen. Eben von den Menschen will ich auch sprechen, und deshalb spreche ich von Gott und vom Teufel – beide wohnen im Menschen und sind von ihm nicht zu trennen. Wenn ich so spreche und Gott und den Teufel erwähne, dann deshalb, weil sich anders nicht sagen lässt, was ich sagen will. Du sagst: es ist nicht zu begreifen, dass Gott eine Ewigkeit lang irgendwo gesessen hat und dann plötzlich auf den Gedanken verfiel, eine Welt zu erschaffen, und sie in sieben Tagen schuf und danach sagte, es ist gut. Und wahrhaftig, wenn wir keine Fragen stellen und man uns das alles plötzlich erzählt, dann können wir beide es wirklich nicht begreifen. Aber können wir denn begreifen, dass alles, was existiert, immer schon da war und keinen Anfang hat? Nein. Auch du sagst, dass alles einen Anfang hat, und von einem Anfang zum nächsten bist du weit zurückgegangen, denn den Berechnungen und Vermutungen nach sind es nicht 7000 Jahre bis zum Anfang, sondern viel mehr. In dieser Ferne siehst du nicht nur die Entstehung der Erde und der Lebewesen auf ihr, sondern auch die Entstehung der Sonne, und noch weiter zurück. Aber wie weit du auch zurückgehst, du räumst ein, dass der Anfang der Anfänge genauso fern und unerreichbar bleibt. Und dennoch suchst du diesen Anfang aller Anfänge, auf ihn zielt dein Blick, aus ihm, sagst du, ist alles entstanden. Eben dies aber, was nicht Teil von etwas ist, sondern der Anfang aller Anfänge, eben dies nenne ich Gott. Zwangsläufig musst du

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mich also verstehen, wenn ich Gott sage, und kannst mich nicht verurteilen. Wir beide kennen Gott nicht, deshalb glauben wir beide gleichermaßen; und es kann auch niemand von uns verlangen, dass wir Gott als den Gott der Genesis verstehen sollen. Um ihn zu verstehen, müssten wir auf das Werkzeug unseres Verstehens verzichten, auf unseren Verstand. Auch von Moses kann niemand verlangen, dass er Himmel, Sonne, Mond und Sterne besser versteht als die Erde. Und doch hat Moses auf die Frage, woher wir kommen, dieselbe Antwort gegeben wie du: aus dem Anfang aller Anfänge, aus Gott. Doch dieser Anfang aller Anfänge, wirst du sagen, ist noch lange nicht das, was man unter dem Wort Gott versteht. Dieses Wort bezeichnet ein Wesen, das für die Menschen sorgt. Es heißt, er habe das Gesetz mit seinem Finger geschrieben, sei im Dornbusch erschienen, habe seinen Sohn gesandt usw. All das ist im vernünftigen Begriff des Anfangs nicht enthalten. Darin stimme ich dir zu: Im Anfang aller Anfänge gibt es keinen solchen Gott. Aber so unbegreiflich für dich der lebendige, mitfühlende, liebende und den Menschen zürnende Gott ist, so unbegreiflich ist für den menschlichen Verstand, was er selbst ist und was sein Leben. Sag mir, was das Leben ist, und ich sage dir, was der lebendige Gott ist. Du sagst: Das Leben ist das dem Menschen eigene, wenn auch falsche Bewusstsein seiner Freiheit, die Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Auswahl unter ihnen. Aber woher kommt dieses Leben? Du sagst: Es hat sich aus niedriger stehenden Organismen entwickelt. Doch auch die niedriger stehenden Organismen trugen dieses Bewusstsein schon in sich – und woher kommen sie? Du sagst: aus einem unendlichen Anfang. Ich nenne das Gott. Ich sage: das Bewusstsein meines Lebens, das Bewusstsein meiner Freiheit ist Gott. Aber auch dies ist noch nicht der ganze Gott, sondern nur der Schöpfer und der lebendige Gott. Doch ich existiere nicht nur, ich lebe nicht nur und strebe danach, meine Bedürfnisse zu befriedigen, und weiß um meine Wahlfreiheit, sondern ich habe auch eine Vernunft, die mich in dieser Wahl leitet. Woher stammt die Vernunft? Diese Vernunft sucht nach dem Anfang, diese Vernunft kämpft gegen den Menschen an, sie zähmt ihn und seine Begierden, sie gibt ihm Gesetze; denn die Gesetze sind nichts anderes als der Kampf, als die Überwindung der Begierden. Sag mir, woher diese Vernunft des Menschen kommt, die Gesetze aufstellt gegen das Fleisch? Du sagst: Diese Gesetze macht der Mensch. Aber woher kommt die Vernunft des Menschen? Aus der Entwicklung alles Lebendigen? Und das Lebendige entsteht aus dem Nicht-Lebendigen? Doch auch im Nicht-Lebendigen gab es schon Keime davon. Schon in den Stücken, die sich von der rotierenden Sonne lösten, gab es Keime von Vernunft. Und auch in der Sonne selbst und in jenen Sternen, von denen die Sonne sich gelöst hat! Wenn es eine Vernunft gibt und diese aus einer Entwicklung hervorgegangen ist, dann liegt auch ihr Anfang in der Unendlichkeit verborgen. Und

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auch der Anfang aller Anfänge der Vernunft ist Gott. Für dich wie für mich fließen alle Begriffe vom Anfang des Seienden, vom Anfang des Lebens wie auch vom Anfang der Vernunft, zusammen. Du begnügst dich damit, deinen Gedankengang nur darzulegen, ich aber nenne das alles Gott. Und das tue ich deshalb, weil ich das, worauf du nur hinweist und was bei dir in dreierlei gedankliche Richtungen zerfällt, irgendwie benennen muss. Aber wozu dann noch der Teufel, wirst du fragen. Der Mensch ist Fleisch, er ist lebendig und vernunftbegabt und entwickelt sich. Das ist alles. Doch hier muss ich dir Einhalt gebieten. Man kann wohl von einem Schnurballen sprechen, der entwickelt wird, oder von einem Keim, der sich im Ei entwickelt, aber es ist unredlich, dieses Wort auf den Menschen und die Menschheit anzuwenden. Wenn du ein Mensch bist, dann lebst du. Also sprich nicht länger von Entwicklung, sondern sieh dich einfach selbst an und sag mir, was du tust, da du lebendig und vernunftbegabt bist? Darauf wirst du sagen, dass du versuchst, zwischen den Bedürfnissen deines Körpers eine vernünftige Wahl zu treffen; nur daraus besteht unser ganzes Leben. Wenn der Mensch die Wahl hat (und dieses Bewusstsein gehört zu seinem Leben), sucht er das Beste, das, was am meisten mit der Vernunft und ihren Gesetzen (Gottes Gesetzen) übereinstimmt. Das aber, was nicht mit den Gesetzen der Vernunft übereinstimmt, nenne ich teuflisch …

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Beichte (Auszug)

Die Beichte ist Tolstojs erstes Werk, das er nach seiner »zweiten Geburt«, wie er seine innere Krise selbst bezeichnete, fertig gestellt hat – nach einer ganzen Reihe unvollendet gebliebener Versuche, seine religiösen Ansichten und seine Einstellung zur Russischen Orthodoxen Kirche in systematischer Form darzulegen. Die endgültige innere Abkehr von der Orthodoxen Kirche im Jahr 1879 dürfte Tolstoj in dieser Absicht bestärkt haben und er machte sich an eine Arbeit, von der er von Anfang an wusste, dass dies »keine Belletristik und nicht zur Veröffentlichung bestimmt sein kann«, wie er seinem Freund Strachov im Herbst 1879 mitteilte. Eine erste Fassung der zukünftigen Beichte vollendete Tolstoj gegen Ende des Jahres 1879. Im Laufe der Arbeit, die sich bis 1882 hinzog, erweiterte er jedoch seine anfängliche Konzeption und entschloss sich, der Auslegung seiner religiösen Zweifel und Fragen eine schonungslose Beschreibung seines bisherigen Lebens voranzuschicken, eine Abrechnung mit sich selbst, seinem Stand und seiner Epoche, die bei »allen Lesern Ekel hervorrufen« sollte. Ein ähnliches literarisches Projekt mit dem Arbeitstitel Mein Leben hatte Tolstoj 1878 aufgegeben. Die Beichte, die den Untertitel Einleitung zu einem unveröffentlichten Werk trägt, sollte den Auftakt eines mehrteiligen religiösen Traktats bilden, der »als Manuskript existiert, aber nicht veröffentlicht werden kann (in Russland)«, wie Tolstoj in einem Brief an Strachov erläutert. Sergej Jur’ev, der Redakteur der Zeitschrift Russkaja mysl’, dem Tolstoj das Manuskript vorgelesen hatte, schlug Tolstoj 1882 vor, die Beichte in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Doch weder ein erläuterndes Vorwort der Redaktion noch Tolstojs Bereitschaft, einige Stellen im Text zu entschärfen, konnten verhindern, dass die geistliche Zensurbehörde nach reiflicher Überlegung die Veröffentlichung schließlich doch verbot (das offizielle Verbot erfolgte im Juni 1882, während die Veröffentlichung für die Mai-Ausgabe der Zeitschrift geplant war, deren Erscheinen man hinausgezögert hatte). Im Verbot der Zensurbehörde hieß es, dass die Beichte »wichtige Wahrheiten des Glaubens und Erlasse der Orthodoxen Kirche in Zweifel zieht und sich abfällig äußert über Wahrheiten und Riten der Orthodoxie«. Aus sämtlichen Nummern der Zeitschrift musste Tolstojs Beitrag herausgeschnitten werden, was dazu führte, dass schon bald Tausende Abschriften und Kopien der Beichte in Russland kursierten, deren Anzahl die Auflage der Russkaja mysl’, die damals 3000 Exemplare betrug, bei weitem überstieg. Veröffentlicht wurde die Beichte erstmals in der Genfer Emigrantenzeitschrift Obˇsˇcee delo (1883–1884) und in Buchform ebenfalls 1884 in Genf; in Russland konnte die Beichte erstmals 1906 vollständig erscheinen. Der übersetzte Auszug (Kap. 12–15) folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 23: 43–56).

Dieses ganze Jahr über, in dem ich mich fast jede Minute fragte, ob ich mich erhängen oder erschießen sollte, diese ganze Zeit über litt mein Herz – abgesehen von den Gedanken und Beobachtungen, von denen oben die Rede war – unter einem qualvollen Gefühl. Dieses Gefühl kann ich nicht anders bezeichnen denn als Suche nach Gott.

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Ich sage, dass diese Suche nach Gott keine Überlegung war, sondern ein Gefühl, da sie sich nicht aus dem Gang meiner Gedanken ergab – sie lief ihnen vielmehr direkt zuwider –, sondern aus dem Herzen kam. Es war ein Gefühl der Angst, Verlassenheit und Einsamkeit, des Fremdseins in allem, was mich umgab, und der Hoffnung auf Hilfe von irgendwoher. Obwohl ich davon überzeugt war, dass Gottesbeweise unmöglich sind (Kant hatte bewiesen, dass Gottes Existenz sich nicht beweisen lässt,1 und das leuchtete mir vollkommen ein), suchte ich dennoch Gott, ich hoffte, ihn zu finden und betete nach alter Gewohnheit zu dem, den ich suchte und nicht fand. Ich war abwechselnd damit beschäftigt, Kants und Schopenhauers Ausführungen über die Unmöglichkeit von Gottesbeweisen im Geist nachzuvollziehen und sie zu widerlegen.2 Der Grund, sagte ich mir, ist eine andere Kategorie des Denkens als Raum und Zeit. Wenn ich existiere, dann gibt es dafür einen Grund, und einen Grund der Gründe. Dieser Grund von allem ist das, was man Gott nennt. Und ich verweilte bei diesem Gedanken und versuchte mit meinem ganzen Wesen, die Gegenwart dieses Grundes zu erfassen. Sobald mir klar wurde, dass es eine Kraft gibt, in deren Macht ich stehe, spürte ich sogleich, dass ich leben konnte. Aber ich fragte mich: »Was ist denn dieser Grund, diese Kraft? Wie soll ich an sie denken, wie soll ich mich zu dem verhalten, was ich Gott nenne?« Und mir kamen nur altbekannte Antworten in den Sinn: »Er ist der Schöpfer und Erhalter.« Diese Antworten befriedigten mich nicht, und ich spürte, wie das, was ich zum Leben brauchte, in mir zunichte wurde. Ich erschrak und fing an, zu dem zu beten, den ich suchte, auf dass er mir helfe. Aber je mehr ich betete, desto klarer wurde mir, dass er mich nicht hörte und dass es niemanden gab, an den ich mich wenden konnte. Und mit Verzweiflung im Herzen, weil ich Gott noch immer nicht gefunden hatte, sprach ich: »Herr, erbarme dich, rette mich! Lehre mich, Herr, mein Gott!« Doch niemand erbarmte sich meiner, und ich spürte, dass mein Leben zum Stillstand kam. Und doch kam ich auch von verschiedenen anderen Seiten her immer wieder zu der Erkenntnis, dass ich doch nicht ohne Anlass, ohne Grund und Sinn auf die Welt gekommen sein konnte, dass ich nicht das aus dem Nest gefallene Vogeljunge sein konnte, als das ich mich fühlte. Und selbst wenn ich, das aus dem Nest gefallene Vögelchen, auf dem Rücken im hohen Gras lag und piepste, so piepste ich doch deshalb, weil ich wusste, dass eine Mutter mich getragen und ausgebrütet, genährt, gewärmt und geliebt hatte. Wo war diese Mutter? Wenn ich verlassen war, wer war es dann, der mich verlas1 In der Kritik der reinen Vernunft (I, Kap. 3, Abschn. 4–6) belegt Kant die Unmöglichkeit ontologischer, kosmologischer und physikalisch-teleologischer Gottesbeweise. 2 Schopenhauer widmet sich der Frage nach möglichen Gottesbeweisen in seiner Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund (II, 7, 8; IV, 20).

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sen hatte? Ich konnte nicht vor mir verbergen, dass mich jemand in Liebe geboren hatte. Aber wer war dieser jemand? Wieder Gott. »Er kennt und sieht mein Suchen, meine Verzweiflung, meinen Kampf. Er existiert«, sagte ich mir. Und sobald ich dies für einen Augenblick einräumte, erwachte meine Lebenskraft, und ich spürte, dass ich sein und mich am Sein erfreuen konnte. Doch ich begnügte mich nicht damit, Gottes Existenz anzuerkennen, sondern versuchte wieder, mein Verhältnis zu ihm zu bestimmen, und wieder schwebte mir jener Gott, unser Schöpfer vor, der in drei Personen existiert und der seinen Sohn, den Erlöser, gesandt hat. Und wieder begann dieser von der Welt und von mir losgelöste Gott dahinzuschmelzen wie eine Eisscholle, er schmolz vor meinen Augen dahin, und wieder blieb nichts zurück, wieder versiegte die Quelle des Lebens und ich verzweifelte und spürte, dass mir nichts anderes blieb als mich zu töten. Und was das Schlimmste war, ich spürte, dass ich nicht einmal das tun konnte. Nicht zwei, nicht drei Mal, sondernd Dutzende, Hunderte Male durchlebte ich diese Zustände – bald freute ich mich und fasste neuen Mut, bald war ich verzweifelt und überzeugt, nicht weiterleben zu können. Einmal, es war im Vorfrühling, ging ich allein durch den Wald und lauschte seinen Geräuschen. Ich lauschte und dachte dabei nur an eines, so wie ich diese letzten drei Jahre ständig nur an eines gedacht habe. Wieder suchte ich Gott. »Gut, es gibt keinen Gott«, sagte ich mir, »keinen, der nicht nur eine Vorstellung von mir wäre, sondern ebenso wirklich wie mein ganzes Leben; einen solchen Gott gibt es nicht. Und nichts, nicht einmal ein Wunder könnte seine Existenz beweisen, denn auch ein Wunder wäre nur eine Vorstellung von mir, und zudem eine unvernünftige.« »Aber was ist dann mit meiner Vorstellung von Gott, von dem, den ich suche?«, fragte ich mich. »Woher kommt diese Vorstellung?« Und bei diesem Gedanken stieg wieder freudig das Leben in mir auf. Alles um mich herum wurde lebendig, bekam einen Sinn. Doch meine Freude währte nicht lange. Mein Verstand arbeitete weiter. »Die Vorstellung von Gott ist nicht gleich Gott«, sagte ich mir. »Die Vorstellung ist etwas, das in mir entsteht, eine Vorstellung von Gott kann ich in mir wachrufen oder auch nicht. Das ist nicht, was ich suche. Ich suche das, ohne das es kein Leben geben könnte.« Und wieder erstarb alles um mich herum und in mir, und wieder wollte ich mich töten. Doch da schaute ich zurück auf mich selbst, auf das, was in mir vorging; ich erinnerte mich an das hundertfache Sterben und Wiederaufleben, das sich in mir abgespielt hatte. Ich erinnerte mich, dass ich immer nur dann gelebt hatte, als ich an Gott glaubte. Wie es früher war, so ist es auch jetzt, sagte ich mir: Sobald ich um Gott weiß, lebe ich; sobald ich ihn vergesse und nicht mehr an ihn glaube, sterbe ich. Aber was ist dieses Aufleben und Sterben? Ich

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lebe nicht, wenn ich den Glauben an die Existenz Gottes verliere, ich hätte mich schon längst getötet, wenn ich nicht die vage Hoffnung hätte, ihn zu finden. Denn leben, wahrhaft leben kann ich nur, wenn ich ihn spüre und ihn suche. Aber was suche ich denn noch?, rief eine Stimme in mir. Hier ist er doch. Er ist das, ohne das man nicht leben kann. Gott kennen und leben ist ein und dasselbe. Gott ist das Leben. Lebe, indem du Gott suchst, und es wird kein Leben ohne Gott mehr geben. Und heller denn je wurde es in mir und um mich herum, und dieses Licht hat mich seither nicht verlassen. Ich war vor dem Selbstmord gerettet. Wann und wie sich diese Wende in mir vollzogen hat, wüsste ich nicht zu sagen. So, wie die Kraft des Lebens unmerklich und allmählich in mir zunichte geworden und ich so weit gekommen war, dass ich nicht mehr leben konnte, dass mein Leben zum Stillstand kam und der Selbstmord mir unumgänglich schien, so allmählich und unmerklich kehrte diese Kraft des Lebens zu mir zurück. Und seltsamerweise war diese Kraft, die zu mir zurückkehrte, keine neue, sondern die allerälteste – eben jene, die mich auch am Beginn meines Lebens mit sich gezogen hatte. Ich kehrte in allem zum Frühesten zurück, zu meiner Kindheit und Jugend. Ich kehrte zurück zum Glauben an einen Willen, der mich hervorgebracht hat und mir etwas abverlangt; ich kehrte zurück zur Überzeugung, dass das wichtigste und einzige Ziel meines Lebens darin bestand, ein besserer Mensch zu werden, d.h. mehr im Einklang mit diesem Willen zu leben; ich kehrte zurück zu dem Gedanken, dass sich ein Ausdruck dieses Willens in dem finden lasse, was die gesamte Menschheit sich in einer vor mir verborgenen Ferne als Leitfaden erarbeitet hatte, d.h. ich kehrte zurück zum Glauben an Gott, an die sittliche Vervollkommnung und die Überlieferung, die den Sinn des Lebens vermittelt. Der einzige Unterschied war, dass ich all dies früher unbewusst angenommen hatte, während ich nun wusste, dass ich anders nicht leben konnte. Was mit mir geschehen war, war gleichsam dies: Man hatte mich – ich weiß nicht mehr wann – in ein Boot gesetzt und mich von einem unbekannten Ufer abgestoßen, hatte mir die Richtung zum anderen Ufer gewiesen, mir Ruder in die unerfahrenen Hände gelegt und mich mir selbst überlassen. Ich benutzte die Ruder, so gut ich konnte, und fuhr dahin; doch je weiter ich in die Mitte kam, desto stärker wurde die Strömung, die mich vom Ziel wegtrug, und desto häufiger begegneten mir andere Schiffer, die wie ich von der Strömung mitgerissen wurden. Es gab einzelne Schiffer, die weiterruderten, und andere, die die Ruder weggelegt hatten; es gab große Boote, riesige Schiffe voller Menschen; manche kämpften gegen die Strömung an, andere überließen sich ihr. Und je weiter ich fuhr, desto mehr vergaß ich im Anblick dessen, wie alle stromabwärts strebten, die Richtung, in die man mich geschickt hatte. In der Mitte des Stroms, eingezwängt zwischen abwärts treiben-

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den Booten und Schiffen, verlor ich die Richtung ganz und ließ die Ruder los. Ringsum trieben lachend und jauchzend in Segel- und Ruderbooten Schiffer stromabwärts, die mir und einander versicherten, dass es gar keine andere Richtung geben könne. Und ich glaubte ihnen und fuhr mit ihnen. Ich wurde weit abgetrieben, so weit, dass ich schon das Rauschen der Stromschnellen hörte, in denen ich zugrunde gehen würde, und schon die ersten zerschellten Boote sah. Da kam ich zu mir. Lange begriff ich nicht, was mir geschehen war. Ich hatte nichts anderes mehr vor mir gesehen als meinen Untergang, auf den ich zulief und den ich fürchtete, ich hatte nirgends Rettung gesehen und nicht gewusst, was ich tun sollte. Doch als ich mich umwandte, sah ich hinter mir unzählige Boote, die ohne innezuhalten beharrlich die Strömung durchmaßen, und da erinnerte ich mich wieder an das Ufer, die Ruder und die Richtung und begann, zurückzurudern, stromaufwärts und dem Ufer zu. Das Ufer war Gott, die Richtung war die Überlieferung, die Ruder waren die mir gegebene Freiheit, ans Ufer zu gelangen – mich mit Gott zu vereinigen. So erstand die Kraft des Lebens neu in mir, und ich begann wieder zu leben. –––––––––– Ich sagte mich vom Leben meiner Standesgenossen los, denn ich hatte erkannt, dass dies kein Leben, sondern nur der Anschein davon war, dass der Überfluss, in dem wir lebten, uns jedes Verständnis des Lebens verstellte und dass ich, um das Leben zu verstehen, nicht dieses Ausnahmeleben von uns Parasiten verstehen musste, sondern das des einfachen arbeitenden Volkes, jenes Volkes, das das Leben macht, und den Sinn, den es diesem Leben gibt. Das einfache arbeitende Volk, das mich umgab, war das russische – diesem Volk und dem, worin es den Sinn des Lebens sieht, wandte ich mich also zu. Soweit er sich in Worten ausdrücken lässt, war dieser Sinn der folgende: Ein jeder Mensch ist kraft Gottes Willen auf der Welt. Und Gott hat den Menschen so geschaffen, dass ein jeder seine Seele zugrunde richten oder retten kann. Die Aufgabe des Menschen im Leben ist es, seine Seele zu retten; um seine Seele zu retten, muss er gottgefällig leben, und um gottgefällig zu leben, muss er auf alle Vergnügungen verzichten, arbeiten, demütig, duldsam und barmherzig sein. Diesen Sinn schöpft das Volk aus der gesamten Glaubenslehre, vermittelt durch die Seelenhirten und durch die Überlieferung, die im Volk weiterlebt und sich in Legenden, Sprichwörtern und Geschichten niederschlägt. Dieser Sinn war mir klar und meinem Herzen nahe. Doch mit diesem Sinn des Volksglaubens ist bei unserem Volk, soweit es keinen Sekten angehört, bei jenem Volk also, in dessen Mitte ich lebte, vieles verbunden, was mich abstieß und mir unerklärlich schien: Sakramente, Gottesdienste, Fastenzeiten, Reliquien- und Ikonenverehrung. Das Volk kann das eine vom anderen nicht trennen, und ich konnte es ebenso wenig. So seltsam

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mir vieles auch vorkam, was zum Glauben des Volkes gehörte, ich bejahte alles, ging zum Gottesdienst, betete morgens und abends, fastete und bereitete mich zum Abendmahl vor, und in der ersten Zeit lehnte meine Vernunft sich gegen nichts auf. Was mir früher unmöglich erschienen war, rief jetzt keinen Widerspruch in mir hervor. Mein Verhältnis zum Glauben war nun ganz anders als zuvor. Früher war das Leben an sich für mich von Sinn erfüllt gewesen, der Glaube aber schien mir im willkürlichen Behaupten von Sätzen zu bestehen, die ich für vollkommen überflüssig, unvernünftig und lebensfern hielt. Damals hatte ich mich gefragt, welchen Sinn diese Glaubenssätze hatten, und nachdem ich mich überzeugt hatte, dass sie keinen hatten, verwarf ich sie. Jetzt dagegen wusste ich sicher, dass mein Leben an sich keinen Sinn hatte und haben konnte, und die Glaubenssätze kamen mir nicht nur nicht überflüssig vor, sondern meine unzweifelhafte Erfahrung hatte mich davon überzeugt, dass nur diese Glaubenssätze dem Leben einen Sinn gaben. Früher hatte ich sie als überflüssiges Kauderwelsch betrachtet, jetzt dagegen wusste ich, auch wenn ich sie nicht verstand, dass sie einen Sinn hatten, und sagte mir, dass ich lernen müsse, sie zu verstehen. Meine Überlegung war die folgende. Ich sagte mir: Das Glaubenswissen entspringt, wie die gesamte Menschheit und ihre Vernunft, aus einem geheimnisvollen Anfang. Dieser Anfang ist Gott, er ist der Anfang sowohl des Körpers des Menschen als auch seiner Vernunft. Wie mein Körper in einer Linie von Gott auf mich gekommen ist, so auch meine Vernunft und meine Art, das Leben zu begreifen, und deshalb können alle früheren Entwicklungsstufen dieses Begreifens nicht falsch sein. Alles, woran Menschen wahrhaft glauben, ist notwendig Wahrheit; sie lässt sich unterschiedlich ausdrücken, zur Lüge aber kann sie nicht werden, und wenn sie mir dennoch als Lüge erscheint, dann heißt das nur, dass ich sie nicht verstehe. Außerdem, sagte ich mir, besteht das Wesen jedes Glaubens darin, dass er dem Leben einen Sinn gibt, der nicht durch den Tod zunichte gemacht wird. Und damit der Glaube sowohl für den Zaren eine Antwort hat, der von Pracht umgeben stirbt, als auch für den alten Sklaven, der sich zu Tode gearbeitet hat, für das törichte Kind ebenso wie für den weisen Alten, die verrückte Greisin, die glückliche junge Frau, den Jüngling im Taumel der Leidenschaften, für alle Menschen unterschiedlichster Lebensumstände und Bildung – wenn es also eine einzige Antwort auf die ewiggleiche Frage des Lebens gibt: »Wozu lebe ich, was wird aus meinem Leben?«, dann muss diese Antwort natürlich, auch wenn sie ihrem Wesen nach einheitlich ist, in ihren Manifestationen unendlich vielfältig sein; und je einheitlicher, je wahrer und tiefer diese Antwort ist, desto absonderlicher und unförmiger muss sie in ihren Versuchen wirken, der Bildung und Situation des Einzelnen entsprechend zum Ausdruck zu kommen. Doch diese Überlegungen, die die Absonderlichkeit der

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rituellen Seite des Glaubens für mich rechtfertigten, bewirkten dennoch nicht, dass ich mir selbst erlaubt hätte, in der einzig wichtigen Sache meines Lebens, im Glauben, Dinge zu tun, an denen ich zweifelte. Mit aller Kraft meiner Seele wollte ich eins werden mit dem Volk, indem ich der rituellen Seite seines Glaubens folgte, doch ich vermochte es nicht. Ich fühlte, dass ich mich selbst belogen und das verspottet hätte, was mir heilig war. Doch da kamen mir neuere, russische theologische Schriften zu Hilfe.3 Den Verfassern dieser Schriften zufolge war das Hauptdogma des Glaubens das der unfehlbaren Kirche. Erkennt man dieses Dogma an, so folgt daraus zwingend die Wahrheit alles dessen, was die Kirche bekennt. Die Kirche als Versammlung der Gläubigen, die durch die Liebe vereint sind und deshalb das wahre Wissen haben, wurde zur Grundlage meines Glaubens. Ich sagte mir, die göttliche Wahrheit könne sich nicht einem einzelnen Menschen erschließen, sondern nur der Gesamtheit der durch die Liebe vereinten Menschen. Um die Wahrheit zu begreifen, darf man sich nicht zersplittern, und um sich nicht zu zersplittern, muss man lieben und Frieden schließen mit dem, womit man nicht einverstanden ist. Die Wahrheit offenbart sich der Liebe, und deshalb vergeht sich gegen die Liebe, wer sich den Zeremonien der Kirche nicht unterwirft; wer sich aber gegen die Liebe vergeht, kann die Wahrheit nicht mehr erkennen. Damals sah ich nicht, dass dieser Gedanke sophistisch war. Ich sah nicht, dass aus der Einheit in Liebe wohl die größte Liebe hervorgehen kann, nicht aber jene theologische Wahrheit, die in bestimmten Worten des Nizänischen Glaubensbekenntnisses4 formuliert ist, ich sah auch nicht, dass die Liebe niemals eine bestimmte Ausdrucksform der Wahrheit zur Voraussetzung der Einheit machen kann. Ich sah damals nicht, dass dieser Gedanke falsch war, und das machte es mir möglich, alle Zeremonien der orthodoxen Kirche zu bejahen und zu befolgen, auch wenn ich sie größtenteils nicht verstand. Ich bemühte mich mit aller Kraft meiner Seele, Überlegungen und Widersprüche jeder Art zu meiden, und versuchte die kirchlichen Glaubenssätze, mit denen ich zu tun hatte, möglichst vernünftig zu erklären. Indem ich den kirchlichen Zeremonien folgte, unterdrückte ich meine Vernunft und unterwarf mich jener Überlieferung, die die ganze Menschheit teilte. Ich vereinte mich mit meinen Vorfahren, meinen geliebten Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Sie und alle, die vor ihnen waren, hatten ge3 Tolstoj verweist auf die Schriften von Jurij Samarin (1819–1876) und Aleksej Chomjakov (1804–1860); Chomjakovs Schriften erwähnt er auch in Anna Karenina und in der Untersuchung der dogmatischen Theologie. 4 Das wichtigste christliche Glaubensbekenntnis, dessen erste Fassung 325 vom Ökumenischen Konzil in Nizäa und dessen erweiterte, letztgültige Fassung 381 vom Ökumenischen Konzil in Konstantinopel verabschiedet wurde (bekannt als Nizäno-Konstantinopolitanum).

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glaubt und gelebt, und ihnen verdankte ich mein Leben. Auch mit Millionen achtenswerter Menschen aus dem Volk war ich so vereint. Zudem war, was ich tat, an sich nichts Schlechtes (schlecht war nach meiner Meinung nur, was den Begierden Vorschub leistete). Wenn ich morgens früh aufstand, um zum Gottesdienst zu gehen, wusste ich allein schon deshalb, dass ich etwas Gutes tat, weil ich, um den Stolz meines Geistes zu brechen, um meinen Vorfahren und Zeitgenossen näher zu kommen und um den Sinn des Lebens zu finden, meine körperliche Ruhe opferte. Dasselbe galt für die Vorbereitungen zum Abendmahl, das tägliche Sprechen der Gebete mit Verneigungen, das Einhalten aller Fastenzeiten. So geringfügig diese Opfer auch waren, es waren Opfer im Namen des Guten. Ich blieb nüchtern, ich fastete und verrichtete zu Hause wie in der Kirche alle vorgeschriebenen Gebete. Beim Gottesdienst lauschte ich auf jedes Wort und deutete es, soweit ich konnte. Die wichtigsten Worte der Liturgie waren für mich: »Lasset uns einander lieben und einmütig …« Die nachfolgenden Worte, »unseren Glauben an den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist bekennen«, übersprang ich, weil ich sie nicht verstand. –––––––––– Ich hatte den Glauben damals so nötig, um am Leben zu bleiben, dass ich die Widersprüche und Unklarheiten der Glaubenslehre unbewusst vor mir selbst verbarg. Doch dieses Deuten der Zeremonien hatte seine Grenzen. Zwar wurde mir die Ektenie5 in ihren wichtigsten Worten immer klarer, zwar konnte ich mir irgendwie einen Reim machen auf die Worte »eingedenk unserer allheiligen Herrin, der Gottesgebärerin mit allen Heiligen, lasst uns selbst und einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott, überantworten«, zwar erklärte ich mir die häufig wiederholten Gebete für den Zaren und seine Angehörigen damit, dass diese häufiger als andere Menschen in Versuchung geführt würden und deshalb auch mehr der Fürbitte bedürften, und die Gebete über die Unterwerfung des Feindes und Widersachers damit, dass dieser Feind das Böse sei – doch für diese letzten Gebete und ähnliche, etwa den Cherubim-Hymnus und die ganze Proskomidie6 oder den Lobgesang auf die »siegreiche himmlische Heeresführerin«7 etc., für fast zwei Drittel aller Gottesdienste also fand ich entweder gar keine Erklärung, oder ich spürte, dass ich mit meinen Erklärungen log und dadurch mein Verhältnis zu Gott ganz zerstörte und jeden Zugang zum Glauben verlor.

5 Fürbittengebet in der orthodoxen Liturgie. 6 Vorbereitung der Opfergaben zur Eucharistie in der orthodoxen Liturgie. 7 Aus dem Hymnus Akathistos der orthodoxen Liturgie.

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Dasselbe empfand ich beim Begehen der hohen Feiertage. Des Sabbats zu gedenken, d.h. einen Wochentag der Hinwendung zu Gott zu widmen, das verstand ich. Doch der wichtigste Feiertag erinnerte an das Ereignis der Auferstehung, deren Wirklichkeit für mich unvorstellbar und unbegreiflich war. Und auch der wöchentlich gefeierte Sonntag hatte seinen Namen, voskresenie, von der Auferstehung. An diesen Tagen feierte man das Sakrament der Eucharistie, das mir völlig unverständlich war. Die übrigen zwölf Feiertage galten, mit Ausnahme von Weihnachten, dem Gedenken an Wunder – also an das, woran ich mich bemühte, nicht zu denken, um es nicht zu leugnen: Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Epiphanias, das Fest zu Ehren des Schutzmantels der Gottesmutter8 usw. – Wenn diese Feiertage begangen wurden und ich das Gefühl hatte, dass dabei gerade den Dingen Bedeutung zugeschrieben wurde, die für mich das Gegenteil von bedeutsam waren, dachte ich mir entweder beruhigende Erklärungen aus, oder ich verschloss die Augen, um nicht zu sehen, was mich auf Abwege führte. Am stärksten ging es mir so, wenn ich an den ganz gewöhnlichen Sakramenten teilnahm, die als die wichtigsten gelten: an Taufe und Abendmahl. Hier hatte ich es nicht mit unbegreiflichen, sondern mit durchaus verständlichen Handlungen zu tun. Diese Handlungen schienen mir auf Abwege zu führen, und so stand ich vor einem Dilemma: Entweder musste ich lügen, oder ich musste sie verwerfen. Nie werde ich das quälende Gefühl vergessen, das ich an dem Tag empfand, als ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder zum Abendmahl ging.9 Die Gottesdienste, die Beichte, die Vorschriften – all das war mir verständlich und weckte das freudige Bewusstsein in mir, dass sich mir der Sinn des Lebens offenbarte. Das Abendmahl selbst erklärte ich mir als etwas, das man zum Gedenken an Christus tat und das für die Reinwaschung von der Sünde und die vollständige Annahme der Lehre Christi stand. Das war zwar eine künstliche Erklärung, doch ich bemerkte ihre Künstlichkeit nicht. So froh war ich, mich vor dem Geistlichen, einem einfachen, schüchternen Priester, zu erniedrigen und zu demütigen, den ganzen Schmutz meiner Seele nach außen zu kehren und meine Verfehlungen zu bereuen, so froh, in Gedanken mit dem Streben der Väter eins zu werden, die die Gebetsordnungen niedergeschrieben hatten, so froh, die Einheit aller Gläubigen von einst und jetzt zu erfahren, dass ich nicht einmal spürte, wie künstlich meine Erklärung war. Doch als ich vor die königliche Tür10 trat und der Priester mich 8 Das Fest Pokrov, das in der Russischen Kirche am 1. Oktober begangen wird. 9 Am Ostersonntag dem 16. April 1878. An diesem Tag schreibt Tolstoj an Strachov: »Ich habe heute gebeichtet und das Abendmahl genommen.« 10 Mittlere Tür in der orthodoxen Ikonostase, die während der Eucharistie offen ist und den Blick auf den Altar freigibt.

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nachsprechen hieß, dass ich das, was ich nun schlucken würde, wahrhaftig für Leib und Blut halte, schnitt es mir ins Herz: Dies war nicht nur ein Missklang, es war eine grausame Forderung, erhoben von einem Menschen, der offensichtlich nie gewusst hatte, was Glaube war. Doch zu sagen, dass das eine grausame Forderung war, erlaube ich mir erst jetzt, damals dachte ich das nicht einmal, mir war nur unsagbar weh ums Herz. Ich war nicht mehr der junge Mann von einst, dem alles im Leben klar schien; eben deshalb war ich ja zum Glauben gekommen, weil ich außerhalb davon nichts, rein gar nichts gefunden hatte, nur das Verderben, und darum konnte ich diesen Glauben nun nicht verwerfen – also fügte ich mich. Und ich fand ein Gefühl in meiner Seele, das mir half, dies zu ertragen. Es war das Gefühl der Selbsterniedrigung und Demut. Ich beugte mich und schluckte dieses Blut und diesen Leib, ich hatte nicht das Gefühl, Gott zu lästern, ich wollte glauben, doch dieser Schlag hatte mich getroffen. Da ich nun wusste, was mich erwartete, ging ich kein zweites Mal zum Abendmahl. Ich fuhr unverändert fort, die kirchlichen Zeremonien zu befolgen, und glaubte immer noch, dass in der Glaubenslehre, der ich anhing, die Wahrheit lag, und zugleich geschah etwas mit mir, das mir heute klar ist, damals aber sonderbar schien. Wenn ich einen ungebildeten wallfahrenden Bauern von Gott, vom Glauben, vom Leben, vom Heil reden hörte, dann erschloss sich mir das Glaubenswissen. Sobald ich dem Volk nahe war und hörte, was es über das Leben und den Glauben dachte, verstand ich die Wahrheit immer besser. Dasselbe geschah, wenn ich in den Lesemenäen und den Prologen11 las; sie wurden zu meiner liebsten Lektüre. Wenn ich von den Wundern absah und sie als Fabeln betrachtete, die bestimmte Gedanken ausdrückten, dann erschloss sich mir beim Lesen der Sinn des Lebens. Diese Bücher enthielten die Viten von Makarios dem Großen und Josaphat von Indien (die Buddha-Geschichte); sie enthielten die Worte des Johannes Chrysostomos, die Erzählungen vom Wanderer im Brunnen,12 vom Mönch, der Gold gefunden hatte13, von Petrus dem Zöllner14; sie enthielten Geschichten von Märtyrern, die allesamt dasselbe besagten, nämlich dass der Tod das Leben nicht ausschließt; sie enthiel11 In den Lesemenäen sind die Heiligenviten des gesamten Kirchenjahres vereinigt, in den Prologen (= Synaxarien) findet man Kurzversionen der Heiligenviten. 12 Gemeint ist das »Gleichnis des hl. Varlaam über diese vergängliche Welt« (im Prolog unter dem 19. Nov.). Im 4. Kapitel der Beichte wird es nacherzählt unter der Bezeichnung »Morgenländisches Märchen von dem Reisenden und dem reißenden Tier«. 13 Die Legende vom Mönch Philagrios (im Prolog unter dem 13. Sept.). 14 Diese Johannes dem Barmherzigen zugeschriebene Legende (im Prolog unter dem 22. Sept.) wollte Tolstoj 1883/84 als Drama verarbeiten. Daraus entstand sein kurzes Volksstück Bäcker Petrus (1894).

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ten Geschichten von Menschen, die ungebildet und dumm waren und nichts von den Lehren der Kirche wussten, und die doch gerettet wurden. Doch sobald ich mit gebildeten Gläubigen zusammentraf oder ihre Bücher zur Hand nahm, kamen Selbstzweifel, Unzufriedenheit und Wut in mir auf und ich fühlte, dass ich mich, je mehr ich mich in ihre Reden vertiefte, immer weiter von der Wahrheit entfernte und auf den Abgrund zuging. –––––––––– Wie oft beneidete ich die Bauern darum, dass sie nicht lesen und schreiben konnten und nicht gebildet waren. Aus den Glaubenssätzen, die für mich offensichtlich absurd waren, folgte für sie nichts Falsches; sie konnten sie annehmen und an die Wahrheit glauben, dieselbe Wahrheit, an die auch ich glaubte. Nur war mir Unglücklichem klar, dass die Wahrheit durch feinste Fäden mit der Lüge verwoben war, und dass ich sie in dieser Form nicht annehmen konnte. So lebte ich drei Jahre, und in der ersten Zeit, als ich, wie ein Katechumeine,15 nur in kleinen Schritten der Wahrheit teilhaftig wurde und nur von meiner Intuition geleitet dorthin ging, wo es mir heller schien, bestürzten mich diese Widersprüche noch nicht so sehr. Wenn ich etwas nicht verstand, sagte ich mir: »Es ist meine Schuld, ich bin ein schlechter Mensch.« Doch je mehr ich durchdrungen war von den Wahrheiten, die ich lernte, je mehr sie mir zur Lebensgrundlage wurden, desto schwerwiegender und unübersehbarer wurden diese Widersprüche und desto schärfer trat die Grenze zwischen dem hervor, was ich nicht verstehe, weil ich es nicht verstehen kann, und dem, was nur der verstehen kann, der sich selbst belügt. Trotz dieser Zweifel und Leiden hielt ich noch an der Orthodoxie fest. Doch dann tauchten Lebensfragen auf, die es zu lösen galt, und die Lösung der Kirche für diese Fragen – eine Lösung, die den innersten Grundlagen des Glaubens, in dem ich lebte, zuwiderlief – führte endgültig dazu, dass ich jede Verbindung mit der Orthodoxie ausschloss. Zu diesen Fragen gehörte erstens das Verhältnis der orthodoxen Kirche zu den anderen Kirchen – zum Katholizismus und zu den sogenannten Schismatikern. Ich hatte damals infolge meines Interesses am Glauben engen Kontakt zu Gläubigen verschiedener Konfessionen: Katholiken, Protestanten, Altgläubigen, Molokanen16 u.a. Viele von ihnen waren sittlich hochstehende, wahrhaft gläubige Men15 Taufbewerber. 16 Die pazifistisch-religiöse Gemeinschaft der Molokanen (»Milchtrinker«) hat sich von der Orthodoxen Kirche abgespalten und erkennt einzig die Bibel als Grundlage der Lebensgestaltung an. Die Bezeichnung der Gruppe rührt daher, dass ihre Mitglieder auch während der Fastenzeit Milch konsumieren.

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schen. Ich wollte der Bruder dieser Menschen sein. Doch was erfuhr ich? Die Lehre, die mir versprach, alle im gemeinsamen Glauben und in Liebe zu vereinen, eben diese Lehre sagte mir aus dem Munde ihrer besten Vertreter, dass alle diese Menschen in der Lüge lebten; was ihnen die Kraft zum Leben gebe, entstamme einer teuflischen Versuchung, und nur wir allein seien im Besitz der einzig möglichen Wahrheit. Ich sah, dass die Orthodoxen jeden, der seinen Glauben anders bekennt als sie, für einen Ketzer hielten, genauso wie die Katholiken und andere die Orthodoxie für Ketzerei halten; ich sah, dass die Orthodoxie, auch wenn sie dies zu verbergen sucht, allen, deren Bekenntnisse in der äußeren Form und den Worten vom ihrigen abweichen, feindlich gegenübersteht, und anders kann es auch nicht sein – erstens, weil der Satz, dass du in der Lüge lebst, ich aber in der Wahrheit, das Grausamste ist, was ein Mensch einem anderen sagen kann, und zweitens, weil ein Mensch, der seine Kinder und seine Brüder liebt, nicht umhin kann, Leuten, die seine Kinder und Brüder zu einem falschen Glauben bekehren wollen, feindlich gegenüberzustehen. Diese Feindseligkeit wird umso größer, je besser man die Glaubenslehre kennt. Ich aber, der ich die Wahrheit in der Einheit der Liebe sah, konnte nicht übersehen, dass die Glaubenslehre selbst das zerstörte, was sie hervorbringen sollte. Dieser Irrweg ist so offensichtlich, zumindest für uns gebildete Menschen, die wir in Ländern gelebt haben, wo es verschiedene Konfessionen gibt, und gesehen haben, mit welcher Verachtung und unerschütterlichen Selbstgewissheit der Katholik den Orthodoxen und den Protestanten ablehnt, der Orthodoxe den Katholiken und Protestanten, und der Protestant die beiden anderen, und genauso verhält sich der Altgläubige, der Paˇskovianer,17 der Shaker18 und alle anderen Glaubensgemeinschaften – so offensichtlich ist dieser Irrweg also, dass eben dies zunächst befremdet. Man sagt sich, es kann doch nicht sein, dass das so einfach ist, und die Menschen trotzdem nicht sehen, dass von zwei Behauptungen, die einander ausschließen, keine jene eine Wahrheit enthält, die der Glaube sein soll. Dahinter steckt doch etwas. Es muss eine Erklärung geben. Ich glaubte wirklich, dass es eine solche Erklärung gab, und suchte nach ihr, und las alles zu diesem Thema, was ich konnte, und beriet mich, mit wem ich konnte. Doch ich fand keine Erklärung, nur die, aufgrund deren auch die Husaren von Sumy meinen, das beste Husarenregiment der Welt seien die Husaren von Sumy, und die gelben Ulanen glauben, das beste Regiment der Welt seien die gelben Ulanen. Die Geistlichen sämtlicher Konfessionen, ihre besten Vertreter, haben mir alle nichts anderes gesagt, als dass sie glaubten, sie selbst seien in der Wahrheit, 17 Anhänger von Vasilij Paˇskov (1831–1902), der sich seinerseits auf die Lehre von Lord Radstock bezog; siehe auch den Beitrag von Sergei Zhuk in diesem Band. 18 Eine im 18. Jh. aus dem Quäkertum hervorgegangene Glaubensgemeinschaft.

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die anderen aber im Irrtum, und dass sie für diese anderen nichts weiter tun könnten als beten. Ich befragte Archimandriten, Bischöfen, Starzen und Asketen, doch keiner machte auch nur einen Versuch, mir diese Verirrung zu erklären. Nur ein Einziger legte mir alles dar, aber auf eine Weise, dass ich danach niemanden mehr fragte. Ich sprach davon, dass sich für jeden Ungläubigen, der sich dem Glauben zuwendet (und dies betrifft unsere gesamte junge Generation), als erstes diese Frage stellt: Warum liegt die Wahrheit nicht im lutherischen und nicht im katholischen Glauben, sondern gerade in der Orthodoxie? Anders als der Bauer lernt er im Gymnasium und muss es deshalb wissen, dass auch der Protestant und der Katholik behaupten, ihr Glaube sei der einzig wahre. Historische Argumente, wie jede Konfession sie sich zu ihren Gunsten zurechtlegt, reichen nicht aus. Kann man, so sagte ich, die Lehre nicht in einem höheren Sinn verstehen, so, dass die Unterschiede von dieser Höhe der Lehre gesehen verschwinden, wie sie auch für den wahrhaft Gläubigen verschwinden? Kann man nicht auf demselben Weg weitergehen, den wir mit den Altgläubigen gehen? Die Altgläubigen sagen, das Kreuz, das Halleluja und das Umkreisen des Altars seien bei uns anders als bei ihnen. Wir sagen: Ihr glaubt an das Nizänische Glaubensbekenntnis und an die sieben Sakramente, wir ebenso. Halten wir uns daran, und in allem übrigen tut, was ihr wollt. Unsere Vereinigung mit ihnen beruht darauf, dass wir das, was wesentlich ist am Glauben, über das Unwesentliche gestellt haben. Kann man nicht auch zu den Katholiken sagen: Ihr glaubt an dieses und jenes, an das Wichtigste, und was das filioque19 und den Papst angeht, tut, was ihr wollt? Kann man dasselbe nicht auch den Protestanten sagen und sich im Wichtigsten mit ihnen vereinigen? Mein Gesprächspartner stimmte meinem Gedanken zu, sagte aber, solche Zugeständnisse würden der geistlichen Macht den Vorwurf eintragen, sie falle vom Glauben der Väter ab, und würden zu einer Spaltung führen, die Bestimmung der geistlichen Macht sei es aber, den griechisch-russischen orthodoxen Glauben in seiner ganzen Reinheit zu bewahren, so, wie er ihr von den Vätern überliefert worden sei. Da wurde mir alles klar. Ich suche den Glauben, die Kraft des Lebens, sie aber suchen den besten Weg, um vor den Menschen bestimmte menschliche Verpflichtungen zu erfüllen. Und sie erledigen diese menschlichen Dinge nach Menschenart. So viel sie auch von ihrem Mitleid mit den verirrten Brüdern sprechen, von ihren Gebeten, die sie am Thron des Allerhöchsten für sie darbringen – für die menschlichen Dinge bedarf es der Gewalt, sie wird 19 Filioque (und dem Sohn) ist ein Zusatz der Kirche des Abendlandes zum Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis, den die Orthodoxe Kirche ablehnt. Bis heute ist das filioque ein Streitpunkt im theologischen Gespräch zwischen Ostkirchen und Westkirchen.

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und wurde immer angewendet, und so wird es auch bleiben. Wenn zwei Konfessionen meinen, sie selbst seien in der Wahrheit, die jeweils andere aber in der Lüge, dann werden sie im Wunsch, ihre Brüder zur Wahrheit zu führen, die eigene Lehre predigen. Und wenn den unerfahrenen Söhnen einer solchen Kirche, die in der Wahrheit ist, die falsche Lehre gepredigt wird, dann kann diese Kirche nicht umhin, die Bücher zu verbrennen und die Menschen zu beseitigen, die ihre Söhne in Versuchung führen. Was soll man denn tun mit dem Sektierer, der für einen nach Meinung der Orthodoxie falschen Glauben brennt und der in der wichtigsten Sache des Lebens, im Glauben, die Söhne der Kirche in Versuchung führt? Was soll man denn tun mit ihm, außer ihn köpfen oder einsperren? Unter Zar Aleksej Michajloviˇc hätte man ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannt, d.h. man hätte die damalige Höchststrafe angewandt;20 heute wendet man ebenfalls die Höchststrafe an, nämlich Einzelhaft. Und mir wurde bewusst, was alles im Namen des Glaubensbekenntnisses geschieht, und ich war entsetzt und stand kurz davor, mich ganz von der Orthodoxie loszusagen. Die zweite Lebensfrage war das Verhältnis der Kirche zu Krieg und Verfolgungen. In Russland war damals ein Krieg ausgebrochen.21 Und die Russen begannen, im Namen der christlichen Liebe ihre Brüder zu töten. Daran nicht zu denken, war unmöglich. Nicht zu sehen, dass Töten etwas Böses ist, das den uranfänglichen Grundlagen jedes Glaubens zuwiderläuft, war unmöglich. Doch in den Kirchen wurde für den Sieg unserer Waffen gebetet, und die Glaubenslehrer erklärten dieses Töten zu einem Tun, das sich aus dem Glauben ergebe. Und nicht nur dieses Töten im Krieg, nein, auch während der Unruhen, die auf ihn folgten, sah ich Mitglieder der Kirche, Lehrer, Mönche und Asketen, die es guthießen, wenn irregeleitete hilflose Jünglinge getötet wurden.22 Und mir wurde bewusst, was Menschen, die sich zum christlichen Glauben bekennen, alles tun, und ich war entsetzt.

20 Unter Zar Aleksej Michajloviˇc (1645–1676) wurde 1649 als Strafe für Blasphemie der Feuertod eingeführt. Diesem fielen nach der Kirchenspaltung die Führer der Altgläubigen zum Opfer, darunter der berühmte Protopope Avvakum († 1682). 21 Der Russisch-Türkische Krieg 1877–1878. 22 Tolstoj spielt hier wohl auf Hinrichtungen von Angehörigen der terroristischen Organisation Narodnaja volja (Volkswille) an.

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Das Fragment mit dem Titel Kirche und Staat dürfte im Winter 1879/1880 entstanden sein. Tolstoj scheint das Interesse an dieser Arbeit schon bald verloren zu haben, nicht zuletzt weil er mit dem Studium der Quellen für seine Untersuchung der dogmatischen Theologie beschäftigt war. Pavel Birjukov berichtet, wie er um 1885 im Arbeitszimmer von Tolstoj zufällig auf eine Abschrift von Kirche und Staat gestoßen sei, die er mit Interesse gelesen habe. Tolstoj stellte Birjukov diese Abschrift bereitwillig zur Verfügung, die kurz darauf in Studentenkreisen in St. Petersburg in vervielfältigter Form zu kursieren begann – wovon Tolstoj, der keine Anstrengungen unternahm, seinen Aufsatz zu veröffentlichen, allerdings erst später erfuhr. Tolstoj scheint diesem Fragment keine besondere Bedeutung beigemessen zu haben; in einem Brief aus dem Jahr 1886 schreibt er: »Kirche und Staat sind nur ein paar Gedanken, die ich zu Papier gebracht habe … Da gibt es nichts besonders Neues oder Bedeutendes.« In der Tat handelt es sich zum überwiegenden Teil um Gedanken, die Tolstoj schon in der Beichte festgehalten hat und die er später in der Untersuchung der dogmatischen Theologie noch einmal entfaltet. Im Vergleich zur subjektiv-intimen Darstellung in der Beichte werden sie im vorliegenden Traktat jedoch objektiviert und verallgemeinert. Die erste gedruckte Ausgabe von Kirche und Staat erschien 1891 in Berlin, allerdings in einer textologisch unzuverlässigen Fassung. Cˇertkov veröffentlichte das Fragment 1904 im 10. Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs (L.N. Tolstoj, Polnoe sobranie soˇcinenij, zapreˇsˇcennych v Rossii, Bd. 10, Christchurch 1904). In Russland wurde dieser Text erstmals 1906 publiziert. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 23: 475–483).

Der Glaube ist der Sinn, den man dem Leben gibt, er ist das, was ihm Kraft und Richtung gibt. Jeder lebende Mensch findet einen solchen Sinn, auf dessen Grundlage er lebt. Wer ihn nicht findet, stirbt. Auf der Suche nach diesem Sinn nutzt der Mensch alles, was die Menschheit als ganze erarbeitet hat. Alles dies, was die Menschheit erarbeitet hat, nennt man Offenbarung. Die Offenbarung ist das, was dem Menschen hilft, den Sinn des Lebens zu begreifen. Dies ist das Verhältnis des Menschen zum Glauben. Aber wie erstaunlich: Da gibt es Menschen, die alles daran setzen, dass andere Menschen eine ganz bestimmte Form der Offenbarung nutzen und keine andere. Sie finden keine Ruhe, solange die anderen nicht ihre, genau ihre Form der Offenbarung annehmen; sie verfluchen, quälen, töten so viele sie nur können von denen, die anders denken als sie. Die anderen tun dasselbe – sie verfluchen, quälen, töten von den Andersdenkenden, wen immer sie können. Und wieder andere tun auch dasselbe. Und so verfluchen, quälen, töten sie sich alle gegenseitig und fordern, dass alle glauben sollen wie

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sie. Und am Ende gibt es hunderterlei Religionen, und alle verfluchen, quälen und töten sich gegenseitig. Anfangs war ich verblüfft darüber, dass etwas so offensichtlich Absurdes, ein so offensichtlicher Widerspruch nicht den Glauben selbst zunichte machte. Wie konnte es sein, dass gläubige Menschen sich nicht von diesem Betrug freimachten? Wahrhaftig, allgemein betrachtet ist das unbegreiflich und ein schlagender Beweis dafür, dass jeder Glaube Betrug ist, dass all dies nur Aberglaube ist, wie auch die derzeit herrschende Philosophie es darlegt.1 Von diesem allgemeinen Standpunkt aus gelangte auch ich unweigerlich zu der Erkenntnis, dass alle Religionen nur menschlicher Betrug sind, doch ich konnte auch nicht über den Gedanken hinweggehen, dass gerade die Dummheit dieses Betrugs, seine Offensichtlichkeit, und andererseits der Umstand, dass ihm dennoch die ganze Menschheit erliegt, dass eben dies zeigt, dass diesem Betrug etwas zugrunde liegt, das kein Betrug ist. Andernfalls wäre das Ganze so dumm, dass man nicht darauf hereinfallen könnte. Allein dass die gesamte Menschheit, soweit sie wahrhaft lebte, diesem Betrug aufsaß, überzeugte mich von der Bedeutung jenes Phänomens, auf dem der Betrug beruhte. Und aus dieser Überzeugung heraus begann ich, die christliche Lehre, auf der der Betrug an der gesamten christlichen Menschheit gründet, zu analysieren. Soweit der allgemeine Standpunkt; vom persönlichen Standpunkt aber, aufgrund dessen ich wie jeder andere Mensch, der leben will, an einen Sinn des Lebens glauben muss und glaube, wird das Phänomen der Gewalt in Glaubenssachen durch seine Absurdität nur noch verblüffender. In der Tat, wie, wozu, wer kann das brauchen, dass ein anderer nicht nur dasselbe glaubt, sondern seinen Glauben auch in derselben Weise bekennt wie ich? Dass er lebt, zeigt, dass er den Sinn des Lebens kennt. Sein Verhältnis zu Gott steht fest, er kennt die Wahrheit der Wahrheiten, und auch ich kenne die Wahrheit der Wahrheiten. Sie kann auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen (ihr Wesen ist notwendig dasselbe, denn wir sind beide Menschen). Wie, wozu, was könnte mich dazu bringen, von wem auch immer zu verlangen, dass er seine Wahrheit unbedingt auf dieselbe Weise zum Ausdruck bringen soll wie ich? Weder mit Gewalt, noch mit List und Betrug (mit falschen Wundern) kann ich einen Menschen zwingen, seinen Glauben zu ändern. Der Glaube ist sein Leben. Wie kann ich ihm seinen Glauben nehmen und ihm einen anderen geben? Das wäre dasselbe, wie ihm das Herz herauszunehmen und ein anderes einzusetzen. Ich kann es nur dann, wenn mein wie 1 Die Schriften von Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat Tolstoj intensiv rezipiert.

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sein Glaube nur Worte sind und nicht das Leben selbst – wenn der Glaube nicht das Herz ist, sondern ein Auswuchs. Weder kann man einen Menschen mit Lügen und Gewalt dazu bringen, an etwas zu glauben, an das er nicht glaubt, noch kann jemand, der selbst glaubt – das heißt, dessen Verhältnis zu Gott feststeht und der deshalb weiß, dass der Glaube eben dieses Verhältnis eines Menschen zu Gott ist –, durch Gewalt oder Betrug ein Verhältnis zwischen einem anderen Menschen und Gott festlegen wollen. Das ist unmöglich, und doch tut man es und hat es schon immer und überall getan; das heißt, wirklich tun konnte man es nicht, da es unmöglich ist, aber etwas sehr Ähnliches tat man und tut man noch: Menschen zwingen anderen Menschen etwas auf, was äußerlich dem Glauben gleicht, und die anderen fügen sich – sie nehmen diesen Anschein von Glauben, diesen Glaubensbetrug an. Der Glaube kann sich nicht aufdrängen, man kann ihn nicht aus äußeren Gründen annehmen, unter Einwirkung von Gewalt oder Betrug, oder eines Vorteils wegen; daher handelt es sich hier nicht um Glauben, sondern um eine Illusion davon, einen Glaubensbetrug. Und gerade auf diesem Glaubensbetrug baute lange Zeit das Leben der Menschheit auf. Worin besteht dieser Betrug, und worauf beruht er? Was ruft ihn bei den Betrügenden hervor, und was stützt ihn bei den Betrogenen? Ich will nicht vom Brahmanismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Mohammedanismus sprechen, allerdings nicht, weil man hier nicht auf dieselben Erscheinungen stoßen könnte. Jedem, der etwas über diese Religionen gelesen hat, ist klar, dass in ihnen dasselbe vorgefallen ist wie auch im Christentum; ich werde aber ausschließlich vom Christentum sprechen, als dem Glauben, der uns vertraut, notwendig und teuer ist. Im Christentum geht aller Betrug auf den phantastischen, vollkommen unbegründeten Begriff der Kirche zurück, einen Begriff, dessen unvermittelte und unnötige Absurdität seit jeher die frappiert hat, die sich mit dem Christentum auseinandersetzten. Unter allen gottlosen Begriffen und Ausdrücken gibt es keinen gottloseren als den Begriff der Kirche. Es gibt keinen Begriff, der mehr Böses hervorgebracht hätte, und keinen, der der Lehre Christi mehr widersprechen würde als der Begriff der Kirche. Im Grunde bedeutet das Wort ekklesia Versammlung, weiter nichts, und so wird es auch in den Evangelien gebraucht. In den Sprachen aller Völker bedeutet ekklesia Bethaus. Über diese Bedeutungen hinaus ist das Wort in keine Sprache eingedrungen, trotz des Betrugs der Kirche, der seit 1500 Jahren existiert. Der Definition jener Priester zufolge, die dieses Betrugs bedürfen, kommt der Begriff Kirche einem Vorwort gleich, das da lautet: Alles, was ich nun sagen werde, ist die reine Wahrheit, und wenn du nicht daran glaubst, werde ich dich verbrennen oder verfluchen und dich auf jede erdenkliche Weise quälen. Dieser Begriff ist ein Sophismus, der bestimmten

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dialektischen Zielen dient, und er bleibt denen vorbehalten, die seiner bedürfen. Beim Volk, und nicht nur dort, sondern auch in der höheren Gesellschaft und unter gebildeten Menschen kommt dieser Begriff gar nicht vor, obwohl er in den Katechismen unterrichtet wird. Diese Definition (so unangenehm es mir auch ist, sie ernsthaft zu analysieren, muss ich es doch tun, weil so viele Menschen sie so ernsthaft für etwas Wichtiges ausgeben) – diese Definition ist vollkommen falsch. Wenn man sagt, dass die Kirche die Versammlung der wahrhaft Gläubigen ist, dann sagt man damit eigentlich nichts (von den phantastischen Toten2 will ich hier gar nicht reden), denn wenn ich von einer Kapelle sage, sie sei die Versammlung aller wahren Musiker, dann habe ich damit noch nichts gesagt, solange ich nicht hinzufüge, was ich unter einem wahren Musiker verstehe. Der Theologie zufolge aber sind die wahren Gläubigen eben die, die der Lehre der Kirche folgen, d.h. der Kirche angehören. Selbst abgesehen davon, dass es solche wahren Religionen zu Hunderten gibt, sagt diese Definition nichts aus und ist sogar nutzlos, ebenso wie die der Kapelle als Versammlung der wahren Musiker; doch unmittelbar hinter ihr kommt etwas anderes zum Vorschein. Die Kirche ist wahr und einzig, und in ihr gibt es die Hirten und die Herde; und die von Gott eingesetzten Hirten unterweisen in dieser wahren und einzigen Lehre, also: »Bei Gott, alles, was wir sagen, ist die reine, wahrhaftige Wahrheit.« Das ist alles. Der ganze Betrug besteht darin, im Wort und Begriff der Kirche. Und der einzige Sinn dieses Betrugs ist, dass es Menschen gibt, die um jeden Preis anderen ihren eigenen Glauben beibringen wollen. Und weshalb wollen sie unbedingt anderen Menschen ihren Glauben beibringen? Wenn sie wahren Glauben hätten, dann wüssten sie, dass der Glaube der Sinn des Lebens ist, das Verhältnis zu Gott, das jeder einzelne Mensch für sich festlegt, und dass man den Glauben deshalb nicht lehren kann, nur den Glaubensbetrug. Sie aber wollen lehren. Weshalb? Die einfachste Antwort wäre, dass der Pope Brot und Eier braucht, und der Erzbischof einen Palast, Pasteten und seidene Roben. Zweifellos ist das der innere, psychologische Beweggrund des Betrugs, der Grund, der diesen aufrechterhält. Doch wie man auf die Frage, wie ein Mensch (der Henker) sich entschließen kann, einen anderen, gegen den er keinerlei Hass empfindet, zu töten, keine zureichende Antwort gäbe, indem man sagte, dass der Henker tötet, weil man ihm Wodka, Weißbrot und ein rotes Hemd gibt, so genügt es auch nicht zu sagen, dass der Metropolit von Kiev mit seinen Mönchen nur deshalb Strohsäcke ausstopft und sie als Heiligenreliquien ausgibt, um sein Einkommen von dreißigtausend Rubeln zu 2 Tolstoj spielt hier auf die Vorstellung von der Kirche als Gemeinschaft nicht nur der lebenden, sondern auch der toten Gläubigen an, wobei er wohl an die Heiligen denkt, die als Fürbitter bei Gott gelten und deren Reliquien angeblich Wunder wirken.

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beziehen. Beide Taten sind zu entsetzlich und widersprechen der Natur des Menschen zu sehr, als dass eine so einfache, grobe Erklärung ausreichen könnte. Der Henker wie auch der Metropolit werden, um ihre Tat zu erklären, eine ganze Reihe von Argumenten anführen, die sich hauptsächlich auf die historische Überlieferung stützen. »Der Mensch braucht Strafen. Bestraft wurde immer, seit es die Welt gibt. Wenn ich es nicht tue, tut es ein anderer. Ich tue es, mit Gottes Hilfe, besser als ein anderer.« Genauso wird auch der Metropolit sprechen: »Ohne äußere Gottesverehrung geht es nicht. Heiligenreliquien wurden immer verehrt, seit es die Welt gibt. Diese Reliquien ziehen Menschen an. Wenn ich es nicht tue, wird sich ein anderer ihrer annehmen. Mit Gottes Hilfe hoffe ich, das Geld, das der blasphemische Betrug einbringt, möglichst gottgefällig zu verwenden.« Um den Glaubensbetrug zu verstehen, muss man an seinen Beginn und Ursprung zurückgehen. Wir sprechen von dem, was wir über das Christentum wissen. Wenn wir uns dem Beginn der christlichen Lehre zuwenden, dann finden wir in den Evangelien eine Lehre, die die äußere Gottesverehrung ausdrücklich ausschließt und verurteilt, und die besonders klar und entschieden jede Art von Lehrtätigkeit ablehnt. Doch wenn wir uns von der Zeit Christi entfernen und unserer Zeit nähern, sehen wir, dass die Lehre von diesen durch Christus gelegten Grundlagen abweicht. Die Abweichung beginnt zur Zeit der Apostel, insbesondere des Paulus, der ein großer Freund des Lehrens war; und je weiter sich das Christentum ausbreitet, desto mehr weicht es ab und verlegt sich auf eben jene äußere Gottesverehrung und Lehre, deren Ablehnung Christus so deutlich ausgedrückt hatte. In der Frühzeit des Christentums aber heißt der Begriff »Kirche« nur: alle, die denselben Glauben teilen, den auch ich für wahr halte – ein vollkommen richtiger Begriff, solange er nicht den Ausdruck des Glaubens mit Worten, sondern durch das ganze Leben beinhaltet, denn der Glaube lässt sich nicht mit Worten ausdrücken. Auch der Begriff der wahren Kirche wurde verwendet, als Argument gegen Heterodoxe, doch bis zu Kaiser Konstantin und dem Konzil von Nizäa3 bleibt Kirche nur ein Begriff, danach aber wird sie zu einem Tun, und zwar einem betrügerischen. Es beginnt jener Betrug der Metropoliten mit den Reliquien, der Popen mit der Eucharistie, der Iverskaja-Ikonen,4 der Synoden etc., jener Betrug, über den wir so sprachlos und entsetzt sind, und der zu scheußlich ist, als dass er sich nur durch den Vorteil erklären ließe, den die 3 Das Konzil von Nizäa wurde von Kaiser Konstantin zur Sicherung des Religionsfriedens 325 einberufen. 4 Die »Jungfrau von Iviron« (Iverskaja ikona) ist eine Marienikone aus dem Kloster Iviron auf dem Athos, die als wundertätig gilt und vom Evangelisten Lukas gemalt worden sein soll. Von ihr gibt es viele Kopien, die zum Teil auch als wundertätig gelten. So z.B. jene Iverskaja-Ikone, die bis zu ihrem Verschwinden in den Revolutionswirren in der Ivironkapelle des Auferstehungstors am Roten Platz aufbewahrt wurde.

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Beteiligten aus ihm ziehen. Dieser Betrug ist alt, und er entstand nicht nur aus dem Eigennutz einzelner Personen. Kein Mensch wäre verworfen genug, so etwas zu tun, wenn er kein Vorbild dafür und keine anderen Gründe hätte. Diese anderen Gründe waren keine guten. »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Am Anfang stand das Böse – Hass, menschlicher Stolz, die Feindschaft gegen Arius und andere; ein weiteres, noch größeres Übel aber war das Bündnis der Christen mit der Macht. Die Macht, also Kaiser Konstantin, der nach heidnischen Vorstellungen an der Spitze menschlichen Ruhms stand (die Kaiser wurden zu den Göttern gezählt), nimmt das Christentum an, gibt dem ganzen Volk ein Beispiel, bekehrt es und hilft ihm, die Ketzer abzuwehren, und begründet mithilfe des ökumenischen Konzils den einen, rechten, christlichen Glauben. Damit stand der christliche katholische Glaube ein für alle Mal fest. Es war nur natürlich, diesem Betrug zu erliegen, und so glaubt man bis heute, dass dieses Ereignis die Rettung brachte. Und doch war es eben dieses Ereignis, bei dem die Mehrheit der Christen vom Glauben abfiel; dies war der Scheideweg, an dem die allermeisten von ihnen unter christlichem Namen einen heidnischen Weg einschlugen, und auf diesem Weg gehen sie bis heute. Karl der Große und Fürst Vladimir taten dasselbe. Und der Betrug der Kirche dauert bis heute an: Dass die Macht das Christentum annimmt, wollen nur diejenigen, die den Buchstaben, nicht aber den Geist des Christentums verstehen, denn wer das Christentum annimmt, ohne auf die Macht zu verzichten, der verhöhnt das Christentum und verkehrt es in sein Gegenteil. Die Heiligung der Staatsmacht ist Blasphemie, sie ist das Ende des Christentums. Nach 1500 Jahren unter diesem blasphemischen Bündnis eines Pseudo-Christentums mit dem Staat bedarf es großer Anstrengung, um all die komplizierten Sophismen zu vergessen, mit denen man während dieser 1500 Jahre, stets zum Vorteil der Macht, die Lehre Christi verstümmelt hat, damit sie mit dem Staat vereinbar würde, und zu erklären versucht hat, worin die Heiligkeit und Rechtmäßigkeit des Staates besteht und wie es sein kann, dass er christlich ist. Dabei könnte man statt vom »christlichen Staat« ebenso gut von warmem, von heißem Eis sprechen. Entweder gibt es keinen Staat, oder es gibt kein Christentum. Um dies klar zu verstehen, müssen wir all die Phantasievorstellungen vergessen, die man uns so sorgsam anerzieht, und direkt nach der Bedeutung jener historischen und juristischen Wissenschaften fragen, die man uns lehrt. Diese Wissenschaften entbehren jeder Grundlage. Alle diese Wissenschaften sind nichts als eine Apologie der Gewalt. Wir wollen hier nicht auf die Geschichte der Perser, der Meder usw. eingehen, sondern uns die Geschichte jenes Staates vornehmen, der als erster ein Bündnis mit dem Christentum schloss.

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Rom war einst ein Räubernest; dieses Nest war groß geworden durch Raubzüge, Gewalt und Mord; es hatte andere Völker unter seine Herrschaft gebracht. Mit ihren Anführern, die sie bald Cäsar, bald Augustus nannten, plünderten und peinigten die Räuber und ihre Nachkommen andere Völker, um ihre eigenen Begierden zu befriedigen. Einer der Erben dieser Räuberhauptleute, Konstantin, der belesen und des lasterhaften Lebens überdrüssig war, zog bestimmte christliche Dogmen der früheren Religion vor. Statt Menschenopfern bevorzugte er die Liturgie, statt des Kults von Apollo, Venus und Zeus den einen Gott und Christus, seinen Sohn, und so befahl er, diesen Glauben bei denen einzuführen, über die er herrschte. »Die Kaiser haben Gewalt über die Völker, so soll es nicht sein unter euch. Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst keine Reichtümer besitzen, du sollst nicht richten, du sollst nicht verurteilen. Das Böse sollst du dulden.« All das hat ihm niemand gesagt. »Du willst dich Christ nennen und weiter Räuberhauptmann sein, weiter töten, brandschatzen, Krieg führen, huren, schinden und prassen? Bitte sehr.« So richteten sie ihm sein Christentum ein. Sehr bequem richteten sie es ein, überraschend bequem. Sie sahen voraus, dass ihm bei der Lektüre des Evangeliums auffallen könnte, dass dort ein christliches Leben verlangt wird, nicht nur der Bau und Besuch von Gotteshäusern. Und da sie das voraussahen, richteten sie ihm sein Christentum mit Bedacht so ein, dass er ungeniert wie früher weiterleben konnte, nach Heidenart. Einerseits war Christus, Gottes Sohn, eigens dazu auf die Welt gekommen, um ihn und alle Menschen zu erlösen. Weil Christus gestorben war, konnte Konstantin leben, wie er wollte. Und wenn ihm das nicht genug war, konnte er Buße tun und ein Stück Brot mit Wein schlucken, und schon war er gerettet und alles war vergeben. Doch damit nicht genug: Auch sein räuberisches Regiment sprachen sie heilig und sagten, es sei von Gottes Gnaden, und salbten ihn mit Öl. Dafür richtete auch er ihnen alles ein, wie sie wollten, er rief die Popen zusammen und hieß sie sagen, wie das Verhältnis des Menschen zu Gott sein sollte, und befahl, dass jedermann dies genau so wiederholte. Und alle waren zufrieden, und so ist eben dieser Glaube nun schon seit 1500 Jahren in der Welt, und andere Räuberhauptleute haben ihn gleichfalls eingeführt, und alle, alle sind sie von Gottes Gnaden. Wenn ein Verbrecher hingeht und alle ausplündert und eine Menge Volks erschlägt, und sie salben ihn – so ist er von Gottes Gnaden. Bei uns war eine Gattenmörderin und Ehebrecherin von Gottes Gnaden,5 bei den Franzosen Napo5 Die deutschstämmige Katharina II., die Große (reg. 1762–1796), die 1745 den späteren Zaren Peter III. heiratete und zur Orthodoxie konvertierte, war bekannt für ihre zahlreichen Affären mit Günstlingen und Favoriten. Ihr Mann wurde 1762 in einem von Katharina inszenierten Putsch gestürzt und anschließend in seinem Landhaus ermordet.

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leon.6 Die Popen aber sind nicht nur von Gottes Gnaden, sondern fast schon selbst Götter, weil in ihnen der Heilige Geist wohnt – im Papst genauso wie in unserem Synod, in dem die Beamten das Kommando haben. Will ein gesalbtes Haupt, also ein Räuberhauptmann, ein anderes oder sein eigenes Volk niederwerfen, dann machen sie ihm sogleich Weihwasser und besprengen ihn damit, sie nehmen das Kreuz (dasselbe Kreuz, an dem der bettelarme Christus starb, weil er eben diese Räuber nicht anerkennen wollte) und segnen ihn, auf dass er erschlage, hänge und köpfe. Und damit wäre es gut, nur konnten sie sich auch hier nicht einigen, und so fingen die gesalbten Häupter an, einander Räuber zu nennen (was sie auch sind), und die Popen nannten einander Betrüger (was sie auch sind); und das Volk hörte zu und verlor den Glauben an die gesalbten Häupter wie auch an die Hüter des Heiligen Geistes, und es lernte, wie man sie richtig nennt, nämlich so, wie sie sich selbst nennen: Räuber und Betrüger. Doch von den Räubern ist hier nur nebenbei die Rede, weil sie die Betrüger verführt haben. Eigentlich geht es um diese Betrüger, die Pseudo-Christen. Pseudo-Christen wurden sie, weil sie sich mit den Räubern verbündeten. Das war unvermeidlich. Von der Minute an, als sie den ersten Zaren weihten und ihm versicherten, seine Gewalttaten könnten die Religion unterstützen – eine Religion der Demut, Aufopferung und Duldsamkeit –, waren sie schon vom Weg abgekommen. Die ganze Geschichte der wirklichen und nicht der erfundenen Kirche, d.h. die Geschichte eines Klerus, welcher der Macht der Zaren unterworfen ist, besteht aus den vergeblichen Versuchen eben dieses unseligen Klerus, die Wahrheit der Lehre zu bewahren, die er selbst mit Lügen predigte und in der Praxis verriet. Die Bedeutung des Klerus gründet nur auf der Lehre, die er lehren will. Die Lehre spricht von Demut, Selbstverleugnung, Liebe und Armut; verbreitet wird sie aber mit Gewalt und bösen Taten. Damit er etwas zu lehren hat, damit er Schüler hat, kann der Klerus sich von der Lehre nicht lossagen, doch um sich und das eigene unrechtmäßige Bündnis mit der Macht rein zu waschen, muss er das Wesen dieser Lehre hinter höchst verwickelten Überlegungen verbergen. Und dafür wiederum muss er den Schwerpunkt der Lehre von deren Kern zum Äußeren verschieben. Genau das tut der Klerus. Der Glaubensbetrug, den die Kirche predigt, entspringt also aus der Vereinigung des Klerus, der sich Kirche nennt, mit der Macht – mit der Gewalt. Dass aber Menschen überhaupt anderen Menschen den Glauben beibringen 6 Dem Napoleonkult der Romantik hat Tolstojs in Krieg und Frieden einen Napoleon gegenübergestellt, der die Züge des romantischen Genies geradezu karikiert: Übermenschentum erweist sich als banale Selbstüberschätzung, Auserwähltheit als blinder Zufall, staatsmännischer Weitblick als beschränkte und grausame Engstirnigkeit.

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wollen, hat seinen Ursprung darin, dass der wahre Glaube sie selbst bloßstellt, und dass sie deshalb an die Stelle des wahren Glaubens ihren erfundenen setzen müssen, der sie rechtfertigt. Der wahre Glaube kann überall sein, nur nicht dort, wo er offenkundig gewalttätig ist – also nicht in der Staatsreligion. Der wahre Glaube kann in jeder der sogenannten Abspaltungen, in jeder Häresie sein, aber er ist gewiss nicht dort, wo er sich mit dem Staat verbunden hat. So seltsam das klingt, aber die Bezeichnungen »orthodoxer«, »katholischer«, »protestantischer« Glaube, wie sie sich in der Alltagssprache eingebürgert haben, bedeuten genau dies: einen mit der Macht verbündeten Glauben, d.h. eine Staatsreligion, die eben deshalb falsch ist. Der Begriff der Kirche, d.h. der Einigkeit der vielen, der Mehrheit, und die Nähe zum Ursprung der Lehre in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten waren nur schwache äußere Argumente. Paulus sagte: »Ich weiß es von Jesus.« Ein anderer sagte: »Ich weiß es von Lukas.« Und alle sagten: »Wir denken das Richtige, und der Beweis dafür, dass wir das Richtige denken, ist, dass wir eine große Versammlung sind, eine ekklesia, eine Kirche.« Doch erst nach dem vom Kaiser einberufenen Konzil von Nizäa begann – für einen Teil derer, die sich zur selben Lehre bekannten – der direkte, handgreifliche Betrug. Von damals stammt die Formel »Wir und der Heilige Geist haben beschlossen«.7 Der Begriff der Kirche hörte auf, ein schwaches Argument zu sein, und wurde für manche gleichbedeutend mit Macht. Er verband sich mit der Macht und fing an zu wirken wie die Macht. Und alles, was sich mit der Macht verband und unter ihren Einfluss geriet, war kein Glaube mehr, sondern Betrug. Was lehrt das Christentum, wenn man es als Lehre einer wie auch immer gearteten einzelnen Kirche oder aller Kirchen auffasst? Gleich, wie man sie untersucht, vermischend oder untergliedernd, zerfällt die gesamte christliche Lehre von Anfang an in zwei klar getrennte Teile: die Lehre von den Dogmen, angefangen von der Göttlichkeit des Sohnes und des Geistes, über das Verhältnis dieser Personen zueinander, bis hin zur Eucharistie mit oder ohne Wein,8 mit ungesäuertem oder gesäuertem Brot9 – und die sittliche Lehre der Demut und Uneigennützigkeit, der Reinheit des Leibes und der Ehe, des Nicht-Urteilens, der Befreiung von Banden, der Friedfertigkeit. Wie sehr sich die Kirchenlehrer auch bemühten, diese beiden 7 Vgl. Apg 18,28. 8 Tolstoj spielt hier auf die verketzerten Hydroparasten (Wassertrinker) an – die Anhänger des vermeintlichen Gnostikers Tatian (2. Jh.), die aus Enthaltsamkeit beim Abendmahl Wasser statt Wein brauchten. 9 Der Streit darüber, ob das Abendmahl mit gesäuertem oder ungesäuertem Brot genommen werden soll (der sog. Azymastreit), trug im 11. Jh. zum Schisma zwischen West- und Ostkirche bei.

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Seiten der Lehre zu vermischen, es gelang ihnen nicht, sie blieben wie Öl und Wasser immer getrennt – in großen wie in kleinen Tropfen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Seiten der Lehre ist jedem klar, und jeder kann ihre Früchte im Leben der Völker sehen und daraus schließen, welche Seite wichtiger und, wenn man so sagen kann, wahrer ist. Welche ist das? Betrachtet man die Geschichte des Christentums von der einen Seite, dann packt einen das Entsetzen. Wohin der Blick auch fällt, gleich auf welches Dogma, sei es das erste von der Göttlichkeit Christi,10 sei es das der Fingerhaltung beim Kreuzzeichen11 oder der Eucharistie mit oder ohne Wein – vom Anfang bis in unsere Zeit sind die Früchte all dieser geistigen Anstrengungen zur Klärung der Dogmen nur Bosheit, Hass, Verfolgungen, Vertreibungen, Grausamkeiten gegen Frauen und Kinder, Scheiterhaufen und Folter. Betrachtet man die andere Seite, die der sittlichen Lehre, angefangen vom Rückzug in die Wüste, um Gott zu begegnen, bis hin zu dem Brauch, Weißbrot ins Gefängnis zu bringen, so sieht man, dass aus ihr alle unsere Vorstellungen vom Guten hervorgehen, alles Freudige und Tröstliche, das uns den Weg in der Geschichte weist. Diejenigen, zu deren Zeit die Früchte beider Seiten noch nicht deutlich ausgeprägt waren, konnten, ja sie mussten sich sogar irren. Irren konnten auch die, die aufrichtig am Disput um die Dogmen Anteil nahmen und dabei nicht bemerkten, dass sie mit diesen Dogmen nicht Gott, sondern dem Teufel dienten, nicht bemerkten, dass Christus ausdrücklich gesagt hatte, er sei gekommen, um alle Dogmen zu zerstören; irren konnten die, die der Überlieferung von der Wichtigkeit der Dogmen glaubten und deren verfehlte geistige Erziehung sie hinderte, den eigenen Fehler zu erkennen; dasselbe gilt auch für jene ungebildeten Menschen, für die die Dogmen nur Worte und phantastische Vorstellungen sind, doch wir, denen der ursprüngliche Sinn des Evangeliums bekannt ist, das jedes Dogma ablehnt, wir, die wir die Früchte dieser Dogmen in der Geschichte vor Augen haben, wir können uns nicht mehr irren. Die Geschichte ist unser Prüfstein für die Wahrheit der Lehre, ein geradezu mechanischer Prüfstein. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter – brauchen wir es oder nicht? Was hat es hervorgebracht? Bosheit, Schmähungen, Spott. Hatte es einen Nutzen? Nein. Die Lehre, dass man über die Ehebrecherin 10 Tolstoj meint die am Konzil von Nizäa (325) proklamierte Wesenseinheit von GottVater und Gott-Sohn, die mit der Verurteilung der Arianer und Origenisten – und damit der Mehrheit der Orientalen – einherging. 11 Das Schisma innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche vollzog sich 1666/1667 im Zuge der Reformen des Patriarchen Nikon, der die kirchlichen Riten und Texte den griechisch-byzantinischen und südslavischen anglich, was die »Altgläubigen« ablehnten. Diese Reformen betrafen viele Bereiche des religiösen Lebens, z.B. auch die Frage, mit wie vielen Fingern und wie genau man sich zu bekreuzigen hatte.

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nicht richten soll, brauchen wir sie oder nicht? Was hat sie hervorgebracht? Tausend und abertausend Mal hat die Erinnerung daran Menschen milde gestimmt. Zweitens: Gibt es irgendwelche Dogmen, in denen alle Menschen übereinstimmen? Nein. Aber dass man dem, der bittet, geben soll? Darin sind sich alle einig. Gerade das erste – die Dogmen, das, worüber keine Einigkeit besteht und was niemand braucht, was die Menschen ins Verderben stürzt –, gerade das hat der Klerus als Glauben ausgegeben und tut es noch; das zweite aber – das, worin sich alle einig sind, was jedermann braucht und was die Menschen rettet –, das hat der Klerus zwar nicht zu leugnen gewagt, aber er hat auch nicht gewagt, es als Lehre aufzustellen, denn eine solche Lehre stünde im Widerspruch zu ihm selbst.

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Brief an A.A. Tolstaja (1880)

Zu Tolstojs Korrespondenz mit Aleksandra Tolstaja siehe S. 39. Die hier veröffentlichte Übersetzung folgt der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 63: 6–9).

Jasnaja Poljana, 2.–3.? Februar 1880 Vor zwei Tagen schon erhielt ich Ihren Brief, liebe Freundin, und mehrere Male überdachte ich, während ich im Bett lag, meine Antwort an Sie; und doch weiß ich auch jetzt nicht, wie ich sie schreiben soll. Das Wichtigste ist, dass Ihr Glaubensbekenntnis das Glaubensbekenntnis unserer Kirche ist. Ich kenne es und teile es nicht. Doch ich habe absolut nichts gegen diejenigen einzuwenden, die so glauben. Besonders, da Sie hinzufügen, dass das Wesen der Lehre in der Bergpredigt liegt. Nicht nur lehne ich diese Lehre nicht ab, sondern wenn man mich fragen würde, was ich will: dass meine Kinder ungläubig wären, wie ich es war, oder dass sie an das glauben, was die Kirche lehrt? – so würde ich ohne zu zögern den kirchlichen Glauben wählen. Ich weiß zum Beispiel, dass das gesamte einfache Volk nicht nur glaubt, was die Kirche lehrt, sondern dem noch eine Menge Aberglauben beimischt, und ich unterscheide nicht zwischen mir (der ich überzeugt bin, wahrhaft zu glauben) und dem Bauernweib, das an die heilige Paraskeva Pjatnica1 glaubt, sondern behaupte, dass diese Bäuerin und ich genau gleich viel (nicht mehr, nicht weniger) von der Wahrheit wissen. Das kommt daher, dass sie und ich gleichermaßen mit aller Kraft der Seele die Wahrheit lieben und danach streben, sie zu erfassen, und glauben. Ich unterstreiche glauben, weil wir nur das glauben können, was wir nicht verstehen, aber auch nicht widerlegen können. Aber an etwas zu glauben, was mir als Lüge erscheint – das ist unmöglich. Mehr noch, auch mir einzureden, dass ich an etwas glaube, woran ich nicht glauben kann und auch nicht glauben muss, um meine Seele und Gott und das Verhältnis zwischen beiden zu verstehen, mir das einzureden widerspricht dem wahren Glauben aufs Krasseste. Es ist Blasphemie und Dienst am Fürsten dieser Welt. Die erste Voraus1 Hl. Paraskeva-Pjatnica, Märtyrerin, wurde im Zuge der von Diokletian (284–305) angeordneten Christenverfolgungen geköpft. In Russland gilt sie als Patronin des Handels, als Hüterin des häuslichen Herdes und als Beschützerin der Frauen und Mädchen. Ihr Fest wurde ekstatisch gefeiert, und es gibt Berichte, dass an diesem Tag Gottesdienste zelebriert wurden, die nur Frauen vorbehalten waren (als Mysterium der hl. Pjatnica).

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setzung des Glaubens ist die Liebe zum Licht, zur Wahrheit, zu Gott, und ein reines Herz ohne Lüge. All das sage ich deshalb, weil ich die Bäuerin, die an die Pjatnica glaubt, verstehe und nicht daran zweifle, dass sie wahrhaft glaubt, weil ich weiß, dass die Idee der Pjatnica als Gott für sie keine Ungereimtheit darstellt, und dass sie die Augen aufmacht, so weit sie kann, aber nicht mehr sieht. Sie schaut in die richtige Richtung, sie sucht Gott, und Gott wird sie finden. Zwischen ihr und mir ist vor Gott kein Unterschied, weil meine Vorstellung von Gott, die mir so erhaben scheint, verglichen mit dem wahren Gott genauso klein und unansehnlich ist wie die Vorstellung der Bäuerin von der Pjatnica. Wenn ich mich aber selbst über die Pjatnica oder die Gottesmutter an Gott wenden würde, wenn ich an die Auferstehung glauben würde und dergleichen mehr, so wäre das Blasphemie und Lüge, ich würde damit irgendwelche irdischen Ziele verfolgen, mit Glauben aber hätte das nichts zu tun und könnte es auch nicht. Und wie ich mich mit den aufrichtig Gläubigen im Volk völlig einig fühle, so fühle ich mich auch mit dem kirchlichen Glauben und mit Ihnen einig, solange Ihr Glaube aufrichtig ist und Sie mit weit geöffneten Augen auf Gott schauen, nicht durch eine Brille oder durch halbgeschlossene Lider. Ob Sie aber mit offenen Augen schauen oder nicht, ob die Brille, die Sie aufhaben, Sie stört, kann ich nicht wissen. Ein Mann von Ihrer Bildung hätte nach meiner Meinung keine offenen Augen, aber bei einer Frau weiß ich es nicht. Und deshalb wundere ich mich über mich selbst und frage mich, wozu ich Ihnen all das gesagt habe, was ich gesagt habe. Vielleicht habe ich es gesagt, weil ich Sie liebe und weil ich fürchte, dass Sie nicht sicher stehen, und dass Sie dann, wenn Sie Halt brauchen (und wir brauchen immer Halt), ihn dort, wo Sie ihn suchen, nicht finden werden und schon jetzt nicht finden; doch ich sage »vielleicht«; wahrscheinlicher ist, dass ich aus Eitelkeit so dahingeredet und Sie mit meinem Gerede beleidigt und betrübt habe; dafür bitte ich um Vergebung. Wenn dem so ist – was ich hoffe –, dann habe ich Ihnen nichts beizubringen, Sie wissen alles. Wenn ich dennoch versucht habe, Ihnen etwas zu sagen, so war der Sinn meiner Worte nur dieser: »Prüfen Sie, ob das Eis, auf dem Sie gehen, stark genug ist; vielleicht sollten Sie versuchen, es zu zerschlagen? Wenn es bricht, gehen Sie besser über das feste Land. Trägt es Sie aber – umso besser, wir kommen alle zum selben Ziel.« Doch auch Sie haben mir nichts mehr beizubringen. Ich habe alles, was zerbrechlich war, durchschlagen, bis ich auf festen Grund stieß, und ich fürchte nichts mehr, denn das zu zerschlagen, worauf ich stehe, habe ich nicht die Kraft; also ist es wohl echt. Leben Sie wohl, grollen Sie mir nicht, sondern versuchen Sie, mich ebenso zu betrachten, wie ich Sie, und wünschen Sie mir das, was auch ich mir, Ihnen und allen Menschen wünsche – nicht zurück zu gehen (ich selbst werde gewiss nicht mehr auf das Eis treten,

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das ich selbst zerschlagen habe, und leicht und fröhlich darüber hinweggleiten), sondern vorwärts – nicht mein Verhältnis zu Gott in Worten zu definieren, mithilfe der Sühne etc., sondern voranzuschreiten im Leben, jeden Tag, jede Stunde, und den mir offenbarten Willen Gottes zu erfüllen. Das ist sehr schwer, ja, unmöglich, solange man sich sagt, dass es unmöglich ist, aber es ist mehr als nur möglich, nämlich eine Pflicht und ein Leichtes, wenn man sich selbst den Blick nicht verstellt, sondern unverwandt auf Gott schaut. Ich habe damit erst kürzlich ein wenig begonnen, und schon jetzt hat sich mein ganzes Leben verändert, und alles, was ich früher wusste, hat sich umgekehrt, und alles, was früher auf dem Kopf stand, steht jetzt auf den Füßen. Ihr aufrichtig Sie liebender L. Tolstoj Darüber, ob ich an den Gott-Menschen oder den Mensch-Gott glaube, kann ich Ihnen nichts sagen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Davon werden die erzählen, die man auf Scheiterhaufen verbrannt hat, und die, welche die Scheiterhaufen errichtet haben. »Haben wir dich nicht gerufen und unseren Herrn genannt?« – Ich habe euch nie gekannt; weichet von mir, ihr Übeltäter!2 Nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, dachte ich, Sie würden mir vielleicht Vorwürfe machen: »Ich habe gesagt, woran ich glaube, aber er nicht.« Der Glaube lässt sich nicht sagen. Sie haben ihn nur gesagt, indem Sie das wiederholt haben, was die Kirche sagt. Das aber muss man, soll man, darf man nicht tun, es ist eine Sünde. Wie kann ich das sagen, was mein Leben ausmacht? Und doch will ich Ihnen sagen – nicht, woran ich glaube, sondern was Christus und seine Lehre für mich bedeuten. Mir scheint, es ist das, wonach Sie fragen. Ich lebe und wir alle leben wie das Vieh, und so werden wir auch krepieren. Um uns aus dieser entsetzlichen Lage zu retten, hat Christus uns das Heil gebracht. – Was ist Christus? Gott oder Mensch? – Er ist, was er sagt. Er sagt, dass er der Sohn Gottes ist, er sagt, dass er der Menschensohn ist, er sagt: Ich bin das, was ich euch sage. Ich bin der Weg und die Wahrheit.3 Genau das ist er, was er über sich sagt. Doch von dem Moment an, als man all dies zusammenfassen wollte und sagte: er ist Gott, die zweite Person der Trinität, war das Ergebnis Blasphemie, Lüge und Dummheit. Wäre er dies gewesen, so hätte er es auch zu sagen vermocht. Er hat uns das Heil gebracht. Wie? Indem er uns lehrte, unserem Leben einen Sinn zu geben, den der Tod nicht zerstört. Seine ganze 2 Vgl. Mt 7,22f. 3 Vgl. Joh 8,25.28; 14,6.

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Lehre, sein Leben und sein Tod lehren uns das. Um gerettet zu werden, muss man dieser Lehre folgen. Die Lehre kennen Sie. Sie ist nicht allein in der Bergpredigt enthalten, sondern im ganzen Evangelium. Für mich liegt ihr Hauptsinn darin, dass man, um gerettet zu werden, jede Stunde und jeden Tag seines Lebens an Gott und die Seele denken und deshalb die Nächstenliebe über das viehische Leben stellen muss. Dafür bedarf es keines Kunststücks, es ist so einfach, wie dass jemand, der ein Schmied sein will, schmieden muss. – Eben deshalb ist dies eine Göttliche Wahrheit, weil sie so einfach ist, dass es nichts Einfacheres als sie gibt, und zugleich so wichtig und groß und heilbringend für jeden Einzelnen und alle Menschen zusammen, dass es nichts Größeres als sie gibt.

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Untersuchung der dogmatischen Theologie (Schlussbetrachtung) Tolstoj begann im Winter 1879/1880 mit der Arbeit an der Untersuchung der dogmatischen Theologie, als er das Bedürfnis verspürte, seine Kritik an der Orthodoxen Kirche und ihren Dogmen durch das Studium neuerer theologischer Werke zu untermauern. Auf Empfehlung des Priesters A. Ivanov aus Tula fiel seine Wahl auf die fünfbändige Orthodoxe dogmatische Theologie des Moskauer Metropoliten Makarij (Michail Bulgakov, 1816–1882), dem für sein Werk von der Akademie der Wissenschaften 1854 der Demidov-Preis verliehen worden war und der als einer der führenden Theologen Russlands galt. Im März 1880 schrieb Tolstoj an Strachov: »Ich habe die Theologie nun gründlich studiert und beende gerade meine Untersuchung. Wenn man mir früher erzählt hätte, was ich da finden würde, hätte ich es nicht geglaubt. Und all das ist von größter Wichtigkeit.« Wie wichtig Tolstoj seine Untersuchung war, zeigt auch der Umstand, dass er bis 1884 an seinem Manuskript arbeitete, von dem er wusste, dass eine Veröffentlichung in Russland nicht in Frage kam. Der erste Teil der Untersuchung erschien erstmals 1891 in Genf in einer textologisch unzuverlässigen Ausgabe unter dem Titel Kritik der dogmatischen Theologie, der zweite Teil fünf Jahre später in Carouge bei Genf. Cˇertkov veröffentlichte die Untersuchung im zweiten Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs (L.N. Tolstoj, Polnoe sobranie soˇcinenij, zapreˇsˇcennych v Rossii, Bd. 2, Christchurch 1903). In Russland konnte sie erstmals 1908 ungekürzt erscheinen. Im Folgenden ist der Schluss der Untersuchung übersetzt, wo Tolstoj die Theologie Makarijs mit Voltaire’schem Spott karikiert und sich dabei des Verfahrens der »Verfremdung« bedient. Die Übersetzung folgt der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 23: 290–303).

Der Mensch fragt, was diese Welt ist, die ihn umgibt. Er fragt, was für einen Sinn sein Dasein hat, und woran er sich orientieren soll in der Freiheit, die er in sich spürt. Er fragt, und Gott antwortet ihm in Gestalt der von ihm eingesetzten Kirche: Du willst wissen, was diese Welt ist? So höre. Es gibt den einen, allwissenden, allgütigen, allmächtigen Gott. Dieser Gott ist ein einfacher Geist, doch er hat einen Willen und einen Verstand. Dieser Gott ist eins und zugleich drei. Der Vater zeugte den Sohn. Dieser ist sein leibhaftiger Sohn, und er sitzt zur Rechten des Vaters. Der Geist ging vom Vater aus. Alle drei sind sie Götter, und sie sind alle verschieden und alle eins. Dieser dreifache Gott existierte ewig allein zu dritt, bis es ihm eines Tages plötzlich in den Sinn kam, eine Welt zu erschaffen, und er schuf sie aus nichts, durch sein Denken, seinen Willen und sein Wort. Zuerst schuf er die geistige1 1 Als Antonym zu »materiell« (veˇsˇcestvennyj), »fleischlich« (plotskij), »körperlich« (telesnyj) und »tierisch« (ˇzivotnyj) wird das russische Wort duchovnyj im Folgenden mit

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Welt – die Engel. Die Engel waren gut bei ihrer Erschaffung, und Gott erschuf sie nur zu ihrer Seligkeit; doch einige dieser gut erschaffenen Wesen wurden plötzlich ganz von selbst böse. Die einen Engel blieben gut, die anderen wurden böse und wurden zu Teufeln. Von den Engeln erschuf Gott sehr viele, und er unterteilte sie in neun Ränge und drei Kategorien: Engel, Erzengel, Cherubim, Seraphim, Gewalten, Herrschaften, Prinzipien, Mächte, Throne. Auch die Teufel sind in Ränge unterteilt, doch deren Namen sind nicht genau bekannt. Danach verging viel Zeit, und dann fing Gott wieder an zu schaffen, und er schuf die materielle Welt. Er schuf sie in sechs Tagen. Als ein Tag gilt die Zeit, in der die Erde sich um ihre Achse dreht. Schon von den ersten Tagen an gab es Morgen und Abend. Es gab zwar anfangs noch keine Sonne, doch an diesen Tagen erschütterte Gott selbst die leuchtende Materie, auf dass es Morgen und Abend werde. Er schuf sechs Tage lang. Am sechsten Tag schuf Gott aus Erde den ersten Menschen, Adam, und blies ihm seinen Atem ein, und dann schuf er das Weib. Der Mensch besteht aus einer Seele und einem Leib. Seine Bestimmung ist es, der Macht Gottes treu zu bleiben. Auch der Mensch war bei seiner Erschaffung gut und durchaus vollkommen. Seine einzige Pflicht war es, nicht vom verbotenen Apfel zu essen, und Gott, der ihn als vollkommen erschaffen hatte, half ihm dazu noch auf alle erdenkliche Weise, er sorgte für seine Belehrung und Unterhaltung und besuchte ihn in seinem Garten. Doch Adam aß den verbotenen Apfel trotzdem, und dafür rächte sich der gütige Gott an Adam: Er vertrieb ihn aus dem Paradies und verfluchte ihn und die ganze Erde und alle seine Nachkommen. Das alles ist nicht in irgendeinem übertragenen Sinn aufzufassen, sondern wörtlich; man hat es so zu verstehen, dass alles sich genau so zugetragen hat. Doch danach hörte dieser selbe Gott in drei Personen, der allwissende, allgütige und allmächtige Gott, der Adam geschaffen und ihn und seine Nachkommen verflucht hatte, nicht auf, zu ihrem Heil für Adam und seine Nachkommen, für alle von ihm geschaffenen Wesen zu sorgen und sie zu erhalten. Er wacht über seine Geschöpfe, steht ihnen bei und lenkt sie, alle und jedes für sich. Dieser Gott regiert weiterhin die Engel, die bösen wie die guten, und die Menschen, die bösen wie die guten. Die Engel helfen Gott beim Regieren der Welt. Es gibt Engel, die für Königreiche zuständig sind, solche für Völker und für Menschen. Der allwissende, allmächtige und allgütige Gott, der sie alle geschaffen hat, hat Unmengen von bösen Engeln und alle Menschen um Adams willen für immer ins Verderben gestürzt, und dennoch sorgt er immer weiter für alle Menschen, auf natürliche und selbst auf übernatürliche Weise. »geistig« übersetzt. Da es sich bei Tolstoj häufig auf den Geist Gottes bezieht, ist es oft auch als »spirituell« im religiösen Sinne zu verstehen.

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Die übernatürliche Form der Sorge beruht darauf, dass Gott nach weiteren 5000 Jahren einen Weg fand, sich die Sünde Adams heimzuzahlen, den er ja selbst so geschaffen hatte, wie er war. Dieser Weg sah so aus, dass unter den Personen der Trinität eine der Sohn war. Sie, diese Person, war auch schon immer der Sohn gewesen. Dieser Sohn ging aus einer Jungfrau hervor, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verletzen; der Heilige Geist war als ihr Gatte in die Jungfrau Maria eingegangen, und heraus kam der Sohn, Jesus Christus. Der Sohn hieß Jesus, und er war Gott und Mensch und eine Person der Trinität. Dieser Mensch-Gott nun war es, der die Menschen rettete. Er rettete sie, denn er war ein Prophet, Hohepriester und König – als Prophet gab er ihnen ein neues Gesetz, als Hohepriester opferte er sich, indem er am Kreuz starb, und als König wirkte er Wunder, stieg in die Hölle hinab, befreite alle Gerechten und vernichtete die Sünde, die Verdammnis und den Tod in den Menschen. Doch dieses Mittel war zwar sehr stark, aber es rettete nicht alle. Eine gewaltige Menge von Teufeln blieben Teufel, und auch den Menschen wird ihre Rettung nicht ohne Weiteres zuteil. Um in den Genuss dieser Rettung zu kommen, muss man sich heiligen lassen. Heiligen aber kann nur die Kirche. Die Kirche, das sind Menschen, die von sich sagen, dass andere Menschen ihnen die Hand aufgelegt haben, denen andere Menschen die Hand aufgelegt haben usw., denen die Schüler des Gottes Jesus selbst die Hand aufgelegt haben, denen der Gott-Sohn selbst die Hand aufgelegt hat. Und indem er ihnen die Hand auflegte, blies der Gott Jesus selbst ihnen seinen Atem ein, und durch diesen Atem gab er ihnen und allen, die in ihrer Nachfolge stehen, die Macht, Menschen zu heiligen. Eben diese Heiligung braucht man, um gerettet zu werden. Das, was rettet, nennt man Gnade. Es ist die Gnade, die den Menschen heiligt und rettet – eine göttliche Kraft, die in gewissen Formen von der Kirche weitergegeben wird. Damit diese Gnade wirkt, muss der Mensch, der sich durch sie heiligen will, daran glauben, dass er geheiligt wird. Er braucht zwar nicht vollkommen davon überzeugt zu sein, aber er muss der Kirche gehorchen und vor allem nicht widersprechen, dann wird die Gnade auf ihn übergehen. Der durch die Gnade geheiligte Mensch soll, wenn er Gutes im Leben tut, nicht mehr wie früher denken, dass er das tut, weil er Gutes tun will, sondern er soll denken, dass er nur gut handelt, weil die Gnade in ihm wirkt; er braucht also nur dafür zu sorgen, dass die Gnade in ihm ist. Diese Gnade nun verleiht die Kirche durch eine Reihe von Transaktionen und das Sprechen bestimmter Worte, durch die sogenannten Sakramente. Es gibt sieben solcher Transaktionen.2 2 Im Verfahren der »Verfremdung« beschreibt Tolstoj die sieben Sakramente (Mysterien) in folgender Reihenfolge: 1. Taufe, 2. Myron-Salbung (unmittelbar nach der

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1) Das Bad. Wenn die Geistlichen jemanden richtig baden, dann wird der Gebadete dadurch rein von allen Sünden, vor allem aber von Adams Erbsünde. Wenn daher ein ungebadeter Säugling stirbt, dann ist er verloren, weil er voller Sünde ist. 2) Wenn die Geistlichen jemanden mit Öl einreiben, dann geht der Heilige Geist in ihn ein. 3) Wenn jemand unter bestimmten Umständen Brot und Wein zu sich nimmt und dabei überzeugt ist, dass er das Fleisch und Blut Gottes verzehrt, dann ist er von Sünden reingewaschen und erlangt das ewige Leben. (Generell gibt es um ein Sakrament herum viel Gnade, deshalb soll man in möglichst großer Nähe dazu oder kurz danach beten, dann wird das Gebet erhört.) 4) Wenn ein Priester sich jemandes Sünden anhört und anschließend bestimmte Worte spricht, dann sind die Sünden auf der Stelle verschwunden. 5) Wenn man von sieben Popen mit Öl eingerieben wird, dann heilen körperliche und seelische Krankheiten. 6) Wenn man Brautleuten Kränze aufsetzt, dann geht die Gnade in sie ein. 7) Wenn die Priester jemandem die Hand auflegen, dann geht die Gabe des Heiligen Geistes in ihn ein. Taufe, Myron-Salbung, Beichte und Abendmahl heiligen den Menschen durch die Gnade, und zwar grundsätzlich immer, unabhängig von der geistigen Verfassung des Priesters und dessen, der das Sakrament empfängt; solange nur alles korrekt vonstatten geht und es keinen Anlass zur Kassation gibt. In diesen Transaktionen liegt also der Weg zur Rettung des Menschengeschlechts, den Gott gefunden hat. Wer glaubt, dass er geheiligt und reingewaschen ist und das ewige Leben erlangen wird, der ist wirklich geheiligt und reingewaschen und hat das ewige Leben. Alle, die daran glauben, aber auch die, die nicht glauben, werden ihren Lohn erhalten – zuerst einzeln, gleich nach ihrem Tod, und dann gemeinsam, nach dem Ende der Welt. Der Lohn der einzelnen Gläubigen besteht darin, dass sie auf Erden und im Himmel gepriesen werden. Auf der Erde wird man vor ihren sterblichen Überresten und Ikonen Weihrauch und Kerzen entzünden, und im Himmel werden sie neben Christus thronen. Doch bevor sie dies erreichen, haben sie Lufträume zu durchqueren, wo man sie aufhalten und prüfen wird, Engel und Teufel werden sich um sie streiten, und bei wem die Verteidigung der Engel stärker ist als die AnschulTaufe, entspricht in der Westkirche der Firmung), 3. Eucharistie, 4. Buße (Beichte), 5. Heilige Ölung (Krankensalbung), 6. Kirchliche Eheschließung, 7. Weihe zum geistlichen Amt.

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digungen der Teufel, der kommt ins Paradies, wen aber die Teufel für sich erobern, der kommt in die Hölle und leidet ewige Qualen. Die Seligen, also die, die ins Paradies kommen, nehmen dort verschiedene Plätze ein, und diejenigen, die der Trinität am nächsten sind, können im Paradies für uns zu Gott beten, deshalb müssen wir hier ihre Reliquien, Kleider und Ikonen verehren. Diese Dinge können Wunder wirken. Man soll in der Nähe dieser Gegenstände zu Gott beten, dann treten die Seligen im Paradies für uns ein. Die Sünder kommen in die Hölle, zu den Teufeln – dies betrifft alle Ketzer, Ungetauften, Ungläubigen und alle, die nicht am Abendmahl teilgenommen haben –, wobei sie in der Hölle verschiedene Plätze einnehmen, je nach der Schwere ihrer Schuld, und sie bleiben dort bis zum Ende der Welt. Die Gebete der Priester, besonders die, die kurz vor oder nach der Eucharistie gesprochen werden, können ihre Lage dort erleichtern. Zudem gibt es aber auch noch einen Weltuntergang und ein allgemeines Gericht. Der Weltuntergang wird so vonstatten gehen: Eine der Personen der Trinität, der Gott Jesus, der leibhaftig im Himmel zur Rechten des Vaters sitzt, wird auf Wolken zur Erde herabsteigen, in derselben menschlichen Gestalt, in der er auch früher auf der Erde war. Die Engel werden ihre Posaunen blasen, und alle Toten werden leiblich auferstehen, sie werden denselben Leib haben wie früher, er wird nur leicht verändert sein. Dann versammeln sich alle Engel, Teufel und alle Menschen, und Christus wird richten und die Gerechten nach rechts schicken, wo sie mit den Engeln ins Paradies ziehen, die Sünder aber nach links – sie fahren mit den Teufeln in die Hölle und leiden dort ewige Qualen, schlimmer als Feuer. Diese Qualen hören niemals auf. Die Seligen aber werden auf ewig Gott preisen. Auf meine Frage, welchen Sinn mein Leben in dieser Welt hat, bekomme ich also zur Antwort: Irgendein seltsamer, absurder Gott, halb Mensch, halb Ungeheuer, hat aus einer Laune heraus eine Welt geschaffen, wie er sie wollte, und einen Menschen, wie er ihn wollte, und dabei immer wieder gesagt, dass es gut war, alles war gut, und auch der Mensch war gut. Doch wie sich dann herausstellte, war das alles gar nicht gut. Der Mensch fiel der Verdammnis anheim, und alle seine Nachkommen auch. Und der gütige Gott schuf immer weiter Menschen in den Leibern ihrer Mütter, wissend, dass alle oder viele von ihnen zugrunde gehen würden. Auch nachdem ihm ein Weg eingefallen war, sie zu retten, blieb alles beim Alten. Es wurde sogar schlimmer, denn früher hatten Menschen wie Abraham oder Jakob um ihres guten Lebens willen gerettet werden können, wie die Kirche sagt, jetzt aber bin ich, sofern ich als Buddhist geboren bin und nicht zufällig dem heiligenden Wirken der Kirche ausgesetzt war, mit Gewissheit verloren und werde bei den Teufeln ewige Qualen leiden; mehr noch, selbst wenn ich zu den Glückspilzen gehöre, da-

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bei aber das Pech habe, die Forderungen meiner Vernunft für gerechtfertigt zu halten, statt sie zugunsten des Glaubens an die Lehre der Kirche zu verleugnen, auch dann bin ich verloren. Und auch damit nicht genug: Selbst wenn ich zwar alles glaube, aber versäumt habe, zum Abendmahl zu gehen, und wenn aufgrund der Zerstreutheit meiner Angehörigen niemand für mich betet, kann ich ebenfalls in die Hölle kommen und für immer dort bleiben. Der Sinn meines Lebens ist nach dieser Lehre eine vollkommene Absurdität, ungleich absurder als der Sinn, den ich im bloßen Licht meiner Vernunft zu sehen meinte. Damals sah ich, dass ich lebe, und solange ich lebe, das Leben genieße, wenn ich aber tot bin, werde ich nichts mehr fühlen. Mich schreckte damals die Sinnlosigkeit meines persönlichen Lebens und die unlösbare Frage, wozu mein Streben und mein Leben gut sind, wenn doch alles ein Ende hat. Jetzt aber ist es noch schlimmer: Nichts hat ein Ende, diese ganze aus einer zufälligen Anwandlung geborene Absurdität wird ewig dauern. Die Antwort dieser Lehre auf die Frage, wie ich leben soll, negiert rundweg alles, wonach mein sittliches Empfinden verlangt, und fordert etwas, das mir immer als das Unsittlichste überhaupt erschienen ist: Heuchelei. Aus allen sittlichen Anwendungen der Dogmen folgt eines: Strebe nach Rettung durch den Glauben, und wenn du nicht verstehst, was man dir zu glauben befiehlt, sag dennoch, dass du daran glaubst, unterdrücke mit aller Kraft der Seele dein Bedürfnis nach Licht und Wahrheit, sag, dass du glaubst, und tue, was aus dem Glauben folgt. Die Sache ist klar. Zwar heißt es auch, gute Werke seien wohl zu irgendetwas nötig und man solle Christi Lehre der Liebe, Demut und Selbstlosigkeit folgen, doch tatsächlich liegt es auf der Hand, dass all das überflüssig ist, und die Lebenspraxis aller Gläubigen bestätigt das. Die Logik ist unerbittlich. Wozu Taten, wenn der Tod Gottes für mich gesühnt hat. Man muss nur glauben. Und wie soll ich kämpfen und nach dem Guten streben – nur das verstand ich früher unter guten Werken –, wenn das Hauptdogma des Glaubens ist, dass der Mensch selbst nichts vermag und dass alles ohne sein Zutun, durch die Gnade geschieht. Man braucht also nur die Gnade zu suchen. Die Gnade aber kann ich nicht von mir aus erlangen, sie wird mir von anderen mitgeteilt. Allerdings gibt es, selbst wenn ich es zu meinen Lebzeiten versäume, durch die Gnade geheiligt zu werden, ein Mittel, auch nach dem Tod in ihren Genuss zu kommen: Ich kann der Kirche Geld hinterlassen, damit man für mich betet. Von mir wird nur eines verlangt: dass ich die Gnade suche. Und die Gnade erlangt man durch die Sakramente und Gebete der Kirche. Also muss ich wohl zu diesen Zuflucht nehmen und es so einrichten, dass ich ihrer nie entbehre – ich muss mich mit Popen umgeben oder im Kloster leben und möglichst viel Geld für Seelenmessen hinterlassen. Mehr noch, wenn ich so für mein künftiges Le-

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ben vorgesorgt habe, kann ich das jetzige in aller Ruhe genießen und mich dafür der Werkzeuge bedienen, die die Kirche mir gibt – ich kann zu meinem Gott und Erhalter um Beistand in meinen irdischen Geschäften beten, zumal man mich ja gelehrt hat, wie und auf welche Weise diese Gebete am wirksamsten sind. Am besten wirkt das Beten vor Ikonen und Reliquien und während der Liturgie. So ergibt sich aus dieser Lehre eine klare Antwort auf die Frage, was ich tun soll. Diese Antwort ist nur zu bekannt und widerspricht auf das Krasseste dem Gewissen. Doch sie ist unausweichlich. Ich erinnere mich, wie ich zu einer Zeit, als ich noch nicht an der Lehre der Kirche zweifelte, im Evangelium die Worte las: »Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird’s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt«,3 und ich konnte diese Worte nicht verstehen. Jetzt aber sind sie mir nur allzu klar, entsetzlich klar. Eben dies ist die Lästerung wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in jener Welt vergeben wird: diese furchtbare kirchliche Lehre, die im Wesentlichen eine Lehre über die Kirche selbst ist. –––––––––– Die orthodoxe Kirche? Die einzige Vorstellung, die sich heute für mich mit diesem Begriff verbindet, ist die von einem Häuflein sehr selbstgewisser, irregeleiteter und ungebildeter Langhaariger in Samt und Seide, mit brillantbesetzten Marienbildern auf der Brust, die sich Erzbischöfe und Metropoliten nennen, und von tausenden weiteren Langhaarigen, die diesen ersten in finsterstem, sklavischem Gehorsam ergeben sind und deren Beschäftigung darin besteht, unter dem Anschein irgendwelcher Sakramente das Volk zu betrügen und auszuplündern. Wie könnte ich dieser Kirche glauben, ihr auch dann noch glauben, wenn sie mir auf die tiefsten Fragen nach meiner Seele mit erbärmlichen Lügen und Albernheiten antwortet und dazu noch behauptet, niemand dürfe es wagen, anders darauf zu antworten, und ich dürfe es nicht wagen, mich in dem, was das Wertvollste in meinem Leben ist, nach etwas anderem zu richten als nur nach ihren Weisungen. Die Farbe meiner Hosen kann ich wählen, meine Frau kann ich wählen, ich kann mir ein Haus nach meinem Geschmack bauen, aber in allem Übrigen, gerade in dem, worin ich mich als Mensch fühle, muss ich die Kirche um Erlaubnis fragen – ausgerechnet diese untätigen, verlogenen und ignoranten Leute. In meinem Leben, meinem eigenen Heiligtum soll es einen geben, der mich leitet, der 3 Mt 12,32.

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mein Hirte ist, nämlich mein Gemeindepriester – ein frisch aus dem Seminar entlassener, verwirrter Jüngling, der kaum lesen und schreiben kann, oder ein trunksüchtiger Alter, dessen einzige Sorge es ist, möglichst viele Eier und Kopeken einzusammeln. Diese Leute befehlen, dass der Diakon beim Gebet die Hälfte der Zeit Segenswünsche für die rechtgläubige, gottesfürchtige Hure Katharina II. dazwischenschreit, oder für den allerfrömmsten Räuber und Mörder Peter I., der das Evangelium verhöhnte,4 und ich soll mit dafür beten. Diese Leute befehlen, dass meine Brüder verflucht, verbrannt und gehängt werden, und ich soll mit ihnen Anathema rufen; meine Brüder, so befehlen sie, sollen verdammt sein, und ich soll Anathema rufen. Sie befehlen mir, Wein aus einem Löffelchen zu trinken und zu schwören, dass dies kein Wein ist, sondern Leib und Blut, und ich muss es tun. Aber das ist doch grauenhaft! Ja, das wäre es, wenn es denn möglich wäre. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus, doch nicht etwa, weil diese Leute von ihren Forderungen abgerückt wären – sie brüllen immer weiter Flüche, für wen es befohlen wird, und Segenswünsche, für wen es befohlen wird, doch in Wirklichkeit hört ihnen schon längst niemand mehr zu. Wir, die sogenannte gebildete Schicht (ich habe meine dreißig Jahre außerhalb der Religion keineswegs vergessen), haben nicht einmal Verachtung für sie übrig, wir beachten sie erst gar nicht, es interessiert uns nicht im geringsten, was sie tun, schreiben oder sagen. Kommt ein Pope ins Haus, so gibt man ihm einen halben Rubel. Soll eine neue Kirche geweiht werden, die sie zum eigenen Ruhm gebaut haben, so lässt man den langmähnigen Erzbischof kommen und gibt ihm hundert Rubel. Das einfache Volk beachtet sie erst recht nicht. In der Butterwoche backt man Bliny, in der Karwoche fastet man, und wer von uns eine Herzensfrage hat, der sucht Rat bei klugen Denkern und Wissenschaftlern, in ihren Büchern, oder in den Schriften der Heiligen, aber nicht bei den Popen. Sobald aber in einem Menschen aus dem Volk ein religiöses Gefühl erwacht, geht er zu einer Sekte, zu den Stundisten5 oder Molokanen. Die Popen halten ihre Gottesdienste längst für sich selbst, für Schwachsinnige, Schwindler und Frauen. Man kann annehmen, dass sie sich bald nur noch gegenseitig belehren und hüten werden. So ist es, aber was bedeutet es dann, dass dennoch auch kluge Menschen diese Verirrung teilen? Was bedeutet ihnen diese Kirche, die sie in einen solchen undurchdringlichen Wald von Dummheit hineingelockt hat? Nach ih4 Peter I., der Große (reg. 1689–1725), dessen Reform- und Modernisierungsprojekten sich auch die Orthodoxe Kirche unterordnen musste, hat die kirchliche Autorität sogar mit bewusst blasphemischen Gesten zu untergraben versucht – etwa im berüchtigten »Allernärrischsten, allerbesoffensten und verrücktesten Konzil«, das Peter mit seinem Gefolge mehr als 30 Jahre lang regelmäßig veranstaltete. 5 Zu den Stundisten siehe Sergei Zhuks Beitrag in diesem Band.

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rer Definition ist die Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen und Popen, und sie ist unfehlbar und heilig. »Einem Laien steht es nicht an«, so legt der 64. Kanon eines ökumenischen Konzils6 fest, »öffentlich einen Vortrag [zu] halten noch [zu] lehren […], weil er sich damit selbst ein Lehramt anmaßt. Vielmehr soll er der vom Herrn überlieferten Ordnung folgen und das Ohr denen leihen, die die Gnade der Lehrrede empfangen haben, und das Göttliche von ihnen lernen. Denn in der einen Kirche hat Gott unterschiedliche Glieder geschaffen nach dem Wort des Apostels (vgl. 1 Kor 12,12), das Gregor der Theologe erklärt und die darin enthaltene Ordnung klar dargelegt hat, als er sagte: ›Laßt uns diese Ordnung hochhalten und bewahren, Brüder! Der eine sei Gehör, der andere Zunge; der eine Hand, der andere etwas anderes; der eine lehre, der andere lerne!‹ Und kurz danach: ›Und wer da lernt, tue es in Gehorsam, und wer mitteilt, tue es mit Frohsinn, und wer dient, diene mit Bereitwilligkeit. Lasst uns nicht alle Zunge sein, die stets das dienstfertigste [Glied] ist. Lasst uns nicht alle Apostel und auch nicht alle Propheten sein, lasst uns nicht alle auslegen.‹ Und danach: ›Warum machst Du Dich selbst zum Hirten, wenn Du doch Schaf bist? Warum wirst Du Kopf und bist doch Fuß? Warum unternimmst Du es, den General zu spielen, gehörst aber doch zu den Soldaten?‹ Und an einer anderen Stelle: ›Die Weisheit befiehlt: Sei nicht schnell mit der Rede; strecke Dich nicht aus nach dem Reichen, wenn Du arm bist; strebe nicht danach, weiser als die Weisen zu sein!‹ (Spr 29,20; 23,4; 30,24 LXX). Wenn jemand überführt wird, an dem gegenwärtigen Kanon zu rütteln, soll er für 40 Tage ausgeschlossen werden.« Demnach ist klar, wie das Wort »Kirche« im Hinblick auf die Unfehlbarkeit der Lehre zu verstehen ist. Unfehlbar ist zweifellos die gesamte Kirche Christi, bestehend aus Hirten und Gehüteten. Doch da es dem Stand der Hirten vorbehalten ist, zu hüten, zu predigen und den Menschen die göttliche Offenbarung auszulegen, und da die Gehüteten verpflichtet sind, in dieser heiligen Sache unbeirrbar auf ihre von Gott eingesetzten Lehrer zu hören (Eph 4,11–15; Apg 20,28; Hebr 5,4; 13,17), liegt es auf der Hand, dass die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche vor allem auf die lehrende Kirche zu beziehen ist, welche mit der lernenden Kirche allerdings untrennbar verbunden ist.

Daraus geht klar hervor, was die Kirche selbst unter »Kirche« versteht: nichts anderes als ihr eigenes ausschließliches Recht zu lehren. Und zur Erklärung dieses Rechts sagt sie, sie sei unfehlbar. Unfehlbar sei sie deshalb, weil sie ihre Lehre auf die Quelle der Wahrheit, auf Christus zurückführe. Doch sobald es zwei Lehren gibt, die ihren Ursprung gleichermaßen auf Christus zurückführen, bricht diese Begründung mitsamt allen Argumenten, die darauf aufbauen, zusammen, und übrig bleiben nur die Motive, die hinter dieser sinnlosen Lehre stehen. Diese Motive zeigen sich heute in den Palästen und Kutschen der Erzbischöfe so klar wie im 6. Jahrhundert in dem Luxus, den die Patriarchen trieben, und ebenso klar sind sie in der Anfangszeit der Apostel, wenn man den Wunsch jedes Lehrers bedenkt, die Wahrheit seiner Lehre bestätigt zu sehen. Die Kirche behauptet, ihre Lehre gründe auf der 6 Tolstoj zitiert den 64. Kanon des zweiten Trullanischen Konzils, des sog. Concilium Quinisextum, das 691/692 in Konstantinopel stattfand. Das Zitat wird nach der Übersetzung von Heinz Ohme wiedergegeben: Concilium Quinisextum, Turnhout 2006 (= Fontes Christiani, 82), 257.

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göttlichen Lehre. Doch die dafür angeführten Beweise aus der Apostelgeschichte und den Apostelbriefen sind hier fehl am Platz, denn gerade die Apostel waren die ersten Menschen, die den Grundstein der Kirche legten, eben jener Kirche, deren Wahrhaftigkeit erst bewiesen werden soll, und deshalb kann weder ihre Lehre noch deren spätere Weiterentwicklung belegen, dass sie selbst auf der Lehre Christi beruht. Wie nahe die Apostel Christus auch in der Zeit sein mögen, sie sind nach der Lehre der Kirche doch Menschen, er aber ist Gott. Alles, was er gesagt hat, ist wahr, alles, was sie gesagt haben, bleibt zu beweisen oder zu widerlegen. Die Kirchen spürten das und beeilten sich, der Lehre der Apostel den Stempel der Unfehlbarkeit des Heiligen Geistes aufzudrücken. Doch wenn man diesen Kunstgriff weglässt und sich der Lehre Christi selbst zuwendet, dann kann man nur staunen, ja lachen über die Dreistigkeit, mit der die Kirchenlehrer ihre Lehre auf die Lehre Christi gründen wollen – eine Lehre, die alles, was sie behaupten, glatt verneint. Das Wort ekklesia, das nichts anderes als Versammlung bedeutet, wird in den Evangelien nur zweimal gebraucht, und zwar bei Matthäus: Auf dir als treuem Jünger will ich wie auf einem Felsen meine Versammlung, meine Gemeinschaft von Menschen gründen7 – das ist das eine Mal; und das zweite Mal heißt es, wenn dein Bruder dich nicht hört, dann sag es vor den versammelten Menschen, denn was ihr auf Erden loslasst (gemeint ist euer Zorn, euer Ärger), das ist auch im Himmel, d.h. in Gott losgelassen.8 Was aber machen daraus die Popen? Der Heiland, der auf die Welt gekommen war, um das große Werk unserer Erlösung zu vollbringen, behielt sich zunächst allein das Recht vor, die Menschen den wahren Glauben zu lehren, den er von seinem Vater empfangen hatte. »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum, dass er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollten, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn« (Lk 4,18–19), und er zog durch die Städte und Dörfer und predigte das Evangelium und fügte hinzu: »denn ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen« (Joh 18,37), »denn dazu bin ich gesandt« (Lk 4,43), und sprach zugleich zum Volk und zu seinen Jüngern: »Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus.« (Mt 23,1.8.10) Dann gab er sein göttliches Recht der Lehre an seine Jünger weiter, an die zwölf und die siebzig, die er selbst mit Bedacht aus der Mitte seiner Zuhörer zu diesem hohen Dienst ausgewählt hatte (Lk 6,13; 10,1ff), er übergab es ihnen, während er noch auf Erden weilte und sie aussandte, das Evangelium vom Reich Gottes nur den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu predigen (Mt 10,5–16 usw.), zunächst auf Zeit, später aber, als er selbst sein Werk auf Erden vollbracht hatte und sich nach seiner Auferstehung anschickte, zum Himmel aufzufahren, für immer, sprach er zu ihnen: »Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende 7 Vgl. Mt 16,18. 8 Vgl. Mt 18,17f.

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ich euch« (Joh 20,21), »gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes« (Mt 28,19); und auf der anderen Seite gab er allen Menschen und den zukünftigen Christen unmissverständlich und unter schrecklichen Drohungen die Pflicht auf, die Lehre der Apostel anzunehmen und ihnen zu gehorchen; »wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat« (Lk 10,16; vgl. auch Mt 10,14; 18,15.19; Mk 16,16). Und schließlich brachte der Herr, als er sein göttliches Recht der Lehre an die Apostel weitergab, zugleich den Wunsch zum Ausdruck, dieses Recht möge von den Aposteln selbst auf ihre Nachfolger übergehen, und von diesen weiter, von Geschlecht zu Geschlecht, und in der Welt erhalten bleiben bis zum Ende der Welt. Denn er sprach zu seinen Jüngern: »Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur«, »gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Mk 16,15; Mt 28,18–20). Die Jünger aber konnten zweifellos nicht bis zum Ende der Welt leben, und selbst wenn sie das Evangelium allen Völkern predigen konnten, die es zu ihrer Zeit gab, so doch nicht denen der folgenden Jahrhunderte. Also sandte der Heiland durch die Person seiner Apostel auch alle ihre zukünftigen Nachfolger zur weltweiten Predigt aus und versprach ihnen, bei ihnen zu bleiben – und das ist keine Spekulation, sondern die positive, gesicherte Lehre eines der Apostel selbst, der sagt: »und er hat etliche zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern (Eph 4,11).«9

Selbst wenn man die unklare, offensichtlich später hinzugefügte Stelle über die Taufe im Namen des Vaters, des Sohns und des Heiligen Geistes hinnimmt, gibt es in all dem kein einziges Wort, das auf eine Kirche hinweist. Es gibt vielmehr die direkte Anweisung »ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen«.10 Was könnte man – nach den eigenen Vorstellungen der Kirche – Deutlicheres gegen die Kirche sagen? Doch gerade dies führt sie an, wie zum Hohn auf den gesunden Menschenverstand. Und gegen das Lehrertum? Dagegen sprechen nicht zwei oder drei Stellen, sondern der Sinn des gesamten Evangeliums richtet sich gegen die »Lehrer« (»Wir haben in deinem Namen gelehrt.« – »Fahrt zur Hölle, ihr Übeltäter.«):11 all die Reden an die Pharisäer und über die äußere Gottesverehrung, darüber, dass der Blinde den Blinden nicht führen kann12 u.v.a., vor allem aber der eigentliche Sinn der Lehre Christi bei Johannes und den anderen Evangelisten. Er ist gekommen, den Armen im Geiste die frohe Botschaft zu bringen, und er nennt sie selig.13 Mehrmals wiederholt er, auch Kinder und Einfältige könnten seine Lehre verstehen, besser noch als die Weisen und Gelehrten, und er erwählt die

9 Tolstoj fasst hier den Paragraphen 167 der Orthodoxen dogmatischen Theologie von Metropolit Makarij zusammen. 10 Mt 23,8. 11 Vgl. Mt 7,22f. 12 Vgl. Mt 15,14 par. 13 Vgl. Mt 5,3.

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Dummen, Ungebildeten und Unterdrückten, und sie verstehen ihn.14 Er sagt, dass er nicht gekommen ist, um zu lehren, sondern um zu erfüllen.15 Sein Leben ist die Erfüllung. Immer wieder sagt er, wer sein Gebot erfüllt, wird erfahren, ob es von Gott kommt; selig ist, wer erfüllt, nicht wer lehrt. Groß ist, wer erfüllt, wer handelt, nicht wer lehrt. Sein Zorn gilt allein denen, die lehren; er sagt: Ihr sollt nicht über andere urteilen.16 Er sagt, dass er allein das Tor für die Schafe geöffnet hat und dass die Schafe ihn kennen und er sie. Doch da kommen Hirten daher, die niemand gerufen hat, Wölfe im Schafspelz, sie kommen in buhlerischen Gewändern und stellen sich vor ihn hin, und diese Übeltäter sagen: Nicht er, sondern wir sind das Tor für die Schafe.17 Die Motive sind verständlich. Sie sind es besonders in der frühen Zeit, in der Paulus zuerst begann, von der Kirche und ihrer Unfehlbarkeit zu sprechen. Man kann verstehen, dass ein vom Glauben beseelter, leidenschaftlicher Mensch, der den Geist seines Lehrers nicht vollkommen verstanden hatte, von dessen Lehre abkommen konnte, und dasselbe gilt auch für die anderen Menschen jener Zeit. Auch dass man sich später, unter dem Druck der Herrschaft Konstantins, von dem Wunsch hinreißen ließ, den äußeren Glauben möglichst schnell zu festigen, ist verständlich; und verständlich sind die Kriege und alle Gewalt, die diese Abweichung vom Geist der Lehre hervorgebracht hat. Doch die Zeit ist gekommen, die Schafe von den Böcken zu scheiden, ja, sie selbst haben sich schon so entzweit, dass man die wahre Lehre heute in keiner Kirche mehr antrifft. Die Wege haben sich getrennt und weit voneinander entfernt. Heute ist klar, dass das Lehrertum der Kirche, auch wenn es nur aus einer kleinen Abweichung entstand, mittlerweile der ärgste Feind des Christentums ist, und dass ihre Hirten allem möglichen dienen, nur nicht der Lehre Jesu, denn diese verleugnen sie. Die Lehre von der lehrenden Kirche ist heute eine, die dem Christentum ausschließlich feindlich gegenübersteht. Nicht nur ist sie vom Geist der christlichen Lehre abgewichen, sie hat diesen Geist immer weiter verfälscht und ist heute so weit, dass sie ihn mit ihrem ganzen Dasein leugnet: An die Stelle der Erniedrigung setzt sie Größe, an die der Armut Luxus, an die des Nicht-Urteilens das schärfste Urteil über alle, an die der Vergebung des Unrechts Hass und Kriege, an die der Duldsamkeit gegenüber dem Bösen Hinrichtungen. Und jeder verleugnet jeden. Was bleibt? Allein die Berufung auf den Namen Christi kann die Kirche nicht retten. – Doch die Kirche ist nicht nur als Kirche der Hirten definiert, sondern auf eine etwas unklare Weise 14 15 16 17

Vgl. z.B. Mk 10,15; Mt 11,25; 18,3; 21,16. Vgl. Mt 5,17. Vgl. Mt 7,1 par. Vgl. Mt 7,15.

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auch als Kirche der Gehüteten, die gehorchen sollen. Was unter der ersten zu verstehen ist, ist klar, nicht aber, was die zweite ist. Ist es die Gemeinschaft der Gläubigen? Wenn Gläubige sich im Glauben an dieselbe Sache zusammengefunden haben, dann handelt es sich selbstverständlich um eine Gemeinschaft der Gläubigen. Das gilt für die Gemeinschaft derer, die an die Musik Wagners glauben, an XYs politische Ökonomie, oder an irgendeine soziale Theorie. Doch auf eine solche Gemeinschaft lässt sich der Begriff Kirche und die damit verbundene Vorstellung von Unfehlbarkeit nicht anwenden, und eben das ist der springende Punkt. Sie ist lediglich eine Gemeinschaft von Gläubigen, nicht mehr, und ihre Grenzen kann man nicht sehen, da der Glaube keine fleischliche Angelegenheit ist. Euren Popenglauben, den kann man anfassen – in Form von Katechismen, Marienbildern und anderem Unfug, aber der Glaube der Gläubigen, jenes Eine, das das Leben und das Licht in den Menschen ist, das kann man nicht anfassen und bestimmen, wo und wieviel es ist. Folglich dient diese Definition der Kirche nur dazu, dass die Hirten jemanden haben, den sie hüten können, ein anderer Sinn steht nicht dahinter. Überhaupt bezeichnet das Wort Kirche nur einen Betrug, mit dessen Hilfe die einen Menschen über die anderen herrschen wollen. Eine andere Kirche gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Nur aufgrund dieses Betrugs entstanden – über die von allen Kirchen weiter getragene wahre Lehre hinaus – jene widerwärtigen Dogmen, die diese Lehre gänzlich entstellen und überdecken. Hierher gehören die Göttlichkeit Jesu, der Heilige Geist, die Trinität, die jungfräuliche Gottesgebärerin, all die abstrusen Rituale, die eben deshalb Sakramente genannt werden, weil sie keinen Sinn haben und weil niemand sie braucht, mit Ausnahme des Sakraments der Priesterweihe, die immerhin den Popen dazu dient, Eier einzusammeln. Aber wer hätte für den Erhalt und die Reinheit der Heiligen Schrift gesorgt, woran hätte man geglaubt, wer hätte gelehrt, wenn es die Kirche nicht gegeben hätte? Die Heilige Schrift haben nicht diejenigen bewahrt, die stritten, sondern diejenigen, die glaubten und handelten. Die Heilige Überlieferung ist eine Überlieferung der Werke und des Lebens. Nur die haben gelehrt, die durch ihr Leben lehrten, so dass ihr Licht vor den Menschen leuchtete. Man glaubte und glaubt nur den Werken. »Wollt ihr mir nicht glauben, glaubet doch den Werken.«18 Weder ich noch irgendjemand sind berufen, über andere und über die Vergangenheit zu urteilen. Was war, das war. Jetzt aber sehe ich, dass nur die Werke von Dauer sind, nur aus ihnen lerne ich und lernt das Volk, Belehrung und Disput dagegen verderben es nur und nehmen ihm den Glauben. Wahrhaftig, angefangen von der Fingerhaltung beim Kreuzzeichen über die Frage des ungesäuerten Brotes und der

18 Vgl. Joh 10,37f.

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Taufe bis zur Homousie oder Nicht-Homousie19 drehte sich der Disput immer um Dinge, die niemand brauchte, die nicht Gegenstand des Glaubens waren. Inzwischen sind wir so weit, dass die Frage, ob der Papst fehlbar ist und ob Maria wie ein Mensch geboren wurde, als Glaubensgegenstand hingestellt wird. Der eigentliche Gegenstand des Glaubens aber, das Leben, war nie umstritten und konnte es auch nicht sein. Wie willst du deinen Glauben zeigen? Ich zeige meine Werke. Wo ist denn aber die wahre Kirche, wo sind die wahren Gläubigen, woher weiß man, wer in der Wahrheit ist und wer nicht? So werden die fragen, die Jesu Lehre nicht verstanden haben. Wo ist die Kirche, das heißt, wo liegen ihre Grenzen? Wer in der Kirche ist, kann ihre Grenzen nicht sehen. Wer glaubt, der sagt: Ich suche selbst Rettung – wie könnte ich da über andere urteilen. Wer Jesu Lehre verstanden hat, für den liegt sie darin, dass es mir, meinem Licht, gegeben ist, zum Licht zu gehen, mir ist mein Leben gegeben. Außer meinem Leben und über dieses hinaus gibt es nichts, nur die Quelle allen Lebens: Gott. Die gesamte Lehre der Demut, des Lebens in der Gegenwart, des Verzichts auf Reichtum, der Nächstenliebe hat nur den einen Sinn, dass ich aus diesem Leben ein an sich unendliches machen kann. Jedes Verhältnis, das ich zum Leben eines anderen habe, dient der Erhöhung meines eigenen Lebens, der Gemeinschaft und Einheit mit dem anderen in der Welt und in Gott. Nur durch mich selbst kann ich die Wahrheit erfassen – und durch meine Werke, dadurch, dass mein ganzes Handeln eine Folge der Erhöhung meines Lebens wird, kann ich diese Wahrheit zum Ausdruck bringen. Welche Rolle spielt es für mich, der ich das Leben so verstehe – und anders kann ich es nicht verstehen –, wie andere denken und leben? Da ich sie liebe, kann ich nicht umhin, ihnen mein Glück mitteilen zu wollen, doch ich habe kein anderes Werkzeug dafür als mein Bewusstsein von meinem eigenen Leben und meine Werke. Ich kann nicht für einen anderen wünschen, denken, glauben. Wenn ich aber mein eigenes Leben erhöhe, kann das allein auch das Leben eines anderen erhöhen, zumal dieser andere – wiederum ich ist. Wenn ich also mich erhöhe, erhöhe ich alle. »Ich bin in ihnen, und sie sind in mir.«20 Die gesamte Lehre Jesu besteht nur in dem, was auch das Volk in einfachen Worten sagt: Rette deine eigene Seele und richte deine Kraft nur auf sie, denn sie ist alles. Leide, sei duldsam gegenüber dem Bösen, urteile nicht – al19 Der Begriff »Homousie« bezeichnet die am Konzil von Nizäa (325) festgelegte »Wesenseinheit« von Gott-Vater und Gott-Sohn – im Gegensatz zum arianischen Subordinatianismus und zur origenistischen »Homöusie« als der »Wesensähnlichkeit« der Hypostasen. 20 Vgl. Joh 17,21–23.26.

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les sagt dasselbe. Wann immer er aber mit weltlichen Dingen zu tun hat, lehrt Jesus uns durch sein Beispiel vollkommener Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Verachtung – für die Könige, denen die Fürsten der Völker huldigen, für den Zinsgroschen für Tempel und Kaiser, für das Schlichten von Erbstreitigkeiten, für die Steinigung der Ehebrecherin und die Verschwendung von kostbarer Myrrhe. Alles, was nicht deine Seele ist, geht dich nichts an. Sucht das Himmelreich und die Wahrheit in eurer eigenen Seele, und alles wird gut. Und wahrhaftig: Meine Seele ist in meine Gewalt gegeben, und genauso ist es bei jedem Menschen. Andere Seelen kann ich nicht nur nicht beherrschen, ich kann sie nicht einmal begreifen. Wie sollte ich sie also bessern und belehren? Und warum sollte ich Kraft vergeuden auf etwas, das nicht in meiner Macht steht, und dafür etwas anderes versäumen, das in meiner Macht steht? Jesus hat nicht nur durch seine Lehre, sondern auch durch sein Leben gezeigt, wie falsch diese Welt eingerichtet ist, ein Kosmos, in dem alle scheinbar mit dem Heil der anderen beschäftigt sind, in Wirklichkeit aber nur ihren Begierden und ihrer Liebe zur Finsternis nachgehen. Welches Übel man auch anschaut, stets wird der, der es verschuldet, dies angeblich zum Heil seines Nächsten tun. Wenn ein Mensch mit einem anderen kämpft und ihn verletzt und dabei behauptet, dies sei zum Heil der Menschheit, so braucht man nur zu suchen, wonach dieser Mensch eigentlich begehrt, und man wird finden, dass er nur seinem eigenen Verlangen folgt. Weil die Menschen das nicht durchschauten, haben sie sich zu dem falschen Wunsch verleiten lassen, andere zu belehren, und das hat die Kirche mit all ihren Gräueln und Widerwärtigkeiten hervorgebracht. Was aber wird, wenn es keine Kirche mehr gibt? Nichts anderes als jetzt. Was Jesus gesagt hat, hat er nicht deshalb gesagt, weil ihn danach verlangte, sondern weil es so ist. Er hat gesagt: Tut gute Werke, damit die Menschen, die sie sehen, Gott preisen.21 Und nur diese Lehre war und wird sein, solange die Erde stand und steht. In den Werken gibt es keine Uneinigkeit. Wo es aber Uneinigkeit gibt und weiter geben wird – im Bekenntnis, in der Auslegung, in der äußeren Gottesverehrung –, da berührt sie den Glauben und die Werke nicht und stört niemanden. Die Kirche hat versucht, die Glaubensbekenntnisse und die äußeren Formen der Gottesverehrung zu vereinigen, doch sie zerfielen in eine unüberschaubare Menge verschiedener Richtungen, und eine verwarf die andere und zeigte so, dass weder das Bekenntnis noch die äußere Gottesverehrung eine Sache des Glaubens ist. Sache des Glaubens ist nur das Leben nach dem Glauben. Das Leben allein steht über allem und kann nichts anderem unterworfen sein als Gott, den man nur durch das Leben erkennt.

21 Vgl. Mt 5,16.

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Lev Tolstoj

Mein Glaube (Auszüge)

Der Anstoß zur Niederschrift dieses Traktats war ein Brief, den Tolstoj im Winter 1882/1883 von Michail E˙ngel’gardt erhielt, der den Schriftsteller um Rat fragte, wie man heutzutage nach der Lehre des Evangeliums leben könne. Tolstoj verfasste ein umfangreiches Antwortschreiben, das er allerdings nicht abschickte, da ihm der Inhalt zu intim erschien. Stattdessen begann er mit der Arbeit an Mein Glaube, wo er der Frage nachgehen wollte, wie sich die christliche Lehre mit dem heutigen Leben in Einklang bringen ließe. Zunächst plante Tolstoj, diese Frage in Form autobiografischer Notizen mit dem Titel Aufzeichnungen meines Lebens aus dem Jahr 1881 abzuhandeln, dazu benutzte er u.a. eigene Tagebuchaufzeichnungen, die er »Aufzeichnungen eines Christen« nannte. Doch schon bald sah er von einem solchen Vorhaben ab und änderte den Titel in Worin mein Glaube besteht. Die Arbeit an diesem Traktat, dem Tolstoj große Bedeutung beimaß, zog sich bis Ende 1883 hin. Wie schon bei der Beichte zeigte sich die Zeitschrift Russkaja mysl’ interessiert an Tolstojs Manuskript. Da der Umfang des Traktats eine Veröffentlichung in der Zeitschrift nicht zuließ, brachte die Redaktion 1884 Mein Glaube als Broschüre in einer Auflage von gerade einmal 50 Stück heraus, wobei der Verkaufspreis eines Exemplars auf unerhörte 25 Rubel festgesetzt wurde – damit hoffte man zu erreichen, dass die Zensur die Veröffentlichung durchgehen ließe. Im Februar 1884 folgte allerdings das Verbot seitens der Zensurbehörde, die gesamte Auflage wurde beschlagnahmt. Tolstoj kommentierte das in einem Brief folgendermaßen: »Mein Buch hat man, anstatt es zu verbrennen, wie sich das nach ihren Gesetzen so gehört, nach Petersburg gebracht, und dort haben die hohen Herren alle Exemplare unter sich aufgeteilt. Das freut mich ungemein. Vielleicht versteht es ja der eine oder andere sogar.« Zu den ersten Lesern gehörte unter anderem der Innenminister Graf Dmitrij Tolstoj, der sich gleich einige Exemplare reservieren ließ. (Diese exklusiven Exemplare von Mein Glaube gehören bis heute zu den begehrtesten Raritäten unter russischen Bibliophilen.) Wie in solchen Fällen üblich, begannen gleich nach dem Verbot Abschriften und mechanische Reproduktionen von Mein Glaube zu kursieren. Die erste legale Ausgabe, die Tolstoj höchstpersönlich redigiert hatte, erschien 1885 auf Französisch in Paris unter dem Titel Ma religion; im selben Jahr noch folgten deutsche und englische Übersetzungen. Die erste russische Ausgabe erschien in Genf ohne Jahresangabe, die zweite Genfer Auflage war mit 1888 datiert. Cˇertkov veröffentlichte Mein Glaube im 7. Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs (L.N. Tolstoj, Polnoe sobranie soˇcinenij, zapreˇsˇcennych v Rossii, Bd. 7, Christchurch 1902). In Russland konnte Mein Glaube ungekürzt erstmals 1906 erscheinen. Die hier übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 23: 306–312, 314–318, 331–333, 422f, 451–461, 463–465). Die Überschriften stammen von den Herausgebern.

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Über die Entdeckung der Bergpredigt und des Gebotes vom Nichtwiderstehen Fast von frühester Kindheit an, seit ich begonnen hatte, das Evangelium für mich zu lesen, hat mich im ganzen Evangelium am meisten jene Lehre Christi gerührt, in der Liebe, Demut, Erniedrigung, Selbstlosigkeit und Vergeltung des Bösen mit Gutem gepredigt werden. Das ist für mich immer der Kern des Christentums geblieben, das, was ich von Herzen liebte an ihm, der Grund, um dessentwillen ich, nach Verzweiflung und Unglauben, jenen Sinn als wahr anerkannte, den das christliche arbeitende Volk dem Leben gibt, und um dessentwillen ich mich derselben Glaubensrichtung unterwarf, zu der sich auch dieses Volk bekennt, also der orthodoxen Kirche. Doch nachdem ich mich der Kirche unterworfen hatte, bemerkte ich bald, dass ich in ihr keine Bestätigung, keine Erklärung jener Prinzipien des Christentums finden würde, die mir als grundlegend erschienen; ich bemerkte, dass dieser für mich so wertvolle Kern des Christentums in der Lehre der Kirche nicht im Mittelpunkt steht. Ich bemerkte, dass das, was mir an der Lehre Christi als das Wichtigste erschien, von der Kirche nicht als das Wichtigste anerkannt wird. Für die Kirche ist das Wichtigste etwas anderes. Anfangs maß ich dieser Besonderheit der kirchlichen Lehre keine Bedeutung bei. »Nun gut«, dachte ich, »die Kirche erkennt neben jenem Sinn – dem der Liebe, Demut und Selbstlosigkeit – auch noch diesen dogmatischen und äußeren Sinn an. Dieser Sinn ist mir zwar fremd und stößt mich sogar ab, aber schädlich ist er nicht.« Doch je länger ich im Gehorsam gegen die Lehre der Kirche weiterlebte, desto deutlicher wurde mir, dass diese Besonderheit der kirchlichen Lehre nicht so bedeutungslos war, wie ich anfangs geglaubt hatte. Abgestoßen fühlte ich mich sowohl von den Merkwürdigkeiten der kirchlichen Dogmen als auch davon, dass die Kirche Verfolgungen, Hinrichtungen und Kriege anerkannte und guthieß, als auch von der wechselseitigen Ablehnung der verschiedenen Konfessionen, doch was mein Vertrauen zur Kirche eigentlich zerstörte, war ihre Gleichgültigkeit gegen das, was mir als Kern der Lehre Christi erschien, und umgekehrt ihre Vorliebe für etwas, das ich für unwesentlich hielt. Ich spürte, dass da etwas nicht stimmte. Aber was nicht stimmte, darauf kam ich nicht; und zwar deshalb, weil die Kirche nicht leugnete, was mir als die Hauptsache an der Lehre Christi erschien, sondern diese Hauptsache durchaus anerkannte, aber auf eine Weise, dass sie nicht an erster Stelle stand. Ich konnte der Kirche nicht vorwerfen, dass sie das Wesentliche leugnete, doch die Art, wie die Kirche dieses Wesentliche anerkannte, stellte mich nicht zufrieden. Die Kirche gab mir nicht, was ich von ihr erwartete. Ich war nur deshalb vom Nihilismus zur Kirche gekommen, weil mir bewusst geworden war, dass ich ohne Glauben, ohne das Wissen darum, was –

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jenseits meiner tierischen Instinkte – gut oder schlecht war, nicht leben konnte. Dieses Wissen dachte ich im Christentum zu finden. Doch das Christentum, wie es sich mir damals darstellte, war nur eine recht undeutliche Stimmung, aus der sich keine klaren, bindenden Lebensregeln ergaben. Diese Regeln suchte ich bei der Kirche. Die Kirche aber gab mir Regeln, die mich jener mir so wertvollen christlichen Stimmung kein bisschen näher brachten, sondern mich eher davon entfernten. Also konnte ich der Kirche nicht folgen. Was ich brauchte und was mir nahestand, war ein Leben, das auf den christlichen Wahrheiten gründete; die Kirche aber gab mir Lebensregeln, die mit den Wahrheiten, die mir am Herzen lagen, rein gar nichts zu tun hatten. Diese von der Kirche verkündeten Regeln über den Glauben an die Dogmen, die Beachtung der Sakramente, Fastenzeiten und Gebete brauchte ich nicht; Regeln aber, die auf den christlichen Wahrheiten gründeten, gab es nicht. Mehr noch, die kirchlichen Regeln schwächten und zerstörten manchmal geradezu jene christliche Stimmung, die allein meinem Leben einen Sinn gab. Am meisten störte mich, dass alles menschliche Übel – das Urteilen über einzelne Menschen, das Urteilen über ganze Völker, das Urteilen über andere Religionen, und was sich aus diesem Urteilen ergab: Verfolgungen und Kriege – dass all das von der Kirche gerechtfertigt wurde. Sie pries Christi Lehre der Demut, des Nicht-Urteilens, der Vergebung von Kränkungen, der Selbstlosigkeit und Liebe zwar in ihren Worten, in ihren Taten aber billigte sie gleichzeitig etwas, das mit dieser Lehre unvereinbar war. War Christi Lehre wirklich so beschaffen, dass es diese Widersprüche geben musste? Das konnte ich nicht glauben. Zudem hatte mich immer erstaunt, dass, soweit ich die Evangelien kannte, diejenigen Stellen, auf denen die kirchlichen Bestimmungen über die Dogmen im Einzelnen gründeten, die unklarsten waren; diejenigen aber, aus denen sich die Erfüllung der Lehre ergab, waren die prägnantesten und klarsten. Hingegen waren bei der Kirche die Dogmen und die daraus hervorgehenden Christenpflichten aufs klarste und deutlichste festgelegt; von der Erfüllung der Lehre aber war nur in den verschwommensten, wolkigsten, geheimnisvollsten Worten die Rede. Hatte Christus das wirklich gewollt, als er über seine Lehre sprach? Nur die Evangelien konnten meine Zweifel auflösen. Und so las und las ich sie immer wieder. Eine besondere Stellung nahm dabei für mich immer die Bergpredigt ein. Sie las ich am häufigsten. Nirgends sonst spricht Christus so feierlich wie hier, nirgends sonst stellt er so viele sittliche, klare, verständliche Regeln auf, die jedem im Herzen unmittelbar einleuchten, nirgends sonst spricht er zu einer so großen, bunten Menge einfacher Menschen. Wenn es denn klare, eindeutige christliche Regeln gab, so mussten sie hier ausgedrückt sein. In diesen drei Kapiteln des Matthäusevangeliums suchte ich eine Antwort auf meine ungeklärten Fragen.

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Viele, viele Male habe ich die Bergpredigt gelesen, und jedes Mal empfand ich dasselbe: Entzücken und Rührung bei den Versen über das Hinhalten der anderen Wange, das Weggeben des Hemdes, die Versöhnung mit allen und die Liebe zu den Feinden – und zugleich Unzufriedenheit. Gottes Worte, die er an alle Menschen gerichtet hatte, waren unklar. Was er verlangte, war ein allzu unmöglicher, umfassender Verzicht, der das Leben selbst, wie ich es verstand, vernichtete, und deshalb konnte dieser Verzicht auf alles, wie mir schien, nicht die notwendige Voraussetzung der Rettung sein. Und da er das nicht war, gab es nichts Eindeutiges, Klares. Ich las nicht nur die Bergpredigt, sondern alle Evangelien und alle theologischen Kommentare dazu. Die theologischen Erklärungen, wonach die Aussagen der Bergpredigt auf jene Vollkommenheit verwiesen, nach der der Mensch streben solle, die aber auch besagten, dass der gefallene Mensch ganz und gar sündig sei und diese Vollkommenheit nicht aus eigener Kraft erreichen könne, sondern dass die Rettung des Menschen durch Glauben, Gebet und Gnade erfolge – diese Erklärungen befriedigten mich nicht. Ich war anderer Meinung, denn ich fand es immer seltsam, weshalb Christus, wenn er im Voraus schon gewusst hätte, dass die Kräfte des Menschen allein nicht ausreichten, um seiner Lehre zu folgen, so klare und wunderbare Regeln hätte aufstellen sollen, die sich direkt an jeden einzelnen Menschen richteten? Wenn ich diese Regeln las, kam es mir immer so vor, als würden sie sich direkt auf mich beziehen und von mir allein verlangen, dass ich sie befolge. Sooft ich diese Regeln las, überkam mich die freudige Gewissheit, dass ich all dies gleich jetzt, von dieser Stunde an tun konnte. Und ich wollte es tun und versuchte es; doch wenn ich dann um die Erfüllung ringen musste, fiel mir unwillkürlich die Lehre der Kirche wieder ein, wonach der Mensch schwach und von sich aus nicht imstande dazu sei, und meine Kraft ließ nach. Man sagte mir: Du musst glauben und beten. Doch ich spürte, dass ich nicht genug glaubte und deshalb nicht beten konnte. Man sagte mir, ich solle darum beten, dass Gott mir Glauben schenke, jenen Glauben, durch den mir das Gebet möglich würde, durch das mir der Glauben geschenkt würde, durch den mir das Gebet möglich würde, usw. bis ins Unendliche. Doch sowohl meine Vernunft als auch meine Erfahrung sagten mir, dass dies kein wirksames Mittel sei. Das einzige wirksame Mittel schien mir immer mein Bemühen zu sein, Christi Lehre zu erfüllen. Schließlich, nachdem ich lange, lange vergeblich gesucht und die einschlägige Literatur studiert hatte, sowohl die zum Beweis der Göttlichkeit wie auch die zum Beweis der Nicht-Göttlichkeit dieser Lehre, nach langen Zweifeln und Qualen, war ich wieder allein mit meinem Herzen und dem

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geheimnisvollen Buch vor mir. Ich konnte es nicht so deuten wie andere, ich konnte es aber auch nicht anders deuten, und ich konnte mich nicht von ihm abwenden. Und erst, nachdem ich jeden Glauben an die Auslegungen der historischen Kritik und der wissenschaftlichen Theologie gleichermaßen verloren und sie allesamt verworfen hatte, Christi Worten gemäß: Wenn ihr mich nicht wie die Kinder annehmt, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen …,1 verstand ich plötzlich, was ich früher nicht verstanden hatte. Ich verstand nicht dadurch, dass ich kunstvoll und tiefsinnig umstellte, verglich und neu auslegte; im Gegenteil, alles erschloss sich mir dadurch, dass ich alle Auslegungen vergaß. Die Stelle, die für mich der Schlüssel zu allem wurde, war eine Stelle aus dem 5. Kapitel Matthäus, Vers 39: »Euch ist gesagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt …« Plötzlich verstand ich diesen Vers zum ersten Mal wörtlich und einfach. Ich verstand, dass Christus genau das sagt, was er sagt. Und sogleich tauchte nicht etwas Neues auf, sondern alles, was die Wahrheit verdunkelt hatte, fiel von ihr ab, und sie stand in ihrer ganzen Bedeutung vor mir. »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt.« Diese Worte erschienen mir plötzlich völlig neu, als hätte ich sie nie zuvor gelesen. Früher hatte mir immer, wenn ich diese Stelle las, eine seltsame Blindheit die Worte »ich aber sage, du sollst dem Übel nicht widerstreben« verdunkelt, sodass ich sie übersprang. Es war, als stünden diese Worte gar nicht da, oder als hätten sie keine bestimmte Bedeutung. Bei meinen späteren Gesprächen mit vielen, vielen Christen, die das Evangelium kannten, bemerkte ich oft dieselbe Blindheit in Bezug auf diese Worte. Niemand erinnerte sich an sie, und viele nahmen während dieser Gespräche das Evangelium zur Hand, um zu prüfen, ob sie dort wirklich standen. Genauso hatte auch ich diese Worte übersprungen und erst die darauf folgenden Worte wieder aufgefasst: »Und wenn dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen … dem halte den linken hin …« usw. Ich hatte das immer als Forderung nach Leiden und Entbehrungen gelesen, wie sie der Natur des Menschen nicht entsprachen. Die Worte rührten mich. Ich ahnte, dass es herrlich wäre, sie zu befolgen. Doch ich ahnte auch, dass ich nie imstande sein würde, sie nur um des Befolgens willen zu befolgen, nur um zu leiden. Ich sagte mir: Nun gut, wenn ich die andere Wange hinhalte, wird man mich ein zweites Mal schlagen; wenn ich meinen Mantel weggebe, wird man mir alles nehmen. Ich könnte nicht mehr leben. Da mir aber das Leben geschenkt ist, weshalb sollte ich es aufgeben? Das kann Christus nicht fordern. So hatte ich damals gedacht, als ich noch glaubte, dass Christus in diesen Worten Leid und Entbehrung preist und dass er dabei übertreibt und 1 Vgl. Mk 10,15.

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deshalb ungenau und unklar spricht; doch jetzt, da ich die Worte über den Verzicht auf Widerstand gegen das Böse verstanden hatte, wurde mir klar, dass Christus nichts übertreibt und keinerlei Leiden nur um des Leidens willen fordert, sondern sehr bestimmt und klar eben das sagt, was er sagt. Nämlich: »Ihr sollt dem Bösen keinen Widerstand entgegensetzen; und wenn ihr dies befolgt, dann wisst, dass ihr auf Menschen treffen könnt, die euch auf eine Wange schlagen, und wenn sie nicht auf Gegenwehr stoßen, auch auf die andere Wange; die euch nach dem Hemd auch noch den Mantel nehmen; die sich nicht nur eure Arbeit zunutze machen, sondern euch zwingen, noch mehr zu arbeiten; die nehmen und nichts zurückgeben … Wenn dies geschieht, dann sollt ihr dem Bösen dennoch keinen Widerstand entgegensetzen. Wenn euch einer schlägt und beleidigt, so tut ihm trotzdem Gutes.« Und sobald ich diese Worte so verstand, wie sie gesagt sind, wurde alles, was dunkel gewesen war, klar, und was mir übertrieben erschienen war, vollkommen richtig. Zum ersten Mal begriff ich, dass der Schwerpunkt des ganzen Gedankens in den Worten »dem Übel nicht widerstreben« liegt, und dass das Folgende nur eine Erläuterung des ersten Satzes ist. Ich verstand, dass Christus uns keineswegs deshalb unsere andere Wange hinhalten und unseren Mantel weggeben heißt, damit wir leiden, sondern dass er sagt, dass wir dem Bösen keinen Widerstand entgegensetzen sollen und dass wir dabei vielleicht auch werden leiden müssen. Genau wie ein Vater, der seinen Sohn auf eine weite Reise schickt, diesem nicht befiehlt, nicht zu schlafen, nass zu werden und zu frieren, wenn er ihm sagt: »Geh deines Weges, und wenn du nass wirst und frierst, so geh dennoch weiter.« Christus sagt nicht: Haltet die Wange hin und leidet, sondern: Leistet dem Bösen keinen Widerstand, was auch mit euch geschieht, leistet dem Bösen keinen Widerstand. Der Satz dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel in seiner wörtlichen Bedeutung war für mich wahrhaftig der Schlüssel, der mir alles aufschloss. Und ich wunderte mich, wie ich den Sinn dieser klaren, deutlichen Worte so hatte verdrehen können. Euch ist gesagt: Zahn um Zahn, ich aber sage: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstreben, und was die Bösen auch mit euch tun, duldet und gebt, aber setzt dem Bösen oder den Bösen keinen Widerstand entgegen. Was könnte klarer, verständlicher und unzweifelhafter sein als das? Sobald ich diese Worte einfach und direkt so verstanden hatte, wie sie gesagt sind, wurde alles in Christi Lehre – nicht nur in der Bergpredigt, sondern im gesamten Evangelium –, wurde alles, was verworren gewesen war, verständlich, und was widersprüchlich gewesen war, wurde schlüssig; und vor allem: was überflüssig gewesen war, wurde notwendig. Alles fügte sich zu einem Ganzen, und eines bestätigte unzweifelhaft das andere, wie die Stücke einer zerbrochenen Statue, wenn man sie richtig zusammensetzt.

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Über das Bekenntnis zu Christus in Worten und seine Verleugnung in Taten Von Kind an lehrte man mich, dass Christus Gott und seine Lehre göttlich sei, doch gleichzeitig lehrte man mich auch Respekt vor den Institutionen, die meine Sicherheit vor dem Bösen gewaltsam verteidigten, man lehrte mich, diese Institutionen heilig zu halten. Man lehrte mich, dem Bösen zu widerstehen und redete mir ein, es sei erniedrigend und beschämend, sich dem Bösen zu unterwerfen und von ihm etwas hinzunehmen, aber rühmlich, ihm Widerstand zu leisten. Man lehrte mich urteilen und strafen. Später lehrte man mich, Krieg zu führen, d.h. den Bösen durch Mord entgegenzutreten, und das Heer, dem ich angehörte, wurde christusliebendes Heer genannt; und sein Tun wurde durch den christlichen Segen geheiligt. Außerdem lehrte man mich von Kind an und bis ich erwachsen war, zu achten, was dem Gesetz Christi direkt widerspricht. Einem Beleidiger Paroli zu bieten, eine Kränkung meiner Person, meiner Familie, meines Volkes gewaltsam zu rächen, all das stieß nicht nur nicht auf Ablehnung, sondern man brachte mir bei, dass es vortrefflich sei und nicht gegen das Gesetz Christi verstoße. Alles, was mich umgab: meine eigene Ruhe und Sicherheit und die meiner Familie, mein Eigentum, all das baute auf dem Gesetz auf, das Christus verworfen hatte: Zahn um Zahn. Die Kirchenlehrer verkündeten, dass Christi Lehre göttlich, dass nach ihr zu leben aber wegen der Schwäche des Menschen unmöglich sei und nur die Gnade Christi uns dazu verhelfen könne. Die weltlichen Lehrer und die ganze Einrichtung unseres Lebens sprachen unumwunden davon, dass Christi Lehre unerfüllbar und bloße Träumerei sei, und lehrten Dinge, die dieser Lehre widersprachen. Ich hatte dieses Eingeständnis der Unerfüllbarkeit der Lehre Gottes allmählich so sehr aufgesogen und mich daran gewöhnt, und es kam meinen Begierden so sehr entgegen, dass ich gar nicht bemerkte, in welchem Widerspruch ich lebte. Ich sah nicht, dass es unmöglich war, sich zum Glauben an Christus, unseren Gott zu bekennen, dessen ganze Lehre darauf beruht, dem Bösen keinen Widerstand entgegenzusetzen, und gleichzeitig bewusst und in aller Ruhe am Aufbau von Eigentum, von Gerichten, Staat und Heer zu arbeiten, also ein Leben einzurichten, das der Lehre Christi widerspricht, während man andererseits zu demselben Christus betet, das Gesetz des Verzichts auf Widerstand und der Vergebung möge sich unter uns erfüllen. Damals kam mir noch nicht in den Sinn, was mir jetzt so klar ist: dass es wesentlich einfacher wäre, das Leben nach dem Gesetz Christi einzurichten und dann gegebenenfalls um Gerichte, Hinrichtungen und Kriege zu beten, wenn wir diese denn unbedingt zu unserem Heil brauchen. Und ich begriff, woher mein Irrtum kam. Er kam daher, dass ich mich in Worten zu Christus bekannte, ihn in meinen Taten aber verleugnete.

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Evangelium oder Militär-Reglement? Dieser Tage ging ich durch das Borovickij-Tor; im Torbogen saß ein alter Mann, ein Krüppel und Bettler, bis zum Hals in Lumpen gehüllt. Ich nahm meine Geldbörse heraus, um ihm etwas zu geben. In diesem Augenblick kam vom Kreml her ein schneidiger, rotwangiger junger Mann gelaufen, ein Grenadier im Schaffellmantel. Als der Bettler den Soldaten sah, sprang er erschrocken auf und lief hinkend zum Alexandergarten hinunter. Der Grenadier wollte ihm erst nachsetzen, blieb dann aber stehen und schimpfte hinter dem Bettler her, weil er sich trotz des Verbots unter das Tor gesetzt hatte. Ich wartete am Tor, bis der Grenadier zurückkam. Als er wieder auf meiner Höhe war, fragte ich ihn: ob er lesen könne? – Das könne er, warum? – Ob er das Evangelium gelesen habe? – Ja. – Auch dies: »und wer einem Hungrigen zu essen gibt«?2 Ich sagte ihm die Stelle auf. Er kannte sie und hörte zu. Ich sah, dass er in Verlegenheit war. Zwei Passanten waren stehen geblieben und lauschten. Den Grenadier schmerzte es sichtlich, dass er plötzlich im Unrecht zu sein schien, obwohl er seine Pflicht tadellos erfüllte, indem er die Leute von einem Ort verjagte, von dem sie zu verjagen er Befehl hatte. Er war verlegen und suchte offenkundig nach einer Ausflucht. Plötzlich blitzte in seinen klugen schwarzen Augen ein Licht auf, und er drehte sich, scheinbar schon im Aufbruch, halb von mir weg. Ob ich denn das Militär-Reglement gelesen hätte? Ich verneinte. »Dann schweig lieber still«, sagte der Grenadier, warf triumphierend den Kopf in den Nacken, hüllte sich in seinen Pelz und ging wacker auf seinen Posten zurück. Dies war der einzige Mensch in meinem Leben, der eine streng logische Antwort auf jene ewige Frage gab, vor der ich angesichts unserer Gesellschaftsordnung stand und vor der jeder Mensch steht, der sich einen Christen nennt. Es ist falsch, zu sagen, die christliche Lehre betreffe das persönliche Heil, habe aber nichts mit übergreifenden, staatlichen Fragen zu tun. Das ist eine gewagte, völlig aus der Luft gegriffene und offensichtlich unwahre Behauptung, die in sich zusammenstürzt, sobald man anfängt, ernsthaft über sie nachzudenken. Als Privatmensch kann ich leicht dem Bösen keinen Widerstand leisten und die andere Wange hinhalten, sage ich mir, doch wenn der Feind angreift oder Völker unterdrückt werden, ruft man mich auf, am Kampf gegen die Bösen teilzunehmen – ich soll ausziehen, sie zu töten. Dann stehe ich unausweichlich vor der Frage: Worin besteht der Dienst an Gott, und worin der Dienst an der eitlen Welt? Soll ich in den Krieg ziehen oder nicht? Oder an2 Mt 25,35ff.

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genommen, ich bin ein Bauer, man wählt mich zum Gemeindevorsteher oder Richter oder Geschworenen, man vereidigt mich und zwingt mich, zu richten und zu strafen – was soll ich tun? Wieder muss ich zwischen dem Gesetz Gottes und dem Gesetz der Menschen wählen. Ich bin ein Mönch, ich lebe im Kloster, die Bauern haben unerlaubt unser Heu gemäht, man schickt mich in den Kampf gegen die Bösen – ich soll die Bauern vor Gericht verklagen. Wieder muss ich wählen. Es gibt niemanden, der sich dieser Frage entziehen könnte. Ich spreche nicht einmal von unserem Stand, dessen Tätigkeit fast ausschließlich darin besteht, den Bösen Widerstand zu leisten, sei es beim Militär, bei der Justiz oder der Verwaltung, nein: Noch der bescheidenste Privatmensch muss entscheiden zwischen dem Dienst an Gott, dem Befolgen seiner Gebote, und dem Dienst an der eitlen Welt, den staatlichen Institutionen. Mein Privatleben ist mit dem allgemeinen Leben des Staates verflochten, und dieses staatliche Leben fordert ein unchristliches Tun von mir, das in direktem Widerspruch zu Christi Geboten steht. Heutzutage, da die allgemeine Wehrpflicht eingeführt ist und jedermann als Geschworener zu Gerichtsverfahren herangezogen werden kann, steht dieses Dilemma mit bestürzender Schärfe vor allen Menschen. Jeder muss das Mordwerkzeug in die Hand nehmen – das Gewehr, das Messer –, und wenn nicht töten, so doch das Gewehr laden und das Messer schärfen, das heißt, zum Töten bereit sein. Jeder Bürger muss vor Gericht erscheinen und am Richten und Strafen teilhaben, das heißt, ein jeder muss Christi Gebot, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten verleugnen. Die Frage des Grenadiers, was gilt: das Evangelium oder das Militär-Reglement? Gottes Gesetz oder Menschengesetz? stellt sich der Menschheit jetzt wie zur Zeit Samuels. Vor ihr standen auch Christus selbst und seine Jünger. Vor ihr stehen alle, die heute Christen sein wollen, und vor ihr stand auch ich.

Die komplizierte Maschinerie von Staat und Gesellschaft Für die Verirrten ist jede Wahrheitslehre nur ein Traum. Wir sind heute so weit, dass viele Menschen (und ich war einer von ihnen) sagen, diese Lehre sei Träumerei, weil sie der Natur des Menschen nicht entspreche. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, sagen sie, die andere Wange hinzuhalten, wenn er auf die eine geschlagen wird, es liegt nicht in seiner Natur, sein Eigentum einem Fremden zu überlassen, es liegt nicht in seiner Natur, nicht zum eigenen Nutzen zu arbeiten, sondern zu dem eines anderen. Vielmehr entspricht es dem Menschen, sagen sie, sich selbst zu verteidigen, seine Si-

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cherheit und die seiner Familie, sein Eigentum, mit anderen Worten: Es entspricht ihm, für seine Existenz zu kämpfen. Gelehrte Juristen führen den wissenschaftlichen Beweis, dass die heiligste Pflicht des Menschen das Beharren auf seinem Recht ist, d.h. der Kampf. Doch wenn man sich nur für eine Minute von dem Gedanken freimacht, die vorhandene, von Menschen gemachte Ordnung des Lebens sei die beste, die heilige Ordnung, kehrt sich der Einwand, Christi Lehre sei der Natur des Menschen fremd, sogleich gegen die, die ihn vorbringen. Wer wollte bestreiten, dass selbst einen Hund zu quälen und ein Huhn oder Kalb zu töten der Natur des Menschen zuwider und qualvoll ist – ganz zu schweigen davon, einen anderen Menschen zu quälen oder zu töten. (Ich kenne Menschen, die von der Landwirtschaft leben und die aufgehört haben, Fleisch zu essen, nur weil sie ihre Tiere selbst töten mussten.) Indessen ist unser ganzes Leben so eingerichtet, dass jedes persönliche Wohl des Menschen durch Leiden anderer Menschen erkauft ist, welche der Natur des Menschen zuwider sind. Die gesamte Ordnung unseres Lebens, der ganze komplizierte Mechanismus unserer Institutionen, die der Gewaltausübung dienen, zeugt davon, in welchem Maß die Gewalt der Natur des Menschen zuwider ist. Kein Richter brächte es über sich, denjenigen, den er rechtmäßig zum Tode verurteilt hat, mit einem Strick zu erdrosseln. Kein hoher Beamter würde eigenhändig einen Bauern aus seiner weinenden Familie holen und ins Gefängnis sperren. Ohne Disziplin, Eid und Krieg würde kein General und kein Soldat Hunderte von Türken oder Deutschen töten und ihre Dörfer verwüsten, er brächte es noch nicht einmal über sich, einen einzigen Menschen zu verletzen. All dies geschieht nur dank jener hochkomplizierten Maschinerie von Staat und Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, die Verantwortung für die begangenen Untaten so aufzuteilen, dass niemand spürt, wie widernatürlich diese Handlungen sind. Die einen schreiben die Gesetze, die anderen wenden sie an, die dritten drillen Menschen und bringen ihnen Disziplin bei, das heißt einen sinnlosen, stummen Gehorsam, die vierten – nämlich die, die gedrillt werden – begehen Gewalttaten aller Art, sie töten sogar Menschen, ohne zu wissen weshalb und wofür. Doch sobald der Mensch sich geistig auch nur für eine Minute befreit von diesem Netz der weltlichen Ordnung, in dem er sich verfangen hat, begreift er, was ihm wirklich fremd ist. Wenn wir aufhören zu behaupten, das gewohnte Übel, aus dem wir Nutzen ziehen, sei eine unzweifelhafte göttliche Wahrheit, dann wird klar, was für den Menschen natürlicher und angemessener ist – die Gewalt oder das Gesetz Christi. Ist es natürlich, zu wissen, dass meine eigene Ruhe und Sicherheit und die meiner Familie, dass alle meine Freuden und Vergnügungen mit der Armut, dem moralischen Verfall und dem Leid von Millionen erkauft sind, mit Jahr für Jahr vollstreckten Todesurteilen, mit Hunderttausenden leidender Häftlinge und Millionen von aus dem Kreis ihrer Familie

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gerissenen, vor Disziplin ganz betäubten Soldaten, Polizisten und Gendarmen, deren auf das hungrige Volk gerichtete geladene Pistolen meine Zerstreuungen schützen; ist es natürlich, jeden süßen Bissen, den ich mir oder meinen Kindern in den Mund stecke, mit jenem Leid der Menschheit zu bezahlen, das der notwendige Preis dafür ist; oder ist es natürlicher, zu wissen, dass ein Bissen nur dann mir gehört, wenn niemand anders ihn braucht und niemand seinetwegen leidet? Hat man einmal verstanden, dass dies so ist, dass in unserer Gesellschaftsordnung jede meiner Freuden, jede Minute der Ruhe mit den Entbehrungen und Leiden von Tausenden erkauft sind, die gewaltsam festgehalten werden; hat man dies einmal verstanden, so versteht man auch, was der Natur des Menschen insgesamt entspricht, also nicht nur seiner tierischen Natur, sondern der vernünftigen und der tierischen zusammen; und hat man das Gesetz Christi einmal in seiner ganzen Bedeutung, mit allen Folgen verstanden, so versteht man auch, dass Christi Lehre der menschlichen Natur nicht fremd ist, dass sie vielmehr gerade darin besteht, die der menschlichen Natur fremde, auf Einbildung beruhende Lehre vom Widerstand gegen das Böse abzuschütteln, die die Menschen unglücklich macht im Leben. Christi Lehre vom Verzicht auf Widerstand gegen das Böse soll ein Traum sein! Aber dass heute wie früher Menschen, denen das Mitleid und die Liebe füreinander in die Seele gepflanzt ist, ihr Leben lang dafür sorgen, dass man andere auf Scheiterhaufen verbrennt und auf Räder flicht, sie mit Knuten, Peitschen und Fußfesseln traktiert, ihnen die Nasenlöcher aufreißt, sie foltert, sie mit Zwangsarbeit und Einzelhaft straft, sie erhängt, sie erschießt, Frauen und Kinder in Gefängnisse steckt, oder dafür, dass man im Krieg Zehntausende hinschlachtet und dass es periodisch Revolutionen und Aufstände gibt – während andere Menschen ihr Leben damit zubringen, all diese grauenhaften Taten auszuführen, und wieder andere damit, diesen Leiden zu entkommen und sie zu rächen –, das soll das wahre Leben sein? Hat man die Lehre Christi erst einmal verstanden, dann weiß man, dass die Welt – nicht jene Welt, die Gott dem Menschen zu seiner Freude geschenkt hat, sondern die Welt, die die Menschen zu ihrem eigenen Verderben eingerichtet haben – nur ein Traum ist, der absurdeste, entsetzlichste Traum, der Fieberwahn eines Verrückten, zu dem man, wenn man einmal aus ihm erwacht ist, nie wieder zurückkehrt.

Die Lehre Christi und die Lehre der Welt Nach Christi Lehre zu leben ist schwer. Christus sagt: Wer mir nachfolgen will, der lasse sein Haus, seine Felder, seine Brüder hinter sich und gehe mit

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mir, mit Gott, und er wird noch in diesem Leben hundert mal mehr Häuser, Felder und Brüder haben, und überdies das ewige Leben. Doch keiner folgt seinem Ruf. Die Lehre der Welt aber sagt: Verlasse dein Haus, deine Felder, deine Brüder, verlasse dein Dorf und ziehe in die verdorbene Stadt, werde ein Badeknecht, der sein Leben lang nackt im Dampf steht und fremder Leute Rücken einseift, oder ein Händler im Kaufhaus, der sein Leben lang in einem Keller sitzt und fremder Leute Kopeken zählt, oder ein Staatsanwalt, der sein Leben im Gericht und über Papieren zubringt, damit beschäftigt, das Los unglücklicher Menschen noch schlimmer zu machen, oder ein Minister, der sein Leben lang hastig überflüssige Dokumente unterschreibt, oder ein Heerführer, der sein Leben lang Menschen tötet – lebe dieses abscheuliche Leben, das stets mit einem qualvollen Tod endet, und du wirst in dieser Welt nichts haben, und auch kein ewiges Leben. Und alle folgen diesem Ruf. Christus hat gesagt: Nimm dein Kreuz und folge mir, das heißt, trage ergeben das Schicksal, das dir zuteil geworden ist, und gehorche mir, deinem Gott – und keiner folgt seinem Ruf. Aber wenn es dem erstbesten verzweifelten Kerl in Epauletten, der zu nichts als zum Morden taugt, in den Sinn kommt, zu sagen: Nimm nicht dein Kreuz, sondern nimm Ranzen und Gewehr und folge mir in alle erdenklichen Qualen und in den sicheren Tod, dann folgen ihm alle. Sie verlassen Familie, Eltern, Frauen und Kinder, sie ziehen Narrengewänder an und unterwerfen sich der Macht des erstbesten Vorgesetzten; frierend und hungrig und erschöpft von erbarmungslosen Märschen gehen sie egal wohin, wie eine Herde Rinder zur Schlachtbank, doch sie sind keine Rinder, sondern Menschen. Es kann ihnen nicht entgehen, dass man sie zur Schlachtbank treibt; ohne zu wissen, wozu, mit Verzweiflung im Herzen gehen sie immer weiter und sterben an Kälte, Hunger und ansteckenden Krankheiten, solange, bis man sie schließlich in den Kugel- und Granatenhagel schickt und ihnen befiehlt, Menschen zu töten, die sie nicht kennen. Sie töten und sie werden getötet. Und keiner von denen, die töten, weiß, wofür und weshalb. Die Türken braten sie lebendig über dem Feuer, ziehen ihnen die Haut ab und zerreißen ihnen die Gedärme. Und morgen pfeift wieder irgendjemand, und wieder laufen alle los, den schrecklichsten Leiden, dem Tod und dem offensichtlichen Bösen entgegen. Und niemand findet das schwer. Nicht nur die, die leiden, auch ihre Väter und Mütter finden es nicht schwer. Sie raten ihren Kindern sogar selbst, mitzugehen. Sie denken nicht nur, dass es so sein muss und anders nicht geht, sondern dass eben dies gut und sittlich ist. Man könnte wohl glauben, es sei mühsam und schrecklich und qualvoll, nach Christi Lehre zu leben, wenn das Leben nach der Lehre der Welt ganz leicht, gefahrlos und angenehm wäre. Aber die Lehre der Welt ist ja viel mühsamer, gefährlicher und qualvoller als ein Leben nach der Lehre Christi.

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Die Lehre Christi gibt dir, was dir fehlt Die Lehre Christi streitet nicht mit den Menschen unserer Welt über ihre Weltanschauung, sie stimmt ihr von vornherein zu und schließt sie in sich ein, und zudem gibt sie den Menschen, was ihnen fehlt, was sie brauchen und suchen: den Weg des Lebens – keinen neuen, sondern einen, der ihnen allen seit Langem bekannt und vertraut ist. Ihr seid gläubige Christen, gleich welchen Bekenntnisses. Ihr glaubt an die Erschaffung der Welt, die Trinität, den Sündenfall und die Erlösung des Menschen, die Sakramente, die Gebete, die Kirche. Christi Lehre streitet nicht nur nicht mit euch, sondern stimmt eurer Weltanschauung durchaus zu, sie gibt euch nur das, was euch noch fehlt. Wenn ihr bei eurem jetzigen Glauben bleibt, fühlt ihr, dass das Leben der Welt und euer eigenes Leben erfüllt ist vom Bösen, und ihr wisst nicht, wie ihm entkommen. Die Lehre Christi (die obligatorisch ist für euch, denn sie ist die Lehre eures Gottes) gibt euch einfache, leicht zu erfüllende Lebensregeln, die euch und alle anderen von jenem Bösen befreien, das euch quält. Glaubt ruhig an die Auferstehung, das Paradies, die Hölle, den Papst, die Kirche, die Sakramente, die Erlösung, betet, wie eure Religion es verlangt, fastet und singt Psalmen – all das hindert euch nicht, zu befolgen, was Christus zu eurem Heil offenbart hat: Ihr sollt nicht zornig sein, keine Unzucht treiben, nicht schwören, euch nicht mit Gewalt verteidigen, nicht Krieg führen.3 Es kann vorkommen, dass ihr eine dieser Regeln nicht erfüllt, dass ihr euch hinreißen lasst und gegen eine von ihnen verstoßt, wie ihr auch jetzt zuweilen in einer unüberlegten Minute gegen die Regeln eures Glaubens, des bürgerlichen Rechts oder des Anstands verstoßt. Genauso werdet ihr in unüberlegten Momenten vielleicht von den Regeln Christi abweichen. In ruhigen Momenten aber sollt ihr es anders machen als jetzt – ihr sollt euch kein Leben einrichten, in dem es schwerfällt, nicht zornig zu sein, keine Unzucht zu treiben, nicht zu schwören, sich nicht zu verteidigen und keinen Krieg zu führen, sondern eines, in dem es schwerfällt, all dies zu tun. Ihr könnt nicht umhin, das einzusehen, denn es ist das, was Gott euch befohlen hat. Ihr seid ungläubige Philosophen, gleich welcher Denkrichtung. Ihr sagt, dass alles, was auf der Welt geschieht, dem von euch entdeckten Gesetz gehorcht. Die Lehre Christi streitet nicht mit euch und erkennt das von euch entdeckte Gesetz durchaus an. Doch neben diesem eurem Gesetz, nach dem das Heil, das ihr der Menschheit wünscht und für sie vorgesehen habt, erst nach Tausenden von Jahren eintritt, gibt es auch noch euer persönliches Leben, das ihr im Einklang mit der Vernunft oder im Widerspruch dazu leben 3 Tolstoj zählt hier die fünf Gebote Christi auf, die er aus den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) ableitete (vgl. das Resümee weiter unten).

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könnt; und für dieses persönliche Leben habt ihr heute keine Regeln außer denen, die von euch verächtlichen Menschen aufgestellt und von Polizisten durchgesetzt werden. Christi Lehre gibt euch Regeln, die ganz sicher mit eurem Gesetz übereinstimmen, denn dieses Gesetz des Altruismus oder des einen Willens ist selbst nur eine unzureichende Umschreibung für die Lehre Christi. Ihr seid durchschnittliche Menschen, halb gläubig, halb ungläubig, die keine Zeit haben, über den Sinn des Lebens nachzugrübeln; ihr habt keine bestimmte Weltanschauung, ihr tut, was alle tun. Christi Lehre streitet nicht mit euch. Sie sagt: Gut, ihr seid nicht in der Lage zu überlegen und zu prüfen, ob die Lehre, die man euch beibringt, wahr ist, euch fällt es leichter, im Verein mit allen zu handeln; doch wie bescheiden ihr auch seid, ihr spürt doch, dass es einen inneren Richter in euch gibt, der eure mit anderen abgestimmten Handlungen bisweilen gutheißt und bisweilen nicht. Wie bescheiden euer Los auch sei, ihr müsst doch manchmal nachdenken und euch fragen: Soll ich wie alle handeln oder auf meine Art? Eben in diesen Fällen, das heißt, wenn ihr vor einer solchen Frage steht, werdet ihr die Stärke der Regeln Christi erkennen. Diese Regeln werden euch gewiss eine Antwort auf eure Frage geben, denn sie umfassen euer ganzes Leben, und diese Antwort wird im Einklang mit eurer Vernunft und eurem Gewissen stehen. Indem ihr danach handelt, werdet ihr nach dem Willen Gottes handeln, sofern ihr dem Glauben näher steht als dem Unglauben, und ihr werdet nach den vernünftigsten Regeln der Welt handeln, sofern ihr dem Freidenkertum näher steht, und davon werdet ihr euch selbst überzeugen, denn die Regeln Christi tragen ihren Sinn und ihre Rechtfertigung in sich.

Hierin besteht mein Glaube – Resümee Ich glaube an die Lehre Christi, und hierin besteht mein Glaube. Ich glaube, dass mein Heil auf der Welt erst dann möglich ist, wenn alle Menschen Christi Lehre erfüllen. Ich glaube, dass ein Leben nach dieser Lehre möglich, leicht und freudig ist. Ich glaube, dass ich, auch solange diese Lehre noch nicht erfüllt wird, und selbst wenn ich der Einzige wäre, der sie erfüllt, nichts anderes tun kann als sie erfüllen, um mein Leben vor dem unausweichlichen Verderben zu retten, so wie derjenige nichts anderes tun kann, der in einem brennenden Haus eine rettende Tür findet. Ich glaube, dass mein Leben nach der Lehre der Welt qualvoll war, und dass nur das Leben nach der Lehre Christi mir in dieser Welt jenes Heil bringt, das der Vater des Lebens mir bestimmt hat.

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Ich glaube, dass diese Lehre der ganzen Menschheit Heil bringt, dass sie mich vor dem unausweichlichen Verderben rettet und mir hier auf Erden das größte Heil bringt. Und deshalb kann ich nicht anders als sie erfüllen. Das Gesetz wurde uns durch Moses gegeben, das Heil und die Wahrheit durch Jesus Christus (Joh 1,17). Die Lehre Christi ist das Heil und die Wahrheit. Früher, als ich die Wahrheit nicht kannte, kannte ich auch kein Heil. Ich hielt Böses für Heil, ich verfiel dem Bösen und zweifelte an der Richtigkeit meines Strebens nach dem Heil. Jetzt dagegen verstehe ich und weiß, dass das Heil, nach dem ich strebe, der Wille des Vaters ist, der allerrichtigste Kern meines Lebens. Christus hat mir gesagt: Lebe für das Heil, aber hüte dich vor den Fallen der Versuchung (), die dich mit dem Anschein von Heil locken, dich aber in Wahrheit dieses Heils berauben und in das Böse hineinziehen. Dein Heil liegt in der Gemeinschaft mit allen Menschen, das Böse liegt in dem, was die Gemeinschaft des Menschensohns verletzt. Beraube dich nicht selbst des Heils, das dir gegeben ist. Christus hat mir gezeigt, dass die Gemeinschaft des Menschensohns, die Liebe der Menschen füreinander nicht, wie ich früher dachte, ein Ziel ist, das man anstreben soll, sondern dass diese Gemeinschaft, diese Liebe der Menschen füreinander ihr natürlicher, glückseliger Zustand ist, der Zustand, in dem nach Christi Worten die Kinder geboren werden und in dem alle Menschen immer leben, solange nicht Betrug, Irrtum und Versuchungen ihn trüben. Doch nicht nur hat Christus mir das gezeigt, sondern er hat in seinen Geboten klar und unmissverständlich all die Versuchungen aufgezählt, die mich dieses natürlichen Zustands der Gemeinschaft, der Liebe und des Heils berauben und mich in das Böse hineinziehen. Christi Gebote geben mir ein Mittel, mich vor jenen Versuchungen zu bewahren, die mir mein Heil rauben, und deshalb kann ich nicht anders, als an diese Gebote glauben. Mir ist das Heil des Lebens gegeben, aber ich habe es selbst zunichte gemacht. Christus hat mir durch seine Gebote jene Versuchungen gezeigt, durch die ich mein Heil zunichte mache, und darum kann ich nicht mehr tun, was mein Heil zunichte macht. Darin und nur darin besteht mein ganzer Glaube.

Erstes Gebot: Du sollst nicht zürnen (Mt 5,21–26) Christus hat mir gezeigt, dass die erste Versuchung, die mein Heil zunichte macht, mein Zorn auf andere ist. Ich kann nicht anders als daran glauben, und deshalb kann ich nicht mehr bewusst im Zwist mit anderen Menschen leben, ich kann mich nicht mehr wie früher an meinem Zorn erfreuen, auf

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ihn stolz sein, ihn anstacheln und damit rechtfertigen, dass ich mich selbst für klug und wichtig halte, die anderen aber für nichtswürdig, verloren und töricht; sobald ich daran erinnert werde, dass ich dabei bin, mich dem Zorn zu überlassen, kann ich nicht mehr anders, als die Schuld allein mir selbst zu geben und nach Versöhnung mit denen zu streben, die mit mir im Zwist liegen. Doch damit nicht genug. Ich weiß jetzt nicht nur, dass mein Zorn ein unnatürlicher, schädlicher und krankhafter Zustand ist, ich weiß auch, welche Versuchung mich in diesen Zustand gebracht hat. Diese Versuchung bestand darin, dass ich mich von den anderen Menschen absonderte, dass ich nur einige von ihnen für ebenbürtig befand, alle anderen aber für wertlos, für Nicht-Menschen (raka) oder für dumm und ungebildet (närrisch).4 Ich sehe jetzt, dass diese Absonderung von den Menschen und die Einschätzung anderer als »raka« oder närrisch der Hauptgrund meines Zwists mit den Menschen war. Wenn ich heute an mein früheres Leben zurückdenke, sehe ich, dass ich meiner Feindseligkeit gegenüber Menschen, die ich für höherstehend hielt als mich, nie freien Lauf ließ, dass ich sie nie beleidigte; hingegen wurde ich gegenüber einem Menschen, den ich für niedrigerstehend als mich hielt, schon bei der geringsten mir unangenehmen Handlung zornig und beleidigend, und je weiter über ihm ich zu stehen glaubte, desto leichter beleidigte ich ihn; manchmal genügte sogar schon die bloße Vorstellung, ein Mensch sei von niedrigem Rang, damit ich ihn beleidigte. Jetzt aber verstehe ich, dass nur der über den anderen Menschen steht, der sich vor ihnen erniedrigt, der jedermanns Diener ist. Ich verstehe jetzt, warum das, was bei den Menschen hohes Ansehen genießt, Gott ein Gräuel ist, und warum es heißt, wehe den Reichen und Ruhmbedeckten, und selig sind die Armen und Erniedrigten. Jetzt erst verstehe ich dies und glaube daran, und dieser Glaube hat mein Urteil darüber, was im Leben gut und edel, und was schlecht und gemein ist, verändert. Alles, was mir früher gut und edel schien – Ehre, Ruhm, Bildung, Reichtum, die Vielfalt und Verfeinerung der Lebensweise, der Einrichtung, Nahrung, Kleidung, der äußeren Umgangsformen – all das wurde nun schlecht und gemein in meinen Augen. Dagegen wurde alles, was mir zuvor schlecht und gemein erschienen war – ein bäuerliches Leben, Bedeutungslosigkeit, Armut, Grobheit, die Einfachheit der Einrichtung, Nahrung, Kleidung, der Umgangsformen –, all dies wurde nun gut und edel. Und deshalb kann ich mich zwar auch jetzt noch in einem unachtsamen Moment von meinem Zorn hinreißen lassen und meinen Bruder 4 Vgl. Mt 5,22: »Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig«. Bei »raka« handelt es sich wohl um ein aramäisches Schimpfwort, das »Hohlkopf« bedeutet.

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beleidigen, doch in ruhiger Verfassung kann ich nicht mehr jener Versuchung dienen, die mich über die Menschen erhob und mich dadurch meines wahren Heils, nämlich der Gemeinschaft und der Liebe beraubte – so wie ein Mensch sich nicht selbst in eine Falle locken kann, in der er schon einmal saß und die ihn beinahe zugrunde gerichtet hätte. Ich kann an nichts mehr teilhaben, was mich äußerlich über die Menschen erhebt und von ihnen isoliert; weder bei mir selbst noch bei anderen kann ich wie früher Stand, Rang und Titel ehren, mit Ausnahme nur eines Titels: der Bezeichnung »Mensch«; ich kann nicht nach Ruhm und Ehren streben, noch nach Kenntnissen, die mich von anderen Menschen isolieren würden, ich kann mich von meinem Reichtum, der mich von den Menschen isoliert, nur zu befreien versuchen, ich kann nicht anders als in meinem Leben, meiner Einrichtung, meiner Nahrung, meiner Kleidung, meinen äußeren Umgangsformen allein das suchen, was mich von der Mehrheit der Menschen nicht trennt, sondern mich mit ihr vereint.

Zweites Gebot: Du sollst deine Frau nicht verlassen (Mt 5,27–32) Christus hat mir gezeigt, dass eine andere Versuchung, die mein Heil zunichte macht, die unzüchtige Begierde ist, also die Begierde nach einer anderen Frau als der, mit der ich mich verbunden habe. Ich kann nicht anders als daran glauben, und deshalb kann ich unzüchtige Begierden nicht mehr wie früher für eine natürliche, erhabene Eigenschaft des Menschen halten; ich kann sie nicht mehr mit meiner Liebe zur Schönheit oder meiner Verliebtheit oder mit den Fehlern meiner Frau rechtfertigen; sobald ich daran erinnert werde, dass ich dabei bin, mich unzüchtigen Begierden hinzugeben, erkenne ich meinen Zustand zwangsläufig als krankhaft und unnatürlich und suche nach einem Mittel, mich von diesem Übel zu befreien. Doch ich weiß inzwischen nicht nur, dass die unzüchtige Begierde ein Übel für mich ist, sondern ich kenne auch die Versuchung, die mich früher dazu verleitet hat, und kann ihr deshalb nicht mehr dienen. Ich weiß jetzt, dass der Hauptgrund dieser Versuchung nicht darin liegt, dass die Menschen sich der Unzucht nicht enthalten können, sondern darin, dass die meisten Männer und Frauen von denen verlassen wurden, mit denen sie sich zuerst verbunden haben. Ich weiß jetzt, dass wer immer den Menschen verlässt, mit dem er sich zuerst verbunden hat, eben jene Scheidung vollzieht, die Christus den Menschen verbietet, denn es sind eben die von ihren ersten Ehegatten verlassenen Männer und Frauen, die alles Laster in die Welt tragen. Wenn ich heute daran zurückdenke, was mich zur Unzucht gebracht hat, dann sehe ich, dass die Versuchung, der ich erlag, nicht nur in jener widersinnigen Erziehung gründete, die körperlich wie auch geistig unzüchtige Be-

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gierden in mir entfachte und die raffiniertesten intellektuellen Rechtfertigungen dafür fand, sondern vor allem darin, dass ich die Frau verlassen hatte, mit der ich mich zuerst verbunden hatte, und in dem Zustand all der anderen verlassenen Frauen, die mich umgaben. Ich sehe jetzt, dass die stärkste Versuchung nicht von meiner Begierde ausging, sondern davon, dass diese meine Begierde ebenso wie die der verlassenen Frauen, die mich überall umgaben, nicht befriedigt wurde. Heute verstehe ich Christi Worte: Am Anfang schuf Gott den Menschen – als Mann und Frau, damit zwei eins würden, und darum kann und darf der Mensch nicht trennen, was Gott verbunden hat.5 Heute verstehe ich, dass die Monogamie das natürliche, unverletzliche Menschheitsgesetz ist. Heute verstehe ich durchaus, dass jeder, der sich einer anderen wegen von seiner Frau scheiden lässt, also von der Frau, mit der er sich zuerst verbunden hat, dieser ein lasterhaftes Leben aufzwingt und selbst neues Übel gegen sich in die Welt bringt. Daran glaube ich, und dieser Glaube verändert von Grund auf mein früheres Urteil darüber, was im Leben gut und edel und was schlecht und gemein ist. Was mir früher als das Beste erschien – ein verfeinertes, elegantes Leben und eine leidenschaftliche, poetische Liebe, wie alle Dichter und Künstler sie rühmen –, das empfinde ich jetzt als schlecht und abstoßend. Gut erscheint mir umgekehrt: ein arbeitsames, karges, schlichtes Leben, das die Begierden abschwächt; edel und bedeutsam erscheint mir nicht so sehr die menschliche Institution der Ehe, die einer bestimmten Vereinigung von Mann und Frau den äußeren Stempel der Legitimität aufdrückt, sondern vielmehr jede Vereinigung von Mann und Frau überhaupt, die, einmal vollzogen, nicht mehr aufgelöst werden kann, ohne gegen den Willen Gottes zu verstoßen. Auch jetzt noch kann ich zwar in einem unachtsamen Moment unzüchtigen Begierden verfallen, doch da ich nun die Versuchung kenne, die mich zu diesem Übel verleitet hat, kann ich ihr nicht mehr wie früher dienen. Ich kann nicht mehr nach jener körperlichen Untätigkeit und jenem Leben im Überfluss streben, das die übermäßige Begierde in mir entfacht; ich kann nicht Zerstreuungen suchen, die Lüsternheit in mir wecken – Romane, Gedichte, Musik, Theater oder Bälle, in denen ich früher nicht nur unschädliche, sondern ausgesprochen edle Formen von Unterhaltung sah; ich kann meine Frau nicht verlassen, da ich weiß, dass dies die erste Falle für mich, sie und andere wäre; ich kann nicht dazu beitragen, dass andere untätig und im Überfluss leben; ich kann nicht an jenen lüsternen Zerstreuungen – Romanen, Theatervorstellungen, Opern, Bällen usw. – teilnehmen oder sie veranstalten, die mich und andere in Versuchung führen; ich kann es nicht gutheißen, wenn Menschen im heiratsfähigen Alter unverheiratet leben; ich kann nicht dazu beitragen, dass Männer sich von ihren Frauen trennen; ich kann keinen Unterschied ma5 Vgl. Mt 19,4–6.

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chen zwischen Vereinigungen, die man Ehen nennt und solchen, die man nicht so nennt; ich kann nicht umhin, die eheliche Verbindung für heilig und verpflichtend zu halten, die ein Mensch ein für allemal eingeht.

Drittes Gebot: Du sollst nie, nichts und niemandem schwören (Mt 5,33–37) Christus hat mir offenbart, dass die dritte Versuchung, die mein Heil zunichte macht, die Versuchung des Schwörens ist. Ich kann nicht anders als daran glauben, und deshalb kann ich, anders als früher, niemandem und nichts mehr schwören und kann auch nicht mehr mein Schwören damit rechtfertigen, dass daran nichts Schlimmes sei, dass es alle so machen, dass es für den Staat notwendig sei, und dass es mir oder anderen schaden würde, dieser Forderung nicht nachzukommen. Ich weiß jetzt, dass dies ein Übel für mich und alle Menschen ist, deshalb kann ich es nicht tun. Doch nicht nur das weiß ich jetzt, sondern ich weiß auch, welche Versuchung mich zu diesem Bösen verleitet hat, und kann ihr nicht mehr dienen. Ich weiß, dass diese Versuchung darin besteht, mit Gottes Namen einen Betrug zu heiligen. Der Betrug besteht darin, dass Menschen sich im Voraus verpflichten, den Befehlen eines oder mehrerer anderer Menschen zu gehorchen, obwohl der Mensch doch niemandem als nur Gott gehorchen darf. Ich weiß jetzt, dass das schlimmste, folgenschwerste Übel dieser Welt – das Morden im Krieg, das Einsperren, Hinrichten und Foltern von Menschen – nur auf dieser Versuchung beruht, die denen, die das Übel ausführen, die Verantwortung abnimmt. Im Rückblick sehe ich heute, dass die vielen, vielen bösen Taten, für die ich Menschen nicht mochte und verurteilt habe, alle auf einen Eid zurückgingen – darauf, dass Menschen die Notwendigkeit anerkannten, sich dem Willen anderer Menschen zu unterwerfen. Ich verstehe jetzt, warum es heißt, dass alles, was über ein einfaches Bejahen oder Verneinen hinausgeht, alles, was mehr ist als ja oder nein, jedes im Voraus gegebene Versprechen, ein Übel ist. Ich verstehe das und glaube, dass das Schwören mein Heil und das der anderen Menschen zunichte macht; und dieser Glaube verändert mein Urteil darüber, was im Leben gut und was schlecht, was edel und was gemein ist. Alles, was mir früher gut und edel schien – die unter Eid beschworene Treue zur Regierung, das Erzwingen dieses Eids und all die gegen das Gewissen verstoßenden Taten, die im Namen dieses Eids begangen werden –, all dies empfinde ich jetzt als schlecht und gemein. Und darum kann ich heute nicht mehr von Christi Gebot abweichen, das das Schwören verbietet; ich kann niemandem mehr etwas schwören, noch kann ich anderen einen Schwur abverlangen, ich kann nicht mehr dazu beitragen, dass Menschen schwören und anderen Schwüre abverlan-

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gen, und kann das Schwören nicht mehr für wichtig und notwendig oder zumindest für unschädlich halten, wie so viele es tun.

Viertes Gebot: Du sollst dem Bösen nicht gewaltsam Widerstand leisten (Mt 5,38–42) Christus hat mir offenbart, dass die vierte Versuchung, die mich um mein Heil bringt, der gewaltsame Widerstand gegen das Böse anderer Menschen ist. Ich kann nicht anders als glauben, dass dies für mich und andere ein Übel ist, und darum kann ich es nicht bewusst tun und kann dieses Übel nicht wie früher mit der Notwendigkeit rechtfertigen, mich und andere zu verteidigen, mein Eigentum und das anderer Menschen zu schützen; sobald ich daran erinnert werde, dass ich dabei bin, Gewalt auszuüben, kann ich nicht mehr anders als mich von ihr lossagen und sie beenden. Doch nicht nur dies weiß ich jetzt, sondern ich weiß auch, welche Versuchung mich zu diesem Übel verleitet hat. Ich weiß jetzt, dass diese Versuchung in der irrigen Vorstellung besteht, ich könnte mein Leben dadurch sichern, dass ich mich und mein Eigentum gegen andere Menschen verteidige. Ich weiß jetzt, dass ein großer Teil des Bösen, das Menschen tun, daher kommt, dass sie, statt die Früchte ihrer Arbeit anderen zu überlassen, nicht nur dies nicht tun, sondern sich selbst der Arbeit enthalten und andere gewaltsam um die Früchte ihrer Arbeit bringen. Wenn ich jetzt an all das Böse zurückdenke, das ich mir selbst und anderen angetan habe, und an all das Böse, das andere mir getan haben, dann sehe ich, dass dieses Böse großteils daher kam, dass wir es für möglich hielten, unser Leben durch Selbstverteidigung zu sichern und besser zu machen. Ich verstehe, warum es heißt, der Mensch sei nicht dafür geboren, dass andere für ihn arbeiten, sondern dafür, selbst für andere zu arbeiten, und warum es heißt, ein Arbeiter sei seines Essens wert. Ich glaube heute, dass mein Heil und das Heil aller Menschen erst dann möglich ist, wenn jeder nicht für sich, sondern für den anderen arbeitet, und die Früchte seiner Arbeit nicht nur nicht vor dem anderen verteidigt, sondern sie jedem überlässt, der sie braucht. Und dieser Glaube hat mein Urteil darüber, was gut und was schlecht, was edel und was gemein ist, verändert. Alles, was mir früher gut und edel schien – Reichtum, Besitz jeder Art, Ehre, mein Selbstwertgefühl, mein Bewusstsein meiner Rechte – all das wurde nun schlecht und gemein in meinen Augen; und umgekehrt wurde alles, was mir schlecht und gemein erschienen war – Arbeit für andere, Armut, Erniedrigung, Verzicht auf allen Besitz und alle Rechte – nun gut und edel. Zwar kann ich mich auch jetzt noch in einem unachtsamen Moment zur Gewalt hinreißen lassen, um mich und andere, meinen eigenen Besitz oder den eines anderen zu verteidigen, doch ich kann nicht mehr ruhig und bewusst

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jener Versuchung dienen, die mich und die Menschen zugrunde richtet; ich kann keinen Besitz mehr erwerben; ich kann keine Gewalt mehr anwenden, welcher Art sie auch sei, gegen wen auch immer, mit Ausnahme von Kindern, und auch dies nur, um sie vor einem unmittelbar bevorstehenden Übel zu bewahren; ich kann an keiner Aktivität der Staatsmacht teilhaben, deren Ziel es ist, Menschen und ihren Besitz durch Gewalt zu schützen; ich kann weder Richter sein noch an Gerichtsprozessen teilnehmen, ich kann weder ein hoher Beamter sein, noch irgendeine Funktion bei einem hohen Beamten ausüben; ich kann auch nicht dazu beitragen, dass andere an Gerichtsprozessen teilnehmen und solche Ämter innehaben.

Fünftes Gebot: Du sollst Menschen anderer Völker nicht für deine Feinde halten (Mt 5,43–48) Christus hat mir offenbart, dass die fünfte Versuchung, die mich um mein Heil bringt, in der Unterscheidung zwischen dem eigenen Volk und anderen Völkern besteht. Ich kann nicht anders als daran glauben, und darum kann zwar in einem unachtsamen Moment ein feindseliges Gefühl gegenüber einem Angehörigen eines anderen Volkes in mir aufsteigen, doch in ruhigen Minuten kann ich nicht leugnen, dass dieses Gefühl falsch ist, ich kann mich nicht wie früher mit der angeblichen Überlegenheit meines Volkes rechtfertigen, mit den Irrtümern, der Grausamkeit oder Barbarei des anderen Volkes; sobald ich an diesen Umstand erinnert werde, kann ich nicht anders als mich bemühen, dem Angehörigen eines anderen Volkes freundlicher zu begegnen als meinem Landsmann. Doch nicht nur weiß ich jetzt, dass meine Trennung von anderen Völkern ein Übel ist, das mein Heil zunichte macht, sondern ich weiß auch, welche Versuchung mich zu diesem Übel verleitet hat, und ich kann ihr nicht mehr wie früher bewusst und seelenruhig dienen. Ich weiß, dass diese Versuchung in der irrtümlichen Annahme besteht, mein Heil hänge nur mit dem Heil meines eigenen Volkes zusammen, und nicht mit dem aller Menschen der Welt. Ich weiß jetzt, dass meine Gemeinschaft mit anderen sich nicht durch eine Grenzlinie und durch staatliche Anordnungen über meine Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Volk aufheben lässt. Ich weiß jetzt, dass alle Menschen auf der ganzen Welt gleich sind und Brüder. Wenn ich jetzt an all das Böse zurückdenke, das ich aufgrund der Feindschaft unter den Völkern getan, erfahren und gesehen habe, dann ist mir klar, dass an all dem jener plumpe Betrug schuld war, den man Patriotismus und Vaterlandsliebe nennt. Wenn ich mich erinnere, wie ich erzogen wurde, dann sehe ich, dass das Gefühl der Feindschaft gegenüber anderen Völkern, das Gefühl der Trennung zwischen mir und ihnen nie in mir selbst war, sondern dass mir

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alle diese bösen Gefühle von jener unsinnigen Erziehung künstlich eingeimpft wurden. Ich verstehe jetzt, warum es heißt, dass man seinen Feinden Gutes tun soll, dass man sie genauso behandeln soll wie die eigenen Leute. Ihr seid alle Kinder eines Vaters, darum seid wie euer Vater und trennt nicht zwischen dem eigenen und den anderen Völkern, seid zu allen gleich. Ich verstehe jetzt, dass es kein Heil für mich gibt, solange ich nicht erkenne, dass ich eins bin mit ausnahmslos allen Menschen dieser Welt. Daran glaube ich. Und dieser Glaube hat mein Urteil darüber, was gut und was schlecht, was edel und was gemein ist, von Grund auf verändert. Was ich früher für gut und edel gehalten hatte – die Liebe zum Vaterland und zum eigenen Volk, zum eigenen Staat, der Dienst an ihnen zum Nachteil anderer Menschen, Heldentaten im Krieg – all das erschien mir nun abstoßend und erbärmlich. Das, was ich als schlecht und schändlich empfunden hatte – die Verleugnung des Vaterlands, der Kosmopolitismus – erschien mir nun umgekehrt gut und edel. Zwar kann es mir auch jetzt in einem unachtsamen Moment unterlaufen, dass ich einen Russen mehr unterstütze als einen Fremden und dem russischen Staat oder Volk besonderen Erfolg wünsche, doch in ruhigen Momenten kann ich dieser Versuchung, die mich und alle Menschen zugrunde richtet, nicht mehr dienen. Ich kann keine Staaten oder Völker mehr anerkennen, ich kann an keinem Streit zwischen Völkern und Staaten teilnehmen, weder redend noch schreibend, und noch weniger, in dem ich mich in den Dienst irgendeines Staates stelle. Ich kann nicht an all dem teilhaben, was auf dem Unterschied zwischen den Staaten gründet – weder an Zollkontrollen und Einfuhrgebühren, noch an der Herstellung von Munition oder Waffen, noch an irgendeiner Tätigkeit für die Rüstung, noch am Kriegsdienst, und schon gar nicht an einem Krieg gegen andere Völker, und ich kann auch andere Menschen nicht darin unterstützen. Ich habe begriffen, worin mein Heil liegt, ich glaube daran und kann darum nichts mehr tun, was mich dieses Heils offensichtlich beraubt. Ich glaube nicht nur daran, dass ich so leben muss, sondern ich glaube, dass mein Leben dann, wenn ich so und nicht anders lebe, für mich jenen einzig möglichen vernünftigen, freudigen Sinn erhält, der nicht durch den Tod zunichte gemacht wird. Ich glaube, dass mein vernünftiges Leben, mein Licht mir nur dafür gegeben ist, um vor den Menschen zu leuchten, nicht mit Worten, sondern mit guten Taten, auf dass die Menschen den Vater preisen (Mt 5,16). Ich glaube, dass mein Leben und mein Wissen um die Wahrheit ein Talent ist, das mir gegeben ist, damit ich für ihn arbeite, dass dieses Talent ein Feuer ist, das nur dann leuchtet, wenn es auch brennt. […] Doch die Regierung kann es nicht zulassen, dass ein Mitglied der Gesellschaft die Grundlagen der staatlichen Ordnung nicht anerkennt und sich der

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Erfüllung seiner Bürgerpflichten entzieht. Die Regierung verlangt vom Christen, dass er Eide ablegt, an Gerichtsprozessen teilnimmt und seinen Wehrdienst leistet, und wenn er dies verweigert, bestraft sie ihn – mit Verbannung, Haft oder sogar mit dem Tod. Für den Christen aber ist diese Forderung der Regierung nur ein Aufruf zur Erfüllung seiner Lebensaufgabe. Er sieht in der Forderung der Regierung eine Forderung von Menschen, die die Wahrheit nicht kennen. Und darum kann der Christ, der die Wahrheit kennt, nicht umhin, vor denen, die sie nicht kennen, Zeugnis von ihr abzulegen. Die Gewalt, die Haft, die Verfolgungen, denen der Christ infolgedessen ausgesetzt ist, geben ihm Gelegenheit, nicht nur in Worten, sondern in Taten Zeugnis abzulegen. Jede Art von Gewalt, ob Krieg, Raub oder Hinrichtungen, geht nicht auf blinde Naturkräfte zurück, sie wird vielmehr von verirrten Menschen begangen, die die Wahrheit nicht kennen. Je mehr Böses diese Menschen dem Christen antun, desto weiter sind sie von der Wahrheit entfernt, desto unglücklicher sind sie und desto nötiger haben sie es folglich, die Wahrheit zu erfahren. Diese Erfahrung der Wahrheit aber kann der Christ den Menschen nur vermitteln, indem er nicht in denselben Irrtum verfällt wie diejenigen, die ihm Böses antun, sondern das Böse mit Gutem vergilt. Nur darin liegt die Lebensaufgabe des Christen und der ganze Sinn seines Lebens, der nicht vom Tod zunichte gemacht wird. […] Die Kirche derer, die die Vereinigung der Menschen herbeiführen wollten, indem sie behaupteten und beschworen, sie selbst seien in der Wahrheit, ist schon lange tot. Die Kirche derer aber, die nicht durch Versprechungen und Salbungen miteinander vereinigt sind, sondern durch Taten der Wahrheit und des Heils – diese Kirche hat immer gelebt und wird immer leben. Diese Kirche besteht heute wie früher nicht aus Menschen, die rufen: Herr, Herr! und dabei Böses tun (Mt 7,21–22), sondern aus Menschen, die jene Worte hören und befolgen. Die Menschen dieser Kirche wissen, dass ihr Leben Heil ist, wenn sie nicht gegen die Gemeinschaft des Menschensohns verstoßen, und dass das einzige, was dieses Heil stört, die Missachtung von Christi Geboten ist. Und darum können die Menschen dieser Kirche nicht umhin, diese Gebote zu erfüllen und auch andere zu lehren, sie zu erfüllen. Ganz gleich, wie viele solche Menschen es heute gibt, dies ist die Kirche, die durch nichts überwunden wird und der sich alle Menschen anschließen werden. Fürchte dich nicht, du kleine Herde! denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben (Lk 12,32).

Brief an Alexander III. (1881)

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Brief an Alexander III. (1881)

Dies ist der erste Entwurf eines Briefes von Tolstoj an Zar Alexander III. (1845–1894). Der Wortlaut des Briefes, den Tolstoj dem Zaren aushändigen ließ, ist nicht bekannt, dürfte sich aber von dem des Entwurfs unterschieden haben. Wie Tolstoj im März 1881 an Strachov vermeldete, hatte er sich mit dem Schreiben des Briefes »eine Woche lang abgemüht – geschrieben und immer wieder umformuliert … Der Brief ist mir nicht gelungen. Ich habe ihn zuerst einfacher formuliert, und er war zwar länger, dafür aber herzlicher, wie die Meinen mir versicherten, und das weiß ich auch selbst, aber dann haben Leute, die die Etikette gut kennen, vieles weggestrichen – und der ganze offenherzige Ton verflüchtigte sich, ich musste versuchen, durch Logik auf ihn einzuwirken, und dadurch fiel der Brief trocken, ja sogar unangenehm aus.« Anlass des Briefes war die Thronbesteigung Alexanders III., nachdem sein Vater, Zar Alexander II., am 1. März 1881 in St. Petersburg einem Attentat der terroristischen Gruppierung Narodnaja volja (Volkswille) zum Opfer gefallen war. Fast alle Verschwörer wurden am 3. April 1881 hingerichtet. Tolstojs Frau, Sof ’ja Andreevna, schreibt in ihren Memoiren: »Auf diesen Brief hin ließ Zar Alexander III. dem Grafen L.N. Tolstoj ausrichten, dass er als Zar, wenn auf ihn selbst ein Attentat verübt worden wäre, die Täter hätte begnadigen können, dass er aber kein Recht habe, den Mördern seines Vaters zu vergeben.« Dieser Briefentwurf wurde erstmals von Pavel Birjukov in der Zeitung Golos im Jahr 1906 veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 63: 44–52).

8.–15. März 1881, Jasnaja Poljana Eure Kaiserliche Majestät, ich, ein nichtswürdiger, unberufener und schwacher Mensch, schreibe einen Brief an den russischen Kaiser und erteile ihm Ratschläge, was er tun soll, unter den kompliziertesten, schwierigsten Umständen, die es je gegeben hat. Ich fühle, wie seltsam, anstößig und dreist das ist, und trotzdem schreibe ich. Ich denke bei mir: wenn du schreibst, wird dein Brief womöglich nicht gebraucht, man wird ihn nicht lesen, oder man wird ihn lesen und für schädlich halten und dich dafür bestrafen. Mehr kann nicht geschehen. Daran ist nichts, was du bereuen würdest. Solltest du ihn aber nicht schreiben und eines Tages erfahren, dass niemand dem Zaren das gesagt hat, was du sagen wolltest, und dass der Zar sich später, als nichts mehr zu ändern war, besann und sagte: Wenn mir das damals jemand gesagt hätte! – sollte das geschehen, würdest du ewig bereuen, dass du nicht geschrieben hast, was du dachtest. Also schreibe ich Eurer Majestät, was ich denke. Ich schreibe aus ländlicher Abgeschiedenheit, ich weiß nichts Gewisses.

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Was ich weiß, habe ich aus Zeitungen und Gerüchten, und darum kann es sein, dass ich unnötigen Unfug schreibe über Dinge, die gar nicht da sind – in diesem Fall bitte ich Sie um Gottes willen, mir meine Anmaßung zu vergeben und mir zu glauben, dass ich nicht deshalb schreibe, weil ich eine besonders hohe Meinung von mir hätte, sondern nur, weil ich mich schon so sehr schuldig gemacht habe vor allen, dass ich fürchte, es noch mehr zu werden, wenn ich nicht tue, was ich tun kann und muss. (Ich werde nicht in dem Ton schreiben, in dem man gewöhnlich an Herrscher schreibt, in jenem unterwürfigen und heuchlerischen gedrechselten Stil, der Gefühle wie Gedanken nur verschleiert. Ich will einfach schreiben, von Mensch zu Mensch. Mein wahres Gefühl der Achtung für Sie, als Mensch wie als Zar, wird ohne solche Ausschmückungen deutlicher sichtbar werden.) Ihr Vater, der russische Zar, der viel Gutes getan hat und stets das Beste für die Menschen wollte, ein alter, gutherziger Mann, ist unmenschlich verstümmelt und ermordet worden – nicht von seinen persönlichen Feinden, sondern von den Feinden der bestehenden Ordnung der Dinge; ermordet um eines höheren Wohles für die ganze Menschheit willen. – Sie sind an seine Stelle getreten, und vor Ihnen stehen jene Feinde, die Ihrem Vater das Leben vergiftet und ihn umgebracht haben. Es sind auch Ihre Feinde, weil Sie den Platz Ihres Vaters einnehmen und weil diese Menschen um jenes vermeintlichen allgemeinen Wohls willen, das sie anstreben, notwendig auch Sie töten wollen. Gegenüber diesen Menschen – den Mördern Ihres Vaters – müssen Sie ein Gefühl der Rache in der Seele tragen, und ein Gefühl des Entsetzens angesichts der Verpflichtung, die Sie auf sich nehmen mussten. – Eine entsetzlichere Lage kann man sich nicht vorstellen, weil man sich keine stärkere Versuchung durch das Böse vorstellen kann. Feinde des Vaterlands und des Volkes, erbärmliche Laffen, gottlose Kreaturen, die die Ruhe und das Leben der Ihnen anvertrauten Millionen bedrohen, die Ihren Vater ermordet haben. Was sollte man sonst mit ihnen tun, als das Land von dieser Pest befreien, sie zerschmettern wie widerwärtiges Ungeziefer. Nicht das persönliche Gefühl, nicht einmal die Vergeltung für den Tod des Vaters erfordert das, sondern die Pflicht – ganz Russland erwartet das von Ihnen. Eben diese Versuchung macht Ihre Lage so entsetzlich. Wer wir auch seien, Zaren oder Hirten, wir sind durch Christi Lehre aufgeklärte Menschen. Ich spreche nicht von Ihren Pflichten als Zar. Vor den Zarenpflichten stehen die Menschenpflichten, diese müssen die Grundlage der Zarenpflichten sein und sich mit ihnen verbinden. Gott fragt Sie nicht nach der Erfüllung Ihrer Pflichten als Zar, sondern nach der Erfüllung Ihrer menschlichen Pflichten. Ihre Lage ist entsetzlich,

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doch gerade dafür brauchen wir die Lehre Christi, um uns in jenen schrecklichen Minuten der Versuchung, die zum Schicksal des Menschen gehören, von ihr leiten zu lassen. Sie stehen vor der entsetzlichsten aller Versuchungen. – Doch wie entsetzlich sie auch sei, die Lehre Christi macht sie zunichte, und alle um Sie herum aufgespannten Netze der Versuchung zerfallen zu Staub vor einem Menschen, der Gottes Willen erfüllt. – Mt 5,43: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen; ich aber sage euch: Liebet eure Feinde … tut wohl denen, die euch hassen – auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Mt 5,38: Euch ist gesagt: Auge um Auge, Zahn um Zahn; ich aber sage, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt. Mt 18,22: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. – Du sollst deinen Feind nicht hassen, sondern ihm Gutes tun, du sollst dem Bösen keinen Widerstand leisten, du sollst nicht müde werden zu vergeben. Dies ist dem Menschen gesagt, und jeder Mensch kann es erfüllen. Und keine Erwägung eines Kaisers oder Staatsmannes kann an diesen Geboten rütteln. Mt 5,19: Wer eines von diesen kleinsten Geboten auflöst, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich, wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Mt 7,24–27: Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, den vergleiche ich einem klugen Mann, der sein Haus auf einen Felsen baute. Da nun ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam und die Winde wehten und an das Haus stießen, fiel es doch nicht; denn es war auf einen Felsen gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand baute. Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall. Ich weiß wohl, wie weit die Welt, in der wir leben, von jenen göttlichen Wahrheiten entfernt ist, die in Christi Lehre ausgedrückt sind und in unserem Herzen leben, doch die Wahrheit ist die Wahrheit, sie lebt in unserem Herzen, wir spüren sie als Begeisterung und Verlangen, ihr näher zu kommen. Ich weiß wohl, dass ich ein nichtswürdiger, elender Mensch bin, der sich in tausendmal schwächeren Versuchungen als denen, die auf Sie einstürzen, nicht der Wahrheit und dem Guten zugewandt hat, sondern der Versuchung erlegen ist, und dass es dreist und töricht ist, wenn ich, ein vom Bösen erfüllter Mensch, von Ihnen eine so beispiellose Stärke des Geistes fordere, wenn ich fordere, dass Sie, der Russische Zar, der unter dem Druck seiner gesamten Umgebung steht, dass Sie, ein liebender Sohn, dem der Vater ermordet wurde, den Mördern vergeben und ihnen Böses mit Gutem vergelten; doch ich kann nicht umhin, dies zu wünschen, ich kann nicht umhin, zu sehen, dass jeder Schritt zur Vergebung, den Sie tun, ein Schritt zum Guten ist; jeder Schritt zur Strafe aber ist ein Schritt zum Bösen, und ich kann nicht umhin, dies zu sehen. Und wie ich in ruhigen Momenten, wenn die Versuchung schweigt, für mich selbst mit aller Kraft der Seele hoffe und

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wünsche, dass ich den Weg der Liebe und des Guten wähle, so wünsche und hoffe ich notwendig auch für Sie, dass Sie danach streben werden, vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel, dass Sie die größte Tat auf Erden vollbringen und die Versuchung überwinden, dass Sie, der Zar, der Welt das größte Vorbild für die Erfüllung der Lehre Christi geben, indem Sie Böses mit Gutem vergelten. Ihr sollt Böses mit Gutem vergelten, dem Bösen keinen Widerstand leisten, allen vergeben. Dies und nur dies soll man tun, dies ist der Wille Gottes. Ob einer genug Kraft hat, es zu tun, oder nicht, ist eine andere Frage. Aber nur das allein soll man wünschen, danach allein soll man streben, das allein für gut halten und wissen, dass alle Einwände dagegen Versuchungen und Irrwege sind, und dass sie samt und sonders unbegründet, schwankend und dunkel sind. – Doch nicht nur ist der in jenen biblischen Worten ausgedrückte Wille Gottes das einzige, wovon jeder Mensch sich im Leben leiten lassen soll, sondern die Erfüllung dieser göttlichen Gebote ist zugleich auch die vernünftigste Handlungsweise für Ihr Leben und das Ihres Volkes. – Wahrheit und Segen sind immer Wahrheit und Segen, auf Erden wie im Himmel. – Den grässlichsten Verbrechern, die gegen menschliche und göttliche Gesetze verstoßen haben, zu vergeben und ihnen Böses mit Gutem zu vergelten, das wird vielen bestenfalls als Idealismus und Torheit erscheinen, vielen aber auch als böse Absicht. Sie werden sagen: nicht vergeben muss man, sondern die Fäulnis entfernen und das Feuer löschen. Lässt man aber die, die das sagen, ihre Meinung begründen, so zeigt sich, dass Torheit und böse Absicht auf ihrer Seite sind. – Vor etwa zwanzig Jahren hat sich ein Zirkel von meist jungen Menschen gebildet, die die bestehende Ordnung der Dinge und die Regierung hassen. Diese Leute streben eine andere oder auch gar keine Ordnung an und zerstören mit allen gottlosen und unmenschlichen Mitteln, brennend, raubend und mordend, die bestehende Gesellschaftsform. Seit zwanzig Jahren kämpft man gegen diesen Zirkel an. Wie ein Essigpilz bringt er ständig neue Träger hervor und ist bis heute nicht nur nicht beseitigt, sondern wächst weiter, und inzwischen begehen diese Leute die entsetzlichsten, grausamsten und dreistesten Taten und gefährden den Gang der Staatsgeschäfte. – Diejenigen, die dieses Geschwür von außen bekämpfen wollten, haben zwei Arten von Mitteln eingesetzt: einerseits versuchte man die kranken, verfaulten Partien buchstäblich abzuhauen, durch strenge Strafen; andererseits der Krankheit ihren Lauf zu lassen und sie lediglich zu regulieren. Das geschah durch liberale Maßnahmen, die die unruhigen Kreise zufriedenstellen und den Ansturm der feindlichen Kräfte abschwächen sollten. – Einen anderen Weg gibt es nicht für Menschen, die die Sache von der materiellen Seite betrachten: entweder entschlossenes Einhaltgebieten oder liberale Zugeständnisse.

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Ob Bekannte im Wohnzimmer, Ratsmitglieder oder Deputierte, wo immer Menschen in Gesellschaft heute darüber diskutieren, was unter den gegebenen Umständen zu tun sei, um dem Bösen Einhalt zu gebieten, kommen sie über diese zwei Sichtweisen nicht hinaus: entweder strenges Einschreiten – harte Strafen, Hinrichtungen, Verbannungen, Polizei, Eindämmung durch Zensur etc., oder liberale Nachsicht – Freiheit, maßvoll milde Strafen, ja, sogar Volksvertretung, Verfassung, Ständeversammlung. Man kann noch viel Neues über die Einzelheiten der einen oder der anderen Vorgehensweise sagen; in vielem werden die Vertreter ein und desselben Lagers untereinander uneins sein und streiten, doch weder die einen noch die anderen werden von ihrem Prinzip abrücken – die einen suchen gewaltsame Mittel, um das Übel zu unterbinden, die anderen solche, die die einmal entstandene Gärung nicht hemmen, sondern ihr einen Ausweg verschaffen sollen. Die einen werden entschlossen gegen die Krankheit selbst vorgehen, die anderen werden nicht die Krankheit zu heilen versuchen, sondern sich bemühen, möglichst günstige, hygienische Verhältnisse für den Organismus zu schaffen, in der Hoffnung, dass die Krankheit dann von selbst vergeht. Die einen wie die anderen mögen viele neue Einzelheiten vorbringen, und doch werden sie nichts Neues sagen, weil beide Methoden bereits angewendet wurden und beide den Kranken nicht nur nicht geheilt haben, sondern keinerlei Einfluss auf ihn hatten. Die Krankheit ist immer noch da, und sie hat sich immer weiter verschlimmert. Deshalb scheint es mir falsch, die Erfüllung von Gottes Willen im Hinblick auf politische Angelegenheiten von vornherein als Träumerei und Torheit abzutun. Selbst wenn man die Erfüllung von Gottes Gesetz, das Allerheiligste, als Mittel gegen ein irdisches, weltliches Übel in Betracht zieht, kann man dies nicht mit Herablassung tun, da ja alle irdische Weisheit offensichtlich nicht geholfen hat und auch nicht helfen kann. – Man hat den Kranken sowohl mit starken Mitteln zu heilen versucht als auch dadurch, dass man ihm keine starken Mittel mehr gab, sondern seinen Körperfunktionen freien Lauf ließ, doch keine der beiden Methoden hat geholfen, der Kranke wird immer kränker. Da kommt ein weiteres Mittel ins Spiel – ein seltsames Mittel, über das die Ärzte nichts wissen. Warum sollte man es nicht erproben? – Einen ersten Vorzug hat dieses Mittel unbestreitbar vor den anderen, nämlich dass jene ohne Erfolg angewendet wurden, dieses aber noch nie. Man hat im Namen der staatlichen Notwendigkeiten und des Wohls der Massen versucht, zu unterdrücken, zu verbannen und zu strafen, und man hat im Namen derselben Notwendigkeit und des Wohls der Massen versucht, Freiheit zu gewähren – es war immer dasselbe. Warum also nicht versuchen, in Gottes Namen Sein Gesetz zu erfüllen, ohne an den Staat oder an das Wohl der Massen zu denken? Etwas Böses kann im Namen Gottes und der Erfüllung Seines Gesetzes nicht geschehen.

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Ein weiterer, ebenso unzweifelhafter Vorzug des neuen Mittels ist, dass die anderen beiden Mittel an sich schlecht waren: Das erste bestand in Gewalt und grausamen Strafen (so gerecht diese auch scheinen mögen, weiß doch jeder Mensch, dass sie ein Übel sind), das zweite in einem nicht ganz aufrichtigen Einräumen von Freiheit. Mit einer Hand gewährte die Regierung diese Freiheit, mit der anderen nahm sie sie zurück. Beide Mittel, so nützlich sie auch für den Staat erscheinen mochten, waren für diejenigen, die sie anwandten, keine guten Taten. Das neue Mittel dagegen entspricht nicht nur der menschlichen Seele, es bereitet ihr höchste Freude und Glück. Vergebung und die Vergeltung von Bösem mit Gutem sind an sich gut. Darum ist die Anwendung der beiden alten Mittel der christlichen Seele zwangsläufig zuwider und hinterlässt Reue, die Vergebung dagegen schenkt dem, der sie übt, die höchste Freude. Der dritte Vorzug der christlichen Vergebung gegenüber der Unterdrückung oder geschickten Lenkung schädlicher Elemente betrifft den gegenwärtigen Moment und ist von besonderer Wichtigkeit. Sie selbst und Russland befinden sich derzeit in der Situation eines Kranken zum Zeitpunkt der Krise. Ein falscher Schritt, die Gabe eines überflüssigen oder falschen Mittels kann den Kranken endgültig zugrunde richten. Genauso kann eine Handlung in die eine oder andere Richtung – die Vergeltung des Bösen durch grausame Strafen, oder aber die Vorladung von Vertretern1 – die gesamte Zukunft bestimmen. Jetzt, in diesen zwei Wochen des Prozesses und Urteils gegen die Verbrecher, entscheidet sich, welchen von drei Wegen wir an dem vor uns liegenden Scheideweg einschlagen: den Weg der Unterdrückung des Bösen durch Böses, den Weg liberaler Zugeständnisse – beide sind erprobt und haben zu nichts geführt –, oder einen neuen Weg – den Weg, auf dem der Zar als Mensch den Willen Gottes erfüllt. Majestät! Fatale, schreckliche Missverständnisse haben dazu geführt, dass sich in der Seele der Revolutionäre ein schrecklicher Hass gegen Ihren Vater festgesetzt hat – ein Hass, der sie zu einem furchtbaren Mord getrieben hat. Dieser Hass kann mit Ihrem Vater begraben werden. Die Revolutionäre haben den Zaren vielleicht – wenn auch ungerechtfertigt – für den Tod von Dutzenden der ihren verurteilt. Aber Sie stehen rein vor dem ganzen Land und vor ihnen. An Ihren Händen klebt kein Blut. Sie sind ein unschuldiges Opfer Ihrer Lage. Rein und unschuldig sind Sie vor sich selbst und vor Gott. Doch Sie stehen am Scheideweg. Noch wenige Tage, und es triumphieren womöglich diejenigen, die sagen und denken, dass die christlichen Wahrhei1 Hier weist Tolstoj Alexander III. auf die Notwendigkeit der Einberufung einer Standesvertretung hin, womit er beim jungen Zaren allerdings auf taube Ohren stieß. Erst Alexanders Sohn, Nikolaus II., ließ sich unter großem politischen Druck ein solches Zugeständnis abringen.

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ten nur Gerede sind, dass im Leben des Staates Blut fließen und der Tod herrschen muss. Wenn das eintritt, werden Sie diesen glückseligen Zustand der Reinheit und des Lebens mit Gott für immer hinter sich lassen und den Weg jener zahllosen staatlichen Notwendigkeiten einschlagen, die alles rechtfertigen, selbst den Verstoß gegen Gottes Gesetz für den Menschen. Wenn Sie nicht vergeben, sondern die Verbrecher bestrafen, reißen Sie lediglich aus Hunderten drei oder vier heraus, und das Böse wird noch mehr Böses hervorbringen, an der Stelle dieser drei oder vier werden dreißig oder vierzig nachwachsen, und Sie selbst werden für immer jene Minute verlieren, die allein mehr wert ist als das ganze Leben – die Minute, in der Sie Gottes Willen erfüllen konnten und es nicht getan haben, und Sie werden den Scheideweg, an dem Sie das Gute statt des Bösen wählen konnten, für immer verlassen und für immer in jenen Werken des Bösen versinken, die man Staatsraison nennt. Mt 5,25. Wenn Sie aber vergeben und Böses mit Gutem vergelten, werden unter Hunderten von Übeltätern Dutzende nicht zu Ihnen oder zur anderen Seite überlaufen (das spielt keine Rolle), sondern vom Teufel zu Gott, und Millionen Herzen werden erzittern vor Freude und Rührung über die Güte des Monarchen, zumal in einer für den Sohn eines ermordeten Vaters so schrecklichen Minute. Wenn Sie das täten, Majestät, wenn Sie diese Leute kommen ließen, ihnen Geld gäben und sie irgendwohin nach Amerika schickten und dann ein Manifest verfassten, das mit den Worten überschrieben wäre: Ich aber sage, liebe deine Feinde – ich weiß nicht, wie es anderen Menschen ginge, aber ich, ein schlechter Untertan, würde Ihr Hund, Ihr Sklave werden. Ich würde weinen vor Rührung, so wie ich jetzt weine, wann immer ich Ihren Namen höre. Aber was sage ich da – ich wüsste nicht, wie es anderen Menschen ginge. Ich weiß sehr wohl, wie ganz Russland nach diesen Worten von einem Strom von Güte und Liebe überschwemmt würde. Die Wahrheiten Christi sind lebendig in den Herzen der Menschen, sie allein sind lebendig, und nur um dieser Wahrheiten willen lieben wir die Menschen. Und Sie, der Zar, würden diese Wahrheit nicht nur in Worten, sondern durch Ihre Taten verkünden. Doch vielleicht sind all das nur Träume und nichts davon lässt sich durchführen. Vielleicht ist es zwar wahr, dass 1) diese noch nie erprobten Maßnahmen mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen würden als jene, die erprobt sind und sich als untauglich erwiesen haben, und dass 2) eine solche Maßnahme mit Sicherheit gut ist für denjenigen, der sie ausführt, und dass 3) Sie jetzt an einem Scheideweg stehen und dies der einzige Moment ist, in dem Sie nach Gottes Willen handeln können, dass dieser Moment sich aber nie mehr zurückholen lässt, wenn Sie ihn verstreichen lassen – vielleicht ist all das zwar wahr, doch man wird sagen: Es ist unmöglich. Das zu tun hieße den Staat zugrunde richten.

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Angenommen, die Menschen sind gewohnt zu denken, dass die göttlichen Wahrheiten nur für die geistige Welt gelten und sich auf die irdische Welt nicht anwenden lassen; angenommen, die Ärzte sagen: Wir erkennen euer Mittel nicht an, obwohl es nie erprobt wurde und an sich unschädlich ist, und auch wenn dies tatsächlich die Krise ist – wir wissen, dass das Mittel hier nicht passt und nur Schaden anrichten kann. Sie sagen: Christliche Vergebung und die Vergeltung von Bösem mit Gutem sind gut für den einzelnen Menschen, aber nicht für den Staat. Die Anwendung dieser Wahrheiten auf die Lenkung eines Staates würde den Staat zugrunde richten. Doch das ist eine Lüge, Majestät, die gemeinste, hinterlistigste Lüge! – Die Erfüllung von Gottes Gesetz soll die Menschen zugrunde richten? Wenn etwas Gottes Gesetz für die Menschen ist, dann ist es immer und überall Gottes Gesetz, und es gibt kein anderes Gesetz seines Willens. Und es gibt keine blasphemischere Rede, als zu sagen: Gottes Gesetz taugt nicht. Denn dann wäre es nicht Gottes Gesetz. Aber nehmen wir einmal an, wir würden vergessen, dass Gottes Gesetz über allen anderen Gesetzen steht und sich immer anwenden lässt, vergessen wir das. Nun gut: Gottes Gesetz lässt sich nicht anwenden, und wenn man es erfüllt, ist das Ergebnis ein noch schlimmeres Übel. Wenn man den Verbrechern vergibt und alle aus der Haft und Verbannung entlässt, geschieht noch schlimmeres Übel. Aber warum ist das so? Wer hat das behauptet? Wie wollt ihr das beweisen? Mit eurer Feigheit. Einen anderen Beweis habt ihr nicht. Und zudem habt ihr kein Recht, das Mittel eines anderen abzulehnen, denn jedermann weiß, dass eure eigenen Mittel nichts taugen. Man wird sagen: Wenn man alle freilässt, gibt es ein Blutbad, denn wenn man wenige freilässt, kommt es zu kleineren Unruhen, und wenn man viele freilässt, zu größeren Unruhen. So wird argumentiert, und dabei spricht man von Revolutionären wie von beliebigen Verbrechern, wie von einer Bande, die sich einmal zusammengefunden hat und deren Angehörige man nur alle einfangen muss, um mit ihr aufzuräumen. Doch die Dinge liegen ganz anders: Nicht die Menge zählt, nicht, dass man möglichst viele von ihnen vernichtet oder verbannt, sondern man muss ihr Ferment vernichten, ihnen ein anderes Ferment geben. – Was sind Revolutionäre? Menschen, die die bestehende Ordnung der Dinge hassen, die sie schlecht finden, und die Grundlagen für eine zukünftige Ordnung schaffen wollen, die besser wäre. Man kann sie nicht bekämpfen, in dem man sie tötet und vernichtet. Nicht ihre Zahl ist wichtig, sondern ihre Gedanken. Wer sie bekämpfen will, muss es geistig tun. Ihre Ideale sind allgemeiner Wohlstand, Gleichheit, Freiheit. Um sie zu bekämpfen, muss man ihnen ein Ideal entgegensetzen, das über ihrem eigenen steht, es in sich einschließt. Auch die Franzosen, die Engländer und die Deutschen kämpfen heute gegen sie, und ebenso erfolglos. Es gibt nur ein Ideal, das man ihnen entgegensetzen kann. Es ist das Ideal,

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von dem sie selbst ausgehen, obwohl sie es zugleich nicht verstehen und es lästern – jenes Ideal, das ihr eigenes einschließt, das Ideal der Liebe, Vergebung und der Vergeltung von Bösem mit Gutem. Ein einziges Wort der Vergebung und christlichen Liebe, von der Höhe des Throns herab gesprochen und verwirklicht, und der Weg der christlichen Herrschaft, den Sie einschlagen, kann dem Übel, das Russland zerfrisst, ein Ende machen. Wie Wachs vor dem Feuer wird jeder revolutionäre Kampf dahinschmelzen vor einem Zaren-Menschen, der Christi Gesetz erfüllt.

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Kurze Darlegung des Evangeliums

Von 1879 bis 1881 war Tolstoj mit der Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien beschäftigt, worin er die zentralen Stellen der Evangelien kommentierte und sie nach ihrem vernünftigen, zeitlos-universalen Sinn neu erzählte (vgl. dazu den Beitrag »Offenbarung und Bibel« im vorliegenden Band). Zusammen mit V.I. Alekseev, dem Hauslehrer seines Sohnes Sergej, fertigte er 1881 eine Kurzfassung des Werkes an, in der er die umfangreichen Kommentare wegließ. Für diese Kurze Darlegung des Evangeliums schrieb er ein neues Vorwort und für jedes der zwölf Kapitel, die er nach dem Vaterunser ordnete, ein zusätzliches Resümee. Darüber berichtet Tolstoj seinem Freund Strachov: »Ich habe einen Auszug aus dem Evangelium zusammengestellt ohne Kommentare, dafür mit einem kurzen Vorwort; und diesen Auszug, der den Umfang eines dünnen Buches hat, will ich im Ausland drucken lassen …« Wie viele andere Werke Tolstojs kursierte auch die Kurze Darlegung des Evangeliums in Abschriften und Kopien in ganz Russland. Die erste gedruckte Version erschien 1885 in englischer Übersetzung, auf Russisch erschien die Kurze Darlegung erstmals 1890 in Genf in einer textologisch unzuverlässigen Fassung; Cˇertkov veröffentlichte sie 1905 als 6. Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs (Bd. 6, Christchurch 1905). In Russland konnte die Kurze Darlegung erstmals 1906 erscheinen. Die folgende Übersetzung enthält einen Abschnitt aus dem Vorwort und die Resümees aller zwölf Kapitel der Darlegung. Sie beruht auf der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 24: 806f, 816f, 818f, 823f, 831–833, 838–840, 847–850, 860–864, 872–875, 885–887, 894–897, 906–909, 917–919, 924–927).

Aus dem Vorwort Ich betrachte das Christentum nicht als exklusive göttliche Offenbarung und nicht als historisches Phänomen, ich betrachte das Christentum als eine Lehre, die dem Leben einen Sinn gibt. Was mich zum Christentum gebracht hat, waren weder theologische noch historische Studien, sondern die Tatsache, dass ich im Alter von fünfzig Jahren, nachdem ich mich selbst und alle weisen Menschen meines Umfelds befragt hatte, was ich und was der Sinn meines Lebens sei, und zur Antwort bekommen hatte, ich sei eine zufällige Verkettung von Teilchen, mein Leben habe keinen Sinn und das Leben als solches sei ein Übel – dass ich nach dieser Antwort verzweifelte und mich umbringen wollte; doch ich erinnerte mich, dass das Leben für mich als Kind, solange ich glaubte, sehr wohl einen Sinn gehabt hatte, und ich dachte daran, dass die gläubigen Menschen um mich herum – jene Mehrheit von Menschen, die nicht vom Reichtum verdorben waren – glaubten und ein echtes Leben lebten, und deshalb zweifelte ich an der Antwort der weisen

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Menschen meines Umfelds und versuchte, jene Antwort zu begreifen, die das Christentum denen gibt, die ein echtes Leben leben. Ich begann, das Christentum zu studieren, das an der christlichen Lehre, was das Leben der Menschen bestimmt. Ich begann, jenes Christentum zu studieren, dessen Anwendung ich im Leben sah, und ich begann, diese Anwendung mit der Quelle zu vergleichen. Die Quelle der christlichen Lehre waren die Evangelien, und in den Evangelien fand ich jenen Sinn erklärt, der das Leben derer bestimmte, die ein echtes Leben lebten. Doch bei meinem Studium des Christentums fand ich neben dieser Quelle reinen Lebenswassers auch Schlamm und Algen, die der Quelle unerlaubt beigemischt waren und deren Reinheit für mich überdeckt hatten; neben der erhabenen christlichen Lehre stieß ich auf die mit ihr verbundene, aber ihr fremde, abscheuliche jüdische und kirchliche Lehre. Meine Situation war die eines Menschen, der einen Sack voll stinkendem Schlamm bekommt und erst nach langem Kampf und viel Mühe entdeckt, dass in diesem Sack voll Schlamm tatsächlich unbezahlbare Perlen liegen; dem klar ist, dass er für seinen Ekel vor dem stinkenden Schlamm nichts kann, und dass denen, die die Perlen zusammen mit dem Schlamm gesammelt und aufbewahrt haben, erst recht kein Vorwurf zu machen ist, dass sie vielmehr Liebe und Achtung verdienen, und der doch nicht weiß, was er mit dem Gemisch von Schlamm und Kostbarkeiten, das er gefunden hat, tun soll. Mein Zustand war qualvoll, bis ich mich schließlich überzeugte, dass die Perlen nicht mit dem Schlamm verschmolzen waren, sondern sich säubern ließen. Ich kannte das Licht nicht, ich dachte, es gibt keine Wahrheit im Leben, doch nachdem ich mich überzeugt hatte, dass die Menschen nur durch dieses Licht leben, begann ich, dessen Quelle zu suchen, und ich fand sie in den Evangelien, allen Fehldeutungen der Kirchen zum Trotz. Und als ich diese Quelle des Lichts gefunden hatte, war ich von ihr geblendet, und ich fand erschöpfende Antworten auf meine Fragen nach dem Sinn meines eigenen Lebens und des Lebens der anderen, Antworten, die mit allen Antworten anderer Völker, die ich kannte, durchaus übereinstimmten und sie nach meiner Ansicht allesamt übertrafen. Ich suchte eine Antwort nicht auf eine theologische und historische Frage, sondern auf die Frage des Lebens, und darum war es für mich vollkommen gleichgültig, ob Jesus Christus ein Gott war oder nicht, und von wem der Heilige Geist ausging und dergleichen, und es war ebenso unwichtig und überflüssig zu wissen, wann welches Evangelium und welches Gleichnis geschrieben worden war und von wem es stammte, ob es Christus zugeschrieben werden konnte oder nicht. Mir ging es um jenes Licht, das seit 1800 Jahren die Menschheit erleuchtete und das auch mich erleuchtet hatte und weiter erleuchtete; aber wie die Quelle dieses Lichts hieß, woraus sie bestand und wer sie entzündet hatte, war mir gleichgültig.

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Zusammenfassung Einführung Das Evangelium verkündigt, dass der Anfang von allem nicht, wie die Menschen glauben, der äußere Gott ist, sondern das Verständnis des Lebens.1 Deshalb tritt nach dem Evangelium an die Stelle dessen, was die Menschen Gott nennen, das Verständnis des Lebens. Ohne Verständnis gibt es kein Leben. Jeder Mensch lebt nur, weil er Verständnis besitzt. Wer das nicht begreift, sondern annimmt, der Anfang des Lebens sei das Fleisch, der beraubt sich selbst des wahren Lebens. Wer aber begreift, dass er nicht durch das Fleisch lebt, sondern durch das Verständnis, der hat das wahre Leben. Eben dieses wahre Leben hat Jesus Christus uns gezeigt. Er erkannte jene Wahrheit, dass das Leben des Menschen aus dem Verständnis hervorgeht, und gab den Menschen Lehre und Vorbild für ein Leben des verkörperten Verstehens. Frühere Religionen waren als Gesetze über das formuliert, was man tun oder lassen sollte, um Gott zu dienen. Jesu Christi Lehre aber besteht im Verständnis des Lebens. Den äußeren Gott hat nie jemand gesehen, niemand kann ihn kennen, deshalb kann der Dienst am äußeren Gott nicht das Leben bestimmen. Das einzige, was den Weg des Lebens weist, ist die Einsicht, dass die Grundlage von allem das eigene Verstehen ist, welches aus dem Anfang des Verstehens hervorgeht.

I. Vater unser Jesus war der Sohn eines unbekannten Vaters. Da er nicht wusste, wer sein Vater war, gab er als Kind Gott als seinen Vater an. Damals lebte in Judäa der Prophet Johannes. Johannes predigte, dass Gott auf die Erde kommen würde. Er sagte, wenn die Menschen ihr Leben ändern, wenn sie alle Menschen für gleich erachten und einander nicht schaden, sondern helfen würden, dann werde Gott auf die Erde herabsteigen und sein Reich werde auf Erden erstehen. Jesus hörte diese Predigt und zog sich in die Wüste zurück, um den Sinn des menschlichen Lebens und dessen Verhältnis zu jenem unendlichen Anfang von allem zu begreifen, dem Prinzip, das man Gott 1 Tolstoj bezieht sich hier auf Joh 1,1 und 1 Joh 1,1 und übersetzt logos mit razumenie (Verständnis) – einem Ausdruck, der seiner Ansicht nach die Bedeutungen »Vernunft«, »Ursache«, »Überlegung« und »Wechselbeziehung« vereinigt. Vgl. dazu den Abschnitt »Vernunft- und sinngemäße Darlegung in künstlerischer Freiheit« in Ch. Münchs Aufsatz »Offenbarung und Bibel« im vorliegenden Band.

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nennt. Da er seinen leiblichen Vater nicht kannte, nahm Jesus Gott als seinen Vater an. Nachdem er einige Tage ohne Nahrung in der Wüste verbracht hatte, begann Jesus Hunger zu leiden, und er dachte: Ich bin der Sohn des allmächtigen Gottes, darum muss ich ebenso allmächtig sein; doch nun habe ich Hunger, aber mein Wille bringt kein Brot zum Vorschein, also bin ich wohl nicht allmächtig. Darauf sagte er zu sich: Ich kann nicht aus Steinen Brot machen, aber ich kann auf Brot verzichten. Wenn ich also nicht allmächtig im Fleisch bin, so bin ich es doch im Geist – ich kann das Fleisch besiegen; darum bin ich der Sohn Gottes nicht im fleischlichen, sondern im geistigen Sinn. Wenn ich aber der Sohn des Geistes bin, sprach er weiter zu sich, dann kann ich mich vom Fleisch lossagen und es vernichten. Und darauf antwortete er: Ich bin durch den Geist im Fleisch geboren. Dies war der Wille meines Vaters, und seinem Willen kann ich mich nicht widersetzen. Aber wenn du deine fleischlichen Begierden nicht befriedigen und dich nicht vom Fleisch lossagen kannst, sprach er weiter zu sich, dann musst du dich in den Dienst des Fleisches stellen und alle Freuden genießen, die es dir schenkt. Und hierauf antwortete er: Ich kann meine fleischlichen Begierden nicht erfüllen und mich nicht vom Fleisch lossagen; doch mein Leben ist allmächtig im Geist meines Vaters, darum muss ich im Fleisch allein dem Geist dienen und für ihn arbeiten – für den Vater. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Mensch nur im Geist des Vaters lebt, verließ Jesus die Wüste und begann, den Menschen seine Lehre zu predigen. Er sagte, der Geist sei in ihm, und von nun an stehe der Himmel offen, die himmlischen Mächte hätten sich mit dem Menschen vereinigt, für die Menschen sei ein unendliches, freies Leben angebrochen, und alle Menschen, wie unglücklich sie auch im Fleisch seien, könnten glückselig werden.

II. Der du bist im Himmel Die Juden, die sich für rechtgläubig2 hielten, verehrten einen äußeren Gott, einen fleischlichen Schöpfer. Ihrer Lehre nach hatte dieser äußere Gott einen Vertrag mit ihnen geschlossen. In diesem Vertrag versprach Gott den Juden, 2 Tolstoj setzt die Pharisäer und Schriftgelehrten, die er als »orthodoxe Juden« (pravoslavnye iudei) bezeichnet, mit den orthodoxen Klerikern und Theologen seiner Zeit gleich, womit er aber nicht nur die Geistlichen der Ostkirche, sondern alle rechtgläubigen Kirchenmänner im Sinn hat. Dementsprechend verwendet er als Bezeichnung für die pharisäische Lehre den Begriff »kirchliche Lehre«. Vgl. dazu den Abschnitt »Vereinigung und Neuerzählung der Evangelien« im Aufsatz »Offenbarung und Bibel« im zweiten Teil dieses Bandes.

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ihnen zu helfen, und die Juden versprachen, ihn zu verehren, und die Hauptbedingung dieses Vertrages war die Einhaltung des Sabbats. Jesus lehnte die Einhaltung des Sabbats ab. Er sagte: Der Sabbat ist eine menschliche Einrichtung. Der lebendige Mensch in seinem Geist ist wichtiger als alle äußeren Rituale. Die Einhaltung des Sabbatrituals selbst enthält, wie jede äußere Gottesverehrung, einen Betrug. Man kann nicht nichts tun am Sabbat. Gute Werke muss der Mensch immer tun, und wenn der Sabbat verhindert, dass ein gutes Werk getan wird, dann ist der Sabbat eine Lüge. Eine andere Bedingung des Vertrages mit Gott bestand für die rechtgläubigen Juden darin, keinen Umgang mit Ungläubigen zu pflegen. Jesus antwortete darauf, Gott wolle keine Opfer von den Menschen, sondern wechselseitige Liebe. Eine weitere Bedingung bestand für sie in ihren Wasch- und Reinigungsregeln. Jesus antwortete darauf, Gott verlange keine äußere Reinheit, sondern nur Barmherzigkeit und Menschenliebe. Äußere Rituale seien schädlich und die kirchliche Überlieferung selbst sei ein Übel. Die kirchliche Überlieferung führe dazu, dass die Menschen die wichtigsten Werke der Liebe, wie zum Beispiel die Liebe zu den Eltern, verwerfen und dies mit der kirchlichen Überlieferung rechtfertigen würden. Über alles Äußere, über alle Regeln des früheren Gesetzes, die festlegten, in welchen Fällen der Mensch sich beschmutzt, sagte Jesus: Wisset alle, dass nichts den Menschen von außen beschmutzen kann; nur was er denkt, beschmutzt ihn. Darauf kam Jesus nach Jerusalem, der Stadt, die als heilig galt, und in den Tempel, von dem die Rechtgläubigen dachten, in ihm wohne Gott selbst, und er sagte, dass man Gott keine Opfer zu bringen brauche, dass der Mensch wichtiger sei als ein Tempel, und dass man nur seinen Nächsten lieben und ihm helfen müsse. Weiter sagte Jesus, man brauche Gott nicht an einem besonderen Ort zu verehren, sondern man solle dem Vater in den Werken und im Geist dienen. Den Geist kann man nicht sehen und nicht zeigen. Der Geist ist die Erkenntnis des Menschen, dass er der Sohn des unendlichen Geistes ist. Der Tempel ist unnötig. Der wahre Tempel ist die Welt der in Liebe vereinten Menschen. Er sagte, alle äußere Gottesverehrung sei nicht nur dann falsch und schädlich, wenn sie die Werke des Bösen fördere, wie es die Gottesverehrung der Juden tue, die Morde vorschreibe und die Vernachlässigung der Eltern zulasse, sie sei vielmehr deshalb schädlich, weil ein Mensch, der die äußeren Rituale befolge, sich im Recht glaube und sich von den Werken der Liebe freispreche. Er sagte, nur der Mensch strebt nach dem Guten und tut die Werke der Liebe, der seine Unvollkommenheit spürt. Um die Werke der Liebe zu tun, muss man sich unvollkommen fühlen. Die äußere Gottesverehrung aber verleitet zu einer trügerischen Selbstzufriedenheit. Alle äußere Gottesverehrung ist überflüssig, man muss sie verwerfen. Die Werke der Liebe lassen sich nicht

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mit dem Befolgen der Rituale vereinen, und die äußere Gottesverehrung bringt keine Werke der Liebe hervor. Der Mensch ist im geistigen Sinn Gottes Sohn und muss dem Vater deshalb mit seinem Geist dienen.

III. Geheiligt werde dein Name Jesu Schüler fragen ihn, worin das Reich Gottes, das er predige, bestehe. Jesus antwortet: Das Reich Gottes, das ich predige, ist dasselbe, das auch Johannes gepredigt hat. Es besteht darin, dass alle Menschen trotz aller fleischlichen Not glückselig sein können. Jesus sagt dem Volk: Johannes war der erste, der dem Volk das Reich Gottes nicht in der äußeren Welt, sondern in der Seele der Menschen gepredigt hat: Die Rechtgläubigen gingen hin, ihn zu hören, doch sie verstanden nichts, denn sie verstehen nur, was sie selbst über den äußeren Gott erfinden, und sie predigen ihre Erfindungen und wundern sich, dass ihnen niemand zuhört. Johannes aber hat die Wahrheit des Reiches Gottes in den Menschen gepredigt, und darum hat er mehr als alle erreicht. Er hat erreicht, dass seit seiner Zeit kein Gesetz und keine Propheten und keine äußere Gottesverehrung mehr nötig sind. Seine Lehre hat offensichtlich gemacht, dass das Reich Gottes in der Seele der Menschen ist und dass jeder Mensch aus eigener Kraft im Reich, im Willen Gottes, des Vaters sein kann. Auf die Frage, wann das Reich Gottes komme, sagt Jesus, das Reich Gottes sei unsichtbar, es sei nicht außen, sondern in den Seelen der Menschen. Der Anfang und das Ende von allem sei in der Seele des Menschen. Den Sinn des Reiches Gottes erklärt Jesus so: Jeder Mensch weiß, dass er abgesehen von seinem fleischlichen Leben, abgesehen von der ihm begreiflichen Zeugung durch seinen fleischlichen Vater im Leib seiner fleischlichen Mutter einen freien, vernünftigen, vom Fleisch unabhängigen Geist in sich trägt. Dieser unendliche, aus dem Unendlichen hervorgegangene Geist ist der Anfang von allem, er ist das, was wir Gott nennen. Wir kennen ihn nur in uns selbst. Dieser Geist ist der Anfang, das Prinzip unseres Lebens, ihn soll man über alles setzen, durch ihn soll man leben. Wenn wir diesen Geist zur Grundlage unseres Lebens machen, erlangen wir das wahre, ewige Leben. Jener Geist-Vater, der den Geist in die Menschen gesandt hat, kann dies nicht getan haben, um die Menschen zu täuschen, damit sie das unendliche Leben in sich erkennen und im selben Zug verlieren. Wenn der Mensch diesen unendlichen Geist in sich trägt, dann gibt dieser Geist ihm notwendig das unendliche Leben. Und darum hat der Mensch, der in diesem Geist sein Leben sieht, auch das unendliche Leben. Der Mensch, der sein Leben nicht in diesem Geist sieht, hat kein Leben. Die Menschen können selbst zwischen Leben und Tod wählen. Das Leben ist im Geist, der Tod ist im Fleisch. Das Le-

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ben des Geistes ist das Gute, das Licht; das Leben des Fleisches ist das Böse, die Dunkelheit. An den Geist glauben heißt, die Werke des Guten tun; nicht an ihn glauben heißt, die Werke des Bösen tun. Das Gute ist das Leben, das Böse ist der Tod. Gott, den äußeren Schöpfer, den Anfang aller Anfänge, kennen wir nicht. Wir können uns nur von ihm vorstellen, dass er den Geist in den Menschen gesät hat, und dass er ihn so gesät hat, wie ein Sämann sät, auf alle Arten von Erde, und dass der Samen, der auf gute Erde fällt, wächst, der Samen aber, der auf ungeeignete Erde fällt, verdirbt. Nur der Geist gibt den Menschen das Leben, und es hängt von ihnen ab, ob sie es behalten oder verlieren. Für den Geist existiert das Böse nicht. Das Böse ist nur der Anschein von Leben. Es gibt nur das, was lebt, und das, was nicht lebt. Das Böse lebt nicht. So können die Menschen sich die Welt als ganze vorstellen; jeder einzelne Mensch aber trägt das Wissen um das Himmelreich in seiner Seele. Jeder kann nach seinem Willen in es eingehen oder nicht. Um in es einzugehen, muss man an das geistige Leben glauben. Wer an das geistige Leben glaubt, der hat das unendliche Leben.

IV. Dein Reich komme Jesus hatte Mitleid mit den Menschen, weil sie das wahre Heil nicht kannten, und er lehrte sie. Er sagte: Selig sind die, welche keinen Besitz, keinen Ruhm und keine Sorge um all dies haben; unglücklich aber sind die, welche nach Reichtum und Ruhm streben, denn die Armen und Unterdrückten sind im Willen des Vaters, die Reichen und Berühmten aber streben nur nach menschlichem Lohn in diesem zeitlichen Leben. Wer den Willen des Vaters erfüllen will, soll nicht fürchten, arm und verachtet zu sein, sondern sich darüber freuen, denn so zeigt er den Menschen, worin das wahre Heil liegt. Wer den Willen des Vaters erfüllen will, der allen Menschen Leben und Heil gibt, muss fünf Gebote erfüllen. Erstes Gebot. Kränke niemanden; handle so, dass du in niemandem das Böse weckst, denn aus dem Bösen entsteht noch mehr Böses. Zweites Gebot. Tu nicht mit Frauen schön und verlasse die Frau nicht, mit der du dich zuerst verbunden hast, denn das Verlassen und Wechseln der Frauen ist die Quelle allen Lasters in der Welt. Drittes Gebot. Leiste keine Schwüre, denn du kannst nichts versprechen: Der Mensch ist in der Macht des Vaters, und Schwüre verlangt man für böse Werke. Viertes Gebot. Leiste dem Bösen keinen Widerstand, erdulde Kränkungen, erfülle die Forderungen der Menschen und gehe noch darüber hinaus: Urteile nicht und prozessiere nicht, denn der Mensch ist voller Fehler und kann andere nicht belehren. Wer Rache übt, lehrt nur andere dasselbe tun.

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Fünftes Gebot. Mache keinen Unterschied zwischen deinem eigenen Vaterland und einem fremden, denn alle Menschen sind Kinder eines Vaters. Diese fünf Gebote soll man nicht darum befolgen, damit einen die Menschen loben, sondern für sich selbst, für die eigene Seligkeit. Man muss weder beten noch fasten. Beten ist unnötig, weil der Vater alles weiß, was die Menschen brauchen. Man muss ihn um nichts bitten; man muss sich nur bemühen, im Willen des Vaters zu sein. Der Wille des Vaters aber ist, dass wir gegen niemanden Groll hegen. Fasten ist unnötig: die Menschen fasten nur um des Lobes der anderen willen; das Lob der Menschen aber schenkt keine Seligkeit. Man muss nur dafür sorgen, dass man im Willen des Vaters ist, alles andere kommt von selbst. Wer sich um das Fleischliche sorgt, kann sich nicht mehr um das Himmelreich sorgen. Der Mensch kann auch ohne Sorge um Essen und Kleidung leben. Der Vater gibt ihm das Leben. Sorgen muss man sich nur darum, dass man zur gegenwärtigen Stunde im Willen des Vaters ist. Der Vater gibt den Kindern, was sie brauchen. Wünschen kann man sich nur die Kraft des Geistes, die der Vater gibt. Die fünf Gebote weisen den Weg ins Himmelreich. Ins ewige Leben führt allein dieser schmale Pfad. Die falschen Lehrer, diese Wölfe im Schafspelz, versuchen stets, die Menschen von diesem Pfad abzubringen. Vor ihnen muss man sich hüten. Man erkennt die falschen Lehrer stets daran, dass sie im Namen des Guten das Böse lehren. Wer Gewalt und Strafen lehrt, ist ein falscher Lehrer. An den Werken, die sie lehren, kann man sie erkennen. Nicht der erfüllt den Willen des Vaters, der den Namen Gottes anruft, sondern der, der die Werke des Guten tut. Wer also diese fünf Gebote befolgt, der wird das sichere Leben haben, und keiner kann es ihm nehmen, wer sie aber nicht befolgt, der wird ein Leben haben, das ihm bald genommen wird, und nichts davon wird bleiben. Die Lehre Jesu erstaunt das Volk und zieht es an, weil nach ihr alle Menschen frei sind. Die Lehre Jesu erfüllt Jesajas Prophezeiung, wonach der Erwählte Gottes den Menschen das Licht bringen und das Böse besiegen und der Wahrheit nicht mit Gewalt, sondern mit Sanftmut, Demut und Güte zu ihrem Recht verhelfen werde.

V. Dein Wille geschehe Die Weisheit des Lebens besteht in der Erkenntnis, dass das eigene Leben ein Kind des Geist-Vaters ist. Die Menschen setzen sich Ziele des fleischlichen Lebens, und auf dem Weg zu diesen Zielen quälen sie sich und andere. Wenn sie aber die Lehre vom geistigen Leben anerkennen und sich in fleischlichen Dingen bescheiden, finden sie volle Zufriedenheit im geistigen Leben, jenem einzigen Leben, das ihnen bestimmt ist.

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Einmal geschah es, dass Jesus eine Andersgläubige um etwas zu trinken bat. Die Frau verwehrte es ihm unter dem Vorwand, dass sie nicht eines Glaubens seien. Darauf sagte Jesus zu ihr: Würdest du verstehen, dass es ein lebendiger Mensch ist, der dich um etwas zu trinken bittet, einer, in dem der Geist des Vaters ist, so würdest du es ihm nicht verwehren, sondern danach streben, Gutes zu tun und dich im Geist mit dem Vater zu vereinigen, und der Geist des Vaters würde dir Wasser spenden, von dem dich nicht gleich wieder dürstet, ein Wasser, das ewiges Leben verleiht. Es gibt keinen Ort, um zu Gott zu beten, man kann nur denen dienen, in denen sein Geist wohnt, dienen durch die Werke der Liebe. Und Jesus sagte zu seinen Jüngern: Die wahre Nahrung des Menschen besteht darin, den Willen des Geist-Vaters zu erfüllen. Diesen Willen kann man immer erfüllen. Unser Leben besteht nur darin, die Früchte jenes Lebens zu ernten, das der Vater in uns gesät hat. Die Früchte sind das Gute, das wir den Menschen tun. Man muss auf nichts warten, man muss nur immerzu leben und den Menschen dabei Gutes tun. Bald darauf trug es sich zu, dass Jesus in Jerusalem war. In Jerusalem gab es ein Badehaus, und dort lag ein Kranker, der untätig darauf wartete, durch ein Wunder geheilt zu werden. Jesus ging zu dem Kranken und sagte zu ihm: Warte nicht, dass du durch ein Wunder geheilt wirst, sondern lebe von dir aus, soweit deine Kraft es erlaubt, und täusche dich nicht über den Sinn des Lebens. Der Lahme hörte auf Jesus, stand auf und ging. Die Rechtgläubigen, die das gesehen hatten, machten Jesus Vorwürfe wegen seiner Worte, und weil er den Gelähmten am Sabbat gehen gemacht hatte. Jesus sagte zu ihnen: Ich habe nichts Neues getan. Ich habe nur getan, was auch unser gemeinsamer Geist-Vater tut. Er lebt und er belebt die Menschen, und dasselbe habe auch ich getan. Das ist die Berufung eines jeden Menschen. Jeder Mensch hat die Freiheit, zu leben oder nicht zu leben. Leben heißt, den Willen des Vaters zu erfüllen, d.h. anderen Gutes zu tun; nicht leben heißt, den eigenen Willen zu erfüllen und anderen nichts Gutes zu tun. Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, dieses oder jenes zu tun, sein Leben zu erhalten oder zu vernichten. Das wahre Leben der Menschen sieht so aus: Ein Herr gibt seinen Knechten einen Anteil seines kostbaren Besitzes und befiehlt allen, mit dem zu arbeiten, was er ihnen gegeben hat. Die einen arbeiten, die anderen aber verstecken, was er ihnen gegeben hat und arbeiten nicht. Schließlich verlangt der Herr die Abrechnung und gibt denen, die gearbeitet haben, noch mehr als das, was sie zuerst bekommen hatten, denen aber, die nicht gearbeitet haben, nimmt er auch das Letzte. Der kostbare Anteil vom Besitz des Herrn ist der Geist des Lebens im Menschen, das Kind des Geist-Vaters. Wer in seinem Leben für das geistige Leben arbeitet, der erhält ein Leben, das nicht endet; wer aber nicht arbeitet, verliert auch das Leben, das ihm gegeben war.

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Das wahre Leben ist nur das gemeinsame Leben aller, nicht das Leben des Einzelnen. Ein jeder soll für das Leben der anderen arbeiten. Darauf ging Jesus an einen einsamen Ort, und eine Menge Volkes schloss sich ihm an. Abends kamen seine Jünger und sagten: Was sollen wir all diesen Menschen zu essen geben? Unter dem Volk waren einige, die nichts hatten, und einige, die Brot und Fisch mitgebracht hatten. Da sagte Jesus zu den Jüngern: Verteilt alles Brot, das ihr habt. Er nahm die Brote und gab seinen Jüngern davon, und die gaben anderen, und diese wieder anderen. Und alle aßen von dem, was ihnen nicht gehörte, und alle zusammen aßen nicht auf, was sie hatten, aber alle waren zufrieden. Und Jesus sagte: So sollt ihr es machen. Wichtig ist nicht, dass jeder sich selbst ernährt, sondern was der Geist im Menschen befiehlt: das, was man hat, den anderen zu geben. Die wahre Nahrung des Menschen ist der Geist des Vaters. Die Menschen leben nur durch den Geist. Alles, was Leben ist, dem muss man dienen, denn das Leben besteht nicht darin, dass man den eigenen Willen tut, sondern den Willen des Vaters des Lebens. Der Vater des Lebens aber will, dass das ganze geistige Leben, das ein jeder in sich trägt, in ihm erhalten bleibe und dass alle das geistige Leben in sich bewahren bis zur Stunde ihres Todes. Der Vater, die Quelle allen Lebens, ist der Geist. Das Leben besteht nur in der Erfüllung des Willens des Vaters, und darum muss man für die Erfüllung des Willens des Geistes das Fleisch hingeben. Das Fleisch nährt das Leben des Geistes. Nur indem er sein Fleisch hingibt, lebt der Geist. Darauf wählte Jesus einige Jünger aus und sandte sie aus, damit sie seine Lehre vom geistigen Leben überall predigten. Als er sie aussandte, sprach er: Ihr sollt das geistige Leben predigen, darum verzichtet von Anfang an auf alle Begierden des Fleisches – verzichtet auf jeden Besitz. Seid gefasst auf Verfolgungen, Entbehrungen und Leid. Die, welche das fleischliche Leben lieben, werden euch hassen, sie werden euch quälen und töten, aber fürchtet euch nicht. Wenn ihr den Willen des Vaters erfüllt, dann habt ihr das geistige Leben, und keiner kann es euch nehmen. Die Jünger gingen, und als sie zurückkehrten, verkündeten sie, dass sie die Lehre des Bösen überall besiegt hatten. Da sagten die Rechtgläubigen zu Jesus, seine Lehre besiege zwar vielleicht das Böse, sei aber auch selbst böse, da die, die sie erfüllten, leiden müssten. Darauf sagte Jesus, er könne das Böse nicht besiegen. Wenn das Böse besiegt werde, so nur durch das Gute. Das Gute sei der Wille des Geist-Vaters, der allen Menschen gemeinsam sei. Jeder Mensch weiß, was das Gute für ihn ist. Wenn er dies für andere Menschen tut, wenn er tut, was der Wille des GeistVaters ist, dann tut er Gutes. Und darum ist die Erfüllung des Willens des Geist-Vaters gut, selbst wenn sie für die, die ihn erfüllen, mit Leid und Tod verbunden ist.

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VI. Im Himmel, wie auch auf Erden Für das geistige Leben gibt es keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden. Jesus sagt, dass Mutter und Brüder ihm als Mutter und Brüder nichts bedeuten, ihm stehen nur die nahe, die den Willen des gemeinsamen Vaters erfüllen. Die Glückseligkeit und das Leben des Menschen hängen nicht von Verwandtschaftsverhältnissen ab, sondern vom geistigen Leben. Jesus sagt, selig sind die, die das Verständnis des Vaters haben. Ein Mensch, der durch den Geist lebt, hat kein Haus. Tiere haben Häuser, der Mensch aber lebt durch den Geist und kann darum kein Haus haben. Jesus sagt, er habe keinen Ort, der ihm bestimmt sei. Um den Willen des Vaters zu erfüllen, bedarf es keines bestimmten Ortes, es ist überall und immer möglich. Für einen Menschen, der sich dem Willen des Vaters überlässt, kann der fleischliche Tod keinen Schrecken haben, weil das geistige Leben nicht vom Tod des Fleisches abhängt. Jesus sagt, wer an das geistige Leben glaubt, kann nichts fürchten. Es gibt keine Sorge, die den Menschen daran hindern könnte, durch den Geist zu leben. Dem Mann, der sagt, er werde Jesu Lehre später erfüllen, zuvor aber müsse er seinen Vater begraben, antwortet Jesus: Mögen die Toten sich um das Begraben der Toten sorgen; die Lebenden aber leben nur dadurch, dass sie den Willen des Vaters erfüllen. Sorgen um familiäre oder häusliche Dinge können dem geistigen Leben nicht im Weg stehen. Wer sich darum sorgt, was mit seinem fleischlichen Leben geschieht, wenn er den Willen des Vaters erfüllt, der handelt wie ein Pflüger, der beim Pflügen nicht nach vorne schaut, sondern nach hinten. Die Sorgen um die Freuden des fleischlichen Lebens, die den Menschen so wichtig erscheinen, sind nur ein Traum. Das einzig echte Tun im Leben ist das Verkünden, Beachten und Erfüllen des Willens des Vaters. Auf Marthas Vorwurf, sie allein bereite das Abendessen, während ihre Schwester Maria, statt ihr zu helfen, nur Jesu Lehre lausche, antwortet Jesus: Zu Unrecht machst du ihr Vorwürfe. Sorge dich, wenn dir wichtig ist, was die Sorge dir gibt, aber lass jene, welche die fleischlichen Freuden nicht brauchen, das einzige tun, was für das Leben wichtig ist. Jesus sagt: Wer das wahre Leben erlangen will, das im Erfüllen des Willens des Vaters besteht, muss als erstes auf seine persönlichen Wünsche verzichten. Nicht nur darf er sein Leben nicht so einrichten, wie es ihm gefällt, er muss auch jederzeit bereit sein, Entbehrungen und Leiden aller Art zu ertragen. Wer sein fleischliches Leben so einrichten will, wie es ihm gefällt, der macht das wahre Leben der Erfüllung des väterlichen Willens zunichte.

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Es hat keinen Vorteil, etwas für das fleischliche Leben zu erwerben, wenn das geistige Leben dadurch zunichte gemacht wird. Was dem geistigen Leben am meisten schadet, ist der Eigennutz, das Erwerben von Reichtümern. Die Menschen vergessen, dass sie, wieviel Reichtum und Besitz sie auch erwerben, jederzeit sterben können, und dass sie ihr Vermögen zum Leben nicht brauchen. Der Tod schwebt über jedem von uns. Krankheit, ein gewaltsamer Tod oder ein Unfall können dem Leben in jeder Sekunde ein Ende machen. Der fleischliche Tod ist die notwendige Bedingung für jede Sekunde des Lebens. Der Mensch, sofern er lebt, muss jede Stunde seines Lebens als Aufschub betrachten, der ihm gnadenhalber gegeben wird. Das soll man im Gedächtnis behalten und nicht behaupten, wir wüssten es nicht. Alles, was auf der Erde und am Himmel geschieht, wissen wir und sehen wir voraus, aber den Tod, der uns, wie wir wissen, in jeder Sekunde erwartet, vergessen wir. Wenn wir ihn aber nicht vergessen, dann können wir uns nicht dem Leben des Fleisches hingeben und uns darauf verlassen. Wer meine Lehre erfüllen will, der muss abwägen, was mehr Vorteile hat: dem fleischlichen Leben und dem eigenen Willen zu dienen, oder aber den Willen des Vaters zu erfüllen. Nur wer sich dies klargemacht hat, kann mein Schüler sein. Und wer sich dies klarmacht, der wird ohne Bedauern ein scheinbares Heil und ein scheinbares Leben aufgeben, um das wahre Heil und das wahre Leben zu erlangen. Das wahre Leben ist den Menschen gegeben, sie kennen es und hören seinen Ruf, doch sie berauben sich seiner, weil sie sich ständig von vorübergehenden Sorgen ablenken lassen. Das wahre Leben gleicht dem Festmahl eines Reichen, der Gäste geladen hat. Er ruft seine Gäste herbei, so wie die Stimme des Geist-Vaters alle Menschen zu sich ruft. Doch unter den Geladenen sind die einen von Geschäften in Anspruch genommen, die anderen von häuslichen Verrichtungen, die dritten von Familiendingen, und sie bleiben dem Festmahl fern; nur die Armen, die keine fleischlichen Sorgen haben, sind gekommen, und ihnen ist das Glück zuteil geworden. So bringen sich die Menschen, indem sie sich von den Sorgen des fleischlichen Lebens ablenken lassen, um das wahre Leben. Wer sich nicht völlig losmacht von allen Sorgen und Ängsten des fleischlichen Lebens, der kann den Willen des Vaters nicht erfüllen, denn man kann nicht ein bisschen sich selbst und ein bisschen dem Vater dienen. Man muss abwägen, ob es von Vorteil ist, dem eigenen Fleisch zu dienen, ob man sein Leben so einrichten kann, wie es einem selbst gefällt. Man muss vorgehen wie jemand, der ein Haus bauen oder in den Krieg ziehen will. Er wägt ab, ob er sein Werk vollenden, ob er den Sieg erringen kann. Und wenn er sieht, dass er das nicht kann, dann vergeudet er keine Mühen und keine Truppen daran. Sonst verliert er sie ganz umsonst und macht sich zum Gespött der Leute. Wenn es möglich wäre, das fleischliche Leben so einzurichten, wie es einem gefällt, dann müsste man dem Fleisch dienen. Da dies aber unmöglich ist, ist es bes-

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ser, alles Fleischliche aufzugeben und dem Geist zu dienen. Sonst bleibt man auf halbem Wege stehen. Es gelingt einem nicht, sich das fleischliche Leben einzurichten, und das geistige Leben verliert man ebenso. Darum muss man sich, um den Willen des Vaters zu erfüllen, völlig vom fleischlichen Leben lossagen. Das fleischliche Leben ist jener scheinbare Reichtum, der uns anvertraut wurde und den wir so verwenden müssen, dass wir unseren wahren Reichtum erlangen. Wenn bei einem Reichen ein Verwalter lebt, der weiß, dass er seinem Herrn soviel dienen kann, wie er will, und dennoch ohne Lohn von ihm entlassen werden wird, dann ist dieser Verwalter klug beraten, den Menschen Gutes zu tun, solange er noch über den fremden Reichtum verfügt. Wenn sein Herr ihn entlässt, werden die, denen er Gutes getan hat, ihn aufnehmen und für ihn sorgen. Dasselbe sollen die Menschen auch mit ihrem fleischlichen Leben tun: Das fleischliche Leben ist jener fremde Reichtum, über den sie nur zeitweise verfügen. Wenn sie diesen fremden Reichtum richtig verwenden, werden sie ihren eigenen, wahren Reichtum erlangen. Wenn wir unseren falschen Besitz nicht aufgeben, wird uns der wahre Besitz nicht gegeben werden. Man kann nicht zugleich dem falschen Leben des Fleisches und dem Geist dienen, sondern nur einem von beiden. Man kann nicht dem Reichtum dienen und Gott. Was vor den Menschen groß ist, ist Gott ein Gräuel. Vor Gott ist Reichtum ein Übel. Der Reiche macht sich allein schon dadurch schuldig, dass er viel und üppig isst, während die Armen vor seiner Tür hungern. Jeder weiß, dass Besitz, den man nicht an andere abgibt, ein Verstoß gegen den Willen des Vaters ist. Einmal kam ein Rechtgläubiger zu Jesus, ein hoher Beamter und reicher Mann, der prahlte, er habe alle Gebote des Gesetzes erfüllt. Jesus erinnerte ihn daran, dass ein Gebot lautet, liebe alle Menschen wie dich selbst, dass dies der Wille des Vaters sei. Der Beamte sagte, auch das habe er erfüllt. Da sagte Jesus ihm: Das ist nicht wahr, denn wolltest du den Willen des Vaters erfüllen, dann hättest du keinen Besitz. Du kannst den Willen des Vaters nicht erfüllen, solange du ein eigenes Vermögen hast, das du nicht an andere abgibst. Und Jesus sagte zu seinen Schülern: die Menschen glauben, ohne Besitz könne man nicht leben, ich aber sage euch, dass das wahre Leben darin besteht, den anderen zu geben, was man hat. Ein Mensch namens Zachäus, der Jesu Lehre gehört hatte und an sie glaubte, lud Jesus in sein Haus ein und sagte: Ich gebe die Hälfte meines Besitzes den Armen, und jedem, den ich betrogen habe, gebe ich das Vierfache zurück. Und Jesus sagte: Hier ist ein Mensch, der den Willen des Vaters erfüllt, denn es gibt keine bestimmte Lage, in der der Wille Gottes erfüllt wäre, sondern unser gesamtes Leben besteht in dieser Erfüllung, dieser Mensch aber erfüllt den Willen des Vaters.

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Das Gute lässt sich mit nichts messen; man kann nicht sagen, wer mehr und wer weniger Gutes getan hat. Eine Witwe, die die letzte Kopeke3 hergibt, tut mehr als ein Reicher, der Tausende gibt. Auch nach seinem Nutzen lässt das Gute sich nicht messen. Ein Vorbild dafür, wie man Gutes tun soll, mag jene Frau sein, die Mitleid mit Jesus hatte und ihm ohne zu überlegen für 300 Rubel kostbares Öl über die Füße goss. Judas sagte, sie habe töricht gehandelt, und dass man für dieses Geld vielen hätte zu essen geben können. Doch Judas war ein Dieb und ein Lügner, er dachte bei seinen Worten über den fleischlichen Nutzen nicht an die Armen. Nicht der Nutzen ist wichtig, nicht die Menge, sondern dass man immer, in jeder Minute, den Willen des Vaters erfüllt – dass man immer, in jeder Minute, die anderen Menschen liebt und ihnen gibt, was man hat.

VII. Unser tägliches Brot Als die Juden Beweise für die Wahrheit seiner Lehre von ihm verlangen, sagt Jesus: Die Wahrheit meiner Lehre ist dadurch bewiesen, dass ich nicht in meinem eigenen Namen lehre, sondern im Namen des allen gemeinsamen Vaters. Ich lehre das, was für den Vater aller Menschen und darum auch für alle Menschen gut ist. Tut, was ich sage, erfüllt die fünf Gebote, und ihr werdet sehen, dass es wahr ist, was ich sage. Die Erfüllung der fünf Gebote vertreibt alles Böse aus der Welt, und deshalb ist es gewiss, dass sie wahr sind. Wenn einer etwas lehrt, was nicht sein persönlicher Wille ist, sondern der Wille dessen, der ihn gesandt hat, dann liegt auf der Hand, dass er die Wahrheit lehrt. Moses Gesetz lehrt, den Willen der Menschen zu erfüllen, deshalb ist es voller Widersprüche; meine Lehre aber lehrt, den Willen des Vaters zu erfüllen, und deshalb bildet sie eine vollkommene Einheit. Die Juden verstanden ihn nicht und suchten äußere Beweise dafür, dass er der Christus sei, von dem bei den Propheten geschrieben steht. Darauf sagte er ihnen: Versucht nicht, herauszufinden, wer ich bin und ob ich der bin, von dem bei euren Propheten geschrieben steht, sondern versucht, meine Lehre zu verstehen, das, was ich über unseren gemeinsamen Vater sage. Ihr sollt nicht mir als Mensch glauben, sondern dem, was ich im Namen des gemeinsamen Vaters aller Menschen sage. Ihr sollt nicht nach äußeren Anzeichen dafür suchen, woher ich komme, sondern ihr sollt meiner Lehre folgen. Wer meiner Lehre folgt, der erlangt das wahre Leben. Für meine Lehre gibt es keine Beweise. Sie ist das Licht. Und wie man das Licht nicht be3 Hier und im Weiteren verwendet Tolstoj auch im biblischen Kontext die russischen Währungsbezeichnungen.

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leuchten kann, so kann man die Wahrheit der Wahrheit nicht beweisen. Meine Lehre ist das Licht; wer es sieht, der hat das Licht und das Leben und braucht nichts zu beweisen. Wer aber im Dunkeln ist, der soll zum Licht gehen. Doch die Juden fragten ihn wieder, wer er seiner fleischlichen Abstammung nach sei. Er sagte ihnen: Ich bin das, was ich euch von Anfang an gesagt habe. Ich bin ein Mensch und Sohn des Vaters des Lebens. Nur wer auch sich selbst als solchen erkennt und den Willen des gemeinsamen Vaters erfüllt, wird aufhören, ein Sklave zu sein und frei werden. Denn was uns unfrei macht, ist nur die Verwechslung des fleischlichen Lebens mit dem echten Leben. Wer die Wahrheit begreift, dass das Leben nur in der Erfüllung des väterlichen Willens besteht, der allein wird frei und unsterblich. So wie ein Sklave nicht für immer im Haus bleibt, ein Sohn aber bleibt, so wird auch ein Mensch, der als Sklave des Fleisches lebt, das Leben irgendwann verlassen; ein Mensch aber, der im Geist den Willen des Vaters erfüllt, bleibt für immer im Leben. Um mich zu verstehen, müsst ihr verstehen, dass mein Vater nicht dasselbe ist wie euer Vater, der, den ihr Gott nennt. Euer Vater ist ein fleischlicher Gott, mein Vater aber ist der Geist des Lebens. Euer Gott-Vater ist ein rächender, mordender Gott, der die Menschen straft; mein Vater aber schenkt das Leben. Und darum sind wir verschiedener Väter Kinder. Ich suche die Wahrheit, ihr aber wollt mich eurem Gott zuliebe dafür töten. Euer Gott ist der Teufel, das Prinzip des Bösen, und wenn ihr ihm dient, so dient ihr dem Teufel. Meine Lehre aber ist, dass wir Kinder des Vaters des Lebens sind, und wer meiner Lehre glaubt, für den gibt es keinen Tod. Die Juden sagten: Wie kann ein Mensch nicht sterben, wenn doch selbst die gottgefälligsten Menschen gestorben sind, sogar Abraham? Wie kannst du sagen, dass du und die, welche deiner Lehre glauben, nicht sterben werden? Darauf antwortete Jesus: Ich spreche nicht von mir selbst. Ich spreche von jenem Prinzip des Lebens, das ihr Gott nennt und das in den Menschen ist. Dieses Prinzip kenne ich, ich muss es kennen, ich kenne seinen Willen und erfülle ihn, und von diesem Prinzip des Lebens sage ich, dass es war, ist und sein wird und dass es keinen Tod kennt. Beweise für die Wahrheit meiner Lehre zu fordern ist so, als würde man von einem geheilten Blinden Beweise dafür fordern, warum und wie er sehend geworden ist. Ein geheilter Blinder, der derselbe Mensch bliebe, der er früher war, könnte nur sagen, dass er blind war, jetzt aber sieht. Genau dies und nicht mehr kann auch einer sagen, der den Sinn seines Lebens früher nicht verstand und jetzt versteht. Ein solcher Mensch würde nur sagen, dass er das wahre Heil des Lebens früher nicht kannte, jetzt aber kennt. Und wie der geheilte Blinde, wenn man ihm sagte, er sei nicht richtig geheilt, denn der Mensch, der ihn geheilt habe, sei ein Sünder, und er müsse auf andere Weise

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geheilt werden, nur antworten könnte, dass er nichts weiß von der Richtigkeit der Heilung und der Sündigkeit des Heilers; und dass er von einer anderen, besseren Heilung nur eines weiß, nämlich dass er blind war, jetzt aber sieht. Genauso kann auch einer, der den Sinn der Lehre vom wahren Heil, der Erfüllung des Willens des Vaters, erfasst hat, nichts darüber sagen, ob diese Lehre richtig ist und ob der, der sie ihm offenbart hat, ein Sünder ist, und ob man auch noch ein besseres Heil finden kann, sondern er wird sagen: Früher sah ich den Sinn des Lebens nicht, jetzt aber sehe ich ihn, das ist alles, was ich weiß. Und Jesus sagte: Meine Lehre weckt das schlafende Leben, wer an meine Lehre glaubt, der erwacht zum ewigen Leben und lebt über den Tod hinaus. Meine Lehre lässt sich durch nichts beweisen, doch die Menschen vertrauen sich ihr an, weil sie allen das Leben verspricht. Wie Schafe einem Hirten folgen, der ihnen Futter und Leben gibt, so nehmen die Menschen meine Lehre an, weil sie allen das Leben gibt. Und wie die Schafe dem Dieb nicht folgen, der in ihren Stall einbricht, sondern vor ihm zurückweichen, so können auch die Menschen nicht an eine Lehre glauben, die Gewalt und Strafen vorschreibt. Meine Lehre ist das Tor für die Schafe, und alle, die mir nachfolgen, werden das wahre Leben finden. So, wie nur der ein guter Hirte ist, dem seine Schafe selbst gehören, der sie liebt und sein Leben für sie gibt, während der, der für Lohn arbeitet und die Schafe nicht liebt, ein schlechter Hirte ist, so ist auch nur der ein wahrer Lehrer, der sich selbst nicht schont, derjenige aber, der nur um sich besorgt ist, ist ein schlechter Lehrer. Meine Lehre besteht darin, sich selbst nicht zu schonen, sondern sein fleischliches Leben für das Leben des Geistes hinzugeben, das ist es, was ich lehre und erfülle. Die Juden verstanden ihn immer noch nicht und suchten weiter nach äußeren Anzeichen dafür, ob er der Christus sei oder nicht und ob man an ihn glauben solle oder nicht. Sie sagten: Quäle uns nicht, sondern sprich geradeheraus: Bist du der Christus oder nicht? Darauf antwortete Christus ihnen: Nicht den Worten sollt ihr glauben, sondern den Werken. An den Werken, die ich lehre, werdet ihr erkennen, ob ich wahrhaft lehre oder nicht. Tut, was ich tue, und kümmert euch nicht um die Worte. Erfüllt den Willen des Vaters, dann werdet ihr euch alle mit mir und dem Vater vereinigen, denn ich bin des Menschen Sohn – ich bin dasselbe wie der Vater. Ich bin nicht der Christus, ich bin mehr als der Christus, ich bin das, was ihr Gott nennt und was ich den Vater nenne. Ich und der Vater sind eins. Auch in eurer Schrift heißt es, dass Gott den Menschen gesagt hat: Ihr seid Götter. Jeder Mensch ist dem Geist nach ein Kind des Vaters. Wenn er so lebt, dass er den Willen des Vaters erfüllt, dann vereinigt er sich mit dem Vater. Wenn ich seinen Willen erfülle, dann ist der Vater in mir und ich bin im Vater.

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Darauf fragte Jesus seine Jünger, wie sie seine Lehre vom Menschensohn auffassten. Simon Petrus antwortete: Deine Lehre besteht darin, dass du der Sohn des Gottes des Lebens bist, dass Gott das geistige Leben im Menschen ist. Und Jesus sagte ihm: Nicht nur ich, sondern alle Menschen; und nicht ich bin es, der den Menschen dies offenbart hat, sondern es ist der gemeinsame Vater der Menschen. Auf dieser vernünftigen Einsicht beruht das wahre Leben der Menschen. Für dieses Leben gibt es keinen Tod.

VIII. Gib uns heute Auf die Fragen der Jünger, wie sie dafür belohnt würden, dass sie sich vom fleischlichen Leben lossagen, antwortet Jesus: Für einen Menschen, der den Sinn der Lehre versteht, kann es keine Belohnung geben, erstens, weil einer, der sich um dieser Lehre willen von seiner Familie, seinen Angehörigen, seinem Besitz lossagt, hundert mal mehr Angehörige und mehr Besitz haben wird, und zweitens, weil einer, der nach Belohnung strebt, mehr besitzen will als ein anderer, und das ist das, was der Lehre von der Erfüllung des väterlichen Willens am meisten zuwiderläuft. Für das Himmelreich existiert kein größer oder kleiner: Alle sind gleich. Wer für das Gute eine Belohnung will, gleicht einem Arbeiter, der mehr Geld verlangt, als mit dem Herrn abgemacht war, nur weil er sich selbst für würdiger hält als andere. Belohnung und Bestrafung, Erniedrigung und Verherrlichung existieren nicht für den, der die Lehre versteht. Nach Jesu Lehre ist niemand höher oder wichtiger als ein anderer. Ein jeder kann den Willen des Vaters erfüllen, doch dadurch nimmt er keinen höheren Rang ein, er wird nicht wichtiger oder besser als ein anderer. Das glauben nur die Könige und die, welche ihnen dienen. Nach meiner Lehre, sagt Jesus, kann es keine Ranghöheren geben, denn wer besser sein will, muss allen dienen, eben darin besteht die Lehre: Das Leben ist dem Menschen nicht gegeben, damit andere ihm dienen, sondern damit er selbst sein ganzes Leben für den Dienst an anderen hingibt. Wer dies nicht befolgt, sondern sich selbst erhöht, der wird tiefer fallen als er zuvor stand. Um nicht an Belohnungen und Selbsterhöhung zu denken, muss man begreifen, worin der Sinn des Lebens besteht. Der Sinn des Lebens besteht darin, den Willen des Vaters zu erfüllen; der Vater aber will, dass das, was er gegeben hat, zu ihm zurückkehrt. Wie ein Hirte die ganze Herde zurücklässt, um ein verirrtes Schaf zu finden, und wie eine Frau alles durchwühlt, um eine verlorene Kopeke zu finden, so wird auch das Tun des Vaters darin sichtbar, dass er das, was sein war, zu sich holt. Man muss begreifen, worin das wahre Leben besteht. Das wahre Leben zeigt sich immer darin, dass das Verlorene an seinen Platz zurückkehrt und

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das Schlafende erwacht. Menschen, die das wahre Leben haben, die zu ihrem Anfang zurückgekehrt sind, können, da sie das wahre Leben haben, nicht nach Menschenart abwägen, wer besser und wer schlechter ist, sondern können sich, da sie am Leben des Vaters Anteil haben, nur freuen, wenn ein Verlorener zum Vater zurückkehrt. Würde ein Sohn, der vom Weg abgekommen ist und sich vom Vater entfernt hat, bereuen und zum Vater zurückkehren, wären die anderen Söhne dann etwa neidisch auf die Freude des Vaters, würden sie sich nicht freuen über die Rückkehr des Bruders? Um an die Lehre zu glauben, um sein Leben zu ändern und die Lehre zu befolgen, bedarf es keiner äußeren Beweise, keiner Aussicht auf Belohnungen, man muss vielmehr klar erfassen, was das wahre Leben ist. Menschen, die glauben, das Leben liege ganz in ihrer Hand und sei ihnen um der fleischlichen Freuden willen gegeben, werden natürlich jedes Opfer für einen anderen als belohnungswürdige Tat betrachten, und ohne Belohnung werden sie nichts abgeben. Würde man von Zinsbauern, die vergessen haben, dass der Gutsbesitzer ihnen seinen Garten nur gegen Abgabe der Früchte überlassen hat, ohne Gegenleistung einen Zins verlangen, so würden sie den Zinseintreiber wegjagen, und wenn er sie wieder und wieder an den Zins erinnerte, würden sie ihn töten. So denken auch die, welche meinen, das Leben liege in ihrer Hand, und nicht verstehen, dass das Leben die Gabe des Verstehens ist – eines Verstehens, das nach Erfüllung seines Willens verlangt. Um zu glauben und zu handeln, muss man begreifen, dass der Mensch allein nichts vermag und dass er, wenn er sein fleischliches Leben für das Gute hingibt, nichts tut, wofür er Dank und Belohnung verdient hätte. Man muss begreifen, dass der Mensch, wenn er Gutes tut, nur das tut, wozu er verpflichtet ist, was er notwendig erfüllen muss. Nur wer sein Leben in dieser Weise begreift, kann so glauben, dass er wahrhaft die Werke des Guten tut. Eben in diesem Verständnis des Lebens besteht das Himmelreich, das ich predige. Dieses Himmelreich ist unsichtbar, es ist keines, das irgendwo so in Erscheinung träte, dass man auf es zeigen könnte. Das Himmelreich ist im Verständnis der Menschen. Die ganze Welt lebte und lebt weiter wie eh und je: Es wird gegessen, getrunken, Handel getrieben, geheiratet und gestorben, und neben all dem lebt in den Seelen der Menschen das Himmelreich. Das Himmelreich ist das Verständnis des Lebens, das wie ein Baum im Frühling aus sich selbst heraus wächst. Das wahre Leben der Erfüllung des väterlichen Willens ist kein vergangenes und keines, das noch kommt, sondern das Leben jetzt. Und deshalb darf, wer leben will, niemals schwach werden. Die Menschen sollen nicht das vergangene oder zukünftige Leben bewahren, sondern das, in dem sie leben, und in ihm sollen sie den Willen des Vaters aller Menschen erfüllen. Wenn sie dieses Leben verstreichen lassen, ohne den Willen des Vaters zu erfüllen,

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dann lässt es sich nicht zurückholen, so wie ein Wächter, der die ganze Nacht Wache halten soll, seine Aufgabe nicht erfüllt hat, wenn er auch nur für eine Minute einschläft, denn in dieser Minute kann ein Dieb kommen. Darum muss der Mensch seine ganze Kraft auf die gegenwärtige Stunde lenken, nur in ihr ist der Wille des Vaters zu erfüllen. Der Wille des Vaters aber ist das Leben und das Heil aller Menschen, und darum ist die Erfüllung seines Willens für alle Menschen gut. Nur der lebt, der Gutes tut. Wer den Menschen Gutes tut, lebt ein Leben, das mit dem gemeinsamen Vater vereinigt.

IX. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern Der Mensch wird geboren mit dem Wissen um das wahre Leben der Erfüllung des väterlichen Willens. Die Kinder leben in dieser Erfüllung, an Kindern kann man sehen, worin der Wille des Vaters besteht. Um Jesu Lehre zu verstehen, muss man das Leben der Kinder verstehen und werden wie sie. Kinder leben immer im Willen des Vaters, sie verstoßen nicht gegen die fünf Gebote. Daran würde sich auch nie etwas ändern, wenn sie nicht von Älteren in Versuchung geführt würden. Kinder zum Verstoß gegen die Gebote verführen heißt sie zugrunde richten. Wer Kinder in Versuchung führt, tut dasselbe wie ein Mensch, der einem anderen einen Mühlstein um den Hals bindet und ihn in einen Fluss wirft. Gäbe es keine Versuchungen, so wäre die Welt glücklich. Sie ist unglücklich nur aufgrund der Versuchung. Die Versuchung ist das Böse, das Menschen um des scheinbaren Heils des zeitlichen Lebens willen tun. Versuchungen richten die Menschen zugrunde, und darum muss man alles dafür opfern, der Versuchung zu widerstehen. Die gegen das erste Gebot gerichtete Versuchung besteht darin, dass man sich für unschuldig vor den Menschen hält, die anderen aber für schuldig vor einem selbst. Um dieser Versuchung zu widerstehen, muss man im Gedächtnis behalten, dass alle Menschen immer in unendlicher Schuld vor dem Vater stehen und dass sie sich von dieser Schuld nur reinwaschen können, indem sie ihren Brüdern vergeben. Darum muss man Kränkungen vergeben und sich nicht davon beirren lassen, dass der Schuldige einen ein weiteres Mal und immer wieder kränken wird. Wie oft einer auch gekränkt wird, er soll vergeben und wieder vergeben und das Böse nicht nachtragen, denn das Himmelreich ist nur durch Vergebung möglich. Wenn wir nicht vergeben, tun wir dasselbe wie unser Schuldiger. Ein Schuldiger, der tief in der Schuld seines Herrn stand, kam, ihn um Gnade zu bitten. Der Herr vergab ihm alles. Der Schuldiger ging und begann, seinen eigenen Schuldiger auszupressen, der ihm eine Kleinigkeit schuldete. Um das Leben zu haben, müssen wir ja den Willen des Vaters er-

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füllen; den Vater aber bitten wir um Vergebung dafür, dass wir seinen Willen nicht vollkommen erfüllt haben, und hoffen diese Vergebung auch zu erlangen. Was tun wir also, wenn wir nicht vergeben? Wir tun das, was wir für uns selbst fürchten. Der Wille des Vaters ist das Heil, das Böse aber ist das, was uns vom Vater trennt, wie sollten wir uns also nicht bemühen, das Böse möglichst schnell auszulöschen, da das Böse uns zugrunde richtet und uns das Leben raubt. Das Böse hält uns fest im fleischlichen Tod. In dem Maß, in dem wir uns von diesem Bösen freimachen, gewinnen wir das Leben. Wenn das Böse uns nicht trennt und wir in Liebe vereinigt sind, dann haben wir alles, was wir uns wünschen können. Die gegen das zweite Gebot gerichtete Versuchung besteht darin, dass wir glauben, die Frau sei zum fleischlichen Vergnügen geschaffen, und wir könnten mehr Vergnügen haben, wenn wir eine Frau verlassen und eine andere nehmen. Um dieser Versuchung zu widerstehen, muss man im Gedächtnis behalten, dass der Wille des Vaters nicht darin besteht, dass der Mensch sich an weiblichen Reizen erfreut, sondern darin, dass jeder, der eine Frau erwählt, sich mit ihr zu einem Leib vereinigt. Der Wille des Vaters ist, dass jeder Mann eine Frau hat, und dass jede Frau einen Mann hat. Wenn ein Mann sich jeweils an eine Frau hält, wird jeder eine Frau und jede einen Mann haben. Wer deshalb die Frau wechselt, lässt eine Frau ohne Mann zurück und fordert so einen anderen Mann heraus, seine eigene Frau gegen die Verlassene einzutauschen. Keine Frau zu haben ist möglich, mehr als eine Frau zu haben aber nicht, denn wer eine zweite Frau hat, verstößt gegen den Willen des Vaters: Dieser will, dass jeder Mann sich mit nur einer Frau verbindet. Die gegen das dritte Gebot gerichtete Versuchung besteht darin, dass die Menschen um des Heils des zeitlichen Lebens willen eine Obrigkeit eingesetzt haben und denen, die im Auftrag dieser Obrigkeit handeln, Eide abverlangen. Um dieser Versuchung zu widerstehen, müssen die Menschen im Gedächtnis behalten, dass sie ihr Leben einzig und allein Gott verdanken. Die Forderungen der Obrigkeit sollen sie als gewaltsame Übergriffe betrachten, und deshalb sollen sie, entsprechend dem Gebot des Verzichts auf Widerstand gegen das Böse, für die Obrigkeit tun und ihr geben, was sie verlangt – Besitz und Arbeitskraft –, aber sie sollen nicht durch Versprechungen und Eide ihr Handeln in der Zukunft festlegen. Erzwungene Eide verderben die Menschen. Ein Mensch, der sein Leben im Willen des Vaters sieht, kann nicht versprechen, wie er handeln wird, denn für einen solchen Menschen ist sein Leben das Heiligste, was es gibt. Die gegen das vierte Gebot gerichtete Versuchung liegt darin, dass die Menschen glauben, sie würden andere bessern, indem sie sich dem Hass und der Rache hingeben. Wenn ein Mensch einem anderen etwas zuleide tut, dann glaubt man, er müsse bestraft werden und die Wahrheit bestünde in

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dem Urteil, das die Menschen fällen. Um dieser Versuchung zu widerstehen, muss man im Gedächtnis behalten, dass die Menschen nicht berufen sind, zu urteilen, sondern einander zu retten. Und dass sie nicht über das Unrecht anderer urteilen können, weil sie selbst voller Unrecht sind. Was sie können, ist allein, andere durch ihr Beispiel Reinheit, Vergebung und Liebe zu lehren. Die gegen das fünfte Gebot gerichtete Versuchung besteht darin, dass die Menschen einen Unterschied zwischen Angehörigen der eigenen und fremden Völker machen und es daher für nötig halten, sich gegen andere Völker zu verteidigen und ihnen zu schaden. Um dieser Versuchung zu widerstehen, muss man im Gedächtnis behalten, dass alle Gebote auf eines hinauslaufen: Erfülle den Willen des Vaters, der allen Menschen Leben und Heil geschenkt hat, das heißt, tue allen Menschen Gutes, ohne jeden Unterschied. Viele mögen diesen Unterschied zwischen den Völkern noch machen und Kriege führen; ein Mensch aber, der den Willen des Vaters erfüllt, tut jedem anderen Gutes, gleich, aus welchem Volk er stammt. Um allen menschlichen Täuschungen zu widerstehen, soll der Mensch nicht an das Fleischliche denken, sondern an das Geistige. Wer verstanden hat, dass sein Leben nur darin besteht, jetzt im Willen des Vaters zu sein, den schrecken weder Entbehrungen, noch Leiden, noch der Tod. Nur der erlangt das wahre Leben, der jederzeit bereit ist, sein fleischliches Leben hinzugeben, um den Willen des Vaters zu erfüllen. Und damit alle verstehen, was das wahre Leben ist, jenes Leben, für das es keinen Tod gibt, hat Jesus gesagt: Das ewige Leben ist nicht als Leben ähnlich dem jetzigen zu verstehen, das es irgendwo und irgendwann geben wird. Das wahre Leben im Willen des Vaters kennt weder Ort noch Zeit. Man darf sich das wahre Leben nicht als zeitliches, persönliches Leben vorstellen. Diejenigen, die zum wahren Leben erwacht sind, leben im Willen des Vaters, für den es weder Zeit noch Ort gibt. Sie leben für den Vater. Für uns mögen sie tot sein, für Gott aber leben sie. Und deshalb schließt ein einziges Gebot alle anderen ein: Liebe mit aller Kraft das Prinzip des Lebens, und darum auch jeden Menschen, der dieses Prinzip in sich trägt. Jesus hat gesagt: Eben dieses Prinzip des Lebens ist der Christus, auf den ihr wartet. Das Verständnis jenes Prinzips des Lebens, für das es keine unterschiedenen Personen, keine Zeit und keinen Ort gibt, ist jener Menschensohn, den ich lehre. Alles, was dieses Prinzip des Lebens vor den Menschen verbirgt, ist Versuchung. Es gibt die Versuchung der Gelehrten, der Altgläubigen – widersteht ihr; es gibt die Versuchungen der weltlichen Macht – widersteht ihnen; und es gibt die schlimmste aller Versuchungen – die der Glaubenslehrer, die sich rechtgläubig nennen. Vor dieser Versuchung hütet euch mehr als vor allen anderen, denn diese selbsternannten Lehrer sind es, die euch mit ihrer erfundenen, falschen Gottesverehrung vom wahren Gott weglocken. Statt dem

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Vater des Lebens durch Werke zu dienen, lehren sie nur Worte, sie sprechen, aber sie tun nichts, deshalb könnt ihr von ihnen nichts lernen als nur Worte. Der Vater aber braucht keine Worte, sondern Werke. Jene können nichts anderes lehren, weil sie selbst nichts wissen und sich nur aus Eigennutz als Lehrer ausgeben. Ihr aber wisst, dass niemand eines anderen Lehrers sein kann. Es gibt nur einen Lehrer für alle – den Herrn des Lebens, das Verständnis. Die selbsternannten Lehrer meinen, sie könnten andere lehren, doch dabei berauben sie sich selbst des wahren Lebens und hindern auch andere, es zu erkennen. Sie sagen, man müsse ihrem Gott durch äußere Rituale dienen, und meinen, man könne durch Schwüre zum Glauben bewegen. Sie kümmern sich nur um Äußerlichkeiten. Ihnen genügt es, dass etwas äußerlich dem Glauben gleicht, aber was in den Herzen der Menschen ist, daran denken sie nicht. Darum sind sie wie geschmückte Särge: außen schön, innen ein Gräuel. In ihren Reden verehren sie Heilige und Märtyrer, dabei gehören sie selbst zu denen, die heute wie früher Heilige töten und foltern. Sie sind der Ausgangspunkt aller Versuchungen in der Welt, weil sie das Böse für das Gute ausgeben. Ihre Versuchung ist die Wurzel aller Versuchungen, weil sie alles verhöhnt haben, was heilig ist in der Welt. Lange noch werden sie sich nicht bekehren, sondern werden ihre Betrügereien fortsetzen und das Böse in der Welt vermehren; doch es kommt die Zeit, da alle Tempel und alle äußere Gottesverehrung zerstört werden, und die Menschen werden verstehen und sich in Liebe vereinigen, sie werden dem einzigen Vater des Lebens dienen und seinen Willen erfüllen.

X. Und führe uns nicht in Versuchung Die Juden sahen, dass die Lehre Jesu zerstörerisch war für Staat, Glauben und Volkstum, zugleich aber sahen sie, dass sie diese Lehre nicht widerlegen konnten, und darum beschlossen sie, Jesus zu töten. Seine Unschuld und Gerechtigkeit ließen sie zögern, doch der Hohepriester Kaiphas ersann einen Grund, warum man Jesus töten müsse, auch wenn er sich in nichts schuldig gemacht hatte. Kaiphas sagte: Nicht ob dieser Mensch ein Gerechter ist oder nicht, müssen wir erörtern, sondern etwas anderes: Wollen wir, dass unser Volk als eigenständiges jüdisches Volk bestehen bleibt, oder wollen wir, dass es untergeht und sich zerstreut. Wenn wir diesen Menschen nicht töten, sondern ihn am Leben lassen, wird das Volk untergehen und sich zerstreuen. Dieser Grund gab den Ausschlag, und die Rechtgläubigen verurteilten Jesus zum Tod und gaben dies dem Volk bekannt, damit er ergriffen würde, sobald er nach Jerusalem käme. Jesus aber ging, obwohl er dies wusste, zum Osterfest nach Jerusalem. Seine Jünger versuchten, ihn davon abzubringen, doch Jesus sprach: Was die

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Rechtgläubigen mit mir tun wollen, und auch alles sonst, was andere Menschen mit mir tun können, kann an der Wahrheit für mich nichts ändern. Wenn ich das Licht sehe, weiß ich, wo ich bin und wohin ich gehe. Nur wer die Wahrheit nicht kennt, kann fürchten und zweifeln. Nur der, der nicht sieht, stolpert. Und er brach auf nach Jerusalem. Unterwegs machte er Halt in Bethanien. In Bethanien goss Maria einen Krug kostbaren Öls über ihn aus. Als die Jünger ihr Vorwürfe machten, warum sie so viel teures Öl über ihn ausgegossen habe, sagte Jesus, der wusste, dass sein fleischlicher Tod unmittelbar bevorstand, die Myrrhe, die sie vergossen habe, bereite seinen Leib zum Sterben vor. Als Jesus Bethanien verließ und nach Jerusalem ging, kam ihm eine Menge Volks entgegen und zog mit ihm, und das überzeugte die Rechtgläubigen umso mehr, dass sie ihn töten müssten. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit, ihn zu ergreifen. Jesus wusste das. Er wusste auch, dass das geringste unvorsichtige Wort, das er jetzt gegen das Gesetz sagen würde, zum Vorwand würde, ihn hinzurichten, und dennoch ging er in den Tempel und verkündete wieder, die herkömmliche Gottesverehrung der Juden mit ihren Opfern und Libationen4 sei falsch, und predigte seine Lehre. Seine Lehre aber beruhte auf den Propheten, und die Rechtgläubigen fanden darin keinen eindeutigen Verstoß gegen das Gesetz, wofür sie ihn dem Tod hätten überantworten können; zudem stand der größte Teil des einfachen Volkes auf Jesu Seite. Doch zum Fest waren auch einige Heiden gekommen; sie hatten von Jesu Lehre gehört und wollten mit ihm darüber sprechen. Als die Jünger davon hörten, erschraken sie. Sie fürchteten, im Gespräch mit den Heiden könne Jesus sich verraten und das Volk gegen sich aufbringen. Sie wollten Jesus zuerst nicht mit den Heiden zusammenbringen, doch dann entschlossen sie sich, ihm vom Wunsch der Heiden zu berichten. Als Jesus dies hörte, wurde er unruhig. Er wusste, dass seine Predigt vor den Heiden seine Ablehnung des ganzen jüdischen Gesetzes offensichtlich machen würde, dass sie die gemeine Menge gegen ihn einnehmen und den Rechtgläubigen einen Vorwand liefern würde, ihn des Umgangs mit den verhassten Heiden zu beschuldigen. Jesus wurde unruhig, da er dies wusste, doch zugleich wusste er auch, dass er ausersehen war, den Menschen, diesen Kindern eines einzigen Vaters, zu erklären, dass sie eins waren, ohne Unterschied der Religionen. Er wusste, dass dieser Schritt sein fleischliches Leben vernichten würde, doch auch, dass die Menschen erst dadurch zum wahren Verständnis des Lebens gelangen würden, und darum sprach er: Wie ein Weizenkorn untergehen muss, um Frucht zu tragen, so muss auch der Mensch sein fleischliches Leben hingeben, um geistige Frucht zu tragen. Wer 4 Trankopfer.

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sein fleischliches Leben bewahrt, der verliert das wahre Leben, wer aber das fleischliche nicht bewahrt, der erlangt das wahre Leben. Ich bin beunruhigt über das, was mir bevorsteht, und doch habe ich immer nur auf diese Stunde hin gelebt, wie sollte ich also jetzt nicht tun, was ich tun muss? Möge der Wille des Vaters in dieser Stunde in mir zutage treten. Und Jesus wandte sich ans Volk – an die Heiden und die Juden – und sagte offen, was er zuvor nur im Geheimen dem Nikodemus gesagt hatte. Er sagte: Das ganze Leben der Menschen mit ihren verschiedenen Religionen und verschiedenen Obrigkeiten muss sich ändern. Alle menschliche Obrigkeit muss zunichte werden. Wenn man begriffen hat, was es heißt, dass der Mensch ein Kind des Vaters des Lebens ist, dann macht allein dieses Verständnis jede von Menschen unternommene Einteilung und jede Obrigkeit zunichte und vereinigt alle Menschen. Die Juden sagten: Du zerstörst unseren ganzen Glauben. Nach unserem Gesetz gibt es einen Christus, du aber sagst, es gibt nur den Menschensohn, und ihn gilt es zu erhöhen. Was bedeutet das? Er antwortete ihnen: Den Menschensohn erhöhen bedeutet, durch jenes Licht des Verstehens zu leben, das die Menschen in sich tragen; solange sie das Licht haben, sollen sie durch dieses Licht leben. Ich lehre keinen neuen Glauben, sondern nur das, was jeder in sich weiß. Und jeder weiß, dass es der Vater des Lebens ist, der ihm und allen Menschen das Leben geschenkt hat. Meine Lehre besteht nur darin, dass man das Leben liebt, das der Vater allen Menschen geschenkt hat. Viele der einfachen Leute glaubten an Jesus; die Bedeutenden und die Würdenträger aber glaubten nicht an ihn, denn sie wollten nicht den ewigen Sinn seiner Worte erwägen, sondern nur die zeitliche Bedeutung seiner Lehre. Sie sahen, dass er ihnen das Volk abspenstig machte, und wollten ihn töten, doch sie wagten nicht, ihn vor aller Augen zu ergreifen, darum wollten sie ihn nicht in Jerusalem und nicht am Tag fassen, sondern irgendwo heimlich. Und einer der zwölf Jünger, Judas Ischariot, kam zu ihnen und sie bestachen ihn, damit er ihren Dienern verrate, wo Jesus sich aufhalte, wenn er einmal nicht von Volk umgeben sei. Judas versprach es ihnen und ging wieder zu Jesus, um einen günstigen Moment abzupassen, in dem er ihn ausliefern wollte. Am ersten Tag des Festes feierte Jesus mit seinen Jüngern Ostern, und Judas, der glaubte, Jesus wisse nichts von seinem Verrat, war mit ihnen. Doch Jesus wusste, dass Judas ihn verkauft hatte, und als sie alle am Tisch saßen, nahm er das Brot, brach es in zwölf Teile und gab jedem der Jünger ein Stück, Judas ebenso wie den anderen, und ohne jemanden beim Namen zu nennen, sagte er: Nehmt und esst meinen Leib. Dann nahm er den Weinkelch und gab ihn an sie weiter, damit alle, auch Judas, daraus tränken, und sagte: Einer unter euch wird mein Blut vergießen. Trinkt mein Blut. Dann stand Jesus auf und wusch allen Jüngern die Füße, auch Judas, und als er fer-

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tig war, sagte er: Ich weiß, dass einer unter euch mich verraten und dem Tod überantworten und mein Blut vergießen wird, doch ich habe ihm zu essen und zu trinken gegeben und ihm die Füße gewaschen. Das habe ich getan, um euch zu lehren, wie ihr mit denen umgehen sollt, die euch Böses zufügen. Wenn ihr so handelt, dann werdet ihr selig sein. Die Jünger aber fragten immer wieder, wer von ihnen der Verräter sei. Doch Jesus nannte ihn nicht, damit sie ihn nicht bestraften. Als es aber dunkel wurde, zeigte er auf Judas und schickte ihn fort. Judas stand auf und lief davon, und keiner hielt ihn zurück. Da sagte Jesus: Das heißt es, den Menschensohn zu erhöhen. Den Menschensohn erhöhen heißt, ebenso gütig wie der Vater zu sein, nicht nur zu denen, die uns lieben, sondern zu allen, auch zu denen, die uns Böses zufügen. Darum sollt ihr nicht meine Lehre erörtern und zergliedern, wie die Rechtgläubigen es getan haben, sondern das tun, was ich bis heute und auch jetzt vor euch getan habe. Nur ein Gebot gebe ich euch: Liebt die Menschen. Meine ganze Lehre besteht nur darin, die Menschen immer und vollkommen zu lieben. Darauf wurde Jesus von Angst ergriffen, und in der Nacht ging er mit seinen Jüngern in einen Garten, um sich zu verstecken. Auf dem Weg sagte er ihnen: Ihr alle seid nicht standhaft, ihr seid verzagt; wenn sie kommen um mich zu ergreifen, werdet ihr alle fliehen. Darauf sagte Petrus ihm: Nein, ich verlasse dich nicht, ich will dich verteidigen, und wenn es mich das Leben kostet. Und die anderen Jünger sagten dasselbe. Da sagte Jesus: Wenn es so ist, macht euch bereit zur Verteidigung, nehmt Vorräte mit, denn wir werden uns verstecken müssen, und Waffen, um euch zu verteidigen. Die Jünger sagten, sie hätten zwei Messer. Als Jesus sie von Messern reden hörte, wurde er tief betrübt. Er entfernte sich, um zu beten, und ermahnte die Jünger, dasselbe zu tun; doch die Jünger verstanden ihn nicht. Jesus sagte: Mein Vater, Geist! Mach dem Kampf der Anfechtung in mir ein Ende. Bestärke mich in der Erfüllung deines Willens, denn ich will nicht meinen eigenen Willen tun und mein fleischliches Leben verteidigen, sondern ich will deinen Willen tun und dem Bösen nicht widerstehen. Die Jünger verstanden ihn noch immer nicht. Da sagte er ihnen: Denkt nicht an das Fleischliche, sondern versucht, euch geistig aufzurichten: Die Kraft ist im Geist, das Fleisch ist schwach. Und er sagte ein zweites Mal: Mein Vater! Wenn sich das Leiden nicht umgehen lässt, so sei es; doch auch im Leiden ist mein einziger Wunsch, dass nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. Die Jünger verstanden nicht. Und wieder kämpfte er mit der Anfechtung, und als er sie schließlich überwunden hatte, ging er zu seinen Jüngern und sagte: Nun ist es entschieden, ihr könnt beruhigt sein, ich werde nicht kämpfen, sondern mich den Menschen dieser Welt ausliefern.

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XI. Sondern erlöse uns von dem Bösen Als Jesus fühlte, dass er zum Sterben bereit war, machte er sich auf den Weg, um sich auszuliefern. Petrus hielt ihn zurück und fragte, wohin er gehe. Jesus antwortete: Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir nicht folgen. Ich bin bereit zu sterben, du aber bist noch nicht bereit. Petrus sagte: Doch, ich bin jetzt schon bereit, mein Leben für dich hinzugeben. Jesus antwortete: Der Mensch kann keine Versprechen geben. Und er sagte zu allen Jüngern: Ich weiß, dass ich sterben werde, doch ich glaube an das Leben des Vaters, darum fürchte ich den Tod nicht. Auch ihr sollt euch keine Sorgen um meinen Tod machen, sondern an den wahren Gott, den Vater des Lebens glauben, dann wird mein Tod euch nicht schrecken. Wenn ich mit dem Vater des Lebens vereint bin, dann kann ich das Leben nicht verlieren. Es ist wahr, dass ich euch nicht sage, wie, wo und wann mein Leben nach dem Tod sein wird, doch ich zeige euch den Weg zum wahren Leben. Meine Lehre handelt nicht davon, wie das künftige Leben sein wird, sondern sie offenbart den einzig wahren Weg des Lebens. Sie lehrt, sich mit dem Vater zu vereinigen. Der Vater aber ist das Prinzip des Lebens. Meine Lehre besteht darin, im Willen des Vaters zu leben und seinen Willen zu erfüllen, zum Leben und Heil aller Menschen. Wenn ich nicht mehr bin, soll das Wissen um die Wahrheit euer Meister sein. Wenn ihr meine Lehre erfüllt, werdet ihr immer spüren, dass ihr in der Wahrheit seid, dass der Vater in euch ist und ihr im Vater seid. Und solange ihr wisst, dass der Vater des Lebens in euch ist, werdet ihr eine Ruhe empfinden, die euch niemand nehmen kann. Solange ihr also die Wahrheit kennt und in ihr lebt, kann euch weder mein Tod noch euer eigener beunruhigen. Die Menschen meinen, sie seien einzelne Wesen, jedes mit seinem individuellen Lebenswillen; doch das ist nur Täuschung. Das einzig wahre Leben ist das, welches als Anfang, als Prinzip des Lebens den Willen des Vaters erkennt. Meine Lehre offenbart diese Einheit des Lebens und zeigt das Leben nicht in Gestalt einzelner Schösslinge, sondern als einen Baum, an dem all die Schösslinge wachsen. Nur wer im Willen des Vaters lebt wie ein Schössling an einem Baum, nur der lebt, wer aber wie ein abgerissener Schössling nach seinem eigenen Willen leben will, der stirbt. Solange ihr im Willen des Vaters lebt, werdet ihr alles haben, was ihr wollt, weil das Leben den Menschen zu ihrem Heil gegeben ist. Der Vater hat mir das Leben zu meinem Heil gegeben, und ich habe euch gelehrt, zu eurem Heil zu leben. Solange ihr meine Gebote erfüllt, werdet ihr selig sein. Das eine Gebot, das meine ganze Lehre ausdrückt, ist, dass alle Menschen einander lieben sollen. Die Liebe aber besteht darin, dass man sein fleischliches Leben für den anderen opfert. Eine andere Definition von Liebe gibt es nicht. Und wenn ihr mein Gebot der Liebe erfüllt, so werdet ihr

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dies nicht wie Sklaven tun, die den Befehl ihres Herrn ausführen, ohne ihn zu verstehen, sondern ihr werdet wie freie Menschen leben, so wie ich, weil ich euch den Sinn des Lebens erklärt habe, der sich aus dem Wissen um den Vater des Lebens ergibt. Ihr habt meine Lehre nicht deshalb angenommen, weil eure Wahl zufällig darauf fiel, sondern weil sie die einzige wahre Lehre ist, und weil sie die Menschen frei macht. Die Lehre der Welt besteht darin, den Menschen Böses zuzufügen; meine Lehre aber besteht darin, einander zu lieben; darum wird die Welt euch ebenso hassen, wie sie mich hasst. Die Welt versteht meine Lehre nicht, darum wird sie euch verfolgen und euch Böses zufügen, denn sie meint, damit Gott zu dienen. Wundert euch nicht darüber, sondern versteht, dass es so sein muss. Eine Welt, die den wahren Gott nicht versteht, kann nicht anders als euch zu verfolgen, und ihr könnt nicht anders als die Wahrheit zu sagen. Ihr seid bekümmert, weil man mich töten wird, doch man tötet mich dafür, dass ich die Wahrheit sage. Darum ist mein Tod notwendig, damit die Wahrheit sich durchsetzt. Wenn ich sterbe und dabei nicht von der Wahrheit abweiche, so wird euch das festigen und ihr werdet erkennen, was Lüge und was Wahrheit ist, und was aus dem Wissen um Lüge und Wahrheit folgt. Ihr werdet erkennen, dass die Lüge im Glauben der Menschen an das fleischliche Leben statt an das Leben des Geistes liegt; dass die Wahrheit in der Vereinigung mit dem Vater liegt, und dass daraus der Sieg des Geistes über das Fleisch folgt. Auch wenn ich im fleischlichen Leben nicht mehr da bin, wird mein Geist bei euch sein. Doch wie alle Menschen werdet auch ihr die Kraft des Geistes nicht immer in euch spüren. Manchmal werdet ihr schwach werden, ihr werdet die Kraft des Geistes verlieren und den Anfechtungen nachgeben, und manchmal werdet ihr wieder zum wahren Leben erwachen. Ihr werdet Momente der Unterjochung durch das Fleisch erfahren, doch das wird vorübergehen; ihr werdet leiden und geistig wiedergeboren werden, wie eine Frau in den Wehen der Geburt leidet, dann aber die Freude spürt, einen Menschen zur Welt gebracht zu haben; dasselbe werdet ihr erfahren, wenn euer Geist sich nach der Unterjochung durch das Fleisch wieder aufrichtet. Dann werdet ihr solche Glückseligkeit verspüren, dass euch nichts zu wünschen bleibt. Dies sollt ihr im Voraus wissen, und trotz aller Verfolgungen, aller inneren Kämpfe und aller Mutlosigkeit sollt ihr wissen, dass der Geist in euch lebt und dass der einzige wahre Gott das Verständnis des Willens des Vaters ist, das ich offenbart habe. Und Jesus wandte sich an den Geist-Vater und sagte: Ich habe getan, was du mir befohlen hast, ich habe den Menschen offenbart, dass du der Anfang aller Dinge bist. Und sie haben mich verstanden. Ich habe sie gelehrt, dass sie alle aus dem einen Anfang, dem Prinzip des unendlichen Lebens stammen und darum alle eins sind, dass so, wie der Vater in mir ist und ich im Vater bin, auch sie eins mit mir und mit dem Vater sind. Ich habe ihnen auch of-

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fenbart, dass so, wie du sie liebend in die Welt gesandt hast, auch sie in der Welt durch die Liebe leben sollen.

XII. Denn dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit Als Jesus seine Rede an die Jünger beendet hatte, stand er auf, und statt zu fliehen oder sich zu verteidigen, ging er Judas entgegen, der die Soldaten hergeführt hatte, damit sie ihn ergriffen. Jesus trat auf ihn zu und fragte, weshalb er gekommen sei. Doch Judas antwortete nicht, und die Schar der Soldaten umringte Jesus. Petrus stürzte herbei, um seinen Lehrer zu verteidigen, zog ein Messer und wollte kämpfen; doch Jesus gebot ihm Einhalt; er sagte, wer mit dem Messer kämpfe, werde auch selbst durch das Messer sterben, und befahl ihm, das Messer abzugeben. Dann sagte Jesus denen, die gekommen waren, um ihn zu ergreifen: Früher ging ich allein unter euch umher und habe mich nicht gefürchtet, also fürchte ich euch auch jetzt nicht, sondern gebe mich in eure Hände. Ihr könnt tun, was ihr wollt. Und da alle Jünger geflohen waren, blieb Jesus allein zurück. Der Anführer der Soldaten befahl, Jesus zu fesseln und zu Hannas zu bringen. Hannas war früher Bischof5 gewesen und lebte im selben Haus wie Kaiphas. Kaiphas aber war der neue Bischof. Eben dieser Kaiphas hatte den Grund erdacht, aus dem sie Jesus töten wollten: Wenn man ihn nicht töte, werde das ganze Volk untergehen. Jesus fühlte, dass er im Willen des Vaters war, deshalb war er bereit zu sterben und widersetzte sich nicht, als sie ihn ergriffen, und fürchtete sich nicht, als sie ihn wegführten; Petrus aber, der Jesus eben noch versprochen hatte, ihn nicht zu verleugnen und lieber für ihn zu sterben, ebenjener Petrus, der Jesus hatte verteidigen wollen, bekam jetzt, da er sah, wie sie Jesus zur Hinrichtung führten, Angst, dass man auch ihn hinrichten würde, und auf die Fragen der Knechte, ob nicht auch er mit Jesus gewesen sei, verleugnete er ihn und entfernte sich, und erst später, als der Hahn krähte, begriff Petrus, was Jesus ihm gesagt hatte. Er begriff, dass es zwei Versuchungen des Fleisches gibt: die Angst und die Gewalt, und dass es diese Versuchungen waren, gegen die Jesus angekämpft hatte, als er im Garten betete und die Jünger aufforderte, es ihm gleichzutun. Nun war Petrus beiden Versuchungen erlegen, vor denen Jesus ihn gewarnt hatte: Er hatte die Wahrheit mit Gewalt verteidigen, hatte sich schlagen und Böses tun wollen, und er hatte die Angst vor dem fleischlichen Leiden nicht ertragen und seinen Lehrer verleugnet. Jesus hatte sowohl der Versuchung der Gewalt widerstanden, als die Jünger 5 Die biblische Bezeichnung »Hohepriester« wird von Tolstoj konsequent durch den russischen Ausdruck »Bischof« ersetzt.

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zwei Messer zu seiner Verteidigung bereithielten, als auch der Versuchung der Angst – vor den Menschen in Jerusalem, vor den Heiden ebenso wie vor den Soldaten, als sie ihn fesselten und vor Gericht führten. Jesus wurde zu Kaiphas gebracht. Kaiphas begann, ihn zu verhören, worin seine Lehre bestehe. Doch Jesus wusste, dass Kaiphas ihn nicht fragte, um etwas über seine Lehre zu erfahren, sondern nur, um ihn anzuklagen, darum antwortete er nicht, sondern sagte: Ich habe nichts verborgen und verberge auch jetzt nichts, wenn du wissen willst, was meine Lehre ist, frage die, welche sie gehört und verstanden haben. Dafür schlug ihn der Wächter des Bischofs auf die Wange, und Jesus fragte ihn, warum er ihn schlage. Der Wächter aber antwortete nicht, und der Bischof fuhr fort, Gericht zu halten. Zeugen wurden vorgeführt, und die Zeugen sagten aus, Jesus habe sich gerühmt, er habe den jüdischen Glauben zerstört. Und die Bischöfe befragten Jesus, er aber sah, dass sie ihn nicht fragten, um etwas zu erfahren, sondern nur, um den Anschein eines gerechten Prozesses zu wahren, und antwortete nicht. Da fragte der Bischof ihn: Sag mir, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes? Jesus sagte: Ja, ich bin ein Mensch und Sohn Gottes, und jetzt, da ihr mich quält, werdet ihr sehen, dass der Mensch Gott gleich sein kann. Der Bischof freute sich über diese Worte und sagte zu den anderen Richtern: Genügt das, um ihn zu verurteilen? Und die Richter sagten: Ja, wir verurteilen ihn zum Tode. Und nachdem sie das gesagt hatten, stürzte sich das ganze Volk auf Jesus und begann ihn zu schlagen, ihm ins Gesicht zu spucken und ihn zu verhöhnen. Er aber schwieg. Die Juden hatten nicht das Recht, Todesurteile zu vollstrecken; sie brauchten die Erlaubnis des römischen Landeshauptmanns,6 darum brachten sie Jesus, nachdem sie ihr eigenes Urteil gesprochen und ihn verhöhnt hatten, zum Landeshauptmann Pilatus, damit er ihn hinrichten lasse. Pilatus fragte, weshalb sie ihn töten wollten. Sie sagten: Weil er ein böser Mensch ist. Pilatus sagte: Wenn er ein böser Mensch ist, so richtet nach eurem Gesetz über ihn. Sie sagten: Wir wollen, dass du ihn hinrichten lässt, weil er schuldig ist vor dem römischen Kaiser: Er ist ein Rebell, er wiegelt das Volk auf, er verbietet ihm, Abgaben an den Kaiser zu zahlen und er nennt sich König der Juden. Pilatus rief Jesus zu sich und sagte: Was hat das zu bedeuten, dass du der König der Juden bist? Jesus sagte: Willst du wirklich wissen, was mein Reich bedeutet? Oder befragst du mich nur zum Schein? Pilatus sagte: Ich bin kein Jude, mir ist es gleichgültig, ob du dich König der Juden nennst, ich frage dich aber, was du für ein Mensch bist und warum sie sagen, du seiest ein König? Jesus sagte: Es ist wahr, dass ich mich König nenne. Ich bin wirklich ein 6 Auch hier vermeidet Tolstoj konsequent die historisch-biblische Bezeichnung »Statthalter« oder »Präfekt«, die er durch den russischen »Landeshauptmann« ersetzt, der dem Erfahrungshorizont seines (idealen) Lesers besser entspricht.

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König, doch mein Reich ist kein irdisches, sondern ein himmlisches. Irdische Könige kämpfen und ziehen in Schlachten, sie haben Heere, ich aber bin gefesselt und geschlagen worden, wie du siehst, und ich habe mich nicht gewehrt. Ich bin ein himmlischer König, allmächtig im Geist. Pilatus sagte: Dann ist es also wahr, dass du dich für einen König hältst? Jesus sagte: Du weißt es selbst. Jeder, der in der Wahrheit lebt, ist frei und darum ein König. Nur dafür lebe und lehre ich, um den Menschen diese Wahrheit zu offenbaren, dass sie im Geist frei sind. Pilatus sagte: Du lehrst Wahrheit, doch was die Wahrheit ist, weiß niemand, jeder hat seine eigene Wahrheit – und nach diesen Worten wandte er sich ab und ging von Jesus wieder zu den Juden. Pilatus trat vor die Juden und sagte: Ich habe kein Verbrechen an diesem Menschen gefunden. Weshalb wollt ihr ihn hinrichten? Die Bischöfe sagten: Er muss hingerichtet werden, weil er das Volk aufrührt. Da verhörte Pilatus Jesus vor den Bischöfen; Jesus aber, der sah, dass dies nur der Form halber geschah, antwortete nicht. Da sagte Pilatus: Ich allein kann ihn nicht verurteilen; bringt ihn zu Herodes. Auch vor dem Gericht des Herodes antwortete Jesus nichts auf die Anschuldigungen der Bischöfe, und Herodes, der Jesus für einen törichten Menschen hielt, befahl, ihm zum Spott rote Gewänder anzulegen und schickte ihn zurück zu Pilatus. Pilatus hatte Mitleid mit Jesus; er versuchte, die Bischöfe zu überreden, dass sie Jesus um des Festes willen vergeben sollten, doch die Bischöfe gaben nicht nach, alle riefen, Jesus solle gekreuzigt werden, und auch das Volk stimmte ein. Pilatus versuchte ein zweites Mal, sie zu überreden, Jesus freizulassen, doch die Bischöfe und das Volk riefen, er müsse unter allen Umständen hingerichtet werden. Sie sagten: Er ist schuldig, denn er sagt, er sei Gottes Sohn. Pilatus rief wieder Jesus und fragte ihn: Was hat das zu bedeuten, dass du dich Gottes Sohn nennst? Wer bist du? Jesus antwortete nichts. Da sagte Pilatus: Wie kannst du mir nicht antworten, da ich doch die Macht habe, dich hinzurichten oder freizulassen? Jesus antwortete: Du hast keine Macht über mich. Alle Macht kommt von oben. Und zum dritten Mal versuchte Pilatus, die Juden zu überreden, sie sollten Jesus freilassen, sie aber sagten ihm: Wenn du diesen Menschen nicht hinrichtest, den wir dir als Aufrührer gegen den Kaiser angezeigt haben, dann bist du selbst kein Freund, sondern ein Feind des Kaisers. Als er dies hörte, fügte Pilatus sich und befahl, Jesus hinzurichten. Zuvor aber ließ er ihn entkleiden und auspeitschen, und dann das Narrengewand wieder anlegen; und Jesus wurde geschlagen, verspottet und beschimpft. Dann gab man ihm sein Kreuz zu tragen und führte ihn auf den Richtplatz, und dort wurde er ans Kreuz geschlagen. Als Jesus am Kreuz hing, verhöhnte ihn das ganze Volk. Als Antwort darauf sprach er: Vater! Sei gnädig mit ihnen, sie wissen nicht, was sie tun. Und dann, als er dem Tod schon nahe war, sprach er: Mein Vater! In deine Gewalt gebe ich meinen Geist. Und er senkte den Kopf und verschied.

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Das Wunder der Auferstehung Christi (aus dem Buch Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien)

Die folgende Betrachtung über das Wunder der Auferstehung bildet den Schluss von Tolstojs Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien. Dieses 1879–1881 entstandene Werk erschien erstmals 1892–1894 in Genf (in drei Bänden). 1901 veröffentlichte Cˇertkov in England eine Kompilation der Vereinigung und Übersetzung und der Kurzen Darlegung. Eine erste textologisch zuverlässige Fassung erschien 1906–1907 (der erste Band noch in England, die beiden weiteren aufgrund der Lockerung der Zensurgesetze nach der Revolution von 1905 schon in Russland 1907). Diese Ausgabe wurde allerdings nach einem längeren juristischen Prozess 1912 in Russland wieder verboten und ein Großteil der Auflage wurde beschlagnahmt und vernichtet. Die Schlussbetrachtung über das Wunder der Auferstehung erscheint hier erstmals in deutscher Sprache. Die Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 24: 790–798). Der Titel stammt von den Herausgebern.

Wer Jesu Göttlichkeit darin sah, dass er nicht wie andere Menschen war, für den mochte seine Auferstehung überzeugend wirken, d.h. sie mochte beweisen, dass er nicht wie alle Menschen war, aber eben nur dies und nichts darüber hinaus; selbst das galt aber nur für jene, die gesehen hatten, wie Jesus starb, die sich überzeugt hatten, dass er tot war, und ihn danach lebendig sahen und sich überzeugten, dass er lebte. Solche Menschen allerdings gab es nach der Beschreibung der Evangelisten nicht; nach dieser Beschreibung erschien Jesus wie ein Traum, wie eine Vision. Doch angenommen, er wäre in Fleisch und Blut erschienen und Thomas hätte die Finger in seine Wunden gelegt1 – was hätte das Thomas gezeigt? Dass Jesus kein Mensch wie andere war. Aber was folgt daraus, dass er kein Mensch wie andere war? Nur, dass es für Menschen, die sind wie alle anderen, sehr schwer oder unmöglich ist, dasselbe zu tun wie ein so besonderes Wesen. Doch selbst wenn es nötig gewesen wäre, die Menschen davon zu überzeugen, dass Jesus nicht wie andere war, hätte sein Erscheinen vor Thomas und vor zehn und vor fünfhundert weiteren Menschen nicht alle überzeugen können, jene, die die Auferstehung nicht gesehen hatten; die Jünger erzählten zwar von der Auferstehung, aber erzählen kann man alles; damit man ihren Erzählungen glaubte, mussten sie deren Wahrheit irgendwie bekräftigen. Also erzählen die Jünger, um die Wahrheit ihrer Erzählung zu bekräftigen, es seien Feuerzungen auf sie niedergefahren und sie selbst hätten 1 Vgl. Joh 20,27f.

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Wunder vollbracht, Kranke geheilt und Tote auferweckt;2 und eben dies – die Feuerzungen, die Auferweckung der Toten und Heilung der Kranken – bekräftigen die Jünger der Jünger mit wieder neuen Wundern, und so geht es fort bis zum heutigen Tag mit heilenden, vom Tode erweckenden Reliquien und Heiligen, so dass es schließlich aussieht, als beruhe Christi Göttlichkeit auf Erzählungen von ungewöhnlichen Ereignissen. Diese Erzählungen von ungewöhnlichen Ereignissen wiederum beruhen auf Erzählungen von weiteren ungewöhnlichen Ereignissen, und bei diesen letzten ungewöhnlichen Ereignissen waren keine Menschen mit gesundem Verstand anwesend. Aber gut, nehmen wir an, Christus ist auferstanden, hat sich gezeigt und ist in den Himmel geflogen: Wozu hat er das getan, hat es irgendetwas erklärt? Nichts. Hat es seiner Lehre etwas hinzugefügt? Auch das nicht, mit Ausnahme der Notwendigkeit, neue überflüssige Wunder zu erfinden, um dieses erste überflüssige und erfundene Wunder zu bekräftigen. Die Lehre von Christi Leben haben wir vor seiner Auferstehung gesehen und gelesen und wir lesen sie weiter, und noch an den verderbtesten Stellen dieser Lehre leuchtet das Licht jener Wahrheit, die er der Welt verkündet hat. So primitiv das Verständnis der Evangelien-Abschreiber von der Lehre auch war, sie geben doch Worte und Taten des Menschen Jesus wieder, und ihr Licht blendet uns. Was aber kommt nach der Auferstehung zu dieser Lehre hinzu? Was hat Christus nach der Auferstehung getan und gesagt? Aus irgendeinem Grund erscheint er Maria Magdalena, der er sieben Dämonen ausgetrieben hat, und sagt ihr, sie solle ihn nicht berühren, weil er noch nicht zu seinem Vater aufgefahren sei.3 Dann erscheint er anderen Frauen und sagt, er werde anschließend zu seinen Brüdern kommen.4 Dann erscheint er den Jüngern und legt ihnen, bei Mose beginnend, etwas in der Schrift aus.5 Und bald sehen sie ihn, bald sehen sie ihn nicht. Dann erscheint er den Jüngern, wirft ihnen vor, dass sie nicht glauben, zeigt ihnen seine Flanke und bläst sie an, und das soll bewirken, dass dem seine Sünden erlassen werden, dem die Jünger sie erlassen.6 Dann erscheint er Thomas und sagt wieder nichts.7 Dann fischt er und fängt viele Fische mit seinen Jüngern und brät sie, und zu Petrus sagt er dreimal: Hüte meine Schafe, und sagt ihm seinen Tod voraus.8 Dann erscheint er 500 Brüdern zugleich und sagt wieder 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Apg 2,3.43; 3,6–8; 5,12–16; 20,9–12. Vgl. Joh 20,11–18. Vgl. Mk 16,9f; Mt 28,9f. Vgl. Lk 24,13–27.44f. Vgl. Joh 20,19–23. Vgl. Joh 20,24–28. Vgl. Joh 21,1–19.

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nichts.9 Dann sagt er, ihm sei die Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben, und deshalb sollten die Menschen gebadet werden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes, und wer badet, werde selig werden, und die Jünger und die, denen sie diesen Geist weitergeben, würden Schlangen mit Händen vertreiben und Gift trinken ohne Schaden, und alle Sprachen sprechen, was sie ganz offensichtlich weder damals taten noch heute tun.10 Und dann flog er in den Himmel.11 Weiter sagte er nichts. Dafür soll er also auferstanden sein, nur um all diese Dummheiten zu tun und zu sagen. Fassen wir zusammen: 1) Die Auferstehung lässt sich wie jede Erzählung von Dingen, die man nicht verstehen kann, nicht beweisen. 2) Die Auferstehung, wenn sie denn einer gesehen hat, beweist wie jedes Wunder nur, dass etwas geschehen ist, das den Gesetzen der Vernunft widerspricht, und dass dem Menschen, dem das Wunder widerfahren ist, etwas Ungewöhnliches widerfahren ist – weiter nichts. Wenn man aber aus dem Wunder schließt, dass der Mensch, der nicht den Gesetzen der Vernunft unterliegt, ein ungewöhnlicher Mensch ist, so hat auch dieser Schluss nur für diejenigen Gültigkeit, die das Wunder schauen und solange sie es schauen. Die bloße Erzählung von einem Wunder dagegen überzeugt niemanden, also muss man ihre Wahrheit mit einem Wunder bekräftigen, das dem Erzähler geschehen ist. Die Bekräftigung der Wahrheit eines Wunders durch ein anderes Wunder aber führt unausweichlich dazu, dass immer neue Wunder erfunden werden, um die Wahrhaftigkeit des Erzählers zu bekräftigen, und so geht es fort bis in unsere Zeit, da wir klar sehen, dass es keine Wunder gibt, und dass darum das vergangene Wunder ebenso erfunden sein muss wie das Wunder von heute. Die Erzählung vom Wunder der Auferstehung Christi verrät ihre Unwahrheit vor allem dadurch, dass sie sich in ihrer Plattheit und Armseligkeit, ja ihrer Dummheit scharf von der gesamten vorangegangenen Beschreibung des Lebens Christi abhebt und damit klar zeigt, dass die Erzählung vom Leben Christi auf dessen wirklichem, von Tiefe und Heiligkeit erfüllten Leben gründet, während die Erzählung von seiner Auferstehung und seinen angeblichen Taten und Worten danach keine lebendige Grundlage mehr hat, sondern vollständig erfunden ist. So primitiv und platt die Beschreibung des Lebens Christi oft ist, die Heiligkeit seines Lebens und die Erhabenheit seiner Person schimmern durch die Primitivität und Plattheit der Autoren hindurch; wenn aber der Beschreibung nichts Wirkliches mehr zugrunde liegt, sondern nur noch die Erfindungen der Autoren, dann treten deren Plattheit und Primitivität nackt hervor. Jesus 9 Vgl. 1 Kor 15,6. 10 Vgl. Mt 28,18–20; Mk 16,16–18; Apg 1,4–8. 11 Vgl. Lk 24,51; Apg 1,9–11.

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auferstehen zu lassen war eines, aber Worte und Taten für ihn zu finden, die seiner würdig wären, das haben sie offenkundig nicht vermocht. 3) Das Wunder der Auferstehung läuft der Lehre Christi direkt zuwider; eben deshalb war es schwer, Jesus nach der Auferstehung Worte in den Mund zu legen, die zu ihm passten, weil allein die Vorstellung, er hätte auferstehen können, dem ganzen Sinn seiner Lehre diametral entgegengesetzt ist. Man muss rein gar nichts von seiner Lehre begriffen haben, um seine körperliche Auferstehung für möglich zu halten. Er hat diese Auferstehung vielmehr ausdrücklich geleugnet und erklärt, wie die Auferstehung, von der die Juden sprachen, zu verstehen sei (Lk 20,37–38). Dass die Toten auferstehen, sagte er, habe auch Moses den Juden gedeutet in dem Busch, als er Gott den Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs nannte; Gott sei kein Gott der Toten, sondern ein Gott der Lebenden. Für Gott seien alle lebendig.12 – Er sagte: Der Geist ist’s, der belebt; das Fleisch ist nichts nütze.13 – Er sagte: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist.14 – Er sagte: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.15 – Er sagte: Ich bin die Auferstehung und das Leben.16 Er lehrte, er sei das, was Gott in die Welt gesandt habe, um den Menschen das Leben zu geben; das, was belebt; das, was der Geist ist; das, was nicht stirbt; das, was als Geist der Wahrheit zu den Menschen zurückkehrt – und all das fassten sie so auf, dass er körperlich auferstehen würde. Tatsächlich, was konnte dieser Jesus, der sich freute, zum Vater heimzukehren, dieser Jesus, der im Sterben sagte: »Ich befehle meinen Geist in deine Hände«,17 was konnte er tun und sagen, wenn man sich ihn körperlich auferstanden vorstellte? Offensichtlich nur Dinge, die seiner eigenen Lehre widersprachen. Und so war es auch. Die Legende von der Auferstehung, die in den letzten Kapiteln der Evangelien dargestellt wird und die nicht auf Christi Leben und Worten gründet, sondern allein auf den Anschauungen der Evangelien-Abschreiber, ist insofern bemerkenswert und lehrreich, als diese Kapitel deutlich zeigen, wie dick jene Schicht von Unverständnis ist, die die gesamte Beschreibung von Jesu Leben und Lehre bedeckt – so, wie wenn ein wertvolles Gemälde mit einer Schicht Farbe übermalt wäre, und an den Stellen, wo die Farbe auf die nackte Wand geraten ist, wäre klar erkennbar, wie dick die Schicht auch über dem Gemälde selbst ist. Die Geschichte der Auferstehung liefert den Schlüssel zum Verständnis all der Wunder, von denen die Evangelien überquellen, und 12 13 14 15 16 17

Lk 20,37f. Joh 6,63. Joh 6,33–35. Joh 14,6. Joh 11,25. Lk 23,46.

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der widersprüchlichen Worte und Begriffe, die oft den Sinn der besten Stellen der Lehre zunichte machen. Wer die vier Evangelien geschrieben hat, ist nicht bekannt, und die historische Kritik ist inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass wir es nie erfahren werden. Man kann mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen über Zeit, Ort und Personen anstellen; Vermutungen darüber, welche Evangelien oder welche Teile davon von welchen abgeschrieben sind, doch ihr Ursprung bleibt unbekannt. Die historische Authentizität der Evangelien können wir nicht beurteilen, die Eigenschaften der Bücher aber sehr wohl – wir können beurteilen, was zur Grundlage der christlichen Religionen wurde und was auf diese Religionen keinen Einfluss hatte. So betrachtet sehen wir in den Evangelien zwei scharf unterschiedene Teile: zum einen die Darstellung der Lehre, zum anderen den Versuch, die Wahrheit oder vielmehr die Wichtigkeit der Lehre zu beweisen, und zwar durch Wunder, Prophezeiungen und Weissagungen. Zu diesem Teil gehören alle Wunder und auch das wichtigste von ihnen: die Auferstehung. Anhand der Beschreibung der Auferstehung als eines erfundenen Ereignisses ohne jede Grundlage lässt sich am besten nachvollziehen, wie solche Legenden entstehen und warum sie geglaubt werden, welches ihre Darstellungsformen, ihre Bedeutung und ihre Folgen sind. Der Ursprung der Auferstehungslegende war ein Prüfstein für die Wahrhaftigkeit der Autoren (mit Ausnahme von Lukas), und dieser Ursprung ist in den Evangelien selbst so klar beschrieben, dass ein unvoreingenommener Mensch gar nicht umhin kann, den ganz natürlichen Keim der Legende zu sehen – einer Legende, wie sie auch in unserem Umkreis in Erzählungen von wundertätigen Reliquien, Helden und Zauberern täglich neu entstehen. Die Geschichten und Zeitungsberichte über den Spiritismus,18 über jenes tote Mädchen, das sich materialisiert und getanzt haben soll, sind viel genauer und sicherer erzählt als die Geschichte der Auferstehung. Wie diese Legende entstanden ist, könnte klarer nicht sein. Am Samstag ging man zum Grab. Die Leiche war nicht da. Der Evangelist Johannes erzählt selbst, dass es hieß, die Jünger hätten die Leiche herausgeholt. Die Frauen gingen also zum Grab, unter ihnen die Besessene Maria, der man sieben Dämonen ausgetrieben hatte, und sie war die erste, die erzählte, sie habe etwas am Grab gesehen: Vielleicht einen Gärtner, vielleicht einen Engel, vielleicht aber auch ihn selbst. Die Geschichte wird von einem Klatschmaul zum nächsten weiter getragen und er18 Der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland aufkommende Spiritismus interessierte Tolstoj, der auch selbst spiritistische Sitzungen besuchte. In Anna Karenina liefert der Spiritismus Gesprächsstoff für die adlige Petersburger Gesellschaft, im Drama Früchte der Aufklärung (1890) dient dieser modische Zeitvertreib der besseren (und gelangweilten) Gesellschaft Tolstoj nur noch als Zielscheibe des Spotts.

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reicht auch die Jünger. Achtzig Jahre später erzählt man sich bereits, dieser und jener hätte ihn wirklich gesehen, aber alle Erzählungen sind verworren und ungenau. Dass von den Jüngern keiner etwas erfindet, ist offensichtlich, doch wagt auch keiner von jenen, die Jesu Andenken ehren, Widerspruch zu erheben gegen etwas, das ihrem Verständnis nach zu seinem Ruhm beiträgt, und vor allem dazu, andere zu überzeugen, dass er von Gott gesandt ist, dass Gott ihn liebt und ihm zu Ehren ein Zeichen gesetzt hat. Sie glauben, dies sei der beste Beweis, und so wächst die Legende und verbreitet sich. Die Legende trägt zur Verbreitung der Lehre bei, doch die Legende ist Lüge, während die Lehre Wahrheit ist. Und darum wird die Lehre nicht mehr in ihrer ganzen Reinheit und Wahrheit weitergegeben, sondern mit der Lüge vermischt. Eine Lüge zieht zu ihrer Bestätigung die nächste Lüge nach sich. Neue Wunderlegenden werden erfunden, um die erste Lügenlegende zu bestätigen. Es entstehen Legenden über die Wunder der Nachfolger Christi und über Wunder vor seiner Zeit: über seine Zeugung, seine Geburt, sein ganzes Leben, und die Lehre vermischt sich immer mehr mit der Lüge. Die ganze Darstellung seines Lebens und seiner Lehre überzieht sich mit der groben Farbschicht des Wunderbaren, das die Lehre verdunkelt. Neue Gläubige schließen sich dem Glauben Christi nicht mehr so sehr wegen seiner Lehre an, sondern vielmehr, weil sie an das Wunderbare seines Lebens und Tuns glauben. Es beginnt jene furchtbare Zeit, in der der Begriff Glaube nicht mehr den Glauben meint, von dem Christus sprach (  «, die innere Notwendigkeit einer Überzeugung, die zur Lebensgrundlage wird), sondern einen Glauben, der aus einer Willensanstrengung kommt, einer, über den man sagen kann: Ich befehle zu glauben, ich will glauben, du musst glauben. Es beginnt die Zeit, da all die falschen Legenden die Lehre verdrängen, sich zu einem Ganzen verbinden und ihre Form und ihren Ausdruck als »Dogma« finden, d.h. als Verordnung. Die Masse, die primitive Masse übernimmt die Kontrolle über die Lehre, übertüncht sie mit Lügenlegenden und verdunkelt sie. Doch trotz aller Anstrengungen dieser Masse gibt es Auserwählte, die die Wahrheit durch allen Schmutz der Lüge hindurch sehen und sie in ihrer ganzen Reinheit durch die Jahrhunderte und alle lügenhaften Bestrebungen hindurchtragen, und auf diese Weise kommt die Lehre zu uns. Wer immer heute das Evangelium liest, sei er Katholik oder Protestant, Orthodoxer oder Molokane, Stundist, Chlyst,19 Skopze20 oder Rationalist, befindet sich in ei19 Bei den Chlysten, die sich selbst »Leute Gottes« nannten, handelt es sich um eine häretische Gemeinschaft, die sich in Russland gegen Ende des 17. Jahrhunderts herausbildete. Als ihre Hl. Schrift betrachteten die Chlysten das »ungeschriebene Buch des Hl. Geistes«, dessen Botschaft ihre Propheten und »Christusse« vermittelten. In ekstatischen Tanzgottesdiensten (sog. radenija) strebten sie nach der mystischen Vereinigung mit Gott. 20 Die Skopzen spalteten sich Mitte des 18. Jahrhunderts von den Chlysten ab. Durch Kastration und Verstümmelung der äußeren Genitalien und der weiblichen Brust

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ner seltsamen Lage. Wer nicht absichtlich die Augen verschließt, der sieht zwangsläufig, dass er es wenn nicht mit der Summe aller Lebensweisheit, so doch zumindest mit etwas sehr Weisem und Bedeutendem zu tun hat. Doch dieses Weise und Wichtige ist so abscheulich, so schlecht ausgedrückt – schon Goethe kannte angeblich kein schlechter geschriebenes Buch als das Evangelium –, es ist in einem solchen Gerümpel abscheulichster, dummer und nicht einmal poetischer Legenden vergraben und das Kluge und Bedeutende ist so untrennbar mit diesen Legenden verbunden, dass man nicht weiß, was man mit diesem Buch anfangen soll. An Interpretationen dazu gibt es nur das, was die verschiedenen Kirchen bieten. Alle diese Interpretationen sind voller Absurditäten und Widersprüche, so dass der Leser zunächst nur zwei Auswege sieht: Entweder er schüttet das Kind mit dem Bade aus, d.h. er erklärt das Ganze für absurd und lehnt es ab – dies geschieht in 99 Prozent der Fälle – oder er unterdrückt seine Vernunft, wie die Kirche es befiehlt, und akzeptiert zusammen mit dem Weisen und Bedeutenden auch alles Dumme und Unbedeutende – dies tut ein Prozent der Menschen, diejenigen, die entweder blind sind oder imstande, die Augen so zuzukneifen, dass sie nicht sehen, was sie nicht sehen wollen. Doch auch dieser Ausweg ist nicht verlässlich. Sobald man diesen Menschen das zeigt, was sie nicht sehen wollten, lassen sie zusammen mit der Lüge wohl oder übel auch jene Wahrheit fallen, die damit vermischt war. Und das Entsetzliche daran ist, dass es oft gar nicht die Feinde der Wahrheit sind, die Wahrheit mit Lüge verwischen, sondern ihre größten Freunde; dass diese Lüge als erstes Werkzeug zur Verbreitung der Wahrheit galt und dies auch tatsächlich war. Die Lüge von der Auferstehung Christi war zur Zeit der Apostel und der Märtyrer der ersten Jahrhunderte der wichtigste Beweis für die Wahrheit der Lehre Christi. Allerdings war dieselbe Fabel von der Auferstehung auch der wichtigste Grund, nicht an diese Lehre zu glauben. In allen Viten der frühchristlichen Märtyrer sprechen die Heiden von diesen als von Leuten, die glauben, ihr Gekreuzigter sei auferstanden, und machen sich völlig zu Recht darüber lustig. Doch die Christen sahen dies ebensowenig, wie die Popen in Kiev heute sehen, dass ihre mit Stroh ausgestopften Reliquien den Glauben einerseits fördern, zugleich aber auch das größte Hindernis für ihn darstellen. Damals, in der Anfangszeit des Christentums waren diese Fabeln unleugbar notwendig; ich würde sogar zustimmen, dass sie der Verbreitung und Durchsetzung der Lehre hilfreich waren. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen, die sich des Wunders sicher waren, auch die Wichtigkeit der Lehre verstanden und sich ihr zuwandten. Das Wunder bewies nicht die Wahrheit, sondern die glaubten sie Körper und Geist in den Zustand vor der Erbsünde zurückversetzen zu können.

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Wichtigkeit der Lehre. Das Wunder weckte Aufmerksamkeit, das Wunder war Reklame. Alles, was geschieht, ist prophezeit, eine Stimme spricht vom Himmel, Kranke werden geheilt und Tote wieder lebendig – wie soll man da nicht aufmerksam werden und sich in die Lehre vertiefen. Und wenn man erst einmal auf sie aufmerksam geworden ist, dringt ihre Wahrheit in die Seele, die Wunder aber sind nur Reklame. Insofern war die Lüge nützlich. Doch sie konnte dies nur in der ersten Zeit sein, und nur deshalb, weil sie zur Wahrheit führte. Hätte es überhaupt keine Lüge gegeben, dann hätte sich die Lehre vielleicht noch schneller verbreitet. Doch es hat keinen Zweck, zu erörtern, was hätte sein können. Die Lüge der damaligen Zeit kann man sich so vorstellen, wie wenn jemand einen Wald ausgesät und an der Stelle der Aussaat Warnschilder aufgestellt hätte: Dieser Wald ist von Gott gesät, und wer nicht glaubt, dass hier ein Wald ist, den fressen die Ungeheuer. Die Menschen hätten es geglaubt, und sie hätten die Saat nicht zertrampelt. Seinerzeit, als der Wald noch nicht vorhanden war, war dies vielleicht nützlich und notwendig, doch nun, da er gewachsen ist, liegt auf der Hand, dass das, was früher nützlich war, überflüssig und – weil unwahr – auch schädlich geworden ist. Genauso verhält es sich mit dem Wunderglauben, der mit der Lehre verbunden ist: Dieser Wunderglaube hat die Verbreitung der Lehre befördert und war vielleicht nützlich. Doch inzwischen hat sich die Lehre verbreitet und durchgesetzt, und der Wunderglaube ist überflüssig und schädlich geworden. In all der Zeit, in der man an Wunder und Lügen glaubte, hat die Lehre selbst sich so durchgesetzt und verbreitet, dass ihre Durchsetzung und Verbreitung zum wesentlichsten Beweis ihrer Wahrhaftigkeit wurde. Die Lehre hat Jahrhunderte unbeschadet überdauert, alle stimmen ihr zu, und inzwischen sind die äußeren, wunderbaren Beweise für ihre Wahrheit zum größten Stein des Anstoßes geworden, der ihrer Aufnahme im Weg steht. Die Beweise für die Wahrheit und Wichtigkeit der Lehre Christi hindern uns heute nur, die Bedeutung Christi zu sehen. Die Tatsache, dass sie seit 1800 Jahren inmitten von Milliarden von Menschen besteht, sagt genug über ihre Wichtigkeit. Vielleicht war es notwendig zu behaupten, der Wald sei von Gott gesät und werde von einem Ungeheuer bewacht und von Gott verteidigt; vielleicht war das notwendig, solange noch kein Wald vorhanden war, aber heute lebe ich in diesem 1800-jährigen Wald, er ist gewachsen und umgibt mich von allen Seiten. Einen Beweis dafür, dass es ihn gibt, brauche ich nicht: Er ist da. Also können wir das, was einst nötig war, damit der Wald wachsen konnte – damit Christi Lehre entstehen konnte – aufgeben. Vieles war dafür nötig, doch es geht nicht darum, zu untersuchen, wie die Lehre entstand, sondern um den Sinn der Lehre. Zu erforschen, wie die Lehre entstand, ist Sache der Geschichte; um aber den Sinn der Lehre zu verstehen, braucht man nicht zu erörtern, welche Methoden zur Bekräftigung

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der Wahrheit der Lehre eingesetzt wurden. Alle vier Evangelien zusammen gleichen einem wundervollen Bild, das zu zeitlich begrenzten Zwecken mit einer dunklen Farbschicht übermalt wurde. Diese Schicht setzt sich zu beiden Seiten des Bildes fort – eine Schicht liegt auf der nackten Wand, vor Christi Geburt: all die Legenden über Johannes den Täufer, seine Zeugung und Geburt; dann kommt die Schicht auf dem Bild selbst: Wunder, Prophezeiungen, Weissagungen; und dann wieder eine Schicht auf der nackten Wand: die Legenden über die Auferstehung, die Apostelgeschichte usw. Wenn man weiß, wie dick die Schicht ist und wie sie sich zusammensetzt, dann muss man sie dort, wo sie auf nacktem Grund liegt und in der Legende von der Auferstehung besonders deutlich sichtbar ist, abtragen und vorsichtig wie einen Schorf vom ganzen Bild lösen; erst dann werden wir das Bild in seiner ganzen Bedeutung verstehen, und eben das ist es, was ich versuche. Meine Überlegung ist die folgende: Das Evangelium besteht aus zwei Teilen, die verschiedene Zwecke verfolgen. Der eine ist die Darlegung der Lehre Christi, der andere besteht aus Beweisen für die Wichtigkeit, die Göttlichkeit dieser Lehre. In dieser Annahme stimmen alle Kirchen überein. Die Beweise für die Wichtigkeit und Göttlichkeit der Lehre Christi gründen auf dem Bewusstsein von der Wahrheit der Lehre (auch darin stimmen alle Kirchen überein) und auf äußeren, historischen Beweisen. Die Kirchen können nicht abstreiten, dass die Beweise für die Bedeutsamkeit, Wichtigkeit und Göttlichkeit der Lehre, die in der Frühzeit der Lehre in den Evangelien gesammelt wurden und ihrem Wesen nach nur für Augenzeugen überzeugend sein konnten, in unserer Zeit die gegenteilige Wirkung erzielen, dass sie nicht nur die Feinde Christi, sondern auch Menschen, die der Lehre aufrichtig ergeben sind, von der Beschäftigung mit der Lehre der Kirche und dem Glauben daran abhalten. Desgleichen können die Kirchen nicht abstreiten, dass das Ziel dieser Beweise für die Wichtigkeit darin liegt, Menschen von der Wahrheit der Lehre zu überzeugen, und dass man, wenn es neben dem inneren auch noch einen äußeren, historischen Beweis für die Wichtigkeit der Lehre gäbe, einen gültigen, unumstößlichen und klaren Beweis, dass man dann jene anderen Beweise, die Misstrauen wecken und die Verbreitung der Lehre behindern, aufgeben und sich allein an den unumstößlichen und klaren äußeren Beweis für die Wichtigkeit halten sollte. Ein solcher Beweis, den es in der Anfangszeit nicht gab, ist die Verbreitung der Lehre selbst, die jedes menschliche Wissen durchdringt, die dem menschlichen Leben seine Grundlage gibt und sich fortwährend weiter verbreitet; um die Lehre zu verstehen, ist es also nicht nur möglich, sondern sogar zwingend nötig, jene Beweise für ihre Wahrheit von ihr zu trennen, die sich durch andere, zweifelsfreie Beweise ersetzen lassen und die selbst nichts zum Verständnis der Lehre beitragen, sondern vielmehr das

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größte Hindernis für ihre Aufnahme darstellen. Selbst wenn diese Beweise keinen Schaden anrichten würden, bliebe doch offensichtlich, dass sie nicht mehr nötig sind, da sie ein ganz anderes Ziel verfolgen und der Lehre nichts hinzuzufügen haben.

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Über das Leben (Auszüge)

Der Traktat Über das Leben, der im Winter 1886/87 entstand, trug ursprünglich den Titel Über das Leben und über den Tod. Den Titel änderte Tolstoj, weil er zur Überzeugung gelangte, dass der Tod seinen Stachel verliere, sobald der Mensch erkannt habe, dass es seine höchste Bestimmung sei, der ewigen sittlichen Wahrheit zu dienen, die er durch die ihm von Gott gegebene Vernunft erkennen könne. Tolstoj hielt Mein Glaube und Über das Leben für seine wichtigsten Bücher, in denen er die philosophischen und religiösen Aspekte seiner Lehre am deutlichsten ausgedrückt habe. Über das Leben wurde 1888 zwar als 13. Band von Tolstojs Werkausgabe mit einer Auflage von 600 Stück gedruckt, von der geistlichen Zensurbehörde allerdings verboten, da laut diesem Traktat »nicht das Wort Gottes, sondern einzig und allein der Verstand den Menschen leite« und somit durch diese Schrift das Vertrauen in die Dogmen erschüttert und die Vaterlandsliebe verneint werde. Auch Über das Leben kursierte in Abschriften und Kopien in Russland. Die französische Übersetzung, die Tolstojs Frau angefertigt hatte, erschien 1889 in Paris und wurde in russischen Zeitschriften eifrig rezensiert. Übersetzungen ins Englische, Dänische, Tschechische, Deutsche, Italienische folgten. Eine Petersburger Zeitung veröffentlichte 1889 Auszüge aus Tolstojs Traktat unter dem Titel Gedanken über das Leben, eine erste russische Buchausgabe erschien 1891 in Genf. Cˇertkov veröffentlichte Über das Leben 1903 als 9. Band der Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstojs (L.N. Tolstoj, Polnoe sobranie soˇcinenij, zapreˇsˇcennych v Rossii, Bd. 9, Christchurch 1903). Die erste vollständige Ausgabe konnte in Russland erst nach Tolstojs Tod im Jahr 1913 erscheinen. Die übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 26: 367f, 411–415).

Die Geburt aus dem Geist »Ihr müsset von neuem geboren werden«,1 sprach Christus. Nicht, dass den Menschen jemand geheißen hätte, geboren zu werden, der Mensch wird unausweichlich dazu gebracht. Um das Leben zu haben, muss er in diesem Leben – aus dem vernünftigen Bewusstsein – von neuem geboren werden. Dem Menschen ist das vernünftige Bewusstsein gegeben, damit er sein Leben in jenem Heil annimmt, das ihm durch sein vernünftiges Bewusstsein offenbart wird. Derjenige, der sein Leben in diesem Heil annimmt, der hat das Leben; derjenige aber, der sein Leben nicht darin, sondern im Heil der tierischen Persönlichkeit annimmt, der beraubt sich eben dadurch des Lebens. Darin besteht die von Christus gegebene Bestimmung des Lebens. 1 Joh 3,7.

Über das Leben (Auszüge)

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Die Menschen, die ihr Streben nach dem Heil der eigenen Persönlichkeit als das Leben anerkennen, hören diese Worte, und es ist nicht so, dass sie sie nicht anerkennen, sondern sie verstehen sie nicht, können sie nicht verstehen. Ihnen scheinen diese Worte entweder nichts oder sehr wenig zu bedeuten und eine gespielte sentimentale oder mystische, so nennen sie es gerne, Stimmung zu bezeichnen. Sie können die Bedeutung dieser Worte, die einen ihnen unbegreiflichen Zustand zum Ausdruck bringen, so wenig verstehen wie ein trockener, nicht ausgekeimter Same den Zustand eines Samens, der schon feucht geworden und aufgegangen ist, verstehen kann. Für ein trockenes Korn ist die Sonne, die in diesen Worten auf den zum Leben erwachenden Samen leuchtet, nur eine unbedeutende Zufälligkeit – ein wenig mehr Wärme und Licht, aber für den ausgekeimten Samen ist sie der Ursprung seiner Geburt zum Leben. Gerade so ist für die Menschen, die den inneren Widerspruch zwischen der tierischen Persönlichkeit und dem vernünftigen Bewusstsein noch nicht erkannt haben, das Licht der Sonne der Vernunft nur eine unbedeutende Zufälligkeit, sentimentale, mystische Worte. Die Sonne bringt nur diejenigen zum Leben, in denen bereits Leben entstanden ist. Aber wie es entsteht, warum, wann und wo, nicht nur im Menschen, sondern auch im Tier, in der Pflanze, hat niemals jemand in Erfahrung gebracht. Über die Entstehung des Lebens im Menschen hat Christus gesagt, das wisse niemand und könne niemand wissen. Und wirklich: Was kann der Mensch darüber wissen, wie das Leben in ihm entsteht? Das Leben ist das Licht der Menschen, das Leben ist das Leben – der Anfang von allem; wie kann der Mensch dann wissen, wie es entsteht? Für den Menschen entsteht und vergeht das, was nicht lebt, das, was in Raum und Zeit zutage tritt. Das wahre Leben aber ist, und daher kann es für den Menschen weder entstehen noch vergehen.

Das Leben der Verstorbenen endet nicht in dieser Welt Mein Freund, mein Bruder hat ebenso gelebt wie ich, und jetzt hat er aufgehört zu leben wie ich. Sein Leben war sein Bewusstsein und verlief unter den Bedingungen seiner körperlichen Existenz; das heißt, es gibt weder Ort noch Zeit für das Zutagetreten seines Bewusstseins, er ist für mich nicht mehr. Mein Bruder war, ich war in der Gemeinschaft mit ihm, aber jetzt ist er nicht mehr, und ich werde nie erfahren, wo er ist. »Zwischen ihm und uns sind alle Verbindungen abgebrochen. Er ist für uns nicht mehr, und auch wir werden nicht sein für die, die zurückbleiben. Was ist denn das, wenn nicht der Tod?« So reden Menschen, die das Leben

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nicht verstehen; diese Menschen sehen im Ende der äußeren Gemeinschaft den untrüglichsten Beweis für den wirklichen Tod. Indes vergeht das Trügerische der Vorstellung über den Tod nirgends klarer und offensichtlicher als beim Ende der körperlichen Existenz von nahe stehenden Menschen. Mein Bruder ist gestorben, was ist geschehen? Geschehen ist, dass sein Verhältnis zur Welt, das meinem Sehen in Raum und Zeit zugänglich war, aus meinem Blick verschwunden und nichts zurückgeblieben ist. »Es ist nichts zurückgeblieben«, das würde eine Puppe sagen, ein Kokon, der den Schmetterling noch nicht entlassen hat, wenn er sehen könnte, dass der neben ihm liegende Kokon leer ist. Der Kokon könnte, wenn er denn denken und sprechen könnte, das sagen, weil er nach dem Verlust seines Nachbarn diesen wirklich durch nichts mehr spüren würde. Anders beim Menschen. Mein Bruder ist gestorben, sein Kokon, das stimmt, ist leer, ich sehe ihn nicht mehr in der Form, in der ich ihn bis dahin sah, aber dass er aus meinem Blick verschwunden ist, hat mein Verhältnis zu ihm nicht zerstört. Mir bleibt, wie wir sagen, die Erinnerung an ihn. Die Erinnerung ist geblieben, nicht die Erinnerung an seine Hände, sein Gesicht, seine Augen, sondern die Erinnerung an sein geistiges Bild. Was ist diese Erinnerung? Ein so einfaches und scheinbar so verständliches Wort! Formen von Kristallen, von Tieren verschwinden – es gibt keine Erinnerungen unter den Kristallen und den Tieren. Ich aber habe die Erinnerung an meinen Freund und Bruder. Und diese Erinnerung ist umso lebendiger, je mehr das Leben meines Freundes und Bruders dem Gesetz der Vernunft gemäß war, je mehr es sich in der Liebe zeigte. Diese Erinnerung ist nicht nur eine Vorstellung, sondern diese Erinnerung ist etwas, das auf mich wirkt und genauso wirkt, wie das Leben meines Bruders während seiner irdischen Existenz auf mich wirkte. Diese Erinnerung ist eben jene unsichtbare, immaterielle Atmosphäre, die sein Leben umgab und während seiner körperlichen Existenz auf mich und andere wirkte, genauso wie sie auch nach seinem Tod auf mich wirkt. Diese Erinnerung verlangt nach seinem Tod von mir jetzt genau dasselbe wie das, was er zu seinen Lebzeiten von mir verlangt hat. Mehr noch, diese Erinnerung wird nach seinem Tod für mich verbindlicher, als sie es zu seinen Lebzeiten war. Jene Kraft des Lebens, die in meinem Bruder war, ist nicht nur nicht verschwunden und nicht geringer geworden, sie ist nicht einmal dieselbe geblieben, vielmehr ist sie größer geworden und wirkt stärker als früher auf mich. Die Kraft seines Lebens wirkt nach seinem körperlichen Tod gleich oder stärker als vor dem Tod, und sie wirkt wie alles wahrhaft Lebendige. Auf welcher Grundlage aber kann ich, wenn ich an mir diese Kraft des Lebens als dieselbe empfinde, die sie während der körperlichen Existenz meines Bruders war, d.h. als sein Verhältnis zur Welt, das mir mein Verhältnis zur Welt erklärt, behaupten, dass mein verstorbener Bruder kein Leben mehr hat? Ich

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kann sagen, dass er jenes niedrigste Verhältnis zur Welt, in dem er als Tier stand und in dem ich mich noch befinde, verlassen hat – das ist alles; ich kann sagen, dass ich jenes Zentrum des neuen Verhältnisses zur Welt, in dem er jetzt steht, nicht sehe; aber ich kann nicht sein Leben bestreiten, weil ich dessen Kraft in mir spüre. Ich habe auf eine spiegelnde Fläche geblickt und gesehen, wie ein Mensch mich gehalten hat; die spiegelnde Fläche ist blind geworden. Ich sehe nicht mehr, wie er mich hält, aber ich fühle mit meinem ganzen Wesen, dass er mich noch genauso hält und folglich existiert. Aber mehr noch, dieses mir unsichtbare Leben meines verstorbenen Bruders wirkt nicht nur auf mich, sondern es geht ein in mich. Sein besonderes, lebendiges Ich, sein Verhältnis zur Welt wird mein Verhältnis zur Welt. Indem er ein Verhältnis zur Welt aufnimmt, hebt er mich gleichsam auf die Stufe, auf die er sich erhoben hat, und mir, meinem besonderen, lebendigen Ich, wird jene folgende Stufe, die er schon erklommen hat, deutlicher, indem er zwar aus meinem Blick verschwunden ist, aber mich nach sich zieht. So erkenne ich für mich das Leben meines Bruders, der den körperlichen Tod gestorben ist, und deshalb kann ich nicht daran zweifeln; aber auch dann, wenn ich die Wirkungen dieses aus meinem Blick verschwundenen Lebens auf die Welt beobachte, bin ich zweifelsfrei überzeugt von der Wirklichkeit dieses aus meinem Blick verschwundenen Lebens. Der Mensch ist gestorben, aber sein Verhältnis zur Welt wirkt weiterhin auf die Menschen, und zwar nicht nur so, wie zu seinen Lebzeiten, sondern um ein Vielfaches stärker, und diese Wirkung nimmt zu und wächst je nach Vernünftigkeit und Liebe, wie alles Lebendige, unaufhörlich und ununterbrochen. Christus ist vor sehr langer Zeit gestorben, seine körperliche Existenz war von kurzer Dauer, und wir haben keine klare Vorstellung von seiner körperlichen Persönlichkeit, doch es ist die Kraft seines vernünftig-liebenden Lebens, sein Verhältnis zur Welt, das bis heute auf Millionen Menschen wirkt, die dieses Verhältnis zur Welt in sich aufnehmen und dadurch leben. Was ist es, das da wirkt? Was ist es, das früher mit der körperlichen Existenz Christi verbunden war, das die Fortführung und die Ausbreitung eben dieses Lebens ausmacht? Wir sagen, es ist nicht das Leben Christi, sondern es sind die Folgen dieses Lebens. Und mit diesen Worten, die keinerlei Bedeutung haben, meinen wir etwas Klareres und Bestimmteres gesagt zu haben als das, dass diese Kraft der lebendige Christus selbst ist. – Dasselbe könnten die Ameisen sagen, die eine Eichel eingegraben haben, die gewachsen und zur Eiche geworden ist; die Eichel ist gewachsen und zur Eiche geworden, sie reißt mit ihren Wurzeln den Boden auf, wirft Astwerk ab, Blätter und neue Eicheln, sie hält das Licht ab und den Regen, verändert alles, was um sie herum gelebt hat. »Das ist nicht das Leben der Eichel«, werden die Ameisen sagen, »sondern das sind die Folgen ihres Lebens, das damals endete, als wir diese Eichel fortgeschleppt und in das Loch geworfen haben«.

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Mein Bruder starb gestern oder vor tausend Jahren, und dieselbe Kraft seines Lebens, die während seiner körperlichen Existenz wirkte, wirkt weiterhin noch stärker in mir und in Hunderten, Tausenden, Millionen von Menschen, ungeachtet dessen, dass das Zentrum der Kraft dieser seiner zeitweiligen körperlichen Existenz aus meinem Blick verschwunden ist. Was aber bedeutet das? Ich habe das Licht des Grases, das vor mir brannte, gesehen. Das Gras brennt nicht mehr, aber das Licht ist noch stärker geworden: Ich sehe den Ursprung dieses Lichts nicht, ich weiß nicht, was brennt, aber ich kann den Schluss ziehen, dass dasselbe Feuer, das das Gras verbrannt hat, nun den entfernten Wald verbrennt oder etwas anderes, das ich nicht sehen kann. Doch dieses Licht ist so, dass ich es nicht nur jetzt sehe, sondern dass es das Einzige ist, was mich lenkt und mir Leben gibt. Ich lebe aus diesem Licht. Wie also kann ich es bestreiten? Ich kann annehmen, dass die Kraft dieses Lebens nun ein anderes, mir nicht sichtbares Zentrum hat. Doch bestreiten kann ich es nicht, weil ich es spüre, weil ich dadurch bewegt werde und lebe. Wie dieses Zentrum ist, wie das Leben an sich ist, kann ich nicht sagen – ich kann raten, wenn ich gerne rate und keine Angst habe mich zu irren. Wenn ich aber ein vernünftiges Lebensverständnis suche, dann gebe ich mich mit dem klaren, dem unzweifelhaften Verständnis zufrieden und will das klare, unzweifelhafte Verständnis nicht durch obskure, willkürliche Mutmaßungen verderben. Mir reicht es zu wissen, dass alles, wodurch ich lebe, sich aus dem Leben derjenigen Menschen gefügt hat, die vor mir gelebt haben und längst gestorben sind, und dass deshalb jeder Mensch, der das Gesetz des Lebens erfüllt, seine tierische Persönlichkeit der Vernunft untergeordnet und die Kraft der Liebe entwickelt hat, nach dem Verschwinden seiner körperlichen Existenz in anderen Menschen gelebt hat und lebt, damit der absurde, entsetzliche Aberglaube des Todes mich niemals mehr quält. Bei Menschen, die eine Kraft hinterlassen, die weiterwirkt, können wir auch beobachten, warum diese Menschen, die ihre Persönlichkeit der Vernunft untergeordnet und sich dem Leben der Liebe hingegeben haben, niemals an der Unmöglichkeit der Vernichtung des Lebens zweifeln konnten und gezweifelt haben. Wir können im Leben dieser Menschen auch die Grundlage ihres Glaubens daran finden, dass das Leben nicht aufhören kann, und dann unser Leben erforschen und diese Grundlagen auch in uns finden. Christus hat gesagt, er werde leben, nachdem das Trugbild des Lebens verschwunden sei. Er sagte das deshalb, weil er bereits damals, während seiner körperlichen Existenz, in jenes wahre Leben eingegangen war, das nicht aufhören kann. Er lebte schon während seiner körperlichen Existenz in den Strahlen des Lichts aus jenem anderen Zentrum des Lebens, auf das er zuging, und er sah zu seinen Lebzeiten, wie die Strahlen dieses Lichts bereits die Menschen um ihn

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herum erleuchteten. Dasselbe sieht jeder Mensch, der sich von der Persönlichkeit lossagt und ein vernünftiges, liebendes Leben führt. Wie eng der Tätigkeitskreis eines Menschen – sei es Christus oder Sokrates, sei es ein guter, unbekannter, selbstloser Greis, ein Jüngling oder eine Frau – auch sein mag, wenn er lebt und sich von seiner Persönlichkeit lossagt um des Heils der anderen willen, geht er hier, in diesem Leben schon ein in jenes neue Verhältnis zur Welt, für das es keinen Tod gibt und das für alle Menschen zur Angelegenheit dieses Lebens wird. Ein Mensch, der sein Leben der Unterwerfung unter das Gesetz der Vernunft und der Entfaltung der Liebe verschrieben hat, sieht schon in diesem Leben einerseits die Lichtstrahlen jenes neuen Zentrums des Lebens, auf das er zugeht, und andererseits die Wirkung, die dieses durch ihn hindurchgehende Licht auf die Menschen um ihn herum ausübt. Und das gibt ihm den unerschütterlichen Glauben an die Unverminderbarkeit, die Unvergänglichkeit und die ewige Erstarkung des Lebens. Den Glauben an die Unsterblichkeit kann man nicht von irgendjemandem annehmen, man kann sich nicht von der Unsterblichkeit überzeugen. Damit es den Glauben an die Unsterblichkeit geben kann, muss es die Unsterblichkeit geben, und damit es sie gibt, muss man sein Leben darin verstehen, wo es unsterblich ist. An das künftige Leben glauben kann nur derjenige, der seine Lebensarbeit geleistet und in diesem Leben jenes neue Verhältnis zur Welt aufgenommen hat, das über diese hinausführt.

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Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus

Den Anstoß zu diesem Text gab die Reproduktion eines Gemäldes des französischen Malers William-Adolphe Bouguereau (1825–1905), das in realistischer Manier darstellt, wie Jesus von römischen Soldaten ausgepeitscht wird. Cˇertkov plante diese Reproduktion in der Reihe »Bilder für das Volk« herauszugeben. »Sobald ich es [das Bild] gesehen hatte, kam mir sofort der Gedanke, dass dies genau das ist, was wir Christus durch unser Leben auch heute immer noch antun … Und ich bekam Angst, und mir kamen die Tränen«, schrieb Tolstoj an Cˇertkov. Es wurde vereinbart, dass Tolstoj einen Text zu diesem Gemälde verfassen sollte, während der Schriftsteller Vsevolod Garˇsin für die Veröffentlichung im Posrednik-Verlag eine Beschreibung von Bouguereaus Gemälde beisteuern sollte. Doch sowohl die Reproduktion als auch die Texte von Tolstoj und Garˇsin wurden von der geistlichen Zensurbehörde verboten. Schließlich wandte sich Cˇertkov an Il’ja Repin, der die Figur Jesu in Bouguereaus Gemälde übermalte, »in einer ruhigeren Pose, in der seine Leiden nur im Gesichtsausdruck deutlich werden, es sind mehr geistige als physische Leiden«. In dieser Form durfte die Reproduktion 1885 erscheinen. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 25: 114).

Da gab er ihnen Barabbas los; aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde. Mt 27,26

Die Soldaten des Pilatus schlagen Christus, und es ist schmerzlich, Seine Leiden zu schauen. Schmerzlicher noch zu denken, dass diese Leiden nicht enden. Ebenso wie die Soldaten quälen wir Ihn, und schlimmer noch. Die Soldaten wussten nicht, wer Er war und woher Er kam und was er den Menschen brachte. Wir aber wissen, wer Er ist, wissen, woher Er kam, wissen, dass Er uns die Rettung brachte, und wir quälen ihn ebenso und noch böswilliger. Jeden Tag, jede Stunde fügen wir den Leiden von Ihm, der uns zu retten kam, neue hinzu. Alles, was wir einem anderen Menschen zufügen, fügen wir Ihm zu. Wenn wir den Bettler und den Hungrigen zurückstoßen, wenn wir seine Not ausnutzen, wenn wir stolz sind gegenüber unserem Bruder und uns von ihm absondern und ihn verachten, quälen wir jenen Christus, der uns befahl, eins zu sein mit Ihm, schmerzlicher noch als die Soldaten des Pilatus es taten. Wenn wir das Ehegesetz brechen und ein Geschöpf Gottes, die Frau, zum Laster treiben und ebendiese Frau dann nicht als Menschen, sondern als Luder betrachten, quälen wir unseren Erlöser, der gesagt hat, der Mensch dürfe nicht trennen, was Gott vereint hat, und Mann und Frau sollen ein Fleisch sein, schmerzlicher als die Soldaten des Pilatus es ta-

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ten. Wenn wir Menschen Gewalt antun und Böses mit Bösem vergelten, wenn wir Menschen peinigen und menschliches Blut vergießen, quälen wir dann nicht unseren Herrn, den, der uns gesagt hat, wir sollen uns dem Bösen nicht widersetzen, wir sollen dem, der uns den Rock nehmen will, auch den Mantel überlassen, und wir sollen unserem Bruder nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal vergeben? Nicht die Soldaten des Pilatus, sondern wir quälen Christus, und Er wird nicht aufhören für uns zu leiden, solange wir nicht Sein Gebot erfüllen – einander zu lieben, wie Er uns liebt.

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Das Reich Gottes ist in euch (Auszüge)

Am Anfang der Entstehungsgeschichte dieser berühmten Schrift Tolstojs stand die Absicht, ein Vorwort zur russischen Übersetzung des Non-resistance catechisme des amerikanischen Pazifisten Adin Ballou (1803–1890) zu schreiben. Dass aus einem kurzen Vorwort ein Traktat von über 300 Seiten entstehen konnte, zeigt, wie nahe Tolstoj die Fragestellung ging und wie wichtig ihm das Prinzip des Nichtwiderstehens war. Im Laufe der Arbeit verwarf er verschiedene Titel – u.a. Über das Sich-dem-Bösen-nicht-Widersetzen und Die Lehre Christi und die allgemeine Wehrpflicht. Da sich der Traktat zu einer umfassenden Darstellung des Christentums als »neuer Lebensanschauung« entwickelte, entnahm er den Titel schließlich den Worten aus dem Lukasevangelium, die er seinem Manuskript als Motto vorangestellt hatte: »Das Reich Gottes ist in euch« (17,21). Noch bevor Buchausgaben des Traktats erscheinen konnten, druckten Zeitungen in Frankreich Auszüge ab, in denen die Auspeitschungen von Bauern in den Gouvernements Tula und Orel geschildert werden. 1893 erschienen französische und italienische Buchausgaben, 1894 eine englische und im selben Jahr in Deutschland eine deutsche und eine russische Ausgabe, letztere allerdings in einer stark gekürzten Fassung. Die französische Ausgabe von Gottes Reich ist in euch wurde von der russischen Zensur als »hochgradig schädlich« eingestuft und die Einfuhr nach Russland verboten. Die erste vollständige russische Ausgabe erschien 1896 in Genf, 1898 eine weitere in England. In Russland konnte Tolstojs Traktat erstmals 1906 veröffentlicht werden. Die übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 28: 77–80, 88f, 218–220, 293). Die Überschriften stammen von den Herausgebern.

Über die göttliche Vollkommenheit Das wahre Leben besteht gemäß den früheren Bedingungen in der Erfüllung von Regeln und Gesetz; gemäß Christi Lehre besteht es in der größtmöglichen Annäherung an die vorgeschriebene und von jedem Menschen in sich erkannte göttliche Vollkommenheit, in der immer größeren Annäherung an die Vereinigung des eigenen Willens mit dem Willen Gottes, eine Vereinigung, der der Mensch zustrebt und die die Zerstörung des Lebens bedeuten würde, das wir kennen. Die göttliche Vollkommenheit ist die Asymptote des menschlichen Lebens, der es immer zustrebt, der es sich immer nähert und die nur in der Unendlichkeit erreicht werden kann. Die christliche Lehre scheint die Möglichkeit des Lebens nur dann auszuschließen, wenn die Menschen die Verpflichtung einem Ideal gegenüber als Regel nehmen. Nur dann erscheinen die Forderungen, die durch Christi Lehre vorgelegt werden, als zerstörerisch für das Leben. Vielmehr machen

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allein diese Forderungen ein wahres Leben möglich. Ohne diese Forderungen wäre ein wahres Leben nicht möglich. […] Die Lehre Christi unterscheidet sich von früheren Lehren dadurch, dass sie die Menschen nicht durch äußere Regeln lenkt, sondern durch das innere Bewusstsein der Möglichkeit, göttliche Vollkommenheit zu erreichen. Und in der Seele des Menschen finden sich nicht maßvolle Regeln von Gerechtigkeit und Philanthropie, sondern das Ideal absoluter, unendlicher göttlicher Vollkommenheit. Nur das Streben nach dieser Vollkommenheit weist dem Leben des Menschen die Richtung, weg vom tierischen Zustand hin zum göttlichen, soweit das in diesem Leben möglich ist. Um an den Ort zu gelangen, an den man will, muss man alle Kraft darauf verwenden, einen steileren Weg zu wählen. Die Forderungen des Ideals herunterzuschrauben, bedeutet nicht einfach eine geringere Möglichkeit der Vollkommenheit, sondern die Zerstörung des Ideals. Ein Ideal, das auf die Menschen wirkt, ist nicht ein von irgendjemandem entworfenes Ideal, sondern ein Ideal, das jeder Mensch in seiner Seele trägt. Nur dieses Ideal absoluter, unendlicher Vollkommenheit wirkt auf die Menschen und bewegt sie zur Tätigkeit. Eine gemäßigte Vollkommenheit verliert ihre Wirkung auf die Seele der Menschen. Die Lehre Christi hat nur dann Kraft, wenn sie absolute Vollkommenheit fordert, d.h. die Vereinigung des göttlichen Wesens, das sich in der Seele jedes Menschen befindet, mit dem Willen Gottes – die Verbindung von Sohn und Vater. Erst diese Befreiung des in jedem Menschen lebenden Gottessohnes vom Tierischen und seine Annäherung an den Vater macht gemäß Christi Lehre das Leben aus. Die Existenz des Tierischen, des Tierischen allein im Menschen ist nicht das menschliche Leben. Auch ein Leben allein nach dem Willen Gottes ist nicht das menschliche Leben. Das menschliche Leben ist ein Gefüge aus tierischem Leben und göttlichem Leben. Und je mehr dieses Gefüge sich dem göttlichen Leben annähert, desto mehr ist es Leben. Das Leben gemäß der christlichen Lehre ist die Bewegung hin zur göttlichen Vollkommenheit. Kein Zustand kann nach dieser Lehre höher oder niedriger als ein anderer sein. Jeder Zustand ist nach dieser Lehre nur eine bestimmte, an sich gleichgültige Stufe auf dem Weg zur unerreichbaren Vollkommenheit und macht daher an sich weder ein größeres noch ein kleineres Maß an Leben aus. Die Zunahme des Lebens ist nach dieser Lehre nur die Beschleunigung der Bewegung hin zur Vollkommenheit. Deshalb stellt die Bewegung des Zöllners Zachäus hin zur Vollkommenheit ebenso wie diejenige der Sünderin oder die des Schächers am Kreuz ein höheres Maß an Leben dar als die starre Rechtschaffenheit des Pharisäers. Und deshalb kann es für diese Lehre keine Regeln geben, deren Erfüllung unerlässlich wäre. Der

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Mensch, der auf der untersten Stufe steht und sich auf die Vollkommenheit zu bewegt, lebt sittlicher und besser und erfüllt die Lehre mehr als der Mensch, der auf einer weit höheren Stufe der Sittlichkeit steht, sich aber nicht auf die Vollkommenheit zu bewegt. In diesem Sinne ist ein verirrtes Schaf für den Vater wertvoller als die, die sich nicht verirrt haben.1 Der verlorene Sohn, eine verlorene und dann wiedergefundene Münze sind wertvoller als die, die nicht verloren waren.2 Die Erfüllung der Lehre liegt in der Bewegung von sich selbst hin zu Gott. Es ist offensichtlich, dass es für die Erfüllung dieser Lehre keine bestimmten Gesetze und Regeln geben kann. Jedes Maß an Vollkommenheit und jedes Maß an Unvollkommenheit sind gleich vor dieser Lehre; keinerlei Erfüllung von Gesetzen macht die Erfüllung der Lehre aus; daher gibt es für diese Lehre keine bindenden Regeln und Gesetze, und es kann sie auch nicht geben. Aus diesem grundlegenden Unterschied zwischen der Lehre Christi und allen vorhergehenden Lehren, die auf einer gesellschaftlichen Lebensauffassung beruhen, ergibt sich auch der Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Geboten und den christlichen Geboten. Die gesellschaftlichen Gebote sind zum großen Teil positive, sie schreiben bestimmte Handlungen vor, sie rechtfertigen die Menschen und verleihen ihnen Rechtschaffenheit. Die christlichen Gebote hingegen (das Gebot der Liebe ist kein Gebot im engen Sinne dieses Wortes, sondern ein Ausdruck des Wesens der Lehre selbst), die fünf Gebote der Bergpredigt sind allesamt negative und zeigen nur das, was die Menschen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Menschheit nicht mehr tun sollten. Diese Gebote sind gleichsam Anmerkungen auf dem unendlichen Weg zur Vollkommenheit, auf die die Menschheit sich zu bewegt, jenes Maßes an Vollkommenheit, das in einer bestimmten Periode der Entwicklung der Menschheit möglich ist. In der Bergpredigt hat Christus sowohl das ewige Ideal ausgedrückt, nach dem zu streben den Menschen eigen ist, als auch den Grad, in dem sie dieses Ideal schon heute erreichen können.

Über das kommende Reich Gottes Uns scheint heute, dass die Forderungen der christlichen Lehre nach allgemeiner Brüderlichkeit, nach vollkommener Gleichheit der Völker, nach Verzicht auf Eigentum, nach dem so merkwürdig anmutenden Verzicht auf ge1 Vgl. Lk 15,3–7 par. 2 Vgl. Lk 16,11–32; 15,8–10.

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waltsamen Widerstand gegen das Böse, dass all das Forderungen nach etwas Unmöglichem sind. Ebenso unmöglich erschienen jedoch vor Jahrtausenden, in älterer Zeit, nicht allein staatliche, sondern auch etwa familiäre Forderungen, dass Eltern ihre Kinder und die Jungen die Alten ernähren oder dass Ehegatten einander treu sein sollten. Merkwürdiger noch, ja geradezu unsinnig schienen staatliche Forderungen, etwa dass die Bürger sich einer ernannten Obrigkeit unterordnen, Abgaben entrichten oder zur Verteidigung des Vaterlands in den Krieg ziehen sollten. Uns erscheinen diese Forderungen heutzutage allesamt einfach, verständlich und natürlich, sie haben nichts Mystisches oder gar Merkwürdiges an sich; doch vor fünf oder vor drei Jahrtausenden wären sie Forderungen nach etwas Unmöglichem gewesen. Die gesellschaftliche Lebensauffassung diente auch deshalb als Grundlage der Religionen, weil sie den Menschen zu der Zeit, als sie ihnen präsentiert wurde, vollkommen unverständlich, mystisch und übernatürlich erschien. Heute, da diese Phase im Leben der Menschheit bereits hinter uns liegt, sind uns die vernünftigen Gründe für einen Zusammenschluss von Menschen zu Familien, Gemeinden und Staaten verständlich; im Altertum aber wurden die Forderungen nach einem derartigen Zusammenschluss im Namen von etwas Übernatürlichem geltend gemacht und durch dieses bestätigt. Patriarchale Religionen vergötterten Familien, Geschlechter und Völker; staatliche Religionen vergötterten Zaren und Staaten. Sogar heutzutage unterwirft sich ein großer Teil der ungebildeten Menschen, etwa unsere Bauern, die den Zaren als Gott auf Erden bezeichnen, den gesellschaftlichen Gesetzen nicht aus dem vernünftigen Bewusstsein ihrer Notwendigkeit oder weil sie eine Vorstellung von der Idee des Staates hätten, sondern aus einem religiösen Empfinden heraus. Genauso erscheint heutzutage die christliche Lehre den Menschen gesellschaftlicher oder heidnischer Weltanschauung als übernatürliche Religion, während in Wirklichkeit nichts Geheimnisvolles, Mystisches oder Übernatürliches daran ist; vielmehr ist sie lediglich eine Lehre vom Leben, die dem Grad der materiellen Entwicklung und dem Alter entspricht, in dem sich die Menschheit befindet und die sie daher zwangsläufig annehmen muss. Es wird die Zeit kommen, und sie naht bereits, wenn die christlichen Grundlagen des Lebens – Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, gemeinsamer Besitz, Verzicht auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse – für uns ebenso natürlich und selbstverständlich sein werden wie uns heute die Grundlagen des Lebens von Familie, Gesellschaft und Staat erscheinen. […] Die Lage der christlichen Menschheit mit ihren Festungen, Kanonen, Sprengstoffen, Gewehren, Torpedos, Gefängnissen, Galgen, Kirchen, Fabriken, Zollämtern und Palästen ist wahrlich furchtbar; doch weder Festungen

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noch Kanonen oder Gewehre schießen von selbst auf jemanden, Gefängnisse sperren niemanden von selbst ein, Galgen hängen niemanden auf, Kirchen betrügen niemanden selbst, Zollämter halten nicht selbst auf, Paläste und Fabriken bauen und unterhalten sich nicht selbst, sondern das alles machen Menschen. Wenn aber die Menschen verstehen, dass sie das nicht tun sollen, dann wird es nichts von alldem mehr geben. Und die Menschen beginnen allmählich, das zu verstehen. Wenn es noch nicht alle Menschen verstehen, so verstehen es doch die fortschrittlichen unter ihnen, diejenigen, denen die übrigen folgen. Und die übrigen Menschen können nicht mehr aufhören zu verstehen, was die fortschrittlichen Menschen einmal verstanden haben. Sie können nicht nur, sie müssen zwangsläufig verstehen, was die fortschrittlichen Menschen verstanden haben. Deshalb ist die Vorhersage, dass die Zeit kommen wird, da alle Menschen von Gott belehrt sind, da sie verlernt haben, Krieg zu führen, da sie Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln umgeschmiedet haben,3 d.h. übersetzt in unsere Sprache, da alle Gefängnisse, Festungen, Kasernen, Paläste, Kirchen leer bleiben und keine Galgen, Gewehre, Kanonen mehr im Gebrauch sind, kein Traum mehr, sondern eine bestimmte, neue Form des Lebens, der sich die Menschheit mit immer größerer Geschwindigkeit annähert. Doch wann wird das sein? Vor 1800 Jahren antwortete Christus auf diese Frage, das Ende des jetzigen Zeitalters, d.h. der heidnischen Weltordnung, werde dann eintreten, wenn die Not der Menschen ein Höchstmaß erreiche und zugleich die frohe Botschaft vom Reich Gottes, d.h. von der Möglichkeit einer neuen, gewaltlosen Ordnung des Lebens, auf der ganzen Erde gepredigt werde (Mt 24,3–28). »Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, sondern allein mein Vater« (Mt 24,36), sagt Christus ebendort. Denn sie kann immer anbrechen, jede Minute, auch dann, wenn wir sie nicht erwarten. Auf die Frage, wann diese Stunde anbricht, sagt Christus, dass wir es nicht wissen können; gerade deshalb aber, weil wir die Zeit, da diese Stunde anbricht, nicht kennen können, müssen wir nicht nur stets bereit sein, sie zu erwarten, so wie der Herr, der das Haus hütet, stets bereit sein muss, so wie die Jungfrauen stets bereit sein müssen, den Bräutigam mit ihren Lampen zu erwarten, vielmehr müssen wir auch mit aller uns gegebenen Kraft dafür arbeiten, dass diese Stunde anbricht, so wie die Knechte arbeiten mussten mit ihren Talenten (Mt 24,43; 25,1–30). Auf die Frage, wann diese Stunde eintritt, ermahnt Christus die Menschen, mit all ihren Kräften dafür zu arbeiten, dass sie baldmöglichst anbricht.

3 Vgl. Mi 4,3.

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Und eine andere Antwort kann es nicht geben. Die Menschen können Tag und Stunde, wann das Reich Gottes anbricht, nicht kennen, weil es von niemandem abhängt als von den Menschen selbst, wann diese Stunde anbricht. Die Antwort ist die gleiche wie diejenige, die der Weise gab, als ein Passant ihn fragte, ob es noch weit bis zur Stadt sei. Der Weise sagte: »Geh.« Wie können wir wissen, ob es weit ist bis zu jenem Ziel, dem sich die Menschheit nähert, wenn wir nicht wissen, wie sich die Menschheit darauf zubewegt, die Menschheit, der es überlassen ist zu gehen oder nicht zu gehen, stehen zu bleiben, die Bewegung zu verlangsamen oder sie zu beschleunigen. Alles, was wir wissen können, ist das, was wir, die wir die Menschheit ausmachen, tun müssen und was wir unterlassen müssen, damit dieses Reich Gottes anbricht. Das aber wissen wir alle. Es muss nur ein jeder beginnen zu tun, was wir tun müssen, und zu unterlassen, was wir nicht tun sollen, es muss nur ein jeder von uns durch dieses Licht leben, das in uns ist, damit das verheißene Reich Gottes, zu dem es das Herz eines jeden Menschen hinzieht, sofort anbricht. […] Der einzige Sinn des Lebens der Menschen besteht darin, der Welt zu dienen, indem sie an der Errichtung des Reiches Gottes mitwirken. Dieser Dienst kann nur durch die Anerkennung der Wahrheit und das Bekenntnis eines jeden einzelnen Menschen vollbracht werden. »Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: Da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.« (Lk 17,20f)

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Dieser Aufsatz ist Tolstojs Antwort auf zwei Fragen, die ihm Georg von Gizycki (1851–1895), Professor für Philosophie in Berlin und Gründer der »Ethischen Gesellschaft« sowie der Zeitschrift Für ethische Kultur, in einem Brief vom 6. August 1893 gestellt hat: 1) was Tolstoj unter dem Begriff »Religion« verstehe und 2) ob nach Tolstojs Auffassung Moralvorstellungen, die nicht religiös motiviert seien, existieren können. Tolstoj wollte »unverzüglich auf diesen würdigen Brief« antworten, doch da die »Fragen so gut gestellt waren«, sah er sich gezwungen, sie ausführlicher zu beantworten, als er das zunächst vorhatte. Tatsächlich hat sich Tolstoj intensiv mit diesem Aufsatz beschäftigt, von dem mehrere handschriftliche Fassungen existieren und an dem er bis Ende Oktober 1893 gearbeitet hat. Die deutsche Übersetzung von Sophie Behr erschien in vier Nummern der Zeitschrift Für ethische Kultur im Dezember 1893/Januar 1894. Unter dem Titel Religion und Moral. Antwort auf eine in der »Ethischen Kultur« gestellte Frage erschien Tolstojs Aufsatz 1894 in Berlin auch in Buchform. Eine englische Übersetzung folgte noch im selben Jahr, und auch in Russland konnte die Arbeit 1894 in der Zeitschrift Severnyj vestnik erscheinen, allerdings mit größeren zensurbedingten Auslassungen und unter dem Titel Widersprüche der empirischen Sittlichkeit. Eine Buchausgabe wurde von der russischen Zensurbehörde verboten. Erst 1908 konnte Religion und Sittlichkeit in Russland als Broschüre erscheinen, wobei der Wortlaut dieser Ausgabe der gekürzten Zeitschriftenfassung von 1894 entsprach. Ungekürzt konnte Religion und Sittlichkeit in Russland erst nach Tolstojs Tod im Jahre 1913 erscheinen. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 39: 3–26).

Ihr habt mich gefragt: 1) was ich unter dem Wort »Religion« verstehe und 2) ob ich Sittlichkeit unabhängig von der Religion, so wie ich sie verstehe, für möglich halte? Ich bemühe mich, so gut wie möglich auf diese in höchstem Maße wichtigen und vortrefflich gestellten Fragen zu antworten. Dem Wort »Religion« werden gewöhnlich drei verschiedene Bedeutungen zugeschrieben. Die erste ist die, dass Religion eine bestimmte, den Menschen von Gott gegebene wahre Offenbarung und die sich aus dieser Offenbarung ergebende Gottesverehrung ist. Diese Bedeutung wird der Religion von Menschen zugeschrieben, die an eine der existierenden Religionen glauben und darum diese eine Religion für die wahre halten. Die zweite Bedeutung, die der Religion zugeschrieben wird, ist die, dass Religion eine Sammlung bestimmter abergläubischer Grundsätze und die sich aus diesen Grundsätzen ergebende abergläubische Gottesverehrung ist. Diese Bedeutung wird der Religion von Menschen zugeschrieben, die ent-

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weder gar nicht glauben oder nicht an die Religion glauben, die sie definieren. Die dritte Bedeutung, die der Religion zugeschrieben wird, ist die, dass Religion eine von klugen Menschen entworfene Sammlung von Grundsätzen und Gesetzen ist, derer es bedarf, um den ungebildeten Volksmassen Trost zu spenden, ihre Leidenschaften zu bändigen und sie zu lenken. Diese Bedeutung wird der Religion von Menschen zugeschrieben, die der Religion als solcher gleichgültig gegenüberstehen, sie aber als nützliches Instrument des Staatswesens ansehen. Gemäß der ersten Definition ist Religion eine unzweifelhafte, unanfechtbare Wahrheit, die es zum Heil der Menschen tunlich, ja zwingend mit allen möglichen Mitteln zu verbreiten gilt. Gemäß der zweiten Definition ist Religion eine Sammlung abergläubischer Grundsätze, von denen es die Menschen zum Heil der Menschheit tunlich, ja zwingend mit allen möglichen Mitteln zu befreien gilt. Gemäß der dritten Definition ist Religion eine bestimmte, den Menschen nützliche Einrichtung, die zwar für Menschen höherer Entwicklung nicht vonnöten, hingegen als Trost für das ungebildete Volk sowie zur Lenkung desselben unbedingt vonnöten ist, weshalb sie unbedingt unterstützt werden sollte. Die erste Definition gleicht der Definition der Musik durch einen Menschen, der erklärt, Musik sei ein ganz bestimmtes Lied, sein Lieblingslied, das man tunlich möglichst vielen Menschen beibringen solle. Die zweite Definition gleicht der Definition der Musik durch einen Menschen, der sie nicht versteht und daher nicht liebt und der erklärt, Musik sei ein Produkt aus Tönen, die Kehlkopf und Mund oder Hände an bestimmten Instrumenten hervorrufen, und man müsse den Menschen diese unnötige oder sogar schädliche Beschäftigung baldmöglichst austreiben. Die dritte Definition gleicht der Definition der Musik durch einen Menschen, der erklärt, sie sei eine nützliche Sache für den Tanzunterricht oder zum Marschieren und für diese Zwecke zu unterstützen. Die Unterschiedlichkeit und die Unvollständigkeit dieser Definitionen rührt daher, dass sie alle nicht das Wesen der Musik erfassen, sondern nur ihre Merkmale bestimmen, je nach dem Standpunkt desjenigen, der definiert. Ebenso verhält es sich mit den drei Definitionen der Religion. Gemäß der ersten Definition ist die Religion das, woran der Mensch, der sie definiert, seiner Überzeugung nach zu Recht glaubt. Gemäß der zweiten Definition ist sie das, woran in der Wahrnehmung desjenigen, der sie definiert, die anderen Menschen zu Unrecht glauben. Gemäß der dritten Definition ist sie das, woran die Menschen glauben zu machen nützlich ist. In allen drei Definitionen wird nicht das definiert, was das Wesen der Religion ausmacht, sondern der Glaube der Menschen daran, was sie für die

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Religion halten. Die erste Definition fasst unter dem Begriff Religion den Glauben desjenigen, der die Religion definiert; die zweite Definition fasst den Glauben anderer Menschen an das, was diese anderen Menschen für Religion halten; die dritte Definition fasst den Glauben der Menschen daran, was man ihnen als Religion ausgibt. Was aber ist der Glaube? Und warum glauben die Menschen an das, woran sie glauben? Was ist der Glaube, und wie ist er entstanden? Die meisten Menschen der heutigen gebildeten Masse halten die Frage für geklärt und denken, das Wesen jeder Religion bestünde in der aus abergläubischer Angst vor unerklärlichen Naturphänomenen entstandenen Personifizierung, der Vergöttlichung von Naturkräften und der Anbetung derselben. Diese Meinung wird von der gebildeten Masse der heutigen Zeit kritiklos als wahr anerkannt und auch von den Menschen der Wissenschaft nicht nur ohne Einwände akzeptiert, sondern findet meist bei diesen die nachdrücklichste Unterstützung. Wenn sich auch gelegentlich Stimmen von Menschen erheben, wie die von Max Müller1 und anderen, die der Religion eine andere Herkunft und einen anderen Sinn zuschreiben, so werden diese Stimmen in der allgemeinen, einhelligen Anerkennung der Religion als Ausdruck von Aberglauben und Unwissen schlechthin nicht gehört und nicht wahrgenommen. Noch vor gar nicht langer Zeit, zu Anfang unseres Jahrhunderts, lehnten die fortschrittlichsten Menschen Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie zwar ab, wie auch die Enzyklopädisten am Ende des vergangenen Jahrhunderts dies taten, doch niemand von ihnen hat geleugnet, dass die Religion generell eine unabdingbare Voraussetzung für das Leben eines jeden Menschen war und ist. Abgesehen von den Deisten2 wie Bernardin de Saint-Pierre,3 von Diderot und Rousseau, hat auch Voltaire Gott ein Denkmal errichtet,4 und Robespierre führte das Fest des Höchsten Wesens ein.5 In unserer Zeit aber wurde dank der leichtsinnigen, oberflächlichen Lehre von 1 Friedrich Max Müller (1823–1900), deutscher Indologe und Religionswissenschaftler, einer der Begründer der Sanskrit-Forschung. Laut Müller fußt jede Religion auf dem Bewusstsein des Unendlichen, das sich zu Beginn als Naturverehrung manifestiert. 2 Den Deisten, die unterschiedliche Gottesvorstellungen haben, ist gemeinsam, dass sie aus Vernunftgründen an Gott glauben, dessen Wirken durch Beobachtung erschlossen werden kann, im Gegensatz zum Gottesglauben der Offenbarungsreligionen mit ihren heiligen Schriften. 3 Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814), französischer Schriftsteller und Freund Rousseaus. 4 An der Kirche auf seinem Gut in Ferney, die Voltaire renovieren ließ, brachte er die Inschrift an: »Deo erexit VOLTAIRE« (von VOLTAIRE für Gott errichtet). 5 Das »Fest des höchsten Wesens« (fête de l’Etre suprême) wurde auf Betreiben von Robespierre (1758–1794) am 8. Juni 1794 in Paris gefeiert.

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Auguste Comte, der wie die Mehrheit der Franzosen wahrhaftig glaubte, das Christentum sei nichts anderes als der Katholizismus und der daher im Katholizismus die absolute Verwirklichung des Christentums sah, wurde also von der gebildeten Masse, die wie immer gerne und schnell die niedrigsten Vorstellungen übernimmt, beschlossen und festgestellt, Religion sei lediglich eine bestimmte, längst überlebte Phase der Menschheitsentwicklung und hemme deren Fortschritt. Man stellt fest, die Menschheit habe schon zwei Perioden durchlebt, eine religiöse und eine metaphysische, und sei nunmehr in die dritte und höchste Phase eingetreten – die wissenschaftliche, und alle religiösen Phänomene der Menschen seien nur Erlebnisse eines einstmals notwendigen geistigen Organs der Menschheit, das schon lange Sinn und Bedeutung verloren habe, ähnlich wie der Nagel an der fünften Zehe des Pferdes. Man stellt fest, das Wesen der Religion bestehe in der aus der Angst vor unerklärlichen Naturkräften herrührenden Anerkennung imaginärer Wesen und der Anbetung derselben, wovon schon Demokrit im Altertum überzeugt war und was die neuesten Philosophen6 und Religionshistoriker7 bestätigen. Aber abgesehen davon, dass die Anerkennung unsichtbarer, übernatürlicher Wesen oder eines derartigen Wesens nicht immer von der Angst vor den unbekannten Kräften der Natur herrührte und herrührt, wie Hunderte fortschrittlicher, hochgebildeter Menschen der Vergangenheit – Menschen wie Sokrates, Descartes oder Newton – und ebensolche Menschen unserer Zeit bezeugen, welche höhere, übernatürliche Wesen oder ein derartiges Wesen keineswegs aus Angst vor den unbekannten Kräften der Natur annehmen, gibt die Behauptung, die Religion sei aus der abergläubischen Angst der Menschen vor den unbegreiflichen Kräften der Natur entstanden, in Wirklichkeit keinerlei Antwort auf die wichtigste Frage: Woher haben die Menschen die Vorstellung von unsichtbaren, übernatürlichen Wesen? Wenn die Menschen Blitz und Donner fürchteten, dann hätten sie Blitz und Donner fürchten können, aber wozu dachten sie sich ein unsichtbares, übernatürliches Wesen aus wie Jupiter, der sich irgendwo befindet und gelegentlich Pfeile auf die Menschen abschießt? Wenn die Menschen beim Anblick des Todes erschüttert waren, dann hätten sie den Tod fürchten können, aber wozu »erfanden« sie die Seelen der Verstorbenen, mit denen sie in ihrer Vorstellung Verbindung aufnahmen? Vor dem Donner konnten die Menschen sich verstecken, vor dem Entsetzen angesichts des Todes konnten sie davonlaufen, doch wenn sie ein ewiges, 6 Die Schriften von Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat Tolstoj intensiv rezipiert. 7 Tolstoj verweist auf David Friedrich Strauß (1808–1874) und Ernest Renan (1823–1892), deren Werke er studiert hat.

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mächtiges Wesen, von dem sie sich abhängig wähnen, und die lebendigen Seelen der Verstorbenen erfanden, dann nicht nur aus Angst, sondern aus irgendwelchen anderen Gründen. Und hier liegt offenbar auch der Ursprung dessen, was als Religion bezeichnet wird. Außerdem weiß jeder Mensch, der irgendwann, und sei es in der Kindheit, ein religiöses Gefühl verspürt hat, aus eigener Erfahrung, dass dieses Gefühl nicht durch äußere, schreckliche, materielle Phänomene hervorgerufen wird, sondern stets durch das innere Bewusstsein der eigenen Nichtswürdigkeit, Einsamkeit und Sündhaftigkeit, das mit der Angst vor den unerklärlichen Kräften der Natur nichts gemein hat. Und deshalb kann der Mensch ebenso anhand äußerer Wahrnehmung wie anhand persönlicher Erfahrung erkennen, dass Religion nicht die Anbetung von Göttern ist, die durch eine für den Menschen nur auf einer bestimmten Entwicklungsstufe charakteristische, abergläubische Angst vor den unbekannten Kräften der Natur hervorgerufen wird, sondern etwas von Angst und Bildungsgrad des Menschen vollkommen Unabhängiges, durch keinerlei Fortschreiten der Bildung Zerstörbares, weil das Bewusstsein des Menschen von seiner Endlichkeit in einer unendlichen Welt und seiner Sündhaftigkeit, d.h. der Nichterfüllung all dessen, was er hätte tun können und müssen, aber nicht getan hat, immer da war und da sein wird, solange der Mensch Mensch bleibt. In der Tat kann jeder Mensch, sobald er den tierischen Zustand der frühesten Kindheit verlassen hat, in dem er ausschließlich von den Bedürfnissen seiner tierischen Natur gelenkt wird, kann also jeder Mensch, der zu einem vernünftigen Bewusstsein erwacht ist, nicht umhin zu bemerken, dass alles um ihn herum lebt und sich erneuert, ohne vernichtet zu werden, und sich strikt einem ewigen Gesetz unterordnet, und dass er allein im Bewusstsein dessen, dass er ein einzelnes, von der ganzen Welt getrenntes Wesen ist, zum Tode verurteilt ist, zum Verschwinden im grenzenlosen Raum und in der endlosen Zeit und zum quälenden Bewusstsein der Verantwortung für seine Handlungen, d.h. dem Bewusstsein dessen, dass er, wenn er schlecht gehandelt hat, besser hätte handeln können. Wenn er das verstanden hat, kann kein vernünftiger Mensch umhin, in sich zu gehen und sich zu fragen: Welchen Sinn, welchen Zweck hat diese seine flüchtige, ungewisse, fragile Existenz inmitten dieser ewigen, fest umrissenen und unendlichen Welt? Sobald der Mensch in das wahre menschliche Leben eintritt, kann er dieser Frage nicht ausweichen. Diese Frage steht stets vor jedem Menschen, und jeder Mensch beantwortet diese Frage stets auf die eine oder andere Weise. Die Antwort auf diese Frage aber ist das, was das Wesen jeder Religion ausmacht. Das Wesen jeder Religion besteht nur in der Antwort auf die Frage: Warum lebe ich, und wie ist mein Verhältnis zu der unendlichen Welt, die mich umgibt? Die ganze Metaphysik der Religion aber, alle Lehren über Götter, über den

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Ursprung der Welt, alle äußere Gottesverehrung, all das, was gewöhnlich für Religion gehalten wird, sind nur die je nach geografischen, ethnografischen und historischen Voraussetzungen unterschiedlichen Begleiterscheinungen von Religion. Es gibt keine einzige Religion, von der erhabensten bis hin zur primitivsten, deren Grundlage nicht das festgelegte Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Welt oder zu deren Urgrund bilden würde. Kein noch so primitives religiöses Ritual, kein noch so anspruchsvoller Kult, die nicht dasselbe zur Grundlage hätten. Jede religiöse Lehre drückt das Verhältnis ihres Begründers zur Welt oder zu deren Ursprung und Urgrund aus, in welchem er sich als Mensch und folglich auch alle anderen Menschen erkennt. Die Ausdrucksformen dieser Verhältnisse sind sehr vielfältig, je nach den ethnografischen und historischen Voraussetzungen, unter denen der Begründer der Religion und das Volk, das diese annimmt, leben; außerdem werden diese Ausdrucksformen von den Nachfolgern des Lehrers, der gewöhnlich das Verständnis der Massen auf Hunderte, manchmal Tausende von Jahren vorwegnimmt, stets unterschiedlich ausgelegt und verfälscht; daher scheint es sehr viele Verhältnisse des Menschen zur Welt, d.h. Religionen zu geben, im Grunde genommen jedoch gibt es nur drei Grundverhältnisse des Menschen zur Welt oder deren Ursprung: 1) das ursprüngliche, persönliche 2) das heidnische, gesellschaftliche oder familiär-staatliche und 3) das christliche oder göttliche. Streng genommen gibt es nur zwei Grundverhältnisse des Menschen zur Welt: das persönliche, das den Sinn des Lebens im Heil der Persönlichkeit sieht, welches einzeln oder im Verein mit anderen Persönlichkeiten erlangt werden kann, und das christliche, das den Sinn des Lebens im Dienst an dem, der den Menschen in die Welt gesandt hat, erkennt. Das zweite Verhältnis hingegen – das gesellschaftliche – ist im Grunde lediglich eine Erweiterung des ersten. Das erste dieser Verhältnisse, das älteste – dem wir noch heute bei Menschen auf der niedrigsten Entwicklungsstufe begegnen –, besteht darin, dass der Mensch sich als selbstgenügsames Wesen erkennt, das auf der Welt lebt, um darin größtmögliches persönliches Heil zu erlangen, unabhängig davon, ob das Heil anderer Wesen darunter leidet. Aus diesem allerersten Verhältnis zur Welt, in dem sich jedes Kind befindet, wenn es ins Leben tritt, und in dem die Menschheit in der ersten, heidnischen Epoche ihrer Entwicklung gelebt hat und in dem noch heute viele einzelne, sittlich-primitive Menschen und wilde Völker leben, entsprangen alle heidnischen alten Religionen ebenso wie alle niedrigeren Formen späterer Religionen in ihrer verzerrten Form: der Buddhismus,8 der Taoismus, 8 Hierzu merkt Tolstoj an: »Der Buddhismus basiert, obwohl er von seinen Anhängern Verzicht auf weltliche Güter und das Leben selbst verlangt, auf demselben Verhältnis

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der Islam und andere. Aus diesem Verhältnis zur Welt ergibt sich auch der moderne Spiritismus, der im Grunde genommen darauf abzielt, die Persönlichkeit und ihr Heil sichern. Alle heidnischen Kulte – Wahrsagerei, Vergöttlichung von Wesen, die ebenso wie der Mensch den weltlichen Genüssen zugetan sind, oder von Heiligen, die für ihn beten, alle Opfer und Gebete um irdische Güter und Errettung aus der Not – rühren aus diesem Verhältnis zum Leben. Das zweite, heidnische Verhältnis des Menschen zur Welt, das gesellschaftliche, dasjenige, welches er auf der nächsten Entwicklungsstufe erreicht, ein Verhältnis, das überwiegend für Erwachsene charakteristisch ist, besteht darin, dass die Bedeutung des Lebens nicht im Heil der einzelnen Persönlichkeit erkannt wird, sondern im Heil einer bestimmten Gemeinschaft von Persönlichkeiten – Familien, Geschlechtern, Völkern, Staaten oder sogar der Menschheit (der Entwurf einer Religion der Positivisten). Bei diesem Verhältnis des Menschen zur Welt wird der Sinn des Lebens von der Persönlichkeit auf die Familie übertragen, auf das Geschlecht, das Volk, den Staat, auf eine bestimmte Gemeinschaft von Persönlichkeiten, deren Heil auch als Ziel der Existenz gilt. Aus diesem Verhältnis ergeben sich alle von ihrem Charakter her gleichartigen patriarchalen und gesellschaftlichen Religionen: die chinesische und die japanische, die Religion des auserwählten Volkes – die jüdische, die Staatsreligion der Römer, unsere kirchlich-staatliche Religion, die von Augustinus auf diese Stufe herabgewertet wurde, obwohl sie immer noch den unzutreffenden Namen »christlich« trägt, und die angebliche Religion der Menschheit, die der Positivisten. Alle Rituale zur Ahnenverehrung in China und Japan, die Anbetung der Kaiser in Rom, das ganze vielschichtige jüdische Zeremoniell, durch das der Vertrag des auserwählten Volkes mit Gott eingehalten werden soll, alle familiären, gesellschaftlichen, kirchlich-christlichen Bittgebete um Wohlfahrt des Staates und militärische Erfolge beruhen auf diesem Verhältnis des Menschen zur Welt. Das dritte, das christliche Verhältnis des Menschen zur Welt – dasjenige, in dem sich unwillkürlich jeder alte Mensch befindet und in das meiner Meinung nach die Menschheit jetzt eintritt9 – besteht darin, dass der Mensch die Bedeutung des Lebens nicht mehr darin erkennt, ein persönliches Ziel oder dasjenige einer Gesamtheit von Menschen zu erreichen, sondern nur darin, der selbstgenügsamen und zum Heil bestimmten Persönlichkeit zur sie umgebenden Welt, nur mit dem Unterschied, dass echtes Heidentum das Recht des Menschen auf Genuss anerkennt, der Buddhismus hingegen das Recht auf ein Leben ohne Leiden. Das Heidentum meint, die Welt müsse dem Heil der Persönlichkeit dienen. Der Buddhismus meint, die Welt müsse verschwinden, da sie die Leiden der Persönlichkeit produziert. Der Buddhismus ist lediglich negatives Heidentum.« 9 Diese Parallelisierung von individueller Biografie und Zeitalter scheint Tolstoj von Auguste Comte (1798–1857) übernommen zu haben.

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dem Willen zu dienen, der ihn und die ganze Welt nicht dazu geschaffen hat, die eigenen Ziele zu erreichen, sondern dazu, die Ziele dieses Willens zu erreichen.10 Aus diesem Verhältnis zur Welt ergibt sich die höchste uns bekannte religiöse Lehre, die in Ansätzen bereits bei den Pythagoräern, den Therapeuten und den Essenern, bei den Ägyptern und den Persern, bei den Brahmanen, den Buddhisten und den Taoisten in ihren höchsten Vertretern vorhanden war, die aber ihren vollständigen, letzten Ausdruck erst im Christentum in seiner wahren, unverfälschten Bedeutung erhielt. Alle Rituale der alten Religionen, die sich aus diesem Lebensverständnis ergaben, ebenso wie alle heutigen äußeren Formen von Gemeinschaft, Unitarier, Universalisten, Quäker, serbische Nazarener, russische Duchoborzen, alle sogenannten rationalistischen Sekten,11 alle ihre Predigten, Choräle, Gespräche und Bücher sind religiöse Erscheinungsformen dieses Verhältnisses des Menschen zur Welt. Alle denkbaren Religionen, wie auch immer sie geartet sein mögen, lassen sich notwendigerweise einem dieser drei Verhältnisse der Menschen zur Welt zuordnen. Jeder Mensch, der den tierischen Zustand verlassen hat, erkennt notwendigerweise das eine oder das andere oder das dritte dieser Verhältnisse an, und in dieser Anerkennung besteht die wahre Religion jedes Menschen, ungeachtet dessen, zu welcher Konfession er sich als zugehörig bekennt. Jeder Mensch stellt sich sein Verhältnis zur Welt zwangsläufig irgendwie vor, weil ein vernünftiges Wesen nicht in der Welt leben kann, die ihn umgibt, ohne irgendein Verhältnis zu ihr zu haben. Und da von der Menschheit bislang nur drei Verhältnisse zur Welt herausgearbeitet wurden und wir nur drei solcher Verhältnisse kennen, hält sich jeder Mensch notwendigerweise an eines der drei existierenden Verhältnisse und gehört – ob er will oder nicht – einer der drei grundlegenden Religionen an, auf die sich das ganze Menschengeschlecht verteilt. Daher bedeutet die in der gebildeten Masse der christlichen Welt überaus verbreitete Behauptung der Menschen, sie hätten eine derartige Höhe der Entwicklung erklommen, dass sie keiner Religion mehr bedürften und keine mehr hätten, im Grunde genommen lediglich, dass diese Menschen die christliche Religion, die unserer Zeit einzig entsprechende Religion, nicht anerkennen und sich an eine niedere – entweder an eine gesellschaftlich-fa10 Hier verweist Tolstoj auf Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung; siehe auch den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Band. 11 Tolstoj zählt eine ganze Reihe protestantischer und orthodoxer religiöser Gruppierungen auf, die im zaristischen Russland als Sekten verfolgt wurden. Siehe dazu auch den Beitrag von Sergei Zhuk in diesem Band.

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miliär-staatliche oder an eine ursprüngliche heidnische Religion halten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Einen Menschen ohne Religion, d.h. ohne irgendein Verhältnis zur Welt, kann es ebenso unmöglich geben wie einen Menschen ohne Herz. Er mag nicht wissen, dass er eine Religion hat, so wie ein Mensch nicht wissen mag, dass er ein Herz hat; aber ohne Religion kann der Mensch genauso wenig existieren wie ohne Herz. Die Religion ist das Verhältnis, in dem der Mensch sich zu der ihn umgebenden, unendlichen Welt oder zu ihrem Ursprung oder ihrem Urgrund erkennt, und ein vernünftiger Mensch kann nicht umhin, als sich in irgendeinem Verhältnis dazu zu befinden. Aber ihr werdet vielleicht einwenden, es sei nicht Sache der Religion, das Verhältnis des Menschen zur Welt festzulegen, sondern der Philosophie oder der Wissenschaft allgemein, wenn man die Philosophie als einen Teil davon betrachtet. Ich glaube das nicht. Ich halte im Gegenteil die Annahme, dass die Wissenschaft allgemein, die Philosophie eingeschlossen, das Verhältnis des Menschen zur Welt festlegen könne, für vollkommen falsch und sehe darin die Hauptursache für die Verwirrung der Begriffe von Religion, Wissenschaft und Sittlichkeit, die man in den gebildeten Schichten unserer Gesellschaft vorfindet. Die Wissenschaft, die Philosophie eingeschlossen, kann schon allein deshalb kein Verhältnis des Menschen zur unendlichen Welt oder zu ihrem Ursprung festlegen, weil es bereits vor der Entstehung der Philosophie oder einer Wissenschaft überhaupt dasjenige geben musste, ohne das keinerlei gedankliche Tätigkeit möglich ist, ebenso wie es ein irgendwie geartetes Verhältnis des Menschen zur Welt geben musste. So wie der Mensch nicht durch eine wie auch immer geartete Bewegung die Richtung finden kann, in die er sich bewegen muss, jede Bewegung aber notwendigerweise in irgendeine Richtung erfolgt, so ist es auch unmöglich, durch geistige Arbeit, durch Philosophie oder Wissenschaft, jene Richtung zu finden, in der diese Arbeit verlaufen muss, denn jede geistige Arbeit verläuft notwendigerweise in einer bereits vorgegebenen Richtung. Und diese Richtung für jede geistige Arbeit weist stets die Religion. Alle uns bekannten Philosophen, angefangen bei Platon bis hin zu Schopenhauer, sind stets der ihnen von der Religion vorgegebenen Richtung gefolgt. Die Philosophie Platons und seiner Nachfolger war eine heidnische Philosophie, die die Mittel zur Erlangung des größtmöglichen Heils für die einzelne Persönlichkeit ebenso wie für die Gemeinschaft der Persönlichkeiten im Staat untersuchte. Die mittelalterliche, kirchlich-christliche Philosophie, die aus demselben heidnischen Lebensverständnis hervorging, untersuchte die Mittel zur Rettung der Persönlichkeit, d.h. zur Erlangung des größtmöglichen Heils der Persönlichkeit im künftigen Leben, und befasste sich nur in ihren theokratischen Versuchen mit dem Heil von Gesellschaften.

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Die moderne Philosophie bei Hegel wie bei Kant hat ein gesellschaftlichstaatliches religiöses Lebensverständnis. Die Philosophie des Pessimismus von Schopenhauer und Hartmann, der sich von der jüdischen religiösen Weltanschauung befreien wollte, geriet unwillkürlich unter den Einfluss der religiösen Grundlagen des Buddhismus. Die Philosophie war immer nur und kann nichts anderes sein als die Untersuchung dessen, was sich aus dem durch die Religion festgelegten Verhältnis des Menschen zur Welt ergibt, weil es vor der Festlegung dieses Verhältnisses kein Material für eine philosophische Untersuchung gibt. Ebenso verhält es sich mit der positiven Wissenschaft im engen Sinne dieses Wortes. Eine solche Wissenschaft war immer nur und wird nie etwas anderes sein als die Untersuchung und Erforschung all derjenigen Gegenstände und Phänomene, die infolge eines bestimmten, von der Religion festgelegten Verhältnisses des Menschen zur Welt zu untersuchen sind. Die Wissenschaft war nie die Erforschung »von allem«, wie das die Menschen der Wissenschaft heute naiverweise denken (was auch unmöglich ist, weil es eine unzählbare Menge zu untersuchender Gegenstände gibt), sie war immer und wird immer nur Erforschung dessen sein, was die Religion aus der unzählbaren Menge an zu untersuchenden Gegenständen, Phänomenen und Bedingungen in der richtigen Reihenfolge und nach ihrer Wichtigkeit vorschlägt. Daher gibt es nicht eine Wissenschaft, sondern es gibt so viele Wissenschaften, wie es Religionen gibt. Jede Religion wählt einen bestimmten Kreis zu untersuchender Gegenstände aus, weshalb die Wissenschaft jeder einzelnen Epoche und jedes einzelnen Volkes unweigerlich den Stempel der Religion trägt, aus deren Perspektive sie den Gegenstand betrachtet. Die heidnische Wissenschaft, die zur Zeit der Renaissance wieder aufkam und auch heute in unserer Gesellschaft unter der Bezeichnung christliche wieder aufgeblüht ist, war immer nur und wird auch weiterhin nichts anderes sein als die Untersuchung all jener Bedingungen, unter denen der Mensch das größtmögliche Heil erlangt, sowie all jener Phänomene der Welt, die ihm dieses verschaffen können. Die brahmanische und die buddhistische philosophische Wissenschaft war immer nur die Untersuchung jener Bedingungen, unter denen der Mensch sich von den ihn bedrückenden Leiden befreien kann. Die jüdische Wissenschaft (der Talmud) war immer nur die Erforschung und Erläuterung jener Bedingungen, die der Mensch beachten muss, um seinen Vertrag mit Gott einzuhalten und das auserwählte Volk auf der Höhe seiner Bestimmung zu halten. Die kirchlich-christliche Wissenschaft war und ist die Untersuchung derjenigen Bedingungen, unter denen die Rettung des Menschen erreicht werden kann. Die jetzt gerade entstehende wahrhaft christliche Wissenschaft ist die Untersuchung der Bedingungen, unter denen der Mensch die Forderungen des höchsten Willens, der ihn geschickt hat, erkennen und auf das Leben anwenden kann.

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Weder Philosophie noch Wissenschaft können das Verhältnis des Menschen zur Welt festlegen, weil dieses Verhältnis festgelegt sein muss, bevor irgendeine Philosophie oder Wissenschaft beginnen kann. Sie können das auch deshalb nicht, weil die Wissenschaft, die Philosophie eingeschlossen, Phänomene verstandesmäßig untersucht, unabhängig von der Position desjenigen, der sie untersucht, sowie von den Gefühlen, die er empfindet. Das Verhältnis des Menschen zur Welt hingegen wird nicht nur vom Verstand bestimmt, sondern auch vom Gefühl, von der Gesamtheit der geistigen Kräfte des Menschen. Wie sehr man dem Menschen auch weismachen und auseinandersetzen mag, dass alles wahrhaft Existierende nur Ideen sind, dass alles aus Atomen besteht, dass das Wesen des Lebens Substanz oder Wille ist oder dass Wärme, Licht, Bewegung, Elektrizität unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Energie sind – all das erklärt dem Menschen, einem fühlenden, leidenden, sich freuenden, kämpfenden und hoffenden Wesen, nicht seinen Platz in der Welt. Diesen Platz und daher auch sein Verhältnis zur Welt kann dem Menschen nur die Religion aufzeigen, die ihm sagt: Die Welt existiert für dich, und deshalb nimm von diesem Leben alles, was du von ihm nehmen kannst; oder: Du bist ein Angehöriger von Gottes geliebtem Volk, diene diesem Volk, erfülle alles, was Gott vorgeschrieben hat, und du wirst mit deinem Volk zusammen das höchste erreichbare Heil erlangen; oder: Du bist das Werkzeug eines höheren Willens, der dich in die Welt gesandt hat, damit du die dir vorherbestimmte Aufgabe erfüllst; erkenne diesen Willen und erfülle ihn, dann wirst du auch für dich das Beste tun, was du kannst. Um philosophische und wissenschaftliche Erläuterungen zu verstehen, bedarf es der Vorbereitung und des Studiums; für ein religiöses Verständnis ist das nicht notwendig: es ist jedem, selbst dem beschränktesten, unwissendsten Menschen sofort zugänglich. Damit der Mensch sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt oder deren Ursprung erkennt, braucht er weder philosophische noch wissenschaftliche Kenntnisse – ein Übermaß an Kenntnissen, die das Bewusstsein überfrachten, steht dem eher im Wege –, vielmehr braucht er lediglich die zeitweilige Abkehr von der Hast der Welt und das Bewusstsein seiner materiellen Nichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die häufig, wie es auch im Evangelium heißt, bei Kindern und ganz einfachen, unwissenden Menschen anzutreffen sind. Daher sehen wir auch, dass häufig die ganz einfachen, unwissenden und ungebildeten Menschen vollkommen klar, bewusst und leicht die höchste christliche Lebensauffassung annehmen, während die gelehrtesten, kultiviertesten Menschen weiterhin im primitivsten Heidentum verharren. So kennen wir sehr feine, hochgebildete Menschen, die den Sinn des Lebens im persönlichen Genuss oder in der Befreiung vom Leiden sehen, etwa der überaus kluge, gebildetete Schopenhauer, oder aber in der Rettung

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der Seele durch die Sakramente und die Gnade, etwa die hochgelehrten Bischöfe, während der russische Bauer und Sektierer, der ein halber Analphabet ist, ohne die kleinste Denkanstrengung den Sinn des Lebens darin erkennt, worin ihn die größten Weisen der Welt – Epiktet, Marc Aurel, Seneca – sahen, nämlich im Bewusstsein seiner selbst als Werkzeug des Willens Gottes, als Sohn Gottes. Aber ihr werdet mich fragen: Worin besteht denn das Wesen dieser nichtwissenschaftlichen, nicht-philosophischen Erkenntnis? Wenn diese Erkenntnis keine philosophische und keine wissenschaftliche ist, was für eine Erkenntnis ist sie dann? Wie ist sie definiert? Auf diese Fragen kann ich nur wie folgt antworten: Da die religiöse Erkenntnis diejenige ist, auf der jede andere beruht und die jeder anderen Erkenntnis vorausgeht, können wir sie nicht definieren, weil wir kein Werkzeug haben, sie zu definieren. In der Sprache der Theologen wird diese Erkenntnis als Offenbarung bezeichnet. Und diese Bezeichnung ist, sofern man dem Wort »Offenbarung« keine mystische Bedeutung zuschreibt, vollkommen richtig, weil diese Erkenntnis nicht durch das Studium und nicht durch die Anstrengungen eines einzelnen oder mehrerer Menschen erlangt wird, sondern nur dadurch, dass ein einzelner Mensch oder mehrere Menschen die Manifestationen der unendlichen Vernunft, die sich den Menschen allmählich offenbaren, wahrnehmen. Warum konnten die Menschen vor zehntausend Jahren nicht verstehen, dass der Sinn ihres Lebens sich nicht im Heil der Persönlichkeit erschöpft, und warum kam später eine Zeit, als sich den Menschen ein höheres – familiäres, gesellschaftliches, nationales, staatliches – Lebensverständnis erschloss? Warum erschloss sich den Menschen die christliche Lebensauffassung in einer Periode, die von unserem historischen Gedächtnis abgedeckt wird? Und warum offenbarte es sich ausgerechnet diesem Menschen oder jenen Menschen und ausgerechnet zu dieser Zeit, an diesem und nicht an einem anderen Ort, in dieser und nicht in einer anderen Form? Will man eine Antwort auf diese Fragen finden und die Gründe in den historischen Bedingungen von Zeit, Leben und Charakter jener Menschen suchen, die diese Lebensauffassung als erste übernahmen und sie in ihren besonderen Eigenschaften zum Ausdruck brachten, ist es dasselbe, als wolle man die Frage beantworten, warum die aufgehende Sonne zuerst diese und nicht andere Gegenstände beleuchtet. Die Sonne der Wahrheit steigt höher und höher über der Welt auf, beleuchtet sie mehr und mehr und spiegelt sich auf denjenigen Gegenständen, die zuerst in den Leuchtkreis ihrer Strahlen gelangen und diese am besten reflektieren können. Diejenigen Eigenschaften aber, welche die einen Menschen mehr als die anderen befähigen, diese aufgehende Wahrheit anzunehmen, sind keine besonderen, aktiven Qualitäten des Verstands, es sind im Gegenteil passive, selten mit einem großen, neu-

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gierigen Verstand zusammenfallende Eigenschaften des Herzens: die Abkehr von der Hast der Welt, das Bewusstsein der eigenen materiellen Nichtigkeit, Wahrhaftigkeit, wie wir es bei allen Religionsgründern sehen, die sich nie durch philosophische oder wissenschaftliche Kenntnisse auszeichneten. Meiner Meinung nach besteht der Hauptirrtum, der dem wahren Fortschritt unserer christlichen Menschheit mehr als alles andere im Wege steht, darin, dass die Menschen der Wissenschaft heute auf dem Stuhl von Moses Platz genommen haben und, geleitet von einer in der Renaissance erneuerten heidnischen Weltanschauung, die primitivste Verzerrung des Christentums für dessen Wesen halten und entschieden haben, dieses sei ein bereits überlebter Zustand (vielmehr sei die heidnische, gesellschaftlich-staatliche, alte und wirklich überlebte Lebensauffassung, der sie anhängen, die höchste Lebensauffassung – und diejenige, an der die Menschheit strikt festhalten müsse), dass sie also das wahre Christentum, welches jene höchste Lebensauffassung ausmacht, auf die sich die ganze Menschheit zu bewegt, nicht nur nicht verstehen, sondern sich nicht einmal bemühen, es zu verstehen. Dieses Missverständnis rührt hauptsächlich daher, dass die Menschen der Wissenschaft, die sich vom Christentum abgewandt und dessen Unvereinbarkeit mit ihrer Wissenschaft erkannt haben, die Schuld daran nicht ihrer Wissenschaft, sondern dem Christentum geben, d.h. sie sehen nicht, wie es in Wirklichkeit ist, dass nämlich ihre Wissenschaft um 1800 Jahre hinter dem Christentum, das bereits einen Großteil der modernen Gesellschaft umfasst, zurückgeblieben ist, sondern sie sehen, dass das Christentum vermeintlich um 1800 Jahre hinter der Wissenschaft zurückgeblieben ist. Aus dieser Umkehrung der Rollen ergibt sich auch das verblüffende Phänomen, dass niemand abstrusere Vorstellungen hat über das Wesen der wahren Bedeutung der Religion, über die Religion, über die Sittlichkeit und über das Leben, als die Menschen der Wissenschaft; verblüffender noch ist das Phänomen, dass die Wissenschaft unserer Zeit, die tatsächlich große Erfolge in der Erforschung der Bedingungen der materiellen Welt vorzuweisen hat, im Leben der Menschen wirkungslos bleibt und bisweilen sogar schädliche Folgen hat. Von daher glaube ich, dass keineswegs Philosophie oder Wissenschaft das Verhältnis des Menschen zur Welt festlegen, sondern nur die Religion. Folglich antworte ich auf eure erste Frage, was ich unter dem Wort »Religion« verstehe: Religion ist ein bestimmtes, vom Menschen zwischen sich und der ewigen unendlichen Welt oder deren Ursprung und deren Urgrund festgelegtes Verhältnis. Aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich ganz von selbst die Antwort auf die zweite: Wenn Religion ein festgelegtes Verhältnis des Menschen zur Welt ist, die den Sinn seines Lebens bestimmt, dann ist Sittlichkeit die Anweisung und

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Erläuterung jener Tätigkeit des Menschen, die sich von selbst aus diesem oder jenem Verhältnis des Menschen zur Welt ergibt. Da wir an grundlegenden Verhältnissen zur Welt lediglich zwei kennen, wenn wir das heidnische gesellschaftliche Verhältnis als Erweiterung des persönlichen Verhältnisses betrachten, oder auch drei, wenn wir das gesellschaftliche heidnische Verhältnis als ein eigenständiges ansehen, gibt es nur drei sittliche Lehren: Die ursprüngliche, primitive, persönliche sittliche Lehre, die heidnische, familiär-staatliche oder gesellschaftliche sittliche Lehre und die christliche oder göttliche sittliche Lehre, d.h. der Dienst an der Welt oder an Gott. Aus dem ersten Verhältnis des Menschen zur Welt ergeben sich die allen heidnischen Religionen gemeinsamen Sittlichkeitslehren, deren Grundlage das Streben nach dem Heil der einzelnen Persönlichkeit bildet und die daher alle Zustände bestimmen, die einer Persönlichkeit das größtmögliche Heil geben, und die Mittel zur Erlangung dieses Heils aufzeigen. Aus diesem Verhältnis zur Welt entstehen mehrere Sittlichkeitslehren: die epikuräische in ihrer niedrigsten Erscheinungsform, die islamische Sittlichkeitslehre, die das Heil der Persönlichkeit in dieser Welt und im Jenseits verspricht, die kirchlich-christliche Sittlichkeitslehre, deren Ziel die Erlösung ist, d.h. das Heil der Persönlichkeit vornehmlich im Jenseits, und die Lehre der weltlichen, utilitaristischen Sittlichkeit, deren Ziel das Heil der Persönlichkeit nur in dieser Welt ist. Aus demselben Verhältnis, welches das Heil des einzelnen Menschen und somit die Erlösung von den Leiden der Persönlichkeit als Ziel des Lebens setzt, ergeben sich die Sittlichkeitslehre des Buddhismus in seiner primitiven Form und die weltliche, pessimistische Lehre. Aus dem zweiten, dem heidnischen Verhältnis des Menschen zur Welt, welches das Heil einer bestimmten Gemeinschaft von Persönlichkeiten als Ziel des Lebens setzt, ergeben sich die Sittlichkeitslehren, die vom Menschen den Dienst an jener Gemeinschaft verlangen, deren Heil als Lebensziel anerkannt wird. Nach dieser Lehre ist das Streben nach persönlichem Heil nur in dem Maße gestattet, in dem es von der Gemeinschaft erlangt wird, die die religiöse Grundlage des Lebens bildet. Aus diesem Verhältnis zur Welt ergeben sich die uns bekannten Sittlichkeitslehren der griechischen und römischen Antike, wo sich die Persönlichkeit stets der Gesellschaft zum Opfer darbrachte, und auch die chinesische Sittlichkeit; aus demselben Verhältnis ergibt sich die jüdische Sittlichkeit – die Unterordnung des eigenen Heils unter dasjenige des auserwählten Volkes – und die kirchlich-staatliche Sittlichkeit unserer Zeit, die das Opfer der Persönlichkeit zum Heil des Staates verlangt; aus demselben Verhältnis ergibt sich die Sittlichkeit der meisten Frauen, die ihre Persönlichkeit für das Heil der Familie und vor allem der Kinder opfern. Die gesamte alte Geschichte, zum Teil auch die mittlere und die neue Geschichte sind voller Beschreibungen von Heldentaten dieser familiär-gesell-

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schaftlichen und staatlichen Sittlichkeit. Auch heutzutage folgt die Mehrheit der Menschen, die sich einbildet, sie würde sich an die christliche Sittlichkeit halten, weil sie sich zum Christentum bekennt, in Wirklichkeit nur dieser familiär-staatlichen, d.h. heidnischen Sittlichkeit und stellt diese Sittlichkeit als Ideal für die Erziehung der jungen Generation dar. Aus dem dritten, dem christlichen Verhältnis zur Welt, welches darin besteht, dass der Mensch sich als Werkzeug eines höheren Willens zur Erfüllung von dessen Zielen anerkennt, ergeben sich auch die diesem Lebensverständnis entsprechenden Sittlichkeitslehren, die die Abhängigkeit des Menschen von einem höheren Willen erläutern und Forderungen dieses Willens bestimmen. Aus diesem Verhältnis des Menschen zur Welt ergeben sich alle der Menschheit bekannten höheren Sittlichkeitslehren: die pythagoräische, die stoische, die buddhistische, die brahmanische, die taoistische in ihrer höchsten Erscheinungsform und die christliche in ihrem wahren Sinn, die den Verzicht auf persönlichen Willen und Heil verlangt, und zwar nicht nur auf persönliches, sondern auch auf familiäres, gesellschaftliches und staatliches Heil, im Namen der Erfüllung des uns in unserem Bewusstsein offenbarten Willen desjenigen, der uns ins Leben gesandt hat. Aus diesem, dem anderen oder dem dritten Verhältnis zur unendlichen Welt oder zu deren Ursprung ergibt sich die tatsächliche, ungeheuchelte Sittlichkeit eines jeden Menschen, ungeachtet dessen, was er nominell als Sittlichkeit bekennt oder verkündet, oder als was er scheinen will. So kann sich also ein Mensch, der das Wesen seines Verhältnisses zur Welt in der Erlangung des größtmöglichen Heils für sich erkennt – mag er noch so viel davon reden, er erachte es als sittlich, für die Familie, die Gesellschaft, den Staat, die Menschheit oder die Erfüllung von Gottes Willen zu leben –, zwar vor den Menschen geschickt verstellen und sie täuschen, doch das tatsächliche Motiv seiner Tätigkeit wird immer nur das Heil seiner Persönlichkeit sein, sodass er, vor die Wahl gestellt, nicht seine Persönlichkeit für die Familie, den Staat oder die Erfüllung von Gottes Willen opfert, sondern alles für sich, denn da er den Sinn seines Lebens nur im Heil seiner Persönlichkeit sieht, kann er solange nicht anders handeln, bis er sein Verhältnis zur Welt nicht ändert. Genau so kann ein Mensch, dessen Verhältnis zur Welt im Dienst an seiner Familie besteht (wie es überwiegend bei Frauen vorkommt), an seinem Geschlecht, seinem Volk oder dem Staat (wie es überwiegend bei Angehörigen unterdrückter Völkerschaften oder Politikern vorkommt), noch so viel davon reden, ein Christ zu sein, seine Sittlichkeit wird stets entweder familiär oder national oder staatlich, aber nicht christlich sein, und wenn er zwischen dem familiären, gesellschaftlichen Heil und dem persönlichen Heil oder zwischen dem gesellschaftlichen Heil und der Erfüllung von Gottes Willen wählen muss, wird er unausweichlich den Dienst am Heil jener Ge-

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meinschaft von Menschen wählen, für die er seiner Weltanschauung nach existiert, weil er nur in diesem Dienst den Sinn seines Lebens sieht. Genauso wird ein Mensch, der sein Verhältnis zur Welt in der Erfüllung des Willens desjenigen sieht, der ihn gesandt hat – mag man ihm auch noch so viel einreden, er müsse entsprechend den Forderungen von Persönlichkeit, Familie, Volk, Staat und Menschheit Handlungen vollbringen, die diesem höheren Willen, den er in den ihm verliehenen Eigenschaften von Vernunft und Liebe sieht, zuwiderlaufen –, immer Persönlichkeit, Familie, Vaterland und Menschheit opfern, um den Willen desjenigen, der ihn gesandt hat, zu erfüllen, weil er nur in der Erfüllung dieses Willens den Sinn seines Lebens sieht. Sittlichkeit kann nicht unabhängig von der Religion sein, denn sie ist nicht nur eine Konsequenz der Religion, d.h. jenes Verhältnisses, in dem der Mensch sich zur Welt erkennt, sondern bereits in der Religion eingeschlossen, impliquée. Jede Religion ist Antwort auf die Frage: Was ist der Sinn meines Lebens? Die religiöse Antwort beinhaltet schon eine bestimmte sittliche Forderung, die manchmal nach der Erklärung über den Sinn des Lebens, manchmal vor dieser gestellt wird. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens kann man so antworten: Der Sinn des Lebens liegt im Heil der Persönlichkeit, nutze daher alle Güter, die dir zugänglich sind; oder: Der Sinn des Lebens liegt im Heil der Gemeinschaft der Menschen, diene daher dieser Gemeinschaft mit all deiner Kraft, oder: Der Sinn des Lebens liegt in der Erfüllung des Willens desjenigen, der dich gesandt hat, bemühe dich daher mit aller Kraft, diesen Willen zu erkennen und zu erfüllen. Auf dieselbe Frage kann man auch so antworten: Der Sinn deines Lebens liegt in deinem persönlichen Genuss, weil darin die Bestimmung des Menschen liegt; oder: Der Sinn deines Lebens liegt im Dienst an jener Gemeinschaft, der du dich als zugehörig betrachtest, weil darin deine Bestimmung liegt; oder: Der Sinn deines Lebens liegt im Dienst an Gott, weil darin deine Bestimmung liegt. Die Sittlichkeit ist in der von der Religion gegebenen Erklärung des Lebens enthalten und kann daher keinesfalls von der Religion getrennt werden. Diese Wahrheit ist besonders augenfällig in den Versuchen nichtchristlicher Philosophen, eine Lehre höchster Sittlichkeit aus ihrer Philosophie abzuleiten. Diese Philosophen sehen, dass die christliche Sittlichkeit unabdingbar ist, dass man ohne sie nicht leben kann; mehr noch, sie sehen, dass es sie gibt, und sie wollen sie auf irgendeine Weise mit ihrer nichtchristlichen Philosophie verbinden und die Sache sogar so darstellen, als ob die christliche Sittlichkeit sich aus ihrer heidnischen oder gesellschaftlichen Philosophie ergeben würde. Sie versuchen es, doch gerade bei diesen Versuchen wird nicht nur die Unabhängigkeit deutlich, sondern auch der vollkommene Widerspruch zwischen christlicher Sittlichkeit und der Philosophie des persönlichen Heils oder der Befreiung von persönlichen Leiden und der gesellschaftlichen Philosophie.

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Die christliche Ethik – die wir infolge unserer religiösen Weltanschauung anerkennen – verlangt nicht nur das Opfer der Persönlichkeit zugunsten der Gemeinschaft der Persönlichkeiten, sie verlangt auch die Lossagung von der eigenen Persönlichkeit und von der Gemeinschaft der Persönlichkeiten für den Dienst an Gott; die heidnische Philosophie hingegen untersucht nur die Mittel zur Erlangung des höchsten Heils der Persönlichkeit oder der Gemeinschaft der Persönlichkeiten, weshalb der Widerspruch unvermeidbar ist. Um diesen Widerspruch zu verdecken, gibt es nur ein Mittel – abstrakte, willkürliche Begriffe aufeinander zu türmen und den vagen Bereich der Metaphysik nicht zu verlassen. So gingen die Philosophen seit der Renaissance ganz überwiegend vor, und diesem Umstand – der Unmöglichkeit, die Forderungen der christlichen, schon im Voraus als gegeben angenommenen Sittlichkeit mit der von heidnischen Grundlagen ausgehenden Philosophie in Einklang zu bringen – muss man auch die furchtbare Abstraktheit, Unklarheit, Unverständlichkeit und Lebensfremdheit der neuen Philosophie zuschreiben. Mit Ausnahme von Spinoza, der in seiner Philosophie von religiösen und – ungeachtet dessen, dass er nicht als Christ gelten kann12 – wahrhaft christlichen Grundlagen ausging, und dem genialen Kant, der seine Ethik unabhängig von seiner Metaphysik aufstellte, haben sich alle anderen Philosophen, selbst der glänzende Schopenhauer, ohne jeden Zweifel eine künstliche Verbindung zwischen ihrer Ethik und ihrer Metaphysik ausgedacht. Man spürt, dass die christliche Ethik etwas im Voraus Gegebenes ist, das vollkommen fest und unabhängig von der Philosophie steht und der fiktiven Stützen, die man ihr beigibt, nicht bedarf, dass vielmehr die Philosophie lediglich Grundsätze entwirft, nach denen die gegebene Ethik sich nicht in einem Widerspruch zu ihr befinden, sondern sich vielmehr mit ihr verbinden und sich gleichsam aus ihr ergeben würde. Alle diese Grundsätze aber scheinen die christliche Ethik nur solange zu rechtfertigen, wie sie abstrakt betrachtet werden. Sobald sie auf Fragen des praktischen Lebens angewendet werden, tritt nicht nur die Unvereinbarkeit, sondern der offene Widerspruch der philosophischen Grundlagen zu dem, was wir als Sittlichkeit erachten, mit ganzer Kraft zutage. Der jüngst so berühmt gewordene unglückliche Nietzsche ist besonders wertvoll, weil er diesen Widerspruch entlarvt. Er hat zweifellos Recht, dass vom Standpunkt der existierenden nichtchristlichen Philosophie aus alle Regeln der Sittlichkeit nur Lüge und Heuchelei seien und dass es für den Menschen weit vorteilhafter, angenehmer und vernünftiger sei, eine Gesellschaft von Übermenschen zu bilden und einer von diesen zu sein anstatt einer aus je-

12 Baruch Spinoza (1632–1677) entstammte einem iberisch-jüdischen Geschlecht.

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ner Menge, die diesen Übermenschen als Bühne dient.13 Keinerlei Konstruktionen einer von einer heidnischen religiösen Weltanschauung ausgehenden Philosophie können dem Menschen beweisen, dass es für ihn vorteilhafter und vernünftiger wäre, nicht für sein erwünschtes, verständliches und mögliches Heil oder für das Heil seiner Familie und seiner Gesellschaft, sondern für ein fremdes, nicht erwünschtes, unverständliches und mit den nichtigen menschlichen Mitteln unerreichbares Heil zu leben. Eine Philosophie, die auf einem im Heil des Menschen bestehenden Lebensverständnis beruht, wird niemals imstande sein, einem vernünftigen Menschen, der weiß, dass er jede Minute sterben kann, zu beweisen, dass es für ihn gut und notwendig sei, auf sein erwünschtes, verständliches und unzweifelhaftes Heil zu verzichten, und das nicht einmal für das Heil von anderen, weil er niemals wissen kann, welche Folgen sein Opfer haben wird, sondern nur deshalb, weil das notwendig oder gut ist, weil es dem kategorischen Imperativ entspricht.14 Vom heidnischen philosophischen Standpunkt aus ist es unmöglich, das zu beweisen. Um zu beweisen, dass alle Menschen gleich sind, dass es für den Menschen besser ist, sein Leben für den Dienst an anderen hinzugeben als andere Menschen zu zwingen, einem selbst zu dienen und deren Leben zu missachten, muss man sein Verhältnis zur Welt anders bestimmen: Man muss beweisen, dass die Situation des Menschen so ist, dass ihm nichts anderes zu tun bleibt, weil der Sinn seines Lebens nur in der Erfüllung des Willens desjenigen liegt, der ihn gesandt hat; der Wille desjenigen, der ihn gesandt hat, liegt allerdings darin, dass der Mensch sein Leben dem Dienst an anderen Menschen widmet. Eine derartige Veränderung im Verhältnis des Menschen zur Welt aber kann nur die Religion bewirken. Ebenso verhält es sich mit den Versuchen, die christliche Sittlichkeit aus den grundlegenden Positionen der heidnischen Wissenschaft abzuleiten und sie damit in Einklang zu bringen. Keinerlei Sophismen und Ausreden können den einfachen, klaren Grundsatz umstoßen, dass das Gesetz der Evolution, das der gesamten heutigen Wissenschaft zugrunde liegt, auf einem allgemeinen, ewigen und unveränderlichen Gesetz beruht – auf dem Gesetz des Kampfes um die Existenz und das Überleben des Tüchtigsten (the fittest), weshalb jeder Mensch zur Erlangung des Heils für sich oder seine Gesellschaft dieser fittest sein und seine Gesellschaft dazu machen muss, damit nicht er oder seine Gesellschaft untergeht, sondern der andere, weniger Tüchtige. 13 Hier dürfte sich Tolstoj in erster Linie auf Also sprach Zarathustra (1883–1885) beziehen. Zu Tolstoj und Nietzsche siehe den Beitrag von Ilja Karenovics in diesem Band. 14 D.h. Kants kategorischer Imperativ als eine für alle vernunftbegabten Lebewesen verbindliche Handlungsmaxime, die universelle Gültigkeit beansprucht. Siehe auch Ulrich Schmids Beitrag in diesem Band.

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So sehr sich einige Naturalisten, die es angesichts der logischen Schlussfolgerungen aus diesem Gesetz und seiner Anwendung auf das menschliche Leben mit der Angst zu tun bekamen, auch bemühen, es zu übertönen und davon abzulenken, so zeigen doch alle ihre Versuche nur noch deutlicher die Unwiderlegbarkeit dieses Gesetzes, welches das Leben der gesamten organischen Welt und somit auch des Menschen, der als Tier betrachtet wird, regelt. Gerade zu der Zeit, als ich das schrieb, erschien in russischer Übersetzung ein Artikel von Herrn Huxley, der auf einer Rede über Evolution und Ethik beruht, die er unlängst vor einer englischen Versammlung gehalten hat.15 In diesem Artikel bemüht sich der gelehrte Professor zu beweisen, ebenso wie das vor einigen Jahren unser berühmter Professor Beketov16 und viele andere taten, die über diesen Gegenstand schrieben, – und zwar mit ebensolchem Misserfolg wie seine Vorgänger –, dass der Existenzkampf nicht gegen die Sittlichkeit verstoße und dass es Sittlichkeit, wenn man das Gesetz des Existenzkampfs als grundlegendes Gesetz des Lebens anerkenne, nicht nur gebe, sondern dass sie sich sogar vervollkommnen könne. Der Aufsatz von Herrn Huxley strotzt von Scherzen, Versen und allgemeinen Ansichten über Religion und Philosophie der Alten und ist infolge dessen so verdreht und verworren, dass man nur mit großer Mühe zu seinem grundlegenden Gedanken vordringen kann. Dieser Gedanke ist folgender: Das Gesetz der Evolution steht dem Gesetz der Sittlichkeit entgegen, das wussten die Alten in der griechischen wie in der indischen Welt. Die Philosophie wie die Religion beider Völker brachte sie zur Lehre der Selbstverleugnung. Diese Lehre ist nach Meinung des Autors nicht richtig, richtig hingegen ist Folgendes: Es gibt ein Gesetz, das der Autor als kosmisches Gesetz bezeichnet, nach dem alle Wesen miteinander kämpfen und nur die Tüchtigsten, the fittest, überleben. Diesem Gesetz unterliege auch der Mensch, nur dank diesem Gesetz sei der Mensch zu dem geworden, was er heute ist. Doch dieses Gesetz steht der Sittlichkeit entgegen. Wie kann man dieses Gesetz mit der Sittlichkeit in Einklang bringen? Folgendermaßen: Es gibt den sozialen Fortschritt, der danach strebt, den kosmischen Prozess aufzuhalten und ihn durch einen anderen Prozess zu ersetzen – einen ethischen Prozess, dessen Ziel das Überleben nicht des Tüchtigsten, the fittest, sondern des Besten, the best, im ethischen Sinne ist. Wie dieser ethische Prozess zustande kommt, erklärt Herr Huxley nicht, doch in 15 Die Rede ist vom Essay Evolution and Ethics (1893) des englischen Biologen Thomas Henry Huxley (1825–1895), der noch im selben Jahr auf Russisch in der Zeitschrift Russkaja mysl’ erschien. 16 Tolstoj verweist auf den Artikel Nravstvennost’ i estestvoznanie (Sittlichkeit und Naturwissenschaft; 1891) des Botanikers Andrej Beketov (1825–1902), der die Entwicklung der sittlichen Normen direkt abhängig von der Evolution macht.

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Anmerkung 19 sagt er, die Grundlage dieses Prozesses bestehe darin, dass die Menschen, ebenso wie die Tiere, einerseits selbst gerne in Gesellschaft seien und die für die Gesellschaft schädlichen Eigenschaften in sich unterdrückten, dass andererseits die Mitglieder der Gesellschaft mit Gewalt Handlungen unterdrückten, die dem Heil der Gesellschaft entgegenstünden. Herr Huxley meint, dieser Prozess, der die Menschen zwingt, zugunsten des Erhalts jener Gemeinschaft, der sie angehören, ihre Leidenschaften zu bändigen, sowie die Angst, für die Verletzung von Regeln der Gemeinschaft bestraft zu werden, sei eben dieses ethische Gesetz, dessen Existenz er beweisen wollte. In der Unschuld seiner Seele meint Herr Huxley offenbar, dass in der heutigen englischen Gesellschaft – mit ihrem Irland, mit dem Elend des Volkes und dem wahnsinnigen Prunk der Reichen, mit dem Opium- und Branntweinhandel, den Hinrichtungen, den Schlachten und der Ausrottung von Völkern um der Vorteile in Handel und Politik willen, mit dem versteckten Laster und der Heuchelei – ein Mensch, der die Auflagen der Polizei nicht verletzt, ein sittlicher Mensch sei und durch ein ethisches Gesetz geleitet werde, wobei er vergisst, dass die Eigenschaften, die nötig sein mögen, damit die Gesellschaft, in der der Mensch lebt, nicht zusammenbricht, zwar überaus nützlich für die Gesellschaft selbst sein mögen, so wie die Eigenschaften der Mitglieder einer Räuberbande, so wie selbst in unserer Gesellschaft die Eigenschaften von Henkern, Gefängniswärtern, Richtern, Soldaten, bigotten Priestern u.a. nützlich sind, dass aber diese Eigenschaften nichts mit Sittlichkeit gemein haben. Sittlichkeit ist etwas, das sich ständig entwickelt, ständig wächst, und daher werden die Einhaltung der festgelegten Regeln einer bestimmten Gesellschaft und deren Durchsetzung mit Galgen und Beil, über die Herr Huxley wie über Werkzeuge der Sittlichkeit spricht, nicht nur keine Bestärkung, sondern eine Verletzung der Sittlichkeit bedeuten. Im Gegenteil ist jede Verletzung existierender Regeln, sei es die Verletzung der Regeln der römischen Provinz durch Christus und seine Jünger, aber auch die Verletzung heutiger Regeln durch einen Menschen, der die Teilnahme an Gerichtsprozessen und am Militärdienst ablehnt oder sich weigert, Abgaben zu zahlen, die für Kriegsvorbereitungen benutzt werden, nicht nur nicht gegen die Sittlichkeit gerichtet, sondern unabdingbare Voraussetzung für deren Zutagetreten. Jeder Menschenfresser, der aufhört, seinesgleichen zu essen und dementsprechend handelt, verletzt die Regeln seiner Gesellschaft. Daher können Handlungen, die die Regeln einer Gesellschaft verletzen, unsittlich sein, aber es ist zweifellos auch so, dass jede wahrhaft sittliche Handlung, die die Sittlichkeit voranbringt, immer eine Verletzung der Gewohnheiten einer Gesellschaft ist. Auch wenn in einer Gesellschaft ein Gesetz in Kraft tritt, nach dem die Menschen ihre eigenen Vorteile zur Wah-

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rung der Integrität ihrer Gesellschaft opfern, ist dieses Gesetz kein ethisches Gesetz, sondern meist im Gegenteil ein Gesetz, das jeder Ethik entgegensteht, dasselbe Gesetz des Existenzkampfs, nur in einem verborgenen, latenten Zustand. Es ist derselbe Kampf um die Existenz, nur von den Einheiten auf ihre Gesamtheit übertragen. Es ist nicht die Beendigung einer Schlägerei, sondern das Ausholen mit dem Arm, um noch heftiger zuzuschlagen. Wenn das Gesetz des Existenzkampfs und das Überleben des Tüchtigsten, the fittest, das ewige Gesetz alles Lebendigen ist (und es kann, wenn man den Menschen als Tier betrachtet, nur als solches anerkannt werden), dann können keinerlei verworrene Erörterungen über sozialen Fortschritt und das sich angeblich daraus ergebende ethische Gesetz, das wie ein deus ex machina auftauchte, als wir es benötigten, dieses Gesetz verletzen. Wenn der soziale Fortschritt, wie Herr Huxley versichert, die Menschen zu Gruppen zusammenfasst, dann wird derselbe Prozess, derselbe Überlebenskampf in Familien stattfinden, in Geschlechtern und Staaten, und dieser Kampf wird nicht nur nicht sittlicher, sondern noch grausamer und unsittlicher sein als der Kampf von Persönlichkeiten, wie wir das auch in der Realität erleben. Selbst wenn wir das Unmögliche unterstellen, nämlich dass die ganze Menschheit in tausend Jahren allein durch den sozialen Fortschritt zu einem Ganzen vereint sein wird, ein Volk und einen Staat bilden wird, selbst dann also würde – ganz abgesehen davon, dass der zwischen Staaten und Völkern abgeschaffte Kampf in einen Kampf zwischen Menschheit und Tierwelt übergehen würde – der Kampf ein Kampf bleiben, d.h. eine Tätigkeit, die die Möglichkeit der von uns anerkannten christlichen Sittlichkeit radikal ausschließt. Ganz abgesehen davon würde der Kampf zwischen Persönlichkeiten, die eine Gemeinschaft bilden, und zwischen Gemeinschaften – Familien, Geschlechtern, Völkern – keineswegs schwächer, sondern es würde vielmehr, wenn auch in anderer Form, das geschehen, was wir bei allen Vereinigungen von Menschen in Familien, Geschlechtern und Staaten erleben. Familienangehörige streiten und kämpfen untereinander genauso wie Fremde, häufig noch mehr und erbitterter als diese. Genauso verhält es sich mit dem Staat: zwischen Menschen in einem Staat wird der gleiche Kampf geführt wie zwischen Menschen außerhalb des Staates, nur in anderen Formen. Dort wird durch Pfeile und Messer getötet, hier durch Hunger. Wenn aber die Schwachen gerettet werden, in der Familie wie im Staat, dann keineswegs wegen des staatlichen Zusammenschlusses, sondern aus Selbstverleugnung und Liebe derjenigen Menschen, die in Familien und Staaten vereint sind. Wenn außerhalb einer Familie von zwei Kindern nur the fittest überlebt, innerhalb einer Familie mit einer guten Mutter aber beide am Leben bleiben, dann nicht durch den Zusammenschluss von Menschen zu Familien, sondern durch die Liebe und Selbstverleugnung der

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Mutter. Und weder Selbstverleugnung noch Liebe können sich auf irgendeine Weise aus sozialem Fortschritt ergeben. Zu behaupten, sozialer Fortschritt erzeuge Sittlichkeit, ist dasselbe wie zu behaupten, der Bau von Öfen erzeuge Wärme. Die Wärme kommt von der Sonne; Öfen erzeugen Wärme nur, wenn man Brennholz hineingibt, d.h. das Werk der Sonne. Genauso fußt auch die Sittlichkeit auf der Religion. Soziale Lebensformen erzeugen aber Sittlichkeit nur dann, wenn diese Lebensformen religiös – eben sittlich – auf die Menschen einwirken. Öfen können beheizt werden und Wärme abgeben oder auch nicht beheizt werden und kalt bleiben; genauso kann sozialen Lebensformen Sittlichkeit zukommen und sie können dann sittlich auf die Gesellschaft einwirken, oder ihnen kann keine Sittlichkeit zukommen und dann werden sie ohne jede Wirkung auf die Gesellschaft bleiben. Christliche Sittlichkeit kann nicht auf einem heidnischen Lebensverständnis beruhen und lässt sich weder aus der Philosophie noch aus der nichtchristlichen Wissenschaft ableiten, ja sie lässt sich nicht nur nicht aus diesen ableiten, sondern sie lässt sich nicht einmal mit ihnen vereinbaren. Jede ernsthafte, schlüssige und exakte Philosophie und Wissenschaft hat das stets so verstanden: »Wenn unsere Grundsätze nicht mit der Sittlichkeit übereinstimmen, desto schlimmer für diese«, sagt eine solche Philosophie und Wissenschaft vollkommen richtig und führt ihre Forschungen weiter. Ethische Traktate, die nicht in der Religion begründet sind, und sogar Laien-Katechismen werden verfasst und gelehrt, und die Menschen mögen glauben, die Menschheit werde von ihnen geleitet, doch das scheint nur so, weil die Menschen in Wirklichkeit nicht von diesen Traktaten und Katechismen, sondern von der Religion geleitet werden, die sie immer hatten und haben; diese Traktate und Katechismen hingegen geben nur vor, das zu sein, was sich ganz von selbst aus der Religion ergibt. Die nicht auf einer religiösen Lehre beruhenden Vorschriften der LaienSittlichkeit entsprechen ganz dem Verhalten eines Menschen ohne musikalische Vorkenntnisse, der sich auf den Platz des Kapellmeisters stellt und vor den wie gewöhnlich agierenden Musikern mit den Händen herumfuchtelt. Die Musik würde aus Gewohnheit und aus dem Wissen, das die Musiker sich bei früheren Kapellmeistern angeeignet haben, noch eine Zeitlang weiter erklingen, doch es ist offensichtlich, dass das Herumfuchteln mit dem Stab eines Musikbanausen nicht nur nichts nützen, sondern mit der Zeit die Musiker verwirren und das Orchester aus dem Konzept bringen würde. Eine ebensolche Verwirrung breitet sich heutzutage allmählich auch in den Köpfen der Menschen aus, infolge der Versuche der geistigen Führer, die Menschen eine Sittlichkeit zu lehren, die nicht auf jener höheren Religion beruht, die die christliche Menschheit sich allmählich aneignet und zum Teil bereits angeeignet hat.

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Tatsächlich wäre es wünschenswert, eine Sittlichkeitslehre ohne Zusätze von Aberglauben zu haben, aber die Sittlichkeitslehre ist lediglich die Folge eines bestimmten, festgelegten Verhältnisses des Menschen zur Welt oder zu Gott. Wenn nun aber die Festlegung eines solchen Verhältnisses in einer Form ausgedrückt wird, die uns abergläubisch erscheint, dann muss man, damit das nicht so sei, dieses Verhältnis vernünftiger, klarer und genauer auszudrücken versuchen oder sogar das vorherige, nicht mehr genügende Verhältnis des Menschen zur Welt zerstören und an seiner Stelle ein höheres, klareres und vernünftigeres stellen, jedoch keinesfalls eine auf Sophismen oder auf überhaupt nichts beruhende, sogenannte weltliche, nichtreligiöse Sittlichkeit erfinden. Die Versuche, eine Sittlichkeit ohne Religion zu begründen, gleichen dem Verhalten von Kindern, die eine Pflanze, die ihnen gefällt, verpflanzen wollen, die ihnen unschön und überflüssig erscheinende Wurzel abreißen und die Pflanze ohne Wurzel in die Erde stecken. Ohne eine religiöse Grundlage kann es keine echte, ungeheuchelte Sittlichkeit geben, genauso wie es ohne Wurzel keine echte Pflanze geben kann. Also kann ich eure beiden Fragen wie folgt beantworten: Die Religion ist ein bestimmtes, vom Menschen festgelegtes Verhältnis seiner einzelnen Persönlichkeit zur unendlichen Welt oder deren Ursprung. Sittlichkeit hingegen ist der immerwährende Leitfaden des Lebens, der sich aus diesem Verhältnis ergibt.

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Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen?

Auch nach seinen großen Arbeiten über die Evangelien aus den 1880er Jahren beschäftigte sich Tolstoj weiter mit der Frage, wie das Evangelium »richtig« rezipiert und in seiner Grundaussage von heutigen Lesern verstanden werden könne. Da er in Briefen oft um Erläuterungen und praktische Ratschläge angegangen wurde, entschloss sich Tolstoj, eine praktische Hilfestellung für die Lektüre der Evangelien zu veröffentlichen. Am 4. Juli 1896 schrieb er in einem Brief: »Diesen Sommer habe ich mich daran gemacht, in den Evangelien das zu unterstreichen, was ganz einfach und verständlich ist, und habe das ausgelassen, was man auf verschiedene Arten interpretieren kann, und als ich in den Evangelien nur diese verständlichen Stellen durchgelesen habe, verspürte ich eine große Freude.« Und in seinem Tagebuch vermerkt er: »Währenddessen habe ich ein Vorwort zur Lektüre des Evangeliums geschrieben und in den Evangelien Unterstreichungen vorgenommen.« Das Manuskript trug ursprünglich den Titel Worin besteht das Wesen der Lehre Christi?, der geändert wurde in Wie soll man das Evangelium lesen?. Sehr wahrscheinlich hat sich Tolstoj bei der Schlussredaktion entschlossen, beide Arbeitstitel in einem zu vereinigen. Erstmals wurde Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen? 1897 in London von Cˇertkov veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 39: 113–116).

In dem, was als Lehre Christi unterrichtet wird, ist so viel Merkwürdiges, Unwahres, Unverständliches, ja Widersprüchliches, dass man nicht weiß, wie man es verstehen soll. Außerdem wird diese Lehre nicht immer auf die gleiche Art verstanden: Die Einen sagen, es gehe vor allem um die Erlösung; Andere sagen, es gehe vor allem um die Gnade, die man durch die Sakramente erfahre; die Dritten sagen, es gehe vor allem um den Gehorsam gegenüber der Kirche. Die Kirchen wiederum sind unterschiedlich und verstehen die Lehre unterschiedlich: Die katholische Kirche anerkennt die Herkunft des Geistes aus dem Vater und dem Sohn sowie die Unfehlbarkeit des Papstes und erachtet die Rettung für möglich vorwiegend durch Taten; die lutherische Kirche erkennt das nicht an und erachtet die Rettung für möglich vorwiegend durch den Glauben; die orthodoxe Kirche anerkennt nur die Herkunft des Geistes aus dem Vater und erachtet sowohl Taten als auch den Glauben als unerlässlich für die Rettung. Die anglikanische Kirche, die Episkopalkirche, die presbyterianische Kirche und die methodistische Kirche, ganz zu schweigen von hundert ver-

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schiedenen anderen Kirchen, verstehen allesamt die christliche Lehre auf ihre eigene Weise. Schon häufig sind junge Leute und Menschen aus dem Volk, die an der Wahrheit der kirchlichen Lehre, in der sie erzogen wurden, zweifeln, mit der Frage an mich herangetreten, worin meine Lehre bestehe und wie ich die christliche Lehre verstehe. Solche Fragen bekümmern, ja kränken mich immer. Christus – nach der kirchlichen Lehre Gott – kam herab auf die Erde, um den Menschen die göttliche Wahrheit als Richtschnur für ihr Leben zu geben. Wenn ein Mensch – ein einfacher, törichter Mensch – den Menschen eine für sie wichtige Anweisung geben will, ist er stets imstande, das so zu tun, dass die Menschen ihn verstehen. Und plötzlich kam Gott nur deshalb auf die Erde herab, um die Menschen zu retten, und dieser Gott war nicht einmal imstande, das, was er sagen wollte, so zu sagen, dass nicht jedermann seine Worte so auslegen konnte, dass alle unterschiedlicher Meinung darüber waren. Das kann nicht sein, wenn Christus Gott war. Das kann auch dann nicht sein, wenn Christus nicht Gott war, aber ein großer Lehrer. Ein großer Lehrer ist nur deshalb ein großer Lehrer, weil er eine Wahrheit so zu sagen versteht, dass sie klar ist wie die Sonne und man sie weder verbergen noch verschleiern kann. Somit müssen in beiden Fällen die Evangelien, die uns die Lehre Christi übermitteln, die Wahrheit enthalten. Tatsächlich findet sich in den Evangelien die Wahrheit für all diejenigen, die sie mit dem aufrichtigen Wunsch nach Erkenntnis der Wahrheit lesen, ohne vorgefasste Meinung und vor allem ohne den Gedanken, dass sich darin irgendeine besondere, dem menschlichen Verstand unzugängliche Weisheit befindet. So habe ich die Evangelien gelesen und darin die auch einem kleinen Kind, wie es in den Evangelien heißt, uneingeschränkt zugängliche Wahrheit gefunden. Daher antworte ich auf die Frage, worin meine Lehre besteht und wie ich die christliche Lehre verstehe: Ich habe keine Lehre, sondern ich verstehe die christliche Lehre so, wie sie in den Evangelien dargelegt ist. Wenn ich Bücher über die christliche Lehre geschrieben habe, dann nur deshalb, um die Unwahrheit jener Erklärungen zu beweisen, die von den Exegeten der Evangelien gegeben werden. Um die christliche Lehre zu verstehen, wie sie in Wahrheit ist, darf man vor allem die Evangelien nicht auslegen, sondern man muss sie so verstehen, wie sie geschrieben sind. Und daher antworte ich auf die Frage, wie man die Lehre Christi verstehen muss: Wenn ihr die Lehre Christi verstehen wollt, lest die Evangelien, lest sie losgelöst von jedem vorgefassten Verständnis, mit dem alleinigen Wunsch, das zu verstehen, was in den Evangelien gesagt wird. Doch gerade weil das Evangelium ein heiliges Buch ist, muss man es wohlüberlegt

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lesen, mit Verstand und Bedacht, nicht einfach blindlings der Reihe nach und nicht jedem Wort, das es enthält, die gleiche Bedeutung zuschreiben. Bei jedem Buch muss man, will man es verstehen, alles vollkommen Verständliche scheiden von dem, was unverständlich und kompliziert ist, und sich daraus einen Begriff vom Sinn und Geist des ganzen Buches machen, um sich dann auf der Grundlage des vollkommen Verständlichen die Stellen, die nicht vollkommen verständlich und kompliziert sind, zu erklären. So lesen wir alle Arten von Büchern. Um so mehr muss man das Evangelium so lesen, ein Buch, das komplizierte Vereinigungen, Übersetzungen und Abschriften erfahren hat, das vor 1800 Jahren von ungebildeten, abergläubischen Menschen zusammengestellt wurde. (Wie allen bekannt ist, die die Herkunft dieser Bücher untersucht haben, ist das Evangelium keineswegs der unfehlbare Ausdruck göttlicher Wahrheit, sondern ein Werk von Hand und Verstand zahlloser Menschen, voller Fehler, und kann daher keinesfalls als Werk des Hl. Geistes akzeptiert werden, wie es die Kleriker behaupten. Wenn dem so wäre, dann hätte Gott selbst es verkündet, so wie überliefert ist, dass er die Gebote auf dem Berg Sinai verkündete, oder er hätte durch irgendein Wunder den Menschen das fertige Buch übergeben, wie es die Mormonen von ihrer heiligen Schrift behaupten. Heute aber wissen wir, wie diese Bücher niedergeschrieben und zusammengestellt wurden, wie sie immer wieder verbessert und übersetzt wurden, und daher können wir sie nicht als unfehlbare Offenbarung akzeptieren, vielmehr sind wir verpflichtet, wenn wir uns der Wahrheit verpflichtet fühlen, die Fehler, die uns darin begegnen, zu korrigieren.) Um also die Evangelien zu verstehen, muss man zunächst das, was darin vollkommen einfach und verständlich ist, scheiden von dem, was kompliziert und unverständlich ist, und wenn man dieses Einfache und Verständliche von dem, was kompliziert und unverständlich ist, abgesondert hat, muss man dieses Klare und Verständliche einige Male nacheinander lesen und den Sinn dieser einfachen, klaren Lehre zu erfassen trachten und sich dann auf der Grundlage des Sinns der ganzen Lehre die Bedeutung auch der Stellen, die schwierig und unklar schienen, zu erklären versuchen. Auf diese Weise bin ich bei der Lektüre der Evangelien vorgegangen, und der Sinn von Christi Lehre offenbarte sich mir mit einer Klarheit, bei der es keinerlei Zweifel mehr geben konnte. Und deshalb rate ich jedem Menschen, der den wahren Sinn der Lehre Christi zu verstehen wünscht, ebenso zu verfahren. Jeder möge bei der Lektüre des Evangeliums all das, was ihm vollkommen einfach, klar und verständlich erscheint, mit einem blauen Stift unterstreichen und zusätzlich bei den blau markierten Stellen Christi eigene Worte mit einem roten Stift kennzeichnen, um sie von den Worten der Evangelisten zu unterscheiden, und sodann diese rot markierten Stellen mehrmals durchlesen. Und erst, wenn er diese Stellen gut verstanden hat, möge er die

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übrigen Stellen aus den Reden Christi, die er zuvor nicht verstanden und darum nicht markiert hat, von neuem lesen, und nun auch diejenigen Stellen, die jetzt verständlich sind, rot markieren. Die Stellen mit Christi Worten aber, die vollkommen unverständlich geblieben sind, möge er ebenso wie die unverständlichen Worte der Evangelienschreiber gar nicht markieren. Die rot markierten Stellen zeigen dem Leser das Wesen der Lehre Christi, das, was alle Menschen brauchen und was Christus daher so gesagt hat, dass es alle verstehen können. Die nur blau markierten Stellen zeigen das, was die Evangelienschreiber an Verständlichem hinzugefügt haben. Es kann gut sein, dass bei der Markierung von gänzlich und teilweise verständlichen Stellen verschiedene Menschen Verschiedenes markieren, weil das, was dem einen verständlich ist, dem anderen unklar scheint; doch im Allerwichtigsten werden alle Menschen unvermeidlich übereinstimmen, und für alle wird ein und dasselbe vollkommen verständlich sein. Und dieses, das allen vollkommen Verständliche, macht das Wesen der Lehre Christi aus. In meinem Evangelium habe ich die Markierungen entsprechend meinem Verständnis vorgenommen.

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Was ist Kunst? (Auszüge)

Nicht nur religiöse und philosophische Probleme beschäftigten Tolstoj, auch ästhetische Fragestellungen rückten für ihn in den 1880er und 1890er Jahren immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Mehrmals versuchte er, sein ästhetisches Credo zu Papier zu bringen, doch die meisten dieser Versuche blieben unvollendet. Dennoch darf man diese Fragmente als Vorarbeiten für das Traktat Was ist Kunst? ansehen, an dem Tolstoj nach eigenen Angaben über 15 Jahre gearbeitet hat. Die eigentliche Arbeit an Was ist Kunst? begann 1897. Schon dem ersten Entwurf gab Tolstoj eben diesen Titel. Im Laufe der Arbeit am Manuskript taucht noch ein weiterer Arbeitstitel Über Kunst auf, der aber wieder verworfen wurde. Zum einen versucht Tolstoj verschiedene Antworten auf die Frage, was Kunst sei, auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, zum anderen beschäftigt ihn die Problematik der Trennung von Konsumenten und Produzenten – im Leben genauso wie in der Kunst. Was ist Kunst? wurde erstmals in der Zeitschrift Voprosy filosofii i psichologii in zwei aufeinander folgenden Nummern im Winter 1897/1898 veröffentlicht. 1898 erschien der Traktat zudem als 15. Band von Tolstojs Werkausgabe. In beiden Fassungen wurden allerdings längere Passagen zensurbedingt ausgelassen. Vollständig konnte Was ist Kunst? erstmals 1898 in englischer Übersetzung mit einem Vorwort von Tolstoj erscheinen, in dem er sich bitter über die russische Zensur beklagte. In Russland kam die erste vollständige Ausgabe des Traktats erst 1911 heraus. Die übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 30: 66, 85, 156–159, 175–177, 182, 194f).

Kunst ist nicht, wie Metaphysiker behaupten, Ausdruck einer geheimnisvollen Idee, der Schönheit, Gottes; sie ist nicht, wie physiologische Ästhetiker behaupten, ein Spiel, in dem der Mensch überschüssige Energie abbaut; sie ist nicht Ausdruck von Emotionen durch äußere Zeichen, nicht Erzeugung gefälliger Gegenstände, und vor allem ist sie nicht Genuss, sondern sie ist ein für das Leben und das Streben nach Heil des einzelnen Menschen und der Menschheit unabdingbares Mittel zur Verständigung, das die Menschen in ein und denselben Gefühlen verbindet. *** Der Unglaube in den oberen Klassen der europäischen Welt bewirkte, dass anstelle jener Tätigkeit der Kunst, deren Ziel die Wiedergabe der sich aus dem religiösen Bewusstsein ergebenden höheren Gefühle war, zu denen es die Menschheit gebracht hatte, eine Tätigkeit aufkam, deren Ziel es war, einem bestimmten Kreis von Menschen höchstmöglichen Genuss zu verschaffen. Und aus dem ganzen gewaltigen Bereich der Kunst wurde nun das her-

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vorgehoben und als Kunst bezeichnet, was den Menschen eines bestimmten Kreises Genuss verschaffte. Einmal abgesehen von den sittlichen Folgen, die diese Hervorhebung aus dem gesamten Bereich der Kunst und die Anerkennung dessen, was diese Bewertung nicht verdiente, als bedeutende Kunst für die europäische Gesellschaft hatte, schwächte diese Entstellung der Kunst auch die Kunst selbst und führte beinahe zu ihrer Vernichtung. Die erste Folge davon war, dass die Kunst den für sie charakteristischen und unendlich vielseitigen, zutiefst religiösen Inhalt verlor. Die zweite Folge war, dass sie angesichts dessen, dass sie ihr Augenmerk nur auf einen kleinen Kreis von Menschen richtete, die Schönheit der Form verlor, dass sie manieriert und unklar wurde; und die dritte und wesentlichste Folge war, dass sie nicht mehr aufrichtig war, sondern lebensfremd und kopflastig. *** Die christliche, wahrhaft christliche Kunst hat sich bis heute nicht richtig zu behaupten vermocht, weil das christliche religiöse Bewusstsein keine dieser kleinen Etappen ist, in denen sich die Menschheit gleichmäßig voranbewegt, sondern vielmehr eine gewaltige Wende, die – sofern sie es noch nicht getan hat – die gesamte Lebensauffassung der Menschen und die gesamte innere Struktur ihres Lebens zwangsläufig verändert. Wohl bewegt sich das Leben der Menschheit ebenso wie das des einzelnen Menschen gleichmäßig voran, doch in dieser gleichmäßigen Bewegung gibt es gewissermaßen Wendepunkte, die das vorhergehende Leben abrupt von dem nachfolgenden trennen. Ein solcher Wendepunkt für die Menschheit war das Christentum, zumindest muss es uns, die wir im christlichen Bewusstsein leben, so erscheinen. Das christliche Bewusstsein hat allen Gefühlen der Menschen eine andere, neue Richtung gegeben und somit den Inhalt wie die Bedeutung von Kunst völlig verändert. Die Griechen konnten auf die Kunst der Perser und die Römer auf die Kunst der Griechen zurückgreifen, ebenso wie die Juden auf die Kunst der Ägypter zurückgreifen konnten – die Grundideale waren ein und dieselben. Das Ideal war bald die Größe und das Heil der Perser, bald die Größe und das Heil der Griechen oder der Römer. Ein und dieselbe Kunst wurde jeweils auf andere Verhältnisse übertragen und war somit auch für neue Völker geeignet. Das christliche Ideal aber hat alles derart verändert und umgewälzt, wie es im Evangelium gesagt ist: »[D]enn was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Gräuel vor Gott.« Das Ideal war nicht länger die Größe des Pharao oder des römischen Kaisers, nicht die Schönheit des Griechen oder die Reichtümer Phöniziens, sondern Demut, Keuschheit, Mitleid und Liebe. Helden waren nun nicht länger der Reiche, sondern der arme Lazarus; Maria von Ägypten nicht in ihrer Schönheit, sondern als Büßerin;

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nicht Menschen, die Reichtümer anhäuften, sondern diejenigen, die sie verteilten; nicht Menschen, die in Palästen, sondern diejenigen, die in Katakomben und Hütten lebten; nicht Menschen, die über andere Menschen Macht ausübten, sondern diejenigen, die niemandes Macht außer derjenigen Gottes anerkannten. Und das größte Kunstwerk war nicht der Siegestempel mit Statuen der Sieger, sondern die Darstellung der menschlichen Seele, die durch die Liebe so gewandelt wird, dass der Mensch, der gepeinigt und getötet wird, seine Peiniger bedauert und liebt. Deshalb fällt es den Menschen der christlichen Welt schwer, von der heidnischen Kunst, die sie gewohnt, mit der sie ihr Leben lang verwachsen waren, abzulassen. Der Inhalt der christlichen religiösen Kunst ist für sie so neu und dem Inhalt der früheren Kunst so unähnlich, dass ihnen scheint, christliche Kunst sei eine Negierung der Kunst, und sie sich verzweifelt an die alte Kunst klammern. Unterdessen aber hat diese alte Kunst, die in unserer Zeit keine Quelle mehr im religiösen Bewusstsein hat, ihre gesamte Bedeutung verloren, und wir müssen uns notgedrungen von ihr lossagen. Das Wesen des christlichen Bewusstseins besteht darin, dass jeder Mensch seine Kindschaft Gottes und die sich daraus ergebende Einheit der Menschen mit Gott und untereinander, wie es im Evangelium heißt (Joh 17,21), anerkennt, und daher sind Inhalt der christlichen Kunst diejenigen Gefühle, die die Einheit der Menschen mit Gott und untereinander fördern. Der Ausdruck die Einheit der Menschen mit Gott und untereinander mag denen unklar scheinen, die den häufigen Missbrauch dieser Worte gewöhnt sind; indes haben diese Worte eine sehr klare Bedeutung. Diese Worte bedeuten, dass die christliche Einheit der Menschen, im Gegensatz zur teilweisen, ausschließlichen Einheit nur einiger Menschen, das ist, was alle Menschen ohne Ausnahme vereint. Die Kunst, jede Kunst für sich, hat die Eigenschaft, Menschen zu verbinden. Jede Kunst bewirkt, dass sich Menschen, die ein von einem Künstler vermitteltes Gefühl empfinden, einerseits mit dem Künstler und andererseits mit allen Menschen, die dieselbe Empfindung haben, seelisch verbinden. Die nichtchristliche Kunst hingegen, die nur einige Menschen untereinander verbindet, trennt damit diese Menschen von anderen Menschen, und diese teilweise Vereinigung ist häufig die Ursache nicht nur der Trennung, sondern auch der Feindschaft gegenüber anderen Menschen. Das gilt für alle patriotische Kunst, mit ihren Hymnen, Poemen und Denkmälern; das gilt für alle kirchliche Kunst, das heißt für die Kunst bestimmter Kulte mit ihren Ikonen, Statuen, Prozessionen, Messen und Kirchen; das gilt für die militärische Kunst, für alle erlesene, eigentlich unzüchtige Kunst, die nur den Menschen zugänglich ist, die andere Menschen unterdrücken, den Müßiggängern der reichen Klassen. Derartige Kunst ist eine rückständige, nicht christliche Kunst, eine Kunst, die die einen Menschen nur zu dem Zweck

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vereint, um sie noch schärfer von den anderen Menschen zu trennen, ja ihnen eine feindselige Einstellung gegenüber anderen Menschen einzugeben. Christlich ist nur die Kunst, die alle Menschen ohne Ausnahme vereint – entweder dadurch, dass sie in ihnen das Bewusstsein weckt, dass sie sich in Bezug auf Gott und den Nächsten alle in derselben Situation befinden, oder aber dadurch, dass sie in den Menschen ein und dasselbe, und sei es das allereinfachste, aber ein dem Christentum nicht zuwiderlaufendes und allen Menschen ohne Ausnahme eigenes Gefühl auslöst. Die gute christliche Kunst der heutigen Zeit ist vielleicht infolge ihrer Formlosigkeit oder ihrer mangelnden Beachtung den Menschen unverständlich, aber sie muss so beschaffen sein, dass alle Menschen jene Gefühle, die sie vermittelt, erfahren können. Sie darf nicht die Kunst einer bestimmten Gruppe von Menschen, eines Standes, einer Nationalität oder eines religiösen Kultes sein, das heißt Gefühle vermitteln, die nur einem Menschen mit einer bestimmten Erziehung zugänglich sind, nur dem Adligen, dem Kaufmann, dem Russen oder dem Japaner, nur dem Katholiken oder dem Buddhisten etc., vielmehr muss sie Gefühle vermitteln, die jedem Menschen zugänglich sind. Nur eine solche Kunst kann in der heutigen Zeit als gute Kunst anerkannt und aus der ganzen übrigen Kunst herausgelöst und gefördert werden. *** Christliche Kunst löst in den Menschen entweder Gefühle aus, die sie durch die Liebe zu Gott und den Nächsten zu immer größerer Einheit bringen, sie zu dieser Einheit bereit machen und befähigen, oder aber Gefühle, die ihnen zeigen, dass sie durch die gemeinschaftlichen Freuden und Leiden des Alltagslebens bereits vereint sind. Daher ist christliche Kunst in der heutigen Zeit auf zweierlei Art möglich und auch existent: 1) Eine Kunst, die Gefühle vermittelt, welche sich aus dem religiösen Bewusstsein der Position des Menschen in der Welt in Bezug auf Gott und den Nächsten ergeben, also religiöse Kunst; und 2) eine Kunst, die die einfachsten alltäglichen Gefühle vermittelt, die allen Menschen der ganzen Welt zugänglich sind – weltumfassende Kunst. Nur diese beiden Arten von Kunst können in der heutigen Zeit als gute Kunst gelten. *** Der Grund für die Lüge, in welche die Kunst unserer Gesellschaft geraten ist, liegt darin, dass die Menschen der oberen Klassen den Glauben an die Wahrheit der kirchlichen, der sogenannten christlichen Lehre, verloren haben, sich aber nicht entschließen konnten, die wahre christliche Lehre in ihrer

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echten und wichtigsten Bedeutung – der Kindschaft Gottes und der Brüderlichkeit der Menschen – anzunehmen, sondern fortan völlig ohne Glauben lebten und versuchten, den fehlenden Glauben zu ersetzen: die einen durch Heuchelei, indem sie so taten, als glaubten sie weiterhin an den Unsinn des kirchlichen Glaubens, die anderen durch die beherzte Verkündung ihres Unglaubens, die dritten durch raffinierten Skeptizimus, die vierten durch die Rückkehr zum griechischen Schönheitskult, durch das Bekenntnis zu einem rechtmäßigen Egoismus sowie dessen Erhebung zu einer religiösen Lehre. Die Ursache der Krankheit lag in der Ablehnung der Lehre Christi in ihrer wahren, vollen Bedeutung. Genesung von der Krankheit verspricht nur eines – die Anerkennung dieser Lehre in ihrer ganzen Bedeutung. Diese Anerkennung ist in der heutigen Zeit nicht nur möglich, sie ist sogar unabdingbar. Heutzutage kann ein Mensch, der auf der Höhe des heutigen Wissens steht, sei er Katholik oder Protestant, unmöglich erklären, an die Dogmen der Kirche zu glauben, an die Trinität Gottes, die Göttlichkeit Christi, die Erlösung usw., und ebenso wenig kann man sich damit zufrieden geben, seinen Unglauben, seine Skepsis zu verkünden oder wieder dem Schönheitskult oder dem Egoismus zu frönen, und vor allem kann man unmöglich erklären, dass wir die wahre Bedeutung der Lehre Christi nicht kennen würden. Die Bedeutung dieser Lehre ist nicht nur allen Menschen der heutigen Zeit zugänglich, vielmehr ist das ganze Leben der Menschen in der heutigen Zeit vom Geist dieser Lehre durchdrungen, und es wird bewusst und unbewusst davon gelenkt. *** Wie unterschiedlich die Menschen unserer christlichen Welt die Bestimmung des Menschen der Form nach auch definieren mögen, ob sie mit dieser Bestimmung den Fortschritt der Menschheit in welchem Sinne auch immer anerkennen, sei es die Vereinigung aller Menschen in einem sozialistischen Staat oder in einer Kommune, ob sie mit dieser Bestimmung die weltumfassende Föderation anerkennen, ob sie mit dieser Bestimmung die Vereinigung mit dem phantastischen Christus anerkennen oder die Vereinigung der Menschheit unter der einheitlichen Führung der Kirche, wie unterschiedlich diese Definitionen der Bestimmung des menschlichen Lebens der Form nach auch sein mögen, alle Menschen in der heutigen Zeit anerkennen, dass die Bestimmung des Menschen das Heil ist; das höchste Heil des Lebens aber, das den Menschen in unserer Welt zugänglich ist, wird erreicht in ihrer Einheit untereinander. Wie sehr sich die Menschen der oberen Klassen, die spüren, dass ihre Bedeutung daran hängt, dass sie, die Reichen und Gebildeten, sich von den Arbeitern, den Armen und Ungebildeten absondern, auch bemühen, neue

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Weltanschauungen zu entwickeln, in denen ihre Privilegien bestehen blieben – bald als Ideal einer Rückkehr zur alten Zeit, bald als Mystizismus oder Hellenismus, bald als Übermenschentum –, so müssen sie doch notgedrungen die sich allenthalben im Leben unbewusst und bewusst bestätigende Wahrheit anerkennen, dass unser Heil nur in der Einheit und Brüderlichkeit der Menschen liegt. Unbewusst wird diese Wahrheit bestätigt durch die Errichtung von Verkehrswegen, durch die Verbreitung von Telegraphen, Telefonen und Presseerzeugnissen, die immer größere Zugänglichkeit der Güter dieser Welt für alle Menschen, und bewusst wird sie bestätigt durch die Zerstörung des Aberglaubens, der die Menschen trennt, durch die Verbreitung der Wahrheiten des Wissens, durch den Ausdruck des Ideals der Brüderlichkeit aller Menschen in den besten Kunstwerken der heutigen Zeit. *** Der Künstler der Zukunft wird ein gewöhnliches Leben wie andere Menschen führen und sich sein Auskommen durch irgendeine Arbeit verdienen. Doch die Früchte jener höheren geistigen Kraft, die ihn durchwirkt, wird er einer möglichst großen Menge von Menschen weiterzugeben versuchen, weil die bei dieser Weitergabe an möglichst viele Menschen in ihm aufkommenden Gefühle seine Freude und Belohnung sind. Der Künstler der Zukunft wird nicht einmal verstehen, wie ein Künstler, dessen höchste Freude in der größtmöglichen Verbreitung seiner Werke liegt, seine Werke nur für eine bestimmte Summe weitergeben kann. Solange die Händler nicht aus dem Tempel vertrieben sind, wird der Tempel der Kunst kein Tempel sein. Die Kunst der Zukunft wird sie hinausjagen. *** Die Kunst ist kein Genuss, kein Trost und kein Spaß: Die Kunst ist eine große Sache. Die Kunst ist ein Lebensorgan der Menschheit, welches das vernünftige Bewusstsein der Menschen in Gefühl überführt. In der heutigen Zeit liegt das allgemeine religiöse Bewusstsein der Menschen im Bewusstsein der Brüderlichkeit aller Menschen und ihres Heils in gegenseitiger Einheit. Die wahre Wissenschaft muss unterschiedliche Beispiele für die Anwendung dieses Bewusstseins auf das Leben anführen. Die Kunst muss dieses Bewusstsein in Gefühl übersetzen. Die Aufgabe der Kunst ist gewaltig: Die Kunst, die echte Kunst, die mithilfe der Wissenschaft von der Religion geleitet wird, muss bewirken, dass das friedliche Zusammenleben der Menschen, das jetzt durch äußeres Zutun – Gerichte, Polizei, wohltätigen Institutionen, Arbeitsinspektionen

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usw. – gesichert wird, durch die freie, freudige Tätigkeit der Menschen erreicht wird. Die Kunst muss die Gewalt beseitigen. Und nur die Kunst kann das bewirken. All das, was heute, unabhängig von der Furcht vor Gewalt und Strafe, das gesamte Leben der Menschen möglich macht (und darauf beruht heutzutage bereits ein enormer Teil der Ordnung unseres Lebens), all das wird durch die Kunst bewirkt. Wenn durch die Kunst die Gepflogenheiten vermittelt werden können, wie man mit religiösen Gegenständen, mit Eltern, Kindern, Ehefrauen, Verwandten, Fremden und Ausländern umzugehen und wie man sich gegenüber Älteren, Höhergestellten, Kranken, Feinden und Tieren zu verhalten habe – und wenn das über Generationen hinweg von Millionen Menschen nicht nur ohne kleinste Gewaltanwendung, sondern so eingehalten werden konnte, dass es durch nichts erschüttert werden konnte außer durch die Kunst –, dann können durch ebendiese Kunst auch andere, dem heutigen religiösen Bewusstsein eher entsprechende Gepflogenheiten hervorgerufen werden. Wenn die Kunst ein Gefühl von Ehrfurcht vor der Ikone, dem Abendmahl und dem Antlitz des Königs vermitteln kann, Scham angesichts des Verrats an der Kameradschaft, Treue zur Fahne, Verlangen nach Rache für eine Kränkung, das Bedürfnis, seine Arbeit für den Bau und die Verschönerung von Tempeln zu opfern, die Verpflichtung, die eigene Ehre oder den Ruhm des Vaterlands zu verteidigen, dann kann diese Kunst auch Ehrfurcht vor der Würde jedes Menschen, vor dem Leben jedes Tiers hervorrufen und Scham angesichts von Luxus, von Gewalt und Rache, angesichts der Verwendung von Gegenständen, die andere Menschen bitter nötig haben, zum eigenen Vergnügen; sie kann die Menschen anregen, sich frei und freudig und ohne es zu bemerken für den Dienst an den Menschen zu opfern. Die Kunst muss bewirken, dass die Gefühle der Brüderlichkeit und der Nächstenliebe, die heute nur den besten Menschen der Gesellschaft zugänglich sind, zu einer Gewohnheit, zu einem Instinkt für alle Menschen werden. Indem die religiöse Kunst unter imaginären Bedingungen Gefühle von Brüderlichkeit und Liebe hervorruft, lehrt sie die Menschen, in der Realität, unter denselben Bedingungen, dieselben Gefühle zu empfinden; sie verlegt in den Seelen der Menschen jene Geleise, auf denen die Lebenshandlungen der durch die Kunst erzogenen Menschen ganz natürlich verlaufen. Indem sie alle Menschen, und seien sie noch so unterschiedlich, in einem Gefühl vereint und die Trennung beseitigt, erzieht die allgemeine Volkskunst die Menschen zur Einheit, sie zeigt ihnen nicht durch Erörterungen, sondern durch das Leben selbst die Freude an der allgemeinen Einheit jenseits der vom Leben gesetzten Schranken. Die Bestimmung der Kunst in der heutigen Zeit besteht darin, die Wahrheit darüber, dass das Heil der Menschen in ihrer Einheit untereinander

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liegt, aus dem Bereich des Verstands in denjenigen des Gefühls zu übertragen und anstelle der heute herrschenden Gewalt jenes Reich Gottes, also der Liebe, zu errichten, das uns allen als höchstes Lebensziel der Menschheit erscheint. Vielleicht wird die Wissenschaft zukünftig der Kunst noch neue, höhere Ideale offenbaren, und die Kunst wird sie verwirklichen; doch in der heutigen Zeit ist die Bestimmung der Kunst klar definiert. Die Aufgabe der christlichen Kunst ist die Verwirklichung der brüderlichen Einheit der Menschen.

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Gedanken über Gott Die Gedanken über Gott sind eine von Vladimir Cˇertkov zusammengestellte Kompilation von Zitaten zu religiösen Fragen aus Tolstojs Tagebuch und unveröffentlichten Briefen an Freunde und Vertraute. Tolstoj schrieb Cˇertkov nach Erscheinen der Broschüre am 6. September 1900: »Eben habe ich die Gedanken über Gott gelesen. Dort gibt es gute Stellen, und ich war gerührt beim Lesen. Trotzdem kommt diese Ausgabe zu früh. Man hätte damit warten sollen (und gar nicht lange) bis nach meinem Tod. Denn es macht Angst, mit einem solchen Lebensprogramm leben zu müssen. […] Und noch etwas kam mir in den Sinn, an das ich kürzlich dachte, als ich diese Gedanken las. Ich dachte, dass man nicht sagen sollte: Gott ist die Liebe oder Gott ist der Logos, die Vernunft. Durch die Liebe und die Vernunft erkennen wir Gott, aber der Begriff von Gott wird durch diese Begriffe nicht nur nicht abgedeckt, sondern er unterscheidet sich selbst von Gott genauso, wie der Begriff des Auges oder des Sehens sich vom Licht unterscheidet. Fast dasselbe steht auch dort.« Die russischsprachige Broschüre erschien erstmals im Jahr 1900 in England im Verlag Svobodnoe slovo. Die übersetzten Auszüge folgen dem Wortlaut der Berliner Ausgabe von 1901 (2. Aufl., Verlag Steinitz).

Gott ist für mich das, wonach ich strebe, das, in dessen Erstreben mein Leben besteht, und der daher für mich ist; aber er ist durchaus so, dass ich Ihn nicht verstehen, nicht nennen kann. Wenn ich Ihn verstünde, würde ich Ihn erreicht haben, und es gäbe nichts, wonach ich streben könnte, es gäbe kein Leben. Doch ich kann, was widersprüchlich erscheint, Ihn nicht verstehen und nicht nennen, und zugleich kenne ich Ihn, ich kenne die Richtung zu Ihm, und von all meinen Kenntnissen ist diese sogar die zuverlässigste. Ich kenne Ihn nicht, und zugleich ist mir immer bang, wenn ich ohne Ihn bin, und nur dann nicht bang, wenn ich mit Ihm bin. Noch eigenartiger ist, dass ich Ihn jetzt, in meinem jetzigen Leben nicht mehr und nicht besser zu kennen brauche, als ich Ihn jetzt kenne. Ich kann und will mich Ihm annähern, darin besteht mein Leben, aber die Annäherung erweitert meine Kenntnis keineswegs und kann sie nicht erweitern. Jeder Versuch, mir einzubilden, dass ich Ihn erkenne (z.B. dass Er der Schöpfer ist, barmherzig oder etwas in der Art), entfernt mich von Ihm und behindert meine Annäherung an Ihn. Noch eigenartiger ist, dass ich nur Ihn allein wahrhaft, d.h. mehr als mich selbst und mehr als alles, lieben kann; nur in dieser Liebe gibt es kein Innehalten, keine Minderung (im Gegenteil, nur stetige Zunahme), keine Sinnlichkeit, keine Ausflüchte, keine Liebedienerei, keine Angst, keine Selbstzufriedenheit. Alles, was gut ist, liebt man nur durch diese Liebe, sodass es

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außerdem noch so ist, dass man nur durch Ihn und mit Ihm liebt und folglich lebt. Nun, so also denke, vielmehr fühle ich. Hinzufügen muss man nur, dass das Pronomen »er« Gott für mich schon in gewisser Weise verletzt. »Er« setzt Ihn irgendwie herab. *** Der Definition Gottes muss man meines Erachtens noch die Definition von M. Arnold hinzufügen, die ich stets als einen und überaus wichtigen Aspekt, wie wir uns Gott vorstellen, verstanden habe. (M. Arnold leitet seine Definition von den Propheten des Alten Testaments her, und tatsächlich ist sie bis zu Christus vollkommen ausreichend.) Gott ist das Ewige, Unendliche, außerhalb von uns Existierende, uns Führende, von uns Rechtschaffenheit Verlangende. Man kann sagen: Das Gesetz des menschlichen Lebens ist der Wille Gottes in Bezug auf jenen Teil des Lebens der Menschen, der in ihrer Macht liegt.1 Ich sage, dass diese Definition bis zu Christus ausreichend war, aber Christus offenbarte uns, dass die Befolgung dieses Gesetzes – nebst seiner äußeren Verpflichtung für die menschliche Vernunft – noch einen weiteren, einfacheren und das ganze Wesen des Menschen erfassenden inneren Antrieb hat, und zwar die Liebe. Die Liebe nicht zur Ehefrau, zum Kind, zum Vaterland usw., sondern die Liebe zu Gott (Gott ist die Liebe), die Liebe der Liebe – eben jenes Gefühl von Güte und Ergriffenheit, die Freude an einem Leben, welches eben das dem Menschen gemäße, selige, wahre Leben ist, das keinen Tod kennt. *** Gott erkennst du nicht so sehr mit der Vernunft, nicht einmal mit dem Herzen, sondern im Gefühl vollkommener Abhängigkeit von Ihm, das ähnlich ist dem Gefühl, das ein Säugling in den Armen der Mutter empfindet. Er weiß nicht, wer ihn hält, wer ihn wärmt, wer ihn nährt; aber er weiß, dass es diesen Jemand gibt, und mehr noch – er liebt ihn. ***

1 Tolstoj verweist auf das Buch des englischen Dichters, Philosophen und Kulturkritikers Matthew Arnold (1822–1888) Literature and Dogma (1873), das laut Tolstoj »großen Einfluss« auf ihn hatte und dessen russische Übersetzung 1908 im Posrednik-Verlag erschien.

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Früher sah ich die Phänomene des Lebens, ohne darüber nachzudenken, woher sie rühren und warum ich sie sehe. Dann verstand ich, dass alles, was ich sehe, von dem Licht herrührt, das Erkenntnis ist. Doch ich freute mich so, dass ich alles auf das eine zurückführte, dass ich mich damit, die Erkenntnis allein als Ursprung von allem anzuerkennen, vollkommen zufrieden gab. Dann aber sah ich, dass Erkenntnis ein Licht ist, das durch trübes Glas zu mir dringt. Das Licht sehe ich, aber das, was dieses Licht spendet, kenne ich nicht, doch ich weiß, dass es existiert. Dieses etwas, das die Quelle des Lichts ist, das mich erleuchtet, dieses etwas, das ich nicht kenne, von dessen Existenz ich aber weiß, ist Gott. *** Es ist erstaunlich, wie ich früher die unbestreitbare Wahrheit nicht sehen konnte, dass jenseits dieser Welt und unseres Lebens in ihr Jemand, Etwas, existiert, der weiß, wozu diese Welt existiert und warum wir in ihr wie Blasen im kochenden Wasser aufhüpfen, zerplatzen und verschwinden. *** Ich begegne häufig Menschen, die keinen Gott anerkennen außer dem, den wir in uns selbst anerkennen. Und ich wundere mich. Gott ist in mir. Aber Gott ist unendlicher Ursprung; wie, warum befindet er sich in mir? Man kann nicht umhin, sich das zu fragen; aber sobald man fragt, muss man den äußeren Grund zugeben. Weshalb haben die Menschen kein Bedürfnis nach einer Antwort auf diese Frage? Weil die Antwort auf diese Frage für sie in der Realität der existierenden Welt liegt. Ob nach Moses oder nach Darwin, spielt keine Rolle. Und daher muss man zum Verständnis des äußeren Gottes verstehen, dass tatsächlich real nur der Eindruck unserer Gefühle ist, d.h. wir selbst, unser geistiges Ich. *** Was ist Gott? Warum ist Gott? Gott ist all das Unbegrenzte, was ich in mir begrenzt weiß: Ich bin ein begrenzter Körper, Gott ist unendlicher Körper; ich bin ein Wesen, das dreiundsechzig Jahre gelebt hat, Gott ist ein Wesen, das ewig lebt; ich bin ein Wesen, das in den Grenzen seines Verständnisvermögens denkt, Gott ist ein Wesen, das grenzenlos denkt; ich bin ein Wesen, das bisweilen ein wenig liebt, Gott ist ein Wesen, das immer unendlich liebt. Ich bin ein Teil, Er ist die Gesamtheit. Ich kann mich nicht anders verstehen, denn als ein Teil von Ihm. ***

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Ein Aberglaube, der unsere metaphysischen Auffassungen am meisten verwirrt, ist derjenige, dass die Welt geschaffen wurde, dass sie aus dem Nichts entstand und dass es einen Schöpfergott gibt. Eigentlich haben wir keinerlei Grund und auch keinerlei Notwendigkeit, einen Gott Schöpfer anzunehmen (Chinesen und Inder kennen diesen Begriff nicht), indes kann aber der Gott Schöpfer und Erhalter nicht zusammenfallen mit dem christlichen Gott, dem Vater, mit Gott, dem Geist – mit Gott, dessen Teil in mir wohnt, der mein Leben ausmacht und den zu bekunden und hervorzurufen der Sinn meines Lebens ist, mit Gott, der Liebe. *** Der Gott Schöpfer ist gleichgültig und lässt Leiden und Böses zu. Der Gott Geist befreit von Leiden und vom Bösen und ist stets vollkommenes Heil. Den Gott Schöpfer gibt es nicht. Es gibt ein Ich, das mit den mir gegebenen Sinneswerkzeugen die Welt erkennt und innerlich seinen Vater Gott kennt. Er ist Ursprung meines geistigen Ich. Die äußere Welt hingegen ist nur meine Grenze. *** Man muss es machen wie die Duchoborzen2 – vor jedem Menschen auf die Knie fallen, eingedenk dessen, dass in ihm Gott ist. Wenn es mit dem Körper nicht möglich ist, dann mit dem Geist. *** Ein Gebet richtet sich nicht an einen persönlichen Gott, weil Gott persönlich ist – (ich weiß sogar gewiss, dass Er nicht persönlich ist, weil Persönlichkeit Begrenztheit ist, und Gott ist unbegrenzt) –, sondern weil ich ein persönliches Wesen bin. Wenn ich ein grünes Glasstück vor dem Auge habe, sehe ich alles grün; ich kann nicht umhin, die Welt grün zu sehen, obwohl ich weiß, dass sie es nicht ist. *** Mir ist es folgendermaßen ergangen: Ich dachte allmählich immer abstrakter über die Fragen des Lebens nach – darüber, worin es besteht, wohin es 2 Die Duchoborzen (Geisteskämpfer) sind eine religiöse Gruppierung, die im 18. Jahrhundert bekannt wurde und deren mystisch-rationalistische Lehre vom orthodoxen Glauben abweicht. Zu den Duchoborzen und Tolstojs Verhältnis zu ihnen siehe den Beitrag von Andrew Donskov in diesem Band.

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strebt, was die Liebe ist – und entfernte mich damit immer mehr nicht nur vom Begriff des alttestamentarischen Gott-Schöpfers, sondern auch vom Begriff des Vaters, jener Erkenntnis des Heils, dem Ursprung allen Lebens und meiner selbst; und der Teufel packte mich: Es kam mir in den Sinn, dass man – was besonders wichtig für die Einheit mit den Chinesen, den Konfuzianern, mit den Buddhisten sowie mit unseren Atheisten und Agnostikern ist – diesen Begriff vollständig umgehen kann. Ich dachte, man könne sich allein mit dem Begriff und der Anerkennung jenes Gottes begnügen, der in mir ist, ohne Gott an sich anzuerkennen – Jenen, der einen Teil von sich in mich gelegt hat. Und erstaunlicherweise wurde mir plötzlich trübsinnig, verzagt und bang zumute. Ich wusste nicht, woher das kam, doch ich spürte, dass ich plötzlich geistig furchtbar gesunken war, alle Freude und geistige Energie verloren hatte. Da erst ahnte ich, dass das deshalb geschehen war, weil ich mich von Gott entfernt hatte. Ich begann zu überlegen und – merkwürdigerweise – zu mutmaßen, ob es Gott gibt oder ob es Ihn nicht gibt, und ich fand Ihn gleichsam erneut, und mir wurde so froh zumute, und eine so feste Zuversicht ergriff mich zu Ihm und dazu, dass ich mit ihm kommunizieren kann und muss, dass Er mich hört, und ich verspürte eine solche Freude, dass ich alle diese letzten Tage das Gefühl habe, dass es mir sehr gut geht, und ich frage mich: Wie kommt es, dass ich so fröhlich bin? Ja, Gott existiert, und ich muss mich nicht sorgen, nicht fürchten, ich kann mich nur freuen. Ich fürchte, das Gefühl wird vergehen, abstumpfen, aber jetzt bin ich sehr froh. Es ist so, als hätte ich mein teuerstes Wesen um ein Haar verloren, es sogar schon verloren geglaubt, es dann aber doch nicht verloren, sondern nur seinen unschätzbaren Wert erkannt. Ich hoffe, dass – auch wenn das Gefühl höchster Begeisterung vergehen wird – dasjenige, was ich neu erlangt habe, bleibt. Vielleicht ist es das, was einige den lebendigen Gott nennen; wenn es das ist, dann habe ich mich vor ihnen zutiefst schuldig gemacht, als ich mit ihnen nicht übereinstimmte und sie anfocht. Das Wichtigste an diesem Gefühl ist das Bewusstsein vollkommener Sicherheit, das Bewusstsein dessen, dass Er ist, dass Er gütig ist, dass Er mich kennt und ich ganz umgeben bin von Ihm, dass ich von Ihm komme, zu Ihm gehe, ein Teil von Ihm, Sein Kind bin: Alles, was schlecht scheint, scheint nur deshalb so, weil ich an mich glaube und nicht an Ihn, und aus diesem Leben, in dem man Seinen Willen so leicht erfüllen kann, weil dieser Wille zugleich auch der meine ist, kann ich nirgendwohin fallen als nur in Ihn, und in Ihm ist vollkommene Freude und Heil. Alles, was ich schreibe, kann nicht ausdrücken, was ich empfand. Man wird körperlich oder sittlich verwundet – der Sohn stirbt, das, was man liebt, geht zugrunde, man kann selbst nichts mehr tun, Leiden erwarten einen;

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und plötzlich erinnert man sich: aber Gott, und alles wird gut und fröhlich und klar … *** Es gibt keinen gläubigen Menschen, der nicht von Momenten des Zweifels heimgesucht würde, des Zweifels an der Existenz Gottes. Und diese Zweifel sind nicht schädlich; im Gegenteil, sie führen zu einem höheren Verständnis von Gott. An den Gott, den man kannte, hat man sich gewöhnt, und man glaubt nicht mehr an Ihn. Man glaubt nur dann völlig an Gott, wenn Er sich von neuem offenbart. Und Er offenbart sich von einer neuen Seite, wenn man Ihn mit ganzer Seele sucht. *** Man soll nie mit dem Vorsatz zu Gott gehen: »Ich gehe jetzt zu Gott und lebe auf seine Weise. Ich habe auf des Teufels Weise gelebt, also lebe ich jetzt auf Gottes Weise, ich probiere es, das kann nicht schaden.«3 Es ist ein Schaden, zudem ein großer. Zu Gott sollte ich wie in die Ehe nur dann gehen, wenn ich auch glücklich wäre, nicht zu gehen, nicht zu heiraten, aber ich kann nicht anders. Nicht dass ich jedem raten würde: lass dich absichtlich in Versuchung führen; aber demjenigen, der mir die Frage stellt: »Was, wenn ich nicht zum Teufel sondern zu Gott gehe?«, rufe ich aus vollem Halse zu: »Geh, geh zum Teufel, geh schnurstracks zum Teufel.« Es ist hundertmal besser, sich am Teufel ordentlich zu verbrennen, als am Scheideweg zu stehen oder heuchlerisch zu Gott zu gehen. *** Nichts beweist die Existenz Gottes besser, als die Versuche der Evolutionisten, die Sittlichkeit anzuerkennen und sie aus dem Kampf herzuleiten. Dass sie sich nicht aus dem Kampf ergeben kann, ist offensichtlich; indes spüren sie aber, dass es ohne sie nicht geht, sie erkennen sie an und bemühen sich, sie aus ihren Grundsätzen herzuleiten, obwohl es genauso seltsam oder 3 Hier scheint Tolstoj auf die sogenannte Pascalsche Wette anzuspielen, die Blaise Pascal (1623–1662) vorgeschlagen hat: eine Art »Kopf oder Zahl«, ob es Gott gibt und ob es sinnvoll bzw. vorteilhaft ist, an ihn zu glauben. In 75 % der Fälle gewinnt man oder verliert die Wette zumindest nicht (1. Gott existiert und man glaubt an ihn; 2. Gott existiert nicht und man glaubt an ihn; 3. Gott existiert nicht und man glaubt nicht an ihn). Nur im Fall, dass Gott existiert und man nicht an ihn glaubt, habe man überhaupt etwas zu verlieren.

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noch seltsamer und unlogischer ist, sie aus der Theorie des Evolutionismus herzuleiten, als sie aus den Vorschriften herzuleiten, die der jüdische Gott auf dem Sinai gab. Ihr Fehler – der darin besteht, dass sie das Bewusstsein ihres geistigen Ichs als Werk Gottes, als Teil von Ihm, ohne den es keine vernünftige Weltanschauung geben kann, ablehnen – zwingt sie, etwas Unbegründetes, ja Widersprüchliches, Geheimnisvolles, d.h. ebenjenen Gott, den sie aus ihrer Weltanschauung ausgeschlossen hatten, in Form der Sittlichkeit wieder zuzulassen. Vorgestern sagte ein Franzose zu mir fragend: Sind nicht Güte und Schönheit ausreichend als Begründung für die Sittlichkeit, d.h. wiederum jener Gott, den sie in ihrer geistigen Krankheit, von der sie besessen sind, zu nennen fürchten. *** Es heißt: Gott muss man als Persönlichkeit verstehen. Darin liegt ein großes Missverständnis: Persönlichkeit ist Begrenzung. Der Mensch fühlt sich nur deshalb als Persönlichkeit, weil er mit anderen Persönlichkeiten in Kontakt kommt. Wenn der Mensch allein wäre, wäre er keine Persönlichkeit. Diese beiden Begriffe definieren sich gegenseitig: die äußere Welt, die anderen Wesen und die Persönlichkeit. Gäbe es die Welt der anderen Wesen nicht, würde der Mensch sich nicht als Persönlichkeit fühlen (anerkennen), er würde die Existenz anderer Wesen nicht anerkennen. Daher ist der Mensch in der Welt nicht anders denkbar denn als Persönlichkeit. Aber wie kann man über Gott sagen, er sei eine Persönlichkeit, Gott sei persönlich. Darin liegt die Wurzel des Anthropomorphismus. Über Gott kann man nur sagen, was Moses und Mohammed gesagt haben – Er sei der Eine; und der Eine nicht in dem Sinne, dass es keinen anderen Gott oder keine anderen Götter gebe – in Bezug auf Gott kann es den Begriff der Zahl nicht geben, deshalb kann man über Gott nicht einmal sagen, Er sei der Eine (1 – in der Bedeutung der Zahl) –, sondern in dem Sinne, dass er einzentrisch ist, dass Er kein Begriff, sondern ein Wesen ist, das, was die Orthodoxen den lebendigen Gott nennen im Gegensatz zum pantheistischen Gott, d.h. das höchste geistige Wesen, das in allem wohnt. Er ist der Eine in dem Sinne, dass Er als ein Wesen existiert, an das man sich wenden kann – was nicht dasselbe ist wie beten –, dass es eine Beziehung gibt zwischen mir, dem Begrenzten, der Persönlichkeit, und dem unerforschlichen, aber existierenden Gott. Die Unerforschlichkeit Gottes liegt für uns hauptsächlich gerade darin, dass wir Ihn als das eine Wesen kennen – wir können Ihn nicht anders kennen –, auch wenn wir aber dieses eine Wesen, das mit sich alles erfüllt, nicht verstehen können. Wenn Gott nicht der Eine ist, dann zerfließt er, dann gibt es Ihn nicht. Wenn Er aber der Eine ist, dann stellen wir uns Ihn unwillkürlich als Persönlichkeit vor, und dann

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ist Er nicht mehr das höchste Wesen, nicht mehr alles. Um indes Gott zu erkennen und sich auf ihn zu stützen, muss man Ihn als alles Erfüllenden und zugleich Einen verstehen. *** Die Welt ist nur dann so, wie wir sie sehen, wenn es keine anders beschaffenen, mit anderen Gefühlen als den unseren befähigten Wesen gibt. Wenn wir aber nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der Existenz anderer, mit anderen Gefühlen als den unseren befähigter Wesen sehen, dann ist die Welt keinesfalls nur so, wie wir sie sehen. Unsere Vorstellung von der Welt zeigt nur unser Verhältnis zur Welt, genau wie das visuelle Bild, das wir uns von dem machen, was wir bis zum Horizont sehen, keineswegs die tatsächliche Definition der Dinge darstellt. Andere Sinne – das Gehör, der Geruchssinn, vor allem der Tastsinn, die unsere visuellen Eindrücke überprüfen, geben uns einen genaueren Begriff von den gesehenen Dingen: Aber das, was wir als breit, dick, fest oder weich kennen, und wie die Dinge, die wir sehen, klingen oder riechen, beweist nicht, dass wir diese Dinge vollständig kennen und dass ein neuer Sinn (zusätzlich zu den fünf anderen), wenn er uns denn gegeben würde, uns nicht offenbaren würde, dass der anhand unserer fünf Sinne gewonnene Eindruck von den Dingen genauso trügerisch ist wie der Eindruck, dass die Dinge in der Entfernung flacher und kleiner werden, den der Gesichtssinn allein uns vermittelt hatte. Ich sehe im Spiegel einen Menschen, höre seine Stimme und bin vollkommen überzeugt, dass das ein echter Mensch ist; aber dann gehe ich näher, will ihn bei der Hand nehmen und spüre das Glas des Spiegels und erkenne, dass ich mich getäuscht habe. Ebenso muss es einem Sterbenden ergehen: Es entsteht ein neuer Sinn, der ihm (aufgrund des neuen Sinns und des ihm dadurch verliehenen neuen Wissens) die Täuschung der Selbstwahrnehmung seines Körpers aufdeckt sowie von allem, was er mithilfe der Sinne dieses Körpers als existierend angenommen hatte. Sodass die Welt bestimmt nicht die ist, als die wir sie erkennen: Wenn es andere Mittel der Erkenntnis gibt, wird auch die Welt eine andere sein. Aber wie auch immer sich das, was wir für die Welt halten – unser Verhältnis zur Welt – ändern würde, eines ist zweifellos so, wie wir es erkennen, und es ist unwandelbar: Das ist das, was erkennt. Und es erkennt nicht nur in mir, sondern in allem, was erkennt. Dieses erkennende Eine ist überall und in allem und in sich selbst. Das ist Gott und jener aus welchen Gründen auch immer begrenzte Teil Gottes, der unser wirkliches Ich ausmacht. Was aber ist dieser Gott, d.h. das Ewige, Unendliche, Allmächtige, das sterblich, begrenzt, schwach geworden ist? Warum hat Gott sich in sich selbst geteilt? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass es so ist, dass darin das

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Leben ist. Alles, was wir wissen, ist nichts anderes als eine ebensolche Teilung Gottes. Alles, was wir als Welt erkennen, ist die Erkenntnis dieser Teilung. Unsere Erkenntnis der Welt (das, was wir Materie in Raum und Zeit nennen), ist die gegenseitige Berührung der Grenzen unserer Gottheit mit ihren anderen Abspaltungen. Geburt und Tod sind Übergänge von der einen Abspaltung in die andere. *** Die Natur, so heißt es, ist sparsam mit ihren Kräften – mit kleinstem Aufwand erreicht sie größte Resultate. Ebenso auch Gott. Um das Reich Gottes auf Erden zu errichten, Einheit herzustellen, den Dienst am anderen und die Feindschaft zu vernichten, braucht Gott selbst nichts zu tun. Er hat dem Menschen seine Vernunft eingegeben, die im Menschen die Liebe freisetzt, und alles, was er will, wird vom Menschen getan. Gott tut seine Tat durch uns. Die Zeit aber gibt es für Gott nicht, oder sie ist unendlich. Indem er dem Menschen vernünftige Liebe eingab, hat Er schon alles getan. Warum hat er es so getan, durch den Menschen, und nicht selbst? Die Frage ist töricht und wäre uns niemals in den Sinn gekommen, wenn wir nicht alle verdorben wären durch den absurden Aberglauben von der Schöpfung der Welt durch Gott. *** Die Liebe zu Gott bedeutet zu wünschen, was Gott wünscht. Er aber wünscht allem Heil. »Brüder, lasset uns einander lieben. Der Liebende ist von Gott geboren und erkennt Gott, denn (es heißt: Gott ist die Liebe, man muss aber sagen) die Liebe ist Gott.« Im Übrigen ist auch Gott die Liebe, d.h. wir kennen Gott nur in Form der Liebe, und die Liebe ist Gott, d.h., wenn wir lieben, dann sind wir nicht Götter, sondern Gott. *** Die Liebe ist die Selbstoffenbarung (Erkenntnis) Gottes im eigenen Inneren und daher das Streben, aus sich herauszugehen, sich zu befreien, ein Göttliches Leben zu führen. Dieses Streben aber ruft Gott, d.h. die Liebe, in anderen hervor. Mein Hauptgedanke besteht darin, dass die Liebe in anderen Liebe hervorruft; Gott, der in dir erwacht ist, ruft das Erwachen desselben Gottes auch in anderen hervor. ***

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Der Wunsch nach Heil ist nicht Gott, sondern nur eine der Formen, in denen sich Gott offenbart, eine der Seiten, von denen aus wir Gott sehen. Gott offenbart sich in mir durch den Wunsch nach Heil. *** Ein vernünftiges Wesen passt nicht in das Leben der Persönlichkeit, und sobald es vernünftig ist, strebt es aus ihr heraus. Die christliche Lehre offenbart dem Menschen, dass der Kern seines Lebens nicht sein einzelnes Wesen ist, sondern Gott, der in diesem Wesen enthalten ist. Dieser Gott aber wird vom Menschen durch die Vernunft und durch die Liebe erkannt. Der Wunsch nach Heil für sich selbst, die Liebe zu sich selbst konnte im Menschen nur solange existieren, bis die Vernunft in ihm erwachte. Sobald die Vernunft erwachte, wurde dem Menschen klar, dass der Wunsch nach Heil für sich selbst, für ein einzelnes Wesen, vergeblich ist, weil das Heil für ein einzelnes, sterbliches Wesen nicht möglich ist. Sobald die Vernunft auftrat, war nur noch ein Wunsch nach Heil möglich – der Wunsch nach Heil für alles; denn bei dem Wunsch nach Heil für alles gibt es keinen Kampf, sondern Einheit, keinen Tod, sondern Weitergabe des Lebens. Gott ist nicht die Liebe, tritt jedoch bei lebendigen, unvernünftigen Wesen durch die Liebe zu sich selbst und bei vernünftigen Wesen durch die Liebe zu allem Existierenden zutage. *** Was bin ich hier, in diese Welt geworfen? An wen kann ich mich wenden? Bei wem kann ich eine Antwort suchen? Bei den Menschen? Sie wissen nicht, sie lachen, wollen nicht wissen, sagen: »Das sind Kleinigkeiten. Denk nicht daran. Hier ist die Welt, sind ihre Wonnen. – Lebe!« Doch sie täuschen mich nicht. Ich weiß, dass sie nicht glauben, was sie sagen. Sie quälen sich ebenso wie ich und fürchten sich vor dem Tod, vor sich selbst und vor dir, Herr, den sie nicht nennen wollen. Auch ich habe dich lange nicht genannt, und ich habe lange dasselbe getan wie sie. Ich kenne diesen Irrtum, weiß, wie er auf der Seele lastet und wie furchtbar das Feuer der Verzweiflung ist, das im Herzen desjenigen glimmt, der dich nicht nennt. Soviel er es auch löscht, es versengt sein Inneres, so wie es mich versengt hat. Doch, Herr, ich habe dich genannt, und meine Leiden hatten ein Ende. Meine Verzweiflung ging vorbei. Ich verfluche meine Schwächen, ich suche deinen Weg, aber ich verzweifle

Gedanken über Gott

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nicht, ich spüre deine Nähe, spüre Hilfe, wenn ich auf deinen Wegen gehe, und Vergebung, wenn ich davon abweiche. Dein Weg ist klar und einfach. Dein Joch ist sanft und deine Last ist leicht, aber lange irrte ich abseits deiner Wege, lange warf ich in der Niedertracht meiner Jugend stolz jede Last ab, entledigte mich jeden Jochs und gewöhnte mir ab, auf deinen Wegen zu gehen. Und mir war deine Last schwer, obwohl ich weiß, dass sie sanft und leicht ist. Herr, vergib mir die Irrtümer meiner Jugend und hilf mir, dein Joch ebenso freudig zu tragen wie ich es annehme.

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Beschreibung eines Gottesdienstes aus dem Roman Auferstehung

An seinem dritten großen Roman – nach Krieg und Frieden und Anna Karenina – arbeitete Tolstoj im Laufe von zehn Jahren, z.T. mit längeren Unterbrechungen, zwischen 1889 und 1899. Das Sujet für den Roman lieferte Tolstoj der bekannte Jurist A.F. Koni, der dem Schriftsteller von einer Gerichtsverhandlung erzählte, wo über ein junges Mädchen ihr Verführer als Geschworener zu richten hatte. Tolstojs innere Krise und seine »zweite Geburt« in den 70er und 80er Jahren drückte seinem dritten Roman Auferstehung deutlich ihren Stempel auf. Der Titel ist Programm: Die innere »Auferstehung« verdienen sich die beiden Protagonisten Nechljudov (wie in vielen seiner Werke trägt Tolstojs Alter Ego diesen Nachnamen) und Maslova durch ihre Opferbereitschaft und ihre Fähigkeit, sich von äußeren Konventionen frei zu machen und den göttlichen Funken, der jedem Menschen innewohnt, im anderen wahrzunehmen. Ihr moralisches Verhalten, dem ein innerlicher, sich durchaus auch auf die Vernunft abstützender Erkenntnis- und Reueprozess vorangeht, wie dies das Evangelium lehrt, ermöglicht ihnen durch ihre Auferstehung den Eintritt in ein neues, wahres Leben, fern des falschen Lebens der Gesellschaft und ihrer Zwänge. Und als einer dieser Hauptzwänge in der falschen Welt – neben Justiz, Gefängnis, Bordell, Verbannung, Militär und anderen Institutionen – die Inneres und Äußeres, Schein und Sein, Lüge und Wahrheit vertauschen und verwischen, tritt im Roman die Orthodoxe Kirche auf, die Tolstoj in den berühmten Kapiteln mit der bewusst »verfremdeten« Schilderung eines orthodoxen Gottesdienstes im Gefängnis – was für Tolstoj natürlich einen Widerspruch in sich darstellt – in einer Art und Weise angriff, die ihm die offizielle Kirche nie verziehen hat und die maßgeblich zum Beschluss des Synods aus dem Jahr 1901 beigetragen hat. Der Roman Auferstehung erschien erstmals mit größeren zensurbedingten Auslassungen in der Zeitschrift Niva im Jahr 1899. Gleichzeitig veröffentlichte Cˇertkov den Roman in England. Die übersetzten Kapitel folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 32: 134–139).

Der Gottesdienst begann. Der Gottesdienst bestand darin, dass der Priester, angetan mit einem außerordentlich sonderbaren und sehr unbequemen Brokatgewand, Brot in kleine Stücke schnitt, die er in einer Schale auslegte und dann in einen Kelch mit Wein tunkte, wobei er verschiedene Namen und Gebete sprach. Der Diakon indes las zunächst und sang dann, abwechselnd mit dem Gefangenenchor, ununterbrochen allerlei slavische Gebete,1 die an und für sich

1 D.h. in kirchenslavischer, nicht russischer Sprache.

Beschreibung eines Gottesdienstes

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schon kaum zu verstehen und durch das schnelle Lesen und Singen noch schlechter verständlich waren. Der Inhalt der Gebete bestand überwiegend im Wunsch nach Wohlergehen für Seine Majestät den Zaren und dessen Familie. Diese Gebete wurden kniend gesprochen und viele Male wiederholt, zusammen mit anderen Gebeten oder auch für sich allein. Außerdem las der Diakon einige Verse aus der Apostelgeschichte mit so merkwürdiger, angespannter Stimme, dass man nichts verstehen konnte, und der Priester las sehr vernehmlich eine Stelle aus dem Markusevangelium, in der es darum ging, wie der auferstandene Christus, bevor er in den Himmel auffuhr und sich zur Rechten seines Vaters niederließ, zunächst Maria Magdalena erschien, der er sieben Teufel austrieb, und dann den elf Jüngern, denen er befahl, aller Kreatur das Evangelium zu verkünden, und erklärte, derjenige, der nicht glaube, werde untergehen, wer aber glaube und sich taufen lasse, werde selig, und außerdem werde er böse Geister austreiben, durch Handauflegen Menschen von Krankheiten heilen, in neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben, und wenn er Gift trinke, werde er nicht sterben, sondern gesund bleiben.2 Das Wesentliche des Gottesdienstes bestand darin, dass die vom Priester geschnittenen und in Wein getunkten Brotstücke sich durch bestimmte Manipulationen und Gebete in Leib und Blut Gottes verwandeln sollten. Diese Manipulationen bestanden darin, dass der Priester, ungeachtet dessen, dass der Brokatsack, mit dem er angetan war, ihm dabei sehr hinderlich war, beide Arme gleichmäßig nach oben hob, sie so beließ, dann auf die Knie sank und den Tisch und das, was sich darauf befand, küsste. Die wichtigste Handlung aber fand statt, als der Priester mit beiden Händen eine Serviette nahm und sie mit einer gleichmäßigen, fließenden Bewegung über der Schale und dem goldenen Kelch schwenkte. Während eben dieser Zeit sollte aus Brot und Wein Leib und Blut werden, und daher wurde bei diesem Teil des Gottesdienstes eine besondere Feierlichkeit entfaltet. »Gepriesen sei die allerheiligste, allerreinste und allergesegnetste Gottesmutter«, rief anschließend der Priester hinter der Trennwand laut, und der Chor begann feierlich zu singen, es sei gut und richtig, die Jungfrau Maria zu preisen, die Christus ohne Verletzung ihrer Jungfräulichkeit geboren habe und die daher mit größerer Ehre als irgendwelche Cherubim und größerem Ruhm als irgendwelche Seraphim ausgezeichnet sei. Danach galt die Wandlung als vollzogen, der Priester nahm die Serviette von der Schale, schnitt das mittlere Stück in vier Teile und legte es zuerst in den Wein und dann in den Mund. Damit sollte er ein Stück vom Leib Gottes gegessen und einen Schluck von Seinem Blut getrunken haben. Danach zog der Priester den 2 Vgl. Mk 16,9–20. Es handelt sich hierbei um den sekundären Markusschluss aus dem 2. Jh.

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Vorhang zur Seite, öffnete die Mitteltür, nahm den vergoldeten Kelch, trat damit in die Tür und lud alle ein, die vom Leib und Blut Christi, welche sich in dem Kelch befanden, zu kosten wünschten. Es waren einige Kinder, die das wünschten. Der Priester fragte die Kinder zunächst nach ihrem Namen, schöpfte sodann vorsichtig mit einem kleinen Löffel und stopfte der Reihe nach jedem von ihnen ein Stückchen Brot in Wein tief in den Mund, woraufhin der Diakon ihnen sofort den Mund abwischte und mit fröhlicher Stimme das Lied davon sang, dass die Kinder den Leib Gottes essen und Sein Blut trinken. Danach trug der Priester den Kelch hinter die Trennwand, wo er das ganze restliche Blut austrank und alle Stückchen vom Leib Gottes aufaß, sorgfältig seinen Schnurrbart ablutschte, seinen Mund und den Kelch abwischte und in allerfröhlichster Laune unter dem Knarren der dünnen Sohlen seiner kalbsledernen Stiefel munter hinter der Trennwand hervorgeschritten kam. Damit war der eigentliche christliche Gottesdienst beendet. Doch der Priester, der die unglücklichen Gefangenen trösten wollte, fügte der gewöhnlichen Messe noch eine besondere hinzu. Diese besondere Messe bestand darin, dass der Priester sich vor die von einem Dutzend Wachskerzen beleuchtete, goldgeschmiedete (mit schwarzem Gesicht und schwarzen Händen versehene) Abbildung eben jenes Gottes hinstellte, den er gegessen hatte, und mit seltsamer, falscher Stimme halb singend, halb sprechend die Worte anstimmte: »Süßester Jesus, Ruhm der Apostel, mein Jesus, Lob der Märtyrer, allmächtiger Herrscher, Jesus, rette mich, Jesus mein Erlöser, Jesus mein schönster, zu Dir strömt alles, Jesus Erlöser, erbarme dich meiner, erhöre die Gebete derer, die Dich geboren hat, aller deiner Heiligen, Prophet aller, Jesus mein Erlöser, gewähre mir die Glückseligkeiten des Paradieses, Jesus, der du die Menschen liebst!« Er hielt kurz inne, schöpfte Atem, bekreuzigte sich und verneigte sich tief, und alle taten es ihm gleich. Der Aufseher verneigte sich, die Wärter und die Gefangenen, und oben klirrten besonders häufig die Ketten. »Schöpfer der Engel und Herr der Kräfte«, fuhr er fort. »Wunderbarster Jesus, Erstaunen der Engel, übermächtiger Jesus, Erlösung der Vorfahren, süßer Jesus, Lobpreisung der Patriarchen, glorreicher Jesus, Stütze der Zaren, seligster Jesus, Erfüllung der Propheten, wundervoller Jesus, Festung der Märtyrer, sanfter Jesus, Freude der Mönche, gnädigster Jesus Wonne der Presbyter, barmherzigster Jesus, Mäßigung der Fastenden, süßester Jesus, Freude der Gerechten, reinster Jesus, Keuschheit der Jungfräulichen, ewiger Jesus, Rettung der Sünder, Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich.« Nachdem er das Wort Jesus mit einem von Mal zu Mal stärkeren Zischeln ausgesprochen hatte, hielt er endlich inne, um den seidengefütterten Priesterrock zu raffen, mit einem Bein niederzuknien und sich tief bis zum Boden

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zu verneigen, während der Chor die letzten Worte des Priesters noch einmal erklingen ließ: »Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich«; die Gefangenen fielen nieder und standen wieder auf, wobei sie die Haare zurückwarfen, die auf der einen Seite des Kopfes nicht abgeschnitten waren,3 und mit den Ketten klirrten, die ihnen die dürren Beine wundrieben. So ging es noch sehr lange weiter. Zu Anfang kamen Lobgesänge, die immer mit den Worten endeten: »Erbarme dich«, und dann kamen neue Lobgesänge, die immer mit dem Wort »Halleluja« endeten. Die Gefangenen bekreuzigten sich, verneigten sich und fielen zu Boden. Zu Anfang verneigten sich die Gefangenen bei jeder Unterbrechung, dann allmählich jedes zweite Mal, dann jedes dritte Mal, und alle waren sehr froh, als sämtliche Lobgesänge beendet waren, der Priester mit einem erleichterten Seufzer das Büchlein zuklappte und hinter die Trennwand ging. Es blieb noch eine letzte Handlung auszuführen, die darin bestand, dass der Priester das goldene Kreuz mit den Email-Medaillons an den Enden, das auf dem großen Tisch lag, aufnahm und damit in die Mitte der Kirche schritt. Zuerst trat der Aufseher heran und küsste das Kreuz, dann sein Gehilfe, dann die Wärter, und dann kamen die Gefangenen, drängelnd und im Flüsterton schimpfend. Der Priester, der sich währenddessen mit dem Aufseher unterhielt, steckte den herbeitretenden Gefangenen das Kreuz und seine Hand in den Mund und manchmal auch in die Nase, während die Gefangenen sich bemühten, sowohl das Kreuz als auch die Hand des Priesters zu küssen. So endete der christliche Gottesdienst, der zum Trost und zur Erbauung des Gemüts der verirrten Brüder abgehalten wurde. –––––––––– Und niemandem der Anwesenden, weder dem Priester noch dem Aufseher oder der Maslova, kam es in den Sinn, dass derselbe Jesus, dessen Namen der Priester so endlos viele Male zischelnd wiederholt hatte, als er ihn mit allerlei sonderbaren Worten lobpries, genau das verboten hatte, was sich hier abspielte; nicht nur diesen sinnlosen Redeschwall und diese blasphemische Zauberei der Priester und Meister mit Brot und Wein hatte er verboten, sondern explizit auch, dass die einen Menschen die anderen als Meister bezeichnen, er hatte das Gebet in den Tempeln verboten und befohlen, jeder solle für sich allein beten, er hatte die Tempel selbst verboten und gesagt, er sei gekommen, sie zu zerstören, man solle nicht in den Tempeln beten, sondern in Geist und Wahrheit; vor allem aber hatte er nicht nur verboten, Menschen zu verurteilen und sie in Haft zu nehmen, zu quälen, zu entehren und hin3 Um Strafgefangene zu kennzeichnen und ihnen somit die Flucht zu erschweren, wurden ihnen im zaristischen Russland die eine Hälfte des Schädels kahl rasiert.

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zurichten, wie es hier geschah, sondern er hatte auch jede Gewalt gegenüber Menschen verboten und gesagt, er sei gekommen, die Gefangenen in die Freiheit zu entlassen. Niemandem der Anwesenden kam es in den Sinn, dass alles, was hier geschah, die größte Blasphemie war, eine Verhöhnung desselben Christus, in dessen Namen das alles vollzogen wurde. Niemandem kam es in den Sinn, dass das vergoldete Kreuz mit den Email-Medaillons an den Enden, das der Geistliche herausgetragen und den Menschen zum Küssen hingehalten hatte, nichts anderes war als eine Darstellung jenes Galgens, an dem Christus eben dafür hingerichtet worden war, dass er das, was hier in seinem Namen geschah, verboten hatte. Niemandem kam es in den Sinn, dass jene Priester, die sich einbilden, dass sie in Form von Brot und Wein Christi Leib essen und sein Blut trinken, wirklich seinen Leib essen und sein Blut trinken, aber nicht mit den Brotstückchen und dem Wein, sondern damit, dass sie nicht nur »diese Kleinen«, in denen Christus sich erkannte, verführen, sondern sie des größten Heils berauben und grausamsten Qualen aussetzen, indem sie die Verkündung des Heils, die er den Menschen brachte, vor ihnen verbergen. Der Priester tat alles, was er tat, ruhigen Gewissens, weil er von kleinauf in der Überzeugung erzogen war, das sei der einzige, wahre Glaube, an den alle früheren Heiligen geglaubt hatten und an den die geistige und weltliche Obrigkeit heute noch glaubt. Er glaubte nicht daran, dass sich das Brot in den Leib verwandelte, dass es der Seele zuträglich sei, viele Wörter zu sprechen oder dass er tatsächlich ein Stück von Gott gegessen habe – daran kann man nicht glauben –, aber er glaubte daran, dass man an diesen Glauben glauben müsse. Hauptsächlich bestärkt aber wurde er in diesem Glauben dadurch, dass er aus der Ausführung der Amtshandlungen dieses Glaubens schon seit achtzehn Jahren Einkünfte bezog, von denen er seine Familie unterhielt, den Sohn im Gymnasium, die Tochter in der Stiftsschule. In der gleichen Weise, und überzeugter noch als der Priester glaubte auch der Diakon, weil er das Wesen der Dogmen dieses Glaubens völlig vergessen hatte und nur wusste, dass es für das warme Wasser beim Abendmahl, für die Seelenmesse, für das Stundengebet, für eine einfache Andacht und für eine Andacht mit Akathistos,4 dass es für all das einen bestimmten Preis gab, den echte Christen gerne bezahlen, und daher rief er sein »Erbarme dich, erbarme dich«, und er sang und las die vorgeschriebenen Stellen mit derselben gelassenen Überzeugung, dass dies notwendig sei, mit welcher die Menschen Brennholz, Mehl und Kartoffeln verkaufen. Der Vorsteher des Gefängnisses aber und die Wärter, die zwar noch nie gewusst und sich noch nie damit befasst hatten, worin die 4 Ein Akathistos (»nicht sitzend«) ist ein Hymnus in der orthodoxen Liturgie, der der Dreieinigkeit, einem Heiligen oder einem kirchlichen Feiertag gewidmet ist und stehend (nicht sitzend) gesungen wird.

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Dogmen dieses Glaubens bestanden und was das ganze Geschehen in der Kirche zu bedeuten hatten, glaubten, man müsse unbedingt an diesen Glauben glauben, weil die oberste Obrigkeit und selbst der Zar daran glaubten. Außerdem empfanden sie, wenn auch nur undeutlich (sie hätten keineswegs erklären können, wie das zugehen sollte), dass dieser Glaube ihren grausamen Dienst rechtfertigte. Ohne diesen Glauben wäre es ihnen nicht nur schwerer, sondern wohl unmöglich gewesen, alle ihre Kräfte darauf zu verwenden, Menschen zu quälen, wie sie es jetzt vollkommen ruhigen Gewissens taten. Der Aufseher war ein so herzensguter Mensch, dass er niemals so hätte leben können, hätte er nicht Unterstützung in diesem Glauben gefunden. Und deshalb stand er reglos und aufrecht da, verneigte und bekreuzigte sich eifrig, bemühte sich um Ergriffenheit, als man den Cherubim-Hymnus5 sang, und als den Kindern das Abendmahl verteilt wurde, ging er nach vorn und hob eigenhändig einen kleinen Jungen, der das Abendmahl empfangen sollte, hoch und hielt ihn fest. Die Mehrheit der Gefangenen aber, mit Ausnahme einiger weniger, die den ganzen Betrug durchschauten, der an den Gläubigen begangen wurde, und insgeheim darüber lachten, die Mehrheit glaubte, dass in diesen vergoldeten Ikonen, den Kerzen, Schalen, Messgewändern und Kreuzen, in den Wiederholungen der unverständlichen Worte »süßester Jesus« und »Erbarme dich« eine geheimnisvolle Kraft lag, durch die man große Annehmlichkeiten in diesem und im künftigen Leben erlangen konnte. Obgleich die meisten, nachdem sie mithilfe von Gebeten, Andachten und Kerzen einige Versuche zur Erlangung dieser Annehmlichkeiten unternommen, aber keine bekommen hatten – ihre Gebete wurden nicht erhört –, war jeder fest überzeugt, dieser Misserfolg sei zufällig und diese Maßnahme, die von gelehrten Leuten und Metropoliten befürwortet wurde, sei dennoch eine sehr wichtige Maßnahme, die wenn nicht für dieses, dann für das künftige Leben unabdingbar sei. Dasselbe glaubte auch die Maslova. Ebenso wie die anderen empfand sie während des Gottesdienstes ein gemischtes Gefühl von Andacht und Langeweile. Sie stand zunächst in der Mitte der Menge hinter der Trennwand und konnte niemanden sehen außer ihren Freundinnen; aber als diejenigen, die das Abendmahl empfangen wollten, sich weiter nach vorn schoben und sie zusammen mit Fedosja aufrückte, sah sie den Aufseher, und hinter dem Aufseher, zwischen den Wärtern, einen kleinen Bauern mit weißblondem Bärtchen und dunkelblondem Haar – Fedosjas Mann, der seine Frau unverwandt ansah. Während des Akathistos war die Maslova so damit beschäftigt, ihn zu mustern und mit Fedosja zu tuscheln, dass sie sich nur dann bekreuzigte und verneigte, wenn alle das taten. 5 Cherubim-Hymnus – Hymnus zur Übertragung der eucharistischen Gaben auf den Altar.

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Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar 1901

Seit den späten 1870er Jahren war die Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Tolstoj angespannt. Seine religiösen Traktate, die in Russland zwar verboten waren, aber dennoch in unzähligen Abschriften zirkulierten, seine beharrlich wiederholte Kritik an der Kirche und ihren Dogmen und schließlich das Erscheinen des Romans Auferstehung im Jahr 1899 ließen die Kirche immer unwirscher auf Tolstojs Werk und seine Person reagieren. Am 24. Februar 1901 veröffentliche der Hl. Synod die Resolution Nr. 557 bezüglich des Grafen Lev Tolstoj, die alle Gläubigen vor dem schädlichen Einfluss seiner Lehre warnte und die von Tolstoj selbst und den meisten Zeitgenossen als Exkommunikation aus der Orthodoxen Kirche verstanden wurde. In der Resolution heißt es: »Graf Lev Tolstoj erhob sich im Übermut seines stolzen Verstandes gegen den Herrn und seinen Heiland und sein heiliges Gut, sagte sich offen von seiner Mutter, der orthodoxen Kirche, die ihn ernährt und auferzogen hatte, los, und widmete seine literarische Tätigkeit sowie das von ihm von Gott gewährte Talent zur Verbreitung von Lehren, die Christus und der Kirche zuwider sind, sowie zur Ausrottung des väterlichen Glaubens aus dem Verstand und dem Herzen der Menschen, der die Welt begründet hat, und in welchem unsere Vorfahren lebten und ihr Heil fanden, und auf welchen das heilige Russland sich bisher stützte. In seinen Schriften und Briefen, die von ihm und seinen Jüngern allüberall in großer Zahl verbreitet werden, namentlich aber in den Grenzen des teuren Vaterlandes, predigte er mit dem Eifer eines Fanatikers den Sturz alles Dogmen der orthodoxen Kirche sowie des Wesens des christlichen Glaubens. Er verneint den persönlichen, lebendigen Gott, der in der heiligen Kirche gelobt wird, den Schöpfer und den Erhalter der Welt; er verneint den Herrn Jesus Christus, den Gottmenschen, den Erlöser der Welt, der unseretwegen gelitten hat und unseres Heils wegen aus dem Tode auferstanden ist; er leugnet die samenlose Empfängnis des Herrn Christi sowie die Jungfernschaft der heiligen Mutter Gottes Maria; er erkennt nicht das zukünftige Leben sowie die Vergeltung an, leugnet alle Sakramente der Kirche und die heilbringende Wirkung des heiligen Geistes in denselben und verspottet das größte aller Sakramente, die heilige Eucharistie. Das alles predigt Graf Lev Tolstoj unaufhörlich, durch Wort und Schrift, zur Verführung und zum Schrecken der ganzen orthodoxen Welt, so dass er sich dadurch offen vor der ganzen Welt bewusst und absichtlich von jeglicher Gemeinschaft mit der orthodoxen Kirche losgesagt hat. Die zu seiner Bekehrung gemachten Versuche sind von keinem Erfolgt gekrönt worden. Die Kirche hält ihn darum nicht für ihr Mitglied und kann ihn als solches nicht betrachten, solange er nicht Busse tut und seine Gemeinschaft mit derselben nicht wieder herstellen wird.«1 Tolstojs Antwort auf den Beschluss des Hl. Synods wurde im Juni 1901 in der Zeitschrift Missionerskoe obozrenie veröffentlicht, wobei ca. 100 Zeilen der Zensur zum Opfer fielen. Die Zeitschrift gab zudem einen Sammelband heraus, in dem Tolstojs Antwort noch einmal abgedruckt war, worauf die Zensurbehörde jede weitere Veröffentlichung verbot. Die erste vollständige Publikation erfolgte in Cˇertkovs Listki Svobodnogo slova 1901 in England. In Russland konnte der vollständige Text erstmals 1905 erscheinen.

1 Graf Leo Tolstoi und der Heilige Synod, Berlin o.J., 12–14.

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Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 34: 245–253). Der vollständige Titel des Schreibens lautet: »Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar und auf die aus diesem Anlass erhaltenen Briefe.«

He who begins by loving Christianity better than Truth will proceed by loving his own Sect or Church better than Christianity, and end in loving himself better than all.

Coleridge2

Ich wollte zunächst auf die mich betreffende Verfügung des Synods nicht antworten, doch gab diese Verfügung Anlass für sehr viele Briefe von mir unbekannten Verfassern – die einen beschimpfen mich, weil ich das ablehne, was ich nicht ablehne, die anderen ermahnen mich, das zu glauben, was zu glauben ich nie aufgehört habe, wieder andere bekunden ihre Geistesverwandtschaft mit mir, die in Wirklichkeit wohl kaum existiert, und ihr Mitgefühl, auf das ich wohl kaum ein Recht habe; und so beschloss ich, sowohl auf die Verfügung selbst zu antworten und aufzuzeigen, was darin unzutreffend ist, als auch auf die Schreiben der mir unbekannten Briefschreiber. Die Verfügung des Synods hat allgemein viele Mängel. Sie ist rechtswidrig oder mit Absicht zweideutig; sie ist willkürlich, unhaltbar, unwahr und enthält zudem Verleumdungen und Anstiftung zu bösen Gefühlen und Handlungen. Sie ist rechtswidrig oder mit Absicht zweideutig, denn wenn sie ein Kirchenbann sein will, dann entspricht sie nicht den kirchlichen Regeln, nach denen ein solcher Bann ausgesprochen werden kann; wenn sie aber eine Erklärung darüber ist, dass derjenige, der nicht an die Kirche und ihre Dogmen glaubt, nicht zu ihr gehört, dann versteht sich das von selbst, und eine solche Erklärung kann kein anderes Ziel verfolgen als einzig jenes, dass sie, obwohl sie eigentlich kein Bann ist, als ein solcher erscheinen will, was letzten Endes auch eingetreten ist, weil sie so verstanden wurde. Sie ist willkürlich, weil sie nur mich des Unglaubens in allen aufgeführten Punkten beschuldigt, während nicht nur viele, sondern nahezu alle gebildeten Menschen in Russland diesen Unglauben teilen und ihn in Gesprächen und Lektüren, in Broschüren und Büchern in einem fort zum Ausdruck gebracht haben und bringen. Sie ist unhaltbar, weil sie als Hauptgrund dafür, dass sie erlassen wurde, die große Verbreitung meiner Irrlehre angibt, die die Menschen auf Abwege bringe, während mir wohl bekannt ist, dass es kaum hundert Menschen gibt, 2 Berühmter Aphorismus aus den Aids to Reflection (1825) des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (1772–1834).

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die meine Ansichten teilen, und die Verbreitung meiner Schriften zur Religion dank der Zensur so unbedeutend ist, dass die meisten Menschen, die die Verfügung des Synods gelesen haben, nicht die geringste Vorstellung darüber haben, was ich zur Religion geschrieben habe, wie aus den Briefen, die ich erhielt, hervorgeht. Sie enthält eine offensichtliche Unwahrheit, indem sie behauptet, von Seiten der Kirche seien nicht von Erfolg gekrönte Versuche unternommen worden, mich zur Vernunft zu bringen, während nichts dergleichen geschehen ist. Sie ist das, was man juristisch als Verleumdung bezeichnet, weil sie wissentlich unwahre Behauptungen enthält, die mir schaden sollen. Sie ist schließlich Anstiftung zu bösen Gefühlen und Handlungen, da sie, wie zu erwarten war, bei unaufgeklärten Menschen, die nicht nachdenken, Erbitterung und Hass gegen mich hervorrief, die bis hin zu Morddrohungen gingen, die in den Briefen, die ich erhielt, ausgedrückt waren. »Jetzt unterliegst du dem Anathema, nach dem Tod wirst du in ewigen Qualen leiden und krepieren wie ein Hund … Anathema bist du, alter Teufel … verflucht seist du«, schreibt einer. Ein anderer macht der Regierung Vorwürfe, dass ich noch nicht in einem Kloster eingesperrt sei, in einem Brief, der von Schimpfwörtern strotzt. Ein dritter schreibt: »Wenn die Regierung dich nicht beseitigt, werden wir dich selbst zum Schweigen bringen«; der Brief endet mit Verwünschungen. »Um dich Schurken zu vernichten«, schreibt ein vierter, »finde ich Mittel und Wege …« Darauf folgen unanständige Schimpfwörter. Anzeichen für die gleiche Erbitterung nach der Verfügung des Synods bemerke ich auch bei persönlichen Begegnungen mit manchen Menschen. Am selben 25. Februar, als die Verfügung veröffentlicht wurde, hörte ich, als ich über den Platz ging, die an mich gerichteten Worte: »Da ist der Teufel in Menschengestalt«, und wäre die Menge anders zusammengesetzt gewesen, hätte es sehr gut sein können, dass man mich ebenso verprügelt hätte wie vor einigen Jahren den Mann bei der Pantelejmon-Kapelle.3 Die Verfügung des Synods ist also im Ganzen sehr ungut; und dass es am Ende der Verfügung heißt, die Unterzeichner würden darum beten, dass ich ebenso würde wie sie, macht sie nicht besser. Das ist insgesamt so, im Detail aber ist diese Verfügung unzutreffend in Folgendem. In der Verfügung heißt es: »Der weltbekannte Schriftsteller russischer Herkunft, orthodox nach Taufe und Erziehung, Graf Tolstoj, hat sich in der Verblendung seines stolzen Geistes dreist gegen seinen Herrn und Christus und dessen heiliges Gut erhoben und sich in aller Öffentlichkeit von seiner Mutter, die ihn genährt und aufgezogen hat, von der orthodoxen 3 Die Pantelejmon-Kapelle in Moskau wurde 1881–1883 erbaut zur Aufbewahrung von Heiligtümern aus dem Pantelejmon-Kloster auf dem Athos.

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Kirche, losgesagt.« Dass ich mich von der Kirche, die sich als orthodoxe bezeichnet, losgesagt habe, ist vollkommen richtig. Doch habe ich mich nicht deshalb von ihr losgesagt, weil ich mich gegen den Herrn erhoben hätte, sondern im Gegenteil nur deshalb, weil ich mit allen Kräften meiner Seele wünschte, ihm zu dienen. Vor meiner Lossagung von der Kirche und von der Einheit mit dem Volk, die mir unsagbar teuer war, habe ich, nachdem mir aufgrund verschiedener Anzeichen Zweifel an der Richtigkeit der Kirche gekommen waren, mehrere Jahre darauf verwandt, die Lehre der Kirche theoretisch und praktisch zu erforschen: in theoretischer Hinsicht habe ich noch einmal alles, was ich konnte, über die Lehre der Kirche gelesen und die dogmatische Theologie studiert und kritisch untersucht; in praktischer Hinsicht habe ich im Verlaufe von mehr als einem Jahr alle Vorschriften der Kirche streng befolgt und dabei alle Fasten eingehalten und alle Gottesdienste besucht. Und ich habe mich davon überzeugt, dass die Lehre der Kirche in theoretischer Hinsicht eine heimtückische, schädliche Lüge und in praktischer Hinsicht eine Sammlung primitivster Irrlehren und Zaubereien ist, die den gesamten Sinn der christlichen Lehre vollkommen verdecken. Ich habe mich tatsächlich von der Kirche losgesagt, habe aufgehört, ihre Rituale auszuführen, und im Testament meinen Nächsten geschrieben, sie sollten, wenn ich sterbe, keine Geistlichen zu mir lassen und meinen toten Körper rasch wegschaffen, ohne Beschwörungen und Gebete, so wie man ein ekelhaftes, unnötiges Ding beseitigt, damit es die Lebenden nicht störe. Außerdem wird behauptet, ich hätte meine »literarische Tätigkeit und das mir von Gott verliehene Talent dafür eingesetzt, im Volk Lehren zu verbreiten, die gegen Christus und die Kirche sind« usw., sowie ich würde »in meinen Werken und Briefen, die von mir ebenso wie von meinen Schülern in großer Zahl über die ganze Welt, besonders aber in unserem teuren Vaterland verstreut werden, mit dem Eifer des Fanatikers den Sturz aller Dogmen der orthodoxen Kirche und des Wesens des christlichen Glaubens predigen« –, aber auch das ist unzutreffend. Ich habe mich nie um die Verbreitung meiner Lehre gekümmert. Freilich habe ich mein Verständnis von Christi Lehre in meinen Werken für mich selbst zum Ausdruck gebracht und diese Werke vor Menschen, die sie kennen lernen wollten, nicht versteckt, aber ich habe sie niemals selbst gedruckt; hingegen habe ich den Menschen nur dann, wenn sie mich danach gefragt haben, erklärt, wie ich die Lehre Christi verstehe. Diesen Menschen habe ich gesagt, was ich denke, und ich habe ihnen, wenn sie bei mir waren, meine Bücher gegeben. Weiter heißt es, ich würde »Gott leugnen, den in der heiligen Trinität gepriesenen Schöpfer und Erhalter des Universums, Jesus Christus leugnen, den Gottmenschen, Erlöser und Retter der Welt, der gelitten hat um uns Menschen willen und um unserer Rettung willen und von den Toten auferstanden ist, die unbefleckte Empfängnis unseres Herrn Jesu Christi und die

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Jungfräulichkeit der allerheiligsten Gottesmutter vor und nach der Geburt negieren«. Dass ich die unbegreifliche Trinität, die in der heutigen Zeit völlig sinnlose Fabel über den Sündenfall des ersten Menschen und die blasphemische Geschichte über Gott, der von einer Jungfrau geboren wurde und das menschliche Geschlecht erlöst hat, ablehne, ist vollkommen zutreffend. Aber Gott den Geist, Gott die Liebe, den einen Gott, den Ursprung von allem, leugne ich nicht nur nicht, vielmehr erkenne ich nichts Existierendes außer Gott an, und den ganzen Sinn des Lebens sehe ich nur in der Erfüllung von Gottes Willen, der in der christlichen Lehre ausgedrückt ist. Weiterhin heißt es: »Er erkennt das Leben nach dem Tode und die Vergeltung nicht an.« Wenn man das Leben nach dem Tod im Sinne des Jüngsten Gerichts, der Hölle mit ewigen Qualen und Teufeln, des Paradieses und der ewigen Glückseligkeit versteht, dann ist es vollkommen zutreffend, dass ich ein solches Leben nach dem Tode nicht anerkenne; das ewige Leben hingegen und die Vergeltung hier und überall, jetzt und immer, erkenne ich insoweit an, dass ich dem Alter nach am Rande des Grabes stehe und häufig Anstrengungen unternehmen muss, mir nicht den fleischlichen Tod zu wünschen, das heißt die Geburt zu einem neuen Leben, und ich glaube, dass jede gute Handlung das wahre Heil meines ewigen Lebens vermehrt und jede böse Handlung es verringert. Ebenso heißt es, ich würde alle Sakramente ablehnen. Das ist vollkommen zutreffend. Ich halte alle Sakramente für niedere, primitive, dem Verständnis von Gott und der christlichen Lehre nicht angemessene Zauberei und zudem für einen Verstoß gegen die direkten Anweisungen des Evangeliums. In der Taufe von Säuglingen sehe ich eine offensichtliche Verfälschung des ganzen Sinns, den die Taufe für Erwachsene haben könnte, die das Christentum bewusst annehmen; in der Spende des Sakraments der Ehe für Menschen, die sich offenkundig bereits früher zusammentaten, in der Zulassung von Scheidungen und in der Segnung von Ehen zwischen Geschiedenen sehe ich einen direkten Verstoß gegen Sinn und Buchstaben der evangelischen Lehre. In der periodischen Vergebung der Sünden bei der Beichte sehe ich eine schädliche Täuschung, die nur zur Unsittlichkeit ermutigt und die Furcht vor Versündigung erstickt. In der Krankensalbung wie auch in der Firmung sehe ich primitive Zaubertricks, ebenso in der Anbetung von Ikonen und Reliquien und in all den Ritualen, Gebeten und Beschwörungen, die die kirchlichen Amtshandlungen in so großer Zahl vorsehen. Im Abendmahl sehe ich eine Vergöttlichung des Fleisches und eine Verfälschung der christlichen Lehre. Im Priestertum sehe ich neben der offenkundigen Vorbereitung für Betrug einen direkten Verstoß gegen die Worte Christi, der unumwunden verbietet, irgendjemanden Rabbi, Vater oder Meister zu nennen (Mt 23,8–10). Schließlich heißt es als letzte und höchste Stufe meiner Fehlbarkeit, ich

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würde »die heiligsten Gegenstände des Glaubens verhöhnen und mich nicht scheuen, das heiligste der Sakramente, die Eucharistie, dem Spott preiszugeben«. Dass ich mich nicht scheue, einfach und objektiv zu beschreiben, was der Priester zur Vorbereitung dieses sogenannten Sakraments unternimmt, ist vollkommen zutreffend;4 aber dass dieses sogenannte Sakrament etwas Heiliges ist und dass es Blasphemie ist, einfach zu beschreiben, wie es ausgeführt wird, ist vollkommen unzutreffend. Die Blasphemie besteht nicht darin, eine Trennwand als Trennwand zu bezeichnen und nicht als Ikonostase, einen Kelch als Kelch zu bezeichnen und nicht als Messkelch usw., vielmehr ist es übelste, nicht enden wollende, empörende Blasphemie, dass die Menschen unter Zuhilfenahme aller möglichen Mittel von Betrügerei und Hypnose den Kindern und dem einfachen Volk weismachen, wenn man auf bestimmte Weise und unter Aussprache bestimmter Worte Brotstücke breche und diese in Wein einlege, würde Gott in dieses Brot eingehen; wenn man im Namen eines Lebenden ein Stück herausnehme, würde dieser gesund; wenn man es hingegen im Namen eines Verstorbenen herausnehme, dann würde es diesem im Jenseits besser ergehen, und wenn jemand dieses Brot esse, würde Gott selbst in ihn eingehen. Das ist doch entsetzlich! Wie immer man die Persönlichkeit Christi versteht, seine Lehre, die das Böse auf der Welt vernichtet und den Menschen, sofern sie sie nicht verfälschen, so einfach, so leicht und so unbestreitbar Heil bringt – diese Lehre wird überdeckt, in primitive Zauberei verwandelt durch Baden, Einreiben mit Öl, Körperbewegungen, Beschwörungen, Verschlucken von Brotstückchen usw., sodass von der Lehre nichts mehr übrig bleibt. Und wenn einmal ein Mensch versucht, den Menschen in Erinnerung zu rufen, dass die Lehre Christi nicht aus diesen Zaubereien, Andachten, Gottesdiensten, Kerzen und Ikonen besteht, sondern daraus, dass die Menschen einander lieben, Böses nicht mit Bösem vergelten, einander nicht verurteilen und nicht töten, dann erhebt sich ein entrüstetes Lamento derjenigen, denen diese Betrügereien Vorteile verschaffen, und diese Menschen behaupten dann öffentlich und mit unfassbarer Dreistigkeit in Kirchen, Büchern, Zeitungen und Katechismen, Christus habe niemals das Gelübde (den Eid) verboten, niemals die Ermordung (Hinrichtungen, Kriege) verboten, und die Lehre vom Verzicht auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse sei mit satanischer Hinterlist von den Feinden Christi erfunden. Entsetzlich ist vor allem, dass die Menschen, für die das von Vorteil ist, nicht nur die Erwachsenen betrügen, sondern – weil sie die Macht dazu haben – auch die Kinder, von denen Christus sagte: Wehe dem, der sie betrügt. Es ist entsetzlich, dass diese Menschen für ihre kleinen Vorteile so entsetzlich 4 Siehe den Auszug aus Tolstojs Roman Auferstehung in diesem Band.

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Böses anrichten, indem sie den Menschen die Wahrheit unterschlagen, die ihnen von Christus offenbart wurde und die ihnen ein Heil bringt, welches der ihnen aus dem Betrug erwachsene Vorteil nicht einmal zu einem Tausendstel aufwiegt. Sie handeln wie der Verbrecher, der wegen eines alten Mantels und vierzig Kopeken eine ganze Familie ermordet, fünf oder sechs Menschen. Diese Menschen hätten ihm gerne ihre gesamte Kleidung und alles Geld gegeben, wenn er sie hätte leben lassen. Aber er kann nicht anders handeln. Ebenso verhält es sich mit religiösen Betrügern. Man könnte ihnen anbieten, zehnmal besser und in größtem Prunk zu leben, wenn sie davon ablassen würden, die Menschen durch ihre Betrügerei zugrunde zu richten. Aber sie können nicht anders handeln. Eben das ist entsetzlich. Und daher ist es nicht nur möglich, sondern notwendig, ihre Betrügereien zu entlarven. Wenn es etwas Heiliges gibt, dann keineswegs das, was sie als Sakrament bezeichnen, sondern genau diese Verpflichtung, ihren religiösen Betrug zu entlarven, wenn man ihn sieht. Wenn ein Tschuwasche5 sein Götzenbild mit saurer Sahne bepinselt oder darauf einprügelt, kann ich gleichmütig daran vorbeigehen, weil er das, was er tut, im Namen eines mir fremden Aberglaubens tut und sein Tun nicht das betrifft, was für mich heilig ist; wenn aber Menschen, wie viele sie auch sein mögen, wie alt ihr Aberglaube auch sein mag und wie mächtig sie auch sein mögen, im Namen jenes Gottes, durch den ich lebe, und jener Lehre Christi, die mir das Leben gab und es allen Menschen geben kann, primitive Zauberei predigen, kann ich das nicht gelassen mit ansehen. Und wenn ich das, was sie tun, beim Namen nenne, dann tue ich nur das, was ich muss, was ich nicht umhin kann zu tun, wenn ich an Gott und die christliche Lehre glaube. Wenn sie aber, anstatt entsetzt zu sein über ihre Blasphemie, die Entlarvung ihres Betrugs als Blasphemie bezeichnen, dann beweist das nur die Stärke ihres Betrugs und muss auf Seiten der Menschen, die an Gott und die Lehre Christi glauben, zu vermehrten Anstrengungen führen, diesen Betrug, der den wahren Gott vor den Menschen verbirgt, zu unterbinden. Über Christus, der die Ochsen, Schafe und Händler aus dem Tempel vertrieb, musste man sagen, er handle blasphemisch. Wenn er heute käme und sähe, was in seinem Namen in der Kirche geschieht, würde er wohl mit noch größerem und noch berechtigterem Zorn all diese entsetzlichen Antimensia6 hinauswerfen, die Lanzen, die Kreuze, die Kelche, die Kerzen, die Ikonen und all das, womit Zauberei betrieben und Gott und seine Lehre vor den Menschen verborgen wird. 5 Die Tschuwaschen sind ein Turkvolk, dessen Siedlungsgebiet sich von der Wolga-Region bis nach Sibirien erstreckte. 6 Als Antimension wird im orthodoxen Ritus ein viereckiges Tuch aus Seide oder Leinen mit einer Darstellung der Grablegung Jesu Christi bezeichnet.

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Das also ist es, was zutreffend und was unzutreffend ist in der Verfügung des Synods über mich. Ich glaube tatsächlich nicht daran, woran sie behaupten zu glauben. Aber ich glaube an vieles, von dem sie den Menschen weismachen wollen, ich würde nicht daran glauben. Ich glaube an Folgendes: Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Ursprung von allem verstehe. Ich glaube, dass er in mir ist und ich in ihm bin. Ich glaube, dass Gottes Wille am klarsten und verständlichsten ausgedrückt ist in der Lehre des Menschen Christus, den als Gott zu verstehen und anzubeten ich für die größte Blasphemie halte. Ich glaube, dass das wahre Heil des Menschen in der Erfüllung von Gottes Willen liegt; Gottes Wille aber liegt darin, dass die Menschen einander lieben und folglich mit den anderen so umgehen, wie sie wollen, dass man mit ihnen umgeht, wie es auch im Evangelium heißt, darin liege das ganze Gesetz und die Propheten. Ich glaube, dass der Sinn des Lebens eines jeden einzelnen Menschen deshalb nur darin liegt, die Liebe in sich zu mehren; dass diese Mehrung der Liebe den einzelnen Menschen in diesem Leben zu immer größerem Heil führt und nach dem Tode um so größeres Heil bringt, je mehr Liebe im Menschen ist, und dass sie zugleich und mehr als alles andere zur Errichtung des Reiches Gottes auf Erden beiträgt, das heißt zu einer Lebensordnung, bei der Zwist, Betrug und Gewalt, wie sie jetzt herrschen, durch freies Einvernehmen, Wahrheit und brüderliche Liebe der Menschen zueinander ersetzt werden. Ich glaube, dass es für das Gedeihen in der Liebe nur ein Mittel gibt: das Gebet – nicht das öffentliche Gebet in den Tempeln, das Christus explizit verboten hat (Mt 6,5–13), sondern das Gebet, für das Christus uns ein Beispiel gegeben hat, das Gebet im Verborgenen, durch das der Sinn unseres Lebens und unserer Abhängigkeit allein vom Willen Gottes in unserem Bewusstsein wiederhergestellt und bestärkt wird. Wenn dieser mein Glaube jemanden beleidigt, kränkt oder verführt, wenn er jemanden stört und jemandem nicht gefällt – ich kann ihn ebenso wenig ändern wie meinen Körper. Ich muss mit mir allein leben, mit mir allein sterben (und das sehr bald), daher kann ich keinesfalls anders glauben, als ich glaube, während ich mich bereit mache, zu dem Gott zu gehen, von dem ich gekommen bin. Ich sage nicht, mein Glaube sei der zweifellos für alle Zeiten geltende einzig wahre, aber ich sehe keinen anderen, der einfacher und klarer wäre und allen Ansprüchen meines Verstands und meines Herzens besser entspräche; wenn ich einen solchen erkenne, nehme ich ihn sofort an, denn Gott braucht nichts mehr als die Wahrheit. Zurückkehren aber zu dem, was ich unter solchen Leiden gerade erst verlassen habe, kann ich auf gar keinen Fall, so wenig wie ein Vogel in die Eierschale zurück kann, aus der er geschlüpft ist. »Wer beginnt, das Christentum mehr zu lieben als die Wahrheit, wird seine eigene Kirche oder Sekte alsbald mehr lieben als das Christentum und

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damit enden, sich selbst (seine Ruhe) mehr als alles auf der Welt zu lieben«, hat Coleridge gesagt. Ich bin den umgekehrten Weg gegangen. Ich begann damit, dass ich meinen orthodoxen Glauben mehr als meine Ruhe und dann das Christentum mehr als meine Kirche liebte, heute aber liebe ich die Wahrheit mehr als alles auf der Welt. Und bis heute fällt die Wahrheit für mich mit dem Christentum, so wie ich es verstehe, zusammen. Ich bekenne dieses Christentum; und in dem Maße, in dem ich es bekenne, lebe ich ruhig und freudig und nähere mich ruhig und freudig dem Tod.7

7 Diese Stelle scheint auch eine polemische Speerspitze gegen Dostoevskij zu beinhalten, der 1854 in einem Brief an Natal’ja Fonvizina schrieb: »Ich habe mir ein Glaubensbekenntnis zurechtgelegt, in dem für mich alles klar und heilig ist. Dieses Bekenntnis ist ganz einfach, hier ist es: Glauben, dass es nichts Wundervolleres, Tieferes, Ansprechenderes, Vernünftigeres, Mutigeres und Vollkommeneres gibt als Christus … Mehr noch, sogar wenn mir jemand beweisen würde, dass Christus nicht in der Wahrheit ist, und wenn es auch tatsächlich so wäre, dass die Wahrheit nicht in Christus ist, dann möchte ich lieber mit Christus bleiben als mit der Wahrheit« (F.M. Dostoevskij, Polnoe sobranie soˇcinenij i pisem, Leningrad 1985, Bd. 28/1, 176). Dostoevskijs Brief wurde erstmals im Sammelband Pomoˇsˇc’ golodajuˇsˇcim. Nauˇcno-literaturnyj sbornik (Moskau 1892 [1891]) publiziert, zu dem auch Tolstoj einen Text beisteuerte. Ein ganz ähnliches Zitat wird zudem in Dostoevskijs Roman Die Dämonen der Hauptfigur Stavrogin zugeschrieben.

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Die Idee, einen offenen Brief an die gesamte Geistlichkeit zu schreiben, damit sie sich bewusst werde, was sie tue, fasste Tolstoj im Frühling 1902. »An die Geistlichkeit will ich schreiben. Wenn man mich nicht versteht, ist das nicht so schlimm, aber ich will den Menschen diesen schrecklichen Schaden vor Augen führen, den sie den Menschen zufügen«, schrieb Tolstoj seinem Bruder Sergej. Wie wichtig ihm dieser Aufruf war, zeigt der Umstand, dass er bis im Dezember 1902 an seinem Text arbeitete und ständig neue Änderungen vornahm. 1903 erschien das Pamphlet in England und in Berlin, in Russland konnte es erst 1906 veröffentlicht werden. 1903 verfasste der Priester Ioann von Kronstadt, nachdem er den Aufruf in einer ausländischen Ausgabe gelesen hatte, ein Gegenpamphlet mit dem Titel Antwort auf Tolstojs Aufruf an die Geistlichkeit. Darin bezeichnete er Tolstoj als den »größten Komplizen des Teufels« und »berüchtigsten Gegner Christi«. Der Text erscheint hier zum ersten Mal in deutscher Sprache. Die Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 34: 299–318).

I Wer ihr auch seid, Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Superintendenten, Priester, Pastoren, welcher Konfession ihr auch seid, lasst für eine Zeit eure Überzeugung beiseite, dass ihr, gerade ihr, die einzig wahren Schüler Christi Gottes seid mit dem Auftrag, seine eine wahre Lehre zu predigen, und denkt daran, dass ihr nicht nur Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Superintendenten und dergleichen seid, sondern vor allem Menschen, d.h. eurer Lehre nach Wesen, die Gott in die Welt gesandt hat, um sein Gesetz zu befolgen; denkt daran und überlegt, was ihr tut. Euer ganzes Leben ist dem geweiht, jene Lehre zu predigen, zu unterstützen und unter den Menschen zu verbreiten, die euch nach euren Worten von Gott selbst offenbart wurde und die daher die eine, wahre und rettende Lehre ist. Worin besteht aber diese eine, wahre und rettende Lehre, die ihr predigt? Zu welcher der sogenannten christlichen Konfessionen – katholisch, orthodox, lutheranisch, anglikanisch – ihr auch gehört, ihr erkennt eure Lehre genau zum Ausdruck gebracht in dem Glaubensbekenntnis, das beim Konzil von Nizäa vor 1600 Jahren aufgestellt wurde.1 Die Grundsätze dieses Bekenntnisses sind die folgenden: 1 Tolstoj bezieht sich im Folgenden auf das Nizäno-Konstantinopolitanum – die erweiterte und revidierte Fassung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, die 381 vom Ökumenischen Konzil in Konstantinopel verabschiedet wurde.

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Erstens: Es gibt Gottvater (die erste Person der Trinität), der den Himmel und die Erde und alle Engel im Himmel geschaffen hat. Zweitens: Es gibt den einen Sohn Gottvaters, nicht geschaffen, sondern gezeugt (die zweite Person der Trinität). Durch diesen Sohn wurde die Welt geschaffen. Drittens: Dieser Sohn ist zur Erlösung der Menschen von Sünde und Tod, durch die sie alle für den Ungehorsam ihres Vorvaters Adam gestraft waren, herabgestiegen auf die Erde, Fleisch geworden vom Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und Mensch geworden. Viertens: Dieser Sohn wurde für die Sünden der Menschen gekreuzigt. Fünftens: Er hat gelitten und wurde begraben und ist auferstanden am dritten Tag, wie es in den hebräischen Büchern vorhergesagt war. Sechstens: Als er in den Himmel kam, nahm dieser Sohn Platz zur Rechten des Vaters. Siebtens: Dieser Sohn Gottes wird zu seiner Zeit wieder auf die Erde kommen zu richten die Lebenden und die Toten. Achtens: Es gibt den Heiligen Geist (die dritte Person der Trinität), der dem Vater ebenbürtig ist und durch die Propheten gesprochen hat. Neuntens (für einige der verbreitetsten Konfessionen): Es gibt die eine, heilige, unfehlbare Kirche (oder genauer, als die eine, heilige und unfehlbare wird jene Kirche anerkannt, zu der derjenige, der das Bekenntnis ablegt, gehört). Diese Kirche besteht aus allen Lebenden und Toten, die an diese Kirche glauben. Zehntens (ebenfalls für einige der verbreitetsten Konfessionen): Es gibt das Sakrament der Taufe, durch das sich dem Täufling die Kraft des Heiligen Geistes mitteilt. Elftens: Bei der zweiten Ankunft Christi verbinden sich die Seelen der Verstorbenen mit ihren Körpern, und diese Körper werden unsterblich; und Zwölftens: Auf die zweite Ankunft folgt das ewige Leben der Gerechten im Paradies, in einem neuen Land und unter einem neuen Himmel, und das ewige Leben der Sünder in den Qualen der Hölle. Abgesehen davon, dass die häufigsten Bekenntnisse, die einige von euch predigen – das katholische und das orthodoxe –, an Heilige glauben und an Wohltaten durch die Verehrung der körperlichen Überreste dieser Heiligen und ihrer Abbildungen, ebenso wie der Abbildungen von Christus und der Gottesmutter, liegen in diesen zwölf Punkten die wesentlichen Grundsätze jener Wahrheit, die Gott euch selbst, wie ihr sagt, zur Rettung der Menschen offenbart hat. Einige von euch predigen diese Grundsätze genau so, wie sie formuliert sind, andere bemühen sich, ihnen einen allegorischen, mehr oder weniger dem heutigen Wissen und dem gesunden Menschenverstand entsprechenden Sinn zu geben, aber ihr alle könnt nicht umhin, diese Grundsätze als genauen Ausdruck jener einen Wahrheit, die euch von Gott selbst

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offenbart wurde und die ihr den Menschen zu ihrem Heil predigt, anzuerkennen, und ihr erkennt sie an.

II Nun gut. Gott selbst hat euch die eine, für die Menschen rettende Wahrheit offenbart. Die Menschen streben nach der Wahrheit, und wenn sie ihnen klar vermittelt wird, erkennen sie sie stets freudig an und lassen sich von ihr leiten. Um den Menschen eure von Gott selbst offenbarte und für die Menschen rettende Wahrheit mitzuteilen, schiene es hinlänglich einfach und klar, sie mündlich und schriftlich, durch vernünftiges Zureden denjenigen Menschen zu vermitteln, die in der Lage sind, sie anzunehmen. Wie aber predigt ihr eure Wahrheit? Seit sich die Gemeinschaft gebildet hat, die sich Kirche nennt, haben eure Vorgänger diese Wahrheit vorwiegend mit Gewalt gelehrt. Sie schrieben diese Wahrheit vor und richteten diejenigen hin, die sie nicht annahmen (Abermillionen von Menschen wurden gefoltert, erschlagen und verbrannt, weil sie sie nicht annehmen wollten). Dieses für seinen Zweck offensichtlich ungeeignete Mittel wurde mit der Zeit immer weniger angewendet und kommt heute anscheinend in keinem christlichen Land außer einzig und allein in Russland zur Anwendung. Das zweite Mittel war die äußere Einwirkung auf die Gefühle der Menschen mithilfe einer feierlichen Umgebung, durch Bilder, Statuen, Gesänge, Musik, dramatische Vorstellungen und Redekunst. Mit der Zeit wurde auch dieses Mittel immer weniger angewendet. In protestantischen Ländern wird dieses Mittel, mit Ausnahme der Redekunst, großenteils fast gar nicht eingesetzt (eine Ausnahme bildet nur die Heilsarmee, die sich neue Mittel zur äußeren Einwirkung auf die Gefühle ausdachte). Dafür aber richten sich alle Kräfte der Geistlichkeit heutzutage auf das dritte und mächtigste Mittel, das immer schon angewendet wurde und heute von euch besonders eifersüchtig beibehalten wird. Dieses Mittel besteht darin, die kirchliche Lehre Menschen einzuflüstern, die in einer Lage sind, in der sie nicht beurteilen können, was ihnen vermittelt wird. In dieser Lage sind vollkommen ungebildete Menschen, Arbeiter, die keine Zeit zum Nachdenken haben, und vor allem Kinder, die wahllos annehmen, was man ihnen vermittelt, und es für immer im Herzen bewahren.

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III Heutzutage besteht also euer wichtigstes Mittel zur Weitergabe der euch von Gott offenbarten Wahrheit darin, ungebildete Erwachsene und Kinder, die kein Urteilsvermögen haben und alles annehmen, in dieser Wahrheit zu unterrichten. Dieser Unterricht beginnt für gewöhnlich mit der sogenannten heiligen Geschichte, mit ausgewählten Stellen aus der Bibel, den hebräischen Büchern des Alten Testaments, die nach eurer Lehre Werke des Heiligen Geistes und daher nicht nur zweifelsfrei wahr, sondern auch heilig sind. Nach dieser Geschichte macht sich euer Schüler einen ersten Begriff von der Welt, vom Leben der Menschen, von Gut und Böse, von Gott. Diese heilige Geschichte beginnt mit der Beschreibung dessen, wie Gott, der ewig gelebt hatte, vor sechstausend Jahren aus dem Nichts den Himmel und die Erde schuf, wie er sodann die Tiere, die Fische und die Pflanzen und schließlich den Menschen schuf, Adam und seine Frau, die aus einer Rippe von Adam gemacht war. Dann wird beschrieben, wie er dem Mann und der Frau aus der Furcht, sie könnten einen Apfel essen, der durch Zauberkraft Macht verlieh, den Verzehr verbot; wie die ersten Menschen ungeachtet dieses Verbots den Apfel aßen und dafür aus dem Paradies vertrieben wurden, wie dafür ihre gesamte Nachkommenschaft und auch die Erde verflucht wurde, die seither begann, Unkraut zu tragen. Dann wird das Leben von Adams Nachkommen beschrieben, die so verderbt waren, dass Gott nicht nur sie alle, sondern auch alle Tiere ertränkte und nur Noah mit seiner Familie und den Tieren, die er in die Arche aufgenommen hatte, am Leben ließ. Danach wird beschrieben, wie Gott aus allen Menschen allein Abraham auswählte und mit ihm ein Abkommen schloss, nach dem Abraham Gott als Gott verehren und zum Zeichen dafür eine Beschneidung vornehmen sollte. Gott aber verpflichtete sich, Abraham dafür eine große Nachkommenschaft zu schenken und ihn und diese gesamte Nachkommenschaft zu beschützen. Weiter wird beschrieben, wie Gott Abraham und seine Nachkommen beschützt und zu seinem und seiner Nachkommen Gunsten die unnatürlichsten Dinge, genannt Wunder, und die schrecklichsten Grausamkeiten begeht. Diese ganze Geschichte ist also – mit Ausnahme von einfältigen Geschichten wie dem Besuch Gottes und der drei Engel bei Abraham oder der Hochzeit von Isaak oder auch anderer, manchmal unschuldiger, häufig aber unsittlicher Märchen wie dem Betrug des von Gott geliebten Jakob, der Grausamkeit Samsons oder der Schlauheit Josephs – diese ganze Geschichte, angefangen von den Plagen, die Moses den Ägyptern sandte, über den Engel, der alle ihre Erstgeborenen umbrachte, bis hin zu dem Feuer, das zweihundertfünfzig Verschwörer verbrannte, Korah, Dathan und Abiram, die von der Erde

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verschlungen wurden,2 und dem Untergang von 14700 Menschen in wenigen Minuten3, und bis hin zu den zersägten Feinden und den Priestern, die von Elia, der in den Himmel auffuhr, hingerichtet wurden, weil sie uneins waren mit ihm,4 und Elischa, der die Jungen, die ihn auslachten, verfluchte, woraufhin sie von zwei Bärinnen zerfetzt und gefressen wurden5 – diese ganze Geschichte ist eine Reihe wunderbarer Ereignisse und schrecklicher Übeltaten, begangen vom jüdischen Volk, von seinen Anführern und von Gott selbst. Doch dabei lässt euer Unterricht der Geschichte, die ihr heilig nennt, es nicht bewenden. Außer der Geschichte des Alten Testaments vermittelt ihr Kindern und ungebildeten Menschen die Geschichte des Neuen Testaments in einer Auslegung, bei der die wichtigste Bedeutung des Neuen Testaments nicht in der Sittlichkeitslehre, nicht in der Bergpredigt, sondern in der Übereinstimmung des Evangeliums mit der Geschichte des Alten Testaments liegt, in der Erfüllung der Prophezeiungen und in den Wundern: Der Lauf der Gestirne, der Gesang vom Himmel, das Gespräch mit dem Teufel, die Verwandlung von Wasser in Wein, das Gehen auf dem Wasser, die Heilung, die Auferweckung von Menschen und schließlich die Auferweckung von Christus selbst und seine Himmelfahrt. Wenn diese ganze Geschichte des Alten wie des Neuen Testaments als Märchen überliefert würde, würde sich wohl kaum ein Erzieher entschließen, sie Kindern oder Erwachsenen, die er bilden möchte, zu erzählen. Dieses Märchen aber wird Menschen, die es nicht beurteilen können, als wahrhaftige Beschreibung der Welt und ihrer Gesetze vermittelt, als wahrheitsgetreue Auskunft über das Leben der Menschen, die früher gelebt haben, darüber, was als gut und schlecht zu gelten hat, über das Wesen und die Eigenschaften Gottes und über die Verpflichtungen des Menschen. Man spricht von schädlichen Büchern. Aber gibt es in der christlichen Welt ein Buch, das den Menschen mehr Schaden zugefügt hat als dieses entsetzliche Buch, das als »heilige Geschichte« des Alten und Neuen Testaments bezeichnet wird? Und doch wird allen Menschen der christlichen Welt im Kindesalter diese heilige Geschichte gelehrt, wird diese Geschichte allen ungebildeten Erwachsenen als erstes, unerlässliches, grundlegendes Wissen gelehrt, als die eine, ewige, göttliche Wahrheit.

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Vgl. Num 26,10. Vgl. Num 17,14. Vgl. 1 Kön 18,40. Vgl. 2 Kön 2,23f.

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IV In einen lebendigen Organismus kann man keine fremde Materie einfügen, ohne dass dieser Organismus an den Anstrengungen, sich von dieser fremden Materie zu befreien, leiden und gelegentlich sogar zugrunde gehen würde. Welch entsetzlichen Schaden müssen die dem modernen Wissen wie dem gesunden Menschenverstand und dem Sittlichkeitsgefühl fremden Grundsätze der Lehre des Alten und Neuen Testaments dem menschlichen Verstand zufügen, die ihm zu einem Zeitpunkt eingeflößt werden, wo er das, was man ihm vermittelt, annimmt, obwohl er es nicht beurteilen kann. Für einen Menschen, in dessen Verstand es als heilige Wahrheit verankert ist, dass Gott vor sechstausend Jahren aus dem Nichts die Welt erschuf, dass es die Sintflut gab und die Arche Noah, die alle Tiere aufnahm, die Trinität und den Sündenfall Adams, die unbefleckte Empfängnis, die Wunder Christi und das Opfer seines Todes, das die Menschen erlöst hat – für einen solchen Menschen sind die Forderungen der Vernunft nicht mehr bindend, und so jemand kann von keiner Wahrheit überzeugt werden. Wenn die Trinität möglich ist, die unbefleckte Empfängnis, die Erlösung des Menschengeschlechts durch Christi Blut, dann ist alles möglich, und die Forderungen der Vernunft sind nicht bindend. Schlagt einen Spaltkeil zwischen die Dielen eines Kornbodens. Wie viel Getreide wir auch auf diesen Kornboden schütten, es bleibt nichts liegen. Genauso wenig kann sich in einem Kopf, in den der Spaltkeil der Trinität getrieben wurde oder derjenige eines Gottes, der Mensch geworden ist, durch seine Leiden das Menschengeschlecht erlöst hat und dann wieder in den Himmel aufgefahren ist, irgendeine vernünftige, feste Überzeugung halten. Was immer man auf einen Kornboden schüttet, der einen Spalt hat, alles wird herausrieseln. Was immer man einem Verstand eingibt, der Sinnloses als Glauben angenommen hat, nichts wird sich darin halten. Ein solcher Mensch wird sich, wenn er seine Glaubensvorstellungen hochhält, unweigerlich sein Leben lang entweder vor all dem, was ihn aufklären und seinen Glauben zerstören könnte, hüten wie vor etwas Schädlichem, oder er wird sich, wenn er ein für allemal anerkannt hat (wozu die Prediger der kirchlichen Lehre stets ermutigen), dass der Verstand die Quelle aller Täuschung ist, von dem einzigen Licht lossagen, das dem Menschen gegeben ist, um seinen Lebensweg zu finden; oder schlimmer noch, er wird mit spitzfindigen Erörterungen die Vernünftigkeit des Unvernünftigen zu beweisen suchen oder aber, was schlimmer ist als alles andere, nicht nur den Glauben verwerfen, den man ihm eingeredet hat, sondern auch das Bewusstsein der Notwendigkeit eines Glaubens überhaupt. In allen drei Fällen ist ein Mensch, dem in der Kindheit sinnlose und widersprüchliche Grundsätze als religiöse Wahrheit eingeflößt wurden, sofern

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er sich nicht unter großen Anstrengungen und Leiden von diesen befreit, ein geistig kranker Mensch. Ein solcher Mensch, der ringsum die Phänomene des Lebens in ständiger Bewegung sieht, kann nicht umhin, diese Bewegung, die seine Weltanschauung zerstört, mit Verzweiflung zu beobachten, er kann nicht umhin, den Menschen gegenüber, die zu dieser vernünftigen Bewegung beitragen, unverhohlene oder versteckte Feindseligkeit zu empfinden, er kann nicht umhin, ein bewusster Verfechter der Finsternis und der Lüge gegen das Licht und die Wahrheit zu sein. So wird tatsächlich die Mehrheit der christlichen Menschheit von Kindheit an durch Einflößung sinnloser Glaubensvorstellungen um die Fähigkeit zum klarem, sicheren Denken gebracht.

V Das ist der Schaden für die geistige Aktivität des Menschen, den die Einflüsterung der kirchlichen Lehre anrichtet. Doch um ein Vielfaches schädlicher ist jene sittliche Verirrung, die diese Einflüsterung in der Seele des Menschen anrichtet. Jeder Mensch kommt in die Welt mit dem Wissen seiner Abhängigkeit von einem geheimnisvollen, allmächtigen Ursprung, der ihm das Leben gegeben hat, mit dem Bewusstsein seiner Gleichheit mit allen Menschen und der Gleichheit aller Menschen untereinander, mit dem Wunsch, geliebt zu werden und die Menschen zu lieben und mit dem Bedürfnis nach Vervollkommnung. Und was flößt ihr ihm ein? Anstelle des geheimnisvollen Ursprungs, an den er mit Ehrfurcht gedacht hat, erzählt ihr ihm von einem zürnenden, ungerechten, strafenden Gott, der die Menschen quält. Anstelle der Gleichheit aller Menschen, die ein Kind ebenso wie ein ungebildeter Mensch mit seinem ganzen Wesen spürt, sagt ihr ihm, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Völker nicht gleich sind, dass Gott die einen liebt und die anderen nicht und dass die einen von Gott berufen sind zu herrschen und die anderen berufen sind sich unterzuordnen. Anstelle der Liebe von anderen und zu anderen Menschen, die der größte Herzenswunsch jedes unverdorbenen Menschen ist, redet ihr ihm ein, Beziehungen zwischen Menschen könnten nur auf Gewalt, auf Drohungen, auf Strafen beruhen, und ihr sagt ihm, Morde durch Gerichtsurteil und im Krieg würden nicht nur mit Erlaubnis, sondern auf Anordnung Gottes vollzogen. Anstelle des Bedürfnisses nach Vervollkommnung sagt ihr, dass die Rettung des Menschen im Glauben an die Erlösung liege und die Vervollkommnung aus eigener Kraft, ohne Gebete, Sakramente und den Glauben an die Erlösung die Sünde des Stolzes sei, und dass der Mensch zu seiner Rettung

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nicht seiner Vernunft, sondern den Geboten der Kirche glauben und das erfüllen solle, was sie vorschreibt. Es ist entsetzlich sich vorzustellen, welche Verdorbenheit der Begriffe und Gefühle eine solche Lehre in der Seele eines Kindes und eines ungebildeten Erwachsenen hinterlässt.

VI Wenn ich nur daran denke, was sich während meines sechzigjährigen bewussten Lebens vor meinen Augen in Russland getan hat und tut. In den Akademien und bei Bischöfen, gelehrten Mönchen und Missionaren machen spitzfindige Erörterungen über komplizierte theologische Fragen die Runde, es geht um die Vereinbarung der sittlichen und der dogmatischen Lehre, man streitet über die Entwicklung oder die Unbeweglichkeit des Dogmas und dergleichen mehr sowie über allerlei religiöse Details. Den Abermillionen der Massen hingegen wird eines gepredigt: der Glaube an die Ikonen der Gottesmutter von der Pforte6 und der Gottesmutter von Kazan’,7 an Reliquien und Teufel, an die rettende Kraft von Kerzen, Seelenmessen und Brotstückchen, die während des Abendmahls aus einem Kelch genommen werden usw., und das wird nicht nur gepredigt und praktiziert, vielmehr wird die Unverbrüchlichkeit dieses Glaubens im Volk besonders eifersüchtig vor jedem Angriff bewahrt. So braucht nur ein Bauer den Kirchweihtag nicht zu begehen, die wundertätige Ikone, die auf den Höfen herumgetragen wird, nicht zu sich einzuladen oder am Freitag vor dem Tag des hl. Il’ja die Arbeit nicht ruhen zu lassen8 – schon wird er denunziert, verfolgt, verbannt. Ganz zu schweigen von den Sektierern, die die Rituale nicht erfüllen: Sie werden dafür verurteilt und bestraft, dass sie bei ihren Versammlungen das Evangelium lesen. Mit dem 6 Die »Gottesmutter von der Pforte« oder »Jungfrau von Iviron« ist eine Marienikone aus dem Kloster Iviron auf dem Athos, die als wundertätig gilt und vom Evangelisten Lukas gemalt worden sein soll. Von ihr gibt es viele Kopien, die zum Teil auch als wundertätig gelten. So z.B. jene Iverskaja-Ikone, die bis zu ihrem Verschwinden während der Revolutionswirren in der Ivironkapelle des Auferstehungstors am Roten Platz aufbewahrt wurde. 7 Die wundertätige Ikone der Gottesmutter von Kazan’ (Kazanskaja bogomater’), die ebenfalls Lukas zugeschrieben wird und von der schon früh mehrere Kopien angefertigt wurden, gilt als eine der wichtigsten Ikonen der Russischen Orthodoxen Kirche. Das Original ist seit 1904 verschollen. 8 Am Freitag vor dem Tag des Hl. Il’ja (20. Juli), der zu den zwölf »Namens-Freitagen« des orthodoxen Kirchenjahres gehört, war es Bauern verboten, Feldarbeiten zu verrichten.

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Ergebnis, dass Dutzende von Millionen Menschen, nahezu allesamt Frauen aus dem Volk, nicht nur nicht wissen, sondern nicht einmal davon gehört haben, dass Christus existiert hat und wer er war. Es ist schwer, das zu glauben, indes ist es eine Tatsache, die jeder überprüfen kann. Hört, was die Bischöfe und die Mitglieder der Akademien in ihren Versammlungen sagen, lest ihre Zeitschriften, und ihr werdet denken, die russische Geistlichkeit predige einen wenn auch rückständigen, aber immerhin christlichen Glauben, in dem die evangelischen Wahrheiten immerhin vorkommen und dem Volk mitgeteilt werden; betrachtet die Tätigkeit der Geistlichkeit im Volke, und ihr werdet sehen, dass der reinste Götzendienst gepredigt und zunehmend umgesetzt wird: das Emporheben der Ikonen, die Wasserweihe, das Umhertragen der wundertätigen Ikonen durch die Häuser, die Reliquienverehrung, das Tragen der Kreuze usw.; jeder Versuch zum Verständnis des Christentums in seinem wahren Sinn hingegen wird zunehmend verfolgt. Ich habe es miterlebt, wie das arbeitende russische Volk die Züge des wahren Christentums, die ihm früher innewohnten und heute durch die Geistlichkeit eifrig ausgetrieben werden, weitgehend verloren hat. Im Volk waren früher christliche Legenden und Sprichwörter verbreitet (heute gibt es sie nur noch in der tiefsten Provinz), die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurden, und diese Legenden, wie diejenige von Christus, der als Bettler ging,9 von dem Engel, der an Gottes Barmherzigkeit zweifelte,10 oder dem Narren in Christo, der bei der Schenke tanzte,11 diese Sprichwörter wie »ohne Gott kommst du nicht bis zur Schwelle« (bez boga ne do poroga), »nicht in der Kraft ist Gott, sondern in der

9 Siehe etwa die Legende vom »Wandernden Jesus« in der Sammlung Russische Volkslegenden von Aleksandr Afanas’ev, die vom Hl. Synod kurz nach Erscheinen 1860 verboten wurde. Das Bild von Christus, der Russland in Bettlergestalt durchwandert, ist in Tjutˇcevs Gedicht Diese armen Siedlungen (1855) eingegangen, später auch in Dostoevskijs Puˇskin-Rede. 10 Siehe die Legende Der Engel in der Sammlung Russische Volkslegenden von Afanas’ev. Tolstoj hat eine Variante dieser Legende 1879 vom Bylinenerzähler Vasilij Sˇcˇ egolenok gehört (PSS 48: 207) und als Vorlage für seine Volkserzählung Wovon die Menschen leben (1881) benutzt. 11 Die »Narren in Christo« (jurodivye) als Charismatiker, die in der Freiheit des Hl. Geistes den weltlichen und z.T. auch kirchlichen Normen zuwiderhandeln, sind in Russland seit dem Mittelalter bekannt. Einige von ihnen wurden von der Russischen Orthodoxen Kirche heilig gesprochen, andere reihten sich unter die Altgläubigen und Sektierer ein. Tolstoj spielt hier möglicherweise auf die Geschichte vom jurodivyj an, der vor einer Schenke betet und die Kirche mit Steinen bewirft. Diese Geschichte ist mit der o.g. Legende vom Engel verwoben und findet sich auch in der volkstümlichen Vita des Vasilij Blaˇzennyj. Als Entlarver der Gesellschaft und der Kirche sah sich Tolstoj zeitweise selbst in der Rolle des jurodivyj.

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Wahrheit« (ne v sile bog, a v pravde),12 »leben bis zum Abend und bis in Ewigkeit« (ˇzit’ do veˇcera i do veka) und andere mehr bildeten die geistige Nahrung des Volkes. Außerdem gab es christliche Traditionen: mit dem Verbrecher oder dem Pilger Erbarmen zu zeigen, mit dem Bettler das Letzte zu teilen, den Gekränkten um Vergebung zu bitten. All das gerät heute in Vergessenheit, wird heute unterlassen. All das wird heute ersetzt durch Einstudieren des Katechismus, der Trinität Gottes, des Gebets für den Lehrer und den Zaren vor dem Unterricht usw. Ich habe es miterlebt, dass das Volk in religiöser Hinsicht immer primitiver wurde. Ein Teil, ein großer Teil – die Frauen – ist weiterhin so abergläubisch wie vor sechshundert Jahren, nur ohne den christlichen Geist, von dem das Leben früher durchdrungen war; der andere Teil kennt den Katechismus auswendig und besteht aus reinen Atheisten. Und all das wird von der Geistlichkeit vorsätzlich herbeigeführt. »So ist das eben bei euch in Russland«, werden die Europäer dazu sagen – die Katholiken und die Protestanten. Ich denke, das gleiche, wenn nicht Schlimmeres, geschieht im Katholizismus mit seinem Verbot, das Evangelium zu lesen, seinen Notre-Dames, und im Protestantismus mit seinem heiligen Müßiggang am Sabbat13 und seiner Bibliolatrie, d.h. seinem blinden Glauben an den Buchstaben der Bibel. Ich denke, in der einen oder anderen Form geschieht das Gleiche in der gesamten quasi-christlichen Welt. Zum Beweis dafür denke man nur an den seit Jahrhunderten andauernden Schwindel mit dem zum Tag der Auferstehung in Jerusalem entzündeten Feuer, den niemand von den Klerikern aufdeckt, sowie an den Glauben an die Erlösung, der von den letzten Formen des christlichen Protestantismus mit besonderer Energie gepredigt wird.

VII Aber nicht genug damit, dass die kirchliche Lehre schädlich ist durch ihre Unvernünftigkeit und Unsittlichkeit, sie ist besonders schädlich dadurch, dass die Menschen, die sich zu dieser Lehre bekennen, ohne jegliche sittliche Forderungen leben, die sie mäßigen könnten, und dennoch vollkommen überzeugt sind, ein echtes christliches Leben zu führen. 12 Dieses Sprichwort zierte das Titelblatt der Tolstoj-Ausgaben, die Vladimir Cˇertkov im Verlag Svobodnoe slovo um die Jahrhundertwende in England herausgab. 13 Es ist unklar, worauf Tolstoj hier anspielt – ob er an die protestantische Freikirche der Sieben-Tags-Adventisten denkt, die 1863 gegründet wurde, oder daran, dass Protestanten aufgrund des Schriftprinzips den Sabbat anstelle des Sonntags heiligen sollten.

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Die Menschen leben in wahnsinnigem Prunk, häufen ihren Reichtum aus der Arbeit der erniedrigten Armen an und schützen sich und ihren Reichtum durch Wachen, Gerichte und Hinrichtungen – und die Geistlichkeit befürwortet, heiligt und segnet ein solches Leben im Namen Christi und empfiehlt den Reichen, nur einen kleinen Teil ihrer Beute denen zukommen zu lassen, die sie fortwährend ausrauben. (Als es die Sklaverei noch gab, hat die Geistlichkeit diese nicht etwa für unvereinbar mit dem Christentum gehalten, sondern sie immer und überall gerechtfertigt.) Die Menschen versuchen mit Waffengewalt und Mord, ihre persönlichen und gesellschaftlichen eigennützigen Ziele zu erreichen, und die Geistlichkeit befürwortet und segnet im Namen Christi Kriegsvorbereitungen und Kriege, und oft befürwortet sie sie nicht nur, sondern fördert sie, indem sie findet, Kriege, d.h. Morde, stünden dem Christentum nicht entgegen. Die Menschen, die an diese Lehre glauben, werden durch sie nicht nur zu einem schlechten Leben verleitet, sie sind vielmehr vollkommen überzeugt, ihr Leben sei gut und sie müssten es nicht ändern. Aber auch damit nicht genug: Das Hauptübel dieser Lehre besteht darin, dass sie so kunstvoll mit den äußeren Formen des Christentums verflochten ist, dass die Menschen, wenn sie sich zu ihr bekennen, glauben, eure Lehre sei das eine, wahre Christentum und es gebe kein anderes. Nicht, dass ihr den Menschen die Quelle des lebendigen Wassers genommen hättet – wenn dem so wäre, könnten die Menschen sie immerhin finden –, sondern ihr habt sie mit eurer Lehre vergiftet, sodass die Menschen kein anderes Christentum annehmen können als das von euren Auslegungen vergiftete. Das Christentum, das ihr predigt, ist eine Impfung mit dem falschen Christentum, wie eine Pocken- oder Diphtherie-Impfung, die denjenigen, dem sie verabreicht wird, unfähig macht, das wahre Christentum anzunehmen. Menschen, die über viele Generationen hinweg ihr Leben auf Grundlagen errichtet haben, die dem wahren Christentum entgegenstehen, und vollkommen überzeugt sind, ein christliches Leben zu führen, können nicht mehr zum wahren Christentum zurückfinden.

VIII Das gilt für die Menschen, die sich zu eurer Lehre bekennen, daneben aber gibt es noch Menschen, die sich von ihr befreit haben, die sogenannten Ungläubigen. Diese Menschen haben – obgleich sie in den meisten Fällen ein sittlicheres

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Leben führen als diejenigen, die sich zur kirchlichen Lehre bekennen – infolge des seelischen Schadens, der ihnen wie allen unglücklichen Menschen christlicher Gesellschaften in der Kindheit durch den Betrug der Kirche zugefügt wurde, in ihrem Bewusstsein die kirchliche Lehre mit der christlichen in einem solchen Maße vereint, dass sie das eine vom anderen nicht trennen können und zusammen mit der falschen kirchlichen Lehre auch die darin verborgene wahre christliche Lehre über Bord werfen. Diese Menschen, die den Betrug, unter dem sie so viel gelitten haben, verabscheuen, predigen nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern auch die Schädlichkeit des Christentums und jeder Religion. Die Religion ist nach ihren Begriffen das Überbleibsel eines Aberglaubens, der den Menschen einst nützlich war, ihnen heute aber nur schadet. Daher ist es gemäß ihrer Lehre umso besser für die Menschen, je schneller und vollständiger sie sich von jedem religiösen Bewusstsein befreien. Da sie die Befreiung von jeder Religion predigen, werden diese Menschen, die hochgebildet und gelehrt sind und höchste Autorität bei denjenigen genießen, die die Wahrheit suchen, zu den schädlichsten Predigern sittlicher Haltlosigkeit. Indem sie den Menschen weismachen, die wichtigste geistige Eigenschaft vernünftiger Wesen – die Festlegung ihres Verhältnisses zum Ursprung von allem –, aus der allein sich feste sittliche Gesetze herleiten lassen, sei ein überkommener Zustand, legen die Leugner der Religion unwillkürlich der menschlichen Tätigkeit ausschließlich Selbstsucht und das sich daraus ergebende fleischliche Begehren zugrunde. Unter diesen Menschen entstand auch jene früher nur zaghaft ausgeprägte, wenn auch in der Weltanschauung der Materialisten immer latent vorhandene Lehre des Egoismus, des Bösen und des Hasses, die in der letzten Zeit so deutlich und bewusst in der Lehre Nietzsches zum Ausdruck kommt, sich schnell verbreitet und die primitivsten tierischen und grausamen Instinkte in den Menschen weckt. Einerseits also finden sogenannte Gläubige die volle Billigung ihres schlechten Lebens in eurer Lehre, welche dem Christentum zutiefst zuwiderlaufende Handlungen und Zustände als vereinbar mit demselben anerkennt; andererseits verwischen ungläubige Menschen, die infolge eurer Lehre zur Ablehnung jeder Religion kommen, alle Unterschiede zwischen Gut und Böse, sie predigen die Lehre von der Ungleichheit der Menschen, von Egoismus, Kampf und Unterdrückung der Schwachen durch die Starken als die höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit.

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IX Ihr, und niemand sonst als ihr, verursacht mit eurer Lehre, die ihr den Menschen gewaltsam einflößt, das entsetzliche Böse, unter dem sie so grausam leiden. Das Furchtbarste dabei ist, dass ihr, die ihr dieses Böse verursacht, nicht einmal an diese Lehre glaubt, die ihr predigt, und nicht nur, dass ihr nicht an alle die Grundsätze glaubt, aus denen sie sich zusammensetzt – häufig glaubt ihr nicht einmal an einen einzigen davon. Ich weiß, viele von euch denken, wenn sie das berühmte credo quia absurdum14 zitieren, dass sie dennoch all das glauben, was sie predigen. Aber das, was ihr zu glauben behauptet, dass Gott eine Trinität ist oder dass sich die Himmel auftaten und Gottes Stimme von dort erklang oder dass Christus in den Himmel aufgefahren ist und vom Himmel herabsteigen wird zu richten alle Menschen, die mit ihren Leibern wieder auferstanden sind, beweist keineswegs, dass ihr daran glauben würdet, dass das, was ihr sagt, war oder sein wird. Ihr glaubt sagen zu müssen, dass ihr daran glaubt, aber ihr glaubt nicht, dass das, was ihr sagt, war. Ihr glaubt es deshalb nicht, weil die Überzeugung, dass Gott einer und drei ist, dass Christus in den Himmel aufgefahren ist und von dort wiederkommen und die Auferstandenen richten wird, für euch keinerlei Sinn enthält. Man kann Worte aussprechen, die keinen Sinn haben, aber man kann nicht an etwas glauben, was keinen Sinn hat. Man kann daran glauben, dass die Seelen der Verstorbenen in andere Lebensformen, in Tiere übergehen oder daran, dass die Bekämpfung der Leidenschaften oder die Liebe die Bestimmung des Menschen seien, man kann auch einfach daran glauben, dass Gott nicht befohlen hat, Menschen zu töten, oder selbst daran, dass man diese oder jene Speise essen soll, und vieles andere mehr, was in sich nicht widersprüchlich ist; doch man kann nicht daran glauben, dass Gott gleichzeitig einer und drei ist, dass sich die Himmel auftaten, die es für uns nicht mehr gibt usw. Die Menschen von früher, die diese Dogmen aufgestellt haben, konnten daran glauben, ihr aber könnt das nicht mehr. Wenn ihr sagt, dass ihr daran glaubt, dann sagt ihr das nur deshalb, weil ihr das Wort »Glaube« in einer bestimmten Bedeutung verwendet, ihm aber eine andere Bedeutung zuschreibt. Die eine Bedeutung des Wortes »Glaube« ist das vom Menschen festgelegte Verhältnis zu Gott und zur Welt, das den Sinn seines ganzen Le14 »Ich glaube, weil es widervernünftig ist« (lat.) – ein auf eine Tertullian-Stelle Bezug nehmendes Sprichwort, das die Ohnmacht der menschlichen Vernunft gegenüber der nur im Glauben zugänglichen Offenbarung zum Ausdruck bringt. Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Tolstoj siehe den Beitrag von Christian Münch in diesem Band.

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bens bestimmt und alle seine bewussten Handlungen lenkt. Die andere Bedeutung des Wortes »Glaube« aber ist das Vertrauen in das, was von einer bestimmten Person oder bestimmten Personen vermittelt wird. In der ersten Bedeutung wird der Gegenstand des Glaubens von der Vernunft überprüft und angenommen, ungeachtet dessen, dass die Bestimmung des Verhältnisses vom Menschen zu Gott und zur Welt meist so übernommen wird, wie sie von den Menschen, die früher gelebt haben, festgelegt wurde. In der zweiten Bedeutung hingegen wird der Gegenstand des Glaubens nicht nur unabhängig von der Vernunft angenommen, sondern unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass das Gesagte nicht durch die Vernunft überprüft wird. In ebendieser doppelten Bedeutung des Wortes »Glaube« gründet jenes Missverständnis, aufgrund dessen die Menschen erklären, an Grundsätze zu glauben, die keinen Sinn haben oder einen inneren Widerspruch enthalten. Von daher beweist die Tatsache, dass ihr euren Lehrern blind vertraut, keineswegs, dass ihr an das glaubt, was keinen Sinn und daher weder für eure Phantasie noch für eure Vernunft irgendeine Bedeutung hat und also nicht Gegenstand des Glaubens sein kann. Der bekannte Prediger Père Didon erklärt in der Vorrede zu seinem Vie de Jésus,15 er glaube nicht irgendwie allegorisch, sondern ganz wörtlich, ohne Auslegungen, dass Christus nach der Auferstehung in den Himmel aufgefahren sei und zur Rechten des Vaters sitze. Ein mir bekannter ungebildeter Bauer aus Samara hat hingegen, wie mir sein Beichtvater erzählte, auf die Frage, ob er an Gott glaube, ohne Umschweife entschieden geantwortet: Ich bekenne, nein. Seinen Unglauben an Gott erklärte der Bauer damit, dass er nicht so leben würde, wie er lebt, wenn er an Gott glauben würde: Würdest du etwa fluchen, Bettlern nichts geben, neidisch sein, zu viel essen, dich betrinken, würdest du das alles tun, wenn du an Gott glauben würdest? Père Didon versichert, er glaube an Gott und die Himmelfahrt Christi, der Bauer aus Samara hingegen sagt, er glaube nicht an Gott, weil er gegen seine Anordnungen verstößt. Offenbar weiß Père Didon nicht einmal, was Glaube ist, und er sagt nur, dass er glaubt; der Bauer aus Samara hingegen weiß, was Glaube ist, und obwohl er erklärt, nicht an Gott zu glauben, glaubt er wahrhaft an ihn in ebenjenem Sinn, der den wahren Glauben ausmacht.

15 Tolstoj zitiert das zweibändige Werk Jésus-Christ (Paris 1891) des Dominikanermönchs Henri Didon (1840–1900), das 1892 auch auf Russisch erschien.

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X Doch ich weiß, dass Argumente, die an den Verstand appellieren, nicht überzeugen, nur das Gefühl überzeugt, und daher lasse ich die Argumente beiseite und appelliere an euch, wer immer ihr seid: Päpste, Bischöfe, Erzbischöfe, Priester und andere, an euer Gefühl, an euer Gewissen. Ihr wisst sehr wohl, dass das, was ihr über die Erschaffung der Welt lehrt, über die Gottinspiriertheit der Bibel und vieles andere, die Unwahrheit ist, wie könnt ihr es also wagen, dies kleine Kinder und ungebildete Erwachsene zu lehren, die von euch wahre Aufklärung erwarten? Legt die Hand aufs Herz und fragt euch, ob ihr daran glaubt, was ihr predigt. Wenn ihr euch diese Frage wirklich stellt, nicht vor den Menschen, sondern vor Gott, eingedenk der Stunde eures Todes, dann könnt ihr nicht anders als euch zu antworten, dass ihr nicht glaubt. Ihr glaubt nicht an die Gottinspiriertheit jener ganzen Schrift, die ihr heilig nennt, ihr glaubt nicht an sämtliche Schrecken und Wunder des Alten Testaments, ihr glaubt nicht an die Hölle, ihr glaubt nicht an die unbefleckte Empfängnis, an die Auferstehung, an die Himmelfahrt Christi, ihr glaubt nicht an die Auferstehung der Toten, an die Trinität Gottes, ihr glaubt nicht nur nicht an alle Glaubensartikel jenes Bekenntnisses, das das Wesen eures Glaubens ausmacht, sondern häufig glaubt ihr an keinen einzigen davon. Unglaube, und sei es auch nur der Unglaube an eines der Dogmen, beinhaltet auch den Unglauben an die Unfehlbarkeit der Kirche, die dieses Dogma, an das ihr nicht glaubt, aufgestellt hat. Und wenn ihr nicht an die Kirche glaubt, dann glaubt ihr an keines der von ihr aufgestellten Dogmen. Wenn ihr aber nicht glaubt, wenn ihr auch nur zweifelt, dann denkt daran, was ihr tut, wenn ihr das, was ihr nicht glaubt, als göttliche, unzweifelhafte Wahrheit predigt, und zwar mit jenen indirekten, ausschließlichen Methoden, mit denen ihr sie predigt. Und sagt nicht, dass ihr keine Verantwortung dafür übernehmen könnt, dass den Menschen die innige Einheit mit einer großen oder kleinen Zahl eurer Glaubensgenossen genommen wird. Das ist nicht zutreffend. Wenn ihr ihnen euren ausschließlichen Glauben einflößt, tut ihr genau das, was ihr nicht tun wollt: ihr nehmt den Menschen die Einheit mit der gesamten Menschheit, ihr sperrt sie in den engen Rahmen eurer Konfession und bringt sie damit unwillkürlich und unausweichlich in eine wenn nicht feindliche, so in jedem Fall entfremdete Lage gegenüber den anderen Menschen. Ich weiß, dass ihr diese entsetzliche Tat nicht bewusst begeht; ich weiß, dass ihr selbst zum großen Teil verwirrt, betrogen, hypnotisiert und häufig Bedingungen ausgesetzt seid, unter denen ihr eure gesamte frühere, manchmal jahrzehntelange Tätigkeit verurteilen müsstet, wenn ihr die Wahrheit anerkennen würdet; ich weiß, wie schwer es gerade für euch ist, mit eurer Er-

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ziehung, besonders mit der euch allen gemeinsamen Überzeugung, dass ihr die unfehlbaren Nachfolger Christi Gottes seid, zur nüchternen Realität überzugehen und euch als verirrte Sünder anzuerkennen, die eines der abscheulichsten Dinge tun, die ein Mensch nur tun kann. Ich kenne die ganze Schwierigkeit eurer Lage; doch denke ich an die Worte des von euch als göttlich anerkannten Evangeliums, dass Gott ein reuiger Sünder lieber ist als hundert Gerechte, dann meine ich, dass es für jeden von euch, welche Stellung er auch innehat, leichter ist, zu bereuen und sich nicht mehr an der Tat, die ihr begeht, zu beteiligen, als sie weiterhin zu begehen, ohne daran zu glauben. Wer auch immer ihr seid: Päpste, Kardinäle, Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe, Superintendenten, Priester, Pastoren – denkt darüber nach. Wenn ihr zu den geistlichen Personen gehört, von denen es heutzutage unglücklicherweise sehr viele und immer mehr gibt, die die ganze Rückständigkeit, Unvernünftigkeit und Unsittlichkeit der kirchlichen Lehre deutlich erkennen und diese Lehre, obwohl sie nicht daran glauben, weiterhin für sich persönlich und für ihr Priester- und Bischofsgehalt predigen, dann tröstet euch nicht mit dem Gedanken, eure Tätigkeit rechtfertige sich damit, dass sie der Masse oder dem Volk, die das, was ihr versteht, noch nicht verstehen, von Nutzen sein kann. Die Lüge kann niemandem von Nutzen sein. Das, was ihr wisst, dass eine Lüge eine Lüge ist, würde der Mann aus dem Volk, dem ihr sie eingeflößt habt und einflößt, genauso wissen – und er wäre frei von ihr. Nicht genug damit, dass er ohne euch frei von der Lüge wäre, er würde die ihm von Christus offenbarte Wahrheit finden, die ihr mit eurer Lehre vor ihm verbergt, indem ihr euch zwischen ihn und Gott stellt. Das, was ihr tut, tut ihr nicht zum Nutzen der Menschen, sondern nur um eurer eigenen ehrgeizigen, eigennützigen Ziele willen. Wie großartig die Paläste, in denen ihr wohnt, die Kirchen, in denen ihr Messen lest und predigt, die Gewänder, mit denen ihr euch schmückt, auch sein mögen – eure Tat wird dadurch nicht besser. Was großartig ist vor den Menschen ist ein Gräuel vor Gott. Das gilt für diejenigen, die nicht glauben und weiterhin die Lüge predigen und die Menschen darin unterstützen. Doch es gibt unter euch solche, und deren Zahl wird ebenfalls immer größer, die die Haltlosigkeit der Grundsätze des kirchlichen Glaubens in der heutigen Zeit sehen, sich aber nicht entschließen können, ihn kritisch zu beurteilen. Dieser Glaube wurde ihnen in der Kindheit so nachdrücklich eingeflößt und in ihrer Umgebung durch den Einfluss der Masse so nachdrücklich unterstützt, dass sie nicht einmal versuchen, sich davon zu befreien, sondern alle Kräfte ihres Verstands und ihrer Bildung darauf verwenden, mit spitzfindigen Allegorien sowie falschen, verwirrenden Erörterungen die ganze

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Ungereimtheit und Widersprüchlichkeit der Lehre, zu der sie sich bekennen, zu rechtfertigen. Wenn ihr zu dieser zwar weniger verbrecherischen, dafür aber umso schädlicheren Kategorie geistlicher Personen gehört, denkt nicht, dass eure Erörterungen euer Gewissen beruhigen und euch gegenüber Gott rechtfertigen würden. In der Tiefe eurer Seele müsst ihr wissen, dass nichts von dem, was ihr euch ausdenkt oder erfindet, dazu führen kann, die unsittlichen und im Widerspruch zum Wissen und zum Verständnis der Menschen stehenden Erzählungen der heiligen Geschichte und die Grundsätze des Nizänischen Glaubensbekenntnisses sittlich, vernünftig, klar und übereinstimmend mit dem heutigen Wissen und dem gesunden Menschenverstand werden zu lassen. Ihr wisst, dass ihr mit euren Erörterungen niemanden von der Wahrheit eures Glaubens überzeugen könnt, dass jeder unvoreingenommene, gebildete Erwachsene, der in der Kindheit nicht in eurem Glauben erzogen wurde, euch nicht nur nicht glauben, sondern entweder auslachen oder für geisteskrank halten wird, wenn er eure Erzählungen vom Ursprung der Welt und die Geschichten über die ersten Menschen, über Adams Sündenfall oder die Erlösung der Menschen durch den Tod von Gottes Sohn hört. Das Einzige, was ihr mit euren pseudogelehrten Erörterungen tun könnt, ist, dass ihr unter Ausnutzung eurer Autorität noch eine Zeitlang diejenigen unter dem hypnotischen Zwang eines falschen Glaubens haltet, die aus dessen Einflüsterung erwachen und sich anschicken, sich daraus zu befreien. Das tut ihr. Und das ist eine sehr schlechte Tat. Anstatt eure geistigen Kräfte dazu zu benutzen, euch selbst und die anderen Menschen von diesem Betrug, dem ihr alle gemeinsam erliegt und unter dem ihr ebenso leidet wie sie, zu befreien, verwendet ihr diese Kräfte darauf, euch selbst und die anderen noch mehr zu verwirren. Ihr, die geistlichen Personen dieser Kategorie, solltet nicht euch selbst und andere mit unklaren, komplizierten Erörterungen verwirren, solltet nicht versuchen zu zeigen, dass die Wahrheit das ist, was ihr dafür haltet, sondern ihr müsst im Gegenteil euch selbst überwinden und versuchen, die ganze euch zugängliche Wahrheit zu erkennen und auf der Grundlage dieser Wahrheit das überprüfen, was ihr nach euren Glaubensvorstellungen für die Wahrheit hieltet. Wenn ihr diese Aufgabe aufrichtig angeht, werdet ihr sofort aus der Hypnose erwachen und den entsetzlichen Irrtum, dem ihr bisher verfallen wart, deutlich erkennen. Das gilt also für die zweite, in der heutigen Zeit sehr große Kategorie philosophierender, äußerst schädlicher geistlicher Personen. Es gibt aber noch die dritte und größte Kategorie der einfältigen geistli-

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chen Personen, denen noch niemals Zweifel gekommen sind an der Wahrheit jenes Glaubens, den sie bekennen und predigen. Diese Menschen haben entweder niemals über die Bedeutung und den Sinn jener Grundsätze nachgedacht, die ihnen von Kindheit an als die heilige göttliche Wahrheit vermittelt wurden, oder sie haben darüber nachgedacht, sind aber so wenig gewohnt, selbständig zu denken, dass sie die darin enthaltenen Ungereimtheiten und Widersprüche nicht erkennen – oder aber sie sind, obwohl sie sie erkennen, von der Autorität der kirchlichen Überlieferung dermaßen unterdrückt, dass sie nicht wagen, darüber anders zu denken als so, wie die früheren und heutigen Kleriker glaubten. Diese Menschen geben sich für gewöhnlich mit dem Gedanken zufrieden, dass die kirchliche Lehre wahrscheinlich die ihnen nur aufgrund ihrer ungenügenden theologischen Bildung als solche erscheinenden Ungereimtheiten hinreichend zu erklären vermöge. Wenn ihr zu dieser Kategorie Menschen gehört, die aufrichtig und naiv glauben oder die noch nicht glauben, aber bereit sind zu glauben und keine Hindernisse dafür sehen – wer auch immer ihr seid: bereits praktizierende geistliche Personen oder junge Menschen, die sich auf den geistlichen Stand vorbereiten –, haltet eine Zeitlang inne in eurer Tätigkeit oder in eurer Vorbereitung auf diese Tätigkeit und überlegt, was ihr tut oder zu tun gedenkt. Ihr predigt den Menschen eine Lehre, oder ihr gedenkt es zu tun, die den Sinn, das Ziel ihres Lebens bestimmt, die ihnen Anhaltspunkte für Gut und Böse sowie eine Richtung für ihre gesamte Tätigkeit gibt. Ihr predigt diese Lehre nicht wie eine beliebige, menschliche Lehre, die unvollkommen und diskutabel ist, sondern wie eine von Gott selbst offenbarte und daher nicht diskutable Lehre; ihr predigt sie nicht in einem Buch oder einem einfachen Gespräch, sondern entweder Kindern in einem Alter, in dem sie die Bedeutung all dessen, was ihnen vermittelt wird, noch nicht erfassen können und sich zudem alles, was man ihnen vermittelt, unauslöschlich im Bewusstsein einprägt, oder ungebildeten Erwachsenen, die keine Möglichkeit haben, das zu beurteilen, was ihr sie lehrt. Darin besteht eure Tätigkeit, auf diese Tätigkeit bereitet ihr euch vor. Aber was ist, wenn das, was ihr predigt oder zu predigen gedenkt, die Unwahrheit ist? Ist es etwa nicht möglich oder nicht nötig, darüber nachzudenken? Aber wenn ihr darüber nachdenkt und diese Lehre mit anderen Lehren vergleicht, die sich ebenfalls für die eine wahre Lehre halten, wenn ihr sie mit eurem Wissen vergleicht, mit dem gesunden Menschenverstand, kurzum – ohne blindes Vertrauen, und sie vielmehr frei diskutiert, könnt ihr nicht umhin zu sehen, dass das, was ihr als heilige Wahrheit ausgebt, keineswegs die heilige Wahrheit ist, sondern bloß eine rückständige, abergläubische Lehre, die ebenso wie andere, ähnliche Lehren von den Menschen keineswegs zum Heil

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ihrer Brüder unterstützt und gepredigt wird, sondern für irgendwelche anderen Ziele. Und sobald ihr das versteht, werden all diejenigen von euch, die das Leben ernst nehmen und auf die Stimme ihres Gewissens lauschen, nicht mehr imstande sein, weiterhin diese Lehre zu predigen oder sich darauf vorzubereiten.

XI »Aber was wird mit den Menschen, wenn sie nicht mehr an die kirchliche Lehre glauben? Wäre das nicht noch schlimmer?«, höre ich einen üblichen Einwand. »Was wird, wenn die Menschen der christlichen Welt nicht mehr an die kirchliche Lehre glauben?« Dann werden den Menschen der christlichen Welt nicht nur die jüdischen Legenden zugänglich sein, sondern die religiöse Weisheit der ganzen Welt. Dann werden die Menschen nicht mehr mit irrigen Vorstellungen und Gefühlen aufwachsen und sich entfalten. Dann werden die Menschen, die die auf Vertrauen hin angenommene Lehre verworfen haben, ein vernünftiges, ihrem Wissen entsprechendes Verhältnis zu Gott aufbauen und die sich aus diesem Verhältnis ergebenden sittlichen Verpflichtungen anerkennen. »Wäre das nicht schlimmer für die Menschen«. Wenn die kirchliche Lehre nicht die Wahrheit ist, wie kann es schlimmer für die Menschen sein, wenn man aufhört, ihnen eine Lüge als Wahrheit zu predigen, zudem mit diesen indirekten Methoden, die dafür angewandt werden? »Aber die Menschen des Volkes sind primitiv und ungebildet, und was wir, die gebildeten Menschen, nicht brauchen«, heißt es weiter, »ist vielleicht für das primitive Volk von Nutzen oder sogar notwendig.« Wenn alle Menschen gleich sind, dann gehen auch alle auf ein und demselben Weg von der Finsternis zum Licht, vom Unwissen zum Wissen, von der Lüge zur Wahrheit. Ihr seid diesen Weg gegangen und zum Bewusstsein der Unwahrheit jenes Glaubens gelangt, in dem ihr erzogen wurdet. Mit welchem Recht wollt ihr andere Menschen in derselben Bewegung aufhalten? Ihr sagt, dass diese Nahrung zwar für euch nicht mehr vonnöten ist, wohl aber für die Massen. Kein einziger vernünftiger Mensch übernimmt es, die leibliche Nahrung anderer Menschen zu bestimmen, wie soll man also entscheiden, und wer kann entscheiden, welche geistige Nahrung für die Massen, für das Volk vonnöten ist? Dass ihr im Volk ein Bedürfnis für diese Lehre seht, beweist keineswegs, dass man ihm entsprechen muss. Es gibt ein Bedürfnis nach Wein oder Tabak und andere, schlimmere Bedürfnisse. Das Wichtigste aber ist, dass ihr

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selbst mit komplizierten Hypnoseverfahren dieses Bedürfnis erzeugt, durch dessen Existenz ihr eure Tätigkeit zu rechtfertigen versucht. Sobald ihr aufhört, dieses Bedürfnis zu erzeugen, wird es verschwinden, weil ihr genauso wenig wie alle anderen Menschen ein Bedürfnis nach Lüge haben könnt, vielmehr sind alle Menschen stets von der Finsternis zum Licht gegangen und gehen dorthin, und ihr, die ihr näher am Licht steht, müsst euch bemühen, es den anderen zugänglich zu machen und es nicht abzuschirmen. »Aber wäre es nicht schlimmer, wenn wir, die gebildeten, sittlichen Menschen, die das Gute für das Volk wollen, aufgrund der Zweifel in unserer Seele unsere Tätigkeit aufgeben würden und unser Platz von primitiven, unsittlichen Menschen eingenommen würde, denen das Heil des Volkes gleichgültig ist?«, höre ich den letzten Einwand. Gewiss, wenn die besten Menschen aus dem geistlichen Stand austreten, führt dies dazu, dass die kirchliche Tätigkeit in primitiven, unsittlichen Händen liegt, sich zunehmend auflöst und dabei ihre Verlogenheit und Schädlichkeit entlarvt. Doch davon wird es nicht schlimmer, denn die Auflösung der kirchlichen Tätigkeit, die sich schon jetzt vollzieht, ist ein Mittel zur Befreiung des Volkes von jenem Betrug, dem es erlegen ist. Je schneller sich diese Befreiung durch den Austritt aufgeklärter, guter Menschen aus dem geistlichen Stand vollzieht, desto besser. Und je mehr aufgeklärte, gute Menschen aus dem geistlichen Stand austreten, desto besser. Von welcher Seite ihr eure Tätigkeit auch betrachtet, diese Tätigkeit ist immer schädlich, und daher können alle diejenigen von euch, die Gott fürchten und ihr Gewissen nicht unterdrücken, nichts anderes tun, als alle ihre Kräfte darauf zu verwenden, sich aus der falschen Lage, in der sie sich befinden, zu befreien. Ich weiß, dass viele von euch gebunden sind durch Familien oder abhängig sind von Eltern, die von euch verlangen, eure einmal begonnene Tätigkeit fortzusetzen; ich weiß, wie schwierig es ist, auf eine ehrenvolle Stellung zu verzichten, auf Wohlstand oder auch nur auf die Versorgung für sich selbst und die Familie, damit man das gewohnte Leben weiterführen kann, ich weiß, wie schmerzhaft es ist, sich gegen liebende Angehörige zu stellen. Doch alles ist besser, als etwas zu tun, was für die eigene Seele verderblich und für die Menschen schädlich ist. Je eher und entschlossener ihr eure Schuld bekennt und eure Tätigkeit beendet, desto besser nicht nur für die Menschen, sondern auch für euch selbst. Das ist es, was ich, der ich mich jetzt am Rand des Grabes befinde und die Hauptursache der Nöte der Menschen klar sehe, euch sagen wollte, und zwar nicht, um euch bloßzustellen und zu verurteilen (ich weiß, wie unmerklich ihr in diese Versuchung verstrickt wurdet, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid), sondern um beizutragen zur Befreiung der Menschen von dem

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entsetzlichen Bösen, das die Verkündigung eurer Lehre, die die Wahrheit verdeckt, verursacht, und um euch zugleich auch zu helfen, aus dieser Hypnose zu erwachen, in der ihr euch befindet, häufig ohne den ganzen verbrecherischen Charakter eurer Tätigkeit zu verstehen. Möge Gott euch dabei helfen, der eure Herzen sieht.

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Drei Briefe an V.K. Zavolokin (1900/01)

Vasilij Zavolokin (geb. 1862) war ein Bauer aus dem Gouvernement Jaroslavl’, der sich im Jahr 1900 unter dem Eindruck der Lektüre der Auferstehung, der Kreutzersonate und der Kurzen Darlegung des Evangeliums schriftlich an Tolstoj gewandt hatte mit der Frage, wie er sich von der »Lüge lossagen« und zum wahren Christentum finden könne. Tolstoj antworte Zavolokin in drei Briefen in den Jahren 1900–1901. Die Briefe an Zavolokin wurden in gekürzter Form und ohne Nennung des Adressaten 1901 in England von Cˇertkov veröffentlicht (L.N. Tolstoj, O razume, vere i molitve. Tri pis’ma, Christchurch 1901). Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 72: 527–529; 73: 5–15).

Moskau, 17. Dezember 1900 Michail Dmitrieviˇc,1 Ihren Brief erhielt ich vor ungefähr einem Monat, aber ich hatte bis jetzt nicht die Muße, ihn zu beantworten. Sie fragen, worin mein christliches Glaubensbekenntnis besteht. Sie haben die Kurze Darlegung des Evangeliums gelesen und wissen daher, wie ich die Lehre Christi verstehe. Wenn Sie aber wissen möchten, worin ich den eigentlichen Sinn der Lehre sehe, so liegt meines Erachtens der eigentliche Sinn der Lehre Christi, die ich allen Menschen weitergeben möchte und von der ich mir wünschen würde, dass alle Kinder nach ihr erzogen würden, darin, dass der Mensch nicht nach seinem eigenen Willen in die Welt kam und daher auch nicht nach seinem eigenen Willen leben sollte, sondern nach dem Willen Desjenigen, Der ihn in die Welt gesandt hat. Damit aber der Mensch weiß, was derjenige, der ihn in die Welt gesandt hat, von ihm will, hat dieser ihm die Vernunft eingegeben, mit deren Hilfe der Mensch immer, wenn er es wirklich will, den Willen Gottes, d.h. das, was derjenige, der ihn in die Welt gesandt hat, von ihm will, wissen kann. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten unserer Zeit sagen immer, man solle nicht der Vernunft glauben, weil sie einen betrüge, sondern man solle ihnen glauben, sie würden nicht betrügen. Doch sie sagen die Unwahrheit. Wenn wir den Menschen glauben und, wie es im Evangelium heißt, den Aufsätzen der Menschen, dann kriechen wir alle in verschiedene Richtungen auseinander wie blinde Welpen, und hassen einander, wie es auch heute geschieht: der Christ und Kleriker hasst den Mo1 Tolstoj hat den Brief irrtümlich an Michail Serebrennikov in Niˇznij Novgorod adressiert, dessen Anschrift Zavolokin Tolstoj als Korrespondenzadresse angegeben hatte.

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hammedaner, der Mohammedaner hasst den Christen, und die Christen selbst hassen sich gegenseitig: der Orthodoxe den Katholiken und den Altgläubigen, der Altgläubige hasst den Orthodoxen und so fort. Wenn wir uns hingegen an das halten, was die von Gott selbst eingegebene Vernunft sagt, vereinen wir uns alle, denn die Vernunft ist bei allen dieselbe, nur die Vernunft vereint die Menschen und verhindert nicht, dass die den Menschen wesenhafte Liebe zueinander zum Ausdruck kommt. Die Vernunft verbindet nicht nur die Menschen, die zur gleichen Zeit leben, sie verbindet uns auch mit den Menschen, die tausend Jahre vor uns gelebt haben und mit denjenigen, die nach uns leben werden. So verwenden wir alles das, was die Vernunft von Jesaja und Christus, von Buddha und Sokrates, von Konfuzius und all denjenigen Menschen hervorgebracht hat, die vor uns gelebt und an die Vernunft geglaubt und ihr gedient haben. Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du willst, dass man sich dir gegenüber verhalte, übe keine Rache an Menschen, die dir Böses getan haben, sondern vergelte Böses mit Gutem, sei enthaltsam, weise und keusch, töte keinen Menschen, ja zürne auch niemandem, halte Frieden mit allen und vieles mehr, all das sind Produkte der Vernunft, und all das wurde gleichermaßen von Buddhisten und Konfuzianern und Christen, von Taoisten und den Weisen der Griechen und Ägypter, von allen guten Menschen unserer Zeit gepredigt, und alle sind darin einer Meinung. Und daher, ich wiederhole es, besteht der eigentliche Sinn der christlichen Lehre meiner Meinung nach darin, was im Evangelium gezeigt wird – im Gleichnis von den Weinbauern etwa, denen ein Garten zur Nutzung überlassen war, für den sie dem Besitzer zahlen mussten, während sie meinten, der Garten sei ihr Eigentum, oder im Gleichnis von den Talenten –, darin, dass die Menschen den Willen Desjenigen erfüllen sollen, Der sie ins Leben gesandt hat, dieser Wille aber besteht darin, dass die Menschen – wie es an einer anderen Stelle heißt – vollkommen sein sollen wie ihr Himmlischer Vater, sich also dieser höchsten Vollkommenheit so weit wie möglich annähern sollen. Dass nur darin Gottes Wille besteht, zeigt uns auch die Vernunft, und das so deutlich, dass es darüber keinerlei Streit und Zweifel geben kann. Jeder, der darüber nachgedacht hat, erkennt zwangsläufig, dass der Mensch in allen Dingen des Lebens auf Hindernisse treffen kann und trifft; nur in einem gibt es keine Hindernisse für den Menschen, darin, sich zu vervollkommnen, seine Seele vom Bösen zu reinigen und allem Lebendigen Gutes zu tun. Auch der Tod, der jede weltliche Tat aufhebt, zerstört, ihrer Bedeutung beraubt, hebt diese Tat weder auf noch zerstört er sie oder beraubt sie ihrer Bedeutung, denn der Mensch, der den Willen Desjenigen erfüllt, Der ihn gesandt hat, erfüllt ihn in aller Ruhe, solange er die Kraft hat ihn zu erfüllen, im Wissen darum, dass die von ihm vollbrachte Tat notwendig für den Herrn war und der Tod nur ein Wechsel in seiner Aufgabe ist.

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So verstehe ich die Lehre Christi, und ich würde mir wünschen, dass die Menschen sie so verstehen und ihre Kinder so aufziehen würden: dass sie nicht aufs Wort glauben, was man ihnen sagt, sondern dass sie mit ihrer Vernunft alles prüfen, was man ihnen über Gott und das Leben sagt, dass sie nicht deshalb glauben, weil man ihnen erklärt, der Prophet oder Christus habe es gesagt, sondern deshalb, weil es mit ihrer Vernunft übereinstimmt. Die Vernunft ist älter und glaubwürdiger als alle Schriften und Aufsätze: sie war schon, als es noch keine Aufsätze und Schriften gab, und sie ist jedem von uns unmittelbar von Gott gegeben. Die Worte des Evangeliums, dass alle Sünden vergeben werden, nur nicht die Lästerung wider den Heiligen Geist,2 beziehen sich meiner Meinung nach direkt auf die Vernunft. Tatsächlich, wenn man nicht der Vernunft glaubt, die uns von Gott gegeben wurde, wem soll man dann glauben? Etwa den Menschen, die uns Dinge glauben machen wollen, die nicht im Einklang mit der Vernunft stehen, die uns von Gott gegeben wurde? Sie fragen nach meinen Werken. Alle, die Sie nennen, kann man aus dem Ausland bestellen (ich habe keine Freiexemplare), sie kosten nicht viel, werden als Brief geschickt und kommen mitunter, meistens, an. Ihren Fragen nach zu urteilen glaube ich, dass das Interessanteste für Sie die Christliche Lehre3 wäre, die ich als letztes geschrieben habe. Die Adressen der Personen, bei denen man sie beziehen kann, lauten wie folgt: 1) England, Angleterre, Essex, Maldon. V. Tchertkoff (Vladimir Grigor’eviˇc Cˇertkov). 2) Schweiz, Suisse, Genève, Onex. P. Birukoff (Pavel Ivanoviˇc Birjukov).4 Lev Tolstoj

Moskau 14. Januar 1901 Lieber Bruder, Sie fragen, was kann einem Menschen, der wie wir alle schwach, verderbt und lasterhaft und auf allen Seiten von Versuchungen umgeben ist, was kann einem solchen Menschen die Kraft geben, ein christliches Leben zu führen? Anstatt Ihre Frage zu beantworten und bevor ich sie beantworte, frage ich Sie, was eigentlich diese Frage bedeutet? Wir sind diese Frage so gewöhnt, dass sie uns vollkommen natürlich und verständlich erscheint, indes ist die Frage nicht nur unnatürlich und unverständlich, sondern überaus erstaunlich und seltsam für jeden vernünftigen Menschen, der nicht im Aberglauben des kirchlichen Glaubens erzogen wurde. 2 Vgl. Mt 12,31f par. 3 L.N. Tolstoj, Christianskoe uˇcenie, Purleigh 1898. 4 Zavolokin hat Tolstojs Bücher nicht aus dem Ausland bestellt, sondern in Niˇznij Novgorod von Aleksej Golubcov, einem Lehrer des Kadettenkorps, bezogen.

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Warum fragt der Schmied, der das Eisen schmiedet, oder der Ackersmann, der das Feld pflügt, nicht, woher er die Kraft nimmt zur Ausführung dessen, was er sich vorgenommen hat, sondern tut es nach Maßgabe seiner Kräfte – wenn er einen Fehler macht, bemüht er sich, diesen zu berichtigen, wenn er müde wird, lässt er die Arbeit eine Zeitlang liegen, ruht sich aus und nimmt sie wieder auf. Ist nicht jeder Knecht Gottes in derselben Lage, wenn er sich bemüht, ein christliches Leben zu führen und Gottes Willen, den er erkannt hat, zu erfüllen? Genauso wird ein solcher Mensch, wenn er aufrichtig ist, nach Maßgabe seiner Kräfte ein christliches Leben führen und den Willen Gottes erfüllen; wenn er einen Fehler macht, wird er ihn berichtigen, wenn er müde wird, wird er sich ausruhen und das Werk seines Lebens wieder aufnehmen: sich nach Maßgabe seiner Kräfte der ihm vorgeschriebenen Vollkommenheit des himmlischen Vaters anzunähern. Die Frage, woher man die Kraft für ein christliches Leben nehmen solle, zeigt nur, dass jemand den Menschen versichert hat, sie könnten vollkommen werden, heilig, und es gäbe dafür besondere Methoden, andere als die tagtägliche Anstrengung von Kämpfen, Fallen, Bereuen, Aufstehen und wieder Fallen und wieder Aufstehen, die den Menschen, wenn auch langsam, dem Ziel seines Lebens näherbringt: der Vervollkommnung in Gott. Dieser Aberglaube, dass der Mensch sich nicht mit allmählichen, langsamen Anstrengungen der Vollkommenheit nähert, sondern sich sofort läutern und heilig werden kann, ist einer der furchtbarsten und verderblichsten Irrtümer, und er wird von allen kirchlichen Glaubensrichtungen nachdrücklich gepredigt. Die einen versichern ihren Schülern, mithilfe der Sakramente wie Taufe, Beichte und Abendmahl werde der Mensch von den Sünden befreit; andere behaupten, der Glaube an die Erlösung befreie von den Sünden und Christus-Gott habe uns mit seinem Blut geläutert. Die einen wie die anderen lehren, ferner läutere uns das Bittgebet um Vergebung unserer Sünden, und nicht wir selbst müssten uns bemühen, besser zu werden, sondern Gott mache uns gut. Das ist eine entsetzlich dumme und schädliche Täuschung. Es ist zum einen eine Täuschung, dass der Mensch vollkommen rein werden kann. Das ist eine Lüge. Der Mensch kann nicht vollkommen und ohne Sünde sein, er kann dem lediglich mehr oder weniger nahekommen, und in dieser Annäherung liegt der ganze Sinn seines Lebens. Das ist das Leben. Ich denke sogar, dass das Leben nach dem Tod wiederum, wenn auch auf ganz andere Art und Weise, nur aus der Annäherung an die Vollkommenheit bestehen wird. Das ist das Leben, und das ist die Freude des Lebens. Es ist zum Zweiten eine Täuschung, dass es eine andere Methode als die eigene Anstrengung gibt, mit der wir uns vervollkommnen könnten. Zu glauben, dass es solche Methoden gebe, und sich zur Vervollkommnung auf Sakramente, den Glauben an die Erlösung oder das Gebet zu verlassen, ist gleichviel, als

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würde der Schmied, wenn er Eisen, einen Hammer und einen Amboss hat und das Feuer in der Schmiedeesse entfacht ist, sich eine andere Methode ausdenken als die, mit dem Hammer auf das Eisen zu schlagen, oder Gott bitten, er möge ihm die Kraft geben zu arbeiten. Gott zu bitten oder uns Methoden zur Vervollkommnung auszudenken wäre nur dann möglich, wenn es irgendwelche Hindernisse gäbe oder wir selbst keine Kraft hätten: Wenn die Schmiede geschlossen wäre, wenn es keine Kohle und kein Eisen gäbe oder wir zu schwach wären, den Hammer zu heben. Das gilt auch für die Vervollkommnung des christlichen Lebens oder die Erfüllung von Gottes Willen. Gott verlangt von uns nicht, das zu tun, was wir nicht können, im Gegenteil, er kümmert sich darum, uns alles zu geben, was wir brauchen, um seinen Willen zu erfüllen. Wir sind hier, in dieser Welt, wie in einer Herberge, deren Wirt alles genauso eingerichtet hat, wie wir, die Reisenden, es benötigen, dann fortging und eine Anweisung hinterließ, wie wir uns in dieser zeitweiligen Unterkunft zu verhalten haben. Es gibt hier Mehl, Wasser und Hefe, alles, was wir brauchen, ist vorhanden, was also sollen wir uns noch ausdenken, worum sollen wir noch bitten? Wir brauchen nur auszuführen, was uns vorgeschrieben ist. So ist es auch in unserer geistigen Welt: Alles Notwendige ist uns gegeben, es liegt nur an uns zu handeln. Natürlich, wenn wir sofort heilig sein oder uns gerechtfertigt fühlen wollen, brauchen wir besondere Methoden, und wir müssen Gott darum bitten. Wenn wir reich sein wollen, wenn wir wollen, dass unsere Freunde und wir selbst nicht krank werden und nicht sterben, dass wir gute Ernten haben und unsere Feinde vernichtet werden, dann müssen wir Gott um all das bitten, wie David in seinen Psalmen darum bittet und wie man in unseren Kirchen darum bittet. Doch Gott hat uns nichts dergleichen bestimmt: Er hat uns nicht nur nicht angewiesen, gerecht und ohne Sünde zu sein, sondern, im Gegenteil, uns das Leben gegeben, dessen Sinn nur darin liegt, dass wir uns selbst von unseren Sünden befreien und uns ihm annähern, er hat uns nicht bestimmt, reich zu sein, gesund und unsterblich, sondern er gab uns Prüfungen, Armut, Krankheit, den Tod von Freunden und unseren eigenen Tod eben deshalb, um uns zu lehren, unser Leben nicht auf Reichtum, Gesundheit und dieses zeitweilige Leben zu bauen, sondern auf den Dienst an ihm; er gab uns Feinde nicht, damit wir ihren Untergang wünschen, sondern damit wir lernen, die Feinde durch Liebe zu vernichten. Also haben wir keinen Grund, uns besondere Methoden zur Rettung auszudenken und Gott um etwas zu bitten. Alles, was wir brauchen, ist uns gegeben, wenn wir nur den Anweisungen unseres Gewissens und denjenigen Gottes folgen, die im Evangelium ausgedrückt sind. Zum Dritten ist diese Täuschung besonders schädlich, weil die Menschen, die glauben, sie könnten nicht aus eigener Kraft den Willen Gottes erfüllen und gut leben, aufhören, an sich zu arbeiten, und nicht nur das, sie verlieren auch die Möglichkeit, sich zu vervollkomm-

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nen. Der Mensch braucht nur zu der Überzeugung gelangen, er könne das, was er tun muss, nicht tun, dann lässt er die Hände sinken und ist tatsächlich nicht mehr imstande, das Notwendige zu tun; der Mensch braucht nur zu der Überzeugung zu gelangen, er sei krank, dann wird er krank. Besessene schreien, weil sie glauben, besessen zu sein. Notorische Trinker bessern sich nicht, weil sie überzeugt sind, sich nicht beherrschen zu können. Es gibt keine unsittlichere, schädlichere Lehre als die, dass der Mensch sich nicht aus eigener Kraft vervollkommnen könne. Eine ganz ähnliche Überlegung wie diejenige, dass es für ein christliches Leben einer äußeren Kraft bedürfe, ist die Überlegung, dass es eines unbestreitbaren Beweises der vollkommenen Wahrheit dessen, was wir über Gott und seinen Willen wissen, bedürfe. Dort heißt es, es gebe etwas, was dem Menschen die Kraft verleiht, ein christliches Leben zu führen und den Willen Gottes zu erfüllen. Hier aber heißt es, es gebe etwas, woran ich gewiss erkenne, dass das, was mir meine Vernunft sagt, die Wahrheit ist. Und so wie dort vorausgesetzt wird, es gebe abgesehen von der persönlichen Anstrengung eine äußere Methode, durch die man Heiligkeit erlangen könne, so wird auch hier vorausgesetzt, dass es abgesehen von der persönlichen Vernunftanstrengung eine andere Methode gebe, die Wahrheit zu erkennen, und zwar die volle, die vollkommene Wahrheit. Doch das ist ebenso unmöglich, wie man das Licht nicht ohne Augen sehen kann. Die Wahrheit ist das, was durch Anstrengung erkannt wird und durch nichts anderes erkannt werden kann. Und die durch die menschliche Vernunft erkennbare Wahrheit kann niemals die vollkommene Wahrheit sein, sondern sie nähert sich der vollkommenen Wahrheit nur mehr oder weniger an und kann zwar die höchste dem Menschen zugängliche, aber niemals die vollkommene Wahrheit sein; sie kann schon allein deshalb nicht die vollkommene Wahrheit sein, weil das Leben der gesamten Menschheit ebenso wie das des einzelnen Menschen ganz damit vergeht, sogar darin besteht, eine immer vollkommenere Wahrheit zu erreichen und diese immer mehr zu verwirklichen. Die irrige, abwegige Vorstellung, die menschliche Vernunft könne sich der Wahrheit nicht aus eigener Anstrengung annähern, beruht auf demselben furchtbaren Aberglauben wie die Vorstellung, der Mensch könne sich der Erfüllung von Gottes Willen nicht ohne Hilfe von außen annähern; der Aberglaube besagt, die volle, die vollkommene Wahrheit sei den Christen zunächst von Gott auf dem Berg Sinai offenbart worden, dann von verschiedenen Propheten des jüdischen Volkes, von Christus, den Aposteln, den Synoden und der Kirche; den Brahmanen sei sie in den Veden, den Mohammedanern im Koran offenbart worden; dieser Aberglaube ist furchtbar zum einen, weil er den eigentlichen Begriff der Wahrheit entstellt, zum Zweiten, weil man, wenn man die Ungereimtheiten und Scheußlichkeiten, die in den Schriften für göttliche Offenbarung genommen werden, als unbestreitbare Wahrheit anerkennt, den gesunden Menschen-

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verstand noch mehr verdrehen muss, um all diese Scheußlichkeiten und Dummheiten zu rechtfertigen, und zum Dritten deshalb, weil der Mensch, wenn er als Quelle der Wahrheit eine unfehlbare äußere Offenbarung erkennt, nicht länger an die Anstrengung seiner Vernunft als die einzige Methode zur Erkenntnis der Wahrheit glaubt. Wer so handelt, tut dasselbe wie jemand, der einen Weg sucht und anstatt alle möglichen Anstrengungen zu unternehmen, ihn zu finden, die Augen schließt und sich der Führung des Erstbesten anvertraut, der ihm anbietet, ihn zu geleiten. Man sagt: Wie sollen wir der Vernunft glauben, wenn wir sehen, dass von Vernunft geleitete Menschen sich irren. Zunächst, sagt man, sah der Mensch aus Vernunft die Wahrheit in der Orthodoxie, dann sah er aus derselben Vernunft die Wahrheit im Baptismus, dann begann er wieder aus Vernunft, die Wahrheit in der Anerkennung Christi als Mensch zu sehen. Folglich, sagt man, kann die Vernunft sich irren, und man kann ihr nicht vertrauen. Aber warum? Als der Mensch an die Orthodoxie glaubte und seine Vernunft ihm nichts zeigte, was wahrer gewesen wäre, erkannte er diese als für ihn höchste Wahrheit an, später dann erkannte er eine höhere Wahrheit und tat recht daran. Genauso recht tat er, als er eine noch höhere oder die reine Wahrheit erkannte. Was der Mensch nicht höher, klarer oder wahrer sehen oder sich vorstellen kann, das ist für ihn die Wahrheit. Es mag durchaus sein, dass es sehr gut und wünschenswert wäre, wenn alle Menschen sofort ein und dieselbe vollkommene Wahrheit erkennen würden (auch wenn in dem Falle das Leben zu Ende wäre), doch selbst wenn man zugeben würde, dass das wünschenswert wäre, geschieht schließlich nicht alles so, wie wir es wünschen. Vielleicht würden unvernünftige Menschen es für durchaus wünschenswert halten, dass die Menschen nicht krank würden, dass es ein Allheilmittel gegen alle Krankheiten gäbe oder dass alle Menschen ein und dieselbe Sprache (nämlich Russisch) sprächen, aber das geschieht schließlich nicht einfach deshalb, weil wir uns einbilden, alle Menschen könnten von einem Arzneimittel geheilt werden oder Russisch sprechen und verstehen. Wenn wir uns das einbilden, dann machen wir es nur schlimmer für uns, ebenso wie wir es schlimmer für uns machen, wenn wir uns einbilden, dass die ganze volle und ewige Wahrheit uns in der Schrift, in Aufsätzen oder in der Kirche offenbart wird. Sich das einzubilden ist schon deshalb besonders töricht, weil wir ringsum Menschen sehen können, die sich einbilden, die volle und ewige Wahrheit sei ihnen, und nicht uns, offenbart worden, so wie sich das Buddhisten, Mohammedaner und andere einbilden. Besonders schädlich ist eine derart abwegige Einbildung deshalb, weil sie die Menschen mehr alles andere voneinander trennt. Die Menschen sollten sich mehr und mehr zusammenschließen, wie Christus es lehrt, aber derartige Offenbarungs-Lehren trennen die Menschen nur noch mehr. Außerdem müssen wir verstehen, ob wir wollen oder nicht, dass ohne Vernunft keine Wahrheit Eingang in die Seele des Menschen

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finden kann. Wenn der Mensch an eine Offenbarung glaubt, tut er das nur deshalb, weil die Vernunft ihm gesagt hat, er müsse an diese oder jene Offenbarung glauben, die mohammedanische, die buddhistische oder die christliche. Die Vernunft ist wie ein Schwingsieb oder ein Siebrost, das an einer Dreschmaschine oder an einer Windfege angebracht ist, sodass das Korn ausschließlich durch diesen Siebrost gewonnen werden kann. Vielleicht fällt auch Dreck durch den Siebrost, aber es gibt keine andere Methode, und um sauberes Korn zu erhalten, muss man das Getreide wieder und wieder durch das Schwingsieb der Vernunft schütteln, eine andere Methode gibt es nicht. Wenn wir jedoch meinen, sauberes Korn ohne Durchsieben bekommen zu können, täuschen wir uns, und wir werden uns von Dreck ernähren anstatt von Getreide, wie es bei den Klerikern der Fall ist. Wir dürfen uns also nicht vorstellen, dass alles so geschieht, wie wir es gerne hätten, sondern wir müssen verstehen, dass alles so geschieht, wie es von Gott festgelegt ist. Das von Gott eingerichtete menschliche Leben aber ist so, dass die Menschen nicht die ganze Wahrheit erkennen, sondern sich ihr nur beständig annähern können, wobei sie die eine Wahrheit immer klarer erkennen und sich daher untereinander immer näher kommen. Sie fragen noch nach meiner Meinung über die Persönlichkeit von Christus, ob ich ihn als Gott betrachte? Ich halte Christus für einen ebensolchen Menschen, wie wir alle es sind, ihn hingegen als Gott zu betrachten, halte ich für die größte Blasphemie. Ich halte Christus für einen Menschen, aber seine Lehre halte ich für göttlich insofern, als sie göttliche Wahrheiten ausdrückt. Ich kenne keine höhere Lehre. Sie gab mir das Leben, und ich bemühe mich, so gut ich kann, sie zu befolgen. Über die Geburt Christi weiß ich nichts, muss man auch nichts wissen. Vom jenseitigen Leben wissen wir, dass es existiert, dass das Leben nicht mit dem Tod endet, aber wie dieses Leben sein wird, wissen wir deshalb nicht, weil wir es nicht wissen müssen. Unter Pharisäern verstehe ich vorwiegend die Geistlichkeit, unter Schriftgelehrten verstehe ich Wissenschaftler, die nicht an Gott glauben. Was das Essen des Leibes und das Trinken des Blutes angeht, so meine ich, dass dies eine völlig belanglose Stelle im Evangelium ist und entweder die Aneignung der Lehre oder die Erinnerung bedeutet, aber weder im einen noch im anderen Fall wichtig ist und keinesfalls das bedeutet, was kirchliche Fanatiker darunter verstehen. Ich habe meine Auffassung von dieser Stelle, so gut ich es vermochte, in der Kurzen Darlegung des Evangeliums dargelegt. Ihr Bruder

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Moskau, 18. Januar 1901 In meinem Brief sprach ich von der Vergeblichkeit des Gebets zur Erfüllung unserer Wünsche, derjenigen in Bezug auf Ereignisse der Außenwelt ebenso wie derjenigen in Bezug auf die Innenwelt und unsere eigene Vervollkommnung. Für äußere Ereignisse – dafür, dass es regnen möge, dass ein geliebter Mensch am Leben bleibe oder dass ich gesund sein und nicht sterben möge – kann man nicht beten, weil diese Ereignisse nach Gesetzen verlaufen, die von Gott ein für allemal bestimmt sind, und zwar so, dass sie, wenn wir uns dementsprechend verhalten, stets zu unserem Wohl sind. Das wäre so, als hätte ein guter Mensch mir ein Haus gebaut, mit einem Dach und festen Wänden, die mir Schutz böten, ich aber wollte aus einer Laune heraus anbauen oder die Wände versetzen lassen und bäte darum. Um die innere Vervollkommnung hingegen kann man nicht beten, weil uns alles das, was zu unserer Vervollkommnung vonnöten ist, gegeben ist und dem nichts hinzugefügt werden braucht oder kann. Doch die Tatsache, dass ein Bittgebet keinen Sinn hat, bedeutet nicht, dass man nicht beten kann oder soll. Im Gegenteil, ich meine, dass es unmöglich ist, ohne Gebet gut zu leben und dass das Gebet eine unerlässliche Voraussetzung für ein gutes wie für ein ruhiges und glückliches Leben ist. Im Evangelium steht geschrieben, wie man beten soll und worin das Gebet bestehen soll. In jedem Menschen ist der göttliche Funke, der göttliche Geist, jeder Mensch ist Gottes Sohn. Das Gebet besteht darin, von allem Weltlichen, von allem, was die Gefühle ablenken könnte, Abstand zu gewinnen (die Mohammedaner machen es vortrefflich, wenn sie beim Betreten der Moschee oder zu Beginn eines Gebets Augen und Ohren mit den Fingern bedecken) und den göttlichen Ursprung in sich hervorzurufen. Das Beste dafür ist, was Christus lehrt: in eine stille Kammer zu gehen und sich einzuschließen,5 das heißt, in völliger Abgeschiedenheit zu beten, sei es in einer stillen Kammer, im Wald oder auf dem Feld. Das Gebet besteht darin, Abstand zu gewinnen von allem Weltlichen, Äußerlichen, und den göttlichen Teil der Seele in sich hervorzurufen, sich in ihn hineinzuversetzen und durch ihn in Verbindung zu treten mit dem, dessen Teil er ist, sich als Knecht Gottes zu erkennen und seine Seele, seine Handlungen, seine Wünsche an den Anforderungen nicht der äußerlichen Bedingungen der Welt, sondern dieses göttlichen Teils der Seele zu überprüfen. Ein solches Gebet ist nicht tatenlose Ergriffenheit und Erregung, wie sie gemeinschaftliche Gebete mit ihren Gesängen und Bildern, mit ihren Weihungen und Predigten hervorrufen, sondern es kommt immer dem Leben zugute, indem es dieses verändert, ihm eine Richtung gibt. Ein solches 5 Vgl. Mt 6,6.

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Gebet ist eine Beichte, eine Überprüfung der bisherigen Handlungen und Richtungsweisung für die künftigen. Angenommen, jemand hat mich beleidigt, ich hege einen Groll gegen ihn, wünsche ihm Böses und will ihm nicht das Gute erweisen, das ich kann; oder ich habe meinen Besitz verloren oder einen geliebten Menschen oder ich lebe und handle nicht im Einklang mit meinem Glauben. Wenn ich nicht richtig bete, sondern weiterhin in Zerstreuung lebe, werde ich jenes quälende Gefühl des Grolls gegenüber meinem Beleidiger nicht los, ebenso wie mir der Verlust meines Besitzes oder des geliebten Menschen das Leben verleiden wird oder ich in Sorge bin, wenn ich nicht so handle, wie mir mein Gewissen gebietet. Wenn ich mich aber mit mir selber und mit Gott prüfe, ändert sich alles: Ich klage mich selbst an, nicht den Feind, und suche Gelegenheit, ihm Gutes zu tun; meine Verluste nehme ich an als Prüfung, ich suche sie mit Ergebenheit zu tragen und finde darin Trost, ich komme mit meinen Handlungen ins Reine, verberge den Widerspruch zwischen meinem Leben und meinem Glauben nicht länger vor mir, sondern ich bereue und strebe danach, Leben und Glauben zu einer Einheit zu bringen, und in diesem Streben finde ich Beruhigung und Freude. Aber Sie fragen: Worin soll denn ein Gebet bestehen? Christus gab uns ein Beispiel im Vaterunser, und dieses Gebet, das uns an das Wesen unseres Lebens gemahnt, nämlich im Willen des Vaters zu sein und ihn zu erfüllen, an unsere ganz gewöhnlichen Sünden, wenn wir unsere Brüder verurteilen und ihnen nicht vergeben, und an die größten Gefahren unseres Lebens, die Versuchungen, ist noch immer das beste und das vollkommenste Gebet, das ich kenne. Nebst diesem Gebet aber besteht ein wahres, abgeschiedenes Gebet noch aus all dem, was unsere Seele in den Worten anderer weiser und heiliger Menschen oder in den eigenen Worten zum Bewusstsein ihres göttlichen Ursprungs zurückführt sowie dahin, die Forderungen des eigenen Gewissens, d.h. der göttlichen Natur, lebendiger und klarer auszudrücken und die bisherigen wie die künftigen Handlungen an diesen Forderungen zu überprüfen. Ich lehne also das abgeschiedene und die Göttlichkeit der Seele wiederherstellende Gebet keineswegs ab, sondern halte es vielmehr für eine unerlässliche Voraussetzung des geistigen, d.h. des wahren Lebens. Ich lehne das gemeinschaftliche, das blasphemische Gebet mit Gesang, Ikonen, Kerzen und sogar Vorführungen sowie das Bittgebet ab. Oft wundere ich mich, wieso es dieses gemeinschaftliche Gebet, dieses Bittgebet bei Menschen geben kann, die sich Christen nennen, da doch Christus ohne Umschweife und eindeutig gesagt hat, dass man abgeschieden beten und um nichts bitten soll, weil euer Vater weiß, noch bevor ihr den Mund öffnet, was ihr braucht. Was mich angeht, sage ich – ohne zu meinen, das sei für alle gut und jeder müsse es so machen –, dass ich seit Langem die Gewohnheit habe, jeden Morgen in aller Frühe in Abgeschiedenheit zu beten. Und dieses ist mein tägliches Gebet:

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Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Danach füge ich hinzu: Dein Name ist Liebe, Gott ist Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm. Niemand sieht Gott irgendwo, doch wenn wir einander lieben, dann bleibt er in uns, und seine Liebe hat sich in uns vollzogen. So jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Brüder, wir werden einander lieben. Die Liebe ist von Gott, und jeder Liebende ist von Gott, weil Gott die Liebe ist.6 Dein Reich komme, und ich füge hinzu: Trachtet nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles Übrige zufallen. Das Reich Gottes ist inwendig in euch.7 Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden; ich füge hinzu: Glaubst du, dass du in Gott bist und Gott in dir? Ich glaube. Glaubst du, dass dein Leben darin liegt, die Liebe in dir zu mehren? Ich glaube. Gedenkst du dessen, dass du heute lebst, aber morgen tot bist? Ich gedenke. Ist es wahr, dass du nicht um persönlicher Lüsternheit und menschlichen Ruhmes willen leben willst, sondern um den Willen Gottes zu erfüllen? Es ist wahr, ich will nur dafür leben. Nicht mein Wille geschehe, sondern deiner. Und nicht das, was ich will, sondern das, was du willst, und nicht so wie ich will, sondern so, wie du willst.8 Unser tägliches Brot gib uns heute; ich füge hinzu: Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk. Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich täglich und folge mir. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.9 Und vergib uns unsere Schuld, so wie auch wir vergeben unsern Schuldigern; ich füge hinzu: euer Vater wird euch eure Sünden nicht vergeben, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder alle Sünden vergibt.10 Und führe mich nicht in Versuchung; ich füge hinzu: hüte dich vor den Versuchungen der Lüsternheit, der Ehrsucht, der Abneigung, der Völlerei, der Unzucht, des menschlichen Ruhmes. Gib deine Almosen nicht vor den Leuten, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Und wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. Freue dich, dass man dich schimpft und schmäht.11

6 7 8 9 10 11

Vgl. 1 Joh 4,7–21. Vgl. Mt 6,33; Lk 17,21. Vgl. Mk 14,36 par. Vgl. Mt 16,24 par.; Mt 11,29f. Vgl. Mt 18,35. Vgl. Mt 6,1–3; Lk 9,62; Mt 5,11.

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Sondern erlöse uns von dem Bösen, hüte dich vor dem Bösen, das aus dem Herzen kommt: böse Gedanken, Mordtaten (jeglicher Groll gegenüber dem Menschen), Diebstahl (Benutzung dessen, was du nicht verdient hast), Buhlerei, Ehebruch (sei es auch nur in Gedanken), falsches Zeugnis, Schmähung. Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, wenn wir unseren Bruder lieben. Wer seinen Bruder nicht liebt, der hat kein ewiges Leben, der bleibt im Tode.12 So bete ich jeden Tag, wobei ich die Worte dieses Gebets an meine Beschäftigung und an meine seelische Verfassung anpasse. Manchmal mehr und manchmal weniger innig. Außerdem bete ich auch, wenn ich für mich allein die Gedanken der Weisen und der Heiligen lese – nicht allein diejenigen der Christen und nicht allein diejenigen der Alten –, wenn ich nachdenke und vor Gott das Schlechte, was in meinem Herzen ist, ausfindig zu machen und es herauszureißen suche. Ebenso bemühe ich mich, im Leben zu beten, wenn ich unter Menschen bin und mich die Leidenschaften packen. Dann versuche ich daran zu denken, was während des abgeschiedenen Gebets in meiner Seele vorging, und je aufrichtiger das Gebet war, umso leichter kann ich mich des Schlechten enthalten. Das ist alles, was ich Ihnen über das Gebet sagen wollte, damit Sie nicht denken, ich würde es ablehnen. 18. Januar 1901 Ihr Bruder Lev Tolstoj

12 Vgl. 1 Joh 2,10f.

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Gebete

Diese Gebete entstanden alle im Sommer 1909, einige von ihnen notierte Tolstoj zunächst in seinem Tagebuch oder seinen Notizbüchern, bevor er sie ins Reine schrieb. Die Texte sind Ausdruck von Tolstojs Überzeugung, dass ein Gebet eine individuelle und intime Zwiesprache des Gläubigen mit Gott sein soll, frei von Forderungen oder Bitten. Und so sind Tolstojs Gebete auch eher untypisch für diese Textsorte, da sie weder formal noch inhaltlich eine Anrufung Gottes durch einen Gläubigen darstellen. Die Gebete werden hier erstmals in deutscher Sprache publiziert. Die russische Erstveröffentlichung erfolgte 1958 in der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 90: 143–147), der die Übersetzungen folgen.

1 Du willst Hilfe von Gott, aber die Hilfe ist in dir. Liebe nur alle, liebe in Taten und in Worten und in Gedanken, und dir wird die Hilfe zuteil, die du suchst.

2 Ich verlange nichts von den Menschen, weil ich weiß, dass mein Heil nicht in ihrer Liebe zu mir liegt, sondern in meiner Liebe zu ihnen. Und so will ich nicht daran denken, ob die Menschen gut oder schlecht über mich urteilen, ich will nur an das Gericht jenes Gottes denken, der in mir lebt. Und ich weiß, dass man diesem Gott nur dienen kann, wenn man die Menschen liebt in der Tat, im Wort und im Gedanken.

3 Ich weiß nicht, was mit mir sein wird in einem Jahr, in einem Tag, in einer Stunde. Eines weiß ich, dass alles, was sein wird, nach deinem Willen sein wird. Und alles, was nach deinem Willen ist, ist Heil. Daher verlange ich nur eines: dass ich ewig in dir und mit dir sein kann. Um aber stets in dir und mit dir sein zu können, das weiß ich, braucht es eines: die Menschen zu lieben. Ich werde dessen eingedenk sein und alle meine Kräfte darauf verwenden.

Gebete

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4 Kindergebet Ich lebe durch den Körper und durch die Seele. Der Körper erkrankt, altert und stirbt. Die Seele erkrankt nicht, sie altert nicht und sie stirbt nicht. Der Körper freut sich nur über das Gute in sich selbst, die Seele freut sich über das Gute in allem Lebendigen. In der Seele wohnt Gott, und Gott will das Gute für alle, deshalb will die Seele das Gute nicht nur für sich, sondern für alles Lebendige. Ich werde also nicht durch den Körper, sondern durch die Seele leben, um mich nicht über das Gute in meinem Körper, sondern über das Gute in allem Lebendigen zu freuen. Ich werde mich nicht um meinen Körper sorgen, darum, dass es nur mir allein gut geht, sondern ich werde mich bemühen, anderen das zu tun, was ich für mich will: allen gefällig zu sein, allen wohl zu wollen, alle zu lieben.

5 Ich weiß nicht, ob ich den morgigen Tag erlebe, ob alle, die ich liebe und die mich lieben, ihn erleben oder ob sie heute oder morgen, vor mir, sterben werden; ich weiß nicht, ob ich gesund sein werde oder krank, ob ich satt sein werde oder hungrig, von den Menschen geachtet oder verdammt. Ich weiß nur das eine, dass alles, was mit mir und mit denen, die ich liebe, geschieht, so geschieht nach dem Willen desjenigen, der in der ganzen Welt und in meiner Seele lebt. Und alles, was nach seinem Willen ist, das alles ist gut. Deshalb werde ich nicht daran denken, was sein wird mit mir und mit allen, die ich liebe. Ich werde mich nur um eines bemühen: darum, stets mit ihm zu sein, mit dem, den ich in mir weiß durch die Liebe. Dazu aber brauche ich nur eines: alle zu lieben in Taten und in Worten und in Gedanken, das bedeutet, all denjenigen, mit denen ich zusammenkomme, Gutes zu tun soviel ich vermag, niemandem und über niemanden Schlimmes zu sagen und vor allem mir nicht zu gestatten, Schlechtes von den Menschen zu denken. Ich werde daran denken und alle meine Kräfte darauf verwenden.

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6 Wenn ich liebe, dann ist Gott in mir, und ich bin in Gott.1 Und wenn Gott in mir ist und ich in Gott bin, dann ist alles gut, und mir kann nicht Schlimmes geschehen. Ich werde stets alle lieben in Taten und in Worten und vor allem in Gedanken.

7 morgens Ich denke daran, dass Gott die Liebe ist, und dass man alle lieben muss, in der Liebe sein muss, um gut zu leben: niemandem zürnen, allen nachgeben, über niemanden Schlechtes sagen und denken. abends Lass mich daran denken, worin ich heute im Unrecht war gegenüber den Menschen, wem ich gezürnt habe, wem und worin ich nicht nachgegeben habe, über wen ich Schlechtes gesagt und gedacht habe, wem ich einen Dienst hätte erweisen können und nicht erwiesen habe.

1 Vgl. 1 Joh 4,16.

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Das Wesen der christlichen Lehre

Das Wesen der christlichen Lehre wurde als »Wochenlektüre« in Tolstojs Lesezyklus veröffentlicht. Ursprünglich stammt dieser Auszug aus dem Traktat Die christliche Lehre, der zwischen 1894 und 1897 entstand und von Tolstoj als »Katechismus« konzipiert war. Dass Tolstoj einen Abschnitt aus der Christlichen Lehre in den Lesezyklus aufnahm, ist nur folgerichtig, da es sich um knappe, prägnante und in sich geschlossene Texte handelt, die zudem in einer Sprache geschrieben waren, die gemäß Tolstojs Absicht dem »Volk nahe und allen verständlich« sein sollte. In der Erstausgabe des Lesezyklus von 1905 fehlte Das Wesen der christlichen Lehre noch, Tolstoj nahm den Text erst in die zweite Auflage von 1908 auf. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 41: 65–69).

Schon immer, seit uralten Zeiten, empfanden die Menschen die Armseligkeit, die Hinfälligkeit und die Sinnlosigkeit ihrer Existenz, und sie suchten Rettung von dieser Armseligkeit, Hinfälligkeit und Sinnlosigkeit im Glauben an Gott oder an Götter, die sie von den verschiedenen Nöten dieses Lebens befreien und ihnen im künftigen Leben das Heil geben sollten, nach dem sie verlangten und das sie in diesem Leben nicht bekommen konnten. Deshalb gab es seit Menschengedenken bei den verschiedenen Völkern auch verschiedene Prediger, die die Menschen lehrten, welch ein Gott oder welche Götter die Menschen retten würden und was man tun müsse, um diesem Gott oder diesen Göttern gefällig zu sein, damit man in diesem oder im künftigen Leben belohnt werde. Die einen religiösen Lehren meinten, dieser Gott sei die Sonne und verkörpere sich in verschiedenen Tieren; andere lehrten, die Götter seien Himmel und Erde; die dritten lehrten, Gott habe die Welt erschaffen und aus allen Völkern ein Lieblingsvolk erkoren; die vierten lehrten, es gebe viele Götter und sie hätten Anteil an den Taten der Menschen; die fünften lehrten, Gott habe Menschengestalt angenommen und sei auf die Erde herabgestiegen. Alle diese Lehrer vermischten Wahrheit und Lüge und verlangten von den Menschen nicht nur, Handlungen zu unterlassen, die als schlecht galten, und Taten auszuführen, die als gut galten, sondern zusätzlich Sakramente, Opfer und Gebete, die mehr als alles andere das Heil der Menschen in dieser und der künftigen Welt sichern sollten. Doch je länger die Menschen lebten, desto weniger konnten diese Glaubenslehren den Forderungen der menschlichen Seele genügen. Die Menschen sahen erstens, dass das erstrebte Glück in dieser Welt nicht zu erreichen war, auch wenn die Forderungen des Gottes oder der Götter erfüllt wurden.

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Zweitens schwand infolge der zunehmenden Bildung mehr und mehr das Vertrauen zu dem, was die religiösen Lehrer über Gott, das künftige Leben und die zu erwartenden Belohnungen predigten, weil dieses nicht mehr mit dem aufgeklärten Verständnis der Welt übereinstimmte. Während die Menschen zuvor ohne Zögern und Zweifel glauben konnten, Gott habe vor sechstausend Jahren die Welt erschaffen, die Erde sei das Zentrum des Universums, unter der Erde befinde sich die Hölle, Gott sei auf die Erde herabgekommen und dann in den Himmel aufgestiegen und dergleichen mehr, konnte man nun allein deshalb nicht mehr daran glauben, weil die Menschen nun zuverlässig wussten, dass die Welt nicht seit sechstausend, sondern seit Hunderttausenden von Jahren existiert und dass die Erde nicht das Zentrum der Welt, sondern im Vergleich zu anderen Himmelskörpern nur ein kleiner Planet ist, weil sie wussten, dass unter der Erde nichts sein kann, da die Erde eine Kugel ist, und dass man nicht in den Himmel aufsteigen kann, da es keinen Himmel, sondern nur das vermeintliche Himmelsgewölbe gibt. Drittens, und das ist die Hauptsache, wurde das Vertrauen in diese verschiedenen Lehren dadurch untergraben, dass die Menschen durch engeren Umgang untereinander erfuhren, dass es in jedem Land religiöse Lehrer gibt, die ihre besondere Lehre predigen, nur die eigene als wahr anerkennen und alle anderen ablehnen. Diese Erfahrung ließ die Menschen natürlich zu dem Schluss kommen, dass keine dieser Lehren wahrer ist als die andere und dass daher keine von ihnen als unzweifelhafte und unfehlbare Wahrheit angenommen werden kann. Die Unerreichbarkeit des Glücks in diesem Leben, die immer größere Bildung der Menschheit und der Umgang der Menschen untereinander, infolge dessen sie die Glaubenslehren anderer Völker kennen lernten, führten dazu, dass das Vertrauen der Menschen zu den Glaubenslehren, die man ihnen predigte, stetig schwand. Indessen gab es ein immer dringlicheres Bedürfnis, den Sinn des Lebens zu erklären und den Widerspruch zwischen dem Streben nach Glück und Leben einerseits und dem immer klareren Bewusstsein der Unausweichlichkeit von Elend und Tod andererseits aufzulösen. Der Mensch verlangt nach Heil, er sieht darin den Sinn seines Lebens, und je länger er lebt, desto mehr sieht er, dass dieses Heil für ihn nicht möglich ist; der Mensch verlangt nach Leben, nach einer Fortführung des Lebens, und er sieht, dass er ebenso wie alles, was um ihn herum existiert, zu unausweichlicher Vernichtung und zum Verschwinden verurteilt ist; der Mensch besitzt Vernunft, er sucht eine vernünftige Erklärung für die Phänomene des Lebens und findet weder für sein eigenes noch für fremdes Leben eine vernünftige Erklärung. Während im Altertum das Bewusstsein dieses Widerspruchs zwischen dem menschlichen Leben, das nach Heil und Fortführung

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des Lebens verlangt, und der Unausweichlichkeit von Tod und Leiden nur großen Geistern wie Salomo, Buddha, Sokrates, Laotse und anderen zugänglich war, wurde dies später eine allgemein zugängliche Wahrheit, und daher wurde die Auflösung dieses Widerspruchs notwendiger denn je. Und genau zu der Zeit, als diese Auflösung des Widerspruchs zwischen dem Verlangen nach Heil und Leben und dem Bewusstsein der Unmöglichkeit derselben besonders schmerzlich notwendig für die Menschheit wurde, wurde sie den Menschen gegeben durch die christliche Lehre in ihrer wahren Bedeutung. Die alten Glaubenslehren mit ihren Beteuerungen von der Existenz eines Gott Schöpfers, Erhalters und Erlösers waren bestrebt, den Widerspruch des menschlichen Lebens zu verbergen; die christliche Lehre hingegen zeigt den Menschen diesen Widerspruch in voller Stärke; sie zeigt ihnen, dass es den Widerspruch geben muss, und leitet aus dem Eingeständnis des Widerspruchs auch seine Auflösung her. Der Widerspruch besteht in Folgendem. Tatsächlich ist der Mensch einerseits ein Tier und kann nicht aufhören, ein Tier zu sein, solange er in einem Körper lebt; andererseits ist er ein geistiges Wesen, das jedes tierische Verlangen des Menschen negiert. In der ersten Zeit seines Lebens lebt der Mensch ohne zu wissen, dass er lebt, er lebt also nicht selbst, sondern durch ihn lebt jene Lebenskraft, die in allem lebt, was wir kennen. Der Mensch beginnt erst dann selbst zu leben, wenn er weiß, dass er lebt. Er weiß, dass er lebt, wenn er weiß, dass er nach Heil verlangt und dass andere Wesen dasselbe wünschen. Dieses Wissen verleiht ihm die Vernunft, die in ihm erwacht ist. Wenn er aber weiß, dass er lebt und nach Heil verlangt und dass andere Wesen nach demselben verlangen, erfährt der Mensch unweigerlich auch, dass jenes Heil, nach dem er für sein einzelnes Wesen verlangt, ihm nicht zugänglich ist, dass ihm anstelle des Heils, nach dem er verlangt, unvermeidliche Leiden und der Tod bevorstehen und dass dasselbe auch allen anderen Wesen bevorsteht. So gibt es einen Widerspruch, für den der Mensch eine Lösung sucht, bei der sein Leben so, wie es ist, einen vernünftigen Sinn hat. Er will, dass das Leben weiterhin so bleibt, wie es war, bevor seine Vernunft erwachte, d.h. gänzlich tierisch, oder aber dass es bereits gänzlich geistig wäre. Der Mensch will ein Tier oder ein Engel sein, kann aber weder das eine noch das andere. Und nun gibt es die Lösung dieses Widerspruchs, die die christliche Lehre bietet. Sie sagt dem Menschen, dass er weder ein Tier noch ein Engel, sondern ein aus einem Tier geborener Engel sei – ein geistiges Wesen, geboren aus einem Tier. Dass unser gesamter Aufenthalt auf dieser Welt nichts anderes sei als diese Geburt. Sobald der Mensch zum vernünftigem Bewusstsein erwacht, sagt dieses Bewusstsein ihm, dass er nach Heil verlangt; und da sein vernünftiges Be-

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wusstsein in seinem einzelnen Wesen erwacht ist, scheint ihm, dass sein Heilsverlangen sich auf sein einzelnes Wesen bezieht. Doch ebendieses vernünftige Bewusstsein, das ihm sich selbst als einzelnes, nach Heil für sich verlangendes Wesen gezeigt hat, zeigt ihm auch, dass dieses einzelne Wesen nicht dem Verlangen nach Heil und Leben entspricht, das er ihm vorschreibt; er sieht, dass dieses einzelne Wesen weder Heil noch Leben haben kann. »Was hat ein wahres Leben?«, fragt er sich, und er sieht, dass weder er noch diejenigen Wesen, die ihn umgeben, ein wahres Leben haben, sondern nur das, was nach Heil verlangt. Mit dieser Erkenntnis hört der Mensch auf, sich selbst als einzelnes, von den anderen getrenntes, körperliches, sterbliches Wesen zu sehen, und er erkennt sich als das von anderen Wesen untrennbare, geistige und daher unsterbliche Wesen, das ihm von seinem vernünftigen Bewusstsein offenbart wurde. Das ist die Geburt eines neuen geistigen Wesens im Menschen. Das Wesen, das dem Menschen durch sein vernünftiges Bewusstsein offenbart wird, ist das Heilsverlangen, ist dasselbe Heilsverlangen, das auch zuvor Ziel seines Lebens war, jedoch mit dem Unterschied, dass das Heilsverlangen des früheren Wesens sich auf das einzelne, rein körperliche Wesen bezog und sich seiner selbst nicht bewusst war, das jetzige Heilsverlangen ist sich seiner selbst bewusst und bezieht sich daher nicht auf irgendetwas Einzelnes, sondern auf alles Existierende. Wenn die Vernunft erwacht, scheint es dem Menschen in der ersten Zeit, das Heilsverlangen, in dem er sich selbst erkennt, beziehe sich nur auf den Körper, in dem es eingeschlossen ist. Doch je klarer und bestimmter die Vernunft wird, desto klarer wird auch, dass das wahre Wesen, das wahre »Ich« des Menschen, sobald er sich seiner selbst bewusst wird, nicht sein Körper ist, der kein wahres Leben hat, sondern das Heilsverlangen an sich, mit anderen Worten das Verlangen nach Heil für alles Existierende. Das Verlangen nach Heil für alles Existierende aber ist das, was allem Existierenden Leben verleiht, das, was wir Gott nennen. Das Wesen, das dem Menschen durch sein Bewusstsein offenbart wird, das Wesen, das geboren wird, ist mithin dasjenige, was allem Existierenden Leben verleiht, ist Gott. Gemäß früheren Lehren musste der Mensch, um Gott zu erkennen, das glauben, was andere Menschen ihm über Gott sagten, darüber, wie Gott angeblich die Welt und die Menschen erschaffen und sich anschließend den Menschen gezeigt habe; nach der christlichen Lehre hingegen erkennt der Mensch Gott unmittelbar durch sein Bewusstsein in sich selbst. In sich selbst zeigt das Bewusstsein dem Menschen, dass der Kern seines Lebens das Verlangen nach Heil für alles Existierende ist, etwas Unerklärliches und mit Worten Unsagbares und zugleich das dem Menschen Nächste und Verständlichste.

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Der Ursprung des Heilsverlangens entstand im Menschen zunächst als das Leben seines einzelnen tierischen Wesens; dann als das Leben jener Wesen, die er liebte; dann, seit dem Erwachen seines vernünftigen Bewusstseins, erschien es als Verlangen nach Heil für alles Existierende. Das Verlangen nach Heil für alles Existierende aber ist der Ursprung jeden Lebens, ist die Liebe, ist Gott, so wie es im Evangelium heißt, dass Gott die Liebe ist.1

1 Vgl. 1 Joh 4,8.16.

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Brief an I.I. Solov’ev (1908)

Ivan Solov’ev (1854–1918) war orthodoxer Priester, Verfasser theologischer Schriften, ab 1883 Religionslehrer am Moskauer Lyzeum und Autor des Artikels »Das Sendschreiben des Heiligen Synods über Graf Tolstoj (Versuch, den Sinn und die Bedeutung des Schreibens zu erläutern, aus Anlass der Versionen, die in den gebildeten Schichten darüber zirkulieren)« (1901). Dieser Brief ist Tolstojs Antwort auf ein umfangreiches Schreiben Solov’evs, in welchem dieser bekannte, dass er die Vorbereitungen für die Feiern anlässlich Tolstojs 80. Geburtstag nicht gutheißen könne. Als er aber erfahren habe, dass Tolstoj selbst darum gebeten hatte, auf Feierlichkeiten zu verzichten, habe er erkannt, dass er sich in Tolstoj getäuscht habe und dass der Schriftsteller durch sein Handeln einen ersten Schritt getan habe, um in den Schoß der Kirche zurückkehren zu können. Erstmals wurde dieses Schreiben ohne Nennung des Adressaten 1908 in der Zeitschrift K svetu als »Brief an einen Priester« veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 78: 178–179).

Jasnaja Poljana, 8. Juli 1908 Ich habe Ihren Brief erhalten, lieber Bruder Ivan Il’iˇc, und ihn freudig ergriffen gelesen. Er ist ganz durchdrungen von einem wahrhaft christlichen Gefühl von Liebe, und daher war er mir besonders teuer. Über mich selbst sage ich Ihnen Folgendes. In einer arabischen Verserzählung findet sich folgende Legende:1 Auf seiner Wanderschaft durch die Wüste hörte Moses, als er sich einer Herde näherte, wie der Hirte zu Gott betete. Der Hirte betete folgendermaßen: »O Herr, könnte ich nur zu dir gelangen und dein Knecht werden. Mit welcher Freude würde ich dir die Schuhe anziehen, deine Füße waschen und sie küssen, dir die Haare kämmen, deine Kleidung säubern, deine Wohnstatt reinigen und dir Milch von meiner Herde bringen. Mein Herz verlangt nach dir.« Als Moses diese Worte vernahm, packte ihn der Zorn auf den Hirten, und er sagte: »Du bist ein Gotteslästerer, Gott ist ohne Körper, er braucht weder Kleidung noch Wohnstatt noch Dienerschaft. Du redest schlecht.« Das Herz des Hirten verdüsterte sich. Er konnte sich kein Wesen ohne körperliche Form und ohne körperliche Bedürfnisse vorstellen, und er konnte nicht 1 Diese Legende des persischen Mystikers Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207–1273), auf die Tolstoj im Moskovskij sbornik (Moskau 1897) gestoßen war, hat er wiederholt zitiert, u.a. auch im Kapitel »Gott« in seiner Sammlung Der Weg des Lebens.

Brief an I.I. Solov'ev (1908)

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mehr beten und dem Herrn dienen und geriet in Verzweiflung. Da sprach Gott zu Moses: »Warum hast Du mir meinen treuen Knecht abspenstig gemacht? Jeder Mensch hat seinen Körper und seine Art zu reden. Was für dich nicht gut ist, ist für den anderen gut, was für dich Gift ist, ist für den anderen süßer Honig. Worte bedeuten nichts. Ich sehe das Herz desjenigen, der sich mir zuwendet.« Diese Legende gefällt mir sehr, und ich würde Sie bitten, mich wie diesen Hirten anzusehen. Ich sehe mich selbst auch so an. Unser ganzes menschliches Verständnis von ihm wird immer unvollkommen bleiben. Doch ich hege die Hoffnung, dass mein Herz so ist wie das dieses Hirten, und daher fürchte ich, das zu verlieren, was ich habe und was mir völlige Ruhe und Glück gibt. Sie sprechen über die Vereinigung mit der Kirche. Ich denke, dass ich nicht irre in der Annahme, mich niemals von ihr getrennt zu haben – und zwar nicht von einer der Kirchen, die trennen, sondern von der, die stets alle, alle Menschen, die Gott aufrichtig suchen, vereinte und vereint, angefangen von diesem Hirten bis hin zu Buddha, Laotse, Konfuzius, den Brahmanen, Christus und vielen anderen. Von dieser weltumfassenden Kirche habe ich mich niemals getrennt, und ich fürchte mehr als alles auf der Welt, mich von ihr zu trennen. Ich danke Ihnen sehr für Ihren liebevollen Brief und drücke Ihnen brüderlich die Hand. 8. Juli 1908 Lev Tolstoj

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Drei Tage (aus der Sammlung Für jeden Tag)

Die Idee, ein Buch mit Leseportionen für die tägliche Lektüre zusammenzustellen, kam Tolstoj schon früh. 1903 gab er die Gedanken weiser Leute für jeden Tag heraus, 1905 folgte die erste Auflage des Lesezyklus. Doch noch immer sah Tolstoj sein Ideal nicht verwirklicht: »Religionsunterricht in Form von Gedanken für jeden Tag, wie in den Gedanken weiser Menschen, nur vereinfacht, für ein Kind verständlich und in einer Abfolge, die sich an der Wichtigkeit orientiert: über Gott, über die Seele, über das Leben etc.« Eine wichtige Inspirationsquelle für Tolstoj war der tägliche Umgang mit seinem Enkel Fedor Suchotin, später begann Tolstoj auch die Bauernkinder in Jasnaja Poljana systematisch in Religion zu unterrichten. Während sich der Lesezyklus an Erwachsene richtete und die Leseportionen der einzelnen Tage nicht pädagogisch aufeinander abgestimmt waren, so sollte die neue Sammlung eine Art religiöses Lesebuch für Kinder werden als Alternative zum schulisch-kirchlichen Religionsunterricht mit seinem schädlichen Einfluss auf die kindliche Seele. Diese Konzeption gab Tolstoj im Laufe der Arbeit, die sich bis 1910 hinzog und die er nicht mehr ganz zu Ende führen konnte, allerdings wieder auf. Geblieben ist das Prinzip, dass einzelne Texte und Sprüche aufeinander aufbauen und dem Leser ein geschlossenes Weltbild vermitteln sollen. Die Quellen, die Tolstoj für seine Sammlung benutzte, waren sehr umfangreich, von Xenophon bis Schopenhauer spannt er einen weiten Bogen über die westliche (und östliche) Gelehrsamkeit, wobei festzuhalten gilt, dass sich Tolstoj bei seinen Übersetzungen und Adaptionen sehr große Freiheiten nahm. Für die vorliegende Ausgabe wurden Gedanken und Texte ausgewählt, die von Tolstoj selbst stammen. Der erste Teil der Sammlung erschien 1909 in Russland, der zweite 1910, in beiden Teilen kam es allerdings zu zahlreichen zensurbedingten Auslassungen. Die übersetzten Auszüge aus Für jeden Tag folgen dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 43–44).

15. Januar 1 Denke stets daran, dass in jedem Menschen derselbe Gott wohnt, der auch in dir wohnt, und deshalb vergiss nicht, wenn Du einem Menschen begegnest, wer immer er auch sei, dass es nichts Höheres und Wichtigeres auf der Welt gibt als das, was in diesem Menschen ist. Deshalb muss man, wie schlimm es um ihn auch steht, den Menschen selbst, wer immer er auch sei, ehren wie Gott und lieben wie sich selbst und für ihn das tun, was man sich selbst wünschen würde, wäre man an seiner Stelle.

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2 Man benennt die Menschen: die einen mit Eure Exzellenz, Euer Erlaucht, Euer Wohlgeboren, Eure Hoheit, gnädiger Herr, Väterchen, mein Herr, aber nur eine Benennung passt für alle und beleidigt niemanden. Diese Benennung ist: Bruder. Diese Benennung ist auch deshalb gut, weil sie uns an jenen Vater erinnert, durch den wir alle Brüder sind.

3 Die Fähigkeit von Menschen, die in einer staatlichen Struktur vereint sind, ohne Gewissensbisse Taten zu begehen, die wider das Gewissen sind, gründet vorwiegend im Irrtum von der Ungleichheit der Menschen und in dem sich daraus ergebenden Rausch von Macht und Unterwürfigkeit.

4 Jeder weiß unzweifelhaft und sicher, mit seinem ganzen Wesen, dass alle Menschen gleich sind, und sieht dabei um sich herum die Trennung der Menschen in zwei Kasten: die arbeitende, unterdrückte, bedürftige und leidende Kaste einerseits, die müßige, unterdrückende, im Überfluss schwelgende und sich amüsierende Kaste andererseits; und mehr noch, er sieht diese Trennung der Menschen, die sein Bewusstsein ablehnt, nicht nur, sondern er wirkt wohl oder übel von der einen oder anderen Seite her daran mit und kann nicht umhin, an dem Bewusstsein dieses Widerspruchs und seiner Mitwirkung daran zu leiden.

5 Die Menschen des Altertums und sogar jene des Mittelalters glaubten fest daran, dass die Menschen nicht gleich seien, dass nur Perser, nur Griechen, nur Römer oder nur Franzosen echte Menschen seien; wir aber können daran nicht mehr glauben. Und die Menschen, die sich in der heutigen Zeit so eifrig für Aristokratismus und Patriotismus einsetzen, glauben nicht, können nicht glauben, was sie sagen.

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6 Niemand setzt wahre Gleichheit im Leben so um wie Kinder. Und wie verbrecherisch sind die Erwachsenen, die in ihnen dieses heilige Gefühl zerstören, wenn sie ihnen beibringen, dass es Könige, reiche Leute und Berühmtheiten gibt, denen man mit Respekt begegnen muss, und dass es Diener, Arbeiter und Bettler gibt, denen man mit Herablassung begegnen soll. »Wer aber ärgert dieser Geringsten einen …«1 7 Das Christentum wurde ebenso verfälscht wie alle anderen Religionen, nur mit dem Unterschied, dass man, weil das Christentum mit besonderer Deutlichkeit seinen Grundsatz der Gleichheit aller Menschen als Kinder Gottes verkündete, die ganze Lehre besonders stark verfälschen musste, um ihren Grundsatz zu verbergen.

2. August 1 Damit der Mensch ein echter Mensch sein kann, muss er verstehen, dass Gott in ihm wohnt. 2 Wir staunen über gewaltige Berge, über die Größe der Sonne und der Sterne. Doch alle diese großen Dinge sind nichts im Vergleich zu dem, was all dies erkennt: all dies ist nichts im Vergleich zu unserer Seele. Das Machtvollste auf der Welt ist das, was nicht sichtbar, nicht hörbar ist und was man nicht anfassen kann: der Geist im Menschen. 3 Geistige Kraft liegt in allem, die größte ihrer Ausdrucksformen aber, die wir in dieser Welt kennen, ist ihr Ausdruck im Menschen; damit sie aber wirken kann, muss der Mensch sie anerkennen. Wenn er das nicht tut, wird der Mensch, der das Beste schaffen kann, zwangsläufig Nichtiges und Böses schaffen. 1 Mt 18,6.

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4 Wenn der Mensch anerkennt, dass alles, was er ringsum sieht, die ganze endlose Welt, sicher existiert, wie kann er dann das nicht anerkennen, was tatsächlich existiert und das, durch das er alles anerkennt, was ist: seinen geistigen Ursprung.

5 Unser Leben ist das Bewusstsein von uns selbst als ewiger, unendlicher, d.h. zeitloser und raumloser Geist, begrenzt durch die Bedingungen zeitlicher und räumlicher Phänomene.

6 Mein Leben, jedes Leben ist das Bewusstsein von mir selbst als einem geistigen und deshalb unendlichen, grenzenlosen Wesen. Dass ich bin, erkenne ich anhand der Grenzen, die mich von allem abtrennen, und diese Grenzen kann ich mir nicht anders vorstellen denn als Materie; diese Grenzen sind mein Körper und alles, was mich umgibt. Dass ich der Ausdruck eines geistigen, folglich unendlichen, grenzenlosen Wesens bin, erkenne ich anhand der Änderung und der Bewegung, die in mir und außerhalb von mir vorgeht, eine Bewegung, die mich mit allem verbindet und der Kern des Lebens ist. Wie Materie nicht für sich selbst existiert, sondern nur das ist, was mich von allem, folglich von dem unendlichen und grenzenlosen Wesen trennt, so existieren auch die Veränderungen der Bewegung, die innerhalb meiner Grenzen und außerhalb davon geschehen, nicht für sich allein, sondern sie sind nur das, was mich, getrennt von allem, mit dem verbindet, von dem ich getrennt bin. Wie Materie nur deshalb existiert, weil ich getrennt bin, es also keinerlei Materie gäbe, wenn ich nicht wäre, so gibt es auch Bewegung nur deshalb, weil ich mich mit allem verbinde, sodass es keinerlei Bewegung gäbe, wenn ich mich nicht mit allem verbinden würde. Daher sehe ich mich selbst als Materie in Bewegung.

7 Das Gewissen ist das Bewusstsein unseres geistigen Ursprungs. Und nur als ein solches Bewusstsein ist es ein zuverlässiger Führer für das Leben der Menschen. Aber häufig sehen die Menschen nicht das Bewusstsein ihres

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geistigen Ursprungs als Gewissen an, sondern das, was diejenigen, mit denen sie leben, für gut oder schlecht halten.

8 Welche Freude, Gott in sich zu erkennen. Darin, nur darin liegt das Leben. Du erkennst in dir ein freies, vernünftiges, liebendes und deshalb seliges Wesen. Wie soll man sich darüber nicht freuen?

9 Je mehr du an Gott glaubst und Ihn verstehst, desto mehr und mehr entfernt Er sich von dir, als Ursprung von allem, und zugleich verschmilzt er mehr und mehr mit dir in deiner Seele.

10 Nichts ist als ich und Du. Wenn wir zwei nicht wären, dann wäre nichts auf der Welt. Angelus Silesius2

3. November 1 Christi Lehre besteht darin, dass alle Menschen Kinder eines Vaters und daher Brüder sind.

2 Je länger die Menschen leben, desto mehr und mehr verstehen sie, dass ihr Leben nur dann wahrhaft und glücklich ist, wenn sie ihre Einigkeit in ein und demselben Geist anerkennen, der in allen wohnt.

2 Paraphrase der folgenden Stelle aus dem Zweiten Buch des Cherubinischen Wandersmanns von Angelus Silesius: »Nichts ist als ich und du; und wenn wir zwei nicht sein, So ist Gott nicht mehr Gott und fällt der Himmel ein.« (Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke in drei Bänden, Bd. 3, München 1952, 62).

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3 In Einheit mit den Menschen zu sein, ist ein großes Heil, aber wie erreicht man es? Wie macht man es, sich mit allen Menschen zu vereinigen? Es gibt so viele Menschen, und die Menschen sind so verschieden. Ich vereinige mich mit den Menschen meiner Familie, aber was ist mit den übrigen? Ich vereinige mich mit meinen Freunden, mit allen Russen, mit allen Glaubensgenossen, mit allen mir im Geiste Nahestehenden. Aber was ist mit denjenigen, die ich nicht kenne, mit den anderen Völkern, mit den Andersgläubigen? Es gibt so viele Menschen, und sie alle sind verschieden. Was also tun? Es gibt nur ein Mittel: die Menschen zu vergessen, nicht daran zu denken, sich mit ihnen zu vereinigen, sondern daran zu denken, sich mit dem Geist zu vereinigen, der in allen Menschen und in mir wohnt. Denn wenn ich mich mit ihm vereinige, dann vereinige ich mich mit allen Menschen, wie auch immer sie sind, wo und wann sie auch sind.

4 Alle Wesen erscheinen auf den ersten Blick für sich selbst, getrennt von allen anderen. Doch ist das Leben aller Menschen, voneinander getrennt, sinnlos. Nur das Bewusstsein der Einigkeit mit allem gibt dem menschlichen Leben einen Sinn. Das Leben des Menschen, der sich als vollkommen getrennt sieht, das heißt nur für sich selbst lebend, ist vollkommen sinnlos. Ein solcher Mensch ist völlig verrückt. Wir sind in Wahrheit nur dann, wenn wir unser Leben als Teil des allgemeinen Lebens verstehen.

5 Wie leicht sich alles auflöst, wenn die Menschen sich nicht unzählige Lebensziele setzen, bei deren Erreichung sie einander in die Quere kommen, sondern nur eines – ein Ziel, bei dem sie alle einander helfen würden. Ein solches Ziel gibt es. Dieses Ziel ist, dass jeder Mensch so viel wie möglich durch jenen geistigen Ursprung lebt, der in jedem Menschen angelegt ist und der die Menschen nicht trennt, sondern sie alle vereint.

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6 Warum hat der Mensch Mitleid mit einem anderen, warum hat er Mitleid mit einem Tier? Nur deshalb, weil er spürt, dass das, was Leben gibt, der geistige Ursprung, derselbe ist in allen Menschen und Tieren.

7 Wenn es dem Menschen schlecht geht, dann kann er nirgendwo besser Zuflucht suchen als in sich selbst, in seinem geistigen Ursprung.

8 Alle Nöte der Menschen rühren nur von ihrer Blindheit, daher, dass sie jenen Gott nicht sehen, der in ihnen wohnt.

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Gleichnisse (aus der Sammlung Für jeden Tag)

1 Ein Herr hatte einen Knecht. Er lebte im selben Haus wie der Herr und sah seinen Herrn viele Male am Tag. Der Knecht arbeitete immer weniger und weniger und wurde zum Schluss so träge, dass er überhaupt nichts mehr tat. Der Herr sah das, sagte aber nichts, sondern wandte sich nur jedes Mal ab, wenn er dem Knecht begegnete. Der Knecht sah, dass der Herr unzufrieden mit ihm war, und kam auf den Gedanken, seinen Herrn zu beschwichtigen, auch ohne zu arbeiten. Er ging zu den Bekannten und Freunden seines Herrn und bat sie, sich dafür zu verwenden, dass sein Herr ihm nicht mehr zürne. Der Herr erfuhr davon, rief den Knecht und sagte: »Warum bittest du die Menschen, sich für dich einzusetzen? Du bist doch immer mit mir zusammen und kannst mir selbst sagen, was du willst.« Der Knecht wusste nichts zu sagen und ging fort. Daraufhin dachte er sich etwas anderes aus: Er sammelte Eier, die dem Herrn gehörten, und fing ein Huhn, das dem Herrn gehörte, und brachte alles dem Herrn als Geschenk, damit der Herr ihm nicht mehr zürne. Da sagte der Herr: »Erst bittest du meine Freunde, sich für dich zu verwenden, während du selbst geradeheraus mit mir sprechen könntest. Und jetzt fällt dir ein, mich mit Geschenken für dich einzunehmen. Doch alles, was du hast, ist meins. Und wenn du mir auch das Deine bringen würdest, bräuchte ich deine Geschenke doch nicht.« Da fiel dem Knecht etwas Drittes ein: Er dichtete Verse zum Ruhme des Herrn, ging unter den Fenstern des Herrn hin und her und rief und sang laut seine Verse, in denen er den Herrn groß, allgegenwärtig und allmächtig nannte und ihn als Vater, gnädigen Herrn und Wohltäter bezeichnete. Da rief der Herr den Knecht erneut und sagte: »Erst willst du mich durch andere Menschen beschwichtigen, dann damit, dass du mich mit meinem Gut beschenkst, jetzt hast du etwas noch Wunderlicheres ausgedacht: zu schreien und zu singen davon, wie allmächtig, gnädig und dergleichen ich sei. Du schreist und singst über mich, ich sei so und so, dabei kennst du mich nicht und kannst mich nicht kennen. Ich brauche es nicht, dass andere Menschen für dich eintreten, ich brauche deine Geschenke, deine Lobgesänge darüber, was du nicht wissen kannst, nicht – ich brauche von dir nur eines: deine Arbeit.« Das Gleiche wie dieser Arbeiter machen die Menschen, die zu den Heiligen beten und sie bitten, sich für sie vor Gott zu verwenden, und das Gleiche

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machen sie, wenn sie Gott mit Altarlämpchen und allerlei Opfern, mit dem Bau von Kirchen und mit Lobgesängen auf Ihn für sich einnehmen wollen. Die Lehre Christi besteht darin, dass es zwischen Gott und den Menschen keinerlei Vermittler geben kann, und dass Gott keine Gaben, sondern unsere guten Taten braucht. Das ist das ganze Gesetz Gottes.

2 Es war ein Wohltäter, der wollte den Menschen so viel wie möglich Gutes tun, und er begann zu überlegen, wie er das anstellen könne, damit er niemanden kränke und damit es allen Nutzen brächte. Wollte man das Gute direkt austeilen, wüsste man nicht, wem man etwas geben sollte, wer es am meisten verdiente; und man kann nicht alle gleich behandeln, diejenigen, denen nichts zuteil wird, werden sagen: »Warum hast du denen gegeben und nicht uns?« So kam der Wohltäter auf den Gedanken, an einem Ort, wo viel Volk ist, eine Herberge zu errichten und darin alles, was dem Menschen nur zum Nutzen und Vergnügen sein konnte, zu versammeln. Und der Wohltäter baute in der Herberge warme Kemenaten und gute Öfen, er spendete Feuerholz und Beleuchtung, errichtete Speicher, mit allerlei Getreide gefüllt, und Kellergewölbe mit Gemüse, Tee, Zucker und Kwas, mit Äpfeln und allerlei Speisen, er gab Betten und Bettzeug und Kleidung, Wäsche und Schuhe, und von allem so viel, dass es für hundert und mehr Menschen reichte. So machte es der Wohltäter, dann ging er selbst fort und wartete, was geschehen würde. Und es kamen gute Menschen, sie aßen, tranken, übernachteten, verweilten vielleicht auch einen Tag, zwei Tage oder eine Woche. Vielleicht nahmen sie einmal, wenn sie bedürftig waren, etwas von dem Schuhwerk und der Kleidung, aber sie hinterließen alles so, wie es zuvor war, damit andere, die vorbeikamen, den Ort auch benutzen konnten, und sie gingen weiter und wussten dem unbekannten Wohltäter nur zu danken. Doch dann kamen dreiste, freche, schlechte Menschen in die Herberge. Sofort rafften sie alles, was da war, für sich zusammen, und es erhob sich unter ihnen ein Streit wegen des Gutes. Es kam zum Handgemenge, sie nahmen einander das Gut gegenseitig weg, zerstörten es mutwillig, nur damit ein anderer es nicht bekäme. Und als sie es so weit getrieben hatten, dass sie alles, was da war, zerstört hatten und selbst froren und Hunger litten und einander beleidigten, begannen sie, auf den Herrn zu schimpfen, warum er es so schlecht eingerichtet, keine Wachen aufgestellt, zu wenig Güter bereitgestellt und allerlei Gesindel hereingelassen habe. Andere aber sagten, es gebe gar keinen Herrn, die Herberge habe sich selbst errichtet.

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Und so verließen diese Menschen die Herberge hungrig, kalt, wütend und hatten nichts Besseres zu tun, als einander, die Herberge und den, der sie errichtet hatte, auf alle erdenkliche Weise zu beschimpfen. Das Gleiche machen die Menschen auf der Welt, wenn sie nicht auf göttliche Weise leben: Sie zerstören ihr Leben und das Leben anderer Menschen, aber sie verurteilen nicht sich selbst, sondern die anderen oder Gott, weil er die Welt so schlecht eingerichtet habe, oder die Welt selbst, die sich ihrer Meinung nach von selbst ohne Gott eingerichtet hat. Wenn die Menschen nur verstehen, dass die Welt sich nicht selbst errichtet hat, sondern dass der Wohltäter – Gott – sie zu ihrem Wohl errichtet hat, wenn sie nur nichts tun, was ihr Leben zerstört und verdirbt, dann wird ihnen ein solches Wohlergehen zuteil, wie es kein größeres gibt und geben kann.

3 Ein Herr nahm einen Knecht in Dienst, wies ihm Arbeit zu und fuhr selbst weg. Dieser Arbeiter lebte schlecht: Er gab weder auf sich selber Acht noch auf den Besitz des Herrn. Er trank und führte ein ausschweifendes Leben und verschwendete und verdarb das Gut des Herrn für nichts und wieder nichts. Und sein Leben wurde schlechter und schlechter. Und eines Nachts erinnerte sich der Knecht, dass der Herr, als er ihn in Dienst nahm, ihm einen Brief gegeben und gesagt hatte: »Wenn dir das Leben schwer erscheint, öffne den Brief und lies, was darin geschrieben steht, und das Leben wird dir leichter werden.« Der Knecht öffnete den Brief und las ihn durch. In dem Brief hieß es, er, der Knecht, sei kein fremder Mensch, sondern der Sohn des Herrn, und alles, was ihm aufgegeben worden sei, sei sein Eigentum, sei für ihn zurückgelegt und werde ihm hinterlassen. Der Knecht freute sich und erschrak darüber, was er getan hatte. Und als er erfuhr, dass er nicht fremd, sondern der Sohn des Herrn war, änderte er sein Leben. Seit der Zeit besserte er sich selbst und die Angelegenheiten des Herrn, und sein Leben wurde besser und besser. So sind auch die Menschen auf der Welt. Sie leben und darben und entweihen sich selbst durch allerlei Laster, und sie verderben ihr Leben, solange sie nicht verstehen, wessen Kinder sie sind. Wenn sie aber zu verstehen beginnen, dass in ihnen der Geist Gottes wohnt, beginnen sie auch, Gott in den anderen Menschen zu lieben und zu ehren. Und wenn sie beginnen, Gott in den anderen Menschen zu ehren und zu lieben, dann wird auch ihr Leben von einem darbenden zu einem guten und freudvollen.

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4 Es lebte ein Arbeiter in der Stadt, und er bekam frei und ging nach Hause. Am Stadtausgang begegnete er jemandem, der zufällig des Weges kam. Und der sagte: »Lass uns zusammen gehen, ich muss in dieselbe Richtung, und ich kenne den Weg gut.« Der Arbeiter glaubte ihm, und sie gingen zusammen weiter. Sie gingen eine Stunde, zwei, und dem Arbeiter schien, der Weg sei nicht der, auf dem er in die Stadt gekommen sei. Und er sagte: »Soviel ich mich erinnere, ist das nicht der richtige Weg.« Der andere sagt: »Das ist wirklich der kürzeste Weg. Glaube mir, ich weiß es wohl.« Der Arbeiter hörte auf ihn und folgte ihm. Und je weiter er kam, desto schlechter und schlechter wurde der Weg, und desto schwerer und schwerer war es zu gehen. Der Arbeiter hatte schon alles verbraucht und verzehrt, was er verdient hatte, und noch immer war er nicht zu Hause. Doch je weiter er ging, desto mehr glaubte er, und am Ende war er selbst überzeugt, dass es der richtige Weg war. Und er war deshalb überzeugt, weil er nicht umkehren wollte und immer hoffte, er werde auch auf diesem Wege ankommen. Und so irrte der Arbeiter fern von zu Hause umher, und er litt lange Not. So ergeht es denjenigen, die nicht auf die Stimme des Geistes in sich hören, sondern fremden Worten über Gott und sein Gesetz glauben.

5 Häufig mühen die Menschen sich sehr darum, ihr Leben aufzusparen und es nicht zu vergeuden, und sie sind betrübt, dass ihr Leben weniger wird und vergeht. Ein Herr sandte den Kommis im Frühling auf sein Gut und gab ihm Geld, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Anstatt aber Arbeiter und Ackersleute einzustellen, Samen zu kaufen, das Feld zu säen, die Gärten umzugraben und die Gebäude auszubessern, bewahrte der Kommis Tag und Nacht das Geld des Herrn, er legte die Goldstücke von einer Stelle an die andere, zählte sie, wusch sie mit Seife und reinigte sie mit einer Bürste. Und als der Herr kam und sah, dass die Gebäude verfielen, die Felder nicht gepflügt und nicht eingesät waren, rief er den Kommis und fragte: »Was hast du mit meinem Geld gemacht?« Da holte der Kommis das Geld und brachte dem Herrn die glattgestrichenen Scheine und die gewaschenen Goldstücke. »Alles deins«, sagte er, »das Geld ist vollständig da, ich habe nur das Nötigste für mich selbst ausgegeben.«

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»Ein Narr bist du, ein Narr«, sagte der Herr. »Wozu habe ich dich ernährt, wenn du nichts getan hast und meinen ganzen Besitz hast verkommen lassen. Geh dahin, woher du gekommen bist, ich kann solche Narren nicht gebrauchen.« Das Gleiche gilt für Menschen, die ihren Körper und ihre Gesundheit schonen. Körper und Gesundheit sind ihnen nur gegeben, um sie bei der Arbeit für den Herrn, für Gott, zu verwenden. Dumme Menschen aber meinen, sie seien ihnen gegeben, um sie zu schonen. Der Körper des Menschen ist wie das Eis im Frühjahr. Zu trauern, dass der Körper altert und schwach wird, ist das Gleiche, wie zu trauern, dass die Sonne wärmt und das Eis schmilzt.

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Aphorismen (aus der Sammlung Für jeden Tag)

Nichts verzögert die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden so sehr wie die Tatsache, dass die Menschen es durch Taten errichten wollen, die ihm entgegenstehen: mit Gewalt. »Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.«1 Das bedeutet, dass man besser zweimal das einem angetane Übel erträgt, als selbst das gleiche Übel jemand anderem zuzufügen. Man sollte meinen, es sei klar, dass Böses das Böse nicht vernichten, sondern nur vermehren kann. Indes handeln wir sowohl aufgrund unserer Bosheit als auch aufgrund der Lehre davon, dass es nützlich sei, Menschen zu bestrafen, gerade im Widerspruch zu dem, was wir tun müssten, und indem wir Böses mit Bösem vergelten, vermehren wir nur das, von dem wir uns befreien wollen. Dass unser Leben von einem christlichen sehr weit entfernt ist, ist daran ersichtlich, dass Strafe sowohl in der Erziehung der Kinder als auch im Leben der Erwachsenen als eine nützliche Sache gilt. Das Gesetz Christi hingegen befiehlt nicht nur zu verzeihen, sondern auch Böses mit Gutem zu vergelten. Wir aber nehmen diese Worte als Scherz und tun weiterhin stets das Gegenteil. Wenn ein Hund von einem anderen gebissen wird oder wenn man ihn schlägt, beißt er um sich. So auch der Mensch: Im ersten Moment will er einen Schlag mit einem Schlag vergelten, und häufig handelt er auch danach. Wie unvernünftig solche Handlungen auch sind, einem vernünftigen Menschen, besonders einem Christen, fügen sie tausendmal weniger Schaden zu als die Lehre davon, dass man die Menschen, die Unrecht tun, bestrafen muss. Diese falsche Lehre führt zu Prügeleien, Gerichtsverhandlungen, Gefängnissen, Hinrichtungen und Kriegen.

1 Mt 5,38f.

Aphorismen

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Die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bei den Heiden bildeten Vergeltung und Gewalt. So musste es auch sein; die Grundlage unserer christlichen Gesellschaft, sollte man meinen, müssten notwendig Liebe und Ablehnung von Gewalt sein. Indes herrscht noch immer Gewalt. Warum ist das so? Das ist so, weil das, was unter dem Namen der Lehre Christi gepredigt wird, nicht diese Lehre ist. *** Gott spüren kann jeder, aber Ihn erkennen kann niemand. Trachte daher nicht danach, Ihn zu erkennen, trachte immer lebhafter danach, Ihn in dir selbst zu fühlen. Man kann Gott nur in sich selbst erkennen. Solange du Ihn nicht in dir selbst findest, findest du Ihn nirgends. Suche Gott nicht in den Kirchen. Er ist dir nahe, Er ist in dir. Er wohnt in dir. Gib dich Ihm hin, und du erhebst dich höher als Glück und Unglück. In jedem guten Menschen wohnt Gott. Jemand macht mit diesem Leben der ganzen Welt und mit unserem Leben seine eigene Sache. Der, der das macht, ist auch das, was wir Gott nennen. *** Die Menschen sagen über Gott, dass Er im Himmel wohnt; sie nennen Gott den himmlischen König und sagen ebenso über Gott, dass er im Menschen wohnt. »Oder ist in dir kein Gott?«, sagt man einem Menschen, wenn er Unrecht tut. Und das ist wahr. Das, was wir Gott nennen, sehen wir in den Himmeln und in jedem Menschen. Wenn du in einer Winternacht in den Himmel blickst, siehst du die Sterne, lauter Sterne, einen nach dem anderen, und es nimmt kein Ende. Und wenn du denkst, dass jeder dieser Sterne um viele, viele Male größer ist als diese Erde, auf der wir leben, und dass hinter jenen Sternen, die wir sehen, noch Hunderte, Tausende, Millionen ebensolcher und noch größerer Sterne sind und dass weder die Sterne noch der Himmel ein Ende nehmen, dann verstehst du, dass es etwas gibt, das wir nicht verstehen können. Und dieses etwas – das, was wir nicht verstehen können – ist das, was wir Gott nennen. Wenn du aber in dich hineinsiehst, dann siehst du in dir das, was wir uns selbst nennen, unsere Seele. Diese Seele kann man weder berühren noch hö-

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Lev Tolstoj

ren, weder sehen noch verstehen, doch wir kennen sie untrüglicher als alles andere, und durch sie kennen wir alles, was ist. Und dieses Unverständliche und alles Verstehende in unserer Seele nennen wir ebenfalls Gott. Wir erkennen also Gott außerhalb von uns, in der körperlichen Unendlichkeit, die wir um uns herum sehen, und in der geistigen Unendlichkeit, die wir in unserer Seele spüren. *** Wer sagt, er liebe Gott, aber seinen Nächsten nicht liebt, der täuscht die Menschen.2 Der aber, der sagt, er liebe seinen Nächsten, jedoch Gott nicht liebt, der täuscht sich selbst. *** Zu fragen, ob es Gott gibt, ist das Gleiche wie zu fragen, ob es mich selbst gibt. Ich kenne Gott in mir. Das, wodurch ich lebe, ist Gott. *** Wahrhaft kennt der Mensch das Gesetz Gottes erst dann, wenn er das tut, was er für das Gesetz Gottes hält. Der echte Glaube besteht nicht darin zu wissen, an welchen Tagen man Fastenspeisen essen oder an welchen Tagen man in die Kirche gehen und welche Gebete hören oder lesen muss, sondern darin, nicht nur an den Feiertagen, sondern stets ein gutes Leben in Liebe mit allen zu führen und sich seinen Nächsten gegenüber immer so zu verhalten, wie man sich wünscht, dass die Menschen sich einem selbst gegenüber verhalten.3 Darin besteht der wahre Glaube. Diesen Glauben haben alle wahrhaft Weisen und diejenigen Menschen aller Völker, die ein heiliges Leben führten, stets gelehrt. *** Wenn ein Kind nicht weiß, dass es ein Herz hat, dann bedeutet das nicht, dass es kein Herz hat. Ebenso verhält es sich mit der geistigen Kraft. Wenn der Mensch die geistige Kraft in sich nicht kennt, so bedeutet das nicht, dass er sie nicht in sich hat. 2 Vgl. 1 Joh 4,20. 3 Vgl. Mt 7,12.

Aphorismen

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Der Mensch kennt sich nicht. Das, was er für sich selbst hält, ist zum größten Teil nicht er. Der Mensch erkennt sich erst dann, wenn er versteht, dass er nicht durch den Körper, sondern durch den Geist lebt. Der Mensch ist ein geistiges, sich veränderndes, von anderen Wesen getrenntes Wesen. Die Veränderungen im menschlichen Wesen geben eine Vorstellung von der Bewegung; die Trennung des menschlichen Wesens von anderen Wesen gibt eine Vorstellung von der Materie. Das Verhältnis der eigenen Bewegung zur Bewegung außerhalb erscheint dem Menschen als Zeit; die Beziehung seines getrennten Körpers zum Körper der anderen Wesen erscheint dem Menschen als Raum. Also gibt es weder Zeit noch Raum, es gibt nur die Vorstellung von der Beziehung der einzelnen Wesen untereinander. Dass wir die Welt in einer endlosen Zeit und einem endlosen Raum denken, zeigt lediglich, dass wir die Welt nicht kennen können, sondern wir können nur unsere Beziehung zu anderen Wesen kennen. Wenn es Bewegung gibt – und wir sind uns der Bewegung des Lebens bewusst –, dann kann es Bewegung nur in Bezug auf etwas Unbewegliches geben. Dieses Unbewegliche ist auch das geistige Ich, das das sich bewegende Leben betrachtet. Jedes Wesen bewegt sich zusammen mit allem und ist zugleich unbeweglich wie das Bewusstsein. Aus diesem Gegensatz besteht das Leben. Schritte nähern sich der Tür. Ich frage: »Wer ist da?« Die Antwort lautet: »Ich.« »Wer ist ich?« »Na ich«, antwortet ein Bauernjunge. Er wundert sich, dass man fragen kann, wer dieses Ich ist. Er wundert sich, weil er in sich das spürt, was in allen gleich ist und daher allen bekannt sein muss. Er gibt eine Antwort zu seinem geistigen Ich, ich hingegen frage nach dem Fensterchen in der Tür, durch das dieses Ich blickt. Für die Anleitung zu einem guten Leben muss man überhaupt nicht wissen, was Gott ist, was im Jenseits sein wird usw. Das Gute ist schließlich nur dann gut, wenn es ohne jegliche Aussicht auf Belohnung getan wird, allein um des Guten willen, daher kann man es tun, ohne über Gott und das ewige Leben zu philosophieren. Man muss nur anfangen, es so zu tun, dann wird man sehen, dass das, was einen zum Guten bewegt und einem die Freude daran gibt, Gutes zu tun, Gott ist, der in dir wohnt. Wenn der Mensch nicht die Kraft Gottes in sich spürt, beweist das nicht, dass Gottes Kraft nicht in ihm wohnt, sondern nur, dass der Mensch noch nicht gelernt hat, sie in sich zu erkennen. ***

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Der Tod, der Tod, der Tod erwartet euch jede Sekunde. Euer Leben vollzieht sich im Angesicht des Todes. Wenn ihr für eure persönliche Zukunft arbeitet, dann wisst ihr selbst, dass es in der Zukunft für euch nur eines gibt: den Tod. Und dieser Tod zerstört all das, wofür ihr gearbeitet habt. Folglich kann das Leben für sich keinerlei Sinn haben. Wenn es ein vernünftiges Leben gibt, dann muss es eines sein, dessen Ziel nicht im Leben für sich in der Zukunft liegt. Um vernünftig zu leben, muss man so leben, dass der Tod das Leben nicht zerstören kann. Vom Tag der Geburt an erwartet den Menschen der unausweichliche Untergang, d.h. ein sinnloses Leben und ein sinnloser Tod, wenn er nicht ein Leben findet, das durch den Tod nicht zerstört wird. Und ein solches wahres Leben offenbart Christus den Menschen. Er zeigt den Menschen, dass neben dem persönlichen Leben, das eine offensichtliche Täuschung ist, ein anderes, wahres Leben existiert, das dem Menschen Heil gibt, ein Leben, das jeder Mensch in seinem Herzen kennt. Das ist das Leben der Liebe. Die Lehre Christi ist die Lehre vom trügerischen Charakter des persönlichen Lebens, von der Abkehr davon und der Übertragung von Sinn und Ziel des Lebens in das Leben der ganzen Menschheit, in das Leben des Menschensohnes. *** Wenn die Menschen lehren, dass man in diesem Leben für das künftige Leben leben müsse, glaubt ihnen nicht. Wir kennen und leben nur dieses Leben. Und daher muss man alle Kräfte darauf richten, dass dieses Leben, jede Stunde dieses Lebens so gut wie möglich gelebt wird. Wahres Leben ist nur in der Gegenwart. Das, was war, ist nicht mehr; auch das ist nicht, was sein wird; nur das ist, was jetzt ist. Und um jetzt gut zu leben, danach muss man vor allem streben. Die Zeit ist hinter uns, die Zeit ist vor uns, sie ist nicht bei uns. *** Das Leben jetzt, in der Gegenwart, ist der Zustand, in dem Gott in uns wohnt. Deshalb ist der gegenwärtige Moment im Leben kostbarer als alles andere. Verwende alle Kräfte der Seele darauf, diesen Moment nicht unnütz verstreichen zu lassen und jenen Gott nicht vor dir zu verbergen, der sich in dir zeigen könnte. ***

Aphorismen

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Gibt es ein künftiges Leben? Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass es Gott gibt, jenen geistigen Ursprung, nach dessen Willen ich in dieses zeitweilige Leben getreten bin und in ihm lebe. Enden wird dieses zeitweilige Leben auch nach seinem Willen. Folglich werde ich wieder in Seinem Willen sein. Also: Aus Dir bin ich hervorgegangen und zu Dir gehe ich; oder eher: Ich war immer in Dir und bleibe in Dir. Darin liegt die Antwort, wenn dich die Nähe des Todes bedrückt. Bisweilen – und gerade, wenn du nicht nachdenkst und dich hingibst, ist es so leicht und einfach. *** Wir sind untrennbar verbunden nicht nur mit allen Menschen, sondern auch mit allen lebenden Wesen, verbunden durch das Bewusstsein, dass der geistige Ursprung, der uns das Leben gibt, auch in den anderen Wesen derselbe ist. Nicht nur den Menschen sollte man nichts zufügen, von dem man nicht will, dass es einem selbst zugefügt wird, sondern auch den Tieren nicht. Du sollst nicht töten4 bezieht sich nicht nur auf die Tötung des Menschen, sondern auf die Tötung alles Lebendigen. Und dieses Gebot war im Herzen des Menschen geschrieben, bevor es auf dem Sinai geschrieben wurde. *** Die wahre Religion ist nicht die Religion der Vernunft; doch die wahre Religion kann nicht wider die Vernunft sein. *** Es gibt eine ewige, weltumfassende Religion; das ist der Glaube an den Gott, der in mir und außerhalb von mir ist, in allen Menschen und in allem Lebendigen.

4 Ex 20,13.

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Gebet (aus der Sammlung Für jeden Tag)

1) Ich suche das wahre Verständnis davon, was das Leben ist, und die Kenntnis davon, was ich gemäß diesem Verständnis tun und was ich nicht tun darf. 2) Ich weiß, dass mein wahres Leben nicht in meinem Körper, sondern in dem von allem abgetrennten geistigen Ursprung liegt, den ich als mich selbst erkenne und den ich die Seele nenne. 3) Ich weiß auch, dass dieser geistige Ursprung nicht in mir allein ist, sondern in allen lebenden Wesen. 4) Diesen durch die Körper der Wesen geteilten geistigen Ursprung verstehe ich auch in mir selbst als etwas durch nichts Verbundenes, durch nichts Begrenztes, und ich nenne dieses unbegrenzte Verständnis von allem Gott. 5) Dieser geistige Ursprung, der ein und derselbe ist in mir, in anderen Wesen und in sich selbst, in Gott, trachtet nach Vereinigung mit dem, von dem er getrennt ist. 6) Diese Vereinigung vollzieht sich durch das, was uns als Liebe erscheint. 7) In dieser Vereinigung erkenne ich mein höchstes Heil, und daher strebe ich nach all dem, was die Liebe in mir vermehrt, und ich enthalte mich all dessen, was sie schmälert, schwächt. 8) Geschmälert, geschwächt wird die Liebe zu den Menschen und zu Gott durch den Irrtum, dass mein Leben in meinem Körper ist. Dieser Irrtum gebiert Fehler und Sünden, die meiner Vereinigung mit den Seelen der anderen Menschen und mit Gott im Wege stehen. 9) Die üblichste Sünde ist, seinem Körper nachzugeben. Ich fürchte sie und will dagegen ankämpfen und mich davon befreien: nicht zu viel essen, nichts Unnötiges an Kleidern, Wohnraum und Gegenständen besitzen, den Körper nicht verhätscheln, vielmehr die Forderungen des Körpers nur soweit befriedigen, dass er die Bedürfnisse der Seele erfüllen kann.

Gebet

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10) Eine andere, damit verbundene Sünde ist die körperliche Müßigkeit und das Ausnutzen der Arbeit anderer Menschen, die gezwungen sind, für mich das zu tun, was ihnen für sich selbst zu tun nicht gelingt. 11) Die dritte Sünde, ebenso verhängnisvoll wie die beiden ersten, ist die Sünde der Wollust, der Zerstörung von Liebe und Achtung gegenüber dem Menschen als einem geistigen Wesen, und die Beziehung zu einem Menschen des anderen Geschlechts als einem Gegenstand der Lüsternheit. 12) Und die vierte, die schlimmste aller Sünden ist die Sünde der Missgunst, des Zorns, der Rache, des Hasses gegenüber den Menschen. Diese Sünde ist schlimmer als alle anderen Sünden, weil sie jener Erscheinungsform der Liebe zu allen Menschen, die den Menschen mit den anderen Menschen und mit Gott vereint, genau entgegengesetzt ist. 13) Ich fürchte die Sünden, und vor allem fürchte ich die Versuchungen, die sie rechtfertigen, darunter die wichtigste, verhängnisvolle Versuchung durch den Stolz, wenn man sich selbst für etwas Besonderes hält, für jemanden, für den Sünden keine Sünden mehr sind: Ich bin ein besonderer Mensch, ich brauche die besten Speisen, Kleider und Bequemlichkeiten, ich brauche auch die Arbeit anderer Menschen. Ich als besonderer Mensch kann mich nicht zufriedengeben, nur mit einem Gatten, nur mit einer Gattin zu leben, ich kann Kränkungen, die mir, dem besonderen Menschen, zugefügt wurden, nicht ungestraft lassen. 14) Entsetzlich und verhängnisvoll ist die Versuchung durch den Stolz einer Person, noch entsetzlicher und verhängnisvoller aber ist die Versuchung durch den Stolz eines ganzen Verbandes von Menschen: einer Familie, eines Standes, eines Volkes. Deshalb erkenne ich keinerlei Unterschiede zwischen den Menschen an, denn ich weiß, dass es ebenso wenig den Vorrang eines Menschen gegenüber einem anderen geben kann wie es einen Vorrang vieler Menschen gegenüber vielen geben kann; einen solchen Vorrang kann es deshalb nicht geben, weil das, wodurch ich und alle Menschen leben, ein und dasselbe ist in mir und in allen und in allem. 15) Wie verhängnisvoll die Versuchung durch den Standesdünkel für die Seele eines Menschen, der ihr erlegen ist, an sich schon sein mag – die Folgen dieser Versuchung, die darin bestehen, dass das Leben nicht mehr durch das eigene Gewissen, die eigene Vernunft geleitet wird, sondern dadurch, dass andere Menschen die eigenen Handlungen bewerten, durch menschlichen Ruhm, sind die allerverhängnisvollsten für die Seele des Menschen.

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Ich weiß, mein Leben besteht in der Vereinigung meines geistigen Wesens mit anderen Wesen und mit Gott durch die Liebe, und daher kann die Meinung der Menschen über mich nicht das Ziel meiner Anstrengungen sein. Meine Anstrengungen zur Vereinigung meiner Seele mit anderen Wesen und mit Gott sind sogar meist entgegengesetzt zur Meinung der Welt. 16) Nur diese verhängnisvolle Versuchung durch den menschlichen Ruhm, d.h. nicht das zu tun, was das Gewissen befiehlt, nicht einmal das, wonach jedes Lebewesen verlangt, sondern das, wonach die wenig nachdenkende Menge verlangt, konnte die Menschen – geistige Wesen, die Gott in sich erkennen – zum törichten Streben nach menschlichen Ehrungen verleiten und zu dem noch sonderbareren Wahn, unter größten Anstrengungen Reichtümer zu erwerben und zu erhalten, die nicht nur unnütz sind, sondern auch ein vernünftiges Leben behindern. 17) Weil ich an Gott glaube, der in mir wohnt, wie in allen Menschen und lebenden Wesen, weiß ich, dass die Forderungen dieses Gottes einfach, klar und allen Menschen zugänglich sind und daher weder des blinden Glaubens an Lehren, die auf den Glauben übertragen wurden, noch komplizierter, verworrener Erläuterungen bedürfen. Weil ich das weiß, erkenne ich alle diese Lehren als Aberglauben und lehne sie ab. 18) Als Aberglauben erkenne ich die komplizierten, verworrenen und untereinander uneinigen Lehren, die für den Glauben gehalten und als Gesetz Gottes ausgegeben werden. Ich halte diese Lehren für schädlich und verhängnisvoll für die menschliche Seele und strebe danach, mich von ihnen zu befreien. 19) Als Aberglauben erkenne ich genauso die komplizierten, verworrenen und untereinander uneinigen Lehren über die angeblichen Gesetze der materiellen Welt, die in den Glauben aufgenommen und als eine Wissenschaft ausgegeben werden, die für das Leben der Menschen unerlässlich sei. Ich halte diese Lehren für schädlich für die Möglichkeit, wahres Wissen zu erlangen, und strebe danach, mich von ihnen zu befreien. 20) Für einen noch gefährlicheren Aberglauben halte ich die noch komplizierteren, verworreneren, widersprüchlicheren und in den Glauben aufgenommenen Lehren von den angeblichen Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, die Gewalt von Menschen gegenüber anderen Menschen zulassen und rechtfertigen. Ich halte solche Lehren durchwegs für schädlich für das Leben der Seele, erkenne sie daher nicht an und unterwerfe mich den sich daraus ergebenden Forderungen nicht.

Gebet

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21) Mein Leben ist die allmähliche Befreiung der Seele vom Körper, der die Seele von anderen Seelen und dem Ursprung von allem – von Gott – trennt. Ich weiß das und unternehme Anstrengungen gegen Sünden, Verlockungen und Aberglauben, die dieser Befreiung im Wege stehen. 22) Die Anstrengungen, mich zu befreien, unternehme ich vor allem in Gedanken. Diese Anstrengungen bestehen darin, dass ich schlechte, sündige, verlockende und abergläubische Gedanken vertreibe und mich anstrenge, meine Gedanken mit denjenigen der weisesten und heiligsten Menschen der Welt zu vereinen, und wenn ich meine Gedanken mit denjenigen der Weisen vereint habe, strenge ich mich an, diese Gedanken im Gedächtnis zu behalten für den Kampf gegen Sünden, Versuchungen und Aberglauben, die der Entfaltung der Liebe, welche den Kern meines Lebens und meines Heils bildet, im Wege stehen. 23) Ich weiß, das größte Hindernis für das Erlangen des Heils der Liebe besteht darin, dass ich meine Persönlichkeit bevorzuge, dass ich ihr diene, dass ich mich in dem falschen Glauben befinde, dass mein Leben in meiner Persönlichkeit liegt, und daher erkenne ich meine Persönlichkeit nicht als solche an, sondern nur als Hindernis für die Befreiung des von ihr verborgenen geistigen Ursprungs und verwende meine Anstrengungen nicht darauf, meine Persönlichkeit zu erhalten, sondern im Gegenteil darauf, mich von ihr loszusagen, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken. 24) Ich weiß, dass die Ursache für Versuchungen der Stolz ist, und daher versuche ich daran zu denken, dass das, was in mir geistig und groß ist, nicht meines ist, sondern etwas Allgemeines, Göttliches; das hingegen, was in mir nicht geistig ist, meine körperliche Persönlichkeit, ist mein Feind, den ich nur dann besiegen kann, wenn ich im Namen des wahren Heils bin, das mir mein geistiger Ursprung geben kann, und mich von der körperlichen Persönlichkeit lossage, die ihn verbirgt. 25) Ich weiß, dass die in den Glauben aufgenommenen Lehren vom angeblichen Gesetz Gottes ebenso wie die als wissenschaftlich bezeichneten Lehren von den angeblichen Gesetzen der Materie ebenso wie die von den angeblichen Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, die die Macht der einen Menschen über andere Menschen rechtfertigen, gefährliche, schädliche, der Befreiung der menschlichen Seele im Wege stehende abergläubische Lehren sind, und daher glaube ich nicht an sie, unterwerfe ich mich ihnen nicht, um ihrem Einfluss zu entgehen, und denke bei jeder Berührung mit ihnen an das eine wahre Leben – die Befreiung der Seele vom Körper, die durch die Liebe erreicht wird.

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26) Die Anstrengungen des Denkens entdecken Sünden, Versuchungen und Aberglauben und zeigen, was ich nicht tun soll, und daher kann ich, auch wenn ich vielleicht nicht weiß, was genau ich unter diesen oder jenen Bedingungen tun soll, stets wissen, was ich nicht tun soll, und ich kann Anstrengungen unternehmen, mich der mir vom Denken entdeckten sündigen, verlockenden und sträflichen Handlungen zu enthalten. 27) Ich erinnere mich, dass unter den Handlungen, derer ich mich enthalten soll und kann, eine ist, die als unwichtig gilt, die indes eine der Handlungen ist, die das Leben der Menschen am meisten beeinflussen. Diese Handlung ist das Wort. Ich versuche, daran zu denken und aufmerksam gegenüber dem Wort zu sein. 28) Ich weiß, dass das wahre Leben in der Anstrengung zur Befreiung des geistigen »Ichs« von den Sünden des Körpers liegt, ich weiß, dass diese Anstrengung nur in der Gegenwart zum Ausdruck kommt, und daher versuche ich weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft zu denken und alle meine Kräfte allein auf die Anstrengung zur Befreiung der Seele vom Körper in der Gegenwart zu konzentrieren. 29) Ich weiß, dass es für das wahre geistige Leben keinen Tod gibt und geben kann. Der Tod existiert nur für diejenigen, die ihr Leben auf etwas setzen, das kein Leben ist und durch den Tod beendet wird. Ich werde hingegen versuchen, ein Leben zu führen, das den Tod nicht fürchtet. 30) Im Wissen darum, dass mein Heil in der immer größeren Befreiung meines geistigen Ursprungs von allem Körperlichen liegt, das ihn unterdrückt, strenge ich mich an, diese Befreiung zu erreichen, und ich empfinde jedes Mal Freude und Gelassenheit, und zwar um so mehr, je mehr ich mich anstrenge. 31) Ich fürchte keine Leiden, weil ich weiß, dass alle Leiden in dem Maße, in dem ich sie spüre – alle Leiden: Krankheit, Bedürftigkeit, Erniedrigung, Kränkung usw. –, nur Hinweise sind für die Anstrengungen, die ich unternehmen muss, damit ich jenes Heil erlange, das mir vorbestimmt ist.

Brief an I.I. Perper (1910)

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Brief an I.I. Perper (1910)

Dieser Brief wurde erstmals 1910 in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Vegetarianskoe obozrenie veröffentlicht, deren Redakteur der Schriftsteller und Pädagoge Iosif Perper war. Die Zeitschrift druckte Aleksandr Gol’denvejzers russische Übersetzung von Bruno Freydanks Buch von Mai bis Oktober 1910. Die deutsche Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 81: 138f).

Jasnaja Poljana, 10. März 1910 Ich sende Ihnen ein aus dem Deutschen übersetztes Buch mit dem Titel Die Greuel der christlichen Civilisation eines tibetischen Lama, der einige Jahre an Universitäten in Deutschland verbracht hat. Der Titel des Buches sagt Ihnen schon, worum es darin geht. Ich weiß zwar nicht, ob es tatsächlich von einem echten Buddhisten geschrieben wurde oder ob es nur eine Form ist, die der Autor ähnlich wie Montesquieu in seinen »Persischen Briefen« gewählt hat,1 um seine Gedanken auszudrücken, doch das Buch an sich ist sehr interessant und lehrreich.2 Der Buddhismus wird in letzter Zeit immer mehr von den Auswüchsen bereinigt, die ihn überdeckten, die christliche Welt erkennt mehr und mehr sein wahres Wesen, und in letzter Zeit begegnet man in Europa wie in Amerika immer häufiger Menschen, die vom Christentum zum Buddhismus konvertiert sind. Abgesehen von der metaphysischen Tiefe der Lehre, die Schopenhauer so gut erläutert hat,3 ist die sittliche Zweckdienlichkeit dieser Lehre mit ihren fünf grundlegenden Geboten für alle, die an den Buddhismus glauben, besonders anziehend:

1 In den Lettres Persanes (1701) schildert Montesquieu Frankreich und Paris durch die verfremdende Perspektive zweier fiktiver Perser, die Briefe in ihre Heimat schreiben. 2 Es handelt sich um die russische Übersetzung des Buches Die Greuel der »christlichen« Civilisation. Briefe eines buddhistischen Lama aus Tibet, hg. v. Bruno Freydank, Leipzig 1903. Der Titel der russischen Übersetzung von Aleksandr Gol’denvejzer, die in Vegetarianskoe obozrenie (1910, Nr. 5–10) veröffentlicht wurde, lautete Briefe eines Buddhisten an einen Christen. 3 Hier verweist Tolstoj auf Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (s. dazu den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Band).

316 1) 2) 3) 4) 5)

Lev Tolstoj

kein lebendes Wesen mit Absicht töten; sich nicht das aneignen, was andere als ihr Eigentum ansehen; sich nicht dem geschlechtlichen Begehren hingeben; nicht lügen; sich weder mit berauschenden Getränken noch durch Rauchen betäuben.

Unwillkürlich kommt mir in den Sinn, welch gewaltige Veränderung im Leben es bedeuten würde, wenn die Menschen diese Gebote kennen und sie zumindest für so verpflichtend halten würden wie die Ausführung äußerer Rituale. Lev Tolstoj

Aus dem Tagebuch nur für mich selbst

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Aus dem Tagebuch nur für mich selbst

Das »Tagebuch nur für mich selbst«, das den Zeitraum vom 29. Juli bis 31. Oktober 1910 umfasst, diente Tolstoj hauptsächlich dazu, seine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben im Zusammenhang mit der sich immer mehr zuspitzenden familiären Situation in Jasnaja Poljana, die schließlich zu Tolstojs »Flucht« im Oktober 1910 führte. Im Gegensatz zu seinem Tagebuch, das er parallel dazu führte und das in einem gewissen Sinne »öffentlich«, das heißt für seine Umgebung in dem Sinne zugänglich war, dass Tolstoj daraus vorlas und dass Abschriften davon angefertigt wurden, verspürte Tolstoj kurz vor seinem Tod wieder das Bedürfnis, ein Tagebuch im eigentlichen Sinne zu haben, um wieder Zwiesprache »nur mit sich selbst« halten zu können: Die Institution Tolstoj als großer Schriftsteller der russischen Erde und moralisches Gewissen der ganzen Welt drohte den Menschen Tolstoj unter sich zu begraben, und so war das »Tagebuch nur für mich selbst« auch eine letzte Auflehnung Tolstojs gegen sein öffentliches, da vorbildliches und für andere sinnstiftendes Leben, das der ganzen Welt bis in die kleinsten Details bekannt war, und ein Versuch, sich ein letztes Stück Privatsphäre zu sichern. Gelungen ist ihm das freilich nicht: Seine Frau Sof ’ja Andreevna fand das Tagebuch im Oktober 1910 und las es durch; eine Stelle darin hat sie unleserlich gemacht, zu weiteren Kommentare hinzugeschrieben, die ihre Sicht der Dinge schildern. Und Tolstojs Sterben in Astapovo wurde zu einem der ersten Ereignisse in Russland, das von einem Großaufgebot der Massenmedien mitverfolgt wurde und das Stunde um Stunde Material für neue Extraausgaben, Schlagzeilen und Blitztelegramme lieferte. Ungekürzt erschien das »Tagebuch nur für mich selbst« erstmals 1934 im 58. Band der sowjetischen Gesamtausgabe. Im Folgenden sind die letzten Eintragungen wiedergegeben, die Tolstoj seiner Tochter Aleksandra auf dem Sterbebett diktierte. Die Übersetzung folgt dem Wortlaut der sowjetischen Gesamtausgabe (PSS 58: 143f).

31. Oktober 1910 A. L. Tolstaja diktiert. Gott ist jenes unbegrenzte Alles, als dessen begrenzten Teil sich der Mensch erkennt. Wahrhaft existiert nur Gott. Der Mensch ist Sein Ausdruck in Materie, Zeit und Raum. Je mehr der Ausdruck Gottes im Menschen (das Leben) sich im Ausdruck (durch das Leben) anderer Wesen vereint, desto mehr existiert er. Die Vereinigung dieses seines Lebens mit den Leben anderer Wesen vollzieht sich durch die Liebe. Gott ist nicht die Liebe, doch je mehr Liebe ist, desto mehr offenbart der Mensch Gott und desto mehr existiert er wahrhaft.

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Lev Tolstoj

Astapovo, 31. Okt., 13.30 Uhr Gott, wenn wir mit diesem Begriff die Phänomene des Lebens erläutern wollen, dann kann in diesem Verständnis Gottes und des Lebens nichts Fundiertes und Festes sein. Das sind nur müßige, zu nichts führende Überlegungen. Gott erkennen wir nur durch das Bewusstsein Seines Ausdrucks in uns. Alle Schlussfolgerungen aus diesem Bewusstsein und die Lebensführung, die darin gründet, befriedigen den Menschen stets vollkommen, sowohl in der Erkenntnis von Gott selbst als auch in der eigenen Lebensführung, die in diesem Bewusstsein gründet.

Tolstojs Theologie: Systematische und historische Einordnungen

1. Kernkonzepte

Glaube und Vernunft

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Christian Münch

Glaube und Vernunft Als Denker wird Tolstoj bald zum Rationalisten, bald zum Glaubensschwärmer abgestempelt. Werfen ihm die einen vor, er habe der Vernunft zuviel Platz eingeräumt, indem er Wunder, Dogmen und Mysterien ablehnte,1 unterstellen ihm andere, er habe die Grenzen der Vernunft zu eng gezogen, indem er absoluten Gewaltverzicht predigte und im Namen der Religion Kunst und Wissenschaft anprangerte.2 Beide Sichtweisen greifen indes zu kurz und sagen letztlich weniger über die Weltanschauung des Beurteilten aus als über diejenige der Urteilenden. Sie verkennen Tolstojs Streben nach einer ganzheitlichen Erkenntnis, welche die Totalität des Daseins erfasst und auf einer Synthese von Glaube und Vernunft beruht.3 Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft beschäftigt Tolstoj sein Leben lang. Schon in den 1850er und 1860er Jahren taucht sie in seinen Werken und Tagebüchern auf, bevor sie in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre zum Grundproblem seines religiösen und theologischen Denkens wird. Dieses bewegt sich durchweg im Spannungsfeld von Glaube und Vernunft und ist geprägt vom Versuch, die beiden Prinzipien miteinander zu versöhnen. Dass Tolstoj den einen als Glaubensschwärmer, den anderen als Rationalist erscheint, ist eine Folge dieses Versöhnungsversuchs, der auf einem weiten Verständnis der Begriffe beruht und die Ablehnung all dessen einschließt, was außerhalb der angestrebten Synthese liegt. So lehnt Tolstoj die Huldigung an eine religionslose Vernunft gleichermaßen ab wie das tertullianische Prinzip des credo, quia absurdum (»ich glaube, weil es widervernünftig ist«).4 Mit dem Versuch, Glaube und Vernunft zu versöhnen, ist Tolstoj im Russland des 19. Jahrhunderts nicht allein. Er steht in der Tradition des ganzheitlichen Denkens, wie es u.a. von Ivan Kireevskij und Vladimir Solov’ev vertreten wird.5 Doch ungeachtet einiger Analogien – etwa zu Kireevskijs Verständnis einer »glaubenden Vernunft« (1856)6 oder zu Solov’evs Synthese von Glaube, Vernunft und Erfahrung (1877)7 – erweist sich seine Behandlung der Frage als originell und unabhängig von den genannten Denkern. Tolstoj stützt sich vielmehr auf Pascals Gedanken zur Vernünftigkeit des Glaubens,8 auf Rousseaus Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars (in Emile)9 und auf Kants Modell des »Vernunftglaubens« in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.10 Aber auch von diesen

324

Kernkonzepte

unterscheidet sich Tolstojs Position in verschiedener Hinsicht. Sie ist eng mit der Biographie des Autors verflochten und resultiert aus einer existenziellen Betroffenheit. Tolstojs Weg zum »vernünftigen Glauben« war kompliziert und verlief über Umwege. In der Beichte (1879–82) und im Traktat Mein Glaube (1883/84) wird er als dialektischer Erkenntnisprozess geschildert, der über die Etappen von »Vernunft ohne Glauben« und »Glauben ohne Vernunft« führte. Erst unter Berücksichtigung dieses Prozesses lässt sich nachvollziehen, was Tolstoj genau unter »vernünftigem Glauben« verstand.

Vernunft ohne Glauben In der Beichte und in Mein Glaube blickt Tolstoj auf seine geistige Entwicklung zurück und hält fest, dass er 35 Jahre lang – und zwar von 1842 bis 1877 – ohne Glauben gelebt habe (PSS 23: 304). Als einzige Erkenntnis galt ihm damals, wie er schreibt, das »vernünftige Wissen« (razumnoe znanie, PSS 23: 35). Obwohl diese Aussagen stark vereinfacht sind, um das Bekehrungsmoment zur Geltung zu bringen, stimmen sie teilweise mit der Selbstreflexion überein, die Tolstoj in Briefen und Tagebüchern aus jener Zeit festgehalten hat. Aus dem Jahr 1847 liegt z.B. ein Tagebucheintrag vor, in dem die Vernunft als das höchste Prinzip gewürdigt wird: Man muss nur die Vernunft walten lassen! Sie zeigt uns, was eines jeden Bestimmung ist, sie ist es auch, die den Umgang der Menschen untereinander regelt. Alles, was der vornehmsten Fähigkeit des Menschen, der Vernunft, gemäß ist, muss auch allem, was existiert, gemäß sein. (PSS 46: 4)

Dem Vernunftprinzip unterwirft Tolstoj im März 1855 seine Idee, eine neue Religion zu gründen. Diese solle, wie er im Tagebuch schreibt, »von Glauben und Geheimnis befreit« sein (vgl. f 38; PSS 47: 37). Damit besetzt Tolstoj den Glaubensbegriff negativ und stellt ihn in unvereinbaren Gegensatz zu »Vernunft«. Vier Jahre später bekennt er gegenüber seiner Tante Alexandrine, dass er die Religion zwar achte und der Ansicht sei, man könne ohne sie weder gut noch glücklich sein, dass er aber keine Religion habe und auch nicht glaube (f 40; PSS 60: 294). Und 1876 schreibt er derselben Korrespondentin: »Je mehr ich denke, desto weniger kann ich glauben« (PSS 62: 261). Aber sobald sich die Frage nach dem Urgrund und Sinn des endlichen Lebens stellt, wird sich Tolstoj der Grenzen rationaler Erkenntnis bewusst. Existenzielle Fragen wie »Was bin ich?«, »Wozu lebe ich?«, »Was kommt nach dem Tode?«, »Bin ich unabhängig entstanden, lebe ich unabhängig oder hat mich jemand geschaffen, lenkt mich jemand?« vermag er mit der

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Vernunft nicht zu lösen. In der Skizze Über die Religion, die er 1865 während der Arbeit an Krieg und Frieden schreibt, notiert er diese Fragen und stellt fest, dass hier das rational begründete Wissen »machtlos« sei (f 44; PSS 7: 125–127). Auch die Religion, die er zunächst als »Produkt des menschlichen Verstandes« betrachtet, überzeugt ihn mit ihren traditionellen Antworten nicht. In der Beichte schildert Tolstoj ausführlich, wie er die empirischen und nicht-empirischen Wissenschaften, einschließlich der Philosophie und der religiösen Weisheit, mit den »Fragen des Lebens« konfrontiert und wie er an die Grenzen der vernünftigen Erkenntnis stößt. »Ich fühlte, dass die Überzeugungskraft der Vernunft zwar vollkommen war, aber doch nicht genügte«, schreibt er in dem genannten Werk (PSS 23: 31). Und im späteren Lesezyklus kommt er zu folgendem Schluss: Gebraucht der Mensch seine Vernunft zur Lösung der Fragen, warum die Welt besteht und warum er selbst auf dieser Welt da ist, so wird er von einer Art Übelkeit, von einer Art Schwindel befallen. Der menschliche Verstand kann keine Antworten auf diese Fragen finden. Was hat das zu bedeuten? Das hat zu bedeuten, dass die Vernunft dem Menschen nicht dazu gegeben ist, um auf diese Fragen zu antworten, dass schon das Stellen derartiger Fragen eine Verirrung der Vernunft bedeutet. (PSS 41: 537)

Die »Verirrung der Vernunft« nimmt vorerst ihren Lauf. Im Zuge mehrerer Todeserfahrungen, die ihm die rationale Unlösbarkeit der Sinnfrage vor Augen führen, gelangt Tolstoj zur Vernunfterkenntnis, dass das Leben unvernünftig sei. Dadurch gerät er in eine Sinnkrise, die Mitte der 1870er Jahre ihren Höhepunkt erreicht und ihn an Selbstmord denken lässt. Im Selbstmord sieht er die logische Konsequenz aus der Erkenntnis der Unvernünftigkeit des Lebens (PSS 23: 28f). Doch warum handle ich nicht folgerichtig und töte mich, fragt sich Tolstoj in der Beichte. Etwa aus Schwäche? Und die ganze Menschheit, warum lebt sie, wenn es doch in ihrer Macht steht, nicht zu leben? Sie scheint keinen Augenblick an der Vernünftigkeit des Lebens zu zweifeln! Ist sie im Irrtum? – Hier erkennt Tolstoj, dass er sich selbst verirrt hat mit seiner Vernunft und dass er seine Rechnung ohne das gemacht hat, was Millionen von Menschen am Leben erhält: den Glauben. Im Glauben seiner Mitmenschen, besonders der Bauern, entdeckt Tolstoj das Wissen darum, was von der vernünftigen Erkenntnis geleugnet wird: das »Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens«. Wenn der Glaube auch »vernunftloses Wissen« ist, erscheint er ihm jetzt als der einzige Ausweg aus der Sinnkrise. In der Beichte schreibt Tolstoj: So wurde ich zwangsläufig dazu gebracht, anzuerkennen, dass neben dem vernünftigen Wissen, das mir zuvor als das einzige galt, die ganze lebende Menschheit noch über ein anderes, vernunftloses Wissen verfügt – über den Glauben, der die Möglichkeit zu leben gibt. Die ganze Vernunftlosigkeit des Glaubens blieb für mich dieselbe wie bisher; doch konnte ich nicht anders als anzuerkennen, dass sie allein der Menschheit auf die Fragen des Lebens antwortet und folglich die Möglichkeit zu leben gibt. (PSS 23: 35)

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Tolstoj gelangt zur Überzeugung, dass in den Antworten des Glaubens »die tiefste Weisheit der Menschen verborgen liegt« und dass er kein Recht habe, »sie aufgrund der Vernunft zu leugnen« (PSS 23: 37). Und er verspürt das Bedürfnis zu glauben, sein Leben nach Art des gläubigen Volkes einzurichten und sich mit diesem zu vereinigen.

Glaube ohne Vernunft Im Streben nach Vereinigung mit dem Volk beginnt Tolstoj die »rituelle Seite des Glaubens« zu erfüllen und wird zum eifrigen Kirchgänger. Er beichtet, hält sich an die Fastengebote und betet täglich mit Verbeugungen. Daneben befasst er sich mit der orthodoxen Glaubenslehre und bemüht sich, den Thesen der Kirche einen Sinn abzugewinnen. In dieser »kirchlichen Phase« macht er erstmals den Versuch, seine Gedanken zum Glauben systematisch darzulegen. Ein Zeugnis dafür ist sein unvollendeter Christlicher Katechismus von 1877, der mit einem Abschnitt »Vom Glauben« beginnt (f 47–49; PSS 17: 363–365). Darin beschreibt Tolstoj den Glauben – nach Hebr 11,1 – als »Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht«, und definiert ihn als »zweifelsfreies Wissen um Dinge, die für die Vernunft unergründlich sind«. Dieses unmittelbare, intuitive Wissen nennt er »Glaubenswissen« (znanie very) und stellt es der Kategorie des »Vernunftwissens« (znanie razuma) gegenüber.11 Vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung bestimmt er das Verhältnis der beiden Wissenskategorien wie folgt: Das »Glaubenswissen« gründet auf sich selbst, während das »Vernunftwissen« stets auf vorhergehendem Wissen beruht und nicht auf sich selbst gründen kann, weil es sich selbst zerstört (vgl. PSS 17: 373). Folglich beruht jedes »Vernunftwissen« auf »Glaubenswissen« und ist ohne dieses nicht möglich, während umgekehrt »Glaubenswissen« sehr wohl ohne »Vernunftwissen« möglich ist. Dabei ist der Glaube mehr als nur ein Nichtzweifeln am Unsichtbaren (Hebr 11,1); er ist das »zweifelsfreie Wissen um den Sinn der uns umgebenden Erscheinungen, von dem wir uns in jeder Minute unseres Lebens leiten lassen« (f 49; PSS 17: 364). Mehr noch: Er ist, wie Tolstoj in der Beichte schreibt, »das Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens, infolge dessen der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt« (PSS 23: 35). Dieses existenziale Glaubensverständnis lässt sich mit den Formeln credo, ergo vivo (»ich glaube, also lebe ich«) und vivo, ergo credo (»ich lebe, also glaube ich«) umschreiben. Im Traktat Kirche und Staat (1879) schildert Tolstoj diesen Zusammenhang wie folgt: Der Glaube ist der Sinn, den man dem Leben gibt, er ist das, was ihm Kraft und Richtung gibt. Jeder lebende Mensch findet einen solchen Sinn, auf dessen Grundlage er lebt. Wer ihn nicht findet, stirbt. (f 72; PSS 23: 475)

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Die Glaubensfrage ist für Tolstoj zur Frage um Leben und Tod geworden, zur Frage eines Ertrinkenden, »woran er sich halten kann, um dem drohenden Untergang zu entgehen« (PSS 62: 310). Dabei erweist sich der Glaube als die rettende »Kraft des Lebens«, die dem endlichen Dasein den Sinn des Unendlichen verleiht. Durch ihn erlangt der Mensch das sinnerfüllte, durch den Tod nicht zerstörbare Leben, während er ohne Glauben eine sinnlose Existenz fristet, die den Tod bedeutet. In diesem Sinne ist der Glaube das »Wissen um Gott« (znanie boga), d.h. das Wissen um Gottes Existenz, das dem »Vernunftwissen« vorausliegt und ohne das der Mensch nicht leben kann (PSS 23: 244). Die Grundlage des Glaubens sieht Tolstoj – unter dem Einfluss von Pascal und Rousseau – »im Herzen der Menschen« (PSS 17: 366 und 373f),12 und wie Pascal könnte er sagen: »Der Glaube ist von Gott gegeben; glaubt nicht, wir meinten, er sei eine Gabe der Vernunft« (vgl. f 50; PSS 17: 365f).13 Diesen existenziellen Glauben, der im Herzen eines jeden Menschen angelegt ist und das Fundament des späteren »vernünftigen Glaubens« bildet, sieht Tolstoj zunächst im Einklang mit dem kirchlichen Glauben. Aber nur, weil er die »Widersprüche und Unklarheiten« der orthodoxen Lehre verdrängt, wie er in der Beichte schreibt (f 65; PSS 23: 50). Er versucht jeden Widerspruch zu vermeiden und befolgt alle Kirchenriten, ohne den Großteil davon zu verstehen. Erst allmählich wird ihm bewusst, wie sehr er die Vernunft unterdrückt, besonders beim Abendmahl: Als er zur Königstür der Ikonostase kommt und der Priester ihn auffordert, die Abendmahlsworte nachzusprechen, spürt er einen Stich im Herzen. »Es war eine grausame Forderung«, schreibt er, »erhoben von einem Menschen, der offensichtlich nie gewusst hatte, was Glaube war« (f 67; PSS 23: 51). Die Vernunft beginnt zu rebellieren, und Tolstoj gelangt zur Ansicht, dass »jene äußere Art, den Glauben zu bekennen«, voller Lüge sei, ja dass dies nichts mit Glauben zu tun habe, sondern nur mit Gehorsam gegenüber dem, was die Menschen lehren (vgl. PSS 24: 9; 23: 244f). Tolstoj gehorcht zwar dem Priester und bekennt die Verwandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi. Doch ein weiteres Mal geht er nicht hin. Das traumatische Abendmahlserlebnis, das in der Beichte als Wendepunkt dargestellt wird, lässt Tolstoj erkennen, dass hier eine Glaubenskategorie vorliegt, die seinem existenzialen Glaubensverständnis widerspricht. Und so unterscheidet er sie vom wahren »Glauben« (vera) und verwendet dafür den Begriff »Vertrauen« (doverie). Mit der klassischen Unterscheidung zwischen fides quae creditur (»Glaube, der geglaubt wird«) und fides qua creditur (»Glaube, mit dem geglaubt wird«) hat diese Zweiteilung nichts zu tun.14 Ihr grundlegender Unterschied besteht darin, dass sich der wahre, dem Leben Sinn verleihende Herzensglaube auf Gott richtet, während sich der »Ver-

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trauens-Glaube« (vera doverija) nur auf Menschen bezieht. Der »Vertrauens-Glaube« ist für Tolstoj »der Glaube an den oder die Menschen« und besteht im Vertrauen darauf, »was Menschen sagen« (PSS 41: 599; 45: 20), besonders was berühmte Personen überliefern, Hierarchen lehren und Theologen predigen (PSS 23: 244f; 34: 311). Er äußert sich in der »Wiederholung mit den Lippen dessen, was […] für das Wesen des Glaubens ausgegeben wird« oder in der »Erfüllung von Zeremonien, die zur Erlangung des […] Begehrten beitragen sollen« (PSS 35: 172). Er beruht auf menschlicher Autorität, auf Einschüchterung und Gewohnheit und ist weitgehend Gehorsamsglaube. Der »Vertrauens-Glaube« ist ein »Glaube ohne Vernunft«, und zwar in dem Sinne, dass »der Gegenstand des Glaubens«, wie Tolstoj im Aufruf An die Geistlichkeit (1902) schreibt, »nicht nur unabhängig von der Vernunft angenommen wird, sondern unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass das Gesagte nicht durch die Vernunft überprüft wird« (f 262; PSS 34: 311). Insofern entspricht er dem, was mit der Formel credo, quia absurdum – der Losung des klassischen Fideismus – ausgedrückt wird (vgl. PSS 23: 411; 35: 171). Und weil sich der »Vertrauens-Glaube« nach menschlichen Satzungen richtet, die das »Verständnis des Lebens« nicht nur nicht erklären, sondern »noch mehr verwirren«, ist er für Tolstoj letztlich gar kein Glaube. Im Traktat Was ist Religion? (1901/02) schreibt er: Wenn eine religiöse Lehre unsinnige Satzungen behauptet, welche nichts aufklären, sondern nur das Verständnis des Lebens noch mehr verwirren, so ist dies kein Glaube, sondern eine derartige Entstellung desselben, dass sie schon die Haupteigenschaften eines wahren Glaubens verloren hat. (PSS 35: 172)

Nur wo das »Verständnis des Lebens« erhellt wird, liegt nach Tolstoj auch »wahrer Glaube« vor, d.h. Gottesglaube, der seinerseits mit Sinngewissheit identifiziert wird. Sonst haben wir es mit »Vertrauen« im Dienste der Menschen zu tun – wie bei den aus Gehorsam und Gewohnheit befolgten kirchlichen Riten und Dogmen, die nicht »Sache des Glaubens« seien (f 101; PSS 23: 303). Gerade im kirchlichen Ritualismus und Dogmatismus nimmt Tolstoj eine »Entstellung« des Glaubens zum vernunftwidrigen »Vertrauen« wahr. Wie aber steht es um jene Menschen, die sich an die Riten und Dogmen der Kirche halten? Sind sie demnach Ungläubige? Hier schwankt Tolstoj. Zunächst verneint er dies, indem er zeigt, dass die Befolgung von Riten und Dogmen mit einem »vernünftigen Glauben« durchaus koexistieren kann (was bedeutet, dass auch der »wahre Glaube«, der von Gott im Herzen eines jeden Menschen angelegt ist und aufgrund dessen der Mensch lebt, durch die Befolgung von Riten und Dogmen nicht unweigerlich verloren geht [vgl. f 114; PSS 23: 451f]). Später jedoch schreibt er in Was ist Religion?, dass die Menschen, die sich zum »entstellten« Kirchenchristentum

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bekennen, eigentlich an gar nichts glaubten (PSS 35: 170). Im kirchlichen Ritualismus und Dogmatismus sieht er bald einen unnötigen Überbau, bald ein Hindernis für den »wahren Glauben«. Als hinderlich erscheint ihm der kirchliche Dogmatismus nicht nur, weil er das »Verständnis des Lebens« verdunkelt, sondern vor allem deshalb, weil er mit zwanghafter Bevormundung, mit Alleinanspruch auf Wahrheit und mit religiöser Intoleranz verbunden ist. In der Untersuchung der dogmatischen Theologie (1879–84) wirft Tolstoj der Kirche vor, sie antworte auf die Sinnfrage mit Täuschungen und verpflichte die Menschen unter Androhung ewiger Verdammnis zum Glaubensgehorsam, wobei sie Andersgläubige a priori verurteile (vgl. f 91–93; PSS 23: 294–296). Im Anklang an Rousseaus Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars setzt seine Kritik beim »Dogma der Unduldsamkeit« an und zielt auf die zeitgenössische Glaubenspraxis. Dementsprechend sieht Tolstoj im äußeren Zwang ein Hauptindiz für die Vernunftwidrigkeit des Kirchenglaubens. Auf dem Gebiet der Vernunft, so Tolstoj, gibt es keinen Zwang.15 Im Zuge seiner Kritik an Kultus und Dogma entwickelt Tolstoj schließlich sein Gegenmodell eines »vernünftigen Glaubens« (vera razumnaja).16 Dieser soll – laut der Beichte – auf dem Bestreben beruhen, das für die rationale Erkenntnis Unerklärliche so zu verstehen, dass sich jede unerklärliche These als Postulat der Vernunft darstellt und nicht als Glaubenspflicht (PSS 23: 57). Demnach richtet sich der wahre, »vernünftige Glaube« auf dasjenige, was die Vernunfterkenntnis zwar übersteigt, aber von der Vernunft postuliert wird.

Vernünftiger Glaube Wie der Glaube als Sinngewissheit und »Kraft des Lebens« für die Vernunft unerlässlich ist, so ist auch die Vernunft für den Glauben unabdingbar, und zwar in folgender zweifacher Funktion: erstens als prüfende Instanz dessen, was als Glaube gelehrt wird, und zweitens als Regulativ des Handelns, das aus dem Glauben hervorgeht. 1. Während der existenzielle Glaube, der im Herzen eines jeden Menschen angelegt ist, der Erkenntnis durch die Vernunft vorausgeht und nicht durch diese erlangt wird, unterliegt der »Glaube, der geglaubt wird«, in seiner Theorie und Praxis der Vernunft als prüfender Instanz. In diesem Sinne schreibt Tolstoj im Weg des Lebens: Wir gelangen nicht durch die Vernunft zum Glauben. Die Vernunft aber benötigen wir, um den Glauben zu prüfen, den man uns lehrt. (PSS 45: 29)

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Und im Lesezyklus heißt es: Fürchtet nicht die Zweifel – prüfet dreist mit der Vernunft die Satzungen des Glaubens, die man euch vorlegt! (PSS 41: 424)

Tolstoj wendet sich gegen die verbreitete Sicht, dass die Vernunft zur Lösung religiöser Fragen nicht anwendbar sei. Warum soll die Vernunft, die dem Menschen von Gott dazu gegeben ist, um sich selbst und seine Beziehung zur Welt zu erkennen, nur dazu gebraucht werden, »um familiäre, wirtschaftliche, politische, wissenschaftliche, künstlerische Fragen zu lösen, nicht aber dazu, um sich klar zu werden, wozu sie einem gegeben ist« (PSS 67: 275)? Dass die Vernunft gerade auf die »allerwichtigsten Wahrheiten«, auf diejenigen, von denen das ganze Leben des Menschen abhängt, nicht anwendbar sei und dass sie dem Glauben hier die Alleinherrschaft überlassen müsse, weist Tolstoj kategorisch zurück. In einem Brief aus dem Jahr 1894 schreibt er: Man sagt: Erkenne die Offenbarung durch den Glauben, aber der Mensch kann doch gar nicht glauben unter Umgehung seiner Vernunft. Wenn der Mensch an etwas glaubt und nicht an etwas anderes, dann nur deshalb, weil seine Vernunft ihm sagt, man könne an das eine nicht glauben, an das andere aber müsse man glauben. (PSS 67: 275)

Wenn die Vernunft auch nicht darüber entscheidet, dass geglaubt wird, so entscheidet sie sehr wohl darüber, woran konkret zu glauben ist. Dabei ist sie insofern untrüglich, als sie »zweifellos von Gott stammt«, während die Glaubensüberlieferungen, die ihrer Prüfung unterliegen, von Menschen stammen können (PSS 67: 276). Nach der orthodoxen Glaubenslehre unterzieht Tolstoj nun auch die biblische Überlieferung einer rationalen Prüfung und entdeckt im Evangelium die gesuchte »vernünftige Lehre«: die Lehre Christi. Allerdings sei diese in der Überlieferung von vernunftwidrigen übernatürlichen Elementen verdunkelt, von denen sie befreit werden müsse. In seiner Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien will Tolstoj das Evangelium von Wundern, Geheimnissen und Jenseitsorientierung »reinigen«, indem er es entmystifiziert und im Rahmen einer immanenten Individualeschatologie auslegt. Damit versucht er die Botschaft Christi in ihrer existenziellen Bedeutung als Lehre zu rekonstruieren, die auf die ethische Praxis zielt und dem Leben einen – durch den Tod nicht zerstörbaren – Sinn verleiht (vgl. f 134f; PSS 24: 806f). Mit diesem hermeneutischen Ansatz, der sechzig Jahre vor Bultmanns Programm der Entmythologisierung entstand, erntet Tolstoj bis heute Kritik. Besonders die Ablehnung von übernatürlichen Elementen bringt ihm den Vorwurf eines übersteigerten Rationalismus ein.17 Dabei wird Tolstojs Argumentation freilich oft ignoriert und sein Anliegen häufig missverstanden. Denn Tolstoj wendet sich nicht gegen die Vorstellung von Wundern als solchen – er zeigt sogar eine Vorliebe für Legenden, Sagen und

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Märchen und räumt in seinen Volkserzählungen dem Übernatürlichen wiederholt Platz ein –, sondern gegen deren Instrumentalisierung zur Manipulation der Menschen. Er lehnt Wunder und Geheimnisse insofern ab, als sie – wie die Dogmen – die Autorität der jeweiligen Überlieferung und deren Alleinanspruch auf Wahrheit untermauern, Gehorsamsglauben erfordern und dadurch die Menschen trennen (PSS 28: 42f). Wunder und Geheimnisse werden in jenem Sinne abgelehnt, wie sie Dostoevskijs Großinquisitor im Rahmen seiner Trias »Wunder, Geheimnis, Autorität« gegen den freien Entschluss des Herzens und die Liebe ausspielt.18 Dabei erinnert Tolstojs Wunderkritik wiederum an Rousseaus Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars. Dort werden die Wunder zurückgewiesen, weil sie die Autorität Gottes, der zur Vernunft spricht, der Autorität der Menschen unterordnen.19 Zu den Prinzipien des »vernünftigen Glaubens« zählt Tolstoj »Freiheit statt Zwang«, »Zweifel statt Gehorsam«, »Vereinigung statt Trennung«. Besonders das letzte Prinzip betont er immer wieder, sieht er doch in der Vernunft eine unerklärbare »göttliche, geistige Kraft« (PSS 53: 36), die allen Menschen eigen ist und sie – im Gegensatz zu den verschiedenen Glaubensrichtungen – miteinander vereint. Im Traktat Über das Leben (1886/87) schreibt er zum Beispiel: Die Vernunft kann nicht erklärt werden; wir brauchen sie aber auch nicht zu erklären, weil wir sie nicht nur alle kennen, sondern weil die Vernunft das Einzige ist, was wir kennen. Wenn wir miteinander verkehren, sind wir im vornherein davon überzeugt, – mehr als von allem anderen, – dass wir alle dieser uns gemeinsamen Vernunft gleich verpflichtet sind. Wir sind überzeugt, dass gerade die Vernunft jene alleinige Grundlage ist, die uns Lebende alle vereint. Die Vernunft kennen wir sicherer und früher als alles, so dass wir alles, was wir in der Welt kennen, nur deshalb kennen, weil das von uns Erkannte mit den Gesetzen dieser Vernunft übereinstimmt, die wir genau kennen. Wir kennen die Vernunft, und es ist uns unmöglich, sie nicht zu kennen. Unmöglich, weil die Vernunft das Gesetz ist, nach dem die vernünftigen Wesen – die Menschen – notwendigerweise leben müssen. (PSS 26: 347f)

Nur auf der Grundlage der Vernunft, »die bei allen die gleiche ist«, können sich die Menschen miteinander vereinen, während sie durch die verschiedenen Glaubensüberlieferungen voneinander getrennt werden. Und so stimmt Tolstoj mit Rousseau und Kant darin überein, dass der wahre, »vernünftige Glaube« ein einziger sei: »Es mag verschiedene falsche Glauben geben«, schreibt er, »doch der wahre Glaube ist einer« (PSS 45: 20).20 Die Menschen aller Glaubensrichtungen und Zeiten werden durch die Vernunft im Glauben vereint (f 271; PSS 72: 528). Dabei ist bemerkenswert, dass Tolstoj die »Vernunft« (razum) in scharfem Gegensatz zum »Verstand« (um) sieht: Während der »Verstand« als »die Fähigkeit« definiert wird, »zum Lebensunterhalt dienende weltliche Dinge zu begreifen und zu erwägen«, wird die »Vernunft« als »göttliches Wesen der

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Seele« bestimmt, »das derselben ihr Verhältnis zur Welt und zu Gott enthüllt« (PSS 41: 243). Als diesem in jedem Menschen lebenden »göttlichen Licht« kommt der Vernunft – und nicht dem Verstand – die Rolle des Vereinigers zu. Tolstoj trennt die »Vernunft« strikt von der intellektuellen Potenz des Menschen und verweist dabei mit Vorliebe auf Mt 11,25: »Was den Weisen und Klugen verborgen ist, ist den Unmündigen offenbar«. Das Gesetz der Vernunft, schreibt er, »ist so einfach, dass es jedem Kinde zugänglich ist« (PSS 67: 276). Unter dem Einfluss Rousseaus stellt er die Kinder und ungebildeten Bauern gerne als die vernünftigeren und einsichtigeren Menschen dar als die Vertreter der Bildungsschicht. So heißt es etwa im Traktat Religion und Sittlichkeit (1893): Damit der Mensch sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt oder deren Ursprung erkennt, braucht er weder philosophische noch wissenschaftliche Kenntnisse – ein Übermaß an Kenntnissen, die das Bewusstsein überfrachten, steht dem eher im Wege –, vielmehr braucht er lediglich die zeitweilige Abkehr von der Hast der Welt und das Bewusstsein seiner materiellen Nichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die häufig, wie es auch im Evangelium heißt, bei Kindern und ganz einfachen, unwissenden Menschen anzutreffen sind. (f 198; PSS 39: 13)

Wie Rousseau plädiert Tolstoj für einen undogmatischen Glauben in der Einfalt des Herzens, der auf die sittliche Lebenspraxis zielt.21 Dabei fällt »Sittlichkeit« für ihn stets mit »Vernünftigkeit« zusammen (vgl. PSS 41: 397) und ist mit dem wahren Glauben untrennbar verbunden. Diese Verbindung von Glauben und sittlichem Handeln bildet den zweiten entscheidenden Aspekt von Tolstojs Modell eines »vernünftigen Glaubens«. 2. Wahrer Glaube ist für Tolstoj nicht nur das Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens oder »das Bewusstsein des Menschen von seiner Beziehung zur unendlichen Welt«, sondern auch »die Anerkennung der Pflichten«, die sich aus diesem Wissen oder Bewusstsein ergeben (PSS 35: 171; 41: 33). Wahrer Glaube äußert sich in der sittlichen Lebensführung, d.h. in den Werken des Guten und ist – in kantschem Sinne – stets auch »moralischer Glaube«. In seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie wendet sich Tolstoj gegen jegliche Trennung von Glaube und Werken, wobei er den Glauben mit der Sonne, die Werke mit dem daraus hervorströmenden Licht vergleicht: Der Glaube ist nicht nur untrennbar von den guten Werken, sondern der Glaube ist die einzige Ursache der guten Werke, die guten Werke sind die notwendigen Folgen des Glaubens. Und daher, sollte man meinen, kann man unmöglich fragen, was wichtiger sei: der Glaube oder die Werke? Das ist genau so, als ob man fragen wollte: was wichtiger sei, die Sonne oder ihr Licht. (PSS 23: 244)

Diese Gedanken führt Tolstoj im Traktat Mein Glaube weiter, indem er auf Jak 2,14–26 rekurriert – auf jene Bibelverse, die neben Hebr 11,1 sein Glau-

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bensverständnis am stärksten geprägt haben.22 Seine Auslegung der einschlägigen Jakobusstelle fasst er wie folgt zusammen: Jakobus sagt, dass das einzige Kennzeichen des Glaubens die Werke sind, die von ihm ausströmen, und dass deshalb der Glaube, aus dem keine Werke hervorgehen, Worten gleich ist, mit denen man ebenso wenig jemanden sättigen wie selig machen und erlösen kann. Und deshalb ist der Glaube, aus dem keine Werke hervorgehen, kein Glaube. Er ist bloß der Wunsch, an etwas zu glauben, bloß eine falsche Versicherung mit Worten, dass ich an etwas glaube, woran ich in der Tat nicht glaube. Der Glaube ist, gemäß dieser Definition, das, was zu den Werken verhilft, und die Werke sind das, was den Glauben vervollständigt, d.h. das, was den Glauben zum Glauben macht. (PSS 23: 404)

Während Tolstoj die Werke des Guten, d.h. das vernünftige, sittliche Handeln, aus dem Glauben ableitet, führt er die Werke des Bösen auf den Unglauben zurück, den er als eine Art Sündenfall sieht und wiederholt mit »Vernunft ohne Glauben« gleichsetzt. In diesem Zusammenhang wird klar, warum Tolstoj, der das Böse prinzipiell als dasjenige versteht, »was nicht mit den Gesetzen der Vernunft übereinstimmt« (f 57; PSS 90: 131), schreiben kann: »Das Böse ist alles, was vernünftig ist« (PSS 62: 291). Diese Aussage ist insofern kein Widerspruch, als das vernünftige Böse für Tolstoj »Vernunft ohne Glauben« ist. Eine »Vernunft ohne Glauben« aber ist keine wahre Vernunft, genauso wie ein »Glaube ohne Vernunft« kein wahrer Glaube ist – oder positiv formuliert: Nur die »glaubende Vernunft« ist wahre Vernunft, genauso wie nur der »vernünftige Glaube« wahrer Glaube ist. Vor diesem Hintergrund ist der Glaube das Wissen um den Sinn des Lebens, der darin besteht, den Willen Gottes zu erfüllen, während die Vernunft dem Menschen eröffnet, was zur Erfüllung dieses Willens getan werden muss. Die Vernunft reguliert die Werke, die aus dem Glauben hervorgehen und diesen vervollständigen. Die Ablehnung der Trennung von Glaube und Werken verbindet Tolstoj mit seiner Kritik sowohl an den Lippenbekenntnissen zu Christus als auch an der kirchlichen Gnaden- und Erlösungslehre. Die verbreitete Ansicht, dass die Lehre Christi infolge menschlicher Schwäche unerfüllbar sei und nur die Gnade Christi zu ihrer Erfüllung verhelfen könne (f 108; PSS 23: 314), lässt er ebenso wenig gelten wie die Überzeugung, dass der Mensch durch das Sühnopfer Christi erlöst sei und das Heil durch Glaube ohne sittliches Streben erlangen könne (PSS 23: 190f, 409). Die Vorstellung der Gnade weist er insofern zurück, als sie Gnade ohne Nachfolge – im Sinne von Bonhoeffers »billiger Gnade« – ist und an die sakramentale Gnadenanstalt der Kirche gebunden ist (vgl. PSS 23: 239f). Wie Kant sieht Tolstoj den selig machenden Glauben nicht im »Fron- und Lohnglauben« der »gottesdienstlichen Religion«, sondern im praktischen »moralischen Glauben«, der »›auf lauter Herzensgesinnungen‹ gegründet ist«.23 In diesem Kontext ist für ihn ein wahrer Gläubiger, wer nach der unerreichbaren Vollkommenheit des himmlischen Vaters strebt (vgl. Mt 5,48), d.h. wer den Willen Gottes, der

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seinen verständlichsten und klarsten Ausdruck in der Lehre Christi gefunden hat, in seinem Leben so weit als möglich erfüllt. Und wer dies tut, erlangt das Heil und verwirklicht den Sinn des Lebens, der durch den Tod nicht zerstört werden kann. Wenn Tolstoj die Notwendigkeit sittlichen Strebens zur Erlangung des Heils betont, bedeutet dies freilich nicht, dass der Mensch nur aus eigener Kraft erlöst wird. Denn sowohl der Glaube als auch die Vernunft werden als Gaben Gottes betrachtet, durch die der Mensch zur Heilserkenntnis gelangt und durch die er mit Gott in direkter Verbindung steht. Dabei ist die Vernunft das göttliche Licht, das im Menschen leuchtet und ihn den Willen Gottes erkennen lässt (vgl. f 270; PSS 72: 527). »Wenn der Mensch keine Vernunft hätte«, schreibt Tolstoj im Lesezyklus, »so könnte er das Gute nicht vom Bösen unterscheiden und das wahre Heil weder suchen noch erlangen« (PSS 41: 441). Durch die Vernunft- und Glaubenskräfte wirkt Gott auf synergistische Weise bei der Erlösung mit, wobei es aber am Menschen liegt, die Gaben Gottes wirken zu lassen und Gottes Willen zu tun. Der Mensch hat die Freiheit, in Demut Gottes Willen zu erfüllen oder den selbstsüchtigen Willen seines Egos zu tun. In der Kurzen Darlegung des Evangeliums schreibt Tolstoj: Jeder Mensch hat die Freiheit, zu leben oder nicht zu leben. Leben heißt, den Willen des Vaters zu erfüllen, d.h. anderen Gutes zu tun; nicht leben heißt, den eigenen Willen zu erfüllen und anderen nichts Gutes zu tun. Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, dieses oder jenes zu tun, sein Leben zu erhalten oder zu vernichten. (f 142; PSS 24: 848).

Den summarischen Ausdruck des Willens Gottes erblickt Tolstoj in der Goldenen Regel der Bergpredigt, die für ihn das vernünftige Prinzip darstellt, welches die Menschen aller Glaubensrichtungen vereint: »Verhalte dich zu den Menschen so, wie du möchtest, dass sie sich zu dir verhielten« (Mt 7,12). Im Einzelnen sieht er dieses Prinzip im »Pentalog« ausgedrückt, den er aus den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) ableitet: 1. Zürne nicht!, 2. Begehre nicht!, 3. Schwöre nicht!, 4. Widerstrebe dem Übel nicht mit Gewalt! und 5. Liebe deine Feinde! (vgl. f 116–123, 136f; PSS 23: 455–461; 24: 839). Durch Erfüllung dieser – nicht als äußere Vorschriften gedachten – Gebote nähert sich der Mensch stufenweise dem unerreichbaren Vollkommenheitsideal an, das seinerseits Ausdruck von Vernünftigkeit ist. Denn für vernünftig hält Tolstoj nicht das Seiende, sondern das Nicht-Seiende, d.h. das Ideal. Im Tagebuch vom 29. Mai 1893 widerspricht er der These Hegels, dass das, was wirklich ist, vernünftig sei:24 Man sagt, dass alles Seiende vernünftig ist; im Gegenteil: alles, was ist, ist immer unvernünftig. Vernünftig ist nur das, was nicht ist, was die Besonnenen Phantasie nennen. Wenn das, was ist, vernünftig wäre, gäbe es kein Leben; und genauso gäbe es kein solches, wenn nicht das vernünftig wäre, was nicht ist (nämlich das Ideal). (PSS 52: 81)

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Vor diesem Hintergrund ist der »vernünftige Glaube« (vera razumnaja) ein »lebendiger, dynamischer Glaube«, der mit permanentem Streben nach dem unerreichbaren vernünftigen Ideal einhergeht, während der »Gewohnheitsglaube« (vera privyˇcki) ein »toter, unbeweglicher Glaube« ist, da er auf dem Bewusstsein beruht, dass das Ideal schon erreicht oder Phantasterei sei (PSS 52: 18).

Keine Religion der Vernunft, sondern eine Religion der Liebe, die mit der Vernunft im Einklang steht Mit dem »vernünftigen Glauben« verbindet Tolstoj schließlich das Streben nach der vollkommenen Erfüllung des Liebesgebots, das mit dem vernünftigen Prinzip der Goldenen Regel (Mt 7,12) korrespondiert. So wird die Liebe zusammen mit der Vernunft zur »Triebfeder«, welche die Menschen verschiedener Glaubensrichtungen vereint. Im Weg des Lebens schreibt Tolstoj: Der Glaube kann bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten verschieden sein, aber die Liebe ist bei allen immer ein und dieselbe. Der wahre Glaube ist einer – die Liebe zu allem Lebenden. (PSS 45: 21)

Die Liebe ist es, die – nach Tolstoj – die Menschen zur Vereinigung drängt, während die Vernunft diese Vereinigung vollführt. Die letztlich entscheidende Rolle der Vernunft sieht Tolstoj darin, dass sie die Liebe befreit und ihr die Möglichkeit gibt, sich zu offenbaren. Am 31. März 1908 schreibt er in sein Notizbuch: Früher glaubte ich, die Vernunft sei eine Haupteigenschaft der menschlichen Seele. Das war ein Irrtum, und ich habe es dunkel gefühlt. Die Vernunft ist nur Werkzeug zur Befreiung, zur Offenbarung des Wesens unserer Seele – der Liebe. (Sehr wichtig). (PSS 56: 323)

Bei der Liebe, die durch die Vernunft aus der »animalischen Persönlichkeit« des Menschen (f H. Kuße, Anthropologie) befreit wird, handelt es sich um die Liebe zu Gott, auf der – nach Tolstoj – allein das Wesen des Liebesgebotes beruht. Ihr Gegenstand wird dabei nicht primär in der Außenwelt geortet, sondern in der menschlichen Seele, d.h. in des Menschen »göttlicher Person« (liˇcnost’ boˇzeskaja), deren Wesen die Liebe ist. »Die christliche Liebe«, schreibt Tolstoj in Das Reich Gottes (1890–93), »ist für den Menschen der Hinweis, dass das Wesen seiner Seele die Liebe ist – dass sein Heil nicht dadurch zu erlangen ist, dass er diesen oder jenen liebe, sondern dass er den Urquell aller Dinge liebe, Gott, den er durch die Liebe in sich empfindet, und dass er daher alle und alles liebt« (PSS 28: 85). Diese alles umfassende Liebe verbindet Tolstoj mit dem »vernünftigen Glauben«, der in der Spätschrift Das eine Gebot (1909) zum »Glauben an die

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Liebe« wird – an die Liebe, welche Gott selber ist (vgl. 1 Joh 4,16; PSS 38: 100–118).25 Nicht für eine Religion der Vernunft plädiert Tolstoj,26 sondern für eine Religion der Liebe, die mit der Vernunft im Einklang steht.27 Frei nach Paulus könnte er sagen: »Nun aber bleiben Glaube, Vernunft, Liebe, diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen«. Durch die Liebe erhält die Mensch-Gott-Beziehung bei Tolstoj am ehesten jenen personalen Charakter, der in seinem theologischen Denken häufig vermisst wird und in seiner Beschreibung des wahren Glaubens weitgehend fehlt (wo er stattdessen mit einem negativ verstandenen »Vertrauen« zu den menschlichen Autoritäten verbunden wird). Wenn Tolstojs Verständnis der Liebe auch von universalem Charakter ist, so schließt es eine personale Liebe mit ein, was besonders bei seiner Verknüpfung von Gottes- und Nächstenliebe erkennbar wird: In Letzterer sieht Tolstoj einen äußeren Ausdruck der Liebe zu Gott, und zwar insofern, als sie sich auf die »göttliche Person«, d.h. auf die Seele des Mitmenschen bezieht, die in dessen »animalischer Hülle« eingeschlossen ist (vgl. PSS 64: 290; 28: 85). Die Liebe zu einer abstrakten Menschheit, welche die »göttliche Person« des einzelnen Menschen – seiner selbst wie des Nächsten – ersetzt, weist er dagegen ausdrücklich zurück (vgl. PSS 28: 83–85). In Anlehnung an den Mystiker Angelus Silesius schreibt er über die Mensch-Gott-Beziehung, die auch die zwischenmenschliche Relation bestimmt: »Nichts ist als ich und Du. Wenn wir zwei nicht wären, dann wäre nichts auf der Welt« (f 296; PSS 44: 74). Tillich hat Tolstojs »Neuverkündigung der Bergpredigt« treffend einer »Liebesmystik« zugeordnet, welche die »an Kant orientierte formale Ethik der Vernunft« durchbricht und eine »theonome Überwindung der autonomen ethischen Form bedeutet«. »Der Inhalt dessen, was Liebe ist«, schreibt Tillich, »schäumt über den engen Becher dieser Form in unerschöpflichem Strom«.28 Durch seine Vorstellung der Liebesrelation zwischen Mensch und Gott, die ebenso personal wie universal ist und mystische Züge trägt, sprengt Tolstoj den Rahmen eines Rationalismus kantscher Prägung (vgl. f H. Kuße, Religion). In der Liebe als der »einzigen vernünftigen Tätigkeit des Menschen«, die mit Mitleid und Selbstaufopferung einhergeht, sieht Tolstoj die Kraft zur Überwindung aller Gegensätze im Leben (PSS 26: 382f). In Anbetracht dessen zeigt er sich gegen Lebensende selbst dem kirchlichen Glauben gegenüber gelassen, den er zuvor heftig angeprangert hat. Im Brief vom 31. August 1909 an Marija Dondukova-Korsakova fasst er sein Modell eines »vernünftigen Glaubens« im Sinne eines »Glaubens an die Liebe« wie folgt zusammen: Die äußeren Offenbarungen meines Glaubens bestehen aber ganz in dem Einen – in dem Bestreben, Liebe zu erweisen: in Taten, Worten und Gedanken […]. Ich sage nicht, der Glaube an die Göttlichkeit Christi, an die Sündenerlösung durch ihn, an die Sakramente usw. sei unrichtig oder ein Irrtum. Ich weiß nur, dass ich das alles überhaupt nicht brau-

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che, wenn ich das Gebot der Liebe kenne, als das eine Gebot des Gesetzes Gottes, und alle Kräfte meiner Seele darauf verwende, es zu erfüllen. Ich glaube fest an die Wahrheit dieses Gebotes erstens deshalb, weil sie im Einklang steht, nicht nur mit meiner Vernunft, sondern auch mit der Vernunft der Weisen und heiligen Leute der ganzen Welt: der Brahmanen, Buddhas, des Konfuzius, Laotses und anderer, aber ebenso auch aller, aller einfachen Menschen der Welt, die immer einverstanden sind mit diesem Gebot und dem Gesetz der Liebe. Das ist das Erste. Zweitens aber deshalb, weil die Erfüllung dieses Gebotes den Menschen das höchste Heil gibt, und drittens und vor allem deshalb, weil meine Lebenserfahrung mir beweist, dass, sobald ich mich mit allen Kräften der Seele darum bemühe, dieses Gebot zu erfüllen, ich fühle, wie es im Briefe Johannes’ steht, dass Gott in mir ist und ich in ihm und dass, wenn ich die Menschen mit christlicher Liebe liebe, ich nicht nur frei werde von allen seelischen Unruhen, Sorgen und Leiden, sondern völlige Seligkeit empfinde, die auch nicht mehr, wie das früher der Fall war, durch den Gedanken an den Tod gestört wird. (PSS 80: 83f)

Anmerkungen 1 So z.B. N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra. Liˇcnost’ i tvorˇcestvo L’va Tolstogo v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej, St. Petersburg 2000, 259. Vgl. auch S.N. Bulgakov, Cˇelovekobog i cˇ elovekozver’ [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 616. 2 So z.B. N.V. Krainskij, Lev Tolstoj kak jurodivyj, Belgrad o.J. [1928], 22ff. Vgl. auch S. Zweig, Tolstoi, in: ders., Drei Dichter ihres Lebens, Frankfurt a.M. 21982, 257–275. 3 Auf die Synthese von Glaube und Vernunft im Denken Tolstojs hat schon Semën Frank in seinem Nekrolog O pamjati Tolstogo (1910) hingewiesen (s. S.L. Frank, Pamjati L’va Tolstogo, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 552f). 4 Vgl. PSS 35: 159, 171. Vgl. auch S.L. Frank, Pamjati L’va Tolstogo, 553. 5 Dazu vgl. E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika Tolstogo, Moskau 2006, 11. 6 Vgl. I.V. Kireevskij, O neobchodimosti i vozmoˇznosti novych naˇcal dlja filosofii (1856), in: ders., Kritika i e˙ stetika, Moskau 1979, 317f. 7 Tolstoj interessierte sich z.B. für Solov’evs Aufsatz Vera, razum i opyt (1877). Vgl. PSS 62: 369f. 8 Mit Blaise Pascal setzte sich Tolstoj schon in den 1850er Jahren auseinander (vgl. PSS 2: 287). Wie er 1876 seiner Großtante Alexandrine schreibt, war er von Pascal tief beeindruckt (PSS 62: 262). Der Franzose wurde zu einem Lieblingsdenker des Grafen. Zu Tolstoj und Pascal f U. Schmid, Katholizismus, 555f. 9 J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. 4, Paris 1969, 565–635. Dazu vgl. PSS 42: 176–180; 46: 128. Zu Tolstoj und Rousseau f J. Herlth, Jean-Jacques Rousseau, 477–490. 10 Vgl. PSS 57: 43. Zu Tolstoj und Kant f U. Schmid, Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, 491–498. 11 In seiner einflussreichen Übersetzung von Tolstojs Beichte gibt Raphael Löwenfeld die Ausdrücke znanie very und znanie razumnoe mit »Glaubenserkenntnis« und »Erkenntnis durch die Vernunft« wieder. Da mit znanie hier jedoch weniger ein Prozess und Ergebnis als vielmehr ein Vorhandensein ausgedrückt wird, erscheint uns die Übersetzung mit »Glaubenswissen« und »Vernunftwissen« treffender. In der Untersu-

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chung der dogmatischen Theologie umschreibt Tolstoj »Glaubenswissen« mit znanie, prinjatoe na veru (auf den Glauben hin angenommenes Wissen; PSS 23: 70). Insofern könnte znanie very – im Gegenüber zu »Vernunft-Wissen« – auch mit »Glaubens-Gewissheit« übersetzt werden. Tolstoj betont mit seiner Wortwahl freilich die Analogie von znanie very und razumnoe znanie. Dazu B. Pascal, Œuvres complètes, hg. v. J. Chevalier, Paris 1954, 1222, No. 481 (»Voilà ce que c’est que la foi: Dieu sensible au cœur, non à la raison«) und J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. 4, Paris 1969, 608 und 627. B. Pascal, Œuvres complètes, 1222, No. 480 (»La foi est un don de Dieu. Ne croyez pas que nous disions que c’est un don de raisonnement«). Tolstojs Sprachgebrauch mag zunächst verwirrend sein, besonders für LeserInnen, die davon ausgehen, dass das biblische Glaubensverständnis »Vertrauen« und nicht »Fürwahrhalten« bedeutet. L.N. Tolstoi, Für alle Tage, übers. v. E.H. Schmitt, Bd. 1, Dresden 1906, 91. Den Ausdruck vera razumnaja verwendet Tolstoj selbst; s. z.B. PSS 52: 18 und 58: 23. Vgl. z.B. A.V. Men’, »Bogoslovie« L’va Tolstogo i christianstvo, in: L.N. Tolstoj, Cˇetveroevangelie. Soedinenie i perevod cˇ etyrech Evangelij, Moskau 2001, 762; G.V. Florovskij, Puti russkogo bogoslovija, Paris 31983, 405; N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 247, 252, 259; S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj [1911], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 409. F.M. Dostoevskij, Polnoe sobranie soˇcinenij v 30 tomach, hg. v. der Akad. d. Wiss., Bd. 14, Leningrad 1976, 234. J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, Paris 1969, 617. Vgl. dazu PSS 26: 572–577; 42: 177 und J.J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, Paris 1969, 608 (»Si l’on n’eut écouté que ce que Dieu dit au cœur de l’homme, il n’y auroit jamais eu qu’une réligion sur terre«) und I. Kant, Werke in 6 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Sonderausg., Darmstadt 1998, Bd. 4, 768 (»Es ist nur eine [wahre] Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben«). Vgl. J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, 627. Vgl. auch PSS 19: 314. Vgl. I. Kant, Werke in 6 Bänden, Bd. 4, 778. G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Bd. 14/1, Düsseldorf 2009, 14. Tolstoj lehnte die – von ihm wohl missverstandene – Vorstellung Hegels von der Vernunftdurchdrungenheit des Seins und des Geschichtsprozesses ab (s. PSS 23: 7f). In der Liebe sieht Tolstoj die Selbstoffenbarung Gottes im Inneren des Menschen (f 231; L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 39). Vgl. f Ch. Münch, Offenbarung und Bibel, 352. Vgl. f 309; PSS 43: 182: »Die wahre Religion ist nicht die Religion der Vernunft«. Martin Doerne behauptet fälschlicherweise, Tolstoj wolle »eine Religion der Vernunft« (M. Doerne, Tolstoj und Dostojewskij. Zwei christliche Utopien, Göttingen 1969, 50). Im Lesezyklus beschreibt Tolstoj das Verhältnis von Vernunft und Liebe wie folgt: »Die Vernunft fragt: Wie und warum? Die Liebe sagt: Ich bin die Liebe. Und ohne die Frage zu beantworten, stellt sie die Vernunft gänzlich zufrieden« (PSS 41: 326). P. Tillich, Ausgewählte Texte, hg. v. Ch. Danz u.a., Berlin 2008, 36. Vgl. f M. Tamcke, Protestantische Theologie, 612.

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Christian Münch

Offenbarung und Bibel Bis heute ist die Ansicht verbreitet, dass Tolstoj die Vorstellung einer Offenbarung prinzipiell ablehne.1 Diese Einschätzung findet sich schon bei den Philosophen Sergej Bulgakov, Nikolaj Berdjaev und Vasilij Zen’kovskij: Bulgakov hält fest, dass Tolstoj der Offenbarungsidee »feindselig« gegenüberstehe;2 Berdjaev schreibt, dass Tolstoj »die Idee der Offenbarung als Unsinn« zurückweise;3 und Zen’kovskij charakterisiert Tolstojs religiöses Werk als einen »tiefgehenden eigenständigen Versuch, ein religiöses System ohne Offenbarung zu schaffen«.4 Mit diesen Auffassungen liegen die Philosophen insofern richtig, als Tolstoj eine übernatürliche Offenbarung negiert, die auf Wundern beruht und Anspruch auf absolute und exklusive Autorität erhebt (vgl. PSS 28: 40). Andererseits übersehen sie, dass der Graf von Jasnaja Poljana den Offenbarungsbegriff sehr wohl zum konstruktiven Element seines theologischen Denkens macht und ihn besonders auf die biblische Überlieferung bezieht.

Vernunftgemäße Offenbarung Tolstoj geht von einer natürlichen, d.h. vernunftgemäßen Offenbarung aus. In seiner Einleitung zur Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien (1879–81) definiert er »Offenbarung« (otkrovenie) als ein die Vernunft befriedigendes »Schauen« (sozercanie) der rational nicht erschließbaren göttlichen Wahrheit: Als Offenbarung bezeichne ich dasjenige, was sich der Vernunft, die ihre höchsten Grenzen erreicht hat, offenbart, nämlich das Schauen der göttlichen, d.h. der über der Vernunft stehenden Wahrheit. (PSS 24: 14)

Diesen Offenbarungsbegriff verbindet Tolstoj mit der Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Und so versteht er unter »Offenbarung« dasjenige, was die rational unlösbare Sinnfrage vernunftgemäß beantwortet: Als Offenbarung bezeichne ich das, was auf jene von der Vernunft nicht lösbare Frage, die mich zur Verzweiflung und zum Selbstmord getrieben hat, eine Antwort gibt: Welchen Sinn hat mein Leben? […] Die Antwort darf der Vernunft nicht widersprechen, denn einer

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widersprechenden Antwort werde ich nicht glauben, und deshalb muss sie nicht nur verständlich und unwillkürlich, sondern auch für die Vernunft notwendig sein […]. Die Antwort muss auf meine Frage antworten: Welchen Sinn hat mein Leben? Gibt sie darauf keine Antwort, dann brauche ich sie nicht. Die Antwort muss so beschaffen sein, dass, obwohl ihr Wesen (wie das Wesen Gottes) an sich unbegreiflich ist, alle daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen meinen vernünftigen Anforderungen entsprechen und dass der Sinn, der meinem Leben verliehen ist, alle Fragen meines Lebens entscheiden soll. (PSS 24: 14)

Während Tolstoj den »Glauben« als Lebenskraft im Sinne einer existenziellen Gewissheit über den Sinn des Lebens versteht, beschreibt er »Offenbarung« als »dasjenige, was dem Menschen hilft, den Sinn des Lebens zu begreifen« (f 72; PSS 23: 475). Dabei hält er fest, dass der Glaube eine vernunftgemäße Folge der Notwendigkeit und Wahrhaftigkeit der Offenbarung sei (PSS 24: 14). In seinem Christlichen Katechismus versteht er unter »Offenbarung« – im Sinne des Offenbarten – das konkrete »Glaubenswissen«, das von Gott in der Seele der Menschen eröffnet und von diesen schriftlich oder mündlich überliefert wird (f 49f; PSS 17: 365f).5 Insofern bezeichnet er mit »Offenbarung« alles, was sich der Menschheit zur Lösung der Sinnfrage an Wissen erschließt – an »Wissen davon, was der Mensch mit seiner Vernunft nicht erfassen kann, was aber von der ganzen Menschheit aus dem in der Unendlichkeit verborgenen Urquell hervorgebracht wird« (PSS 24: 15). In diesem Zusammenhang unterscheidet Tolstoj zwei Aspekte von »Offenbarung«: 1. die Offenbarung, die von Gott in der Seele jedes einzelnen Menschen gewirkt wird, und 2. die Offenbarung, welche Menschen zu früheren Zeiten erfahren und in heiligen Schriften und Traditionen festgehalten haben (vgl. f 50; PSS 17: 366). Im ersten Fall ist die Offenbarung unmittelbar und universal, weshalb sie die Menschen vereint, im zweiten dagegen mittelbar und oft verfälscht durch widersprüchliche Überlieferungen, die von Menschen stammen und die Menschheit spalten. Im zweiten Fall hält Tolstoj die Offenbarung nur dann für göttlich und wahr, wenn sie mit dem ersten Aspekt übereinstimmt, d.h. wenn sie sich in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit erschließt und der göttlichen Kraft der Vernunft entspricht, was daran erkennbar ist, ob sie allen Menschen gemeinsam und zugänglich ist. Am Kriterium der Vernunft misst Tolstoj die Offenbarungsüberlieferung der Bibel, die er nicht als »unfehlbaren Ausdruck göttlicher Wahrheit« versteht, sondern als fehlerhaftes »Werk von Hand und Verstand zahlloser Menschen« (f 213; PSS 39: 115, Anm. 1). Die göttliche Offenbarung, glaubt er, sei in der Bibel sehr wohl enthalten, aber durch menschliche Deutung und Ergänzung verdunkelt und verfälscht worden. Bereits die biblischen Autoren hätten die Offenbarung verschleiert, indem sie sie »auf besondere, übernatürliche Art« darstellten, um sie als unfehlbar und absolut auszugeben (vgl. PSS 28: 43). Diese Verdunkelungsmethode sei von den kirchlichen

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Auslegern bis heute weiter betrieben worden und habe die Gläubigen in viele Konfessionen und Sekten gespalten. Aus diesen Gründen plädiert Tolstoj für eine Emanzipation von der kirchlichen Auslegungstradition und von all jenen Inhalten der Bibel, die der universalen Vernunft widersprechen. Dadurch soll der Zugang frei gemacht werden zur ursprünglichen göttlichen Offenbarung, die vernunftgemäß auf die Sinnfrage antwortet und in der Bibel ebenso enthalten ist wie in anderen Religionsschriften. Ähnlich wie Kant macht Tolstoj die Vernunft zum »Ausleger« der Hl. Schrift:6 die »Vernunft, die« – wie er 1900 an Vlasov schreibt – »älter als alle Bücher und Bibeln ist, aus der alle Bibeln hervorgingen, ohne die nichts verstanden werden kann und die jedem von uns gegeben ist – nicht über Moses, Christus, die Apostel oder die Kirche, sondern direkt von Gott einem jeden von uns und allen als ein und dieselbe« (PSS 72: 318).

Kanonkritik Ausgehend von der Zurückweisung einer übernatürlichen Offenbarung und des Auslegungsmonopols der Kirche entfaltet Tolstoj seine Kritik am biblischen Kanon. »Die göttliche Offenbarung«, schreibt er in der Einleitung zu seiner Evangelienharmonie, »kann nicht in einer bestimmten Anzahl von Seiten und Buchstaben ausgedrückt werden« (PSS 24: 15). Indem die Kirche das, was sie für göttlich hielt, durch einen Strich absonderte, vermochte sie nicht die Wahrheit von der Lüge zu trennen, sondern fehlte gerade dadurch, »dass sie auf alles, was sie anerkannte, das Siegel der Unfehlbarkeit legte« (PSS 24: 16). Obwohl Tolstoj die Vorstellung von der Theopneustie beibehält,7 wendet er sich gegen die Überzeugung, dass alle Schriften und Aussagen im Kanon göttlich inspiriert seien. Viele seien voller Unsinnigkeiten und Widersprüche, ja manche sogar »blasphemisch« (PSS 24: 16). Deshalb gehe es nicht darum, die biblischen Schriften und Aussagen miteinander in Übereinstimmung zu bringen und damit dem »Widersinnigen den größtmöglichen Sinn« zu verleihen (wie es die Kirche tue), sondern darum, das Vernunftgemäße und Wesentliche vom Vernunftwidrigen und Unwesentlichen zu trennen. Das Zentrum der Hl. Schrift erblickt Tolstoj in der »ursprünglichen Offenbarung Christi«, d.h. der Offenbarung durch Christus, wie sie in den Evangelien vermittelt wird (PSS 24: 13). In ihr entdeckt er die vernunftgemäße, auf die Sinnfrage antwortende Lehre und die »Mitte«, welche die Autorität der Schrift begründet und begrenzt.8 Angesichts dieser in den Evangelien enthaltenen »Mitte« weist Tolstoj dem Alten Testament und den neutestamentlichen Briefen eine periphere Bedeutung bei.

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Das Alte Testament In der Einleitung zu seiner Evangelienharmonie wertet Tolstoj das Alte Testament angesichts der Offenbarung Christi ab. Er misst ihm wenig universal-existenzielle Bedeutung bei, sondern fast nur religionsgeschichtlichen Wert, da der Glaube der Juden vor Christus lokal begrenzt gewesen sei. Deshalb hält er die Lektüre des Alten Testaments zunächst für entbehrlich: Das Alte Testament lese ich nicht, denn die Frage besteht nicht darin, wie der Glaube der Juden war, sondern worin der Glaube Christi besteht – jener Glaube, in dem die Menschen einen Sinn finden, der ihnen die Möglichkeit zu leben gibt. Die jüdischen Bücher können für uns von Interesse sein, als Erklärung für jene Formen, in denen sich das Christentum geäußert hat; die Folgerichtigkeit des Glaubens von Adam bis in unsere Zeit aber können wir nicht anerkennen, da der Glaube der Juden vor Christus ein lokaler war. (PSS 24: 15)

Aus diesen Zeilen darf jedoch nicht geschlossen werden, dass Tolstoj das Alte Testament gänzlich ablehnt. Wenn er auch der Ansicht ist, der partikulare jüdische Glaube sei durch die universale Lehre Christi überwunden worden (vgl. PSS 24: 100), schreibt er der Hebräischen Bibel die Bedeutung einer historischen Vorstufe und Verständnishilfe zum Neuen Testament zu. In seinem Evangelienkommentar rekurriert er oft auf alttestamentliche Stellen, selbst dort, wo dies für die Auslegung nicht zwingend ist.9 Auch zeigt sich Tolstoj seit Kindheit von alttestamentlichen Texten beeindruckt. So erinnert er sich 1891, dass er in jungen Jahren von der Josephsgeschichte fasziniert gewesen sei (PSS 66: 67); und in den frühen 1870er Jahren nimmt er folgende alttestamentliche Texte in seine Fibeln auf: die Schöpfungsberichte (Gen 1,1–3,19), die Josephsgeschichte (Gen 37; 40–45), den Dekalog (Ex 20,2–17) und die Psalmen 37 und 104.10 Während seiner Sinnkrise in den 1870er Jahren liest er das Buch Kohelet (Prediger Salomo), dem er in der Beichte – als Pendant zur Philosophie Schopenhauers – mehrere Abschnitte widmet (PSS 23: 23ff): Bei Kohelet findet er seinen eigenen Skeptizismus wieder, den er in der Folge zwar teilweise bekämpft, von dem er aber nie ganz ablässt. 1882/83 lernt Tolstoj Hebräisch und beginnt das Alte Testament im Original zu lesen. In diesem Zusammenhang schreibt er seiner Frau am 29. Mai 1883: »Wenn ich zuhause sitze, lese ich die Bibel toujours avec un nouveau plaisir« (PSS 83: 379). Und am 10. März 1884 notiert er ins Tagebuch: »Las die Hebräische Bibel« (PSS 49: 65f). – Damit konterkariert Tolstoj seine eigene Aussage, dass er das Alte Testament nicht lese. Nachdem er die Hebräische Bibel im Zuge seiner Evangelienlektüre um 1880 abgewertet hat, beurteilt er sie nun differenzierter. Neben den Evangelien zählt er 1891 das Buch Genesis sogar zu jenen Schriften, die ihn in den 1880er Jahren am stärksten beeindruckt haben (PSS 66: 68). Und 1883 hält er in Mein Glaube fest, dass auch in der Tora und den Propheten »göttliche Wahrheiten« ent-

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halten seien: namentlich das Doppelgebot der Liebe11 – das Fundament der Lehre Christi und Gebot des »ewigen Gesetzes«, welches das Mosaische Gesetz später abgelöst habe – und manches, was mit diesem Gebot und der Vernunft übereinstimmt (PSS 23: 342). Damit macht Tolstoj – neben der vernunftgemäßen Beantwortung der Sinnfrage – die prüfende Instanz der Liebe zum Kriterium der Offenbarung. Sämtliche Aussagen des Alten und Neuen Testaments beurteilt er von einem universalen liebesethischen Standpunkt aus, den er mit dem christlichen identifiziert. Unter diesem Gesichtspunkt entdeckt Tolstoj im Alten Testament einerseits »göttliche Wahrheiten«, andererseits vernunftwidrige und ethisch verwerfliche Inhalte. Insbesondere kritisiert er die Idealisierung Davids, in dem er einen Herrscher erblickt, der nicht zur moralischen Leitfigur taugt. In seiner Aphorismensammlung Für jeden Tag schreibt er: Wer an die göttliche Inspiriertheit des Alten Testaments und an die Heiligkeit Davids glaubt, der auf dem Sterbebett – als letzten Willen – den Mord eines alten Mannes beauftragte, weil er von diesem beleidigt worden war und weil er ihn selbst, da er an einen Schwur gebunden war, nicht töten konnte (1 Kön 2,8), – wer an solche Abscheulichkeiten glaubt, von denen das Alte Testament voll ist, kann nicht mehr an die Brüderlichkeit aller Menschen glauben. (PSS 44: 295)12

Tolstojs Kritik erstreckt sich auch auf die alttestamentlichen Gottesvorstellungen, die er bald für vernunft- und liebeswidrig, bald für anthropomorph hält (trotz des Bilderverbots). So bezeichnet er den alttestamentlichen Gott als »roh und grausam« (PSS 23: 275) und lehnt die Vorstellung eines Schöpfer-Gottes ab (vgl. f 226; PSS 87: 298). Dabei wendet er sich vehement gegen die kirchliche Weisung, dass die Erzählung von der sechstägigen Schöpfung (Gen 1,1–31) – entgegen aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis – wörtlich zu verstehen sei (PSS 23: 129).13 In seinem unvollendeten Drama Und das Licht scheinet in der Finsternis legt Tolstoj seinem Alter Ego, dem Fürsten Nikolaj Ivanoviˇc, folgende Worte in den Mund: Schrecklich ist es, zu denken, dass wir jetzt, Ende des 19. Jahrhunderts, lehren, Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, habe dann die Sintflut gesandt, habe alle Tiere in die Arche setzen lassen und alle diese Torheiten und Ungereimtheiten des Alten Testaments. (PSS 31: 132)

Nicht weniger kritisch äußert sich Tolstoj über die vielen Gesetze und Vorschriften im Pentateuch: Er spricht von »kleinlichen, sinnlosen und oft grausamen Regeln« (PSS 23: 335f). Christus, der vom alten Gesetz die Grundlagen übernahm, doch alles andere verwarf, habe solche Regeln in der »Offenbarung des ewigen Gesetzes« aufgehoben (PSS 23: 346). Tolstojs Kritik des Alten Testaments ist letztlich eng mit seiner Kritik an der Kirche und ihrer Schriftauslegung verknüpft. So wird den kirchlichen Exegeten vorgeworfen, dass sie durch ihre Hochwertung des Mosaischen

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Gesetzes die Lehre Christi in ihrer Gültigkeit einschränkten, ja sie zu einem Nichts herabdrückten. Stattdessen solle nicht das Gesetz Christi durch das Gesetz Mose, sondern das Gesetz Mose durch das Gesetz Christi relativiert werden. Handelt es sich doch beim Gesetz Christi, wie Tolstoj betont, um das universale, ewige Gesetz Gottes (PSS 23: 346).

Das Neue Testament Wie mit dem Alten Testament verfährt Tolstoj mit den neutestamentlichen Briefen, der Apostelgeschichte und der Johannes-Offenbarung: Er schränkt ihre Bedeutung angesichts der im Evangelium enthaltenen »ursprünglichen Offenbarung Christi« ein. Denn in diesen Schriften werde nicht die Lehre Christi selbst verkündet, sondern nur noch die Deutung derselben. Dabei trügen insbesondere die Paulusbriefe zur Verschleierung des Sinns der Lehre bei und hätten oft nicht nur nichts mit dem Evangelium und den Briefen des Johannes und Jakobus gemein, sondern widersprächen ihnen geradezu (PSS 24: 18). Den letztgenannten Schreiben (1–3 Joh und Jak) misst Tolstoj zwar einen höheren Stellenwert bei als den Paulusbriefen, doch seien auch sie nur »zufällige Erklärungen« der Lehre Christi und böten nichts Neues (PSS 24: 18). Besonders negativ urteilt er über die Apostelgeschichte und die Johannes-Offenbarung: In Ersterer – dem wundersamen Zeugnis der Anfänge der Kirche – sieht er ein »blasphemisches Buch«, das den Glauben unterhöhle (PSS 24: 17), und in Letzterer ein Werk, das nichts mehr offenbare (PSS 24: 18). Doch wenn Tolstoj die neutestamentlichen Schriften außerhalb der Evangelien auch abwertet, so rekurriert er gleichwohl häufig auf sie. Stellen wie Apg 5,29; 1 Thess 5,21; 2 Thess 3,10; Jak 2,14–26 und 1 Joh 4,12.16 gehören sogar zu seinen bevorzugten Bibelversen. Mit Ausnahme der – in der Ostkirche gleichfalls umstrittenen – Johannes-Offenbarung anerkennt er letztlich alle neutestamentlichen Schriften als Zeugnisse göttlicher Offenbarung, obwohl der Sinn darin häufig verdunkelt sei.14 Vor diesem Hintergrund versucht Tolstoj die »ursprüngliche Offenbarung Christi« von demjenigen abzusondern, was neutestamentliche Autoren und kirchliche Ausleger Christus fälschlich zugeschrieben haben (vgl. PSS 24: 812). Zu seinem Ziel erklärt er die Erschließung der unverfälschten, »reinen« Lehre Christi, wie sie in den vier Evangelien ausgedrückt ist (PSS 24: 814). Diesem Ziel widmet er sein exegetisches Hauptwerk Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien sowie die daraus entnommene Kurze Darlegung des Evangeliums. Dass sich Tolstoj auf die vier Evangelien konzentrierte, ist auch kulturgeschichtlich bedingt. Besaßen doch die russischen Bauern, an deren Glau-

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ben er sich ein Beispiel nahm, nur selten eine ganze Bibel. Viel häufiger verfügten sie, sofern sie denn lesen konnten, über eine Ausgabe der vier Evangelien (mit Paralleltext kirchenslavisch / russisch).15 Dieses »Viererevangelium« war gleichsam die russische Volksbibel.

Erschließung der Offenbarung Christi in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit Eigenen Angaben zufolge hat Tolstoj seine Werke über die Lehre Christi nur geschrieben, um die normativen Evangelienauslegungen in ihrer »Unwahrheit« zu entlarven. Hierbei wendet er sich gegen die Vorstellung, dass man die Evangelien unbedingt »auslegen« müsse, und plädiert dafür, »sie so [zu] verstehen, wie sie geschrieben sind« (f 212; PSS 39: 114). Damit meint er indessen kein fundamentalistisches Verständnis, sondern die Loslösung der Evangelien von der kirchlichen Auslegungstradition, besonders von der abwertenden Relativierung durch andere kanonische Schriften und durch exegetische Sophismen. Der »Auslegung«, die er mit »Verfälschung« und »Entwertung« assoziiert, setzt Tolstoj die unmittelbare, unvoreingenommene Evangelienlektüre »mit Verstand und Bedacht« entgegen (f 212f; PSS 39: 114). Statt das Evangelium »auszulegen«, solle man es wie ein Kind aufnehmen (vgl. Mk 10,15), d.h. man müsse das Augenmerk auf dasjenige richten, was unmittelbar verständlich sei und was mit der Vernunft und dem Gewissen übereinstimme. Dabei solle man, um den Geist und Sinn des Evangeliums zu erfassen, das unmittelbar Verständliche und Einleuchtende vom Unverständlichen und Komplexen trennen (vgl. f 213; PSS 39: 114f). Dieses hermeneutische Verfahren, fasst Tolstoj in seinem Tagebucheintrag vom 21. Juli 1910 wie folgt zusammen: Man soll das Evangelium und alle als Hl. Schrift anerkannten Bücher so lesen, dass man ihren Inhalt genauso erörtert wie den Inhalt aller Bücher, die wir lesen, und soll daher, wenn man auf Widersprüchliches, Unklares oder Unsinniges stößt, dies nicht zu erklären versuchen, sondern es einfach beiseite lassen und stattdessen demjenigen Wichtigkeit und Bedeutung beimessen, was mit dem gesunden Menschenverstand und, vor allem, mit unserem Gewissen vereinbar ist. (PSS 58: 82)

»Das Wesen der Lehre Christi« erblickt Tolstoj in dem, was Christus auf unmittelbar verständliche Weise verkündet hat und was mit der Vernunft und dem Gewissen übereinstimmt (f 213f; PSS 39: 115f). Darin sieht er den Kern der Offenbarung und die Richtschnur für die Erklärung jener Evangelienstellen, die schwer verständlich und kompliziert sind (f 213; PSS 39: 114). Was jedoch im Evangelium unverständlich ist und der Vernunft oder dem Gewissen widerspricht, hält er für eine Verdunkelung der wahren, gött-

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lichen Offenbarung durch Menschenwerk. Zu den verdunkelnden Faktoren zählt Tolstoj v.a. die Wunder- und Weissagungsberichte, mit denen Menschen die Autorität der Lehre Christi zu beglaubigen suchten: Diese »falschen Wunderlegenden«, die mit der Geburt und Herkunft Christi beginnen und ihren Gipfel in den Auferstehungsberichten erreichen, behinderten das Verständnis der Lehre nur und sollten deshalb ausgelassen werden (vgl. f 164–173; PSS 24: 790–798).16 Deshalb eliminiert Tolstoj in seiner Evangeliendarlegung übernatürliche Elemente und mythologische Motive. Auf diese Weise versucht er, die evangelische Botschaft auf ihren Kern zu reduzieren – auf die Offenbarung Christi als »metaphysische und ethische Lehre«, die mit der Vernunft und dem Gewissen übereinstimmt und dem Leben einen Sinn gibt (PSS 24: 814). Mit diesem Versuch der Eliminierung des Mythischen und der Reduktion des Kerygmas auf eine religiös motivierte Ethik kommt Tolstoj einem Anliegen der liberalen Theologie nach. Dementsprechend häufig rekurriert er auf die Exponenten der Tübinger Schule (David Friedrich Strauß, Ferdinand Christian Baur) und auf ihnen nahestehende Bibelwissenschaftler wie Ernest Renan und Edouard Reuß (f E. Bryner, Protestantismus, 546f).17 Doch distanziert sich Tolstoj insofern von ihrer exegetischen Methode, als er den historischen Gesichtspunkt für unmaßgeblich hält. Wie er in der Einleitung zu seiner Evangeliendarlegung schreibt, geht es ihm nicht um historische Kritik, »sondern um die Erforschung des Sinns der Lehre« (PSS 24: 18). Demzufolge gilt sein Interesse weniger der Rekonstruktion der Aussagen und Taten des historischen Jesus als vielmehr dem Erfassen der Lehre Christi als überzeitlicher vernunftgemäßer Offenbarung. Zwar anerkennt Tolstoj die historische Kritik und knüpft an deren Ergebnisse an (PSS 24: 805),18 doch hält er es für falsch, sie zum Ziel der Exegese zu erheben. Nach ihm geht das Ziel weit über die Rekonstruktion geschichtlicher Wirklichkeit hinaus und besteht in der Erschließung der zeitlosen Offenbarungswahrheit, die rational nicht beweisbar ist, aber intuitiv und intersubjektiv einleuchtet und dem Leben einen Sinn gibt.

Vereinigung und Neuerzählung der Evangelien In den Evangelien nimmt Tolstoj die Offenbarungswahrheit als eine und dieselbe wahr, weshalb er die vier Evangelien – wie es Tatian in seinem Diatessaron gemacht hat19 – zu einer Einheit zusammenfasst. Als chronologische Richtschnur dafür dient ihm – wie einst Tatian – das Johannesevangelium, während er die Mitte der christlichen Lehre in der matthäischen Bergpredigt sieht. Gegliedert ist seine Evangelienharmonie in zwölf Kapitel, die in ihrer

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Reihenfolge und Thematik mit dem Vaterunser korrespondieren – dem »Herrengebet«, in dem Tolstoj eine komprimierte Darstellung der Lehre Christi und einen Schlüssel zum Verständnis des gesamten Evangeliums erblickt (PSS 24: 803).20 In der Erstfassung der Evangelienharmonie besteht jedes der zwölf Kapitel aus drei Teilen: einer Übersetzung der Evangelienstellen aus dem Griechischen,21 exegetischen »Erläuterungen« und einer abschließenden »allgemeinen Darlegung«. Aus der »allgemeinen Darlegung« fertigte Tolstoj 1881 die Kurze Darlegung des Evangeliums an,22 die in Russland durch illegale Abschriften verbreitet wurde und im Westen in Übersetzungen erschien.23 Diese Kurze Darlegung beinhaltet neben der vollständigen Neuerzählung des Evangeliums24 eine Zusammenfassung, die in den vorliegenden Band aufgenommen wurde (f 134–163). Für die Auslegungsgeschichte des Neuen Testaments ist Tolstojs Evangeliendarlegung nicht unwichtig. Zwar fand sie bei den Fachexegeten wenig Anklang,25 doch stieß sie auf gesellschaftliche Resonanz und forderte Kirche und Theologie heraus. In dieser breiten, ebenso provokativen wie inspirativen Wirkung liegt ihre historische Bedeutung. Tolstojs Evangeliendarlegung ist eine herausfordernde Gegendarstellung sowohl zu den autoritativen Auslegungen der Kirche als auch zu den Jesusdarstellungen der historischen Kritik. Gegen Erstere richtet sich u.a. die Eliminierung des Übernatürlichen und Mythischen, gegen Letztere die Gewichtung einer zeitlos-universalen Offenbarungswahrheit. Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis der Darlegung wichtig und sollte bei der Lektüre im Auge behalten werden. Bei der Lektüre fällt zunächst auf, dass Tolstoj das Evangelium narrativ darlegt, und zwar vermittels Neuerzählung des Inhalts in seiner zeitlos-universalen Aktualität.26 Dabei verbindet er nicht nur die Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern auch die palästinische Umwelt mit dem eigenen Kulturkontext. Obwohl seine Jesuserzählung vorwiegend im Präteritum gehalten ist und von konkreten Personen und Orten handelt, will sie weder an eine bestimmte Epoche noch an einen bestimmten Kulturkreis gebunden sein. Dies wird u.a. daraus ersichtlich, dass Tolstoj die Schriftgelehrten und Pharisäer als pravoslavnye (Orthodoxe, Rechtgläubige), die Hohepriester als archierei (Bischöfe) und die pharisäische Lehre als cerkovnoe predanie (kirchliche Überlieferung) bezeichnet. Ihnen gegenüber stellt er Christus als aktuellen Kirchenkritiker dar, der die »äußere Gottesverehrung« anprangert und ihr ein Leben im Geist bzw. in tätiger Liebe entgegensetzt.

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Vernunft- und sinngemäße Darlegung in künstlerischer Freiheit Bei seiner Darlegung nimmt sich Tolstoj Freiheiten, die eher dem Künstler zustehen als dem Exegeten. Dies zeigt sich bereits im Prolog seines »Evangeliums«, wo er Joh 1,1a (»Im Anfang war der Logos«) folgendermaßen paraphrasiert: »Im Allgrund und Allbeginn ward das Verständnis des Lebens« (PSS 24: 817; vgl. f 136). Tolstoj übersetzt »Logos« mit razumenie (Verständnis) – einem Begriff, der seiner Ansicht nach die Bedeutungen »Vernunft«, »Ursache«, »Überlegung« und »Wechselbeziehung« umfasst. Dabei versteht er unter razumenie nicht nur die Vernunft, sondern auch die Handlung der Vernunft, die zu etwas hinführt; nicht nur die Ursache, sondern auch die Suche nach ihr; nicht nur die Überlegung, sondern auch die Überlegung, welche die Ursache klärt, und nicht nur die Beziehung, sondern auch die vernünftige Tätigkeit in Bezug auf die Ursache […]. (PSS 24: 26)

In diesem umfassenden Sinne macht Tolstoj das Wort razumenie zum Schlüsselbegriff seiner Evangeliendarlegung und braucht es – in Verbindung mit ˇzizn’ (Leben) aus 1 Joh 1,1 – als Gottesbezeichnung.27 Demgemäß lautet seine Paraphrase von Joh 1,1c: »Das Verständnis des Lebens ist Gott« (PSS 24: 817). Diese »Übersetzung« ist nicht nur sehr frei, sondern aus wissenschaftlicher Sicht auch inkorrekt, da ihre exegetische Begründung auf Irrtümern beruht28 und der Logos nicht mit Christus, sondern mit einer abstrakten, dem Evangelisten fremden Gottesvorstellung identifiziert wird. Doch folgt sie konsequent Tolstojs rationalem Darlegungsprinzip, das die Vorstellung von Christus als präexistentem Gott-Logos nicht ohne Weiteres zulässt,29 aber eine vernunftgemäße Gottesvorstellung mit pantheistischen Zügen nahelegt. Und so wird der persönliche Gott des Evangeliums zum überpersönlichen, abstrakt anmutenden Prinzip: zur Vernunft und Ursache des Lebens, zum »Verständnis des Lebens«.30 Nicht weniger frei geht Tolstoj mit der Vita Jesu um, die er einerseits rationalisiert und »entmythologisiert«, andererseits mit romanesken Zügen versieht.31 So stellt er Christus als illegitimes Kind dar, womit er erklärt, warum dieser Gott für seinen »Vater« hält; oder er macht aus der Versuchungsgeschichte (Mt 4,1–11 par.) ein Selbstgespräch, das sich als innerer Dialog zwischen Geist und Fleisch erweist (f 137; PSS 24: 818). Von den Heilungsund Wundergeschichten behält er nur wenige bei, die er wiederum rational darlegt – so die Erzählung von der Heilung eines Gelähmten am Sabbat (Joh 5,1–18) und die Geschichte von der Speisung der Fünftausend (Joh 6,1–13): Erstere deutet er als Aufforderung an einen Kranken zu leben; letztere als brüderliches Teilen des Abendbrots (vgl. f 142f; PSS 24: 848f). Das Auferstehungswunder schließlich ersetzt er mit dem »fleischlichen Tod« am Kreuz, der durch das »geistige Leben« besiegt ist, wie es Christus gelehrt und gelebt hat (vgl. f 163, 144; PSS 24: 927, 861).

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Auf ähnlich freie Weise stellt Tolstoj die Lehre Christi dar, die er zum eigentlichen Inhalt seines »Evangeliums« macht. Am klarsten und praxisnächsten findet er sie in der Bergpredigt ausgedrückt, die er im 4. Kapitel seiner Darlegung paraphrasiert (vgl. f 140f; PSS 24: 839). Dazu schreibt er in Mein Glaube: Eine besondere Stellung nahm für mich in den Evangelien immer die Bergpredigt ein. Sie las ich am häufigsten. Nirgends sonst spricht Christus so feierlich wie hier, nirgends sonst stellt er so viele sittliche, klare, verständliche Regeln auf, die jedem im Herzen unmittelbar einleuchten, nirgends sonst spricht er zu einer so großen, bunten Menge einfacher Menschen. (f 104; PSS 23: 308)

Tolstoj ist der Ansicht, dass sich der Wille Gottes nirgends so klar offenbart wie in der Bergpredigt. Dementsprechend sieht er in den Kapiteln 5–7 des Matthäusevangeliums den Schlüsseltext nicht nur des Evangeliums, sondern der gesamten – auch die Schriften anderer Religionen und Weltanschauungen mit einschließenden – Offenbarungsüberlieferung. Doch trotz der Klarheit des Textes hält er es nicht für überflüssig, die Bergpredigt in künstlerischer Freiheit neu darzulegen – im Gegenteil: Ihrer zeitlos-universalen Evidenz und Gültigkeit soll auf diese Weise Nachdruck verliehen werden. Dabei unterstreicht er die Gültigkeit der Offenbarungswahrheit nicht nur für alle Menschen, sondern auch für alle Lebensbereiche. In diesem Zusammenhang misst Tolstoj der Bergpredigt gesellschaftspolitische Relevanz bei und deutet sie als anarcho-pazifistisches Programm, das die Überwindung aller Gewalt anstrebt und die Offenbarung Christi als eine mit staatlichen Institutionen unvereinbare Sittenlehre wiedergibt. Deren fünf Hauptgebote sieht er in den Weisungen Jesu gegen das Zürnen (Mt 5,22), Begehren (5,28) und Schwören (5,34) sowie in den Prinzipien des Nichtwiderstehens (5,39) und der Feindesliebe (5,44).32 Besondere Bedeutung misst Tolstoj dem Gebot des Nichtwiderstehens bei, woraus sich ihm – wie er in Mein Glaube schreibt – sowohl die Bergpredigt wie auch das ganze Evangelium erschlossen habe (f 107; PSS 23: 311). Das Gebot des Nichtwiderstehens deutet er als Weisung nicht nur gegen das Vergeltungsrecht und die Bekämpfung des Bösen mit Bösem, sondern – in Verbindung mit Mt 7,1–6 – auch gegen das staatliche Gerichtswesen (PSS 24: 843). Damit verleiht er letztlich all seinen negativen Erfahrungen Ausdruck, die er – u.a. als Friedensrichter – mit der russischen Justiz gemacht hat.33 Wie sein Verständnis von Mt 5,38–42 zeigt, beruht Tolstojs Evangeliendarlegung zu einem wesentlichen Teil auf autobiographischer Erfahrung. Sein Versuch, universale Antworten auf die Sinnfrage zu erschließen, bleibt mit der eigenen Lebensgeschichte und Umwelt eng verbunden und führt mitunter zu Ergebnissen, die nicht universal einsichtig sind.34 Daher ist Tolstojs Evangeliendarlegung – obwohl sie den Anspruch erhebt, keine »Auslegung«, sondern eine Darlegung der Lehre Christi nach ihrem eigentlichen,

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vernünftigen Sinn zu sein – eine ebenso produktive wie subjektive Deutung. Wenn Vasilij Zen’kovskij 1912 feststellt, bei Tolstojs Darlegung handle es sich weniger um die »Lehre Christi« als vielmehr um die »Lehre Tolstojs«,35 so hat er nicht Unrecht. Tolstojs Evangeliendarlegung ist eine persönliche, originelle, ja sogar eigenwillige Interpretation, die sich aus existenzieller Betroffenheit ergeben hat. Aber gerade als solche ist sie heute noch lesenswert und als solche behält sie ihre Bedeutung und Berechtigung neben vielen anderen Auslegungen der vieldeutigen Bibeltexte.36 Ihre Fortsetzung hat sie schließlich in narrativen Werken wie den Volkserzählungen (1881–86) und dem Roman Auferstehung (1889–99) gefunden, die zu den großen Schöpfungen der russischen Literatur gehören.

Die Offenbarung in den Gedanken der Weisen Tolstojs Versuch, die Lehre Christi als universale, natürliche Religion zu vermitteln, findet ihren Abschluss in den Anthologien Lesezyklus (1904–08), Für jeden Tag (1906–10) und Der Weg des Lebens (1910). Darin legt Tolstoj die aus den Evangelien erschlossene Offenbarung als Gemeingut der Menschheit dar, indem er sie in den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen nachweist. Das Ergebnis ist eine kalendarisch und thematisch geordnete Kompilation aus eigenen Aphorismen und frei wiedergegebenen Zitaten religiöser und weltlicher Denker von Zarathustra über Mohammed bis zu Rousseau und Kant. Gleichsam als Motto fungiert ein Spruch Schopenhauers, der in den Anthologien zitiert wird: »Es gibt keine andere Offenbarung als die Gedanken der Weisen« (PSS 42: 175; PSS 44: 71).37 Durch Sammeln konvergenter Weisheitslogien versucht Tolstoj die Offenbarung als gemeinsames »Glaubenswissen« darzulegen, das die Menschen aller Religionen, Völker und Zeiten zur Lösung der rational nicht lösbaren Sinnfrage erschlossen haben – erschlossen aus dem einen, in der Ewigkeit verborgenen Urquell. Anders als Schopenhauer entdeckt Tolstoj die »Weisheit« aber nicht primär bei Gebildeten und Intellektuellen, sondern besonders bei einfachen und ursprünglichen Menschen. Deshalb verknüpft er in seinen Anthologien die Zitate berühmter Denker mit Volksweisheit und mit den Gedanken von Bauern (Bondarev) und Arbeitern (Buka). Nur was allen Menschen in der Seele offenbart wird – unabhängig von der Bildung, Klasse, Religion, Nation und Zeit –, erweist sich für Tolstoj als wahr. Die absolute Wahrheit könne der Mensch aber nie genau und vollkommen ausdrücken, weil in ihm stets konträre Tendenzen streiten, schreibt Tolstoj im Lesezyklus (PSS 42: 343). Demnach müssen die Aphorismen, die er in seinen Anthologien sammelt und die einander manchmal zu wider-

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sprechen scheinen,38 in ihrer Relativität, Korrelation und Gesamtheit betrachtet werden. Im Sinne des Gleichnisses von den Blindgeborenen und dem Elefanten (PSS 22: 564) gibt Tolstoj die universale Offenbarungswahrheit fragmentarisch und vielfältig wieder. Dabei geht es ihm weniger um theoretische Spekulation als vielmehr um die sittliche Lebenspraxis: Die göttliche Wahrheit, deren Offenbarung ihren höchsten Ausdruck in der Lehre Christi gefunden hat39 und zum Gemeingut vieler Weltanschauungen und Religionen gehört, soll praktiziert werden (vgl. PSS 42: 344; Joh 3,21). Zusammenfassung. Während Tolstoj unter »Glauben« die Lebenskraft im Sinne einer dem »Vernunftwissen« vorausgehenden Gewissheit über den Sinn des Lebens bzw. über die Existenz Gottes versteht, begreift er »Offenbarung« als das Erschauen der göttlichen Wahrheit im Sinne einer vernünftigen, unmittelbar und universal einleuchtenden Antwort auf die rational nicht lösbare Frage nach dem Sinn des Lebens. Als solche wird die Offenbarung von Gott in der Seele der Menschen gewirkt, die ihrerseits versuchen, sie schriftlich festzuhalten und der Nachwelt zu überliefern. Diese menschliche, in heiligen und weltlichen Schriften fixierte Offenbarungsüberlieferung ist jedoch mit Fehlern behaftet, die u.a. durch ein voraufklärerisches Weltbild bzw. durch Obskurantismus und Aberglauben bedingt sind. Erkennbar wird die menschliche Verfälschung der Offenbarung an den vernunftwidrigen und widersprüchlichen Darstellungen, welche die Trennung der Menschen in viele, einander ausschließende Kirchen und Religionen bewirken. Und so erachtet es Tolstoj als eine dringliche Aufgabe, die Offenbarungsüberlieferung vom Vernunftwidrigen und Widersprüchlichen zu befreien, um zur rational nicht beweisbaren, aber intuitiv und intersubjektiv einleuchtenden Offenbarungswahrheit vorzudringen, die alle Menschen vereint. Sein Experiment führt er an der Offenbarungsüberlieferung der Bibel durch, deren Kern er in der »ursprünglichen Offenbarung Christi« findet, wie sie in den Evangelien enthalten ist. Im Hinblick darauf relativiert er die Bedeutung des Alten Testaments sowie der neutestamentlichen Briefe und der Apostelgeschichte. Die Evangelien wiederum fasst er zu einer Einheit zusammen und reduziert sie durch Eliminierung des Übernatürlichen auf die metaphysisch-ethische Lehre Christi, für deren Schlüsseltext er die Bergpredigt hält. In der Lehre Christi, insbesondere der Bergpredigt, entdeckt er die zeitlos-universale Offenbarungswahrheit, die dem Leben einen Sinn gibt und alle Menschen vereint. Tolstojs bibelhermeneutisches Konzept entspricht dabei seinem künstlerischen Verfahren: Es geht um die Erfassung und Wiedergabe des Offenbarten oder Erfahrenen in seiner ursprünglichen Unmittelbarkeit und zeitlos-universalen Wahrheit. Doch obwohl die Offenbarung, wie Tolstoj meint, ihren höchsten Ausdruck in der Lehre Christi gefunden hat, bleibt sie für ihn weder abgeschlos-

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sen noch auf bestimmte Personen begrenzt. Namentlich in seinen späten Anthologien versucht er, die Offenbarung Christi als universale, natürliche Religion darzustellen, indem er ihre wesentlichen Inhalte als Gemeingut verschiedener Religionen und Weltanschauungen präsentiert. Das gemeinsame Fundament sieht er in einer Sittlichkeit, die auf der Liebe gegründet ist – der Liebe als der »Selbstoffenbarung Gottes im eigenen Inneren« und dem (daraus folgenden) »Streben, aus sich herauszugehen, sich zu befreien, ein göttliches Leben zu führen« (f 231).40

Anmerkungen 1 So schreibt z.B. Geir Kjetsaa von der »Zurückweisung der Offenbarung« durch Tolstoj (G. Kjetsaa, Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph, Gernsbach 2001, 264). 2 S.N. Bulgakov, Cˇelovekobog i cˇ elovekozver’ [1912], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 616. 3 N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 259. 4 V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 508. 5 Im Traktat Religion und Sittlichkeit definiert Tolstoj »Offenbarung« analog zu »Glaubenswissen« als »religiöse Erkenntnis, […] auf der jede andere beruht und die jeder anderen Erkenntnis vorausgeht« (f 199; PSS 39: 14). 6 Gemäß Kant gibt es »keinen andern Ausleger« der Schrift als die »reine Vernunftreligion« (I. Kant, Werke in 6 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Sonderausg., Darmstadt 1998, Bd. 4, 776). 7 Vgl. K. Gaede, Das Schriftverständnis Lev Tolstojs und Fragen seines gesellschaftlichen Bezuges, Diss. theol. (masch.), Humboldt-Univ., Berlin 1974, 217. 8 Vgl. a.a.O., 216. 9 Vgl. a.a.O., 220f. 10 PSS 22: 141–147, 150f, 320–326, 330–335, 679–723, 730–734. In einem Bericht über die Schule von Jasnaja Poljana erzählt Tolstoj 1862 von seinen positiven Erfahrungen, die er als Lehrer mit den Erzählungen des Alten Testaments gemacht hat (PSS 8: 86f). 11 Dtn 6,5; Lev 19,18. 12 Vgl. PSS 28: 60. 13 Vgl. dazu auch Tolstojs Aufruf An die Geistlichkeit (f 252f; PSS 34: 302f). 14 Vgl. K. Gaede, Das Schriftverständnis Lev Tolstojs, 222. 15 Vgl. V. Shevzov, Popular Orthodoxy in Late Imperial Rural Russia, Diss. Yale, Ann Arbor 1995 (= UMI Microform Edition 95–23228), 719, Anm. 85. 16 Über solche Auslassungen dachte Tolstoj in früheren Jahren noch ganz anders. So schreibt er 1862: »Die Bibel zu verändern und zu verkürzen, wie dies die Kinderbibeln von A.P. Zontag u.a. machen, hälte ich für schädlich. Alles, jedes Wort ist darin wahr, als Offenbarung, und wahr als Kunst. […] Aus der Bibel etwas auszulassen, ist völlig unverständlich, jede Kürzung raubt nur etwas vom Charakter und von der Schönheit der Heiligen Schrift« (PSS 8: 86f). 17 Vgl. auch D. Matual, Echoes of Renan’s Vie de Jesus in Tolstoi’s Soedinenie i perevod chetyrekh evangelii, in: SVTQ 25, 1981, 85–94.

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18 Wie Marian Machinek richtig feststellt, bezieht Tolstoj die historisch-kritische Forschung v.a. dort ein, »wo sie ›entmythologisierend‹ wirkt« (M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«? Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, St. Ottilien 1998, 231). 19 Beim Diatessaron (dia tessaron euaggelion) des Syrers Tatian (2. Jh.) handelt es sich um die älteste bekannte Evangelienharmonie. Das Werk selbst, das in der Antike sehr einflussreich war, ist zwar nicht mehr erhalten, aber über zahlreiche Sekundär- und Tertiärquellen bekannt. Tolstoj orientierte sich an neueren Evangelienharmonien (u.a. an derjenigen von Bischof Vitalij [Greˇculeviˇc], 1861). 20 Vgl. dazu M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«?, 204–208. 21 Tolstoj studierte die griechische Sprache in den Jahren 1870–71 sehr intensiv. 22 Unter Mithilfe des Narodniks Vasilij Alekseev. 23 In deutscher Übersetzung erschien Tolstojs Kurze Darlegung des Evangeliums 1891 in Berlin (Übers. W. Ernst), 1892 in Leipzig (Übers. P. Lauterbach) und 1902 in Berlin (Übers. N. Syrkin). Die russischsprachige Erstausgabe war 1890 in Genf erfolgt (im . Verlag Michail Elpidins). 24 Syrkins Übersetzung von Tolstojs vollständiger Neuerzählung des Evangeliums (ohne die aufschlussreiche Zusammenfassung) wurde vor 12 Jahren neu gedruckt (in: L. Tolstoi, Wahrheit will gefunden werden. Aufzeichnungen eines Gottsuchers, ausgew., eingel. u. hg. v. M. Baumotte, Zürich/Düsseldorf 1998, 135–197). 25 Vgl. z.B. J. Ackermann, Tolstoi und das Neue Testament, Diss. theol., Univ. Leipzig, Leipzig 1927. 26 Eine Neuerzählung hält Tolstoj nicht zuletzt auch deshalb für geboten, weil das Evangelium ein schlecht geschriebenes Buch sei (f 170; PSS 24: 795). 27 Vgl. dazu D. Patterson (Hg.), The Gospel According to Tolstoy, Tuscaloosa/London 1992, xiii–xv und I. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, Lanham u.a. 2008, 201. 28 So ist Tolstojs Übersetzung von pros ton theon mit »anstelle von Gott« in Joh 1,1f kaum haltbar. Tolstoj setzt dadurch seine Vorstellung von Gott als razumenie ˇzizni einem »äußeren Gott« (vneˇsnij Bog) entgegen (PSS 24: 29, 816). Auch seine Erklärung von Joh 1,1 mit Hilfe von 1 Joh 1,1, die auf der Annahme beruht, der Autor des Johannesevangeliums sei mit demjenigen des 1. Johannesbriefes identisch, ist problematisch. 29 Präexistenz und Inkarnation des Logos werden dahingehend (um-)gedeutet, dass der Mensch Jesus das zeitlose »Verständnis« (PSS 24: 464) am klarsten und vollständigsten offenbart und insofern selber verkörpert habe (PSS 24: 37, 48). Andernorts versteht Tolstoj die Präexistenz Christi spirituell, und zwar in dem Sinne, dass Jesus der Geist ist, d.h. vom Geist Gottes erfüllt ist, »der keinen Anfang hatte und kein Ende haben wird« (PSS 37: 126). Vgl. dazu den Beitrag »Jesus Christus« f 373–388. 30 Vgl. dazu Tolstojs Gottesvorstellung (»Das Leben ist Gott« / »Gott ist das Leben«) in Krieg und Frieden (PSS 12: 158) und in der Beichte (f 61; PSS 23: 46). Mit seiner Deutung des göttlichen Logos als »Verständnis des Lebens« hat Tolstoj, wie Kjetsaa schreibt, »die ethische Bedeutung von Logos als Quelle des moralischen Lebens hervorgehoben« (G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 271). 31 Vgl. R. Kokobobo, Iisus kak personaˇz v Cˇetveroevangelii L.N. Tolstogo, in: Lev Tolstoj i mirovaja literatura. Materialy 5-oj Meˇzdunarodnoj nauˇcnoj konferencii, Jasnaja Poljana 12–16 avgusta 2007 g., Jasnaja Poljana 2008, 308. 32 Siehe f 140f; PSS 24: 839. In der Fünferzahl korrespondiert Tolstojs »Pentalog« mit den fünf Grundgeboten des Buddhismus (vgl. Tolstojs Brief an I.I. Perper, f 315f). 33 Tolstoj übte von 1861 bis 1862 in seinem Landkreis das Amt des Friedensrichters aus. 1866 übernahm er – erfolglos – bei einem Militärgericht die Verteidigung eines Solda-

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ten, der seinen Hauptmann ins Gesicht geschlagen hatte. 1878 wurde er zum Ehrenfriedensrichter gewählt. Dies gilt besonders für Tolstojs Folgerungen aus dem Gebot des Nichtwiderstehens, mit denen er zuweilen die Grenzen der Rationalität überschreitet. V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, 507. Tolstoj dagegen war der Ansicht, er habe keine eigene Lehre, sondern verstehe die christliche Lehre so, wie sie in den Evangelien dargelegt sei (f 212; PSS 39: 114). Vgl. dazu U. Luz (Hg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge, Zürich 1992. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kap. XV: Über Religion § 176: Offenbarung; Sämtliche Werke, hg. v. A. Hübscher, Bd. 6, Wiesbaden 1947, 383. So steht z.B. in Tolstojs Weg des Lebens eine Paraphrase von 1 Joh 4,16b–21 (PSS 45: 74, Nr. 4) im Gegensatz zu deren Relativierung (PSS 45: 62, Nr. 13). In der Lehre Christi erblickt Tolstoj »die strengste, reinste und vollständigste metaphysische und ethische Lehre, über welche hinaus sich die menschliche Vernunft bis heute nicht erhoben hat« (PSS 24: 814). L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 39.

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Gott Der Beschluss des Heiligen Synods der Russischen Orthodoxen Kirche vom Februar 1901, dass Graf Lev Nikolaeviˇc Tolstoj sich »im Übermut seines stolzen Verstandes« gegen Gott erhoben habe, sich von der orthodoxen Kirche losgesagt habe und damit nicht mehr als ihr Mitglied betrachtet werden könne, wurde zentral mit folgenden Worten begründet: »Er verneint den persönlichen, lebendigen Gott, der in der heiligen Kirche gelobt wird, den Schöpfer und den Erhalter der Welt« (f 240). Tolstoj bestätigte diese Begründung in seiner Antwort auf den Beschluss des Synods. Da er nicht an die Kirche, die sich als orthodox bezeichnet, und ihre Dogmen glaube, habe er sich von ihr losgesagt, und expressis verbis von ihrer Lehre von Gott als »unbegreiflicher Trinität« (f 244, vgl. auch 241, 243; PSS 34: 248, 245f, 247). Der endgültigen öffentlichen Trennung Tolstojs von der Russischen Orthodoxen Kirche liegt sein Bekenntnis gegen den trinitarischen Gottesglauben aller christlichen Kirchen zu Grunde und damit seine Position gegen fast die gesamte christliche Tradition theologischer Rede von Gott seit dem Neuen Testament bzw. seit den ersten freien, noch nicht als kirchliche Dogmen fixierten Formen einer regula fidei christlicher Autoren seit dem 2. Jahrhundert. Tolstoj ist dieser radikale Traditionsbruch in seinem Denken über Gott sehr bewusst, und dies seit der Idee des jungen Tagebuchschreibers von 1855, deren Verwirklichung er sein Leben widmen wollte, nämlich eine »neue, der Entwicklung der Menschheit entsprechende Religion« zu gründen (f 38; PSS 47: 37f). Mit dem Pathos des Aufklärers formuliert er als Prinzip seiner Gotteslehre in seinem Schreiben An die Geistlichkeit 47 Jahre später, es gehe darum, dass die Menschen wie er selbst »ein vernünftiges, ihrem Wissen entsprechendes Verhältnis zu Gott aufbauen« (f 267; PSS 34: 317). Das entsprechende Gottesverständnis Tolstojs ist bewusst unkirchlich und antikirchlich, ja, vom Standpunkt christlicher theologischer Tradition aus gesehen in vieler Hinsicht sogar unchristlich, mündet dabei aber weder in Pantheismus noch in Rationalismus. Tolstoj ist kein orthodoxer Denker oder Theologe im Sinne der Gotteslehre der Theologen der Russischen Orthodoxen Kirche seiner Zeit und will das auch nicht sein. Dennoch ist es nicht abwegig, ihn in die Reihe orthodoxer Denker über Gott als Geheimnis und Urgrund des Lebens zu stellen und

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nach Gemeinsamkeiten des orthodoxiekritischen Denkens Tolstojs über Gott mit einem im weiteren Sinn orthodoxen theologischen Gottesverständnis zu fragen. Dafür gibt es vier Gründe. Erstens ist Tolstoj als Theologe zu betrachten, wenn wir christliche Theologie in einem weiten Begriff verstehen als eine Auseinandersetzung mit den Quellen und der Praxis des christlichen Glaubens, die selbst aus der Praxis des christlichen Glaubens kommt und zu ihr hinführen will, wenn wir Gottsuche als eine theologische Aufgabe par excellence betrachten, wenn wir nicht nur analytische, sondern auch intuitive Formen der Gottsuche und der Gotteserkenntnis zum Geschäft der Theologie rechnen und wenn wir die Beglaubigung theologischer Positionen durch die eigene Erfahrung im Umgang mit Gott nicht für dem Gegenstand der Theologie unangemessen halten (vgl. f Einleitung, 13, 15–18). Im Sinne des griechischen Begriffs theologia, wie er von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte nach Christus verstanden wurde, ist Theologie im Gegensatz zur Philosophie ein Diskurs nicht nur über, sondern auch zwischen Gott und Mensch,1 und dies ist bei Tolstoj in hohem Maß der Fall. Zweitens ist Tolstoj Theologe im engen ursprünglichen Sinn des Wortes, nämlich Gottgelehrter: Er denkt immer wieder nach über Gott und kommt zu einer speziellen Lehre von Gott, er erschöpft sich nicht in Anthropologie oder Kosmologie (vgl. f Einleitung, 17). Nach altkirchlichem Verständnis ist Theologie Gotteslehre, die das zur Sprache bringt, was Gott angemessen (theoprep¯es) ist. Genau das treibt Tolstoj ein Leben lang, um kritisch zu sein gegenüber unangemessener kirchlicher Rede von Gott und Alternativen dazu zu suchen und zu finden, die Gott angemessen sind. Drittens ist Tolstoj Theologe im Sinne der orthodoxen theologischen Tradition, nur radikaler und ganz einseitig auf deren mystischen Strang so genannter negativer oder apophatischer Theologie bezogen, welche die Unbegreiflichkeit und Unaussagbarkeit Gottes als seinen Wesenskern betrachtet und positiv formulierte dogmatische Aussagen über Gott relativiert (vgl. f P. Kolstø, Orthodoxie, 529, 531–534). Platons philosophische Erkenntnis, dass das Göttliche unsagbar und unbegreiflich sei,2 wurde von den griechischen Theologen der Alten Kirche über den Neuplatonismus vielfältig zustimmend aufgenommen und durch Johannes von Damaskus im 8. Jahrhundert in seine Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens aufgenommen, welche bald als normative Zusammenfassung der Theologie der griechischen Kirchenväter galt. Dort wird die Unerkennbarkeit Gottes als Inhalt des orthodoxen Glaubensbekenntnisses dargestellt.3 Konsequentester Vertreter der apophatischen Theologie, die auch den in Christus erschienenen Gott als bleibendes Geheimnis sieht, ist ein anonymer syrischer Mönch des frühen 6. Jahrhunderts, der sich die Autorität des Paulusschülers Dionysios vom Areopag (Apg 17,34) zulegte: Pseudo-Dionysios Areopagites. Zwei positive

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Aussagen über Gott, welche die vom unaussprechlichen Geheimnis Gottes durch mystische Einung mit ihm Erleuchteten formulieren, wiederholt der Areopagite als Grundaussagen immer wieder: Gott ist die Ursache aller Ursachen, die Ursache von allem, darunter auch Ursache alles Seienden;4 und er ist das Leben selbst, das sich zum ihn Betrachtenden hin als lebensspendende Kraft ausströmt.5 Der russische orthodoxe Theologe Georgij Florovskij hat im 20. Jahrhundert die apophatische Verneinung in der orthodoxen Gotteslehre treffend so gekennzeichnet: Gott ist »über … jeder Begrenzung, über jeder Bestimmung und Bejahung und deswegen auch über jeder Verneinung … Das apophatische ›Nein‹ ist gleichbedeutend mit ›über‹ (oder ›außerhalb‹, ›außer‹) und bezeichnet nicht die Begrenzung oder den Ausschluss, sondern die Überhöhung und das Überschreiten […] Gott wird nicht von fern erkannt, nicht durch Nachdenken über Ihn, sondern durch die unbegreifliche Vereinigung mit Ihm«.6 In diese Grundaussagen der orthodoxen apophatischen Theologie reihen sich viele der Gedanken Tolstojs über Gott ein. Viertens ist Tolstoj orthodoxer Theologe in jenem weiten konfessionsübergreifenden Sinn, den das Wort »Orthodoxie« selbst erlaubt, das sowohl rechte Glaubenslehre als auch rechte Verherrlichung Gottes bedeutet: Seine Gedanken über Gott streifen alles Richtige, was zur Ehre Gottes und des Nächsten dient.7 Kriterium dessen, was Orthodoxie in der Gotteslehre sei, kann nicht die bischöflich-kirchlich verantwortete so genannte orthodoxe Schultheologie des 19. Jahrhunderts sein, die Tolstoj literarisch und denkerisch bekämpfte (vgl. f 87–101; PSS 23: 290–303), sondern ist die gesamte bis zum Tod Tolstojs neunzehnhundertjährige Geschichte des sich als orthodox verstehenden theologischen Denkens über Gott. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass und wie Tolstoj in bestimmter Hinsicht in eine Reihe orthodoxer Denker über Gott als Geheimnis der Welt und des Lebens gehört, aber auch, dass und wie er in anderen Grundfragen des Gottesverständnisses den Rahmen nicht nur kirchlich-orthodoxer Gotteslehre, sondern des christlichen Denkens über Gott überhaupt sprengt. Dabei schauen wir zuerst auf seine kritischen Argumente gegen die kirchliche orthodoxe Gotteslehre seiner Zeit, um von dort aus sein eigenes Denken besser einordnen zu können.

Der Kritiker der kirchlichen orthodoxen Gotteslehre Auf den ersten Blick scheint Tolstoj ein unerbittlicher, beharrlicher Kritiker der in orthodoxen und überhaupt in christlichen Kirchen vertretenen Gotteslehre zu sein. Zwar wurde er orthodox getauft, wuchs im Rahmen der traditionellen russischen orthodoxen Volkskirchlichkeit auf und hat in Mutter

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und Tante eindrückliche Beispiele persönlicher orthodoxer Frömmigkeit erfahren. Aber schon als Jugendlicher legt er seinen Kinderglauben ab. Er bekennt im Alter, dass Jean-Jacques Rousseau neben dem Evangelium Jesu sein entscheidender Lehrmeister seit seinem 15. Lebensjahr und dann ein Leben lang gewesen sei.8 Rousseaus Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars mit seiner überkonfessionellen, dogmenfreien Religiosität war auch das Glaubensbekenntnis des jungen Tolstoj (f J. Herlth, Jean-Jacques Rousseau, 484f; Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 323, 329, 331). Übrig bleibt bei ihm ein zutiefst von der Aufklärung geprägtes vernünftiges Verständnis eines guten Gottes gepaart mit scharfer Kritik an der Lehre von einem strafenden oder begnadigenden Herrschergott der orthodoxen Kirche, die für ihn auf einem ungerechtfertigten, dem Evangelium Jesu nicht gemäßen Offenbarungs- und Herrschaftsanspruch eben dieser Kirche beruht. Als 26jähriger schreibt er am 4. März 1855 in sein Tagebuch: »Gestern brachte mich das Gespräch über das Göttliche und den Glauben auf eine große, gewaltige Idee […]. Es ging um die Gründung einer neuen, der Entwicklung der Menschheit entsprechenden Religion, einer Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis« (f 38; PSS 47: 37f). Unter dem Geheimnis des christlichen Glaubens, von dem Tolstoj das Christentum befreien möchte, versteht er jenen den einzelnen Christen entmündigenden kirchlichen Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes, dessen erlösende Gnade von der Kirche über die Spendung der Sakramente verwaltet wird. Die Sakramente heißen russisch »Geheimnisse« (tainstva) und bilden nach Tolstoj ein Herrschaftsinstrument der Kirche, das den Zugang zu Gott beeinträchtigt. So ist der religiöse Begriff »Geheimnis« für Tolstoj in seiner Jugendzeit negativ konnotiert. 1879 kommt es zum völligen inneren Bruch des 51jährigen Tolstoj mit der Russischen Orthodoxen Kirche, den er in seiner Beichte (1879–82) begründet hat. Erneut erwähnt er die Sakramente und die Feier der Liturgie als kirchliche Handlungen, die ihn »auf Abwege führen« und sein »Verhältnis zu Gott ganz zerstören« und die er deswegen verwerfen muss (f 65f; PSS 23: 50f). Seine Abkehr von der Kirche ist also gleichzeitig eine Abkehr von deren destruktivem Gottesverständnis, nicht aber von jeglichem Gottesglauben.9 So schreibt er in der Beichte: Ich glaubte nicht mehr an das, was man mir von Kindheit an überliefert hatte, aber ich glaubte an ein Etwas. An was ich glaubte, hätte ich unmöglich in Worten sagen können. Ich glaubte auch an Gott, oder richtiger, ich leugnete Gott nicht; aber an was für einen Gott ich glaubte, hätte ich nicht sagen können […]. (PSS 23: 3)

Eine ausführliche Abrechnung mit der orthodoxen kirchlichen Gotteslehre legt er 1879–84 mit seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie vor (f 87). Scharf und mit Spott gewürzt polemisiert er gegen die Gotteslehre in

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der Orthodoxen dogmatischen Theologie des Moskauer Metropoliten Makarij (Bulgakov), seinerzeit die verbreitetste und repräsentativste Dogmatik der Russischen Orthodoxen Kirche: Auf meine Frage, welchen Sinn mein Leben in dieser Welt hat, bekomme ich also zur Antwort: Irgendein seltsamer, absurder Gott, halb Mensch, halb Ungeheuer, hat aus einer Laune heraus eine Welt geschaffen, wie er sie wollte, und einen Menschen, wie er ihn wollte, und dabei immer wieder gesagt, dass es gut war, alles war gut, und auch der Mensch war gut. Doch wie sich dann herausstellte, war das alles gar nicht gut. Der Mensch fiel der Verdammnis anheim, und alle seine Nachkommen auch. Und der gütige Gott schuf immer weiter Menschen in den Leibern ihrer Mütter, wissend, dass alle oder viele von ihnen zugrunde gehen würden. Auch nachdem ihm ein Weg eingefallen war, sie zu retten, blieb alles beim Alten. Es wurde sogar schlimmer, denn früher hatten Menschen wie Abraham oder Jakob um ihres guten Lebens willen gerettet werden können, wie die Kirche sagt, jetzt aber […], selbst wenn ich zu den Glückspilzen gehöre [sc. die der orthodoxen Kirche angehören], dabei aber das Pech habe, die Forderungen meiner Vernunft für gerechtfertigt zu halten, statt sie zugunsten des Glaubens an die Lehre der Kirche zu verleugnen, […] bin ich verloren. (f 91f; PSS 23: 294)

So karikiert Tolstoj die kirchliche Lehre des strafenden Gottes im Gegenüber zu seiner eigenen vernünftigen Vorstellung des guten Gottes. In derselben Schrift kritisiert er die vermeintlichen Gottesbeweise in der Orthodoxen dogmatischen Theologie des Makarij. Von allen Gottesbeweisen der »heiligen Väter und Lehrer der Kirche«, den anthropologischen, den kosmologischen und den ontologischen, sei seit Kants Untersuchungen erwiesen, »dass keiner von ihnen unsere Vernunft zu überzeugen vermag« (PSS 23: 81), schon gar nicht Tolstojs eigene. Er hält die Gottesbeweise der Tradition für einen »bösen Scherz« und deren Wiederholung durch Metropolit Makarij für nichts als »eine mechanische Verbindung mit der Überlieferung der Kirche« (PSS 23: 82f). Tolstojs Widerlegung einzelner Argumente der traditionellen Gottesbeweise bleibt pauschal. In gleicher recht oberflächlicher, teilweise karikierender Manier kritisiert Tolstoj in seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie die christliche Trinitätslehre, die Vorstellung eines dreieinen Gottes. Er zitiert zuerst Makarij und entlarvt ihn dann als Lügner: »Das Geheimnis aller Geheimnisse des Christentums ist fraglos das Dogma von der Dreifaltigkeit; wie es möglich ist, dass in einem Gott drei Personen vereinigt sind, dass der Vater Gott ist, der Sohn Gott ist und der Heilige Geist Gott ist und dennoch nicht drei Götter existieren, sondern der alleinige Gott – das übersteigt vollkommen unseren Verstand« [Zitat Makarij]. […] Wenn ich, ohne es zu verstehen, sage, dass ich glaube, so werde ich lügen, ebenso wie jeder, der da sagt, dass Gott Einheit und Dreiheit zugleich ist, weil man nicht an etwas glauben kann, was man nicht versteht. (PSS 23: 105f)

Die Nichtverstehbarkeit des trinitarischen Dogmas hängt für Tolstoj daran, dass Makarij ihm keine Definition des Wortes »Person« (liˇcnost’) liefert,

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geschweige denn eine Definition dessen, was der Begriff »Person« in der göttlichen Dreieinigkeit bedeutet (PSS 23: 107). Nach Tolstojs eigenem Verständnis schließen alle allgemein angenommenen Eigenschaften Gottes wie seine Unbegrenztheit und Unermesslichkeit sein Personsein aus, wie auch der Glaube an Gott, der ein Geist ist, der weht, wo er will (PSS 23: 104). Denn Personsein ist für Tolstoj eine Gott in unangemessener Weise begrenzende, anthropomorphe Aussage. Deren Dreizahl nennt er eine »Teilung« Gottes. Den griechischen Kirchenvätern wirft er vor, sie hätten ebenfalls keine Definition des Personseins der drei göttlichen Personen gegeben, sondern vielmehr verschiedene ungeklärte griechische Begriffe für die Bezeichnung einer göttlichen Person verwendet oder mit demselben Wort hypostasis mal die drei göttlichen Personen, mal deren eines Wesen bezeichnet. Das ist zwar für die Zeit vor der Lösung des trinitarischen Streits auf dem 2. ökumenischen Konzil von Konstantinopel 381 richtig bemerkt, trifft aber eben gerade nicht zu für die dogmatische Lösung dieses Streits in der Theologie der kappadokischen Kirchenväter, welche terminologisch und konzeptuell einheitlich argumentiert und auf dem genannten ökumenischen Konzil mit großer Mehrheit zur Grundlage des christlichen Trinitätsdogmas wurde. Selbst wenn Tolstoj die trinitarische Theologie der kappadokischen Kirchenväter, eines Basileios d. Gr. oder eines Gregor von Nazianz, gewürdigt hätte, er hätte sie kritisiert, weil sie durch die Entscheidungen des genannten Konzils zum unabänderlichen Dogma erhoben wurde. Das aber macht die rechte Erkenntnis des in seinem Wesen unerkennbaren Gottes zu einem Monopol der orthodoxen Kirche. Die Behauptung, der unerkennbare und unbegreifbare Gott habe sich in der Kirche offenbart, oder genauer unter den Konzilsvätern, die dann die offenbarte Wahrheit als Dogma verkündeten, kritisiert Tolstoj als Mittel zum Zweck, die Heiligkeit und Unfehlbarkeit der orthodoxen Kirche zum Dogma zu erheben (PSS 23: 64–66, 74f). Die Russische Orthodoxe Kirche hat auf die scharfe Kritik Tolstojs an ihrer trinitarischen Gotteslehre nicht offiziell reagiert. Die Kritik am theologisierenden Dichterfürsten war aber in ihr verbreitet und fand immer wieder neue Nahrung durch Tolstojs Schriften der 1880er und 1890er Jahre, bis hin zu seinen Gedanken über Gott (1898). Als Tolstoj über seine Gotteskritik hinaus den Ablauf der Göttlichen Liturgie in seinem Roman Auferstehung 1899 spöttisch-karikierend beschreibt (f 234–239; PSS 32: 134–139), ist für die Hierarchie der Russischen Orthodoxen Kirche das Maß voll. Sie beschließt 1901 in einem öffentlichen Schreiben, Tolstoj habe sich wegen seiner Verneinung »des persönlichen, lebendigen Gottes, der in der heiligen Kirche gelobt wird«, wegen Leugnung aller Sakramente der Kirche und Verspottung der Eucharistie »bewusst und absichtlich von jeglicher Gemeinschaft mit der orthodoxen Kirche losgesagt« (f 240). Auf den Vorwurf, er

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verneine den lebendigen Gott, antwortet Tolstoj in seiner Antwort auf den Beschluss des Synods folgendermaßen: Dass ich mich von der Kirche, die sich als orthodoxe bezeichnet, losgesagt habe, ist vollkommen richtig. Doch habe ich mich nicht deshalb von ihr losgesagt, weil ich mich gegen den Herrn erhoben hätte, sondern im Gegenteil nur deshalb, weil ich mit allen Kräften meiner Seele wünschte, ihm zu dienen. […] ich habe mich davon überzeugt, dass die Lehre der Kirche in theoretischer Hinsicht eine heimtückische, schädliche Lüge und in praktischer Hinsicht eine Sammlung primitivster Irrlehren und Zaubereien ist, die den gesamten Sinn der christlichen Lehre vollkommen verdecken. Ich habe mich tatsächlich von der Kirche losgesagt […]. (f 243; PSS 34: 247f)

Die Trennung zwischen Tolstoj und der Russischen Orthodoxen Kirche, die bis zu seinem Tod anhielt, erfolgte also in beiderseitigem Einvernehmen von Kirche und »Ketzer«. Insofern passt Tolstoj in keiner Weise in die Galerie orthodoxer Denker über Gott als Geheimnis der Welt und des Lebens. Die Trennung geschah aber mit ganz unterschiedlicher Begründung. Tolstoj war überzeugt, ein wahres christliches Gottesverständnis gegen ein kirchlich pervertiertes zu vertreten, ja, sogar ein im breiten, nicht kirchlich gebundenen Sinne des Wortes orthodoxes Gottesverständnis. Es lohnt sich, diesem Anspruch Tolstojs auf nichtkirchliche Rechtgläubigkeit in der Gotteslehre auf dem Hintergrund des apophatischen Gottesbegriffs der orthodoxen Tradition nachzugehen.

Tolstojs eigene Rede von Gott Am Anfang der im Laufe von fast 60 Jahren zahlreichen und ausführlichen literarischen Zeugnisse des Nachdenkens Lev Tolstojs über Gott steht ein Tagebucheintrag von 1853: Ich kann mir nicht beweisen, dass Gott existiert, ich finde keinen tauglichen Beweis dafür und komme zum Schluss, dass diese Vorstellung entbehrlich ist. Die ewige Existenz der ganzen Welt mit ihrer unergründlich wunderbaren Ordnung ist leichter und einfacher zu begreifen als ein Wesen, das diese erschaffen hat. […] Ich verstehe die Notwendigkeit der Existenz Gottes nicht, aber ich glaube an ihn und bitte ihn um Hilfe, auf dass ich lerne, ihn zu begreifen. (f 37; PSS 46: 167f)

Tolstoj hat im Gegensatz zur zeitgenössischen orthodoxen Schultheologie die kantsche Destruktion aller Gottesbeweise nachvollzogen. Für Tolstoj »ist bewiesen, dass keiner von ihnen unsere Vernunft zu überzeugen vermag« (PSS 23: 81). Das Postulat der orthodoxen Normdogmatik des Johannes von Damaskus, dass »die Erkenntnis des Daseins Gottes von ihm (Gott) selbst allen (Menschen) von Natur aus eingepflanzt« sei,10 hat sich für Tolstoj seit der Aufklärung als Illusion herausgestellt. Entsprechend hat er die vermeint-

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lichen Gottesbeweise in der Orthodoxen dogmatischen Theologie des Metropoliten Makarij pauschal zurückgewiesen (PSS 23: 80–83). Im zitierten Tagebucheintag folgt sein Bekenntnis zu Gott daher ohne die Grundlage natürlicher Gotteserkenntnis: »[…] aber ich glaube an ihn und bitte ihn um Hilfe, auf dass ich lerne, ihn zu begreifen.« Das ist sein credo ut intelligam (»ich glaube, damit ich erkennen kann«), mit dem er in diesem Punkt – nicht in dem der Gottesbeweise – der abendländischen mittelalterlichen scholastischen theologischen Tradition11 folgt, und zwar sowohl im Erkenntnisziel rational nachvollziehbarer Gotteserkenntnis, als auch in der Erkenntnismethode, dieses Ziel von einer subjektiven Glaubensvoraussetzung aus zu erreichen mittels eines Dialogs mit dem noch unerkannten Gott im Gebet. Und wie in der mittelalterlichen Scholastik ist dieser Vorsatz auch bei Tolstoj ein theologisches Kontrastprogramm zum antiintellektuellen, in Opposition zu Welt und Kultur stehenden Bekenntnis credo quia absurdum (»ich glaube, weil es widersinnig ist«) der spätantiken lateinischen Kirchenväter Tertullian und Augustin. Jedoch ist der Gottesglaube Tolstojs ein entschieden anderer als der mittelalterliche. Er ist durch die Aufklärung und dessen Erbe, einen kruden Rationalismus gegangen: Übernatürliches lehnt er prinzipiell ab. Dennoch schwankt Tolstoj zwischen einem symbolischen und einem metaphysischen Gottesbegriff; pantheistische Züge wechseln sich ab mit theistischen.12 Eines transzendenten Gottes scheint Tolstojs Diesseitsreligion zwar nicht zu bedürfen.13 Und doch redet er Gott immer wieder wie eine Person an, formuliert Gebete, die nicht Selbstgespräche sind, sondern einen Gott als Adressaten haben. Im oben zitierten Tagebucheintrag stehen Tolstojs offene Negation der Existenz Gottes, sein Bekenntnis zu ihm und sein Hilferuf an ihn nebeneinander. Das ist charakteristisch nicht nur für den jungen Tolstoj. Tolstoj steht in der Reihe der großen Gottsucher der europäischen Geistesgeschichte. Dies wird in seiner Beichte deutlich, worin er seine vieljährige unablässige Gottsuche in mehreren Passagen schildert (f 58–61; PSS 23: 43–46). Es ist eine Gottsuche, welche dann seinem Leben einen Sinn gibt, wenn er für sich authentisch die Existenz Gottes außerhalb von Raum und Zeit, über dem natürlichen Sein, als Grund seines Lebens »sucht«, »spürt« und anerkennen kann.14 Der Lebenssinn und die Freude am Leben wandeln sich aber immer dann wieder in Zweifel und Verzweiflung, wenn ihm jener dreieine Gott »vorschwebt«, den die Kirche als seinen Schöpfer und Erlöser definiert, der aber seinem Leben fremd ist und bleibt. Aus diesem Zirkel von Erwachen der eigenen Lebenskraft und Verzweiflung wegen des Versiegens der Quelle des Lebens, die Gott ist, führt ihn der lebenslange Prozess der Gottsuche selbst heraus. Denn seine Gottsuche, von der er nicht lassen kann, ist ihm im Gegensatz zu den vermeintlichen Gottesbeweisen der dogmatischen Theologie der hinreichende Beweis dafür, dass Gott existiert.15

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Das ständige Schwinden und Sich-wieder-Nahen der Präsenz Gottes in Tolstojs Bewusstsein, dem die seinerseits immer wieder aufgenommene Suche nach Gott entspricht, ist der theologischen Tradition der Orthodoxie gar nicht fremd. Es ist ein traditioneller Topos schon der frühen Kirchenväter, wenn sie über Gott als Geheimnis sprechen. Clemens von Alexandrien (um 150–215) könnte Tolstoj aus dem Herzen gesprochen haben, als er schrieb: Schwer ist das Geheimnis zu begreifen … Beständig ist es im Schwinden und verbirgt sich dem, der sich ihm scheinbar schon zum Greifen genaht hat. Und dennoch naht sich ihm Gott, der sich entfernt vom Menschen befindet. O unaussprechliches Wunder. »Ich bin Gott, Der sich naht«, sagt Gott, »obwohl Ich mit Meinem Wesen vor Euren Sinnen fliehe.« Und in der Tat. Denn unter welchen Namen kann der Ungeschaffene sich dem von Ihm Geschaffenen nähern?16

Tolstoj weiß um Gott als bleibendes Geheimnis – aber nicht aus einer Kenntnis der apophatischen Theologie der Orthodoxie heraus, sondern aus eigener Lebenserfahrung wie aus eigenem Nachdenken über die möglichen Kennzeichnungen oder Benennungen Gottes heraus, welche die Kirchenväter Namen Gottes nannten. In seiner Beichte ringt er sich zu einem neuen Gottesverständnis durch, in aller Vorsicht und in Opposition zur kirchlichen Lehre über Gott als den Schöpfer, als dreieinen Gott und als in Jesus Christus inkarnierten Erlöser. In zwei Grundaussagen drückt er in der Beichte dieses neue Gottesverständnis aus: 1. Der »Urgrund ist das, was man Gott nennt«, d.h. Gott ist der Grund aller Gründe oder der Anfang aller Anfänge, jenseits der Kategorien von Raum und Zeit; Tolstoj erfährt ihn als Grund seines eigenen Lebens, und zwar als einen Grund, der ihn »in Liebe geboren hatte«, also als einen die Menschen liebenden Urgrund, als »Quelle des Lebens« aller Menschen. 2. »Gott ist das Leben«, d.h. das Leben ist das liebevolle Geschenk Gottes. Und da das Leben von Gott herkommt, kann Tolstoj sagen, Gott ist das Leben in dem Sinne, dass man ohne Gott, der das Leben selbst ist, nicht leben kann (f 59–61; PSS 23: 44–46). Zum Schluss seiner Schilderung, auf welchem langen Weg er Gott dauerhaft erkannte, verwendet Tolstoj die Metapher des Lichts, das für die Gotteserkenntnis steht. Gott als Urgrund, Gott als Leben – das sind aus persönlicher Erfahrung geborene Glaubensbekenntnisse Tolstojs und zugleich Grundaussagen seiner sich formierenden Gotteslehre (f 61; PSS 23: 46). In vielen Abhandlungen, Monographien und Artikeln theologischen Charakters – sie tragen Titel wie Wessen sind wir? (1879), Mein Glaube (1883/84), Kurze Darlegung des Evangeliums (1881–83) oder Gedanken über Gott (1898) – sowie in Briefen, Aphorismen, festgehaltenen Gebeten und Tagebucheinträgen hat Tolstoj von 1879 bis zu seinem Tod 1910 sein Gottesverständnis festgehalten und entwickelt. Seine beiden Vorstellungen von Gott als »Grund aller Gründe« und als »Leben« greift er vielfach auf. Dazu kommt noch die Beschreibung des lebendigen Gottes als einer »Kraft«, die das Leben verändert.

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Die erste Bezeichnung Gottes als »Ursache aller Ursachen« (priˇcina priˇcin, f 59; PSS 23: 44) oder »Anfang aller Anfänge« (naˇcalo naˇcal, f 55; PSS 90: 130) entspricht Tolstojs Definition von Religion als vom Menschen festgelegtes Verhältnis der einzelnen Person zur unendlichen Welt oder deren Ursprung (f 210; PSS 39: 26; f H. Kuße, Religion, 409). Zu dieser Unendlichkeit hält er fest: »[…] was nicht Teil von etwas ist, sondern der Anfang aller Anfänge, eben dies nenne ich Gott« (f 55; PSS 90: 130). Dieser Gottesbegriff ist für Tolstoj ein »vernünftiger Begriff« (razumnoe ponjatie), für dessen Annahme der Mensch nicht auf seinen Verstand verzichten muss (f 56; PSS 90: 130). Er hat dennoch die Dimension des Geheimnisses, denn dieser Anfang aller Anfänge außerhalb von Raum und Zeit ist ein unendlicher (f 136; PSS 24: 816) und damit unbegreiflicher, verborgen bleibender, der nur ergriffen werden kann in dem Willen, dass unerklärlich bleibe, was unerklärlich ist (PSS 23: 57). Tolstoj sieht dies nicht anders als der größte Vertreter der orthodoxen apophatischen Theologie, Pseudo-Dionysios Areopagites, wenn jener von der bleibend unerkennbaren Ursache aller Ursachen spricht, die Gott ist. Er steht mit seinen Überlegungen zu Gott als Urgrund allen Seins aber auch im Mainstream orthodoxer dogmatischer Theologie seiner Zeit und früherer Zeiten. Im charakteristischen Unterschied zur abendländischen Trinitätstheologie hat die ostkirchliche stets Gott den Vater als Urgrund, Ursache oder Anfang allen Seins (arch¯e), auch des Seins des Sohnes Gottes und des Heiligen Geistes, bezeichnet und in dieser arch¯e die Einheit der drei göttlichen Personen garantiert gesehen.17 Mit seiner zweiten Bezeichnung Gottes als »Leben« oder als »Quelle allen Lebens« (istoˇcnik vsjakoj ˇzizni) (f 100; PSS 23: 302) holt Tolstoj Gott aus der Jenseitigkeit in den Menschen. Denn erkennbar ist Gott als das Leben selbst nur durch das Leben und im Leben des einzelnen, nicht durch rationale oder dogmatische Begründungen. Nur in sich selbst kann der Mensch Gott erkennen (f 305; PSS 43: 67; f H. Kuße, Religion, 412). Aber auch hier bleibt Gott ein Geheimnis, jedoch im Menschen verortet, und zwar so, dass der Mensch mit der Quelle des Lebens kommunizieren kann im Gebet. Seine eigene Gotteserfahrung schildert Tolstoj in seinen Gedanken über Gott so: Ich begann zu überlegen und – merkwürdigerweise – zu mutmaßen, ob es Gott gibt oder ob es Ihn nicht gibt, und ich fand Ihn gleichsam erneut, und mir wurde so froh zumute, und eine so feste Zuversicht ergriff mich zu Ihm und dazu, dass ich mit ihm kommunizieren kann und muss, dass Er mich hört, und ich verspürte eine solche Freude […]. Ja, Gott existiert, und ich muss mich nicht sorgen, nicht fürchten, ich kann mich nur freuen. […] Ich hoffe, dass – auch wenn das Gefühl höchster Begeisterung vergehen wird – dasjenige, was ich neu erlangt habe, bleibt. Vielleicht ist es das, was einige den lebendigen Gott nennen […]. (f 227)18

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Einige? Das sind orthodoxe Christen, wie Tolstoj sehr wohl weiß. Und wie sie nennt er den lebendigen Gott, der das Leben selbst ist, die Liebe. Gott [ist] die Liebe, d.h. wir kennen Gott nur in Form der Liebe, und die Liebe ist Gott, d.h., wenn wir lieben, dann sind wir nicht Götter, sondern Gott. […] Die Liebe ist die Selbstoffenbarung (Erkenntnis) Gottes im eigenen Inneren […]. (f 231)19

Die kühne Rede von der Gottwerdung des Menschen dadurch, dass er seine Mitmenschen liebt und ihnen das Heil wünscht wie Gott selbst, also Gott nachahmt,20 ist wiederum ein Echo orthodoxer Glaubenslehre bei Tolstoj. Die Rede von der Vergöttlichung des Menschen durch seine immer größere Gottähnlichkeit ist wie die Rede von der Einwohnung Gottes im Menschen (f 294; PSS 44: 72) Teil der orthodoxen Anthropologie und der orthodoxen Erlösungs- und Heiligungslehre.21 Zu einer dritten, nicht ganz so expliziten und prononcierten Gottesvorstellung gelangt Tolstoj im Prozess seiner Gedanken über seine lebenslange Gottsuche: Es ist die Vorstellung von Gott als »Kraft, in deren Macht ich stehe« (sila, vo vlasti kotoroj ja nachoˇzus’; f 59; PSS 23: 44). Tolstoj beschreibt seine Gottsuche in der Beichte ganz bewusst als Sache des »Gefühls« (ˇcuvstvo), nicht der »Überlegung« (rassuˇzdenie). Wenn er sich Gott als Grund aller Gründe, auch seiner eigenen Existenz, vergegenwärtigt, dann fühlt und erfährt er diese Kraft als lebensspendend: »Sobald mir klar wurde, dass es eine Kraft gibt, in deren Macht ich stehe, spürte ich sogleich, dass ich leben konnte« (ebd.). Dann »erhebt sich das Leben« in ihm und lässt ihn Lebensfreude empfinden (f 60; PSS 23: 44). Was Tolstoj autobiographisch auf der Gefühlsebene beschreibt, ist mehr als Belletristik: Es ist die positive Kehrseite seiner Überzeugung, dass Gott nicht als ein Sein oder ein Wesen begriffen werden kann, worauf die orthodoxe Dogmatik beharrt. Jedoch auch die Benennung Gottes als den Menschen überwältigende Kraft ist wie die beiden Bezeichnungen Gottes als »Urgrund« und als »Quelle des Lebens« tief in der orthodoxen theologischen Tradition verankert. Der Heilige Geist repräsentiert den Kraft- und Wirkaspekt Gottes (d´ynamis) schon im Neuen Testament (Apg 1,8). Und das altkirchliche ökumenische Konzil von Konstantinopel 381 hat die Gottheit des Heiligen Geistes definiert, indem es ihn bezeichnet als die Kraft Gottes, die »lebendig macht« (zoopoi¯on). Ob ihm unbewusst oder bewusst – Tolstojs Aussagen über Gott als lebensspendende Kraft sind traditionell orthodox. Über die dreifache Rede von Gott als »Ursache aller Ursachen«, als »Leben« oder »Liebe« und als »Kraft« hinaus nennt Tolstoj gelegentlich Triaden von Namen oder Begriffen für Gott. Er kann in Gott den Begriff vom »Anfang alles Seienden«, den Begriff vom »Anfang des Lebens« und den Begriff vom »Anfang der Vernunft« unterscheiden, aber sie fließen in dem einen Be-

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griff »Gott« zusammen (f 57; PSS 90: 131). Später bekennt er in seiner Antwort an den Hl. Synod auf die Feststellung seines Ausschlusses aus der Russischen Orthodoxen Kirche seinen Glauben an Gott triadisch so: Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Ursprung von allem verstehe. Ich glaube, dass er in mir ist und ich in ihm bin. (f 247; PSS 34: 251; vgl. f 244; PSS 34: 248)

Eine Verwendung triadischer Formeln zur Umschreibung der Hauptaspekte Gottes für den Menschen ist wiederum eine ganz alte christliche Tradition, die im Neuen Testament beginnt (vgl. z.B. 2 Kor 13,13) und als Wegbereitung des trinitarischen Dogmas des 4. Jahrhunderts gilt. Tolstoj formuliert seinen eigenen Gottesglauben in gewollter undogmatischer Neuformulierung des von ihm scharf verworfenen trinitarischen Glaubens der orthodoxen Kirche, aber, so vermute ich, in nicht zu übersehender Anlehnung an ihn. Die Triade »Anfang alles Seienden«, »Anfang des Lebens« und »Anfang der Vernunft« ließe sich passend auf die drei Personen der Trinität, auf Vater, Sohn und Heiligen Geist und die ihnen traditionell zugeschriebenen Eigenschaften aufteilen. Die Triade »Geist«, »Liebe« und »Ursprung von allem« wiederum ließe sich in umgekehrter Reihenfolge gut auf die Eigenschaften von Heiligem Geist, Sohn und Vater beziehen. Allein, dass man darüber spekulieren kann, zeigt, wie verwandt bei aller expliziten Ablehnung des Trinitätsdogmas des Christentums Tolstojs Gedanken über Gott der trinitarischen Tradition des Denkens über Gott ist. Gleiches kann auch von seinen Ausführungen über seine persönlichen Begegnungen mit Gott gesagt werden. Die von ihm ganz prinzipiell abgelehnte Bezeichnung Gottes als »Person« (liˇcnost’) schlägt um in die persönliche Anrede Gottes als göttliches Gegenüber im Gebet. Gott als angesprochenes Du steht bei Tolstoj im Widerspruch zur wiederholt von ihm behaupteten Nichtpersonalität Gottes (dazu f H. Kuße, Religion, 416). Grundsätzlich bezieht Tolstoj den Begriff »Person« nur auf Menschen und Tiere.22 »Das Personsein ist eine Eigenschaft eines Tieres und des Menschen als eines Tieres«, schreibt Tolstoj (PSS 26: 363) und meint damit allein die körperliche Existenz und Individualität dieser höheren Lebewesen. Er konstruiert einen grundsätzlichen inneren Gegensatz zwischen »animalischer Person« (ˇzivotnaja liˇcnost’) und »vernünftigem Bewusstsein« (razumnoe soznanie) des Menschen (f 174f; PSS 26: 367f) und nur letzteres kann Heil erlangen. Das liegt eben an der körperlichen Auffassung von Person, die Begrenzung des Seins und Begrenztheit der menschlichen Seinsweise im Besonderen impliziert (f 229).23 Tolstoj steht hier im Gegensatz zu Kant, der die menschliche Person als Vernunftwesen definiert. Aber mit seiner Weigerung, den Personbegriff auf Gott zu beziehen, reiht er sich in die Tradition philosophischer Aufklärung ein. Das geht so weit, dass für ihn sogar das Personalpronomen »er« Gott »in gewisser Weise verletzt«, ihn »irgendwie herab-

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setzt« (f 224).24 Den Widerspruch zwischen der von ihm behaupteten Nichtpersonalität Gottes und seiner Anrede Gottes in seinen Gebeten löst Tolstoj pragmatisch durch eine Analyse der Begrenztheit der menschlichen Person, die nicht anders als von Person zu Person kommunizieren kann (vgl. f H. Kuße, Religion, 417): Ein Gebet richtet sich nicht an einen persönlichen Gott, weil Gott persönlich ist – (ich weiß sogar gewiss, dass Er nicht persönlich ist, weil Persönlichkeit Begrenztheit ist, und Gott ist unbegrenzt) –, sondern weil ich ein persönliches Wesen bin. (f 226)25

Tolstoj scheint zu vermuten, dass die orthodoxe Gotteslehre denselben Personbegriff wie er habe. So erklärt sich seine Ablehnung des Trinitätsdogmas als unsäglichen Anthropomorphismus im Denken über Gott (f 229).26 In seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie hatte er vergebens nach einer Definition der Personen der Dreieinigkeit bei Metropolit Makarij gesucht, was zu seiner Vermutung führte, weder Makarij noch die orthodoxe Kirche hätten eine Definition des Begriffs »Person« und redeten daher in ihrer Trinitätslehre von Dingen, von denen sie selbst nicht wüssten, was sie sind (PSS 23: 107). Das ist eine unbegründete Unterstellung. Im 4. Jahrhundert haben die Kirchenväter ausführlich über das Personsein des dreieinen Gottes debattiert und mit Hilfe des griechischen Begriffs hypóstasis definiert, nämlich so, dass sie eine Unterseinsweise Gottes bedeutet. Die drei Hypostasen oder (lateinisch übersetzt) Personen in der Trinität sind definiert als Subsistenzweisen Gottes in Beziehung zueinander, als durch ihre Beziehung zu anderen definierte Seinsweisen. Eine Hypostase Gottes ist per definitionem offen für die andern Hypostasen Gottes und für andere Seinsweisen, die aus Gott hervorgehen. In späteren Jahrhunderten hat diese trinitarische Definition von »Person« auch das Personverständnis der christlichen Anthropologie geprägt. Die christliche Theologie hat die menschliche Person daher als per definitionem offen für andere Personen gekennzeichnet, im Gegensatz zu Sachen, die in sich abgeschlossen sind. Die breite christliche theologische Debatte über den Personbegriff in der Gotteslehre wie in der Lehre vom Menschen hat Tolstoj nicht rezipiert. So ist seine schroffe Ablehnung des Personbegriffs in der Gotteslehre als Anthropomorphismus zu erklären. Und doch relativiert sich auch diese Position Tolstojs in der Gottesfrage durch die Praxis seines Betens. Man mag, wenn man die späten kurzen Texte und Aphorismen Tolstojs über Gott und manche seiner schriftlich festgehaltenen Gebete liest, Marian Machinek zustimmen, der feststellt, dass »Tolstoj in hohem Alter Gott zunehmend als ein fast personales Gegenüber verstand«.27 Jedenfalls muss Tolstoj bei seinem Beten davon überzeugt gewesen sein, einem Du gegenüber zu stehen, dessen Nähe und Verständnis er spürt und dessen hilfreiches Dasein für ihn er erhofft.28 Das wird durch etliche der späten Texte Tolstojs zur Gottesfrage bestätigt.

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Kernkonzepte

Tolstoj ist überzeugt, dass der lebendige Gott ihn hört und kennt (f 227).29 Am Ende seiner Gedanken über Gott steht ein Dankgebet, das an den Herrn gerichtet ist. Seinem Inhalt nach ist mit dem Herrn der in Jesus Christus erschienene Gott gemeint, dessen Joch sanft und dessen Last leicht ist (f 232f; vgl. Mt 11,30).30 Gegen Ende seines Lebens findet Tolstoj auch einen positiven Zugang zum auf Gott bezogenen Begriff des Geheimnisses. War dieser Begriff beim jungen Tolstoj negativ konnotiert als Instrument der Machtausübung der orthodoxen Kirche über unmündige Gläubige, so kann er nun von Gott als dem »geheimnisvollen, allmächtigen Ursprung« (tainstvennoe, vsemoguˇsˇcee naˇcalo) schreiben, der jedem Menschen das Leben gegeben hat (f 255; PSS 34: 305). Dieses Geheimnis ist aber gründlich »entkirchlicht«, es hat mit der restriktiven Verwaltung der kirchlichen Sakramente nichts zu tun, sondern ist in jedem Menschen von jedem Menschen selbst zu finden und zu erkennen (f 296; PSS 44: 73). Ausdrücklich lehrt Tolstoj seine Leser: Man kann Gott nur in sich selbst erkennen. Solange du Ihn nicht in dir selbst findest, findest du Ihn nirgends. Suche Gott nicht in den Kirchen. Er ist dir nahe, Er ist in dir. Er wohnt in dir. Gib dich Ihm hin, und du erhebst dich höher als Glück und Unglück. (f 305; PSS 43: 67)

Der Individualismus der Gottsuche aller Menschen spiegelt sich wider in der individuellen Art ihrer Rede über Gott und ihrer Anrede an Gott im Gebet. Es gibt hier nach Tolstoj kein richtig oder falsch, kein orthodox oder häretisch. All die eigenen Bestimmungen dessen, was ein Mensch unter Gott versteht, sind für Tolstoj letztlich austauschbare Namen für den unnennbaren Gott. Gott selbst legt er in einer Legende einen Sinnspruch über Gebetsworte in den Mund, die ihn vermeintlich falsch anrufen: »Worte bedeuten nichts. Ich sehe das Herz desjenigen, der sich mir zuwendet« (f 291; PSS 78: 178f). Wenige Tage vor seinem Tod fasst Tolstoj in einem Tagebucheintrag auf seine Art zusammen, was in diesem Artikel aus seinen Schriften über Gott zusammengetragen wurde. Er bestätigt in kurzen Worten drei Grundsätze seiner Gottesvorstellung: 1. Der Begriff »Gott« ist »nichts Fundiertes und Festes […]. Das sind nur müßige, zu nichts führende Überlegungen«. 2. »Gott erkennen wir nur durch das Bewusstsein Seines Ausdrucks in uns«. 3. »Gott ist jenes unbegrenzte Alles, als dessen Teil sich der Mensch erkennt« (f 317f; PSS 58: 143f). Mit andern Worten: 1. Begriffliche Konzepte treffen weder Gott noch seine Wirkungen in der Welt und im Leben des einzelnen Menschen. Das gilt besonders für die kirchlichen Dogmen über Gott, aber letztlich für alle Theologie und Philosophie. 2. Gott kann vom Menschen nur im Menschen

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wahrgenommen werden, und das ist zutiefst keine Angelegenheit des Intellekts. 3. Gott ist zu groß, um definiert werden zu können, aber nah genug, damit der Mensch sich als Teilhaber am göttlichen Leben verstehen und danach handeln kann.

Tolstoj in orthodoxer Tradition? Überblickt man das religiöse und theologische Schrifttum Tolstojs, so erweist er sich nicht nur als ein großer Gottsucher, sondern auch – nachdem er Gott dauerhaft gefunden hatte – in mehrerer Hinsicht als ein Vertreter der apophatischen Gotteslehre der Ostkirchen, der deren markantestem Vertreter Pseudo-Dionysios Areopagites nicht unähnlich ist. Von den klassischen negativen Aussagen über die Unerkennbarkeit Gottes bis zur Rede von Gott als Ursache alles Seienden, Ursache des Lebens und des Guten, von der Vorstellung Gottes als bleibendes Geheimnis bis hin zur Rede von der Vergöttlichung des Menschen durch Teilhabe am unnennbaren Gott – die Themen und Redeweisen der griechischen Kirchenväter finden sich in Variationen beim russischen Dichterfürsten. Wie in einem Prisma sind diese Aspekte der apophatischen Gotteslehre gebündelt in einem Ausspruch Tolstojs aus seiner späten Sammlung von Gedanken Für jeden Tag: Je mehr du an Gott glaubst und Ihn verstehst, desto mehr und mehr entfernt Er sich von dir, als Ursprung von allem, und zugleich verschmilzt er mehr und mehr mit dir in deiner Seele. (f 296; PSS 44: 73)

Beim durch und durch westlich gebildeten Tolstoj wirkt seine orthodoxe Herkunft und Verwurzelung stark nach und ist bei den genannten Punkten seiner Gottesvorstellung maßgeblich, besonders bei seiner Betonung der gleichzeitigen Ferne und Nähe, Unendlichkeit und Innerlichkeit, Unerkennbarkeit und Ergreifbarkeit Gottes. Er erweist sich in seiner Theologie im engen Sinn, in seiner Gotteslehre, trotz aller Polemik gegen die Russische Orthodoxe Kirche, als ostkirchlich geprägter und bewusst oder unbewusst in orthodoxer apophatischer und mystischer Tradition denkender Schriftsteller. Insofern gilt erstaunlicherweise auch bei Tolstoj die Erkenntnis Max Webers: »Das russische Christentum war und ist noch heute in seinen spezifischen Typen in hohem Maße antikes Christentum«.31 Dennoch muss seine Gotteslehre in ganz zentraler Hinsicht – nicht nur aus orthodoxer, sondern auch aus abendländischer, evangelischer und römisch-katholischer theologischer Sicht – als heterodox, ja, als nicht christlich gelten, weil er den Begriff Gottes als unerkennbaren Ursprung aller

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Kernkonzepte

Dinge und Geheimnis der Welt nicht zusammen denken kann mit dem christlichen Bekenntnis zum dreieinen Gott, dem Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt. Tolstojs persönliches Lebensdrama und die Tragik seines Gottesverständnisses bestand in Bezug auf die russische Orthodoxie darin, dass er seine Hermeneutik des Verdachts ihr gegenüber nicht überwinden konnte und vermutete, die orthodoxe Kirche verlange von ihren Gläubigen, sich vom Begriff Gottes als des seinem Wesen nach unbegreiflichen Urgrundes alles Seienden loszusagen, um die traditionellen kirchlichen Lehren über Gott in der Trinitätslehre und in der Christologie in Glaubensgehorsam zu übernehmen (PSS 23: 72). Das war aber im Prinzip, von der altkirchlichen orthodoxen Gotteslehre ausgehend, nicht der Fall, wenn auch die apophatische Theologie der Alten Kirche und der Ostkirchen in der Tat im 19. Jahrhundert in der russischen orthodoxen Schultheologie wie in den russischen orthodoxen Katechismen und Predigten viel weniger zur Geltung kam als im 20. Jahrhundert und heute nach einem renouveau patristique, den die Weltorthodoxie durchgemacht hat. Dass Gott nach christlichem Verständnis zugleich der verborgene und der in Christus offenbare Gott ist, dass Gott zugleich das Geheimnis der Welt ist, welches der Mensch nicht ergründen kann, und die Erlösung der Welt in Christus, welche sich der Mensch nicht selbst bereiten kann, die ihm aber in der Verkündigung der Kirche angeboten wird – das hat Tolstoj nicht nachvollziehen wollen und womöglich auch nicht können, weil die Kirche, welche die christliche Erlösung predigt und in ihren Sakramenten darreicht, ihm in seiner Zeit als vielfach kompromittierte Staatskirche durch und durch gottlos erschien. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass Tolstoj kein christlicher Autor und Theologe war. Er war es auf seine einseitig unkirchliche Weise sehr wohl, persönlich mit Gott ringend und von ihm alles erwartend. Seine persönliche Gottesbeziehung ist so stark gewesen, dass er – wie sonst nur einige Kirchenväter und Theologen der Alten Kirche und des Mittelalters – mitten in seine Abhandlungen Gebete zu Gott einstreut. So auch in seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie. Das Gebet aus dieser Untersuchung, das hier abschließend zitiert wird, sagt mehr aus über Tolstojs Gottesverständnis als seine wortreiche Polemik gegen die Gotteslehre der russischen orthodoxen kirchlichen Hierarchie seiner Zeit. Gott, der Du mir unerkennbar bist, aber doch existierst, Du, durch dessen Willen ich lebe! Du hast mir dieses Streben, Dich und mich selbst zu erkennen, eingepflanzt. […] Ich habe Dich immer gefühlt, auch in den Momenten meiner Irrungen. Ich wäre beinahe zu Grunde gegangen, weil ich Dich verloren hatte, aber Du reichtest mir die Hand, ich ergriff sie und das Leben wurde mir plötzlich hell und klar, Du rettetest mich, und ich suche jetzt nur eins: mich Dir zu nähern, Dich zu verstehen, soweit es mir möglich ist. Hilf mir, lehre mich! Ich weiß, dass ich gut bin, dass ich liebe, alle lieben will, die Wahrheit lieben will. O Du, Gott der Liebe und der Wahrheit, ziehe mich noch mehr zu Dir heran, offenbare mir alles, was ich von Dir und mir selbst verstehen kann. (PSS 23: 121)

Gott

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Anmerkungen 1 Ch. Hann/H. Goltz, Introduction. The Other Christianity, in: Hann and Goltz (Hg.), Eastern Christians in Anthropological Perspective, Berkeley 2010, 1–29 (3). Vgl. Ch. Hann, Ostchristentum und westliche Sozialtheorie, in: A. Briskina-Müller u.a. (Hg.), Logos im Dialogos. Auf der Suche nach der Orthodoxie. Gedenkschrift für Hermann Goltz (1946–2010), Münster 2011, 587–597 (595). 2 Platon, Politeia VI, 509b. 3 Johannes von Damaskus, De fide orthodoxa I, 4. 4 Ps.-Dionysios Areopagites, De divinis nominibus I, 5. 5 A.a.O. II, 7. 6 G.V. Florovskij, Vizantijskie Otcy V–VIII vv., Paris 1937, 102f. Zit. nach H. Alfejev, Geheimnis des Glaubens. Einführung in die orthodoxe dogmatische Theologie, Fribourg 22005, 38. 7 Diese Definition von Orthodoxie vertrat der kürzlich verstorbene Hallenser evangelische Professor für Konfessionskunde der orthodoxen Kirchen Hermann Goltz. Vgl. A. Briskina-Müller u.a. (Hg.), Logos im Dialogos (s.o. Anm. 1), Vorwort, 3. 8 J. Rohls, Tolstoj und das Christentum, in: ZThK 108, 2011, 165–201, hier 167. 9 Die bei f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 324 zitierte Aussage Tolstojs, er habe 35 Jahre lang von 1842 bis 1877 ohne Glauben gelebt (PSS 23: 304), ist hyperbolisch und bezieht sich offenbar lediglich auf die fehlende Klarheit des Glaubensinhalts, nicht auf das Vorhandensein eines wenn auch diffusen Glaubens überhaupt. 10 Johannes von Damaskus († vor 754), Expositio fidei I, 1. 11 Vgl. Anselm von Canterbury (1033–1109), Proslogion. 12 So K. Hamburger, Tolstoi. Gestalt und Problem. Göttingen 21963, 91f. Vgl. M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«? Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, St. Ottilien 1998 (= Moraltheologische Studien, Systematische Abteilung, 25), 105f. 13 M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«?, 105. 14 Vgl. L. Müller, Leo Tolstojs religiöse Entwicklung, 220. 15 Vgl. J. Rohls, Tolstoj und das Christentum,175. 16 Clemens von Alexandrien, Strom. II, 2. Vgl. H. Alfejev, Geheimnis des Glaubens, 39. 17 Tolstoj mag sich als theologischer Autodidakt dessen nicht bewusst sein. Bezeichnenderweise fehlt in seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie in den Kapiteln III und IV über Gottes Einheit und Gottes Wesen jeder Hinweis auf den orthodoxen Begriff Gottes als »Anfangs aller Dinge«. Tolstoj erwähnt diesen Begriff nur zweimal (PSS 23: 79 und 99) als sein eigenes Gottesverständnis, das »mit der Vernunft nicht zu fassen« sei im Gegensatz zu der seiner Meinung nach »halbheidnischen Vorstellung von einem einzigen Gott« in der orthodoxen Dogmatik, eine Vorstellung, welche den Begriff Gottes dadurch zerstört, dass sie ihn mit fehlgeleiteter Vernunft in sein Wesen und seine Eigenschaften einteilt und der Dimension der Zahlen nicht entrückt (ebd.). 18 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 19f. 19 A.a.O., 38f. 20 Vgl. dazu auch Tolstojs kurzes Gebet: »Wenn ich liebe, dann ist Gott in mir, und ich bin in Gott« (f 284; PSS 90: 146). 21 Vgl. M. George, Vergöttlichung des Menschen. Von der platonischen Philosophie zur Soteriologie der griechischen Kirchenväter, in: Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche, FS U. Wickert, hg. v. D. Wyrwa, Berlin/New York 1997, 115–155.

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22 Vgl. zum Folgenden R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten 1937, 95f. 23 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 30. 24 A.a.O., 6. 25 A.a.O., 18. 26 A.a.O., 30. 27 M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«?, 109, Anm. 102. 28 R. Quiskamp, Der Gottesbegriff, 96. 29 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 19. 30 A.a.O., 45f. 31 M. Weber, Erste Diskussionsrede zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, 462–469 (466). Vgl. Ch. Hann, Ostchristentum und westliche Sozialtheorie, in: A. Briskina-Müller, 587–597 (587).

Jesus Christus

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Christian Münch

Jesus Christus In der Aufsehen erregenden Resolution, die der Hl. Synod am 24. Februar 1901 veröffentlichte, wird Tolstoj vorgeworfen, er leugne Jesus Christus als den Gottmenschen, Erlöser und Auferstandenen. Zu diesem Vorwurf nimmt der Beschuldigte in seinem Antwortschreiben Stellung, das er im Juni desselben Jahres publizierte (f 240–248; PSS 34: 245–253). Darin entgegnet er dem Synod mit einem Ja, aber: Einerseits gibt Tolstoj zu, dass er die »Geschichte über Gott, der von einer Jungfrau geboren wurde und das menschliche Geschlecht erlöst hat«, ablehnt, ja dass er es »für die größte Blasphemie« hält, den Menschen Christus »als Gott zu verstehen«; andererseits vertritt er die Ansicht, die Lehre Christi gebe den Willen Gottes am deutlichsten wieder und könne den Menschen das Leben verleihen. Die kirchlichen Repräsentanten zeigten jedoch wenig Bereitschaft, sich mit Tolstojs Gegenmodell auseinanderzusetzen. Vielmehr sahen sie in seiner Antwort eine Bestätigung seines Abfalls von Christus: So erblickte der Vorsitzende des Synods, Metropolit Antonij (Vadkovskij), darin eine »Kriegserklärung an Christus« und verglich den Grafen von Jasnaja Poljana mit Julian Apostata, »der die Lehre Christi vom Angesicht der Erde tilgen wollte«.1 Auch andere Theologen und Religionsphilosophen teilten die Position der obersten Kirchenbehörde: Sie warfen Tolstoj vor, er habe sich von Christus losgesagt (Novoselov),2 habe den Glauben »an Christus als Sohn Gottes« verworfen (Bulgakov)3 und ein »Christentum ohne Christus« verkündet (Mereˇzkovskij, Berdjaev, Stepun).4 Diese Vorwürfe, die sich bis heute gehalten haben,5 mögen insofern berechtigt sein, als Tolstoj die kirchlich-dogmatische Christologie ablehnt. Andererseits erscheinen sie in dem Maße ungerecht, als Tolstoj der Gestalt und Lehre Christi in seinem Denken eine zentrale Bedeutung beimisst. Hält er doch Christus auf seine Weise für den Sohn Gottes und die Lehre Christi für das klarste Zeugnis des göttlichen Willens, in dessen Erfüllung er den Sinn des Lebens und die Rettung der Menschen sieht. Wie im Folgenden zu zeigen ist, hat Tolstoj eine alternative, undogmatische Christologie entworfen, die zwar von der orthodoxen Lehre abweicht, ihr aber näher steht als vielfach angenommen.

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Tolstojs Deutung der Inkarnation und der Gottessohnschaft Tolstojs Christologie erschließt sich am klarsten in seiner Evangeliendarlegung, die mit einer Interpretation der johanneischen Logoschristologie beginnt (PSS 24: 25–45). Darin wird die Inkarnation des Logos als Offenbarung des mit Gott identifizierten »Verständnisses des Lebens« (razumenie ˇzizni) gedeutet:6 »In Jesus Christus«, schreibt Tolstoj, »offenbarte sich das ganze Verständnis« (PSS 24: 37), und insofern war Jesus »das Verständnis im Fleische« (razumenie vo ploti, PSS 24: 48). Mit dieser Auslegung steht Tolstoj nahe bei Spinoza, der die Inkarnation des Logos dahingehend deutete, dass sich Gott bzw. die ewige Weisheit Gottes im höchsten Grade in Christus offenbarte: »Deus [resp. Dei aeterna sapientia] sese maximè in Christo manifestavit«.7 Auch wenn sich Gott als »Verständnis des Lebens« nicht allein in Christus, sondern in der Seele eines jeden Menschen mitteilt,8 erlangte seine Offenbarung – wie Tolstoj in Übereinstimmung mit Spinoza glaubt – in Christus eine vor und nach ihm nie erreichte Klarheit und Vollständigkeit. In diesem Sinne sei es berechtigt, in Christus Gott zu sehen: »Die Meinung, dass Christus Gott sei«, schreibt Tolstoj in seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie, »ist insofern richtig, als er uns wirklich, wie Johannes es auch ausgedrückt hat, Gott offenbart hat« (PSS 23: 175). Dabei wird die Offenbarung Gottes nicht nur auf Christi Wortverkündigung bezogen, sondern auch auf die beispielhafte Erfüllung des Willens Gottes in Christi Leben und Handeln. Demnach hat sich Gott insofern in Christus inkarniert, als sich sein Wille in der ethischen Lehre und Lebensführung Christi vollständig offenbart hat. In Anlehnung an Joh 10,30 unterstreicht Tolstoj in seiner Evangeliendarlegung die Einheit von Gott und Christus und legt Letzterem die folgenden Worte in den Mund: »[…] ich bin das, was ihr Gott nennt und was ich den Vater nenne. Ich und der Vater sind eins« (f 149; PSS 24: 875). Dieses Einssein des Sohnes mit dem Vater versteht er als ethische Einheit (in dem Sinne, dass Christus den Willen Gottes erfüllte), nicht aber als Homousie (Wesenseinheit) von Gott-Vater und Gott-Sohn. Die nizänische Lehre von der Homousie lehnt Tolstoj aus verschiedenen Gründen ab: Erstens findet er sie im Neuen Testament nicht begründet, zweitens hält er sie für ausgrenzend und vernunftwidrig, drittens glaubt er sie mit seinem Gottes- und Menschenverständnis nicht vereinbaren zu können und viertens sieht er darin einen Ausdruck des konstantinischen Christentums als politischer Machtreligion (PSS 23: 172–176, 479f, 482). Entgegen dem orthodoxen Dogma hält er Christus nicht für wesenseins mit Gott (im Sinne, dass jener die zweite Hypostase der Trinität wäre), sondern für einen Menschen, der »Gott gleichartig, Gott nahe, Gottes Sohn« ist (PSS 23: 167). Dabei beruft sich Tolstoj auf die Christusworte des Johannesevangeliums und schreibt im Februar 1880 an seine Tante Alexandrine:

Jesus Christus

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Was ist Christus? Gott oder Mensch? – Er ist, was er sagt. Er sagt, dass er der Sohn Gottes ist, er sagt, dass er der Menschensohn ist, er sagt: Ich bin das, was ich euch sage. Ich bin der Weg und die Wahrheit.9 Genau das ist er, was er über sich sagt. Doch von dem Moment an, als man all dies zusammenfassen wollte und sagte: er ist Gott, die zweite Person der Trinität, war das Ergebnis Blasphemie, Lüge und Dummheit. Wäre er dies gewesen, so hätte er es auch zu sagen vermocht. (f 85; PSS 63: 8)

Die Gottessohnschaft, welche die Evangelisten Jesus zuschreiben, versteht Tolstoj freilich nicht als Würde, die ausschließlich Christus vorbehalten wäre. Obwohl sich dieser von anderen Menschen abhebe, sei er »kein exklusiver Sohn Gottes«, sondern »nur dadurch Gottes Sohn«, dass er den Willen des Vaters erfülle (PSS 23: 174). Die Gottessohnschaft, die in Christus ihren höchsten und beispielhaften Ausdruck gefunden hat, nimmt Tolstoj in der Seele eines jeden Menschen wahr: als göttlichen Geistesfunken, den es zu erkennen und zu stärken gilt. »Jeder Mensch ist dem Geist nach ein Sohn des Vaters«, betont er wiederholt (f 149, 278; PSS 24: 875; 73: 12).10 Mit seiner Auslegung der Gottessohnschaft steht Tolstoj zwar im Gegensatz zur kirchlichen Lehre vom eingeborenen Gottessohn, aber in gewisser Nähe zu Paulus, der in der Gottessohnschaft der Menschen das Ziel der Sendung Christi sah (Röm 8,14–21; Gal 3,26; 4,4–6).11 Im Unterschied zum Apostel versteht er darunter jedoch keine gnadenhafte Erwählung und Adoption der Christusgläubigen, sondern die von der animalischen Persönlichkeit (f H. Kuße, Anthropologie) unterschiedene geistig-sittliche Anlage des Menschen, die es zu wecken und zu entwickeln gilt.12 Darin folgt Tolstoj dem idealistisch-philosophischen Konzept der Gottessohnschaft, wie es der Pädagoge Friedrich Fröbel (1782–1852) in seinem Hauptwerk Die Menschenerziehung (1826) dargelegt hat. Gemäß Fröbel besteht die »ChristusReligion« nicht im Glauben, dass Jesus der Sohn Gottes ist, sondern in der Erkenntnis, dass alle Menschen Söhne Gottes sind.13 Fröbels Ideen lernte Tolstoj 1860/61 kennen, als er in Deutschland das westeuropäische Schulwesen studierte und Julius Fröbel, den Neffen des Pädagogen, traf.14 Einen weiteren Einfluss übte die Lehre vom »Gottmenschentum« aus, die der Narodnik Aleksandr Malikov seit 1874 verkündete und die Tolstoj v.a. durch Vasilij Alekseev, den Hauslehrer seines Sohnes Sergej, kennen lernte.15 Ihr Ausgangsgedanke besteht darin, dass jedem Menschen das göttliche Prinzip innewohnt – als Quelle diesseitiger Vergöttlichung von Mensch und Welt.16 Wie dem folgenden Zitat aus der Untersuchung der dogmatischen Theologie zu entnehmen ist, erweist sich Tolstojs Konzept der Gottessohnschaft als eine Verschmelzung von neutestamentlichem Gedankengut mit philosophischen Ideen des 19. Jahrhunderts: Sein und aller Menschen Verhältnis zu Gott beschreibt er [d.i. Christus] als das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Damit kein Missverständnis aufkomme, nennt er sich selbst und die Menschen allgemein »Menschensohn« und sagt, dass der Menschensohn der Sohn

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Gottes sei. Indem er das Verhältnis des Menschen zu Gott erklärt, sagt er, wie der Sohn den Vater nachahmen und mit ihm dieselben Ziele haben müsse (im Gleichnis vom Hirten),17 so solle auch der Mensch danach streben, Gott gleich zu werden und ebenso zu handeln wie Gott. Und er sagt von sich selbst, er sei – Gottes Sohn. (PSS 23: 173)

Tolstojs eigentliches Interesse gilt weder dem historischen Jesus noch dem dogmatischen Christus, sondern der zeitlos-universalen, göttlichen Wahrheit, die Christus in seiner Lehre und Lebensführung offenbarte und insofern selber verkörperte. Diese im Evangelium überlieferte Wahrheit besteht nach Tolstoj darin, dass der Menschensohn, d.h. der Mensch nach seinem geistigen Wesen und seiner Bestimmung, Gottes Sohn ist und dass er das Heil erlangt, indem er die Gottessohnschaft als sein geistiges Wesen erkennt, sie im Leben strebend verwirklicht und dadurch den »fleischlichen Tod« überwindet. In der von ihm verwirklichten Gottessohnschaft erweist sich Christus als Proto- und Idealtyp des Menschen, als Menschensohn und in diesem Sinne als der »eingeborene, gleichartige« (odnorodnyj) – nicht »einziggeborene« (edinorodnyj) – Sohn Gottes (vgl. PSS 24: 38).18 Die von Christus repräsentierte Gottessohnschaft aller Menschen schildert Tolstoj in seinen Erzählungen wiederholt als Präsenz Christi im Nächsten wie in einem selbst. Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Volkserzählung Wo die Liebe ist, da ist auch Gott (1885): Der Hauptprotagonist, ein Schuster namens Martyn, erwartet Christus und begegnet ihm, ohne ihn zu erkennen, in der Gestalt dreier hilfsbedürftiger Menschen. Er holt sie ins Warme, gibt ihnen zu essen und zu trinken und versorgt sie mit Geld und Kleidung. Im Handeln gegenüber den Nächsten offenbart sich sein Verhältnis zu Christus als Sohn Gottes, der in allen Menschen ist. Ein analoger Gedanke liegt der Kurzgeschichte Die Leiden des Herrn Jesus Christus zugrunde, die in den vorliegenden Band aufgenommen wurde (f 180f; PSS 25: 114): Darin wird die Gewalt gegen Mitmenschen als Peinigung Christi und Fortsetzung der Passionsgeschichte gedeutet: »Alles, was wir einem anderen Menschen zufügen, fügen wir Ihm zu«, heißt es in Anlehnung an Mt 25,40.45. In diesen Erzählungen figuriert Christus als transpersonaler, kollektiver Menschensohn bzw. – um mit Ferdinand Christian Baur zu sprechen – als »der Mensch an sich«.19 Als Mensch kann Christus, wie Tolstoj betont, aber nicht Adressat des Glaubens sein. Dieser gebührt allein dem in Christus offenbarten Gott bzw. der göttlichen Offenbarung durch Christus. Dementsprechend sagt Jesus in der Kurzen Darlegung des Evangeliums: »Ihr sollt nicht mir als Mensch glauben, sondern dem, was ich im Namen des gemeinsamen Vaters aller Menschen sage« (f 147; PSS 24: 873). Und in Mein Glaube schreibt Tolstoj: »Ich glaube an die Lehre Christi«, nicht an den Menschen Christus (f 115; PSS 23: 453). Der Glaube an den Menschen wird als Pseudoglaube verurteilt, nämlich als »Vertrauen« im Sinne eines vernunftwidrigen Glaubensgehor-

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sams (f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 327f). Nach Tolstoj bezieht sich der wahre, vernünftige Glaube nicht auf die begrenzte, animalische Persönlichkeit des Menschen, sondern auf Gott als ewigen Geist und Willen, der im Menschen und in allem Leben wirksam ist. Und so ist Christus nur insofern Adressat des Glaubens, als sich der Glaube auf den in Christus offenbarten Gott und damit auf die göttliche, universal-vernünftige Lehre richtet, die Christus verkündet und verwirklicht hat.20

Die soteriologische Bedeutung der Lehre Christi Anstelle der menschlichen Person Christi nimmt die göttliche Lehre Christi die zentrale soteriologische Rolle in Tolstojs Theologie ein. Sie wird als Wegweisung zum Heil verstanden, d.h. als Richtschnur zur Überwindung von Tod, Sünde und sinnloser Existenz. Dabei fungiert Christus als Lehrer und Beispiel und insofern als Heilsbringer. Im bereits zitierten Brief an seine Tante Alexandrine schreibt Tolstoj über Christus und dessen Lehre: Er hat uns das Heil gebracht. Wie? Indem er uns lehrte, unserem Leben einen Sinn zu geben, den der Tod nicht zerstört. Seine ganze Lehre, sein Leben und sein Tod lehren uns das. Um gerettet zu werden, muss man dieser Lehre folgen. (f 85f; PSS 63: 8f)

Mit der Funktion des Heilsbringers verbindet Tolstoj den Titel »Christus«, den er in seiner Evangeliendarlegung vom Namen Jesus unterscheidet und in der Rede der Juden mit messianischen Vorstellungen verknüpft, ansonsten aber von diesen löst und als Eigennamen verwendet.21 Dabei gilt für ihn: Christus ist nicht der Christus (f 149; PSS 24: 875), d.h. er ist weder der von den Juden erwartete Messias22 noch der von der Kirche verkündete einziggeborene Gottessohn und Erlöser, sondern der universale Heilsbringer, der die in allen Menschen angelegte Gottessohnschaft in seiner Lehre und Lebensführung beispielhaft offenbart hat. Bezeichnenderweise wandelt Tolstoj biblische Aussagen zum Namen oder zur Person Christi oft in Aussagen über die Lehre Christi um, so z.B. bei der Wiedergabe von Mt 10,22, Joh 8,12b und der johanneischen Ich-bin-Worte: Und ihr werdet gehasst werden für meine Lehre, doch wer bis zum Ende standhaft bleibt, der bleibt im Heil. (Mt 10,22; PSS 24: 290; vgl. f 143, 160) Wer meiner Lehre folgt, der erlangt das wahre Leben. (Joh 8,12b; PSS 24: 873; f 147) Meine Lehre ist die Nahrung des Lebens. (Joh 6,48; PSS 24: 857; vgl. f 149) Meine Lehre ist das wahrhaftige Licht. (Joh 8,12a; PSS 24: 878; vgl. f 147f) Meine Lehre ist das Tor für die Schafe. (Joh 10,7; PSS 24: 875; f 149) Meine Lehre ist die Erweckung zum Leben. (Joh 11,25a; PSS 24: 884; vgl. f 149) Meine Lehre ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,6a; PSS 24: 919; vgl. f 159) Meine Lehre ist der Baum des Lebens. (Joh 15,1a; PSS 24: 921; vgl. f 159)

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Analog dazu gibt Tolstoj das Christuswort »Ich bin der gute Hirte« (Joh 10,14a) mit »Ich bin ein solcher Lehrer« wieder (PSS 24: 883; vgl. f 149). Und die Nachfolge Christi deutet er als Befolgung der Lehre Christi, und zwar als Befolgung nicht der Worte, sondern der Werke, die Christus gelehrt und getan hat: »An den Werken, die ich lehre, werdet ihr erkennen, ob ich wahrhaft lehre oder nicht. Tut, was ich tue, und kümmert euch nicht um die Worte«, sagt Jesus in Tolstojs Evangeliendarlegung (f 149; PSS 24: 875). Die Lehre Christi wird als praktische Lebens- und Sittenlehre begriffen, wobei Christus die Einheit von Lehre und Leben repräsentiert23 – eine Einheit, die mit der Willenseinheit von Gott und Mensch als der vollendeten Gottessohnschaft korrespondiert und das rettende Ziel der Menschen bildet. Das Leben gemäß Christi Lehre soll aber, wie Tolstoj in Das Reich Gottes (1890–93) präzisiert, nicht gesetzlich verstanden werden: Im Unterschied zum pharisäischen Legalismus und seinen Derivaten bestehe es nicht »in der Erfüllung von Regeln und Gesetz«, sondern »in der größtmöglichen Annäherung an die vorgeschriebene und von jedem Menschen in sich erkannte göttliche Vollkommenheit« (f 182; PSS 28: 77). Diese Vollkommenheit, die in der Willenseinheit von Sohn und Vater besteht und ihre wegweisende Darstellung in den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) gefunden hat, sei zwar nur in der Unendlichkeit erreichbar, doch glaubt Tolstoj, dass gerade im Streben nach dem unerreichbaren Absoluten das Heil liege und dass Christi Lehre nur dann soteriologische Kraft habe, wenn sie das Absolute fordere (vgl. f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 333–335): Die Lehre Christi hat nur dann Kraft, wenn sie absolute Vollkommenheit fordert, d.h. die Vereinigung des göttlichen Wesens, das sich in der Seele jedes Menschen befindet, mit dem Willen Gottes – die Verbindung von Sohn und Vater. Erst diese Befreiung des in jedem Menschen lebenden Gottessohnes vom Tierischen und seine Annäherung an den Vater macht gemäß Christi Lehre das Leben aus. (f 183; PSS 28: 78f)

Seine Deutung der Lehre Christi als Heil durch Erkenntnis und Vollkommenheitsstreben setzt Tolstoj der kirchlichen Erlösungslehre entgegen, die er einer scharfen Kritik unterzieht. Das Dogma der Erlösung auf Grund des stellvertretenden Sühnetodes Christi weist er zurück, da es seiner Ansicht nach die Lehre Christi abwertet oder gar ersetzt. Die Vorstellung, dass der Mensch durch Glauben ohne Nachfolge bzw. durch Sakraments- und Anstaltsgnade erlöst werden kann, hält er für beschränkt (PSS 23: 197f, 228f; f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 333).24 Demgegenüber vertritt Tolstoj die Auffassung, dass Christus uns dadurch errettet hat, dass er ein [nicht äußerliches] Gesetz offenbarte, welches demjenigen Erlösung bringt, der diesem Gesetz folgt, und dass er uns losgekauft hat, indem er mit dem Kreuzestod die Wahrheit seiner Lehre besiegelte. (PSS 23: 198)

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Die Lehre von der Sünde und ihrer Überwindung Da Tolstoj mit der kirchlichen Erlösungslehre aber auch das Erbsündendogma ablehnt (PSS 23: 158f), fragt es sich, woraus und wovor der Mensch eigentlich errettet werden muss. – Eine Antwort darauf gibt Tolstoj in seiner Schrift Die christliche Lehre (1894–97), die eine fragmentarische Darstellung seiner Sündenlehre enthält. Ihr zufolge bedürfen die Menschen der Erlösung von der »Armseligkeit, Hinfälligkeit und Sinnlosigkeit ihrer Existenz« (PSS 39: 120; vgl. auch f 285; PSS 41: 65). Gemäß Tolstoj ist die Existenz des Menschen zeitlich und qualitativ begrenzt und mit Sünden behaftet, welche die Offenbarung der Liebe im Inneren behindern.25 Hierbei werden drei Arten von Sünden unterschieden: 1. die »angeborenen, natürlichen Sünden«, die aus den körperlichen Bedürfnissen hervorgehen, 2. die »geerbten gesellschaftlichen Sünden«, die den traditionellen Institutionen und Konventionen entspringen und 3. die »persönlichen Sünden«, die neu ersonnen werden (PSS 39: 131f).26 In der Nachfolge Rousseaus und Fröbels geht Tolstoj zwar zunächst davon aus, dass der Mensch vollkommen geboren wird (PSS 8: 322), doch widerspricht er dieser Vorstellung in späteren Jahren und entwickelt seine eigene Erbübellehre. In der Schrift Die christliche Lehre fasst er sie wie folgt zusammen: 1. Während seiner Kindheit, manchmal auch länger, lebt der Mensch wie ein Tier, wobei er Gottes Willen erfüllt, den er als Streben nach dem Wohl seines Einzelwesens erfährt; und er kennt kein anderes Leben. 2. Nachdem er zum vernünftigen Bewusstsein erwacht ist, fühlt sich der Mensch, obwohl er weiß, dass sein Leben in seinem geistigen Wesen beruht, weiterhin in einem separaten Körper, und aus der Gewohnheit des tierischen Lebens vollbringt er Handlungen, die das Wohl der Einzelperson zum Ziel haben und der Liebe widersprechen. 3. Indem er so handelt, beraubt sich der Mensch des Heils des wahren Lebens und erlangt auch das erstrebte Wohl des Einzelwesens nicht, und indem er so handelt, begeht er Sünden. Diese Sünden bestehen in den angeborenen Hindernissen der Offenbarung der Liebe im Menschen. 4. Diese Hindernisse werden dadurch verstärkt, dass Menschen früherer Generationen, welche Sünden begangen haben, die Gewohnheiten und Methoden ihrer Sünden an spätere Generationen weitergeben. 5. Und so ist jeder Mensch, da er sich in der Kindheit die Gewohnheiten des persönlichen Lebens eines Einzelwesens angeeignet hat und da diese Gewohnheiten durch Überlieferungen von den Vorfahren an ihn weitergegeben werden, stets Sünden unterworfen, welche die Offenbarung der Liebe behindern. (PSS 39: 131)

Die Anlage zur Sünde ist demnach jedem Menschen angeboren und gehört zu seiner animalischen Persönlichkeit, so dass jeder früher oder später sündige Handlungen begeht – solche, die bald aus der menschlichen Natur resultieren, bald durch soziale Konventionen hervorgerufen oder verschlimmert werden. Auch die Kinder, die – gemäß obigem Zitat – im Rahmen ihrer animalischen Existenz den Willen Gottes erfüllen, werden nicht für sündlos

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gehalten. Im Weg des Lebens (1910) stellt Tolstoj diesbezüglich klar: »Wir nennen Kinder sündlos – das ist unrichtig. Ein Kind ist nicht sündlos. In ihm sind weniger Sünden als in Erwachsenen, aber es sind schon welche da« (PSS 45: 102). Gemäß Tolstoj kann ein lebender Mensch nur »mehr oder weniger sündig, niemals aber ganz sündlos sein« (PSS 45: 94). Selbst der allerheiligste Mensch – also auch Christus – sei nicht sündenfrei, denn ohne Sünden gebe es kein Leben (PSS 45: 102). Demzufolge ist vollkommene Sündenfreiheit zwar erst nach dem körperlichen Tode möglich, doch kann die Erlösung während des irdischen Lebens annäherungsweise erlangt werden durch unaufhörliches Streben, d.h. durch stetig fortschreitende Minimierung und Überwindung all dessen, was der Selbstoffenbarung der Liebe im Wege steht. In diesem Zusammenhang ist für Tolstoj unerheblich, woher das Böse ursprünglich kommt. Am 25. November 1898 notiert er ins Tagebuch: »Die Frage nach der Herkunft des Bösen ist genauso unsinnig wie die Frage nach dem Ursprung der Welt. Man braucht nicht zu wissen, woher das Böse stammt, sondern muss wissen, wie es zu überwinden ist« (PSS 53: 216). Ungeachtet dessen hat sich Tolstoj immer wieder mit der unde-malum-Frage auseinandergesetzt und ist zu Schlussfolgerungen gekommen, die sehr unterschiedlich und jeweils kontextabhängig sind. So versteht er das Böse bald als Illusion, als Nicht-Sein oder als fehlinterpretiertes Gutes, bald als eine vernunftwidrige Realität, die der Zivilisation oder der Entscheidungsfreiheit des Menschen entspringt, in dessen animalischer Persönlichkeit die Sünde angelegt ist.27 Einem gnostischen Geist-Materie-Dualismus, der auf der Vorstellung von Gut und Böse als zwei gleichursprünglichen Prinzipien beruht, steht Tolstoj jedenfalls ablehnend gegenüber. Obwohl er im Weg des Lebens schreibt, dass Sünden vom Körper herrühren (PSS 45: 98, 101), hält er die Materie für keine Finsternissubstanz, sondern für eine wertfreie Größe,28 deren Ursprung Gott ist (PSS 41: 475). Das Böse wird für ihn dadurch hervorgerufen, dass der Mensch sein Leben aus freiem Willen auf die Materie bzw. seine animalische Persönlichkeit ausrichtet, statt es im Geist und in der Liebe zu führen. Bemerkenswerterweise wendet sich Tolstoj nicht nur gegen ein Primat des Körperlich-Materiellen, sondern auch gegen eine selbstzerstörerische Leibfeindlichkeit und Fleischesabtötung. Er weist darauf hin, dass der Mensch, wenn er seinen Leib tötet, auch sein wahres geistiges Wesen vernichtet, das der Leib in sich schließt (PSS 39: 130). Dementsprechend tritt Christus in Tolstojs Evangeliendarlegung dem inneren Versucher, der die Zerstörung des Körpers nahe legt, als Verteidiger des Leibes entgegen: Es sei Gottes Wille, entgegnet er ihm, dass der Mensch durch den Geist im Fleisch geboren sei, und dem Willen Gottes solle man nicht widerstreben (f 137; PSS 24: 818).29 Die Lösung des Widerspruchs zwischen den Gesetzmäßigkeiten des Leibes und des Geistes glaubt Tolstoj in der

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Lehre Christi gefunden zu haben. Denn diese zeige dem Menschen, wie er das unbegrenzte geistige Wesen in seinem begrenzten Leib befreien kann bzw. wie er die unendliche Liebe, die in die Schranken des animalischen Lebens eingeschlossen ist, gedeihen lässt (PSS 39: 130). Unter Erlösung versteht Tolstoj einen permanenten Prozess, den der Mensch in entscheidendem Maße selbst gestaltet, indem er nach der Lehre Christi lebt und die Geisteskräfte, die in seinem Leib gefangen sind, freisetzt und zur Entfaltung bringt. Insofern wird Erlösung nicht als unverdientes Gnadengeschenk Gottes begriffen, sondern weitgehend als Selbstbefreiung.30 So schreibt Tolstoj am 14. Januar 1901 an den Bauern Vasilij Zavolokin: Er [d.i. Gott] hat uns nicht nur nicht angewiesen, gerecht und ohne Sünde zu sein, sondern, im Gegenteil, uns das Leben gegeben, dessen Sinn nur darin liegt, dass wir uns selbst von unseren Sünden befreien und uns ihm annähern. (f 274; PSS 73: 7f)

Dieser Aufruf zur Selbstbefreiung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tolstoj die Erlösung – im Sinne einer synergistischen Soteriologie – ebenfalls den Kräften Gottes zuschreibt, d.h. den göttlichen Geisteskräften, die der Mensch in sich wahrnimmt und die er aus freiem Willen in sich wachsen lassen kann. Eine entscheidende Bedeutung für das geistige Wachstum schreibt Tolstoj schließlich dem Leiden zu. Im Leiden erblickt er großes Erkenntnis- und Aktivierungspotential: Es führe »zur Erkenntnis der Notwendigkeit eines vernünftigen Lebens« (PSS 45: 436) und rufe »jene Aktivität hervor, welche die Bewegung des wahren Lebens darstellt« (PSS 41: 528). Dabei rät Tolstoj seinen Lesern, die Ursache des Übels, unter dem sie leiden, zuerst in sich selbst zu suchen, denn nur im Bewusstsein der eigenen Sünde und durch Änderung des eigenen Tuns – d.h. durch Buße und Selbstentäußerung – könne man sich davon befreien (PSS 41: 529).31 Das Vorbild im Leiden sieht er in Christus, der das Kreuz als seine Lebensbestimmung in Demut und Selbstlosigkeit getragen habe. Um sich zu befreien, müsse der Mensch denselben Weg gehen und das Kreuz auf sich nehmen, wie es Christus gelehrt und vorgelebt hat.32 Im Weg des Lebens heißt es: Ein jeder hat sein Kreuz, sein Joch, nicht im Sinne einer Bürde, sondern im Sinne einer Lebensbestimmung, und wenn wir das Kreuz nicht als Bürde betrachten, sondern als Lebensbestimmung, so können wir es leicht tragen. Wir tragen es leicht, wenn wir sanftmütig, nachgiebig und von Herzen demütig sind. Aber noch leichter, wenn wir uns von unserem Ego lossagen; und noch leichter, wenn wir das Kreuz tragen, wie es Christus lehrt; und noch viel leichter, wenn wir uns in der geistigen Arbeit vergessen, wie sich die Menschen in weltlichen Arbeiten vergessen. Das Kreuz, das uns gesandt ist, bedeutet das, woran wir arbeiten müssen. Unser ganzes Leben besteht in dieser Arbeit. (PSS 45: 443)

Dem Kreuz als Leidenssymbol misst Tolstoj somit eine soteriologische Bedeutung bei und sieht in ihm eine Voraussetzung für die geistige Befreiung des Menschen.33 Deshalb schreibt er am Schluss des Romans Auferstehung

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über Nechljudov, der, um Katja zu retten, den Bußgang nach Sibirien auf sich genommen hat: »Nach langem Schmachten und Leiden fand er auf einmal Ruhe und Freiheit« (PSS 32: 444).

Neudeutung von Auferstehung und Reich Gottes Wie die Gottessohnschaft und die Erlösung interpretiert Tolstoj auch die Auferstehung neu. Der Vorstellung von der Auferstehung Christi als einem übernatürlichen Wunder setzt er seine entmythologisierte, existenziale Auslegung entgegen, wonach die Auferstehung als geistige Neugeburt in diesem Leben bzw. als Erwachen zum wahren Leben begriffen wird. Als Prototyp des Auferstandenen figuriert Christus, der Kreuz und Tod durch sein »vernünftig-liebendes Leben« überwunden hat – ein Leben, dessen Kraft »bis heute auf Millionen Menschen wirkt« (f 177; PSS 26: 413f). Das Leben, das Christus errungen und gelehrt hat, fasst Tolstoj als geistiges Leben auf, das außerhalb von Zeit und Raum liegt, in der Gegenwart gelebt wird und daher vom körperlichen Tod nicht zerstört werden kann. Im Sinne dieses Lebensverständnisses interpretiert er das Christuswort »Ich bin die Auferstehung und das Leben« (Joh 11,25) wie folgt: »Meine Lehre weckt das schlafende Leben, wer an meine Lehre glaubt, der erwacht zum ewigen Leben und lebt über den Tod hinaus« (f 149; PSS 24: 874). Entgegen dem Vorwurf des Hl. Synods (f 240, 244; PSS 34: 248f) hält Tolstoj am Glauben an ein ewiges Leben fest, betont aber, dass der Mensch dieses vor dem körperlichen Tod erringen müsse und dass er über die Beschaffenheit des Lebens nach dem Tod nichts wissen könne (vgl. f 159, 178f; PSS 24: 917; 26: 414f).34 Wie die leibliche Auferstehung weist er die mythologischen Jenseitsvorstellungen von Jüngstem Gericht, Paradies und Hölle als Aberglauben zurück. Das göttliche Gericht verlegt er in die Gegenwart und in das Innere des Menschen, versteht es als Gewissen und als »Vergeltung, hier und überall, jetzt und immer« (f 244, 282; PSS 34: 249; 90: 143). Dabei glaubt er, dass die Menschen »nicht für ihre Sünden«, »sondern durch die Sünden selbst« bestraft würden (PSS 45: 94). Den Vorstellungen von Hölle und Paradies schließlich setzt er seine Auffassungen vom geistigen Tod und vom Reich Gottes entgegen. Unter dem Reich Gottes versteht Tolstoj die kollektive Gottessohnschaft, die das Ziel der Menschheit bildet. Als solche ist das Gottesreich eine immanente geistig-sittliche Größe, die dem transzendenten Urquell in der menschlichen Seele entspringt. Auf mystisch anmutende Weise wird es als unsichtbare Wirklichkeit begriffen, die »nicht außen, sondern in den Seelen der Menschen« angelegt ist – in einer Art kollektiver Seele, worin »der Anfang und das Ende von allem« liegen (f 139; PSS 24: 832). Seine verin-

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nerlichende Deutung untermauert Tolstoj mit der Bibelstelle Lk 17,21, wo Jesus das Reich Gottes μ«  (»inwendig in euch«) lokalisiert.35 Dieses Bibelwort bildet den Titel des Traktats Das Reich Gottes ist in euch, in welchem das Gottesreich als neues Bewusstsein, als ein Reich des Geistes beschrieben wird, das die Welt transformiert. »Das Reich Gottes wird auf Erden sein«, heißt es im Roman Auferstehung, wenn die Menschen die Gebote Christi erfüllen, zu denen namentlich die Gebote der Versöhnung (Mt 5,21–26), der Ehetreue (Mt 5,27–32), der Eidesverweigerung (Mt 5,33–37), des Nichtwiderstehens (Mt 5,38–42) und der Feindesliebe (Mt 5,43–48) gehören (PSS 32: 443f).36 Entsprechend diesen Geboten beschreibt Tolstoj das Gottesreich als eine neue »Lebensordnung, bei der Zwist, Betrug und Gewalt, wie sie jetzt herrschen, durch freies Einvernehmen, Wahrheit und brüderliche Liebe der Menschen zueinander ersetzt werden« (f 247; PSS 34: 252). Im Sinne einer sozialethischen Utopie identifiziert er das Gottesreich mit dem »Frieden aller Menschen untereinander« und sieht darin das »höchste, auf Erden erreichbare Heil«. »Die ganze Lehre Christi«, so Tolstoj, »besteht darin, den Menschen das Reich Gottes, den Frieden zu geben« (PSS 23: 370). Dabei werden die Vorstellungen vom Reich Gottes nicht nur dem Evangelium entnommen, sondern auch den Heilsweissagungen alttestamentlicher Propheten, besonders Jes 2,4 (über das Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen) und Jes 61,1f (über die Verkündigung des Evangeliums den Armen, die Heilung der zerbrochenen Herzen und die Befreiung der Gefangenen) (PSS 23: 371). In der Mitarbeit am Friedens- und Gerechtigkeitsreich, das die Propheten und Christus verkündet haben, besteht nach Tolstoj der Sinn des Lebens der Menschen (f 187; PSS 28: 293). Das eigene Heil ist demnach an die Mitwirkung am Heil der anderen bzw. aller Menschen gebunden.37 Jedoch wird das Reich Gottes immer eine Baustelle bleiben und »erst in der Unendlichkeit« vollendet werden (vgl. f 182; PSS 28: 77).

Christentum ohne Christus? Tolstoj hat der Gestalt und Lehre Christi eine derart umfassende Bedeutung zuerkannt, dass es ungerecht erscheint, seine religiöse Weltanschauung als »Christentum ohne Christus« zu bezeichnen.38 Zwar sah der Schriftsteller in Christus nicht den Gottmenschen, Erlöser und Auferstandenen, wie ihn die Kirche verkündete, doch setzte er der orthodoxen Christologie eine zeitgemäße Deutung entgegen, die durchaus Beachtung verdient. Tolstoj würdigte Christus als Menschen, der »Gott gleichartig« (odnoroden bogu) ist: als einen vom göttlichen Geist Durchdrungenen und zum göttlichen Leben Erwach-

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ten, als Offenbarer der Gottessohnschaft und des Reiches Gottes, als Heilsbringer der Menschheit und Lehrer der Wahrheit, als großes sittliches Vorbild. Mit seinem Christusbild stand Tolstoj in seiner Epoche nicht alleine da: Seine Kritik der kirchlichen Christologie und seine entmythologisierte Auffassung Christi als Lehrer der Sittlichkeit teilte er in den Grundzügen mit vielen Philosophen und liberalen Theologen seiner Zeit.39 Dabei interessierte sich Tolstoj im Grunde weder für die historische Rekonstruktion noch für die dogmatische Bestimmung der Person Christi. Für entscheidend hielt er die ethische Praxis: nämlich zu tun, was Christus gelehrt und vorgelebt hat (vgl. f 108; PSS 23: 314f). Im Vorwort zur Kurzen Darlegung des Evangeliums schreibt er: »Ich suchte eine Antwort nicht auf eine theologische und historische Frage, sondern auf die Frage des Lebens, und darum war es für mich vollkommen gleichgültig, ob Jesus Christus ein Gott war oder nicht« (f 135; PSS 24: 807).40 Bis heute wird Tolstoj die Rechtgläubigkeit abgesprochen, ja generell sein Christsein angezweifelt. Was Letzteres betrifft, so verweist man gerne auf Stellen im Spätwerk des Grafen, wo er Christus mit Religionsstiftern wie Moses, Buddha und Mohammed gleichsetzte und die Einheit der religiösen und moralischen Wahrheit betonte. Dabei wird jedoch übersehen, dass Tolstoj allein schon aufgrund seines biographisch-kulturellen Hintergrundes Christus als primus inter pares behandelte. Auch wenn er dem Christentum keine Vorrangstellung gegenüber den anderen Religionen zubilligte und die gemeinsame, eine Wahrheit suchte, hielt er das Evangelium Christi für das klarste und vollständigste Zeugnis der Offenbarung dieser einen Wahrheit. So schreibt er im Vorwort zur Kurzen Darlegung des Evangeliums über die christliche Lehre: [D]as Christentum ist nicht nur keine Vermischung von Erhabenem und Niedrigem, nicht nur kein Aberglaube, sondern die strengste, reinste und vollständigste metaphysische und ethische Lehre, über welche hinaus sich die menschliche Vernunft bis heute nicht erhoben hat und in deren Sphäre sich unbewusst alle höhere menschliche Tätigkeit bewegt: die politische, wissenschaftliche, poetische und philosophische. (PSS 24: 814)

Gegen Ende seines Lebens zeigte Tolstoj zwar zunehmendes Interesse an fremden Religionen, doch bildete die Lehre Christi, die er aus den Evangelien herausdestillierte, den Ausgangspunkt und Maßstab seines Konzepts einer universalen Liebesreligion. Der Philosoph Fedor Stepun hat Tolstoj einem liberalen »Jesuanismus« zugeordnet, womit er ein rationalistisch-moralistisches Jesusbild in der Art eines »jüdischen Sokrates« verband.41 Diese Einordnung trifft auf Tolstojs theoretische Auffassung der Person Christi weitgehend zu, erscheint aber unzureichend angesichts der Bedeutung, die Tolstoj der Lehre Christi für das Heil der Menschheit und für alle praktischen Sphären des Lebens beimaß.

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Aus diesem Grunde neigte der orthodoxe Theologe Pavel Evdokimov dazu, in Tolstoj trotz allem einen Christen zu sehen. In seiner Vorlesung Die Christologie in der russischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts stellte er Mereˇzkovskijs These, dass Tolstoj das Christentum ohne Christus aufgenommen habe, in Frage: War das Christentum von Tolstoj ein Christentum ohne Christus? Zwar leugnet Tolstoj die Gottheit Christi mit seinem Verstand, doch glaubte er seinen Worten so, wie es allein der kann, der in Christus Gott erkennt, und ein solcher Glaube geht über ein einfaches Vertrauen auf den Menschen hinaus. Ohne bewusst an die Gottheit in Christus zu glauben, liebt Tolstoj Christus und er folgt ihm wie dem, der wirklich Gott ist.42

Anmerkungen 1 Mitropolit Antonij (A.V. Vadkovskij), Po povodu otveta Sv. Sinodu grafa L.N. Tolstogo [1901], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 358. 2 M.A. Novoselov, Otkrytoe pis’mo grafu L.N. Tolstomu ot byvˇsego ego edinomyˇslennika po povodu otveta na postanovlenie Svjatejˇsego Sinoda [1901], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 377. 3 S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj [1911], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 409. 4 D.S. Mere zˇ kovskij, L. Tolstoj i Dostoevskij [1901], hg. v. E.A. Andruˇscˇ enko, Moskau 2000, 312; N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 248; F.A. Stepun, Religioznaja tragedija L’va Tolstogo [1922], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, 468. Als »Christentum ohne Christus« war Tolstojs Lehre bereits von Konstantin Pobedonoscev (1896) und Vladimir Solov’ev (1900) abgestempelt worden. 5 Vgl. z.B. das Interview mit G. Orechanov, Lev Tolstoj. »Christianstvo« bez Christa, auf: www.taday.ru/text/700427.html [29. 10. 2010]. In der Tradition der russischen Religionsphilosophie vertritt Priester Georgij Orechanov die These, Tolstoj habe das »Christentum ohne Christus« aufgenommen. Vgl. außerdem den Artikel zum 100. Todestag Tolstojs von Diakon A. Vol cˇ kov, Ispolnilos’ sto let so dnja konˇciny L’va Tolstogo, auf: www.mitropolia-spb.ru/news/?id=20138 [20. 11. 2010]. Aleksej Volˇckov ist der Auffassung, Tolstoj habe sich von der Religion Jesu völlig entfernt und seine Predigt habe nichts mit der Lehre Christi gemein. 6 Zu Tolstojs Übersetzung von logos mit razumenie vgl. meinen Beitrag »Offenbarung und Bibel« in diesem Band, 348. 7 B. Spinoza, Opera, Im Auftrag der Heidelberger Akad.d.Wiss. hg. v. C. Gebhardt, Bd. 4, Heidelberg 21972, 316 und 308. Tolstoj hat diesen Gedanken in seinen Lesezyklus aufgenommen, frei nach Spinozas Brief Nr. LXXIII an Oldenburg aus dem Jahr 1675: »Man kann nicht sagen, dass es für das Seelenheil unbedingt nötig wäre, Christus im Fleisch anzuerkennen; unbedingt nötig ist es aber, den Gottessohn anzuerkennen, d.h. jene ewige Weisheit Gottes, die sich in allen Dingen offenbart, besonders in der Seele des Menschen, am stärksten jedoch in Christus« (PSS 41: 531). Dieses Spinoza-Zitat findet sich auch im Buch Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß, das Tolstoj gelesen hat (D.F. Strauss, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, Leipzig 1864, 624).

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8 Wie Inessa Medzhibovskaya gezeigt hat, versteht Tolstoj das »Verständnis des Lebens« im Sinne eines allen Menschen eingepflanzten logos spermatikos – eines »keimhaften Logos«, wie ihn Justin beschrieben hat (I. Medzhibovskaya, Tolstoy and the Religious Culture of His Time, Lanham u.a. 2008, 205–208). Vgl. dazu PSS 24: 177. 9 Vgl. Joh 8,25.28; 14,6. 10 Obwohl Tolstoj die Begriffe »Sohn Gottes« (syn Boga, pl. syny Boga; PSS 24: 44) und »Gottessohnschaft« (synovnost’ Bogu; PSS 24: 493) geschlechtsneutral im Sinne von »Kind Gottes« und »Gotteskindschaft« verwendet, werden hier die maskulinen Termini beibehalten, da sie Ausdruck der tolstojschen Christologie sind und die Gleichheit der Menschen mit Christus ausdrücken. 11 Vgl. H.-J. Eckstein, Verheissung und Gesetz. Eine exegetische Untersuchung zu Galater 2,15–4,7, Tübingen 1996 (= WUNT 86), 238f. 12 In Tolstojs Augen ist die Gottessohnschaft insofern kein Bestandteil der menschlichen Natur, als sie nicht zur fleischlichen, animalischen Persönlichkeit des Menschen gehört (vgl. R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten 1937, 64). Mit dem Ausdruck »Sohn Gottes« beschreibt Tolstoj das göttliche Wesen der Menschenseele, die geistige Herkunft und Bestimmung des Menschen und insofern dessen göttliche Natur. 13 Vgl. K. Giel, Fichte und Fröbel. Die Kluft zwischen konstruierender Vernunft und Gott und ihre Überbrückung in der Pädagogik, Heidelberg 1959 (= Anthropologie und Erziehung, 3), 164. Sein Konzept der Gottessohnschaft hat Fröbel in § 61 seines Buches Die Menschenerziehung dargelegt: F. Fröbel, Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Die Menschenerziehung, hg. v. E. Hoffmann, Stuttgart 41982, 86–90. Auf S. 87 heißt es: »Das innige und einige Verhältnis Jesu zu Gott läßt sich menschlich nicht umfassender und erschöpfender, wahrer und entsprechender bezeichnen, als durch das Verhältnis vom Vater zum Sohne, als durch das höchste und innigste Verhältnis, welches der Mensch nur erkennen, einsehen und ahnen kann, welches aber größtenteils nur so äußerlich angeschaut und nicht innig geistig seinem Wesen nach durchdringend beachtet wird: durch das kindliche und väterliche Verhältnis; Sohn, echter, wahrhafter Sohn wird aber das Kind nur dadurch erst, daß er das Wesen des Vaters in sich entwickelt, sich zum Bewußtsein und zur klaren Einsicht bringt, daß er die Gesinnungen, das Wesen und Streben des Vaters den Beweggrund alles seines Denkens und Handelns sein läßt und die Übereinstimmung, Gleichheit im Handeln und Tun mit dem in seiner hohen Würde erkannten Vater für seinen schönsten Beruf, für die Quelle des Friedens und der Freude seines Lebens achtet.« Eine Analogie zu Fröbels Konzept findet sich bei Johann Gottlieb Fichte, der die Gottessohnschaft nicht allein Jesus, sondern allen moralischen Menschen zuschreibt (s. J.G. Fichte, Fichtes Werke, hg. v. I.H. Fichte, Bd. 4, Berlin 1971, 524ff; vgl. J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 295). Ein vergleichbares Verständnis der Gottessohnschaft aller Menschen ist schon bei Meister Eckhart anzutreffen, der von der – freilich gnadenhaft verstandenen – Geburt des Gottessohnes in der Seele des Menschen spricht (vgl. Meister Eckehart. Das System seiner religiösen Lehre und Lebensweisheit. Textbuch aus den gedruckten und ungedruckten Quellen mit Einführung von O. Karrer, München 1926, 117). 14 Mit Julius Fröbel pflegte Tolstoj 1860 in Bad Kissingen Kontakt und wurde von ihm in das Denken Friedrich Fröbels eingeführt. Im Jahr darauf lernte er in Gotha und Weimar Vorschullehrer kennen, die Schüler Fröbels waren (s. P.I. Birjukov, Biografija L.N. Tolstogo, Moskau 2000, Buch 1, 214f; R. Löwenfeld, Einführung, in: L.N. Tolstoi, Pädagogische Schriften, Bd. 1, München 1994, 11f). 15 Vgl. R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 64f und V.B. Sˇklovskij, Lev Tolstoj, Moskau 1963 (= Zˇizn’ zameˇcatel’nych ljudej, 6 [363]), 530f.

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16 Vgl. V.I. Alekseev, Vospominanija, in: Letopisi Gosudarstvennogo literaturnogo muzeja, Buch 12, Moskau 1948, 239. 17 Joh 10,1–18. 18 Vgl. dazu M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«? Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, St. Ottilien 1998, 113, Anm. 121. 19 Für Ferdinand Christian Baur (1792–1860) ist Christus »der innere Mensch selbst, der Mensch an sich« (F.Ch. Baur, Das Christliche des Platonismus oder Sokrates und Christus. Eine religionsphilosophische Untersuchung, Tübingen 1837, 39). 20 Wiederholt unterscheidet Tolstoj zwischen der Menschheit der Person Christi und der Göttlichkeit der Lehre Christi, so z.B. im Brief an Vasilij Zavolokin vom 14. Januar 1901: »Ich halte Christus für einen Menschen, aber seine Lehre halte ich für göttlich insofern, als sie göttliche Wahrheiten ausdrückt« (f 277; PSS 73: 11). 21 Vgl. K. Gaede, Das Schriftverständnis Lev Tolstojs und Fragen seines gesellschaftlichen Bezuges. Diss. theol. (masch.), Humboldt-Univ., Berlin 1974, 260. 22 In dem Sinne, dass Christus nicht der traditionellen jüdischen Vorstellung vom Messias als König entspricht (PSS 24: 487). Andererseits wird Christus von Tolstoj insofern als »der Messias« (messias) bezeichnet, als er die Heilsverheißung der alttestamentlichen Propheten erfüllte und mit seinen Geboten das Reich Gottes eröffnete (PSS 23: 371). 23 Für diese Einheit plädierten zu Tolstojs Lebzeiten verschiedene russische Denker, darunter der slavophile Philosoph Aleksej Chomjakov (1804–1860), der am westlichen Christentum kritisierte, dass es unter rationalistischen Gesichtspunkten die Lehre vom Leben getrennt habe (A.S. Chomjakov, Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 1, Moskau 31900, 238). Tolstoj warf den kirchlichen und weltlichen Lehrern gemeinhin vor, die Lehre Christi vom Leben abstrahiert zu haben (vgl. f 108; PSS 23: 314f). 24 Vgl. auch f 173f; PSS 73: 6f. In der karikaturhaften Vorstellung, die Tolstoj von der kirchlichen Erlösungslehre vermittelt, erkennt Machinek »Spuren einer einseitigen Interpretation der protestantischen Sola-Fides-Lehre […], gepaart mit einem oberflächlichen Sakramentalismus, der jedes sittliche Tun des Menschen durch den regelmäßigen Empfang der Sakramente ersetzt sehen wollte« (M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«?, 119). 25 Unter »Sünden« versteht Tolstoj »Hindernisse, die den Menschen daran stören, Liebe zu erweisen« (PSS 39: 129). 26 Diese Sünden teilt Tolstoj wiederum in sechs konkrete Erscheinungsformen ein: in die Sünden der sinnlichen Begierde (pochot’), des Müßiggangs (prazdnost’), der Habgier (koryst’), der Herrschsucht (vlastoljubie), der Unzucht (blud) und der Berauschung (op’janenie). Im Gebet auf f S. 310f erwähnt er die Sünden des Körperdienstes (telougodniˇcestvo), der körperlichen Müßigkeit (telesnaja prazdnost’), der Wollust (sladostrastie) und der Missgunst (nedobroˇzelatel’stvo). Daneben unterscheidet er fünf Arten von Versuchung (soblazn’): die persönliche Versuchung, die familiäre Versuchung, die utilitaristische Versuchung, die Versuchungen der Kameradschaft und des Staates (PSS 39: 132–150). 27 Vgl. E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika L.N. Tolstogo, M. 2006, 55–77. 28 Vgl. K. Gaede, Das Schriftverständnis Lev Tolstojs, 261. 29 Obwohl sich Tolstoj hier primär gegen den Selbstmord wendet, lehnt er eine radikale Leibesverachtung auch im Rahmen der Askese ab. So schreibt er am 21. März 1892 an Vladimir Cˇertkov: »ein Mensch, der für die Erfüllung des Willens Gottes lebt und sowohl die Persönlichkeit als auch den menschlichen Ruhm opfert, um den Willen Gottes zu erfüllen, kann weder den Leib noch den menschlichen Ruhm völlig verachten.

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Denn sowohl das eine wie auch das andere sind Werkzeuge zur Erfüllung des Willens Gottes« (PSS 87: 133). Vgl. M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 119. Unter Buße versteht Tolstoj das Eingeständnis der eigenen Sünden und die Bereitschaft, sie zu bekämpfen (PSS 45: 99). Allerdings weist Tolstoj in Mein Glaube auch darauf hin, dass Christus »keinerlei Leiden nur um des Leidens willen fordert« (f 107; PSS 23: 311). Gaedes Aussage, dass »das Kreuz Christi bei Tolstoj keine Heilsbedeutung« habe, trifft nur insofern zu, als sie sich auf den Kreuzestod Christi als Sühnopfer bezieht (K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Schriftsteller und Bibelinterpret, Berlin 1980, 81). In seiner Schrift Die christliche Lehre schreibt Tolstoj: »keine Vorstellung über das Sein nach dem Tode gibt eine Antwort, die einen vernünftigen Menschen zufrieden stellt. Und es kann nicht anders sein. Denn die Frage ist falsch gestellt: Die menschliche Vernunft, die nur unter den Bedingungen von Raum und Zeit zu denken vermag, versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, was außerhalb dieser Bedingungen sein wird. Die Vernunft weiß eines: dass es ein göttliches Wesen gibt, dass es in dieser Welt gewachsen ist; und als es eine gewisse Wachstumsstufe erreicht hat, hat es diese Bedingungen verlassen. […] Eines ist glaubwürdig und unzweifelhaft, nämlich das, was Christus gesagt hat, als er starb: ›In deine Hände befehle ich meinen Geist‹ [Lk 23,46]. Dies bedeutet, dass ich, wenn ich sterbe, dorthin gehe, woher ich gekommen bin« (PSS 39: 191). Nach Gerd Theissen kommt die alte verinnerlichende Deutung, wie sie Luther vorgenommen hat, dem Gemeinten viel näher als die Übersetzungen mit »in eurer Mitte« oder »unter euch« (G. Theissen, Die Weisheit des Urchristentums. Aus Neuem Testament und außerkanonischen Schriften, München 2008, 69). Das »Gebot der Liebe« ist dabei für Tolstoj »kein Gebot im engen Sinne dieses Wortes, sondern ein Ausdruck des Wesens der Lehre selbst« (f 184; PSS 28: 79f). So ist Tolstoj schon in der Beichte der Überzeugung, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dieses »nicht für sich allein, sondern für alle zu erringen« (PSS 23: 42). S.o. Anm. 4 und 5. In Heinrich Weinels Buch Jesus im neunzehnten Jahrhundert (Tübingen 31914), das auch ein Kapitel über Tolstoj enthält, ist dies gut ersichtlich (zu Weinel und Tolstoj f M. Tamcke, Protestantische Theologie, 609f). Vgl. auch Tolstojs Aussage im Brief an seine Tante Alexandrine vom 2./3. Feb. 1880: »Darüber, ob ich an den Gott-Menschen oder den Mensch-Gott glaube, kann ich Ihnen nichts sagen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Davon werden die erzählen, die man auf Scheiterhaufen verbrannt hat, und die, welche die Scheiterhaufen errichtet haben« (f 85; PSS 63: 8). F.A. Stepun, Dostojewskij und Tolstoj. Christentum und soziale Revolution, München 1961, 101f, 110, 146, 154. P.N. Evdokimov, Christus im russischen Denken, übers. v. H. Blersch, Trier 1977 (= Sophia, 12), 104f. Dieser Gedanke findet sich ansatzweise bereits im o.g. Buch von Fedor Stepun (F.A. Stepun, Dostojewskij und Tolstoj, 155).

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Martin George

Kirche Für Lev Tolstoj ist das Christentum eine Religion, die ohne Kirche oder Kirchen bestehen soll und kann – eine kirchenlose Religion. Dass Tolstoj das Christentum als eine Religion ansah, steht außer Frage (f H. Kuße, Religion). Da er Religion aber als »vom Menschen festgelegtes Verhältnis seiner einzelnen Person zur unendlichen Welt oder deren Ursprung [sc. Gott]« definiert (f 210; PSS 39: 26; kursiv M.G.), ohne den grundlegenden Gemeinschaftscharakter aller privat oder öffentlich sich äußernden Religion zu berücksichtigen,1 stellt sich die Frage, ob in Tolstojs Religionsverständnis eine religiöse Gemeinschaftsinstitution entbehrlich sei, und für das Christentum speziell, ob nach Tolstojs Verständnis das Christentum einer Kirche bedürfe, sei es der einen ungeteilten Kirche des christlichen Altertums, sei es einer der Konfessionskirchen zu Lebzeiten Tolstojs, oder einer zukünftigen, noch zu bestimmenden Form einer Kirche. Die Antwort lautet: Weder in seinem Gottesverständnis, konkret in seinem Gottesglauben, noch in seiner Gottesverehrung, konkret in seinem Gebet zu Gott, ist der Christ nach Tolstoj auf eine Gemeinschaft religiöser oder gar dezidiert christlicher Menschen angewiesen. Eine Kirche ist bestenfalls überflüssig, in ihrer konkreten Gestalt in all ihren Varianten schädlich für die Sache der Religion Tolstojs. Dennoch hat Tolstoj sich bei der Konstruktion »seiner« Religion2 viele Gedanken über die Kirche gemacht. Es ging ihm darum, die Überflüssigkeit oder gar Schädlichkeit der Kirche einsichtig zu machen. Und an der Stelle des traditionellen Kirchenbegriffs der Theologen der Orthodoxie wie der anderen Konfessionskirchen entwickelt Tolstoj im Laufe seines Schaffens ein diesen Kirchenbegriff ersetzendes alternatives Verständnis religiöser Gemeinschaft im Christentum, die er zwar noch mit dem Begriff »Kirche« (cerkov’) bezeichnet, die aber inhaltlich dem entspricht, was die Theologie aller Konfessionen gemeinhin unter dem Begriff »Reich Gottes« fasst. Bei seinen Ausführungen zur Kirche argumentiert Tolstoj oft, wenn auch sehr kritisch, innerhalb des theologischen Diskurses über die Kirche, der Ekklesiologie. Andererseits ist »Kirche« ein Thema, das Tolstoj sein Leben lang, von der Pubertät bis zum Tod, existenziell angeht, weil es bei seinem Nachdenken über die Kirche auch um sein persönliches Sein oder Nichtsein in der Russischen Orthodoxen Kirche geht, also um seine Mitgliedschaft in dieser Kirche, die mit der Taufe an seinem zweiten Lebenstag am 29. 8. 1828 begann.3

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Der Bruch mit der orthodoxen Kirche und allen Konfessionskirchen Als der Heilige Synod der Russischen Orthodoxen Kirche an seiner Sitzung vom 20. bis 22. Februar 1901 feststellte, dass Graf Lev Tolstoj sich »von seiner Mutter, der orthodoxen Kirche, die ihn ernährt und auferzogen hatte«, offen losgesagt habe, »seine literarische Tätigkeit sowie das ihm von Gott gewährte Talent zur Verbreitung von Lehren, die Christus und der Kirche zuwider sind«, genutzt habe und dass sie ihn darum nicht mehr für ihr Mitglied halte (f 240), war diese De-facto-Exkommunikation und öffentliche Bloßstellung des Dichterfürsten als Häretiker der Endpunkt einer langen Entfremdung Tolstojs von der Russischen Orthodoxen Kirche, der er zu diesem Zeitpunkt gut 72 Jahre angehört hatte (f G. Orechanov, Russische Orthodoxe Kirche, 586–588). Als Gründe für seinen Beschluss führt der Heilige Synod unter anderem an: Er »leugnet alle Sakramente der Kirche und die heilbringende Wirkung des Heiligen Geistes in denselben und verspottet das größte aller Sakramente, die heilige Eucharistie« (f 240). Das bestätigte Tolstoj umgehend in seiner Antwort auf den Beschluss des Synods aus demselben Jahr 1901: Ich habe mich tatsächlich von der Kirche losgesagt, habe aufgehört, ihre Rituale auszuführen, und im Testament meinen Nächsten geschrieben, sie sollten, wenn ich sterbe, keine Geistlichen zu mir zu lassen und meinen toten Körper rasch wegschaffen, ohne Beschwörungen und Gebete […]. (f 243; PSS 34: 248)

Für einen orthodoxen Christen ist die Teilnahme an der Feier der Sakramente, besonders an der Abendmahlsfeier (Eucharistie) wenigstens einmal im Jahr,4 aber auch an der Krankensalbung und an einem letzten Eucharistieempfang auf dem Totenbett als »Wegzehrung« ins ewige Leben5 ein Kennzeichen seiner Kirchenzugehörigkeit. Und gerade diese sakramentale Verbindung zur Kirche lehnt Tolstoj für sich ganz entschieden ab: Ebenso heißt es, ich würde alle Sakramente ablehnen. Das ist vollkommen zutreffend. Ich halte alle Sakramente für niedere, primitive, dem Verständnis von Gott und der christlichen Lehre nicht angemessene Zauberei und zudem für einen Verstoß gegen die direkten Anweisungen des Evangeliums. (f 244; PSS 34: 249)

Es widerspricht nämlich nach Tolstoj dem Evangelium, dass es überhaupt eine Kirche gibt, die Sakramente nach dem Gutdünken der Geistlichkeit spendet oder auch vorenthält und sich damit unentbehrlich für das Heil derer macht, die Christus nachfolgen wollen. Schließlich heißt es als letzte und höchste Stufe meiner Fehlbarkeit, ich würde »die heiligsten Gegenstände des Glaubens verhöhnen und mich nicht scheuen, das heiligste der Sakramente, die Eucharistie, dem Spott preiszugeben«. Dass ich mich nicht scheue, einfach und objektiv zu beschreiben, was der Priester zur Vorbereitung dieses sogenannten Sakraments unternimmt, ist vollkommen zutreffend; aber dass dieses sogenannte Sakrament

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etwas Heiliges ist und dass es Blasphemie ist, einfach zu beschreiben, wie es ausgeführt wird, ist vollkommen unzutreffend. (f 244f; PSS 34: 249)

Was Tolstoj unter »einfacher und objektiver Beschreibung« der Kommunion versteht, schreibt er sogleich nieder, nämlich dass die Priester der Kirche »unter Zuhilfenahme aller möglichen Mittel von Betrügerei und Hypnose6 den Kindern und dem einfachen Volk weismachen, wenn man auf bestimmte Weise und unter Aussprache bestimmter Worte Brotstücke breche und diese in Wein einlege, würde Gott in dieses Brot eingehen […], und wenn jemand dieses Brot esse, würde Gott selbst in ihn eingehen« (f 245; PSS 34: 250). Noch drastischer und karikierender sind seine Beobachtungen der orthodoxen Abendmahlsfeier in der Göttlichen Liturgie7 der Russischen Orthodoxen Kirche in seinem kurz zuvor erschienen Roman Auferstehung (f 234–239, bes. 235f; PSS 32: 134–139, bes. 135), die zum Beschluss des Heiligen Synods nicht unwesentlich beigetragen haben, weil Tolstoj dort die Schmerzgrenze seiner die Göttliche Liturgie zelebrierenden Gegner im orthodoxen Klerus überschritten hatte. Deutlich ist durch diese distanzierten und entweihenden Schilderungen der liturgischen Vollzüge in orthodoxen Gottesdiensten indirekt, dass Tolstoj 1901 selbst nicht mehr am gottesdienstlichen Leben der Russischen Orthodoxen Kirche teilnahm und besonders nicht mehr zum Abendmahl ging. Er hatte sich in der Tat bereits selbst am 16. April 1878 aus der Russischen Orthodoxen Kirche »exkommuniziert« im ursprünglichen Sinn des Wortes, indem er fortan der Kommunion fernblieb, d.h. die Eucharistie in der Göttlichen Liturgie nicht mehr empfangen wollte. Tolstoj schildert in seiner Beichte den unmittelbaren Anlass dafür, nämlich ein traumatisches Abendmahlserlebnis am Ostersonntag 1878 (f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 327). Er ging erstmals nach vielen Jahren wieder zum Abendmahl, und es sollte sein letztes Mal bleiben (f 66f; PSS 23: 51f). Denn er wurde durch den Wortlaut der Göttlichen Liturgie genötigt, dem Priester ebenso wie alle anderen Kommunikanten ummittelbar vor der Kommunion nachzusprechen: Ich glaube, Herr, und bekenne, dass du in Wahrheit Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist, die Sünder zu retten, deren ich der erste bin. Auch glaube ich, dass dies dein makelloser Leib ist und dies dein kostbares Blut ist […], würdige mich, nicht zur Verdammnis an deinen makellosen Mysterien teilzuhaben, sondern zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben. Amen.8

Und während er Brot und Wein gemischt auf einem Löffel in den weit geöffneten Mund gereicht bekommt, muss er die in der Liturgie festgelegte Spendeformel des Priesters stumm hinnehmen: Es kommuniziert der Knecht Gottes Lev am kostbaren und heiligen Leib und Blut unseres Herrn und Gottes und Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben.9

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Kernkonzepte

Dieser Ritus schnitt Tolstoj ins Herz, wie er in der Beichte berichtet. Er war auf den für ihn unerträglichen Wortlaut der Liturgie der Kommunion anscheinend nicht vorbereitet. Die Worte des Priesters waren ihm eine »grausame Forderung, erhoben von einem Menschen, der offensichtlich nie gewusst hatte, was Glaube war« (f 67; PSS 23: 51).10 Denn Tolstoj lehnte nicht nur den Glauben an die Realpräsenz Christi in Brot und Wein entschieden ab, hält ihn für fehlgeleiteten Glauben an Mirakel, sondern auch den kirchlichen Glauben an Jesus Christus als den eingeborenen, d.h. einzigen Sohn Gottes, dem alle Attribute der Göttlichkeit eigen sind wie Gott dem Vater, der also im Vollsinn Gott selbst ist.11 Traumatisch ist dieses Erlebnis für Tolstoj aber nicht nur, weil er sich im Kleid uralter liturgischer Formeln von massiven aktuellen Glaubensforderungen des Priesters als Repräsentanten der Kirche in den Bereichen Christologie und Sakramentenlehre überrumpelt fühlte, sondern auch deswegen, weil er nun die in der Feier des eucharistischen Gottesdienstes ersehnte »Einheit aller Gläubigen von einst und jetzt« nicht mehr würde erleben können (f 66; PSS 23: 51). Zwar wollte er keineswegs den Christusglauben und den Sakramentsglauben der Gläubigen in den Gottesdiensten der orthodoxen Kirche nachvollziehen, wohl aber doch in eine Gemeinschaft der Gläubigen in gemeinsamer vollständiger Annahme der Lehre Christi kommen (f ebd.). Zwischen den Zeilen der Beichte spürt man noch die Nostalgie nach der heilen Welt der Orthodoxie in einer Einheit aller Gläubigen in gegenseitiger Liebe und Unterstützung, ähnlich der, wie sie in der Apostelgeschichte von der Urgemeinde in Jerusalem geschildert wird (Apg 4,32). Jahre nach diesem traumatischen letzten Gang zum Abendmahl 1878, aber noch vor dem Beschluss des Heiligen Synods zu seinen Häresien, ist Tolstoj inzwischen weit davon entfernt, Gottesdienst und Gebetsgemeinschaft mit andern Christen zu halten. Er war zu der Ansicht gekommen, Jesus habe mit seinem Wort »Wenn du betest, dann gehe in deine Kammer und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist« (Mt 6,6) jeden gemeinsamen kirchlichen Gottesdienst untersagt und befohlen, jeder solle ausschließlich für sich allein beten (f 237; PSS 32: 137). Damit ist eine Kirche als eine Gemeinschaft auf Gott bezogener Menschen, die ihre Gottesbeziehung in irgendeiner Weise kultisch miteinander pflegen, ausgeschlossen. Tolstojs De-facto-Exkommunikation 1901 durch die Spitze der Russischen Orthodoxen Kirche war jedoch nicht nur Zeugnis der Entfremdung zwischen Tolstoj und der Russischen Orthodoxen Kirche und ihrer gegenseitigen Ausschließung. Sie war auch der öffentliche Nachvollzug des inneren Bruchs Tolstojs mit allen christlichen Kirchen, die sich und ihre Glaubenslehre mit einem Bekenntnis definieren und damit auch voneinander abgrenzen. In seiner Beichte (1879–82) nannte Tolstoj zwei »Lebensfragen, die es zu lösen galt« und deren für ihn nicht akzeptable Lösung durch die Russische

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Orthodoxe Kirche ihn endgültig dazu führte, dass er »jede Verbindung mit der Orthodoxie ausschloss« (f 68; PSS 23: 53), also nicht nur seine Mitgliedschaft in ihr ruhen ließ oder aufgab, sondern jeden Kontakt mit ihren Repräsentanten mied. Die erste Lebensfrage war das Verhältnis der orthodoxen Kirche zu anderen Kirchen, zu Katholiken, Protestanten, Altgläubigen, den von der Orthodoxie so genannten Schismatikern, sowie zu Molokanen und anderen kleineren Gruppen oder Sekten, welche die Orthodoxie als Häretiker betrachtet (f ebd.).12 »Ich sah«, schreibt Tolstoj, »dass die Orthodoxen jeden, der seinen Glauben anders bekennt als sie, für einen Ketzer [eretik] hielten, genauso wie Katholiken und andere die Orthodoxie für Ketzerei halten« (f 69; PSS 23: 53). Für die Katholiken fällt die göttliche Kirche mit der römischen Hierarchie und dem Papst zusammen. Für die Orthodoxen fällt die göttliche Kirche mit der Körperschaft der östlichen und russischen Hierarchie zusammen. Für die Lutheraner fällt die göttliche Kirche mit der Gemeinschaft der Menschen zusammen, welche die Bibel und den Katechismus Luthers anerkennen. (PSS 28: 46f)

Der Lösung der orthodoxen Kirche und aller Konfessionskirchen, die eigene Identität durch gegenseitige Abgrenzung und Lehrverurteilung zu wahren, musste Tolstoj durch den Abbruch jeder Verbindung zu diesen Kirchen entgegentreten. Denn in allen Kirchen erkennt er »sittlich hoch stehende, wahrhaft gläubige Menschen«, deren Bruder er sein will, als Mitglied einer andere Christen ausgrenzenden Kirche aber nicht sein kann (f 68f; PSS 23: 53). Die zweite Lebensfrage, deren Beantwortung durch die Kirchen für Tolstoj die Mitgliedschaft in jeder Kirche ausschloss, war das Verhältnis der Kirche zu Krieg und Gewaltanwendung überhaupt. »In den Kirchen wurde für den Sieg unserer Waffen gebetet, und die Glaubenslehrer erklärten dieses Töten zu einem Tun, das sich aus dem Glauben ergebe« (f 71; PSS 23: 56). Darin eingeschlossen sieht Tolstoj nicht nur die kirchliche Rechtfertigung von Krieg und die kirchliche Billigung von Hinrichtungen in staatlichen Einrichtungen nach erfolgter Verurteilung zur Todesstrafe oder von vorsätzlichen staatlich angeordneten Tötungen während ziviler Unruhen (f ebd.), sondern auch die Rechtfertigung von gewaltsamem Umgang unter Christen in der Kirche selbst, deren Geistlichkeit in der gesamten Kirchengeschichte von Anfang an ihre Wahrheit »vorwiegend mit Gewalt« gelehrt habe (f 251; PSS 34: 301).13 Die mit Abgrenzung, Zwang und Gewalt verbundenen kirchlichen Lösungen dieser beiden Lebensfragen zwangen Tolstoj innerlich zur Distanz von allen Kirchen und äußerlich zum Bruch mit seiner Herkunftskirche. Den Bruch mit der orthodoxen Kirche hatte Tolstoj innerlich und äußerlich schon 1878 vorweggenommen, bezeichnenderweise nach dem Versuch einer um Verstehen und teilweise Zustimmung bemühten Annäherung an

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Lehre und Kultus der Russischen Orthodoxen Kirche in der Zeit unmittelbar davor. »Die Kirche derer, die die Vereinigung der Menschen herbeiführen wollte, indem sie behaupteten und beschworen, sie selbst seien in der Wahrheit, ist schon lange tot«, schrieb er rückblickend 1883 (f 124; PSS 23: 465). Dass er sich schon lange vor seiner De-facto-Exkommunikation 1901 nicht mehr zur orthodoxen Kirche zugehörig fühlte, geht auch aus seiner Antwort auf die Resolution des Heiligen Synods der Russischen Orthodoxen Kirche 1901 hervor. Es »versteht sich von selbst«, schreibt er, dass er der Kirche nicht angehöre, da er nicht an sie und ihre Dogmen glaube (f 241; PSS 34: 245f). Er habe »tatsächlich« (d.h. eben schon 1878) »aufgehört, die Rituale der Kirche auszuführen« und sich »von der Kirche, die sich als orthodox bezeichnet, losgesagt« (f 243; PSS 34: 248), und zwar sowohl von ihrer Lehre von Gott als »unbegreifliche Trinität« (f 244; PSS 34: 248), als auch von ihrem kultischen Leben mit primitiver Zauberei in den Sakramenten, in der Anbetung von Ikonen und Reliquien sowie »in all den Ritualen, Gebeten und Beschwörungen, die die kirchlichen Amtshandlungen in so großer Zahl vorsehen« (f ebd.). Der Grund des Bruchs Tolstojs mit der orthodoxen Kirche und anderen Kirchen ist nicht nur die falsche Lösung der beiden Lebensfragen »Trennungen« und »Gewalt« im Christentum, sondern dazu kommt – man muss es so grundsätzlich formulieren – seine radikale Ablehnung der gesamten dogmatischen Lehre und des gesamten kultischen Lebens der christlichen Konfessionskirchen. Über die Konsequenzen des Bruchs sind sich sowohl Tolstoj als auch die Russische Orthodoxe Kirche einig. Der Heilige Synod bezeichnete den Schriftsteller als jemanden, der kirchenfeindliche Lehren verbreitet und den väterlichen Glauben ausrottet, indem er »mit dem Eifer eines Fanatikers den Sturz aller Dogmen der orthodoxen Kirche predigt« (f 240) – kurz: Tolstoj ist ein Häretiker und ein Revolutionär. Der Beschuldigte hat dieser Einschätzung zugestimmt. Er steht dazu, ein Häretiker im Sinne der Konfessionskirchen zu sein, die auf dem Boden des altkirchlichen ökumenischen Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahr 381 stehen. Er hat sich durch jahrelanges theologisches Selbststudium zu einem sehr gut informierten Kenner der zeitgenössischen dogmatischen Schultheologie der Russischen Orthodoxen Kirche entwickelt, deren Lehre er dann Punkt für Punkt kenntnisreich,14 aber verständnislos und polemisch widerlegt. Mit seinen theologischen Schriften seit Ende der 1870er Jahre tritt er planvoll und nachhaltig als ein bewusst häretischer Antikirchenlehrer auf. Im Geiste der von ihm gelesenen Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie des lutherischen pietistischen Theologen Gottfried Arnold (1699)15 sieht er in der christlichen Häresie grundsätzlich etwas Positives, eine alternative, seinem eigenen Ansatz des Denkens über die Kirche entsprechende zukunftsweisende Form religiöser Gemeinschaft:

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Die Ketzerei ist eine Erscheinungsform des Fortschreitens in der Kirche, ist der Versuch, die erstarrte Institution der Kirche zu zerstören, der Versuch einer lebendigen Auffassung der Lehre. Jeder Schritt vorwärts, jeder Schritt zur Erkenntnis und Erfüllung der Lehre ist von Ketzern vollzogen worden; Ketzer waren: Tertullian, Origenes, Augustin, Luther, Hus, Savonarola, Chelˇcick´y und andere. Und anders konnte es auch nicht sein. (PSS 28: 54)16

Das Übel der Kirche und der Kirchen Wie eine Reihe protestantischer, aber auch schon manch altkirchlicher Kirchenhistoriker sieht Tolstoj die Geschichte der christlichen Kirche als eine Geschichte des Abfalls von der Lehre Christi, von seiner Predigt des Reiches Gottes. Tolstoj findet im Evangelium Christi »kein einziges Wort, das auf eine Kirche hinweist«, sondern vielmehr Jesu direkte Anweisung an seine Jünger, »ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen«, was für Tolstoj dem Verbot gleichkommt, als religiöse Lehrer in einer religiösen Institution aufzutreten (f 97; PSS 23: 300).17 Von einer Gründung der Kirche durch Christus könne nicht die Rede sein: Nirgends, aus keiner Ursache […] geht hervor, dass Gott oder Christus irgendetwas begründet hätten, das dem ähnlich wäre, was die Kirchenmänner unter Kirche verstehen. Im Evangelium findet sich ein sehr einleuchtender und klarer Hinweis gegen die Kirche als äußere Autorität, an der Stelle, wo es heißt, die Schüler Christi sollen niemanden Meister und Vater nennen. Aber nirgends ist auch nur ein Wort gesagt von der Einsetzung dessen, was die Kirchenmänner Kirche nennen. (PSS 28: 45; kursiv M.G.)

Zum griechischen Wort für Kirche (ekklesía) im neutestamentlichen Sprachgebrauch hält Tolstoj Folgendes fest: In den Evangelien wird das Wort »Kirche« zweimal verwendet. Einmal im Sinne einer Versammlung von Menschen, die eine Streifrage lösen;18 das zweite Mal in Verbindung mit den dunklen Worten vom Felsen Petrus und den Toren der Hölle.19 Aus dieser zweimaligen Verwendung des Wortes »Kirche«, das nur »Versammlung« bedeutet, ist das abgeleitet, was wir jetzt unter dem Wort »Kirche« verstehen. Christus hat jedoch unmöglich die Kirche begründen können, das heißt das, was wir jetzt unter diesem Wort verstehen, da etwas Derartiges, wie der Begriff einer solchen Kirche, wie wir sie jetzt kennen, mit Sakramenten, Hierarchie und vor allem mit ihrer Behauptung der Unfehlbarkeit, weder in den Worten Christi noch in den Vorstellungen der Menschen jener Zeit vorhanden war. Dass die Menschen das, was sich später entwickelt hat, mit demselben Wort benannt haben, das Christus für etwas anderes gebraucht hat, gibt ihnen keineswegs das Recht zu behaupten, Christus habe die eine wahre Kirche begründet.20 (PSS 28: 45)

Liberale Theologen des 20. Jahrhunderts haben die Einsicht, dass der historische Jesus von Nazareth zu seinen Lebzeiten nicht die Kirche gegründet habe, wie sie sich nach dem Pfingstereignis in Jerusalem bildete, auf die Formel gebracht: »Jesus verkündigte das Reich Gottes, aber es kam die Kirche«.21

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Als sich ausschließender Gegensatz verstanden, ist diese Formel ganz im Sinne des Kirchenkritikers Tolstoj. Als Hauptetappen des Abfalls von Christi Lehre in der Geschichte des Christentums nennt Tolstoj das Wirken des Apostels Paulus, des Kaisers Konstantin d. Gr. und der ökumenischen Konzilien der Reichskirche, alle in den ersten vier Jahrhunderten der Kirchengeschichte. Paulus verkündete, so behauptet Tolstoj, statt der ethischen Lehre Christi, wie sie im Matthäusevangelium enthalten ist, eine »metaphysisch-kabbalistische Theorie« der Erlösung durch Kreuz und Auferstehung Christi; Kaiser Konstantin, »dieser Heide unter Heiden«, den die orthodoxe Kirche als Heiligen verehrt, erkannte »den ganzen heidnischen Inhalt des Lebens« als Christentum an und entchristlichte es damit; die ökumenischen Konzilien verlagerten »den Schwerpunkt des Christentums […] allein auf die metaphysische Seite der Lehre«, welche seitdem »die der Vernunft unzugänglichen Geheimnisse des himmlischen Lebens erklärt, […] aber durchaus keine religiöse Lehre über das irdische Leben gibt« (PSS 23: 438). So wurden die Weichen in der christlichen Kirche von Anfang an gegen die Lehre Christi gestellt. Allein »Sektierer« und »Freigeister der Welt« verbreiteten später und auch noch in Tolstojs eigener Zeit in der Kirche punktuell das Licht der wahren Lehre Christi. »Die Lehre vom Leben der Menschen hat sich von der Kirche befreit und hat sich unabhängig von ihr entwickelt« (PSS 23: 440). Die Kirche in Russland dagegen ist seit Jahrhunderten zu einer »kirchlich-staatlichen Religion« herabgewertet worden und erstarrt, die »immer noch den unzutreffenden Namen ›christlich‹ trägt« (f 194; PSS 39: 9). Das Ende der Kirchengeschichte in Russland ist für Tolstoj die größtmögliche Ferne vom Reich Gottes, so wie es Jesus Christus predigte. Für diesen Zustand gibt es nach Tolstoj einen Hauptgrund, der sich durch alle Jahrhunderte der Kirchengeschichte zieht: »Die Kirche, die die Lehre Christi in Worten anerkennt, hat sie im Leben stets verleugnet« (PSS 23: 439). Tolstoj formuliert hier bewusst pauschal und erkennt selten ein paar positive Ausnahmen von dieser Regel an,22 zumal er für seine Zeit die Russische Orthodoxe Kirche auf dem Höhepunkt der praktischen Verleugnung der Lehre Christi sieht: Nicht nur ist sie vom Geist der christlichen Lehre abgewichen, sie hat diesen Geist immer weiter verfälscht und ist heute so weit, dass sie ihn mit ihrem ganzen Dasein leugnet: An die Stelle der Erniedrigung setzt sie Größe, an die der Armut Luxus, an die des Nicht-Urteilens das schärfste Urteil über alle, an die der Vergebung des Unrechts Hass und Kriege, an die der Duldsamkeit gegenüber dem Bösen Hinrichtungen. (f 98; PSS 23: 301)

So kommt Tolstoj zu der These, das Wort »Kirche« sei ein Synonym für »einen Betrug, mit dessen Hilfe die einen Menschen über die anderen herrschen wollen. Eine andere Kirche gibt es nicht und kann es auch nicht geben« (f 99; PSS 23: 301).

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Lüge und Betrug haben die »widerwärtigen Dogmen« der Kirche hervorgebracht, die die Lehre Christi entstellen (f ebd.), und so bilden die durch Betrug in der Kirche miteinander verbundenen Menschen eine zusammenhängende Masse des Bösen in der Welt, und das schon »über 1800 Jahre«, also seit Beginn Kirche überhaupt (PSS 23: 464).23 Tolstoj führt sich die nicht dem Evangelium gemäßen Tatsachen der Kirchengeschichte vor Augen und schließt daraus: Unter allen gottlosen Begriffen und Ausdrücken gibt es keinen gottloseren als den Begriff der Kirche. Es gibt keinen Begriff, der mehr Böses hervorgebracht hätte, und keinen, der der Lehre Christi mehr widersprechen würde als der Begriff der Kirche. (f 74; PSS 23: 477)

Das Mittel, durch das in der Kirche Menschen über Menschen herrschen, statt nach der Lehre Christi brüderlich miteinander zu leben, erkennt Tolstoj in den Hierarchen, »die sich Erzbischöfe und Metropoliten nennen«, umgeben »von tausenden weiteren Langhaarigen [sc. Mönchen und Priestern], die diesen ersteren in finsterem, sklavischem Gehorsam ergeben sind« (f 93; PSS 23: 296). Es sind Menschen, die sich durch Handauflegung in der ununterbrochenen Nachfolge der Apostel und unter exklusiver Führung durch den Heiligen Geist wissen (f 89; PSS 23: 292), so dass sie einerseits nach dem Vorbild von Apg 15,28 seit dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 mit den Worten »Wir und der Heilige Geist haben beschlossen« Glaubensgehorsam verlangen (f 80; PSS 23: 481) und andererseits Gnade verleihen »durch eine Reihe von Transaktionen und das Sprechen bestimmter Worte, durch die sogenannten Sakramente« (f 89; PSS 23: 292). Sie herrschen in der Kirche in dem Bewusstsein, dass der Klerus die Kirche sei und nennen sich deshalb selbst »die Kirche« (f 79; PSS 23: 481), ohne das Kirchenvolk zu berücksichtigen. Die Kirche wurde so gleichbedeutend mit der Macht des Klerus. Es ist eine Kirche, die in die »Kirche der Hirten«, die befehlen, und die »Kirche der Gehüteten, die gehorchen sollen«, zerfällt, wobei die letztere als »Gemeinschaft von Gläubigen« nur einen »Betrug« bezeichne, »mit dessen Hilfe die einen Menschen über die anderen herrschen wollen« (f 98f; PSS 23: 301). Die Art und Weise, wie im Verlauf der Kirchengeschichte Dogmen aufgestellt und in der Kirche durchgesetzt wurden, lässt Tolstoj gegen den ursprünglichen griechischen Wortsinn »Dogma« nicht als Lehre zum Lobpreis Gottes definieren, sondern als von der »primitiven Masse« zu befolgende »Verordnung« der Hierarchie (f 169; PSS 24: 795). Mit ihren Verordnungen, als vermeintlich gesamtkirchliche Lehre verpackt, stellt sich die Geistlichkeit zwischen Gott und jedes Mitglied der Kirche, das nicht der Geistlichkeit angehört, sondern ein Laie, ein »Mann aus dem Volk« Gottes, ist (f 264; PSS 34: 313). Sie hält die Menschen, die das Volk Gottes bilden, in Unmündigkeit und Aberglauben.

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Die Machtstellung des Klerus in der Kirche ist nach Tolstoj der Grund dafür, dass auf der Grundlage des altkirchlichen ökumenischen Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel das Bekenntnis zur »einen, heiligen, unfehlbaren Kirche« zum Hauptdogma des kirchlichen Glaubens wurde (f 64, 246; PSS 23: 49; 34: 300). Unfehlbar wird in den neueren russischen Dogmatiken zwar die gesamte Kirche Christi genannt. »Doch da es dem Stand der Hirten vorbehalten ist, zu hüten, zu predigen und den Menschen die göttliche Offenbarung auszulegen, und da die Gehüteten verpflichtet sind, in dieser heiligen Sache unbeirrbar auf ihre von Gott eingesetzten Lehrer zu hören […], liegt es auf der Hand, dass die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche vor allem auf die lehrende Kirche zu beziehen ist« (f 95; PSS 23: 298). Sie sichert dem Klerus seine Machtstellung und wird deswegen von ihm gegen die Lehre Christi zum Hauptdogma erhoben, mit dem Vorteil, dass durch die Anerkennung dieses Dogmas implizit alle Aussagen des Klerus zu Glauben und Leben als wahr und unfehlbar zu gelten haben, auch wenn sie gegen den Buchstaben der Lehre Christi im Evangelium stehen. So folgen z.B. die Gläubigen seit 1800 Jahren dem Klerus, wenn er gegen Christi Willen gemeinsame Gottesdienste in Kirchgebäuden feiert, statt die Christen der Lehre Christi gemäß zum Privatgebet in Zurückgezogenheit aufzurufen (f 237; PSS 32: 137).24 Tolstojs Polemik gegen die Geistlichkeit, die in seiner Schrift an sie darin gipfelt, sie möge den »immer schädlichen«, »verbrecherischen Charakter« ihrer Tätigkeit einsehen und sie durch den Austritt aus dem geistlichen Stand beenden, um so das christliche Volk von seinem Betrug durch die Priester zu befreien (f 268f; PSS 34: 318) – diese Polemik gilt ohne Unterschied allen Geistlichen aller Kirchen. »Wer ihr auch seid, Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Superintendenten, Priester, Pastoren, welcher Konfession ihr auch seid, […] katholisch, orthodox, lutherisch, anglikanisch« – alle Geistlichen spricht Tolstoj an (f 249; PSS 34: 299). Zwar ist Tolstojs Kritik am Unwesen der russischen Geistlichkeit besonders hart, weil er sie besser als Katholiken, Lutheraner und Anglikaner kennt – er spricht vom »reinsten Götzendienst« der orthodoxen Geistlichkeit mit Ikonen, Reliquien und Kreuzen (f 257; PSS 34: 306). Aber er geht auch ins Gericht z.B. mit der »Bibliolatrie« der protestantischen Geistlichkeit mit ihrem »blinden Glauben an den Buchstaben der Bibel« (f 258; PSS 34: 307). Das Lehramt aller Kirchen, welche Formen es auch annehmen mag, ob mit Bischofsthron oder Pastorenkanzel, ist nach Tolstoj das Grundübel aller verfassten Kirchen, nicht nur weil es unfehlbare Erkenntnis der Wahrheit in der Auslegung der christlichen Offenbarung beansprucht – eine Unfehlbarkeit, die es unter Menschen nicht geben kann –, sondern auch, weil damit zwischen Gott und Mensch eine vermittelnde Person und eine vermittelnde Instanz gesetzt wird – eine Instanz, die ein Auslegungsmonopol der göttlichen Offenbarung und ein

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Spendemonopol göttlicher Gnade für sich beansprucht. Das aber ist gegen das Hauptanliegen der Lehre Christi, wie Tolstoj sie versteht: Die Lehre Christi besteht darin, dass es zwischen Gott und den Menschen keinerlei Vermittler geben kann, und dass Gott keine Gaben, sondern unsere guten Taten braucht. Das ist das ganze Gesetz Gottes. (f 300; PSS 44: 258)

So lautet gerade auf Grund seiner Analyse der Unfehlbarkeit von Kirchen als ihres wichtigsten Selbstdefinitionsmerkmals Tolstojs abschließendes Urteil über die christlichen Kirchen aller Zeiten und Konfessionen: Die Kirchen als solche sind nicht gewisse Institutionen, die auf einem christlichen Ursprung beruhen, wenn auch ein wenig vom geraden Wege abgeirrt, wie viele meinen; die Kirchen als solche, als Vereinigungen, die ihre Unfehlbarkeit behaupten, sind widerchristliche Institutionen. Die Kirchen als solche und das Christentum haben außer dem Namen nicht nur nichts Gemeinsames, sie sind zwei völlig entgegengesetzte und einander feindliche Prinzipien. Eines ist die Überhebung, die Gewalt, die Selbsteinsetzung, die Starrheit, der Tod; das andere ist die Demut, die Buße, die Unterwürfigkeit, der Fortschritt, das Leben. (PSS 28: 55; kursiv M.G.)

Eine alternative Kirche ohne Kirchen »Eine andere Kirche [sc. als die der Lüge und des Betrugs an der Lehre Christi] gibt es nicht und kann es auch nicht geben«, hatte Tolstoj apodiktisch in seiner Untersuchung der dogmatischen Theologie (1879–84) formuliert (f 99; PSS 23: 301). Man ist geneigt, daraus zu folgern, Tolstoj habe den Begriff »Kirche« zeitlebens oder zumindest seit 1880 nicht mit positiven Inhalten füllen können. Dem ist aber nicht so. Vielmehr stehen seiner maßlosen Kirchenkritik positive Aussagen über eine mögliche neue, alternative, universale und der Lehre Christi entsprechende Kirche gegenüber. Solche Aussagen finden sich über Jahrzehnte hinweg verstreut in seinen Werken, jedoch selten und meist versteckt. Die Keimzelle und Vorstufe positiver Aussagen Tolstojs über eine mögliche neue christliche Kirche liegt in seinem frühen Selbstbewusstsein, sich womöglich als Religionsstifter betätigen zu können. Es ging ihm schon 1855 »um die Gründung einer neuen, der Entwicklung der Menschheit entsprechenden Religion, einer Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis, einer praktischen Religion, die nicht zukünftige Seligkeit verspricht, sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt« (f 38; PSS 47: 37). Die christliche Religion in ihrer damaligen kirchlichen Erscheinungsform entsprach nach Tolstoj nicht dem aufgeklärten Entwicklungsstand der Menschheit. Es ist jedoch ein weiter Weg vom Selbstbewusstsein, ein potentieller Religionsstifter zu sein, zur öffentlichen Umsetzung in die Tat. Tolstoj

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gründete Zeit seines Leben keine neue Religionsgemeinschaft, keine neue, die Lehre Christi lebende Kirche. Bis 1877 blieb er privat bei »seiner Religion«. »Ich erkannte«, schreibt er, »dass es die Unsterblichkeit gibt, dass es Liebe gibt und dass man für den anderen leben muss, um ewig glücklich zu sein. […] So blieb ich bei meiner eigenen Religion, und ich fühlte mich wohl mit ihr« (f 40; PSS 60: 293f). Es war eine von jeglicher Kirche befreite, eine kirchenlose Individualreligion. Seinen Christlichen Katechismus von 1877 begann Tolstoj dagegen mit einem klaren von ihm selbst so bezeichneten »Glaubensbekenntnis« zu einer neuen, universalen christlichen Kirche, die die alten Konfessionskirchen integrieren könnte: Ich glaube an die eine wahre, heilige Kirche, die in den Herzen aller Menschen und auf der ganzen Welt lebt und ihren Ausdruck im Wissen um das Gute findet, das in mir und in allen Menschen und im menschlichen Leben vorhanden ist. (f 47; PSS 17: 363)

Es handelt sich um ein alternatives Kirchenkonzept: um eine Kirche, die eine »Herzenskirche« ohne eine sichtbare Organisation oder Institution ist, eine Kirche, deren Glaubenswissen in den Herzen der einzelnen Menschen offenbar wird, eine Kirche, deren Offenbarung durch die Heilige Schrift, durch die Heilige Überlieferung und durch Vorbilder in Taten des Glaubens weitergegeben wird, und um eine Kirche, die sich als christliche nicht exklusiv über andere Religionen stellt, sondern sich als eine der Formen der universalen Kirche versteht, welche alle Menschen und Religionen umfasst (f 51; PSS 17: 367). Von der Schrift Die Kirche ist eine (1844/45) des slavophilen Laientheologen Aleksej Chomjakov beeinflusst, nannte Tolstoj gelegentlich wie dieser die wahre Kirche eine »Gemeinschaft der Gläubigen, die durch die Liebe geeinigt sind«, verstand darunter aber – da es sich um einen »mystischen Begriff« und eine »mystische Vorstellung« handle – im Gegensatz zu Chomjakov keine die führende Hierarchie stützende Gemeinschaft von Laien und Geistlichen, sondern ein die Unfehlbarkeit der Hierarchie zerstörendes Prinzip, was die Einigung auf ein Dogma in einer so ausgerichteten Kirche unmöglich mache (PSS 23: 224), oder – positiv gewendet – was eine solche Kirche grenzenlos offen macht für nicht durch ein bestimmtes Glaubensbekenntnis gebundene Menschen und durch deren Vereinigung in Liebe zu tieferer religiöser Erkenntnis führe. So bekennt Tolstoj in seiner Beichte: »Die Kirche als Versammlung der Gläubigen, die durch die Liebe vereint sind und deshalb das wahre Wissen haben, wurde zur Grundlage meines Glaubens« (f 64; PSS 23: 49). Diese so bestimmte Kirche ist aber gerade nicht identisch mit seiner früheren, orthodoxen Kirche, die er um des Christentums und der Wahrheit willen verließ (f 248; PSS 34: 252f). Ihre Grenzen kann man nicht sehen, da die in dieser Kirche versammelten Gläubigen Rettung suchen, ohne über andere zu urteilen (f 100; PSS 23: 302).

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Inhaltlich füllt Tolstoj seinen alternativen Kirchenbegriff mit vernunftgemäßem Gottesglauben (f M. George, Gott) und evangeliumsgemäßem Ethos.25 Es ist »die Kirche derer […], die nicht durch Versprechungen und Salbungen26 miteinander vereinigt sind, sondern durch Taten der Wahrheit und des Heils« (f 124; PSS 23: 464), die eine Gemeinschaft bilden nicht durch Glauben an jenseitige Erlösungsvorstellungen und Heil durch Sakramentenempfang, sondern durch die Einhaltung der Gebote Christi. Es ist die dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Menschheit gemäße Kirche, eine Kirche der Vernunft, in der Menschen »ein vernünftiges, ihrem Wissen entsprechendes Verhältnis zu Gott aufbauen und die sich aus diesem Verhältnis ergebenden sittlichen Verpflichtungen anerkennen« (f 267; PSS 34: 317). Am Ende seines Lebens bekennt Tolstoj, dass er trotz oder vielmehr dank seines Bruchs mit der Russischen Orthodoxen Kirche immer ein Glied dieser alternativen universalen und wahren Kirche war: Ich denke, dass ich nicht irre in der Annahme, mich niemals von ihr getrennt zu haben – und zwar nicht von einer der Kirchen, die trennen, sondern von der, die stets alle, alle Menschen, die Gott aufrichtig suchen, vereinte und vereint, angefangen von diesem Hirten bis zu Buddha, Laotse, Konfuzius, den Brahmanen, Christus und vielen anderen. Von dieser weltumfassenden Kirche habe ich mich niemals getrennt. (f 291; PSS 78: 178)

Es ist die institutionslose Gemeinschaft derjenigen, die mit ihrem Tun das Reich Gottes anbrechen lassen (f 187; PSS 28: 220). Wer zu dieser wahren Kirche, welche die Lehre Christi in die Tat umsetzt, gehören will, muss – falls er einer der traditionellen Konfessionskirchen angehört – wie Tolstoj selbst den schmerzhaften, schwierigen und einsamen Weg gehen, sich von seiner Herkunftskirche, die identisch mit Betrug und Lüge ist, loszusagen. Einen Kompromissweg kann es für Tolstoj nicht geben. Für die Zukunft der Kirchen prophezeit Tolstoj zweierlei: einerseits die Zerstörung aller Tempel, aller Kirchgebäude und aller äußeren Gottesverehrung und damit das Ende aller verfassten, bekenntnisgebundenen Kirchen (f 155; PSS 24: 897), andererseits die Gabe des Reiches Gottes an die Glieder der alternativen universalen Kirche gemäß der Verheißung Gottes des Vaters (f 124; PSS 23: 465). So mündet die Vorstellung der wahren Kirche bei Tolstoj in endzeitlichen apokalyptischen Erwartungen und Voraussagen, die man ihm als Vertreter einer christlichen Vernunftreligion nicht zutraut. Gelegentlich gibt Tolstoj aber doch einen Hinweis, wo er in seiner Zeit Spuren der wahren Kirche sieht. Es sind die Gemeinschaften der »Unitarier, Universalisten, Quäker, serbischen Nazarener, russischen Duchoborzen (f A. Donskov, Die Duchoborzen in Kanada), alle sogenannten rationalistischen Sekten«, die dem Willen Gottes im neuen Zeitalter durch ihr Tun dienen (f 195; PSS 39: 10) und in denen die wahre Kirche aufleuchtet. Und es sind alle einzelnen Menschen, die für sich das Evangelium lesen und

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Christi Hauptgebote begreifen und befolgen (f 213f; PSS 39: 115f), seien sie noch formal Mitglied einer der Konfessionskirchen oder hätten sie sich bereits konsequent wie Tolstoj selbst von den sichtbaren Kirchen losgesagt.

Tolstoj als Bußprediger, Revolutionär und Prophet Von Seiten der Russischen Orthodoxen Kirche hat man Tolstoj vorgeworfen, er habe diese Kirche und ihre Dogmen verleugnet, obwohl er diese Kirche nicht ausreichend gekannt und verstanden habe.27 Seine Kenntnisse der russischen Orthodoxie waren jedoch für einen Laien seiner Zeit herausragend gut. Ihm fehlte allerdings der Insiderblick in die Geistlichkeit und das Mönchtum einschließlich ihrer Ausbildungsstätten. Seine autodidaktischen theologischen Studien machten ihn in seinem Urteil über die Russische Orthodoxe Kirche unabhängiger als die Absolventen ihrer Theologischen Schulen. Sein in der Tat mangelhaftes Verständnis für die Widersprüche und Schwächen der russischen Orthodoxie paart sich mit dem mangelhaften Verständnis der kirchlichen Autoritäten für seine unorthodoxe Lehre von der Kirche. Die Tragik war, dass beide Seiten ihre selbst gewählten Rollen in diesem Konflikt konsequent bis zum totalen Bruch spielten: die orthodoxe Geistlichkeit die Rolle der Hüterin der Rechtgläubigkeit, Tolstoj die Rolle des Bußpredigers, des Revolutionärs und des Propheten. Als Bußprediger28 war Tolstoj in den theologischen Schriften seiner letzten 30 Lebensjahre maßlos und ungerecht in seiner Kritik der Orthodoxie. Nicht nur weigerte er sich, differenziert zu urteilen und alle exegetischen, historischen, dogmatischen und kirchenpraktischen Faktoren für eine theologische Urteilsbildung über das Kirchesein der Russischen Orthodoxen Kirche zu berücksichtigen. Er griff zu grober Polemik, Persiflage und Beleidigung und provozierte so den Bruch mit seiner Herkunftskirche als gewolltes, für ihn sogar vorbildhaftes Resultat seiner kirchenkritischen Äußerungen. Als Bußprediger hatte er so einen gewissen Erfolg29 und hat ihn noch heute, wenn seine Schriften weiterhin Nachdenken über das, was Kirche sein soll, und Kritik an ihrer aktuellen Gestalt besonders in Russland provozieren. Als christlicher Revolutionär,30 der mit der gewaltlosen revolutionären Kraft des nicht kirchlich domestizierten Evangeliums, genauer mit der Bergpredigt, die völlige Umwälzung und Vernichtung der staatskirchlichen Orthodoxie in Russland erreichen wollte und dessen ganzes Leben »ein ewiger Aufruhr, eine ewige innere Revolution« war,31 scheiterte er nicht nur bei den Vertretern der Geistlichkeit, die er direkt für seine Sache zu gewinnen suchte, aber nicht vermochte, sondern auch bei einem prominenten orthodoxen Laien wie Vladimir Solov’ev, der seine Auslegung der Bergpredigt ablehnte

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(f R. Zwahlen, Russische Religionsphilosophie, 594–596).32 Als christlicher Revolutionär ist Tolstoj zu seinen Lebzeiten gescheitert. Als Prophet hat sich Tolstoj berufen gewusst, eine neue Form der Religion Christi zu propagieren, »befreit von Glauben und Geheimnis« (f 38; PSS 47: 37) und von der sichtbaren Kirche. Er war nicht nur ein Prophet einer zukünftigen Kirche, die dem Entwicklungsstand des menschlichen Denkens nach dem Durchgang durch die Aufklärung entspricht, nicht nur ein Prophet des rationalistischen Fortschritts, der dogmatisch-theologische Konzepte ablehnt. Er war auch ein Prophet eines kommenden neuen christlichen Zeitalters nach dem 1900 Jahre währenden Zeitalter der Kirchen, eines Zeitalters, in dem das Reich Gottes erstmals seit dessen Erstickung im Prozess der Kirchwerdung des Christentums im 1. bis 4. Jahrhundert errichtet werden kann durch menschliches Handeln in der wörtlichen Befolgung der Gebote Christi in der Bergpredigt, ohne Behinderung durch die Autorität von Kirchen. Deshalb ist die Vorhersage, dass die Zeit kommen wird, da alle Menschen von Gott belehrt sind, da sie verlernt haben, Krieg zu führen, da sie Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln umgeschmiedet haben, d.h. übersetzt in unsrer Sprache, da alle Gefängnisse, Festungen, Kasernen, Paläste, Kirchen leer bleiben und keine Galgen, Gewehre, Kanonen mehr im Gebrauch sind, kein Traum mehr, sondern eine bestimmte, neue Form des Lebens, der sich die Menschheit mit immer größerer Geschwindigkeit annähert. (f 186; PSS 28: 219)

Als Geschichtsprophet tritt Tolstoj in mancher Hinsicht die Nachfolge eines Joachim von Fiore an, der im 13. Jahrhundert das Kommen des Zeitalters der Heiligen Geistes ankündigte, welches den Christen ohne kirchliche Hierarchie die geistliche Erkenntnis Gottes und eine entsprechende Lebensführung ermögliche. Aber wie Joachims Geschichtsprophetie nicht Wirklichkeit wurde, so blieb auch Tolstojs Prophetie eines zukünftigen Christentums ohne bekenntnisgebundene und hierarchisch verfasste Kirchen eine Utopie – eine bewusst von Tolstoj so konstruierte Utopie, die wie jene noch heute nachwirkt und zum kritischen Nachdenken über die Schwächen der verfassten Kirchen und zu konstruktivem Handeln über Kirchengrenzen hinweg weiter anregt. Tolstojs Nachwirkung würde sich verstärken, wenn die Russische Orthodoxe Kirche sich ernsthafter und selbstkritischer als bisher mit der Kirchenkritik Tolstojs auseinandersetzen würde. Da dies nicht erwünscht scheint, unterbleibt in Russland weitgehend eine Lektüre der kirchenkritischen Schriften Tolstojs heute so wie zu seinen Lebzeiten.

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Anmerkungen 1 Ich bevorzuge die Wiedergabe des russischen Begriffs liˇcnost´ hier wie in der Gotteslehre mit »Person« statt »Persönlichkeit«. – Außer der Praxis der Nächstenliebe als allerdings elementaren Bestandteil der Religion Tolstojs scheint seine Religion letztlich weder zur Gotteserkenntnis noch zur Gestaltung des Gottesverhältnisses des einzelnen Menschen einer religiösen Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen zu bedürfen. »Tolstojs Religionsauffassung [ist] als vor allem subjektiv zu bezeichnen« (f H. Kusse, Religion, 425). 2 Vgl. f 38; PSS 47: 37. 3 P.I. Birjukov, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj. Biografija, Bd. 1, Moskau 21911, 11; G. Kjetsaa, Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph, Gernsbach 2001, 22f. 4 Vgl. S. Heitz (Hg.), Christus in euch: Hoffnung auf Herrlichkeit. Orthodoxes Glaubensbuch, Göttingen 1994, 116–118 (Taufe, Myronsalbung und Eucharistie sind in ihrer Einheit konstitutiv für die Kirchenmitgliedschaft), 120–122 (zum Eucharistieempfang). 5 A.a.O., 134f (zur Krankensalbung und Kommunion in Todesgefahr). Tolstoj hat genau dieses letzte rituelle Zeichen der Mitgliedschaft in der orthodoxen Kirche für sich quasi testamentarisch in seiner Antwort auf den Beschluss des Synods 1901 ausgeschlossen. 6 Tolstoj spielt auf die geschlossenen Türen der Trennwand mit Bildern (Ikonostase) vor dem Altar jeder orthodoxen Kirche während des eucharistischen Hochgebets an, auf die nur halblaut gemurmelten Gebets- und Einsetzungsworte, auf die Gesänge, welche die Gebetsworte begleiten, und auf den gleichzeitig verbrannten Weihrauch – für ihn alles Elemente der Hypnose und der Zauberei anstelle eines rationalen Gottesdienstes, der auf die verbale Lehre des Evangeliums beschränkt ist. 7 So lautet die Selbstbezeichnung des sonntäglichen Hauptgottesdienstes mit Abendmahl in orthodoxen Kirchen. 8 F. v. Lilienfeld (Hg.), Die Göttliche Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus, Heft B Russisch – Kirchenslawisch – Deutsch, Erlangen 1979 (= Oikonomia, 2B), 76aR. 9 A.a.O., 84R. Den Taufnamen des jeweiligen Kommunikanten muss der Priester in dieser seit dem 5. Jh. festgelegten Spendeformel nennen, also bei dessen Unkenntnis kurz zuvor erfragen. 10 Zu Tolstojs eigenem Glaubensverständnis im Gegenüber zum dogmatischen Glaubensverständnis der Kirchen vgl. f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 323–338. 11 Festgelegt am 1. Konzil von Nizäa 325 im 2. Artikel des Glaubensbekenntnisses, in der Göttlichen Liturgie rezitiert in der Form des Nizäno-Konstantinopolitanum von 381, a.a.O., 61R. Zur Stellung Tolstojs zur Göttlichkeit Jesu Christi vgl. f Ch. Münch, Jesus Christus, 373–388. 12 Tolstoj selbst macht diese seitens der Orthodoxie theologisch durch je unterschiedliche dogmatische Ferne begründete Differenzierung zwischen »Schismatikern« (näher an der orthodoxen Glaubenslehre) und »Häretikern« (ferner von der orthodoxen Glaubenslehre) bewusst nicht mit, sondern bezeichnet alle nicht-orthodoxen christlichen kirchlichen Gemeinschaften als »Kirchen« (cerkvi) oder »Konfessionen« (ispovedanija) (f 68; PSS 23: 53). 13 Tolstoj ist hier ganz radikal in seiner Ablehnung jeglichen Kirchentums – und das für alle Epochen der Kirchengeschichte ohne Ausnahme, auch der von anderen Kirchenkritikern noch ausgenommenen Zeit des frühen Christentums. Die Geistlichen der sich selbst Kirche nennenden Gemeinschaft »schrieben diese Wahrheit vor und richteten diejenigen hin, die sie nicht annahmen. (Abermillionen von Menschen wurden

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gefoltert, erschlagen, verbrannt, weil sie sie nicht annehmen wollten)« (f 251; PSS 34: 301). Tolstoj ergänzt den Vorwurf der gewaltsamen Verbreitung des Christentums durch eine Erweiterung des Gewaltbegriffs: Verbreitet wurde der christliche Glaube seiner Ansicht nach nicht nur durch physische Gewalt bis zur Hinrichtung, sondern auch durch psychische Gewalt mittels unlauterer Einwirkung auf die Gefühle der Menschen in raffiniert gestaltetem Kultus und rhetorisch brillanter Predigt, und durch intellektuelle Gewalt in der Katechese von geistig wehrlosen Kindern, Jugendlichen und ungebildeten Erwachsenen (f ebd.). Tolstoj übernimmt hier die bekannten Vorurteile der französischen Aufklärung und Revolution gegen »die Kirche« als auszurottender grob oder subtil gewaltsamer Institution. Voltaires von ihm selbst oftmals geschriebenes »Écrasez l’infâme!« (»Zermalmt die Niederträchtige!«) findet seinen Widerhall bei Tolstoj. Tolstoj merkt zur Selbstrechtfertigung an, er habe »mehrere Jahre darauf verwandt, die Lehre der Kirche theoretisch und praktisch zu erforschen« (f 243; PSS 34: 247) Tolstoj benutzte die Ausgabe von 1729 (vgl. PSS 28: 52). Vgl. W. Nigg, Das Buch der Ketzer, Zürich 61981, 428. Tertullian, Origenes und Augustin gelten als anerkannte Kirchenväter, wenn auch wegen einiger ihrer Schriften zu Lebzeiten oder posthum als Häretiker verdächtigt oder angeklagt. Jan Hus wurde auf Grund seiner Lehre von der Kirche (als der auf Erden nicht durch formale Mitgliedschaft erkennbaren Gemeinde der Prädestinierten unter dem alleinigen Haupt Christus) von der Vollversammlung des Konstanzer Konzils am 6. 7. 1415 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und entsprechend hingerichtet. Girolamo Savonarola wurde am 13. 5. 1497 wegen seiner Predigten gegen den Luxus der herrschenden weltlichen und geistlichen Schichten von Papst Alexander VI. als Häretiker, Schismatiker und Verächter des Hl. Stuhls exkommuniziert, durch den Magistrat von Florenz zum Tode verurteilt und am 23. 5. 1498 erst gehängt und dann verbrannt. Petr Chelˇcick´y († um 1460) war ein radikal pazifistischer tschechischer Laientheologe und Reformator, Gründervater der protestantischen Unität der Böhmischen Brüder, der gegen Kaiser und Papst die Rückkehr aller Christen zur freiwilligen Armut der Urkirche predigte. Die Nähe der drei Letztgenannten zum Denken Tolstojs und seine Sympathien für sie sind offensichtlich. Inhaltliche Parallelen ihres Denkens könnten im Einzelnen gezogen werden. Unter Verweis auf Mt 23,8 (»Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder«) hält Tolstoj nicht nur ein Lehramt in der Kirche für nicht dem Evangelium gemäß. Er konstatiert darüber hinaus: »Heute ist klar, dass das Lehrertum der Kirche, auch wenn es nur aus einer kleinen Abweichung entstand, mittlerweile der ärgste Feind des Christentums ist, und dass die Hirten allem möglichen dienen, nur nicht der Lehre Jesu, denn diese verleugnen sie« (f 98; PSS 23: 300f). Tolstoj spielt an auf Mt 18,15–17, wo es um den Umgang der Jünger Jesu mit Brüdern geht, die an ihnen gesündigt haben und die Zurechtweisungen nicht akzeptieren: »Hört er auch auf die Gemeinde [ekklesía] nicht, so sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner« (v. 17, Lutherübersetzung). Für Tolstoj heißt das, die Kirche als ad-hoc-Versammlung von Nachfolgern Jesu soll Streit unter ihnen schlichten. Tolstoj verweist auf Mt 16,18: »Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde [ekklesía] bauen und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.« Was für andere Ausleger der klare locus classicus für die Einsetzung des Bischofsamtes oder gar des Papstamtes in der Kirche durch den historischen Jesus von Nazareth ist, sind für Tolstoj »dunkle Worte«, mit denen er nicht umgehen kann und die er deshalb bewusst beiseite lässt (vgl. PSS 58: 82). Das ist ein Charakteristikum seiner Evangelienauslegung. Vgl. f Ch. Münch, Offenbarung und Bibel, 345f.

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20 Den letzten Satz bezieht Tolstoj auf alle Kirchen, die orthodoxen, die römisch-katholische und die evangelischen (PSS 28: 46f). 21 Gängig dem römisch-katholischen Theologen und Historiker Alfred Loisy, L’Évangile et l’Église, 1902, zugeschrieben. Loisy würdigt darin aber in Kritik an Adolf von Harnacks Wesen des Christentums, 1900, die Tatsache positiv, dass es nicht bei der Predigt Jesu vom Reich Gottes geblieben sei, sondern eine Kirche entstanden sei, die öffentlich im Sinne des Evangeliums Jesu wirke und die sich auf Jesu Einsetzung der 12 Apostel berufen könne, die Jesus »direkt und effektiv« an ihr zukünftiges Amt in der Kirche gebunden habe; die Grundlinien der Organisation der Kirche seien im Evangelium dargelegt (A. Loisy, a.a.O., 132f). 22 Unter die »guten Menschen«, die am »unchristlichen Tun« der Kirchen teilnahmen, zählt Tolstoj einmal »die beiden Franz von Assisi und von Sales, unseren Tichon vom Don, Thomas a Kempis und andere«, »und sie wären noch besser und würdiger, wenn sie nicht der Verirrung verfallen wären, der sie gedient haben« (PSS 28: 56). 23 Tolstoj schreibt dies 1883/84, er meint also tatsächlich, die christliche Kirche sei seit ihrer Entstehung in den 30er Jahren des 1. Jahrhunderts nach Christi Geburt der Inbegriff des Bösen in der Welt. Die Bezeichnung der Christen in der Kirche als »zusammenhängende Masse des Bösen« erinnert an die Formulierung des Kirchenvaters Augustin, der in Auslegung von Röm 5,12 und Röm 9,21 alle Christen in der Kirche als una quaedam massa peccati (ein einziger Sündenklumpen) bezeichnete, der die Todesstrafe verdient hat, welcher nur einzelne Christen aufgrund des grundlosen Erbarmens Gottes entkommen (K. Flasch [Hg.], Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, Mainz 1990, 200–204, auch 218f und 226f). 24 Tolstoj beruft sich hier auf Mt 6,6 (»Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein«) und Joh 4,21–23: In Tolstojs Auslegung heißt das, Gottesdienst »im Geist und in der Wahrheit« dürfe nach Jesu Worten nicht in Tempeln oder anderen Versammlungsräumen einschließlich Kirchgebäuden stattfinden, sondern ausschließlich als Gebet des einzelnen im Verborgenen. Tolstoj »exkommuniziert sich« im ursprünglichen Sinn des Wortes, d. h. der Absonderung von der Gemeinschaft, mit dieser Ansicht ein weiteres Mal selbst aus der orthodoxen Kirche, die sich konstitutiv als gottesdienstliche Versammlung aller Gläubigen an einem Ort zu einer Zeit versteht, was sich in der kanonischen Anordnung niederschlägt, nach der die Feier der Göttlichen Liturgie in jeder Kirche nur einmal pro Tag stattfinden darf, damit alle Gläubigen gemeinsam Gottesdienst feiern können. – Der frühe Tolstoj hatte dagegen noch das Vaterunser als Gemeinschaftsgebet sehr geschätzt (Tagebuch vom 12. 6. 1851; PSS 46: 62f). 25 Die alternative Kirche ist für Tolstoj die Gemeinschaft derer, die die Gebote Christi wörtlich erfüllen. Vgl. M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens«? Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, St. Ottilien 1998 (= Moraltheologische Studien, Systematische Abteilung, 25), 126. 26 Mit »Versprechungen« meint Tolstoj die biblischen Verheißungen, wie sie in den Kirchen von den Geistlichen gepredigt werden, mit »Salbungen« meint er die Sakramente der Kirchen, deren zwei (Firmung und Krankensalbung) mit der Spendung von Salböl verbunden sind. In der Wahl der in der Ekklesiologie unüblichen Begriffe »Versprechungen« und »Salbungen« schwingt Tolstojs Abneigung gegen alle kirchlichen Gottesdienste und Riten mit. 27 V.V. Rozanov, L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ [1912], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 426–436. 28 In seinen theologischen Traktaten stilisiert sich Tolstoj teilweise selbst zum Bußpredi-

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ger. So in Kapitel XII/6 seiner Schrift Das Reich Gottes ist in euch (PSS 28: 286–293) – einer langen Bußpredigt, die mit dem Untergang der Menschheit droht, falls sie sich nicht an die Bergpredigt hält. So hat ihn Gerhart Hauptmann posthum als »zweiten Savonarola« gefeiert: G. Hauptmann, Tolstoi, 1910, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. H.-E. Hass, Bd. 6, 1963, 915. Das erinnert an Tolstojs eigene Hochschätzung des mittelalterlichen Bußpredigers. Im politischen und damals gebräuchlichen Sinn des Wortes hat sich Tolstoj selbst nicht als Revolutionär gesehen. D. Mereˇzkovskij, zitiert bei W. Nigg, Das Buch der Ketzer, Zürich 61981, 433. V. Solov’ev polemisierte scharf gegen Tolstojs irdisches und soziales Verständnis des Reiches Gottes und mahnte dessen metaphysischen Inhalt an, die Überwindung des Todes. Dazu L. Müller in: W. Solowjew, Sonntags- und Osterbriefe. Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer Kurzen Erzählung vom Antichrist, München 1979 (Deutsche Gesamtausgabe Bd. 8), 430–440, 524.

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Holger Kuße

Religion Lev Tolstojs Religionsverständnis ist im Kern mystisch und in seiner Ummantelung rationalistisch. Der Rationalismus zeigt sich in der radikalen Ablehnung nicht empirischer und nicht rationaler religiöser Rede, wozu die Erzählung unerklärlicher Ereignisse (Wundererzählungen), die Behauptung der übersinnlichen Wirkung kultischer Handlungen (Sakramente), aber auch die abstrakte Konstruktion dogmatischer Systeme gehören (Trinität, Zwei-Naturen-Lehre). An ihre Stelle tritt eine religiös motivierte Morallehre, deren Rigorismus die Vorstellung von Tolstoj als Denker, Kirchenkritiker und Moralist geprägt hat. Die religiöse Begründung der Morallehre weist Tolstoj jedoch auch als mystischen Denker aus, und zwar in der Voraussetzung der Teilhabe des Menschen an Gott, die den Menschen befähigt, gut zu sein und sich der Vollkommenheit Gottes anzunähern. Äußere Zeichen dieser Mystik sind unter anderem Tolstojs häufige Verwendung von Lichtmetaphorik und die raummetaphorische Opposition von innerem und äußerlichem Leben, in denen Gott Licht und Leben und im Menschen, der Mensch aber zugleich in Gott ist. Die mystische Motivierung von Tolstojs Rationalismus und Moralismus ist wesentlich für sein Religionsverständnis. Ich beginne deshalb mit ihr und komme im zweiten Abschnitt zu Tolstojs Rationalismus sowie der Morallehre, die sich von seinem Verständnis von Religion nicht trennen lässt.

Tolstojs mystischer Religionsbegriff Verschiedentlich ist Tolstoj mit Mystik in Verbindung gebracht worden. Für Nikolaj Berdjaev (1874–1948) wurden zumindest am Ende seines Lebens die mystischen Klänge lauter, kräftiger, und sie übertönten den Rationalismus.1 Der russische Philosophiehistoriker Vasilij Zen’kovskij (1881–1962) oder auch Paul Tillich (1886–1965) erkannten die Mystik vor allem in Tolstojs Ethik. Zen’kovskij bezeichnete sie als »mystische Ethik«,2 Tillich als »Liebesmystik«3 (f R. Zwahlen, Russische Religionsphilosophie, 600; f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 336 und f M. Tamcke, Protestantische Theologie, 612). Mystisch ist Tolstojs Religionsverständnis jedoch nicht im Sinne seines

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eigenen Gebrauchs des Wortes, das er mit negativ wertender Bedeutung weitgehend synonym zu Attributen wie »wundersam« oder »wunderbar« verwendet. Gegen »Mystik« in diesem Sinne hat sich Tolstoj wiederholt gewandt und zum Beispiel seine umfangreiche Schrift Das Reich Gottes ist in euch (1890–93) mit dem Untertitel versehen: »Das Christentum nicht als mystische Lehre, sondern als neues Lebensverständnis«. Wird unter Mystik jedoch nichts Nebulöses oder Fabulöses, kein religiöser Exotismus (all das lehnt Tolstoj entschieden ab), sondern die Erfahrung der persönlichen Verbindung mit und die Gewissheit der Bindung an Gott und mehr noch: die Erfahrung der Vereinigung mit Gott verstanden, kann Tolstojs Religionsverständnis nicht anders als mystisch bezeichnet werden. Die Grundlage dieses Religionsverständnisses bildet die, wenn auch selbst noch nicht mystische, doppelte Definition von Religion und Sittlichkeit im gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahr 1893: Die Religion ist ein bestimmtes, vom Menschen festgelegtes Verhältnis seiner einzelnen Persönlichkeit zur unendlichen Welt oder deren Ursprung. Sittlichkeit hingegen ist der immerwährende Leitfaden des Lebens, der sich aus diesem Verhältnis ergibt. (f 210; PSS 39: 26)

Die erste der beiden Definitionen kommt der von religio als Rückbindung der Seele an Gott nahe, wie sie bei Augustinus zu finden ist: »Die wahre Religion ist es, durch die sich die Seele an den einen Gott in Versöhnung zurückbindet, von dem sie sich durch die Sünde gleichsam losgerissen hatte«.4 Im Unterschied zum Religionsbegriff Augustins geht Tolstoj jedoch nicht von der Voraussetzung der prinzipiellen sündhaften Trennung der Seele von Gott aus, die nur in der Rückbindung überwunden werden kann. Die religiöse Bindung wird von ihm vielmehr als Erkenntnis des in jedem Menschen einwohnenden Göttlichen verstanden, d.h. als gegen die Ablenkungen des irdischen Lebens gesetzte Bewusstwerdung der eigenen Göttlichkeit und der daraus sich ergebenden Verpflichtungen für die Lebenspraxis. Deshalb gehören Religion und Sittlichkeit für Tolstoj untrennbar zusammen. Sie sind für ihn, wie aus der doppelten Definition hervorgeht, ohne einander nicht denkbar. Sie sind aber auch nicht miteinander gleichzusetzen, sondern nur zusammen der Akt und der Ausdruck der Hinwendung und Beziehung des Menschen zum »Ursprung« und d.h. zum Göttlichen. Damit richtet sich Tolstoj gegen drei äußerliche und für ihn falsche Auffassungen von Religion, die er in der Geschichte und in seiner Gegenwart meint beobachten zu können. Religion werde entweder als eine bestimmte göttliche Offenbarung und die aus dieser Offenbarung folgende Gottesverehrung verstanden. Oder sie gelte, zweitens, als eine Reihe abergläubischer Ansichten und als abergläubische Gottesverehrung. Oder sie werde, drittens, für eine Ansammlung von Erfindungen und Gesetzen gehalten, mit denen

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kluge Leute dumme Volksmassen regieren können. Im ersten Fall handle es sich, so Tolstoj, um das Religionsverständnis der meisten Anhänger positiver Religionen, die nur ihre eigene spezielle Religion für wahr halten. Die zweite Religionsauffassung sei die von Menschen, die an überhaupt keine Religion glaubten, und den Vertretern der dritten Auffassung sei Religion vollkommen gleichgültig und nur als nützliches Instrument des Staates von Interesse (f 188f; PSS 39: 3). In allen drei Fällen erfassen, so Tolstoj, Menschen nicht das Wesen von Religion. Es handle sich jeweils nur um einen Glauben daran, was Menschen für Religion halten. Es fehlt die für Religion im Sinne Tolstojs wesentliche persönliche Hinwendung »zur unendlichen Welt oder ihrem Ursprung«.

Die mystische Erfahrung Was Mystik in besonderer Weise auszeichnet, ist die gleichzeitig persönliche wie universale Erfahrung von Transzendenz als Begrenzung und Durchdringung des Selbst. Das darin erlangte »Erkennen von etwas, das die Kluft zwischen Subjekt und Objekt transzendiert«, lässt sich mit Paul Tillich als »mystisches Apriori« bezeichnen.5 Aus ihm folgt die Übereinstimmung von Individuellem und Universalem, d.h. die Aufhebung des Gegensatzes von Individualität und Universalität, in der der russisch-orthodoxe Theologe Sergej Bulgakov (1871–1944) das Paradoxon der religiösen Wahrnehmung sieht (paradoksija religioznogo vosprijatija).6 In dieser Übereinstimmung ist nicht zuletzt die Selbstoffenbarungs- oder sogar Beichtliteratur vieler Mystiker – wie auch Tolstojs – motiviert, die den eigenen Glaubensweg und die persönliche Erfahrung als allgemeinmenschlichen Weg zu Gott deutet. Mystik muss jedoch, wie Ernst Tugendhat gezeigt hat, nicht notwendig religiös verstanden werden. Unabhängig von Religion ist sie, so Tugendhat, die »Verbindung von ruhendem Gesammeltsein und gleichzeitigem, das Selbst relativierendem Weltbewusstsein«.7 In ihr wird der »Widerspruch zwischen Sichwichtignehmen und objektiver eigener Unwichtigkeit«8 überwunden, der menschliches Bewusstsein auszeichnet (und es quält). »Jeder Mensch sieht sich in seinen Zielsetzungen – in dem, was ihm wichtig ist – als vereinzelt innerhalb der Welt und gewinnt so ein Bewusstsein von der Geringfügigkeit von sich und seinen Sorgen«.9 Eine Weise der mystischen Überwindung dieses Widerspruchs ist die Vereinigung des Selbst mit allen und allem, da alle (und alles) in ihm gleich sind, das heißt: in demselben Widerspruch von Selbstbedeutung und relativer Bedeutung gegenüber allen anderen existieren. Diese Vereinigung kann wie im Buddhismus als »Versinken des Selbst« und »Auslöschen des Ichhaften« im Nichts und in der Leere aufge-

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fasst werden.10 Sie lässt sich aber auch religiös als Vereinigung des Einzelnen mit Gott verstehen (und erfahren), in dem die Unterscheidungen und Widersprüche zwischen wichtig und unwichtig, absolut und relativ, selbst und anderen aufgehoben sind.11 Karl Rahner (1904–1984) versteht in diesem religiösen Sinne Mystik als nicht exklusives, sondern (da das Universale auch alle Menschen umschließt) grundsätzlich allen Menschen zugängliches »Grunderlebnis einer Verwiesenheit auf Gott […], das verdrängt, aber nicht zerstört werden kann«.12 Für Tolstoj ist die kontemplative Überwindung des Bedeutungswiderspruchs des Selbst für sich und für die Welt eine drängende Frage und ein wesentliches Ziel besonders seiner letzten, aphoristischen und weisheitlichen Sammelwerke wie Für jeden Tag (1907–1910) oder Der Weg des Lebens (1910).13 Seine Lösung ist die religiöse Mystik, die auch den Gedanken der All-Einheit enthält, der für Tolstoj vom Gottesbegriff nicht zu trennen ist. Deswegen ist Religion für ihn die Beziehung des Einzelnen »zur unendlichen Welt oder ihrem Ursprung« (s.o.) und der Begriff des Ich nicht nur individuell, sondern auch universal gefasst als »geistiges Ich«, das alle Menschen vereint, die jeweils nur »Fenster« sind, »durch das dieses Ich schaut« (PSS 45: 36). Dieses Ich wiederum ist von Gott nicht zu trennen und die Erfahrung der Verwiesenheit auf Gott, die das einzelne Ich macht, ist ein inneres Erleben, genauer: das Erleben Gottes in sich selbst. Zwar ist für Tolstoj Gott vor und nach dem Menschen. Er ist höher als dieser und hat ihm das Leben gegeben. Er gibt allem Existierenden das Leben (PSS 45: 32). Er ist lebendiger Schöpfer und »unendlicher Anfang« (beskoneˇcnoe naˇcalo, f 56; PSS 90: 130) und »Prinzip des Lebens« (naˇcalo ˇzizni, f 148, 159; PSS 24: 874, 917). Aber finden kann der Mensch den Anfang, der Gott ist, nur in sich. »Solange du Ihn [Gott] nicht in dir selbst findest, findest du Ihn nirgends« (f 305; PSS 43: 67), schreibt Tolstoj im Gedankenbuch Für jeden Tag. Gott ist der Geist, das Gute, die Kraft des wahren Lebens usw., die Menschen ein gutes Leben führen lassen, wenn sie sich mit Gott vereinen. Dieser Vereinigungsgedanke von Ursprung und Gegenwart, von Endlichem und Unendlichem, von Gott und Mensch macht die Mystik Tolstojs aus. In Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen? (1901/02), bezeichnet er Gott als den »Geist«, »dessen Erscheinung in uns lebt und dessen Kraft wir durch unser Leben vermehren können« (PSS 35: 192). In der Kurzen Darlegung des Evangeliums (1881–83) lässt er Jesus von Gott als dem »Prinzip des Lebens, […] das in den Menschen ist« sprechen (f 148; PSS 24: 874), und Petrus bekennt ihn als »das geistige Leben im Menschen« (f 150; PSS 24: 875). Jesu Lehre offenbart »den einzig wahren Weg des Lebens« und »sie lehrt«, so die Worte Jesu bei Tolstoj, »sich mit dem Vater zu vereinigen. Der Vater aber ist das Prinzip des Lebens« (f 159; PSS 24: 917).

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Gottesbegriff und Gotteserkenntnis In einem Brief vom 18. Januar 1901 verwendet Tolstoj die bekannte, mit dem Namen Meister Eckharts (ca. 1260 – ca. 1328) verbundene Metapher des göttlichen (oder des Seelen-)Funken: »In jedem Menschen ist der göttliche Funke, der göttliche Geist, jeder Mensch ist Gottes Sohn« (f 278; PSS 73: 12). Gottessohnschaft ist für Tolstoj eine Eigenschaft aller Menschen (vgl. f Ch. Münch, Jesus Christus, 375f).14 In der Evangelienharmonie schreibt er direkt, die Kirche wende den Ausdruck »Sohn Gottes« zu Unrecht nur auf Jesus an, tatsächlich beziehe sich der Ausdruck in den Evangelien auf alle Menschen. Diese enge Gottesbindung lässt er auch mit Texten aus der mystischen Tradition, zum Beispiel in Zitaten des Barockdichters Angelus Silesius (1624–1677), zum Ausdruck kommen: »Nichts ist als ich und Du. Wenn wir zwei nicht wären, dann wäre nichts auf der Welt« (f 296; PSS 44: 74; PSS 45: 41). In Tolstojs letztem Buch, Der Weg des Lebens (1910), folgt dem Bekenntnis zur mystischen Verbindung und Vereinigung von Gott und Mensch, wie es Tolstoj bei Angelus Silesius fand, ein Mohammed zugeschriebenes Wort, das die gleichzeitige Unterschiedenheit von Gott und Mensch betont: »Ich bin, was auch Gott ist. Er aber ist Er, und ich bin ich« (PSS 45: 41). Werden in diesem Zitat die erste und die zweite Aussage gleich gewichtet, so folgt daraus, dass ungeachtet der vorausgesetzten Differenz zwischen Gott und Mensch die Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis führt: Gott erkennen heißt, sich selbst zu erkennen, und sich selbst zu erkennen bedeutet, Gott in sich zu erkennen. Diese Überzeugung zeigt sich in begrifflichen Gleichsetzungen von Gott und Leben und Erkenntnis des Lebens usw.: »Gott ist das Leben« und »Gott kennen und leben ist ein und dasselbe« (f 61; PSS 23: 46) oder: »Gott ist das Verständnis des Lebens [razumenie ˇzizni]« (vgl. f 136; PSS 24: 816) und »Ohne Verständnis gibt es kein Leben« (f 136; PSS 24: 816). »Wahrhaft existiert nur Gott«, schreibt Tolstoj kurz vor seinem Tod, aber »der Mensch ist Sein Ausdruck in Materie, Zeit und Raum« (f 317; PSS 58: 143). Die Selbst- und Gotteserkenntnis ist von daher die Voraussetzung des »wahren Menschseins«, der Erfahrung der eigenen Würde, die den Menschen vom sich selbst nicht bewussten Tier unterscheidet. Dieser Gedanke durchzieht Tolstojs ganzes religionsphilosophisches Werk: »Damit der Mensch ein echter Mensch sein kann, muss er verstehen, dass Gott in ihm wohnt« (f 294; PSS 44: 72); »Welche Freude, Gott in sich zu erkennen. Darin, nur darin liegt das Leben« (f 296; PSS 44: 73). Diese in der inneren Gotteserkenntnis erwartete Freude, das Leben in seiner ausschließlich positiven Gestalt zu erfahren, setzt eine nichtantagonistische Vorstellung von Gott als das nur Gute, die Liebe usw. voraus und negiert indirekt Attribute wie den Zorn oder die Ferne Gottes. Wenn die Vereinigung mit Gott möglich ist, kann Gott dem mit ihm vereinigten Men-

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schen nicht in negativer Weise begegnen, denn er würde sich in diesem Fall gegen sich selbst wenden. Die Forderung, Gott zu fürchten, weist Tolstoj entschieden zurück. Wer mit Gott vereint ist, der kann Gott nicht fürchten. Gott kann sich nicht selbst Böses tun. (PSS 45: 43) Gott muss man lieben, nicht aber fürchten. Es ist nicht möglich, den zu lieben, den du fürchtest. Außerdem ist Gott auch deshalb nicht zu fürchten, weil Gott die Liebe ist. Wie kann man die Liebe fürchten? Nicht fürchten soll man Gott, sondern ihn in sich erkennen. Und wenn du Gott in dir erkennst, wirst du nichts mehr auf der Welt fürchten. (PSS 45: 76)

Auch hier folgt Tolstoj dem Weg der Mystik, in der die Vereinigung mit Gott im »liebend-erkennende[n] Zugang des Menschen zu Gott« erfahren wird, der »den numinosen Schrecken vor ihm außer Geltung«15 setzt. Deshalb ist für Tolstoj das Verständnis Gottes als Liebe von wesentlicher Bedeutung: »Ich kann Gott nicht anders verstehen denn als Liebe« (PSS 57: 5) oder »Gott lieben, heißt die Liebe lieben« (PSS 57: 33). Und er zitiert aus dem Ersten Johannesbrief (4,16): »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm« (PSS 45: 74), oder sagt knapp und schlicht in den Gedanken über Gott: »Gott ist die Liebe«16 (f 224). In seiner Antwort an den Heiligen Synod als Reaktion auf die Exkommunikation (1901) findet Tolstoj zu der bekenntnishaften Formulierung: »Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Ursprung von allem verstehe. Ich glaube, dass er in mir ist und ich in ihm bin« (f 247; PSS 34: 251). Daraus folgt, dass mit der Erkenntnis Gottes jeder Mensch das Gute und die Liebe zu allem, das lebt, als sein eigenes Wesen erkennt. Diese innere Gotteserkenntnis als Erkenntnis der Liebe und des Guten im Erkennenden, die gelegentlich auch als Einschränkung – »In jedem guten Menschen wohnt Gott« (f 305; PSS 43: 67) – formuliert sein kann, erweist sich als therapeutisches Instrument. Sie lässt den Menschen seinen eigenen Wert als göttliches Wesen erkennen, stärkt ihn darin und kann ihn nicht anders werden lassen als gut und liebend. Wenn ich liebe, dann ist Gott in mir, und ich bin in Gott. Und wenn Gott in mir ist und ich in Gott bin, dann ist alles gut, und mir kann nicht Schlimmes geschehen. Ich werde stets alle lieben in Taten und in Worten und vor allem in Gedanken. (f 284; PSS 90: 146) Der Mensch ist so lange ein schwaches, unglückliches Tier, so lange in seiner Seele nicht das Licht Gottes scheint. Wenn es jedoch aufscheint (und es entzündet sich nur in einer Seele, die durch die Religion erhellt wurde), wird der Mensch zum mächtigsten Wesen der Erde. Und das kann nicht anders sein, denn dann wirkt in ihm nicht seine eigene Kraft, sondern die Kraft Gottes. (PSS 35: 198)

Tolstoj bedient sich hier jener Lichtmetaphorik, die sowohl aus der Mystik wie aus der Aufklärung bekannt ist. Und er führt diese Metapher weiter aus, wenn er sagt, dass die Änderung, die die Gotteserkenntnis im Menschen her-

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vorruft, sich nicht nur für ihn persönlich auswirkt, sondern durch ihn hindurch strahlt – und so zu einer Veränderung (Erleuchtung) der Welt führt: Ein Mensch, der sein Leben der Unterwerfung unter das Gesetz der Vernunft und der Entfaltung der Liebe verschrieben hat, sieht schon in diesem Leben einerseits die Lichtstrahlen jenes neuen Zentrums des Lebens, auf das er zugeht, und andererseits die Wirkung, die dieses durch ihn hindurchgehende Licht auf die Menschen um ihn herum ausübt. (f 179; PSS 26: 415)

Umgekehrt erscheint der Mangel an Gotteserkenntnis als Ursache aller (!) Leiden, denn aus der Gotteserkenntnis folgt ja nur die Liebe und nicht das Böse und nur die Freude und nicht die Verzweiflung. Fehle die Gotteserkenntnis, herrsche Finsternis und Blindheit: »Alle Nöte der Menschen rühren nur von ihrer Blindheit, daher, dass sie jenen Gott nicht sehen, der in ihnen wohnt« (f 298; PSS 44: 263). Als Voraussetzung, Möglichkeit und Ausdruck der Gotteserkenntnis im Selbst und im Leben erfüllt Religion (insbesondere das Christentum) in der Vorstellung Tolstojs die Funktion, dem Leben »Sinn« (smysl) und »Wahrheit« (istina) zu geben (f 135; PSS 24: 807) und »die Seele zu retten« (f 100; PSS 23: 302). Aber die religiöse Gotteserkenntnis ist für ihn auch eine Erkenntnis der Grenzen des Erkennens und des Menschseins. Religiöses Erkennen vollzieht sich in Oppositionen: unbegrenzt und begrenzt, Ganzes und Teil, ewig und zeitlich usw., in denen Gott und Mensch unterschieden sind. Gott ist all das Unbegrenzte, was ich in mir begrenzt weiß: Ich bin ein begrenzter Körper, Gott ist unendlicher Körper; ich bin ein Wesen, das dreiundsechzig Jahre gelebt hat, Gott ist ein Wesen, das ewig lebt; ich bin ein Wesen, das in den Grenzen seines Verständnisvermögens denkt, Gott ist ein Wesen, das grenzenlos denkt; ich bin ein Wesen, das bisweilen ein wenig liebt, Gott ist ein Wesen, das immer unendlich liebt. Ich bin ein Teil, Er ist die Gesamtheit. Ich kann mich nicht anders verstehen, denn als ein Teil von Ihm.17 (f 225)

Auffällig ist in diesen Gegenüberstellungen die materialistisch anmutende Bezeichnung Gottes als Leib, die vielleicht auf Tolstojs Affinität zu heterodoxem Denken zurückgeführt werden kann (f R. Grübel, Existenzialismus, 668), vielmehr noch aber zeigt, dass Tolstoj seine Begriffe und Bezeichnungen nicht streng terminologisch, sondern kontextuell gebraucht: in diesem Fall, um die Opposition von begrenzt und unendlich zum Ausdruck zu bringen (ein unbegrenzter und unendlicher Leib oder Körper ist, da Körperlichkeit Begrenztheit und Endlichkeit impliziert, buchstäblich gelesen, ja auch ein Widerspruch in sich). Solche »Ungenauigkeiten« sind in Tolstojs eigener Vorstellung von religiösem Erkennen legitim. Denn er selbst schränkt mit der Metapher von Licht und Trübung seine Lichtmetaphorik der Erkenntnis ein. In Anlehnung an das Pauluswort »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht« (1 Kor 13,12) führt er wahre Erkenntnis auf Gottes Wirken zurück, das zugleich Gott selbst unerkannt lässt:

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Früher sah ich die Phänomene des Lebens, ohne darüber nachzudenken, woher sie rühren und warum ich sie sehe. Dann verstand ich, dass alles, was ich sehe, von dem Licht herrührt, das Erkenntnis ist. Doch ich freute mich so, dass ich alles auf das eine zurückführte, dass ich mich damit, die Erkenntnis allein als Ursprung von allem anzuerkennen, vollkommen zufrieden gab. Dann aber sah ich, dass Erkenntnis ein Licht ist, das durch trübes Glas zu mir dringt. Das Licht sehe ich, aber das, was dieses Licht spendet, kenne ich nicht, doch ich weiß, dass es existiert. Dieses etwas, das die Quelle des Lichts ist, das mich erleuchtet, dieses etwas, das ich nicht kenne, von dessen Existenz ich aber weiß, ist Gott.18 (f 225)

Gott ist der »Ursprung meines geistigen Ich. Die äußere Welt hingegen ist nur meine Grenze« heißt es in den Gedanken über Gott19 (f 226). Auch die von Menschen erfahrenen Grenzen der Erkenntnis sind durch Leiblichkeit und Endlichkeit vorgegeben, die die »animalische Persönlichkeit« des Menschen ausmachen. Nur wenn das eigene geistige, nicht endliche und nicht animalische Wesen als inneres Erscheinen Gottes erkannt wird, gelangen Menschen, so Tolstoj, zur vollen Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis Gottes. In diesem Zusammenhang bedient sich Tolstoj ein weiteres Mal der Lichtmetaphorik: Das unkörperliche Licht erhellt die Körperlichkeit und macht sie transparent für die Ewigkeit und damit für das »wahre Leben«. Unser Leben ist das Bewusstsein von uns selbst als ewiger, unendlicher, d.h. zeitloser und raumloser Geist, begrenzt durch die Bedingungen zeitlicher und räumlicher Phänomene. (f 295; PSS 44: 72) Gerade so ist für die Menschen, die den inneren Widerspruch zwischen der tierischen Persönlichkeit und dem vernünftigen Bewusstsein noch nicht erkannt haben, das Licht der Sonne der Vernunft nur eine unbedeutende Zufälligkeit, sentimentale, mystische Worte. Die Sonne bringt nur diejenigen zum Leben, in denen bereits Leben entstanden ist. (f 175; PSS 26: 368)

Aus der im religiösen Erkennen erkannten Begrenzung menschlichen Lebens und des menschlichen Erkenntnisvermögens folgt bei Tolstoj zweierlei: Zum einen die für seine f Anthropologie grundlegende unversöhnliche Trennung von Geist und Fleisch oder, wie Tolstoj auch sagt: von geistiger und animalischer Persönlichkeit; zum anderen die Skepsis gegenüber allen Gottesaussagen und dogmatischen Festlegungen, die – sei es tatsächlich, sei es von Tolstoj nur unterstellt – behaupten, das Wesen Gottes zu erfassen. In dieser Skepsis ist Tolstojs starke Affinität zu Immanuel Kant (1724–1804) begründet.20 Eine in der Konstruktion noch größere Nähe weisen seine Formulierungen aber zur Differenzbestimmung von Gregorios Palamas (1296/ 1297–1359) auf, also zur Unterscheidung zwischen dem unerkennbaren Wesen und den erkennbaren Energien Gottes. Die physische Schau der Energien in der Gebetsversenkung (Hesychasmus), die Palamas im 13. Jahrhundert verteidigte, ist Tolstoj natürlich fremd, aber die Konstruktion der Unterscheidung ist gleich. Wenn er Gott als Liebe, als »geistiges Leben im

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Menschen« (f 150; PSS 24: 875), als Bewusstsein des eigenen Lebens und der Freiheit (f 56; PSS 90: 130) oder als Anfang aller Anfänge der Vernunft, die den Menschen in der Freiheit des Willens leitet (f 57; PSS 90: 130f) usw. umschreibt, so handelt es sich um Wirkungen, in denen Gott als Gott im Menschen erfahrbar wird, während das Wesen Gottes unerfahrbar bleibt. Unter dieser Voraussetzung kann Tolstoj seine positiven Gottesaussagen (»Gott ist x«) auch negieren (»Gott ist nicht x«), ohne den Kern der Aussage zu verändern: Gott ist nicht die Liebe, tritt jedoch bei lebendigen, unvernünftigen Wesen durch die Liebe zu sich selbst und bei vernünftigen Wesen durch die Liebe zu allem Existierenden zutage.21 (f 232)

Die in der Rezeption Tolstojs anzutreffenden, zum Teil ablehnenden Urteile seines Gottes- und Religionsverständnisses als »Verneinung des persönlichen Gottes«, »Pantheismus«, dem Hinduismus naher »Antipersonalismus«, »christlich gefärbter Buddhismus« oder gar »Atheismus«22 sind auf die genannte Unterscheidung der erkennbaren Energien und des unerkennbaren Wesens Gottes zurückzuführen. Tatsächlich sieht Tolstoj in der Rede vom »persönlichen Gott« die »Wurzel des Anthropomorphismus«. Von Gott könne in Wahrheit nur gesagt werden, was Moses oder Mohammed gesagt haben, dass er »der Eine« ist und zugleich »alles erfüllt«23 (f 229f). Deshalb hat Tolstoj zur religiösen Selbstvergewisserung in der religiösen Praxis Gebete als Selbstaufforderungen formuliert, in denen er die Anrede vermeidet und Gott nicht der Adressat – das setzt seine Persönlichkeit voraus – sondern der Inhalt des Gebets ist. Ich weiß nicht, ob ich den morgigen Tag erlebe, ob alle, die ich liebe und die mich lieben, ihn erleben oder ob sie heute oder morgen, vor mir, sterben werden; ich weiß nicht, ob ich gesund sein werde oder krank, ob ich satt sein werde oder hungrig, von den Menschen geachtet oder verdammt. Ich weiß nur das eine, dass alles, was mit mir und mit denen, die ich liebe, geschieht, so geschieht nach dem Willen desjenigen, der in der ganzen Welt und in meiner Seele lebt. Und alles, was nach seinem Willen ist, das alles ist gut. Deshalb werde ich nicht daran denken, was sein wird mit mir und mit allen, die ich liebe. Ich werde mich nur um eines bemühen: darum, stets mit ihm zu sein, mit dem, den ich in mir weiß durch die Liebe. Dazu aber brauche ich nur eines: alle zu lieben in Taten und in Worten und in Gedanken […]. Ich werde daran denken und alle meine Kräfte darauf verwenden. (f 283; PSS 90: 145)

Schon Quiskamp hat aber gezeigt, dass für Tolstoj Gott nicht deswegen keine »Person« (liˇcnost’) ist, weil er kein Gegenüber sein kann, sondern weil der Begriff der »Person« bzw. »Persönlichkeit« das Merkmal der Begrenzung impliziert, Gott aber als unbegrenzt, unvorstellbar usw. gedacht werden muss.24 Deswegen kann Tolstoj die Frage, ob Gott eine Person sei, nicht nur verneinen, sondern indirekt auch bejahen und auch die Anrede Gottes im Gebet zulassen.

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Herr, ich habe dich genannt, und meine Leiden hatten ein Ende. Meine Verzweiflung ging vorbei. Ich verfluche meine Schwächen, ich suche deinen Weg, aber ich verzweifle nicht, ich spüre deine Nähe, spüre Hilfe, wenn ich auf deinen Wegen gehe, und Vergebung, wenn ich davon abweiche.25 (f 232f)

Gott ist in seiner Beziehung zum Menschen für Tolstoj also mehr als eine Abstraktion im Sinne von »die Liebe«, »das Leben«, »der Geist« usw. Er ist auch das angesprochene »Du«, dessen Nähe der Beter spürt. Diesen Widerspruch zwischen der behaupteten Nicht-Personalität Gottes und seiner möglichen Anrede als Person löst Tolstoj auf, indem er die Möglichkeit der Anrede im Gebet mit der Persönlichkeit und Begrenzung des Menschen begründet. Tolstoj nimmt eine phänomenologische Perspektive ein. Gott kann der Person des Beters nur als Person erscheinen. Denn auch wenn (theoretisch) klar ist, dass der Unbegrenzte keine begrenzte Persönlichkeit ist, ist für das begrenzte persönliche Subjekt die Hinwendung zu ihm nur so möglich, dass ihm Gott als persönlicher Gott begegnet. Es handelt sich hierbei um eine Voraussetzung für den Akt der Anrede selbst. In seinen Überlegungen zum Gebet und dessen Form der Gottesanrede zieht Tolstoj in diesem Zusammenhang den Vergleich zur eingeschränkten Sichtbarkeit der Welt durch ein grünes Glas, verweist also auf jene Analogie mit der schon lange vor ihm (zum Beispiel von Heinrich von Kleist) Immanuel Kants »Unerkennbarkeit des Ding an sich« bildlich vorgestellt wurde: Ein Gebet richtet sich nicht an einen persönlichen Gott, weil Gott persönlich ist – (ich weiß sogar gewiss, dass Er nicht persönlich ist, weil Persönlichkeit Begrenztheit ist, und Gott ist unbegrenzt) –, sondern weil ich ein persönliches Wesen bin. Wenn ich ein grünes Glasstück vor dem Auge habe, sehe ich alles grün; ich kann nicht umhin, die Welt grün zu sehen, obwohl ich weiß, dass sie es nicht ist.26 (f 226)

Tolstojs religiöser Rationalismus und Moralismus Tolstojs Mystik schließt kein übersinnliches Erleben ein und drückt sich nicht in irrationalen (paradoxen und hermetischen) Formen der Rede aus, die der Mystik in der Regel als äußere charakteristische Merkmale zugeschrieben werden.27 Das göttliche Licht ist kein Erscheinen der Transzendenz, des unbegreiflich Ewigen in einem unausdrückbaren Moment der Offenbarung, von dem die Sprache nur unverständlich, positiv gesagt: poetisch, berichten könnte. Das Licht und göttliche Wesen im Menschen ist bei Tolstoj vielmehr das jedem Menschen innewohnende »Gesetz des wahren Lebens« (zakon istinnoj ˇzizni, PSS 45: 21, 66; PSS 39: 115f), das auch ein Teil der f Anthropologie ist und dem »moralischen Gesetz in mir« des von Tolstoj verehrten Immanuel Kant nicht unähnlich ist.28 Tolstoj nennt es auch das »unveränder-

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liche Gesetz des wahren Lebens« (neizmennyj zakon istinnoj ˇzizni, PSS 52: 137), das »wahre Gesetz des Lebens« (istinnyj zakon ˇzizni, PSS 45: 22), das »wahre Gesetz Gottes« (istinnyj zakon Boga, PSS 45: 24), das »Gesetz Gottes und des Menschen« (zakon Boga i ˇceloveka, PSS 23: 334) oder auch nur »Gesetz Gottes« (PSS 39: 160) oder »Gesetz des Lebens« (PSS 45: 495). Dieses von jedem Menschen in sich selbst zu entdeckende »Gesetz« ist unmissverständlich aussagbar, wofür Tolstoj eine schlichte biblische Begründung gibt: Jesu Lehre, die es formuliert, ist einfach und sie ist einfach zu verstehen, denn er selbst, Christus, hat so gesprochen, »dass es alle verstehen können« (f 214; PSS 39: 115). Seine klar ausgesprochene, einfache Lehre hat einen tiefen metaphysischen und einen allgemeinmenschlichen, vor allem aber auch einen einfachen lebenspraktischen Sinn für jeden Menschen: Diesen Sinn kann man so ausdrücken: Christus lehrt die Menschen, keine Dummheiten anzustellen. Darin besteht der einfachste, jedem zugängliche Sinn der Lehre Christi. (PSS 23: 423)

Alles, was darüber hinausgeht, ist »Hokuspokus«, der von der Wahrheit ablenkt. Aber dieser einfache Sinn, »keine Dummheiten anzustellen«, umfasst sehr viel: Für mich liegt ihr Hauptsinn darin, dass man, um gerettet zu werden, jede Stunde und jeden Tag seines Lebens an Gott und die Seele denken und deshalb die Nächstenliebe über das viehische Leben stellen muss. Dafür bedarf es keines Kunststücks, es ist so einfach, wie dass jemand, der ein Schmied sein will, schmieden muss. – Eben deshalb ist dies eine Göttliche Wahrheit, weil sie so einfach ist, dass es nichts Einfacheres als sie gibt, und zugleich so wichtig und groß und heilbringend für jeden Einzelnen und alle Menschen zusammen, dass es nichts Größeres als sie gibt. (f 86; PSS 63: 8f)

Aus der vollen Erkenntnis der »Göttlichen Wahrheit« folgt für Tolstoj notwendig die religiöse Umkehr (metanoia),29 und das heißt die Abkehr von der Welt und dem irdischen Leben (f H. Kuße, Anthropologie, 438). Sie entdeckt Tolstoj bei allen Religionsgründern, und sie ist die religiöse Aufgabe, deren Erfüllung Tolstoj zum Ideal wird. Die Sonne der Wahrheit steigt höher und höher über der Welt auf, beleuchtet sie mehr und mehr und spiegelt sich auf denjenigen Gegenständen, die zuerst in den Leuchtkreis ihrer Strahlen gelangen und diese am besten reflektieren können. Diejenigen Eigenschaften aber, welche die einen Menschen mehr als die anderen befähigen, diese aufgehende Wahrheit anzunehmen, sind keine besonderen, aktiven Qualitäten des Verstands, es sind im Gegenteil passive, selten mit einem großen, neugierigen Verstand zusammenfallende Eigenschaften des Herzens: die Abkehr von der Hast der Welt, das Bewusstsein der eigenen materiellen Nichtigkeit, Wahrhaftigkeit, wie wir es bei allen Religionsgründern sehen, die sich nie durch philosophische oder wissenschaftliche Kenntnisse auszeichneten. (f 199f; PSS 39: 15)

Die erneute Lichtmetaphorik in der Metapher »Sonne der Wahrheit« ist kein Zufall, denn Licht ist sichtbar und macht sichtbar, bleibt aber im Gegensatz

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zu dem, was es bescheint, unkörperlich, immateriell. Der Weg des religiösen Menschen ist für Tolstoj der Weg der Befreiung des geistigen, immateriellen und damit göttlichen Menschen von seiner animalischen, materiellen und irdischen Persönlichkeit. Diese Entgegensetzung ist dem Manichäismus nicht fern und führt nicht nur in Tolstojs religiös begründeter Morallehre, sondern grundsätzlich in seiner f Anthropologie zu teilweise radikaler Leibfeindlichkeit, die unter anderem die positive Aufnahme der erotischen Liebe als einer Form und eines Bilds mystischer Vereinigung verhindert, wie sie vielfach in der mystischen Tradition – zeitgenössisch bei Vladimir Solov’ev (1853–1900) – zu finden war und zu finden ist.30 Die Leibfeindlichkeit greift sogar über das irdische Leben hinaus. Über sich selbst nach seinem Tode verfügte er in der Antwort an den Heiligen Synod, man möge alle Trauerfeierlichkeiten unterlassen und seinen toten Körper wie eine unnütze Sache verscharren (f 243; PSS 34: 248). Tolstojs Religion ist somit eine Religion des Geistes und des Guten, in der Leiblichkeit (und ihre animalischen Begierden) als ein Hindernis erfahren wird, das der Tod letztendlich beseitigt.

Mystisch gegründeter Rationalismus Zwischen religiöser Erfahrung als dem mystischen Erlebnis der unmittelbaren Gottesbindung und dem Wissen um das richtige Handeln und Leben passt in Tolstojs Religionsverständnis kein Blatt Papier, und sowohl der Ritus wie auch das Dogma verlieren ihre Funktion als ein verknüpfendes Band. Skepsis gegenüber dem Ritus und besonders gegenüber dem Dogma lässt sich zwar auch als Merkmal der Mystik interpretieren – mit der Begründung, dass christliche Mystik »eine auf Erfahrung gegründete Erkenntnisweise der Gottheit« ist, die nicht »in einseitiger Weise auf die Lehre« abhebt.31 Aber Mystik schließt dogmatische Lehre nicht aus. Beide können im Gegenteil komplementär zueinander gedacht werden, wie Vladimir N. Losskij (1903–1958) in seinem für die russische Orthodoxie grundlegenden Essay zur mystischen Theologie der Ostkirche gezeigt hat: Während die mystische Erfahrung die persönliche Erfahrung des allgemeinen Glaubens ist, ist die Theologie der allgemeine Ausdruck dessen, was jeder in der Erfahrung erkennen kann.32

Für Tolstoj sind dagegen ebenso der Ausdruck von Nichtverstehen in der Form mystischer Erfahrungsoffenbarung wie die Dogmatisierung von Lehrsätzen, die nur im Rahmen einer bestimmten positiven Religion akzeptabel sind, entweder sinnlos oder mutwillige (wenn nicht sogar betrügerische) Versuche, die klare Offenbarung des göttlichen Willens vor sich selbst und vor

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anderen zu verdunkeln (f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 328f). Bildlich gesprochen ist der Druck seines rationalistischen Mantels so stark, dass Tolstoj christliche Lehrkonstruktionen im günstigsten Fall als unsinnig bewertet (so im Falle der Trinität) oder in ihnen nicht mehr als sinnentleerte Fabeln und Legenden erkennen kann (Sündenfall, Auferstehung), sie schlimmstenfalls aber – wie im Falle der Jungfrauengeburt – als gotteslästerlich bezeichnet. Eine Kirche, die sie lehrt, ist für die wahre Religion im Verständnis Tolstojs deshalb nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich.33 Auf den Vorwurf des Heiligen Synods in der Exkommunikationsurkunde, er verneine die Trinität, das Gottmenschentum Christi und die Auferstehung von den Toten sowie die Jungfräulichkeit der Gottesgebärerin, antwortet Tolstoj nicht anders als zustimmend: Dass ich die unbegreifliche Trinität, die in der heutigen Zeit völlig sinnlose Fabel über den Sündenfall des ersten Menschen und die blasphemische Geschichte über Gott, der von einer Jungfrau geboren wurde und das menschliche Geschlecht erlöst hat, ablehne, ist vollkommen zutreffend. Aber Gott den Geist, Gott die Liebe, den einen Gott, den Ursprung von allem, leugne ich nicht nur nicht, vielmehr erkenne ich nichts Existierendes außer Gott an, und den ganzen Sinn des Lebens sehe ich nur in der Erfüllung von Gottes Willen, der in der christlichen Lehre ausgedrückt ist. (f 244; PSS 34: 248)

Das Beispiel zeigt ein weiteres Mal, wie bei Tolstoj an die Erfahrung Gottes, der als Gott der Liebe und des Geistes erfahrbar ist, unmittelbar die Morallehre anschließt. Der Komplementarität von mystischer Erfahrung und Theologie (Dogmatik) bei V.N. Losskij entspricht in Tolstojs Religionsverständnis die Komplementarität von Erfahrung und Moral: An die Stelle der Dogmatik treten Moral und Lebenspraxis. Sergej Bulgakov setzt Tolstojs religiöse Weltanschauung mit ihrer Ablehnung von Wundern und übernatürlichen Offenbarungen mit dem Rationalismus des 17. Jahrhunderts gleich.34 Rationalistisch ist Tolstoj aber nicht nur in dieser Negation, sondern v.a. auch in seinem moralistischen Verständnis der Offenbarungsschriften. Im rationalistischen Religionsverständnis ist das Ziel der Offenbarungsschriften die Offenbarung von Gottes Willen. Es handelt sich um die Formulierung göttlich sanktionierter Moral, und Tolstojs Verständnis der Evangelien stimmt damit weitgehend überein. In der russischen Kultur- und Geistesgeschichte gibt es für dieses Verständnis ein herausragendes Beispiel in dem Universalgelehrten und Aufklärer Michail Lomonosov (1711–1765), der zur klaren Abgrenzung von Theologie und Naturwissenschaften die Metapher der zwei Bücher Gottes, der Natur und der Bibel, bemühte, deren erstes die Größe und deren zweites den Willen Gottes zu unserer Rettung offenbare.35 Die Aufgabe der Ausleger und Prediger der Schrift sei es, mit diesem Buch den Weg zum tugendhaften Leben zu zeigen, also den Anspruch zu erfüllen, den anderthalb Jahrhunderte später Tolstoj an sich selbst und an jeden Bibelleser stellt. Und doch gibt es einen

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wesentlichen Unterschied zwischen diesem Rationalismus in der Religion und der rationalistischen Gewandung von Tolstojs Religionsauffassung. Dieser Unterschied liegt in der immer wieder zu betonenden inneren Erfahrung der göttlichen Natur jedes Menschen, aufgrund derer nach Tolstojs Ansicht jeder Mensch den gleichen Zugang zu Gottes Willen in sich selbst hat. Elena Meleˇsko erkennt in Tolstojs Religionsverständnis die religiös-philosophische Synthese eines »rationalen Irrationalismus« (racional’nyj irracionalizm) und »vernünftigen Glaubens« (razumnaja vera), der den neuzeitlichen Rationalismus durchbricht und stattdessen »ganz in der russischen Tradition des ganzheitlichen geistigen Wissens (cel’noe znanie) steht«.36 Dieses Wissen ist in der Sicht Tolstojs für alle Menschen gleich und führt zu einer für alle gleichermaßen gültigen Lebenspraxis. Meleˇsko spricht von Tolstojs Leben und Werk der Spätphase deshalb auch treffend von einer »Kunst des Lebens«. Machinek37 meint sogar, die »tolstojsche Religion ist eher eine Lebensphilosophie«, was allerdings ihren mystischen Erfahrungshintergrund ignoriert. Im ersten Paragraphen von Der Weg des Lebens formuliert Tolstoj die Übereinstimmung aller in dem, was der Mensch sei und wozu er auf der Welt lebe, als Leitmaxime: Damit der Mensch gut lebt, muss er wissen, was er tun soll und was er nicht tun soll. Um das zu wissen, ist Glauben notwendig. Glauben ist das Wissen darum, was der Mensch ist und wozu er auf der Welt lebt. Und dieser Glaube war und ist bei allen vernünftigen Menschen zu finden. (PSS 45: 13)

In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts und auch noch in Texten wie Mein Glaube (1883/84) suchte Tolstoj nach einer neuen Religion Christi (f 38; PSS 47: 37).38 In den Aphorismensammlungen des letzten Lebensjahrzehnts wird dagegen immer deutlicher, dass für Tolstoj das Christentum zwar die herausragende, aber nicht die einzig wahre Religion und nicht der einzige Weg zum »wahren Leben« ist. Vielmehr erlaubt die für alle gleichermaßen geltende universale Weisheit, in der alle »wahren Lehrer« der Religion(en) übereinstimmen, ein über allen positiven Religionen stehendes und sie umfassendes Religionsverständnis. Sichtbar, in ihren Ausdrucksformen, unterscheiden sich die positiven Religionen, das Christentum, das Judentum, der Islam, der Buddhismus, der Hinduismus usw. natürlich, das kann auch Tolstoj nicht verleugnen, aber er hält es wie in der Ringparabel aus Lessings Nathan, die über die Trias von Juden, Christen und Moslems auf die asiatischen Religionen erweitert wird: Unterschiedlich sind nur die Äußerlichkeiten, während das Ziel, also das richtige, moralisch gute Leben, das wiederum gleichzusetzen ist mit dem Willen Gottes, die große und allein entscheidende Übereinstimmung aller Religionen ausmacht. Im Unterschied zur Ringparabel ist der wahre Ring nicht verloren gegangen. Die

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Metapher muss leicht geändert werden: Für Tolstoj sind alle Ringe, die vor Gott und Menschen angenehm machen, aus demselben Gold und Silber geschmiedet, und das ist das eine, allen gemeinsame »Gesetz des wahren Lebens« (PSS 45: 21, 66; vgl. f H. Kuße, Anthropologie). Diese Überzeugung erlaubt es Tolstoj, nicht nur eine Evangelienharmonie zu erstellen, also innerhalb der Grundschriften einer Religion viele Stimmen zu einer zu vereinen (PSS 24: 5–798), sondern eine, wie er meint, allgemeingültige Theologie der Religionen zu entwickeln, deren Ziel es ist, störende, vom Wesen ablenkende Differenzen zum Verschwinden zu bringen. In einem Brief vom 23. November 1896 schreibt er: Ohne an die Einigung zu denken, wird der Christ all das abwerfen, was in seiner Religion nicht wahr ist, die Vergöttlichung Jesu Christi und andere Dogmen, und wenn er vorwärtsgeht und sich dem Licht (der Wahrheit) nähert, sieht er von einer ganz anderen Seite den Chinesen, den Buddhisten kommen, die ihrerseits, ohne an die Einigung zu denken, dasselbe gemacht haben, und unter ihnen wird sich die wahrhafte Union vollziehen, nicht die ein wenig künstliche, die sich auf den Kongressen ereignet. (PSS 69: 199)

So stellt er sich »die Welt wie einen gewaltigen Tempel vor, der nur von der Mitte her erleuchtet ist« (PSS 69: 199):39 »Alle müssen nur auf das Licht in der Mitte zugehen, um sich zu vereinen und die Menschheit voranzubringen«.40 Dieser Übereinstimmung werden Religionsstifter, Philosophen, Politiker und Weisheitslehrer unterworfen, ob sie nun Jesus, Mohammed, Seneca, Kant, Schopenhauer, Mazzini, Silesius, Ramakrishna oder Konfuzius heißen. Aber streng genommen bedarf es gar keiner äußeren Weisung und erst recht keiner schriftlich fixierten Offenbarung, sondern nur der inneren Erkenntnis jedes Einzelnen. Auch das rationalistisch-moralistische Verständnis der Offenbarungsschriften ist nur auf dem Grund der inneren Erfahrung des göttlichen Anspruchs, d.h. der mystischen Erfahrung Gottes, möglich. Der Ausdruck dieser Erfahrung ist die religiöse Autobiographie und das Bekenntnis der Erfahrung des göttlichen Anspruchs in der Form der Beichte. Beide Formen hat Tolstoj genutzt.

Religion als mystisch gegründeter Moralismus »Sein Religionskonzept ist ein totales System, in dem die Ethik direkt aus den Ansichten über das Wesen des Menschen und aus dem Gottesbild resultieren«, schreibt Machinek.41 Aber es geht bei Tolstoj nicht so sehr um die Ableitung einer Ansicht aus einer anderen, sondern um die Evidenz einer moralischen Verpflichtung im Lichte der unmittelbaren Gotteserfahrung. Tolstojs rigoristische Moralvorstellungen, die für ihn die Lehre Christi ausmachen, sind in seinem mystischen Religionsverständnis begründet, und

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zwar notwendig begründet. Moral im Sinne einer dem eigenen Ursprung im Unendlichen entsprechenden Lebensweise (und d.h. einer Lebensweise, die Gottes Willen entspricht; s.u.: »Religiöser Optimismus«) ist für Tolstoj ohne die in der Beziehung zu diesem Ursprung erlangte Erkenntnis gar nicht oder nur zufällig möglich. Um eine Morallehre (nravstvennoe uˇcenie) ohne die Beimischung von Aberglauben (sueverie) zu entwickeln, komme es also darauf an, einen vom Aberglauben befreiten vernünftigen Ausdruck dieser Beziehung zu finden (f 210; PSS 39: 26). Durch legendarische und dogmatische Überformung seien das Christentum wie auch alle anderen Religionen zu unterschiedlich stark ausgeprägten Formen von Aberglauben mutiert.42 Es sei aber – gegen die Kritiker der Religion gesprochen – nicht richtig, wegen der Laus des Aberglaubens den Pelz des Glaubens in den Ofen zu werfen.43 Die »Auserwählten sehen«, verteidigt Tolstoj die Religion, »durch allen Schmutz der Lüge hindurch die Wahrheit und tragen sie in ihrer ganzen Reinheit durch die Jahrhunderte und alle lügenhaften Bestrebungen hindurch, und auf diese Weise kommt die Lehre zu uns« (f 169; PSS 24: 795). Religion muss somit immer wieder gereinigt werden, und diese Reinigung beginnt für Tolstoj schon – Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung vorwegnehmend – in den Evangelien selbst, in denen die mythologische Form von der Verkündigung Jesu zu trennen sei44 (f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 330; Offenbarung und Bibel, 346). Unter anderem in seiner Evangelienharmonie und der Kurzen Darlegung des Evangeliums von 1881–83 macht Tolstoj »Tabula Rasa«.45 Die mythologische Erzählung wird von der Lehre getrennt, damit diese als universale und rational verständliche Religion dem Menschen zum richtigen Leben verhelfen kann. Denn ihre Berechtigung und ihren Sinn hat die mythologische Erzählung, wie sie in den Evangelien anzutreffen ist (Wunder, besonders die Auferstehung, Prophezeiungen, Weissagungen), nur als eine zeitgenössische Form des Beweises der Lehre. Auf sie kann deshalb verzichtet werden, wenn die Lehre selbst in ihrer Evidenz verstanden und gelebt wird (f 168; PSS 24: 793f). Versuche der Begründung von Moral jenseits von Religion vergleicht Tolstoj dagegen mit dem Spiel von Kindern, die Pflanzen ohne Wurzeln in die Erde stecken und meinen, diese ausgerissenen Pflanzen könnten anwachsen. Tolstojs Position ist klar: Ohne eine religiöse Grundlage kann es keine echte, ungeheuchelte Sittlichkeit geben, genauso wie es ohne Wurzel keine echte Pflanze geben kann. (f 210; PSS 39: 26)

Die Notwendigkeit von Religion folgt bereits phänomenologisch aus der Unabdingbarkeit von Glauben:46 Glaube ist die Kraft des Lebens. Wenn der Mensch lebt, so glaubt er an etwas. Wenn er nicht glaubte, dass er für etwas leben soll, so lebte er nicht. Wenn er das Trügerische des

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Endlichen nicht sieht, so glaubt er an dieses Endliche; wenn er das Trügerische des Endlichen versteht, so muss er an das Unendliche glauben. Ohne Glauben kann man nicht leben. (PSS 23: 35)

Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen Tolstojs mystisch gegründetem Rationalismus und Moralismus und Kants »moralischem Gesetz in mir« im »Beschluss« der Kritik der praktischen Vernunft.47 Tolstoj selbst zitiert Kant wiederholt in seinen Aphorismensammlungen als Stimme religiöser und moralischer Weisheit48 (f U. Schmid, Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, 492f), ist die motivische Ähnlichkeit tolstojscher und kantscher Oppositionen; zum Beispiel zu Kants Gegenüberstellung des Menschen als eines »tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten […] wieder zurückgeben muß« und seines Wertes »als einer Intelligenz […], in welcher das moralische Gesetz […] ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart«.49 Und auffällig ist auch das Urteilskriterium der Vernunft bei Kant und Tolstoj. Kant spricht von »Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft« als »Vernunftreligion«, die als »eigentliche Religion« der moralisch-praktische »Vernunftbegriff a priori« ist, weshalb Schrift und Vernunft nicht bloß verträglich seien, sondern zwischen ihnen Einigkeit herrsche.50 »Vernunft« (razum) ist auch bei Tolstoj ein Urteilskriterium, dem sich jede wahre Religion unterwerfen müsse, auch wenn Vernunft als solche nicht angebetet werden soll. »Die wahre Religion ist nicht die Religion der Vernunft [razum]; doch die wahre Religion kann nicht wider die Vernunft sein« (f 309; PSS 43: 182; vgl. f Ch. Münch, Glaube und Vernunft). Gott selbst ist für Tolstoj der »Anfang aller Anfänge der Vernunft« (f 57; PSS 90: 130), während das Widervernünftige der Einbruch des Teufels in die Religion sei: »Das, was nicht mit den Gesetzen der Vernunft übereinstimmt, nenne ich teuflisch …« (f 57; PSS 90: 131). Ungeachtet dieser Übereinstimmungen ist Tolstojs Religionsverständnis und seine Moralbegründung aber ebenso wenig eine Wiederholung von Kants Kritik der praktischen Vernunft wie sie eine Fortsetzung des frühneuzeitlichen und frühaufklärerischen Rationalismus ist. Denn während Kant aus der Verbindung von Glückseligkeit und Sittlichkeit religiöse Wahrheiten deduziert, indem er etwa feststellt, dass das moralische Gesetz die »Existenz Gottes, als zur Möglichkeit des höchsten Guts […] notwendig gehörig, postulieren« muss51, und das »moralische Gesetz« als Voraussetzung der Soziabilität des Menschen erscheint, die auch den kategorischen Imperativ generiert,52 ist für Tolstoj die vernünftige Religion und ihr »Gesetz des wahren Lebens« erstens eine Erfahrungsevidenz inneren Erlebens (eine »Gottesschau«), die zweitens durch die Übereinstimmung aller »wahren Lehrer« der Menschheit bestätigt wird und sich drittens im guten und richtigen Leben der einfachen Bauern als wahr erweist.

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Noch zu Lebzeiten Tolstojs hat die Tolstojkritikerin Esther Luba Axelrod im letzten Evidenzbeweis einen Zirkelschluss nachgewiesen, der indirekt auch den Abstand Tolstojs zu Kant deutlich werden lässt. Einerseits deduziert Tolstoj, so Axelrod, »die Existenz Gottes und seine Zwecke aus dem festen Glauben des Volkes«, während von ihm »andererseits die Art und Weise des Volkslebens als Resultat des Willens Gottes betrachtet wird«.53 Positiv gewertet ist dieser Zirkel kein Produkt denkerischer Unredlichkeit, sondern er zeigt, dass für Tolstoj religiöse Wahrheit und moralische Richtigkeit letztlich keine Deduktion, sondern, wie gesagt, Erfahrungsevidenzen sind: Was als das Gute erfahren wird, ist gut, und dass das Gute erfahrbar ist, zeigt, dass es ist, und damit, dass Gott ist. Eingeordnet unter die Autoritäten der Religions- und Philosophiegeschichte, lässt sich Tolstoj deshalb zum einen mit Kant vergleichen, zum anderen aber steht er Augustins Argumentation aus persönlicher Erfahrung nahe. Er steht in seinem Religionsverständnis gewissermaßen zwischen diesen beiden Größen. Aus dieser Mitte lässt sich der Religionsbegriff Tolstojs abschließend bestimmen. Auch wenn es schwer, vielleicht unmöglich ist, heute einen »allgemein akzeptierten Begriff der Religion« zu finden,54 lassen sich doch zwei wesentliche Merkmale von Religion benennen, die Henning Luther als ihre objektive und subjektive Seite bezeichnet: Objektiv an Religion ist das, was Ausdruck findet in Gestalten der Religion (Dogma, Lehre, Mythos; Kult, Riten; individuelle religiöse Praktiken …). Subjektiv ist das, was in den Subjekten zu dieser Gestaltung nötigt, antreibt, gleichsam die Religiosität, die religiöse Produktivität – im Unterschied zu den religiösen Produkten der ›objektiven‹ Religion.55

Eine analoge Gegenüberstellung findet sich bei Tolstoj in dem Begriffspaar von Glaube und Religion, wenn er schreibt, Glaube sei dasselbe wie Religion. Mit Religion aber werde eine von außen betrachtete Erscheinung bezeichnet und mit Glaube dieselbe Erscheinung, wenn sie vom Menschen in sich selbst erfahren wird (PSS 35: 171). In dieser Gegenüberstellung ist Tolstojs Religionsauffassung als vor allem subjektiv zu bezeichnen, d.h. dem Glauben, der innerern Erfahrung, gebührt der Vorrang vor Religion als äußerer Erscheinung, was unter anderem in der Suche nach Einsamkeit und Innerlichkeit zum Ausdruck kommt, in der, anders als etwa in kultischen Handlungen, allein der »wahre Glaube« zu finden sei. Der wahre Glaube bedarf keiner Kirchen, keines Schmucks, keines Gesangs, keiner großen Versammlungen. Im Gegenteil, der wahre Glaube gelangt immer nur in der Ruhe und der Abgeschiedenheit ins Herz. (PSS 45: 25)

Die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Seite von Religion im Sinne Henning Luthers geht auch mit zwei verschiedenen Religionsauffassungen konform, die ich hier zur weiteren Präzisierung des tolstojschen Religionsverständnisses einander gegenüberstellen möchte: der religionsphä-

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nomenologischen Theorie des Heiligen (Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Gustav Mensching u.a.) und der religionssoziologischen Darstellung von Religion im Rahmen der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Während religionsphänomenologisch Religion als »erlebnishafte Begegnung mit heiligen Mächten einerseits und antwortendes Handeln des Menschen andererseits« erkannt wird,56 erscheint Religion soziologisch als eine bestimmte Funktion im Gesellschaftssystem. Sie produziert »weltkonstituierenden Sinn«57 und transformiert in ihm »die unbestimmbare […] in eine bestimmbare Welt«.58 Auch diese Konstitution von Sinn ist einmal subjektiv, indem sie zur Sinndeutung des einzelnen Daseins wird, aber auch objektiv, insofern sie sich als Übereinstimmung einer Gesellschaft inszenieren lässt. Tolstojs Religionsverständnis lässt sich in beiden Theorien deuten und beschreiben. Seine religiösen Schriften sind einerseits ein Zeugnis intensiver Produktion von »weltkonstituierendem Sinn«, sie lassen sich aber ebenso als Darstellung des antwortenden Handelns auf die (insbesondere durch die Evangelien erfahrene) Ansprache Gottes lesen. Immer, d.h. sowohl als Sinnkonstitution als auch als antwortendes Handeln, ist Religion bei Tolstoj die Erkenntnis, Forderung und die Ausführung des richtigen Lebens. Letztlich werden erst im Handeln die Wahrheit und der Sinn, den die Religion offenbart, erkannt und verständlich, denn das Gesetz Gottes könne der Mensch nur dann erkennen, wenn er es ausführe (f 306; PSS 43: 305). Der Semiotiker Charles Morris (1901–1979) beschreibt den religiösen Diskurstyp als präskriptiv-inzitiv, d.h. als ein kommunikatives Handeln, das in seiner Form vorschreibend ist und das Ziel hat, dass seine Präskriptionen tatsächlich in Handlungen umgesetzt und Menschen zu »Persönlichkeiten der präskribierten Art« werden.59 Diese Definition ist sicherlich eine Engführung, die das Potential kosmologischer Welterklärung, die Möglichkeit numinoser Erfahrung und die Konstitution von Sinn im religiösen Diskurs ignoriert.60 Zum Verständnis von Religion bei Tolstoj ist Morris’ Einordnung von Religion in die Welt der Diskurse gleichwohl bemerkenswert. Denn Tolstojs Verständnis der Rede Christi und aller Weisen der Weltgeschichte sowie auch die Kommunikationsform seiner eigenen Schriften sind die eines präskriptiv-inzitiven Diskurstyps in nuce. Im Handlungsspiel dieses präskriptiv-inzitiven Diskurses erfolgt jedoch nach Tolstojs Überzeugung unmittelbar die Konstitution von Sinn. Tolstojs religiöses Denken ist terminologisch schwer festzulegen, aber die zwei Dimensionen von inzitivem, innerem Zwang zu einem bestimmten Handeln, um dem als wahr erkannten »Gesetz des Lebens« zu entsprechen, einerseits und die Erfahrung von Sinn anderseits kommen bei ihm auch in den zwei Begriffen Glaube und Religion zum Ausdruck. So bestimmt er Glaube (vera) zum Beispiel in Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen? (1901/02) als einen »seelischen Zustand« (nicht jedoch als »Hoffnung« oder »Vertrauen«), und zwar als

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»Bewusstsein des Menschen über seine Situation in der Welt, das ihn zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet« (PSS 35: 170; vgl. f R. Hodel, Ludwig Wittgenstein, 659 und f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 332). In der Erfüllung dieser Verpflichtung und damit in der Erfüllung des göttlichen Willens stellt der Mensch die Beziehung zu seinem Ursprung her, die Religion für Tolstoj definitorisch ausmacht (s.o.). In ihr erkennt der Mensch, so Tolstojs u.a. in der Beichte ausgedrückte Überzeugung, den Sinn des Lebens, der eben in der Verwirklichung des göttlichen Willens besteht.61

Religiöser Optimismus (Tolstojs Variante der Vergöttlichung) Der unmittelbare Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit erklärt die polarisierende Rezeption Tolstojs: Der großen Anziehungskraft aufgrund der Authentizität des Glaubenszeugnisses und der religiösen Erfahrung, wie sie beispielhaft in der Beichte zum Ausdruck kommt, steht die Abneigung gegen die Apodiktik der tolstojschen Moral, deren klare Unterscheidung von »richtig« und »falsch«62 die Komplexität, Kontingenz und den Antagonismus menschlichen Lebens ignoriert, gegenüber63 (f H. Kuße, Anthropologie). Es verschafft Unbehagen, wie die moralische Verpflichtung als Doktrin ohne die Zwischenstufe und das Bindeglied der sprachlichen Annäherung an das Unnahbare, an das – natürlich – immer unbegreiflich bleibende Wesen Gottes, unmittelbar, direkt und damit schmerzlich anschließt. Doch diese unmittelbare Verbindung von Mystik und Moral ist auch von dem ungebrochenen religiösen Optimismus getragen, dass die in der Religion begründete Lebenspraxis den Einzelnen wie die menschliche Gemeinschaft insgesamt besser mache. Die in den Religionen und besonders im Christentum enthaltenen Lebensideale seien zwar fast nicht erreichbare, gleichwohl aber, wie das Leben Jesu belegt, zu verwirklichende Ziele.64 Nikolaj Berdjaev sieht in Tolstojs Moralismus deshalb »die Suche nach dem Reich Gottes verborgen, das sich hier, auf der Erde, und jetzt verwirklichen soll«.65 Tolstoj selbst sagt, der einzige Sinn des menschlichen Lebens bestehe in der Errichtung des Reiches Gottes (f 187; PSS 28: 293). Peter Ernst vergleicht in einer kurzen Studie zu Tolstojs religiösem Kulturverständnis und seiner Sozialethik diese Suche nach Vollkommenheit mit Kants Idee vom »ewigen Frieden«, dem sich die Menschheit annähern, den sie aber nicht erreichen könne. Für Tolstoj liegt dieses Ziel dagegen »ganz im Bereich menschlicher Möglichkeiten. Der Reich-Gottes-Gedanke wird bei ihm vollständig enteschatologisiert«.66 Wie dieses Ideal, das Reich Gottes, verwirklicht werden kann, zeigt Tolstojs Argumentation für seine bekannteste gesellschaftliche und moralische Forderung, die Forderung dem Bösen nicht zu widerstehen.

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Tolstojs Argument ist einfach: Nur durch das Gute wird das Böse besiegt (f 143; PSS 24: 849f). Dagegen verzögert nichts so sehr die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden »wie die Tatsache, dass die Menschen es durch Taten errichten wollen, die ihm entgegenstehen: mit Gewalt« (f 304; PSS 43: 28). Solange dem Bösen mit Gewalt widerstanden wird, wird Bösem Böses hinzugefügt und auf diese Weise das Böse vermehrt. Tolstoj ist also in seiner Argumentation für den radikalen Pazifismus nicht einfach eine verantwortungsabstinente Gesinnungsethik im Sinne Max Webers (1864–1920) vorzuwerfen, vielmehr ist aus seiner Sicht Gewalt, um das Böse zu verhindern oder zu stoppen, nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch praktisch »ineffizient, unzweckmäßig«.67 Erfährt das Böse jedoch keinen Widerstand, wie es Christus in der Bergpredigt fordere, so trifft es auf das Gute und kann sich nicht vermehren und wird über die Zeit hinweg langsam abnehmen und schließlich verschwinden (PSS 28: 13). Unter Befolgung der Anweisungen der Bergpredigt, also im Akt der Akzeptanz der göttlichen Ansprache und im Vollzug des Willens Gottes, kann somit tatsächlich der ewige Frieden erreicht werden. Die Möglichkeit der Verbesserung, wenn nicht gar Vervollkommnung des Lebens durch die Religion setzt die innere Erneuerung des Einzelnen voraus, denn nur, so Tolstoj, wenn jeder Einzelne die Wahrheit des göttlichen Willens anerkenne, könne das Reich Gottes auf Erden von jedem selbst gesehen und für alle Wirklichkeit werden. So kann die »Errichtung des Reiches Gottes […] nur durch die Anerkennung der Wahrheit und das Bekenntnis eines jeden einzelnen Menschen vollbracht werden« (f 187; PSS 28: 293). In ihr verschwinden auch alle Widersprüche zwischen Menschen, da Gott in allen ein und derselbe und in der Seele jedes Menschen durch Gott dasselbe Glaubenswissen offenbart ist (f 50; PSS 17: 366). Es kommt also auf die innere Erkenntnis des Willens Gottes und seine Befolgung an, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Die allen Menschen grundsätzlich zukommende Gottessohnschaft ist zugleich eine Eigenschaft, die erworben werden muss und erworben werden kann in der Erfüllung des Willens Gottes.68 Ist dies der Fall, wird das Leben eine »Bewegung hin zur göttlichen Vollkommenheit« (f 183; PSS 28: 78). Berdjaev69 und jüngeren Datums Machinek70 sehen in diesen Überzeugungen den Ausdruck einer Selbsterlösungsreligion, in der es keines Erlösers mehr bedarf. Diese Einschätzung ist nicht ganz unberechtigt, aber doch insofern zu relativieren, als das innere »Gesetz des wahren Lebens« sich kein Mensch selbst geben kann, vielmehr ist es, ebenso wie die Kraft, es zu befolgen, von Gott gegeben. Auch wenn Tolstoj, nachdem er seine in der Beichte beschriebenen Versuche, sich der überlieferten Religion innerlich anzuschließen, aufgegeben hatte, keine Gelegenheit ausließ, gegen die orthodoxe Kirche zu polemisieren, so dass man sich schließlich zu seiner (halbherzigen) Exkommunika-

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tion gezwungen sah71 (f G. Orechanov, Russische Orthodoxe Kirche), weist sein Denken dennoch Übereinstimmungen mit der Orthodoxie auf (f P. Kolstø, Orthodoxie). Seine Überzeugung von der heilsamen Kraft der Religion hat einen Anknüpfungspunkt im Begriff »Vergöttlichung« (oboˇzenie), d.h. der Teilhabe am Göttlichen in der Erfüllung des göttlichen Willens (zum Begriff s. Felmy72). Diese war unter der Voraussetzung, dass Sünde nur eine Verdunklung, nicht aber die Zerstörung der Göttlichkeit des Menschen ist,73 grundsätzlich immer möglich und ist nach orthodoxer Lehre durch die Menschwerdung Gottes in Christus tatsächlich möglich geworden.74 Die Dogmatisierung des Gottmenschentums Christi als Voraussetzung der Vergöttlichung lehnt Tolstoj zwar ab, dessen ungeachtet aber besteht, worauf bereits Nikolaj Berdjaev aufmerksam machte, eine Übereinstimmung zur Orthodoxie in dem Gedanken, »dass man zuerst selbst zu einem richtigen Leben finden und nicht das Leben der anderen verbessern muss«.75 Die Leitung zu dieser Selbstverbesserung und -vervollkommnung findet jeder Mensch in allen Religionen und Weisheiten der Welt, weshalb Tolstoj gegen Ende seines Lebens eine Reihe von Weisheitsbüchern, Lesezyklus (1904–1908), Für jeden Tag (1907–1910), Der Weg des Lebens (1910), zusammenstellte, deren Gebrauch Lebensmeditation und eine Form der Religionsausübung sein sollte, indem der Benutzer in Akten der Erkenntnis und Selbsterkenntnis die beständige Suche nach der richtigen Lebensregel für jeden Lebensmoment vollzieht.76 Dass der Einzelne der Vollkommenheit nahe kommen und sich damit die menschliche Gemeinschaft insgesamt der Vollkommenheit annähren kann, ist – das Leben Jesu gilt als Beweis – für Tolstoj keine Utopie,77 denn der religiös-moralische Weg zur Vervollkommnung kann nicht einmal durch den Tod beendet werden. Wer den Sinn des Lebens in der geistigen Vervollkommnung sieht, kann an den Tod nicht glauben – daran, dass die Vervollkommnung abreißen könnte. Das, was sich vervollkommnet, kann nicht zerstört werden; es kann sich nur verändern. (PSS 45: 467)

Anmerkungen 1 Vgl. N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 263; s. auch H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Göttingen 2010, 29–41 und 76–85. 2 V.V. Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, Bd. 1, Teil 2, Paris 1948, 201. 3 P. Tillich, Ausgewählte Texte, hg. v. Ch. Danz u.a., Berlin/New York 2008, 36. 4 A. Augustinus, Die Größe der Seele. De quantitate animae liber unus, übers. v. C.J. Pell, Paderborn 1960, 113.

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P. Tillich, Systematische Theologie, I/II, Berlin/New York 1987, 16. S.N. Bulgakov, Svet neveˇcernij. Sozercanija i umozrenija, Moskau 1994, 52. E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 184. A.a.O., 183. Ebd. A.a.O., 184, 199. Vgl. ebd. Zit. nach J. Sudbrack, Mystische Spuren. Auf der Suche nach der christlichen Lebensgestalt, Würzburg 1990, 66. Vgl. H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit. S. auch R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten (Westf.) 1937, 64. A.M. Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a.M. 1996, 286. L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 7. A.a.O., 14. A.a.O., 8. A.a.O., 15. Vgl. E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika L.N. Tolstogo, Moskau 2006, 6. L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 42. Vgl. E.L. Axelrod, Tolstois Weltanschauung und ihre Entwicklung, Stuttgart 1902; R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 17ff; J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums zur Unbegrenztheit und zur Gemeinschaft – L.N. Tolstoj als »Seher des Geistes«, Kiel 1988 (Diss.), 6; N.A. Berdjaev, Russkaja ideja. Osnovnye problemy russkoj mysli XIX veka i naˇcala XX veka, in: O Rossii i russkoj filosofskoj kul’ture. Filosofy russkogo posleoktjabr’skogo zarubeˇz’ja, zsgest. v. M.A. Maslin, Moskau 1990, 205; M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?« Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, Erzabtei St. Ottilien 1998, 108 u.a. L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 30f. R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 95f u. 118–121; s. auch J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums zur Unbegrenztheit und zur Gemeinschaft, 7. L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 46. A.a.O., 18. Vgl. P. Fuchs/N. Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1992, 94; vgl. A.M. Haas, Mystik als Aussage, 114f. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Erster Teil (= Werke Bd. 6), hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1956, 300. Vgl. K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Schriftsteller und Bibelinterpret, Berlin 1980, 69; M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 135. Vgl. V.S. Solov’ev, Smysl ljubvi, in: Soˇcinenija v dvuch tomach, Bd. 2, Moskau 1988, 493–547; M. George, Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov’evs, Göttingen 1988, 114f. G. Wehr, Europäische Mystik. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, 11. V.N. Losskij, Oˇcerk mistiˇceskogo bogoslovija vostoˇcnoj cerkvi. Dogmatiˇceskoe bogoslovie, Moskau 1991, 9; vgl. auch M. George, Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov’evs, 103. M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 120; vgl. auch P.-A. Bodin, Eternity and Time. Studies in Russian Literature and the Orthodox Tradition, Stockholm 2007, 121. Vgl. S.N. Bulgakov, Tolstoj [1911], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, 409.

Religion

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35 Z.B. M.V., Lomonosov, Javlenie Venery na Solnce, nabljudennoe v Sanktpeterburgskoj imperatorskoj Akademii Nauk majja 26 dnja 1761 goda, in: ders., PSS 4: Trudy po fizike, astronomii i priborostroeniju 1744–1765 gg., Moskau/Leningrad 1955, 361–376.; vgl. W. Goerdt, Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke, Freiburg/München 1984, 199–202; H. Kusse, Metadiskursive Argumentation. Linguistische Untersuchungen zum russischen philosophischen Diskurs von Lomonosov bis Losev, München 2004 (= Sagners Slavistische Sammlungen, 28), 99–102. 36 E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika L.N. Tolstogo, 6. 37 M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 105. 38 R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 132–135. 39 F-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, Gießen 1959, 93. 40 Ebd. 41 M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 104. 42 Vgl. a.a.O., 120. 43 K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, 30. 44 A.a.O., 33. 45 F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 81. 46 Vgl. A. Men’, »Bogoslovie« L’va Tolstogo i christianstvo, in: L.N. Tolstoj, Ispoved’, V cˇ em moja vera?, Leningrad 1991, 85. 47 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 300. 48 Vgl. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 47–51. 49 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 300. 50 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Zweiter Teil (= Werke Bd. 7), hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1956, 659; E. Feil, Religio, Bd. 4: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 91), 689–720. 51 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 255; W. Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bd., Darmstadt 1972 [Nachdr. 1998], 203–205. 52 Vgl. J. Hruschka, Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ, in: Metaphysik und Kritik. FS für M. Baum zum 65. Geb., hg. v. S. Doyé/M. Heinz/U. Rameil, Berlin/New York 2004, 167–181. 53 E.L. Axelrod, Tolstois Weltanschauung und ihre Entwicklung, 77ff. 54 F. Wagner, Was ist Religion?, Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1991, 12. 55 H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 23; vgl. auch H. Kusse, Konjunktionale Koordination in Predigten und politischen Reden. Dargestellt an Belegen aus dem Russischen, München 1998 (= Specimina philologiae Slavicae, Supplementband 61), 53–56. 56 G. Mensching, Sprache und Religion, in: M., Kaempfert (Hg.), Probleme der religiösen Sprache, Darmstadt 1983, [Orig. 1948], 10. 57 N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977, 22. 58 A.a.O., 26. 59 Ch.W. Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973. [Orig. engl. 1946], 242–244. 60 H. Kusse, Konjunktionale Koordination in Predigten und politischen Reden, 48–50. 61 Vgl. R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 97. 62 Vgl. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 365.

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63 Vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993; L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, München 1994; W. Sandfuchs, Dichter – Moralist – Anarchist. Die deutsche Tolstojkritik 1880–1900, Stuttgart 1995; D.K. Burlak u.a. (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000. 64 Vgl. W. Sandfuchs, Dichter – Moralist – Anarchist, 35. 65 N.A. Berdjaev, Russkaja ideja, 205. 66 P. Ernst, Ehrfurcht vor dem Leben: Versuch der Aufklärung einer aufgeklärten Kultur. Ethische Vernunft und christlicher Glaube im Werk Albert Schweitzers. Mit einem Exkurs über religiöse Kultur und Sozialethik im literarischen Entwurf Leo Tolstois, Frankfurt a.M. 1991 u.a., 150. 67 J.N. Davydov, Max Weber und Lev Tolstoj. Verantwortung und Gesinnungsethik, in: J.N. Davydov/P.P. Gaidenko, Russland und der Westen, Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1992, Frankfurt a.M. 1995, 69; s. auch H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 58–63. 68 Vgl. R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, 64. 69 N.A. Berdjaev, Vetchij i Novyj Zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 259. 70 M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?«, 119. 71 Vgl. L. Müller, Die Religion Tolstojs und sein Konflikt mit der Russisch Orthodoxen Kirche, in: Russische Religionsphilosophie und Theologie um 1900, hg. v. K. Pinggéra, Marburg 2005, 1–9. 72 K.Ch. Felmy, Orthodoxe Theologie. Eine Einführung, Darmstadt 1990, 141–143. 73 R.F. Gustafson, Leo Tolstoy. Resident and Stranger. A Study in Fiction and Theology, Princeton/NJ 1986, 176–178. 74 Vgl. K.Ch. Felmy, Orthodoxe Theologie, 141–143. 75 N.A. Berdjaev, Russkaja ideja, 204. 76 H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit. 77 W. Sandfuchs, Dichter – Moralist – Anarchist, 35.

Anthropologie

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Anthropologie In seiner skandalträchtigen Erzählung mit dem harmlos schöngeistigen Titel Die Kreutzersonate (1891) lässt Tolstoj einen Mann auf einer Zugfahrt den Mitreisenden sein Ehedrama beichten, das mit der Ermordung seiner Frau endet. Diese Beichte ist Bericht, Selbstanklage und Apologie zugleich. Das Unheil habe, so der Kern der Erzählung, seine Wurzel in der erotischen Anziehung gehabt, in der Eifersucht seine Fortsetzung gefunden und aus Verzweiflung in die Tat geführt. Mann und Frau haben sich ihr Schicksal gegenseitig bereitet, und die eigentliche Ursache ihres Unglücks war, so die Botschaft des Autors durch seinen Protagonisten, dass sie sich nur als fleischliche Wesen, d.h. sexuell anziehend auf der einen und finanziell potent auf der anderen Seite (der Held war, wie er von sich selbst sagt, reich), nicht aber als Menschen, deren Wesen ihre unsterbliche Seele ist, sehen konnten. Dieser Mangel an geistig-seelischer Begegnung wog umso schwerer, als am Beginn ihres gemeinsamen Weges in den Abgrund die Vorspiegelung geistiger Werte und des Interesses am anderen als einem geistigen Wesen zu jenem Spiel gehörte, das die eheliche Verbindung begründete. Beide folgten, wie Tolstoj seinen tragischen Helden berichten lässt, den fatalen Regeln des allgemein üblichen Gesellschaftsspiels gegenseitigen Betruges: die Männer durch falsche, trügerische Eloquenz, die Frauen durch Reize, die sie, obwohl sie das Spiel als falsches Spiel durchschauen, ihrerseits ausspielen, um ihr Objekt, den Mann, zu gewinnen. Die Frauen, besonders die, die durch die Schule des Mannes gegangen sind, wissen sehr gut, dass die Unterhaltungen über erhabene Gegenstände nichts weiter als Unterhaltungen sind und es dem Mann nur um den Körper geht und alles, was ihn in einem besonders reizvollen Licht erscheinen lässt; und danach richten sie sich. (PSS 27: 22)

In diesem Vorwurf der kommunikativen Täuschung durch Rede, die andere Ziele verfolgt, als sie vorgibt, aber auch durch den Körper, der Begierden weckt, die niemals befriedigt werden und niemals Erfüllung bringen können, ist ein wesentliches und leitendes Motiv von Tolstojs Anthropologie zusammengefasst. Es ist dies die klare Gegenüberstellung und Trennung von Täuschung und Wahrhaftigkeit, von Lüge und Wahrheit und von falsch und richtig1 – mit der Botschaft, dass Menschen in der Wahrhaftigkeit und Wahrheit leben sollen, und dem Vorwurf, dass sie ihr Leben tatsächlich in

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Lüge und Täuschung verbringen. Als »Rigorist der Wahrhaftigkeit«2 unterscheidet Tolstoj dabei nicht eindeutig zwischen Wahrhaftigkeit (Ehrlichkeit) und Wahrheit oder auch zwischen richtig (im moralischen Sinne) und wahr (im epistemischen Sinne). Wenn Menschen in der Wahrheit leben, leben sie richtig – und das heißt gut – und reden und handeln wahrhaftig, also ihren tatsächlichen Überzeugungen gemäß. Sind Menschen dagegen unwahrhaftig, also unaufrichtig und nur auf die Befriedigung ihrer Begierden und egoistischen Wünsche bedacht, so leben sie nicht in der Wahrheit und können die Wahrheit nicht einmal kennen und leben falsch. Wahrheit und Wahrhaftigkeit bedingen sich für Tolstoj ebenso wie Wahrheit und richtiges (gutes) Leben. Das Ideal der Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Leben und in der Kommunikation setzt die sichere Unterscheidung von authentischer und nicht authentischer Kommunikation voraus. Mischung und Verschränkung in der Motivation und den Zielen kommunikativer Handlungen und des menschlichen Umgangs oder gar den unbewussten und ungewollten Verstoß gegen die kommunikativen Werte der Wahrheit und Wahrhaftigkeit erkennt Tolstoj nicht an. Dass menschliche Kommunikation nicht nur mehrere Ebenen haben kann, sondern oftmals haben muss, indem sie etwa zugleich dem Informationsaustausch, der Einigung über strittige Fragen und der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen dient, und dass auf diesen Ebenen zeitgleich verschiedene kommunikative Spiele gespielt werden können, die sich gegenseitig beeinflussen und die auch füreinander Ziel und Zweck sein können, ist Tolstoj als dem Verfasser der Beichte, theoretischer Schriften wie Über das Leben, aber auch dem Autor der Kreutzersonate ein Grund des vernichtenden moralischen Urteils. Seine Alternative lautet: Licht oder Schatten, niemals Licht und Schatten. Diese strikte Trennung zeigt sich sprachlich in den Attributionen dessen, was sein soll, und dessen, was Tolstoj ablehnt. So ist zum Beispiel nicht nur von Eigentum, sondern von falschem oder wahrem Eigentum die Rede: »Wenn wir unseren falschen Besitz [loˇznoe imuˇsˇcestvo] nicht aufgeben, wird uns der wahre Besitz nicht gegeben werden« (f 146; PSS 24: 863). Leben ist nicht nur Leben, sondern wahres oder falsches Leben. Meinungen und Überzeugungen sind nicht einfach Meinungen oder Überzeugungen, sondern ein wahrer (istinnaja) oder falscher Glaube (loˇznaja vera). Zu den frequenten negativen Bewertungen gehört der Vorwurf des Betrugs (obman): Jeder Glaube, der sich mit staatlicher Macht verbinde, höre auf Glaube zu sein und werde Betrug (obman), schreibt Tolstoj zum Beispiel in Kirche und Staat (f 80; PSS 23: 481; vgl. f J. Herlth, Staat und Gesellschaft, 450). Tolstojs Schriften durchzieht eine starke Emphase der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die sich nicht nur im häufigen Gebrauch von Begriffen wie Wahrheit (istina), Gesetz (zakon) oder das Gute (dobroe), sondern mehr

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noch an den adjektivischen Hervorhebungen des Wahrheitsanspruchs zeigt. Tolstoj spricht u.a. in Der Weg des Lebens (1910) von der wahren Religion (istinnaja religija), dem wahren oder echten Glauben (istinnaja vera, nastojaˇsˇcaja vera), dem echten Leben (nastojaˇsˇcaja ˇzizn’) oder wahren Gesetz des Lebens (istinnyj zakon ˇzizni), dem wahren Gesetz Gottes (istinnyj zakon Boga), dem wahren Guten (istinnoe dobro) oder der echten Liebe (nastojaˇsˇcaja ljubov’). Ebenso gibt es nicht nur das Ich oder gute Taten, sondern das wahre oder echte Ich (istinnoe »ja«, nastojaˇsˇcee »ja«) und die wahre gute Tat (istinnoe dobroe delo) und schließlich sind Weise und Lehrer wahre Weise (istinnye mudrecy) und wahre Lehrer (istinnye uˇcitelja) und vom Menschen ist der wahre oder echte Mensch (nastojaˇsˇcij ˇcelovek) zu unterscheiden.

Göttliche Seele und animalische Persönlichkeit Der emphatischen Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge oder Wahrhaftigkeit und Täuschung, die auch für Tolstojs Religionsverständnis (f H. Kuße, Religion) von zentraler Bedeutung ist, entsprechen weitere strikte Oppositionen, in denen sich für Tolstoj das Wesen des Menschen darstellt. Menschen sind geistige und fleischliche Wesen, sie haben eine göttliche Seele und eine animalische Persönlichkeit, sie haben ein innerliches und ein äußerliches Leben usw.3 Und in diesen Oppositionen ist immer nur das Erste wahr und gut, das Zweite aber falsch und böse: Gott ist innen und die Seele ist das Innere des Menschen, das fleischliche Wesen und die animalische Persönlichkeit aber sind etwas Äußerliches und ein Betrug am wahren, guten, inneren Wesen des Menschen usw. Nur das Leben im Geist ist deshalb wahres oder eigentliches Leben im Sinne Tolstojs. In ihm erkenne sich der Mensch als unendlich und unsterblich und nur durch die äußeren Bedingungen der Zeit und des Raumes begrenzt (f 295; PSS 44: 72). Das Ziel des Menschen soll und muss es folglich sein, sein Fleisch, seine Bedürfnisse und Begierden zu besiegen und ein Leben des Geistes zu leben. Das Vorbild auf diesem Weg ist Christus, der, wie Tolstoj die Erzählungen des Matthäus- und des Lukasevangeliums auslegt (Mt 4,1–11; Lk 4,1–13), in der Wüste Zweifel an seiner Gottessohnschaft durch Askese überwand: Nachdem er einige Tage ohne Nahrung in der Wüste verbracht hatte, begann Jesus Hunger zu leiden, und er dachte: Ich bin der Sohn des allmächtigen Gottes, darum muss ich ebenso allmächtig sein; doch nun habe ich Hunger, aber mein Wille bringt kein Brot zum Vorschein, also bin ich wohl nicht allmächtig. Darauf sagte er zu sich: Ich kann nicht aus Steinen Brot machen, aber ich kann auf Brot verzichten. Wenn ich also nicht allmächtig im Fleisch bin, so bin ich es doch im Geist – ich kann das Fleisch besiegen; darum bin ich der Sohn Gottes nicht im fleischlichen, sondern im geistigen Sinn. (f 137; PSS 24: 818)

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Das Beispiel legt, wie überhaupt der Gebrauch von Ausdrücken wie »göttlich« oder »animalisch«, »geistig« oder »fleischlich«, nahe, Tolstojs Anthropologie als cartesianischen Seele-Leib-Dualismus zu verstehen, wonach der Mensch gleichsam aus zwei Teilen zusammengesetzt ist: aus dem unausgedehnten und immateriellen Geist (res cogitans) und der im Raum ausgedehnten Materie (res extensa), die zwar aufeinander einwirken, aber strikt zu trennen sind. Doch diese Interpretation aus dem Denken des frühneuzeitlichen Rationalismus wäre ein Missverständnis. Näher ist Tolstojs Intention die anthropologische Voraussetzung Immanuel Kants, wonach der Mensch als »vernünftiges Naturwesen«4 kraft seiner Vernunft frei wird von der »Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«,5 aber auch damit ist seine Vorstellung vom Menschen nicht vollständig erfasst. Tolstojs Anthropologie enthält diese Dualismen, sie sind jedoch letztlich nicht grundlegend. Wesentlich sind ihr vielmehr die neutestamentlichen Entgegensetzungen von Irdischem, Vergänglichem gegenüber dem Ewigen sowie der Sünde, die zum Tod führt, gegenüber dem Geist, der zum ewigen Leben führt (Joh 3,6; 6,63; Röm 8,1–17; Gal 5,13–6,10). Bei Tolstoj sind fleischlich nicht nur die materiellen Dinge und die Biochemie des menschlichen Körpers oder auch die Sinnlichkeit, die Menschen als »Sinnenwesen« mit den Tieren teilen,6 sondern alle immateriellen (emotiven und kognitiven) Zustände des Geistes, die nicht die Liebe zu Gott und mit ihr die Liebe zu aller Kreatur, die Nächstenliebe, das Mitleid, die Fürsorge usw. zum Inhalt haben. Seinem Verdikt verfallen egoistische Wünsche und Begierden, negative oder gar böse Gedanken und Emotionen wie Hass, Eifersucht oder Neid, aber auch rationales Denken, reine Wissenschaft oder Kunst, wenn sie nicht im Dienst des Nächsten stehen (f 205; PSS 39: 21; f 215–222; PSS 30: 27ff). Eine besondere Nähe weist diese Geist-Fleisch-Opposition zum Galaterbrief des Paulus auf, in dem zum Fleisch neben Unzucht oder Unreinheit auch Eifersucht, Zorn, Zank oder Zwietracht gerechnet werden, die ins Verderben führen (Gal 5,19–20; 6,8), während die Frucht des Geistes, der das ewige Leben bringt, Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit seien (Gal 5,22–23; 6,8).

Dynamische Anthropologie Die ausschließenden Gegenüberstellungen von Wahrheit und Täuschung, Geist und Fleisch, gut und böse usw. sind schematisch, abstrakt und letztlich starr. Doch aus diesem Prinzip der Anthropologie folgt bei Tolstoj kein abstraktes und schematisches Bild des einzelnen Menschen, d.h. das Schema des Gegensatzes gilt für jeden Menschen nur insofern, als er oder sie ihm

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ausgeliefert ist, ihm nicht entkommen kann, es gilt aber nicht in der Weise, dass der einzelne Mensch schematisch der einen oder anderen Seite zugerechnet werden könnte. Tolstoj hatte, so Wilhelm-Albert Hauck in einer bereits vor sechzig Jahren erschienenen Arbeit zum Rechtsverständnis des Autors, keine statische, sondern eher eine dynamische Anthropologie. Vielleicht läßt er uns sogar teilweise einen Blick in die Dynamik seiner eigenen Persönlichkeit tun, wenn er die Festlegung eines Menschen auf irgend eine bestimmte Eigenschaft oder charakterliche Zuständlichkeit ablehnt.7

Metaphorisch ausgedrückt ist der Mensch, wie Wolfgang Dietrich schreibt, für Tolstoj »ein fließendes Phänomen«.8 Außer vielleicht Christus und einigen Heiligen und Weisen sind schwerlich Menschen zu finden, die allein aus dem Geist leben, wie es das Ideal erfordert. Es gibt für Tolstoj aber auch keine Menschen, in denen der göttliche Seelenfunke (f 278; PSS 73: 112) und das innere »Gesetz des wahren Lebens« (PSS 45: 66; f 213f; PSS 39: 115f), die auch Tolstojs mystisches Religionsverständnis (f H. Kuße, Religion) begründen, erloschen und zerstört wären. Menschen sind weder nur gut noch nur böse, weder nur verständig, noch nur dumm, weder nur erfüllt von Nächstenliebe noch nur von Egoismus usw., sondern bewegen sich in ihrem Leben immer in die eine oder andere Richtung. Die aufrechte und lebensbejahende Anna Karenina verfällt im gleichnamigen Roman (1875–77) immer mehr ihren fleischlichen und egoistischen Begierden, die schließlich im Selbstmord enden (PSS 18 und PSS 19). Vasilij Pozdnyˇsev, der tragische Mörder seiner Frau in der Kreutzersonate, ist kein in sich böser Charakter. Der Fürst Nechljudov aus Tolstojs Roman Auferstehung (1899), der durch seine Verführung das Bauernmädchen Maslova ins Elend stürzte, erkennt seine Tat und erlebt in der moralischen Läuterung seine persönliche innere Auferstehung (PSS 32). Der betrügerische Kaufmann und Ausbeuter Vasilij Andreiˇc Brechunov aus der Erzählung Herr und Knecht (1895) besinnt sich, gefangen in Schnee und Kälte, dass das Leben nicht nur Geschäft, sondern vor allem Gemeinschaft ist, und rettet mit seinem eigenen Leib seinem Knecht Nikita das Leben, den eigenen Tod froh in Kauf nehmend (PSS 29: 3–46; vgl. f U. Schmid, Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, 495). Und schließlich schildert Tolstoj sein eigenes Leben in der Beichte als sukzessive Befreiung von Selbstbetrug und egoistischen Begierden. Die Reihe von narrativen Konkretisierungen der dynamischen Anthropologie des Einzelnen lässt sich fortsetzen. Sie macht den Kern des erzählerischen Werks Tolstojs aus und motiviert seinen u.a. von Lev Sˇestov beschriebenen Predigtstil und ausgeprägten Bekehrungswillen in den theoretischen Schriften der zweiten Lebenshälfte.9 Denn Tolstoj vertritt aufgrund seines

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von der Anthropologie kaum zu trennenden Religionsverständnisses (f H. Kuße, Religion) einen mystisch-religiösen und anthropologischen Optimismus, dem zufolge jeder Mensch sich grundsätzlich der Vollkommenheit annähern kann, wenn er seine animalische Persönlichkeit überwindet und sich auf den Weg macht, immer mehr seinem geistigen und das heißt göttlichen Wesen zu entsprechen. Bei aller Kritik an seiner Gegenwart und der ihn umgebenden, insbesondere der adligen Gesellschaft, hält Tolstoj die Annäherung an das Ideal des rein geistigen Lebens aller für möglich, weil er in der Dynamik des Lebens des Einzelnen als stärkste Triebfeder den Willen zum Guten und zur Vollkommenheit voraussetzt. Menschliches Leben ist, so Tolstoj in Über das Leben (1886/87), »ein Streben nach dem Heil« (PSS 26: 434). Dieses zu erreichen bedarf es der Abkehr von der Welt und dem irdischen Leben, also der religiösen und moralischen Umkehr (metanoia) aus dem Leben des Fleisches hin zum Leben des Geistes (f H. Kuße, Religion, 418).10

Kritik an den Institutionen In Der Weg des Lebens stellt Tolstojs eine einfache Regel auf: »Verbessern kann der Mensch nur das, was in seiner Macht steht – sich selbst« (PSS 45: 202; vgl. f J. Herlth, Staat und Gesellschaft, 458). Skeptisch ist er deshalb gegenüber allen religiösen, sozialreformerischen oder gar revolutionären Handlungen und Handlungsabsichten (einschließlich des Tolstojanismus), die nicht mehr den Einzelnen ansprechen, sondern »die Menschheit« oder bestimmte, nach dem Geschlecht (»die Frau«) oder der sozialen Stellung (»die Bauern«, »die Arbeiter«) geformte Gruppen zu ihrem Objekt machen. Unter anderem lehnt er den Sozialismus ab, weil dieser seine Aufmerksamkeit nur auf die äußeren ökonomischen Bedingungen der Menschen richtet, sich nicht aber der wesentlichen inneren Erneuerung von Menschen widmet (f O. Caspers, Sozialismus).11 Ebenso bringt sozialer Fortschritt (social’nyj progress) nur scheinbar Verbesserungen, ändert aber nichts am moralischen Niveau einer Gemeinschaft. Einen positiven Einfluss sozialer Veränderungen auf die Moral der Gemeinschaft zu erwarten, sei dasselbe, wie zu denken, dass allein der Bau eines Ofens, ohne ihn mit Brennholz zu beheizen, Wärme erzeuge (f 209; PSS 39: 25). Vollkommen können Gemeinschaften nur durch die Gemeinsamkeit aller Einzelnen werden, die sich freiwillig und aus eigener Einsicht dem wahren, authentischen, asketischen und reinen Leben annähern. Das illustriert Tolstojs Ratschlag an einen jungen Mann, der unsicher war, ob er sich dem Militärdienst entziehen sollte, nur dann den Dienst an der Waffe zu verweigern, wenn er selbst innerlich ganz vom Unrecht des Militärs und jeder Gewaltanwendung überzeugt sei: »Alle Hand-

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lungen sollen nicht aus dem Wunsch geschehen, irgendwelchen Regeln zu folgen, sondern weil es ganz unmöglich wäre, anders zu handeln«.12 Der Zwang zum Ideal und die aufgezwungene Reform, die den Einzelnen nur äußerlich zu Veränderungen seines Lebens bringen, ändern dagegen substantiell an der Minusseite des einzelnen menschlichen Lebens und in der Summe aller menschlicher Leben nichts. Tolstoj richtet seine Kritik gegen alle Institutionen, die auf unterschiedliche Weise (durch Zwang, Überredung, Bequemlichkeit, finanziellen Gewinn u.a.) Menschen davon abhalten, ihrem inneren »Gesetz des wahren Lebens«, d.h. dem Gesetz der Liebe zu Gott und dem Nächsten, zu folgen. Er spart keine Institution aus und polemisiert gegen Kirche, Staat, Recht, Wissenschaft usw. (s. auch f R. Grübel, Existenzialismus und f J. Herlth, Staat und Gesellschaft). Der Glaube an »wissenschaftliche Wahrheiten« ist, so Tolstoj im Kapitel »Falsche Wissenschaft« in Der Weg des Lebens, ein Aberglaube (sueverie). Denn Wissenschaft sei nichts weiter als die Fixierung auf einige zufällige Kenntnisse aus dem unbegrenzten Bereich des Wissens, die von müßigen Leuten, die sich von notwendigen Arbeiten fernhalten und deshalb amoralisch leben, gesammelt worden seien (PSS 45: 296). Der wissenschaftliche Aberglaube kann sogar gefährlich werden, wenn modische Theorien Verabsolutierung erfahren und die soziale Gemeinschaft in Gefahr bringen – wie im Falle der Evolutionstheorie, vor deren sozialdarwinistischen Folgerungen Tolstoj bereits in Religion und Sittlichkeit (1893), also zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, eindringlich warnte (f 205f; PSS 39: 21). Einen nicht weniger gefährlichen Aberglauben sieht Tolstoj in der Institution der Kirche, die sich wie die Wissenschaften der Rechtfertigung bestehender Übel verschrieben habe13 und mit ihren unverständlichen Dogmen und unsinnigen Ritualen Menschen von ihrer Selbst- und Gotteserkenntnis und damit vom guten, gottgewollten Leben abbringe. Das Gleiche gilt für die Institution des Rechts. In seinem Brief an einen Studenten über das Recht bezeichnet er »Recht« als »die gröbste Rechtfertigung von Gewalttätigkeiten, die von den einen Menschen an den anderen verübt werden« (PSS 38: 56). Der »Betrug, welcher ›Recht‹ heißt«, ist für ihn die »Hauptursache der Amoralität der Menschen unserer christlichen Welt« (PSS 38: 58).14 Die Apotheose des Übels aber ist für den Rechtsnihilisten Tolstoj im Staat zu sehen, der durch seine bürokratische Verfassung und durch seine Institutionen, die Kirche, das Recht, das Militär usw., den Menschen nicht nur in seiner Selbstund Gotteserkenntnis hemme und ihm Unrecht widerfahren lasse, sondern ihn zu einem seelenlosen Wesen im Mechanismus des Staatsapparats degradiere. Dies ist um so schlimmer, als die Zerstörung des Einzelnen von der Ideologie des Patriotismus und der Vaterlandsliebe begleitet werde, die Menschen nach ihrer Staatsangehörigkeit in Freunde und Feinde einteile

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und überhaupt ein grober Betrug am Menschen sei – so Tolstoj in Mein Glaube von 1884, wo er sich selbst als ehemaligen Anhänger dieser Ideologie beschreibt (f 122f; PSS 23: 460f). Der Gipfel der Degradierung des Einzelnen und der Kultivierung des Bösen ist das Militär. Dessen negative Wirkung aus der Sicht Tolstojs hat bereits Wilhelm-Albert Hauck treffend mit dem Begriff der Vermassung zusammengefasst15 und in diesem Zusammenhang auf Krieg und Frieden und die hier »von Tolstoi mit vollendeter Meisterschaft gezeichneten Truppenbilder« verwiesen, die »die große Maschinerie, zu der das Militär die Menschen zusammenschmiedet«, charakterisieren.16 In seinem Kommentar Einige Worte zum Buch ›Krieg und Frieden‹ (1867) sieht Tolstoj in der selbstzerstörerischen Bewegung von Menschenmassen im Krieg das gleiche »elementare zoologische Gesetz« wirken, das auch »die Bienen erfüllen, wenn sie sich zum Herbst hin gegenseitig vernichten« (PSS 16: 14). Ist aus Menschen erst eine Menschenmasse geworden, so lösen sich elementare moralische Standards auf, und Millionen bringen einander um, obwohl es »seit der Schöpfung der Welt bekannt ist, dass das physisch und moralisch verwerflich ist« (ebd.).

Gemeinschaft und Bildung Nicht alle Institutionen menschlicher Gemeinschaften sind von vornherein negativ zu bewerten. Da im Denken Tolstojs der Mensch ein gemeinschaftliches Wesen ist, denn sonst hätten die Gottes- und Nächstenliebe und somit das Leben nach dem »Gesetz des wahren Lebens« weder Sinn noch Inhalt, sind Institutionen im Sinne unmittelbar zwischenmenschlicher Gemeinschaften, also Ehe und Familie, ebenso wie Institutionen, die im positiven Sinne gemeinschaftsbildend wirken können – dazu zählen die Schule und die Kunst – zumindest ambivalent zu beurteilen. In allem moralischen Rigorismus, der dem Einzelnen eine asketische Lebensform vorschreibt, um ein Leben des Geistes zu führen, ist bei Tolstoj doch immer auch die menschliche Gemeinschaft als Ziel menschlichen Lebens im Blick. Das seit den frühen Slavophilen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im russischen religiös-philosophischen Denken entwickelte, namentlich mit Aleksej Chomjakov verbundene Ideal der Gemeinschaftlichkeit (sobornost’) wird auch von Tolstoj geteilt. Aber bei ihm wird das Ideal universal und auf die gesamte Schöpfung ausgeweitet. Ein Jahr vor seinem Tod formuliert er es als Gebet für Kinder (Detskaja molitva): Ich lebe durch den Körper und durch die Seele. Der Körper erkrankt, altert und stirbt. Die Seele erkrankt nicht, sie altert nicht und sie stirbt nicht. Der Körper freut sich nur über das Gute in sich selbst, die Seele freut sich über das Gute in allem Lebendigen. In der Seele

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wohnt Gott, und Gott will das Gute für alle, deshalb will die Seele das Gute nicht nur für sich, sondern für alles Lebendige. Ich werde also nicht durch den Körper, sondern durch die Seele leben, um mich nicht über das Gute in meinem Körper, sondern über das Gute in allem Lebendigen zu freuen. (f 283; PSS 90: 144)

Gemeinschaftlichkeit ist auch der Anspruch, den Tolstoj an die Kunst stellt. Kaum eine Schrift ist wahrscheinlich auf mehr Unverständnis gestoßen als Was ist Kunst? (1897/98) mit ihrer rigorosen Ablehnung aller individuellen künstlerischen Leistungen, seien es die Gedichte Puˇskins oder die Symphonien Beethovens. Auch sich selbst nimmt Tolstoj nicht aus und verdammt seine eigenen Romane. Diese Kunstwerke nützen, so das Urteil, weder dem Leben noch der Gemeinschaft und sind deshalb eitel und eine Abkehr vom »wahren Gesetz des Lebens«. Aber Tolstojs Rede über Kunst ist nicht nur negativ. Sie hat auch eine positiv bestimmte Kehrseite (oder Vorderseite), die einmal mehr mit dem Attribut wahr bzw. echt von der betrügerischen, falschen Kunst der Individuen abgegrenzt wird. Die echte Kunst (nastojaˇsˇcee iskusstvo) ist zugleich die christliche oder wahrhaft christliche Kunst (christianskoe, istinno-christianskoe iskusstvo) und als solche, ohne dass sie als Erscheinung transzendenter Ideen missverstanden werden darf (für Tolstoj ist das eine metaphysische Missinterpretation der Kunst), »ein für das Leben und das Streben nach Heil des einzelnen Menschen und der Menschheit unabdingbares Mittel zur Verständigung« (f 215; PSS 30: 66). Indem sie die unmittelbaren Empfindungen von einem Menschen zum anderen überträgt und, wie Tolstoj sagt, anzustecken vermag17 (f S. Sasse, Kunst), vereinige Kunst Menschen in denselben Gefühlen und wirke auf diese Weise gemeinschaftsbildend. Allerdings könne allein die christliche Kunst die Vereinigung aller Menschen ohne Ausnahme bewirken, während die nicht christliche Kunst nur der Gemeinschaft einiger Menschen diene und damit auch ein Mittel der Ausgrenzung sei (f 217f; PSS 30: 157). Die Aufgabe der Kunst ist also die Bildung und Festigung der Gemeinschaft. Sie soll bewirken, »dass die Gefühle der Brüderlichkeit und der Nächstenliebe, die heute nur den besten Menschen der Gesellschaft zugänglich sind, zu einer Gewohnheit […] werden« (f 221; PSS 30: 195) und alle erkennen, dass »das Heil der Menschen in ihrer Einheit untereinander liegt« (f 221f; PSS 30: 195). Wichtiger noch als die Kunst sind für das Ideal der Gemeinschaftlichkeit Ehe und Familie. Ihnen kommt im Denken (wie auch im persönlichen Erleben) Tolstojs eine Schlüsselrolle zu. Meleˇsko18 macht darauf aufmerksam, dass Tolstoj alle Formen des Bösen durch das Prisma des familiären Bösen (zlo semejnoe) wahrnahm und durchlebte, weshalb er seine eigenen familiären Erfahrungen auch als »subjektiv-allgemeinmenschlich« (sub˝ektivnoobˇsˇceˇceloveˇceskij) bezeichnete.19 Das Paradoxon von Ehe und Familie besteht darin, dass sie einerseits Ausdruck der gegenseitigen Liebe von Menschen und der vorbehaltlosen Sorge füreinander sind, andererseits aber die Liebe

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von der Zugehörigkeit zur konkreten Gemeinschaft abhängig machen und damit gegen das Prinzip des idealen Lebens des Geistes verstoßen, das Tolstoj in der Kurzen Darlegung des Evangeliums aufstellt: »Für das geistige Leben gibt es keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden« (f 144; PSS 24: 860). Die familiäre Gemeinschaft neigt dagegen zur Abgrenzung und kann doch nicht (oder vielleicht sogar gerade deshalb) Streit und Böses zwischen ihren Mitgliedern verhindern – oftmals sind die Konflikte nach innen sogar schärfer und böser als nach außen (f 208f; PSS 39: 24). So kann die enge Gemeinschaft, die in Liebe verbunden ist oder sein will, zum Ort des Bösen werden, das erst dann überwunden wird, wenn die Familie geistig wird, also das, was sie auf den ersten Blick vital vereint, die körperliche Verbindung in der leiblichen Verwandtschaft, in ihr keine Rolle mehr spielt.20 Das Vorbild ist wiederum Jesus, für den seine Mutter und seine Brüder als leibliche Verwandte nichts bedeuteten und der als seine wahren Verwandten alle Menschen ansah, die nach dem Willen Gottes leben (Mt 12,46–50). Ein Mensch, der das Leben des Geistes führt, hat, so Tolstoj, kein Heim, an das er gebunden ist (f 144; PSS 24: 860f). Dass aber dieses Leben und diese allgemeine Liebe nicht unverbindlich werden, folgt, mit einem Ausdruck von Elena Meleˇsko, aus der »Logik der Konkretisation«, in der die »Liebe zu allen« die »Liebe zu dem einen Geist« in allen ist.21 Der Ort, an dem Menschen sich zu einem Leben im Geist, in der universalen Liebe zu allem Lebenden entwickeln können, ist für Tolstoj die Schule – vorausgesetzt, dass sie keine Institution staatlicher Deformierung des wahren Wesens von Menschen ist. Tolstoj teilt zwar nicht den radikal-erzieherischen Gedanken Kants, der Mensch sei nichts anderes als das, was die Erziehung aus ihm mache,22 sieht in der schulischen Pädagogik aber ein wesentliches Instrument, dem Menschen zu seinem eigentlichen Wesen zu verhelfen. Zum Verständnis von Tolstojs Vorstellung vom Menschen ist deshalb auch seine pädagogische Tätigkeit und ihre dokumentarische Darstellung in den Schriften über die Schule von Jasnaja Poljana zu berücksichtigen. Tolstoj eröffnete seine erste Schule für die Bauernkinder auf seinem Gut bereits 1849. Die aktivste Zeit der pädagogischen Tätigkeit fällt aber in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen Tolstoj 14 Schulen für Bauernkinder gründete und sich intensiv grundsätzlichen pädagogischen Entwürfen widmete, die er in seiner Zeitschrift Jasnaja Poljana publizierte (1861/62) – zum Teil in Reaktion auf seine Auslandsreisen (1857, 1860/61) und die dort gesammelten Erfahrungen in europäischen Bildungseinrichtungen.23 1862 mussten die Schulen aus politischen Gründen schließen, auf seinem Gut konnte Tolstoj von 1869 bis 1875 aber wieder Unterricht durchführen. In diese dritte Phase fällt auch die Arbeit an seinem Schullesebuch Das Alphabet (1872),24 das bis heute immer wieder neu aufgelegt wird (zuletzt 2009).

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In seiner praktischen pädagogischen Tätigkeit wie auch in seinen Schriften zur Schule ließ sich Tolstoj von seiner anthropologischen Grundüberzeugung leiten, dass im Wesen jedes Menschen das »wahre Gesetz des Lebens« begründet ist und nur durch zivilisatorische Überformung und die Vergötzung des fleischlichen Lebens verdunkelt wird. Damit aber das geistige Wesen sich entfalten kann, soll die Schule so wenig wie möglich auf die Kinder direkt einwirken und weder belohnen noch bestrafen (PSS 8: 36). Diese Überzeugung rückt Tolstojs Pädagogik in die Nähe Rousseaus (f J. Herlth, Jean-Jacques Rousseau) und ließ ihn zum Vorläufer der reformpädagogischen Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts25 werden. Tolstoj machte jedoch keine Abstriche an seinen rigorosen und asketischen Moralvorstellungen, vielmehr sollten Freiheit und Disziplin eine Synthese eingehen. Freiheit nach Tolstoj bedeutet vor allem, »fähig zu sein, seine eigenen Schwächen zu überwinden«.26 Dazu soll Erziehung helfen, indem sie die Einsicht in das wahre Gesetz des Lebens stützt und die innere Stimme des Gewissens weckt.27 Erziehung, die auf äußerlicher Disziplinierung beruhe, führe das Kind dagegen in die Welt des Betrugs ein, zerstöre also gerade die hohe Moral, die jedem Menschen gegeben ist. Dagegen begehren die Kinder auf: Da sie sich nur den natürlichen Gesetzen unterordnen, die allein aus ihrer Natur stammen, murren sie und begehren auf, wenn sie sich Ihrer voreiligen Einmischung unterordnen, sie glauben nicht daran, dass Ihre Glocken, Stundenpläne und Regeln rechtens sind. (PSS 8: 36) Unsere Kinderwelt – die der einfachen, unabhängigen Menschen – soll rein bleiben von Selbstbetrug und von dem verbrecherischen Glauben an das Gesetz der Strafe, von dem Glauben und dem Selbstbetrug, dass das Gefühl der Rache dadurch gerecht wird, wenn wir es Strafe nennen. (PSS 8: 39)

Mann und Frau Noch zu Lebzeiten Tolstojs, zehn Jahre nach der Kreutzersonate, stellte die Tolstojkritikerin Esther Axelrod fest, dass Tolstojs Ansicht über die Ehe im innigsten Zusammenhang mit der ganzen tolstoischen Weltanschauung steht […]. Wird einmal die unpersönliche Liebe als höchster Zweck und höchste Glückseligkeit aufgefasst, so muss consequenterweise mit der Verleugnung jeder Art persönlicher Liebe auch die geschlechtliche negiert werden.28

Aber Tolstojs Verurteilung der Sexualität und seine teilweise Dämonisierung des Weiblichen als des teuflischen sexuellen Stimulus schlechthin29 ist nicht nur eine Konsequenz aus der Forderung universaler Liebe. Sie ist zugleich in der Trennung und wertenden Gegenüberstellung des geistlichen Wesens des

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Menschen und seiner animalischen, d.h. fleischlichen Persönlichkeit begründet, die es zu überwinden gelte. Sexualität ist für Tolstoj der Betrug des Körpers am Geist. Die Ehe als äußerliche Institution ändert daran nichts, solange auch in ihr die Begierde (pochot’) die Menschen bestimme (f 118; PSS 23: 456). Die Ehe als Ort der Befriedigung sinnlicher Begierden bleibt, wie Tolstoj im Nachwort zur Kreutzersonate schreibt, ein »Dienst am eigenen Ich« (sluˇzenie sebe). Als solche ist sie »eine Behinderung des Dienstes an Gott und den Menschen [prepjatstvie sluˇzeniju bogu i ljudjam] und deshalb vom christlichen Standpunkt aus Fall und Sünde« (PSS 27: 87). Auch die Geburt und Erziehung von Kindern sei dafür keine Rechtfertigung, denn statt Kinder zu zeugen und zu gebären, wäre es im Geiste der Liebe besser, die Millionen Kinderleben zu retten, die an geistigem und materiellem Mangel zugrunde gehen, während neue Kinder geboren werden (ebd.). Eine sündlose Ehe sei dem Christen nur dann möglich, so Tolstoj, wenn er sicher sein könnte, dass das Leben aller Kinder, die bereits auf der Welt sind, gesichert ist (ebd.). Die Freiheit zur Liebe zu allen Menschen wird durch die sinnliche, sexuelle Begierde eingeschränkt. Deshalb erscheint Keuschheit für Tolstoj unbedingt besser als Ehe. Die Einschränkung der Freiheit aber betrifft in erster Linie den Mann, der nahezu unüberwindlich von seiner Begierde regiert werde,30 während Frauen vor allem auf die männliche Begierde reagieren, indem sie ihr nachgeben oder sie auch verstärken, um Männer für sich zu gewinnen. Es ist sicher übertrieben, in Tolstojs Frauenbild einen »Beitrag zur Frauenemanzipation« zu sehen, wie Thaeter31 meint, aber Tolstoj erkennt im sexuell bestimmten Verhältnis von Mann und Frau auch die Erniedrigung und Entpersönlichkeit von Frauen zu sexuellen Objekten. Seinen Ehefrauenmörder lässt Tolstoj in der Kreutzersonate das heiratsfähige Mädchen als eine »Sklavin auf dem Markt« (raba na bazare) beklagen (PSS 27: 25). Da aber schon das Mädchen und später die Frau zum Objekt der Begierde, zur Sklavin erniedrigt wird, lässt sich wiederum ihr Gebrauch sexueller Reize gegenüber dem Mann als eine sublime Form der Rache deuten.32 Die Tragik, die sich Frau und Mann in diesem Spiel selbst bereiten und die literarisch in der Kreutzersonate im Frauenmord endet, ist die Zerstörung von Gemeinschaftlichkeit, zu der sowohl Frauen wie auch Männer nach Gottes Willen berufen sind.33 Die Gemeinschaftlichkeit aber können Männer und Frauen wiedererlangen, wenn sie die Aufgaben erfüllen, die ihrem Geschlecht zukommen. Unter dieser Voraussetzung propagiert Tolstoj ein traditionelles – genauer gesagt: traditionell-bürgerliches – Frauen- und Männerbild, das er in dem Satz zusammenfasst: »Die Frau leistet etwas Großes: Sie gebiert Kinder, aber sie gebiert keine Gedanken, das macht der Mann« (PSS 56: 325).34 Das »allge-

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meine Heil« (blago obˇsˇcee) (ebd.), das allen Menschen als Ziel vor Augen stehen soll, wird in Tolstojs Menschenbild von Männern und Frauen auf jeweils anderem Wege erreicht. Gesellschaftliche und künstlerische Tätigkeit fallen nur dem Mann zu, während die Frau ihre Rolle in der Familie findet. Nicht die in der Sicht Tolstojs äußerlich emanzipierte, selbstständige Frau, die unabhängig von familiären Bindungen in der Gesellschaft leben will, befreit sich aus dem Sklavenstand, der Frauen in der Zivilisation zugemutet wird, sondern nur die mütterlich in der Familie wirkende Frau. Sie lebt in Tolstojs Vorstellung im Gegensatz zur individualistischen »Gesellschaftsfrau« »gemäß dem Gesetz des göttlichen Prinzips«35 und entzieht sich gerade dadurch der Verdinglichung in sexueller Begierde. Das wiederum ist auch ein Dienst am Mann, denn nur wenn alle Begierden, beginnend beim Fleischgenuss und endend in der Sexualität, von einem Menschen überwunden werden, wird er in Tolstojs dualistischem Menschenbild frei, ein geistiges Wesen sein zu können, das ausschließlich der Gottes- und Nächstenliebe lebt. Was sollen Mann und Frau tun, die in einer Ehe leben und in der Aufzucht und Erziehung von Kindern jenen beschränkten Dienst für Gott und die Menschen erfüllen, der sich aus ihrer Situation ergibt? Immer das Gleiche: Sie sollen danach streben, sich von der Versuchung zu befreien, rein zu werden und ihre Sünde zu überwinden, um stattdessen zu Beziehungen zu gelangen, die den allgemeinen und persönlichen Dienst an Gott und an den Menschen möglich machen, um die fleischliche Liebe durch die reinen Beziehungen von Schwestern und Brüdern zu ersetzen. (PSS 27: 90f)

Das Keuschheitsideal, das Tolstoj gegen das in seinem Wesen animalische Leben des Menschen in der Zivilisation setzt, hätte, wenn es von allen Menschen angenommen würde, eine praktische Konsequenz, die es ad absurdum zu führen scheint. Tolstoj spricht diese hypothetische Konsequenz, das Aussterben der Menschheit, in seinem Nachwort zur Kreutzersonate direkt an und antwortet auf eine bemerkenswert abwehrende Weise. Es komme darauf an, einem Ideal zu folgen, auch wenn es nie für alle Menschen erreichbar sei, denn das Ideal sei wie ein Kompass, der dem Wanderer die richtige Richtung seines Weges angebe. Mehr noch: Das Ideal zeige dem Menschen zugleich seine Entfernung vom Ideal (PSS 27: 85) und verhelfe ihm zur Demut. Tolstojs Biograph Geir Kjetsaa kommentiert und führt den teleologischen Aspekt des tolstojschen Vollkommenheitsideals weiter aus: Mit der Verdammung von Sex und Fortpflanzung hat Tolstoj sich zum Sprecher eines Vollkommenheitsideals gemacht, dessen Stärke gerade in seiner Unerreichbarkeit liegt: Der Mensch solle Keuschheit erstreben, aber das Ideal könne erst in einer unendlich fernen Zeit erreicht werden. Das Wichtigste für ihn war, den Fortpflanzungseifer selbst in Frage zu stellen: Was ist der Zweck? Zeugen wir Kinder, damit sie Kinder zeugen, die Kinder zeugen? Und so weiter bis ins Unendliche? Die Frage ist von der gleichen Art wie die folgende: Bilden wir Lehrer aus, damit sie Lehrer ausbilden, die Lehrer ausbilden? Tolstoj

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will aus diesem Kreislauf heraus. Hat man sein Leben gelebt, hat man den Weg zurückgelegt und das Ziel erreicht, muss es genug sein. Es hat keinen Zweck, die Strecke durch seine Nachkommen noch einmal zurückzulegen.36

Leben und Tod Das Ideal des geistigen Lebens steht für Tolstoj über allem. Tod und Leben werden in der Unterscheidung des nur Animalischen und nur Geistigen, die dem Ideal vorausgesetzt ist, nicht im eigentlichen Sinne physisch unterschieden, sondern es wird das Physische und Animalische selbst mit dem Tod identifiziert, während das geistige und seelische Leben unsterblich ist, unabhängig von der physischen Existenz. Diese Unsterblichkeit des Geistes und der wahren Lebenskraft eines Menschen ist für Tolstoj kein Postulat und kein Versprechen jenseitigen Lebens. Im Leben, d.h. im eigenen Erleben, sei die unsterbliche Lebenskraft des Geistes der Verstorbenen spürbar. Das gibt Tolstoj die Gewissheit der Unsterblichkeit der eigenen geistigen Lebenskraft: Mein Bruder starb gestern oder vor tausend Jahren, und dieselbe Kraft seines Lebens, die während seiner körperlichen Existenz wirkte, wirkt weiterhin noch stärker in mir und in Hunderten, Tausenden, Millionen von Menschen, ungeachtet dessen, dass das Zentrum der Kraft dieser seiner zeitweiligen körperlichen Existenz aus meinem Blick verschwunden ist. (f 178; PSS 26: 414)

Geist, Leben und das Gute einerseits ebenso wie Fleisch, Tod und das Böse andererseits liegen für Tolstoj jeweils auf einer Ebene. Sie sind nahezu identisch oder doch so ineinander verschränkt, dass das eine jeweils das andere mitbedeutet. In der Kurzen Darlegung des Evangeliums (1881–83) sieht Tolstoj deshalb jeden Menschen in der Wahl zwischen Leben und Tod, die er mit der Entscheidung für oder gegen den Geist und das Gute gleichsetzt: Die Menschen können selbst zwischen Leben und Tod wählen. Das Leben ist im Geist, der Tod ist im Fleisch. Das Leben des Geistes ist das Gute, das Licht; das Leben des Fleisches ist das Böse, die Dunkelheit. An den Geist glauben heißt, die Werke des Guten tun; nicht an ihn glauben heißt, die Werke des Bösen tun. Das Gute ist das Leben, das Böse ist der Tod. (f 139f; PSS 24: 832)

Der physische Tod wird bedeutungslos. »Welcher Tod?« lässt Tolstoj den sterbenden Ivan Il’iˇc in der Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886) innerlich fragen: »Da war überhaupt keine Furcht, weil es auch keinen Tod gab. Anstelle des Todes war Licht« (PSS 26: 113; vgl. f R. Grübel, Existenzialismus, 675). Und der physische Tod bekommt eine neue Deutung. Da menschliches Leben »ein Streben nach dem Heil« ist (PSS 26: 434; s.o.),37 endet das Leben eines Menschen, weil in dieser Welt das Heil seines wahren Lebens sich nicht vergrößern kann, nicht aber weil seine Lungen krank sind oder weil er den Krebs hat oder weil man auf ihn geschossen oder eine Bombe geworfen hat. (PSS 26: 422)38

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Anmerkungen 1 Vgl. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph, Gernsbach 2001, 365; s. auch H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Göttingen 2010, 16–25. 2 W. Dietrich, Russische Religionsdenker. Tolstoj – Dostojewski – Solowjew – Berdjajew, München 1994, 30. 3 Vgl. I.B. Mardov, Lev Tolstoj. Drama i veliˇcie ljubvi. Opyt metafiziˇceskoj biografii, Moskau 2005, 5ff. 4 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 2. Teil (= Werke Bd. 7), hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1956, 550 [A 65]. 5 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 489 [A 534]. 6 A.a.O., 550 [A 65]. 7 W.-A. Hauck, Rudolf Sohm und Leo Tolstoi. Rechtsordnung und Gottesreich, Heidelberg 1950, 169. 8 W. Dietrich, Russische Religionsdenker, 30. 9 L. Sˇestov, Dobro v uˇcenii gr. Tolstogo i Nicˇse (Filosofija i propoved’), in: Izbrannye soˇcinenija, hg. v. V. Erofeev, Moskau 1993, 48; L. Sˇestov, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, München 1994, 2 und H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Göttingen, 86f. 10 Vgl. K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Schriftsteller und Bibelinterpret, Berlin 1980, 69 und M. Machinek, »Das Gesetz des Lebens?« Die Auslegung der Bergpredigt bei L.N. Tolstoj im Kontext seines ethisch-religiösen Systems, Erzabtei St. Ottilien 1998, 135. 11 Vgl. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 359; s. auch H. Kusse, Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 58–69. 12 P.I. Birjukov, L.N. Tolstoj. Biografija, Bd. 3, Berlin 1921, 439. 13 Vgl. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, Gießen 1959, 45. 14 Vgl. W.-A. Hauck, Rudolf Sohm und Leo Tolstoi, 163ff. 15 A.a.O., 184f. 16 A.a.O., 185. 17 M. Zurek, Tolstojs Philosophie der Kunst, Heidelberg 1996, 287–291. 18 E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika L.N. Tolstogo, Moskau 2006, 8. 19 Ebd. 20 Vgl. R. Hodel, Zum Familienroman als Genre, in: Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress Ohrid 2008, hg. v. S. Kempgen u.a., München 2008, 441–447 zur Darstellung von Familien in den Romanen Tolstojs. 21 E.D. Meleˇs ko, Christianskaja e˙ tika L.N. Tolstogo, 39. 22 I. Kant, Über Pädagogik, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 2. Teil (= Werke Bd. 10), hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1964, 699 [A 7]. 23 Vgl. D. Murphy, Tolstoy and Education, Dublin 1992, 54ff und W. Schklowski, Leo Tolstoi. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1984, 252–264. 24 D. Murphy, Tolstoy and Education, 65–68 und W. Schlowski, Leo Tolstoj, 36–376. 25 H.-U. Grunder, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj (1828–1910), in: Klassiker der Pädagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Helene Lange, hg. v. H.-E. Tenorth, München 2003, 191. 26 F. Rua, Svoboda po Tolstomu. Pedagogiˇceskij opyt zˇ izni, in: Lev Tolstoj i mirovaja literatura. Materialy III meˇzdunarodnoj konferencii, Jasnaja Poljana 28–30 avgusta 2003 g., Jasnaja Poljana 2005, 252. 27 D. Murphy, Tolstoy and Education, 83, 100, 182. 28 E.L. Axelrod, Tolstois Weltanschauung und ihre Entwicklung, Stuttgart 1902, 56.

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29 Vgl. B. Zelinsky, »Mulier instrumentum diaboli«. Die Frau und das Böse in Tolstojs Spätwerk 2008, in: Das Böse in der russischen Kultur, hg. v. B. Zelinsky, Köln/Weimar/ Wien, 170–180. 30 Vgl. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 307. 31 J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums zur Unbegrenztheit und zur Gemeinschaft. L.N. Tolstoj als »Seher des Geistes«, Kiel (Diss.) 1988, 5. 32 Vgl. G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 307. 33 J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums zur Unbegrenztheit und zur Gemeinschaft, 166. 34 B. Zelinsky, »Mulier instrumentum diaboli«, 178 und vgl. J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums, 133. 35 J. Thaeter, Die Beziehung des Individuums, 113. 36 G. Kjetsaa, Lew Tolstoj, 313. 37 R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten (Westf.) 1937, 92. 38 A.a.O., 89f.

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Staat und Gesellschaft Tolstojs moralphilosophisches und theologisches Denken steht im Zeichen eines machtvollen kulturkritischen Impulses: Es ist der Drang nach Unmittelbarkeit, der sowohl die moralisch-weltanschaulichen Wertsetzungen als auch die argumentative Strategie seiner Texte beherrscht. Stets streicht er die moralische Überlegenheit des Natürlichen, »echt« Erlebten und Empfundenen gegenüber der Sphäre des Sekundären, kulturell Verfeinerten heraus. Er pflegt dabei eine Rhetorik der Entlarvung. Der »Betrug«, den aufzudecken er sich bemüht, kann sich genauso auf das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit beziehen (vgl. Beichte, 1879–82) wie auf die Geschichte und das moralische Bewusstsein der Menschheit (vgl. Mein Glaube, 1883/84). Immer folgt aus der Entdeckung der »Wahrheit« die unbedingte moralische Verpflichtung zur radikalen Umkehr. Gerade auch in seiner Auffassung der christlichen Botschaft lässt sich Tolstoj vom Pathos der Unmittelbarkeit leiten:1 »Alle verstehen die Lehre Christi auf ganz verschiedene Weisen«, heißt es an einer Stelle der Abhandlung Mein Glaube, »nur nicht in jenem einfachen Sinn, der unausweichlich aus seinen Worten folgt« (PSS 23: 329). Jener »einfache«, »unausweichlich« sich ergebende, wörtliche Sinn ist es, der sich ihm persönlich »eröffnete« und dessen Geltungsanspruch Tolstoj durchsetzen will (PSS 23: 335). In Gesprächen mit ungebildeten Bauern sei er, so berichtet er in der Beichte, immer wieder mit einer echten, ungekünstelten Religiosität in Berührung gekommen; sobald er aber mit gelehrten Gläubigen spreche oder deren Bücher lese, stelle sich bei ihm unweigerlich ein Gefühl der Entfernung von der »Wahrheit« ein: »Wie oft beneidete ich die Bauern darum, dass sie nicht lesen und schreiben konnten und nicht gebildet waren« (f 68; PSS 23: 52). Es überrascht nicht, dass Tolstoj seinen missionarischen Feldzug gegen die »Künstlichkeit« in religiösen Dingen mit steigender Vehemenz gegen die Kirche als Institution richtete (f M. George, Kirche). Sie sei, so schreibt er, in ihrer gegenwärtigen Gestalt völlig ausgetrocknet, habe ihre ursprüngliche Funktion verloren und stelle nur noch eine leere Hülle dar: Unter allen gottlosen Begriffen und Ausdrücken gibt es keinen gottloseren als den Begriff der Kirche. Es gibt keinen Begriff, der mehr Böses hervorgebracht hätte, und keinen, der der Lehre Christi mehr widersprechen würde als der Begriff der Kirche. (f 74; PSS 23: 477)

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Die Geschichte der Kirche stellt sich ihm als eine Verfallsgeschichte dar. Die Degeneration ist hier gleichbedeutend mit einer Zunahme der Mittelbarkeit und einer steten Entfernung vom inhaltlichen Kern: Doch wenn wir uns von der Zeit Christi entfernen und unserer Zeit nähern, sehen wir, dass die Lehre von diesen durch Christus gelegten Grundlagen abweicht. Die Abweichung beginnt zur Zeit der Apostel, insbesondere des Paulus, der ein großer Freund des Lehrens war; und je weiter sich das Christentum ausbreitet, desto mehr weicht es ab und verlegt sich auf eben jene äußere Gottesverehrung und Lehre, deren Ablehnung Christus so deutlich ausgedrückt hatte. (f 76; PSS 23: 478)

Der wahre Glaube ist nach Tolstoj nur an inneren Wesenheiten interessiert und nicht an äußeren Hierarchien. Die Quelle des Irrglaubens, als deren Vertreterin er die Kirche ausmacht, liege eben darin, dass diese sich auf Hierarchie und Macht eingelassen habe – wobei der Begriff der Macht bei Tolstoj untrennbar mit dem der Gewalt verknüpft ist: »Die Basis der Macht ist die körperliche Gewalt« (PSS 28: 132). Der Geist des Christentums ist für ihn unvereinbar mit jeglicher Art von Macht. Christentum und Staatlichkeit schließen einander aus: »Das Christentum in seiner Bedeutung zerstört den Staat« (PSS 28: 186). Und: »Entweder gibt es keinen Staat, oder es gibt kein Christentum« (f 77; PSS 23: 479). Wenn das Christentum eine wie auch immer geartete Verbindung mit der Macht, dem Staat und seinen Strukturen eingegangen sei – immerhin 1500 Jahre lang so etwas wie der historische Normalfall –, dann könne es sich dabei notwendig nur um ein »nominelles«, »äußeres Christentum« handeln (PSS 28: 186). Und deshalb ist Tolstojs vielfältiges persönliches Engagement für ein neues, »wahres« und »unmittelbares« Verständnis des Christentums diesseits aller Wunder, Dogmen und Sakramente untrennbar verbunden mit dem Kampf gegen den Staat und die staatliche Gewalt in all ihren praktischen und theoretischen Manifestationen.

Tolstojs negative politische Theologie Die Grundidee der christlichen Religion – ja jeder echten Religion – ist im Verständnis Tolstojs die Vereinigung der Menschen »in Liebe« (edinenie v ljubvi). In der einen oder anderen Form bildet sie die Grundlage für seine Ideen zu Staat, Gesellschaft und Religion in den Jahrzehnten nach der religiösen Neubesinnung vom Ende der 1870er Jahre.2 Im Zuge einer intensiven Beschäftigung mit dem christlichen Glauben, seinem Wesen und seiner Geschichte, entdeckte er schnell eine Inkonsistenz zwischen dem Geist und der historischen Realität des Christentums: dass nämlich die einzelnen christlichen Konfessionen sich wechselseitig der Häresie zeihten, sie also dem eigentlichen Gebot der Einheit nicht Folge leisteten – und das um höchst

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menschlicher Anliegen willen, wie der Treue gegenüber der Tradition, der Loyalität gegenüber der »geistlichen Macht« (f 70; PSS 23: 55). Der Blick auf die Reihe der Verbrechen, die im Namen des Glaubensbekenntnisses begangen worden seien, so Tolstoj, habe ihn erschauern lassen. Aber das ist nur die eine, innerkirchliche Seite der Problematik. Erschauern lässt ihn auch der Blick auf die Rolle der orthodoxen Kirche in der aktuellen politischen Situation: Er selbst sei Zeuge gewesen, wie während des russisch-türkischen Kriegs von 1877/78 in den Kirchen des Zarenreichs für den Erfolg der russischen Sache gebetet worden sei und wie die Diener der Kirche die Tötung des Feindes im Krieg als eine Handlung dargestellt hätten, die als natürliche Konsequenz aus dem Glauben folge. Überdies habe er erlebt, wie Mitglieder der Kirche die Verhängung der Todesstrafe gegen die Terroristen der Gruppe Volkswille ausdrücklich gebilligt hätten (f 71; PSS 23: 56). Noch als Student der Rechtswissenschaften kritisierte Tolstoj 1847 in einer Analyse der »Instruktion« für die Kommission zur Abfassung eines neuen Gesetzbuchs von Katharina II. (1767), dass die Zarin darin zwar Körperstrafen verdammte, aber gleichwohl die Todesstrafe zuließ. Und bereits in den Sevastopoler Erzählungen (1855) entlarvte er die Rhetorik von »Pflicht«, »Vaterland« und »Heldentum« als reinen Deckmantel von persönlichen Motiven wie Ruhmsucht und Eitelkeit. Im Zuge seiner religiösmoralischen Neuorientierung machte er dann die konsequente Ablehnung von Gewalt zum Grundpfeiler seiner Weltanschauung.3 Der »Schlüssel zu allem« ist für ihn von nun an derjenige Vers der Bergpredigt, in dem Jesus sagt: »Euch ist gesagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt …« (Mt 5,39; f 106; PSS 23: 310). Wer, so Tolstoj, dieses Gebot konsequent zur Richtschnur seines Handelns mache, der stoße unvermeidlich auf das Dilemma, dass das Leben eines jeden heutigen Menschen mit dem Staat und der Staatlichkeit verwoben sei. Und der Staat als Organisation ist in Tolstojs Verständnis in erster Linie darauf ausgerichtet, dem Bösen mit Gewalt entgegenzutreten. Spätestens mit der allgemeinen Militärpflicht und der Einführung des Geschworenenprozesses könne sich kein Bürger mehr der Pflicht entziehen, dem Gebot Christi zu entsagen und sich in den Dienst der staatlichen Organe zu stellen. Gerade die allgemeine Militärpflicht ist für Tolstoj der Grundstein der staatlichen Macht: Sie spanne die Bürger ein in das vorgebliche Projekt einer Verteidigung gegen äußere Bedrohungen; tatsächlich gehe es dabei jedoch in erster Linie um innere Disziplinierung und Machtausübung. Die Militärpflicht ist »die letzte Stufe der Gewalt, die nötig ist zur Aufrechterhaltung des ganzen Gebäudes«, weil sie in der letzten Konsequenz vom Einzelnen die Aufopferung all dessen fordert, was ihm teuer ist – bis hin zur Aufgabe seiner menschlichen Würde (PSS 28: 141).

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Die Konfrontation zwischen Staat und Glauben ist so unausweichlich wie unauflösbar. Tolstoj entwickelt eine negative politische Theologie,4 die den Staat ausschließlich von seinem Zweck der »Bekämpfung des Bösen mittels Gewalt« her denkt und ihn damit als eine strukturell unchristliche, vom Grundsatz her areligiöse Organisation kennzeichnet. Die ganze Konstruktion des Staates »basiert« nach Tolstoj »auf Gewalt« (PSS 45: 264ff).5 Der Staat ist dort und nur dort, wo er Gewalt ausübt oder androht: in Polizei, Strafverfolgung und Gerichtswesen, Militär und Krieg. Damit sei es für alle offensichtlich, dass der Staat »viel Böses« über die Menschen bringe, schreibt Tolstoj im Kapitel »Der Aberglaube des Staates« seiner Abhandlung Der Weg des Lebens (PSS 45: 260): »Ein moralischer, wohltätiger Politiker [gosudarstvennyj ˇcelovek] ist genauso ein innerer Widerspruch wie eine keusche Prostituierte, ein asketischer Trinker oder ein bescheidener Räuber« (PSS 45: 262). Denn die Macht, durch welches Verfahren sie wem auch immer gegeben sei, korrumpiere unausweichlich einen jeden, der sie ausübe (PSS 28: 132, 135). Der »Aberglaube des Staates« beruft sich zu seiner Legitimation auf einen anderen Aberglauben, den »Aberglauben des Bösen«. Um einen Aberglauben handelt es sich hier, weil es »das Böse nicht gibt« (PSS 58: 50). Wir haben es nach Tolstoj hier nur mit einem relativen Begriff zu tun, »mit dem wir das bezeichnen, was uns, unserem Körper nicht gefällt« (PSS 58: 50f). Der Staat und seine Institutionen zögen diesen Begriff heran, um sich eine Existenzberechtigung zu verschaffen. Dabei brächten sie genau damit das Böse erst hervor. Das Böse ist für Tolstoj nichts Substantielles, sondern eher eine Struktur, die sich zwangsläufig aus der Mittelbarkeit ergibt. Und diese entsteht, sobald der Mensch versucht, sein Leben und das anderer Menschen »einzurichten« (PSS 58: 49). In der Institutionalisierung selbst steckt als strukturelles Moment der Keim des Bösen – als Wirkungszusammenhang, der zwangsläufig dort aufkommt, wo der Mensch nicht mehr auf die innere Stimme seines Gewissens hört, sondern sich äußeren Projekten unterwirft oder sich gar selbst aktiv mit der »Einrichtung« der Gesellschaft befasst. In seinem letzten Roman Auferstehung (1889–99) hat Tolstoj diese theoretischen Überlegungen zu Literatur gemacht. Waren seine Romane vorher in ihrer ideologischen Ausrichtung gegen die Gesellschaft als System entfremdeter Normen und Konventionen gerichtet, so zeigt er in Auferstehung ein Gemeinwesen, das ganz vom Staat durchdrungen, von den Anliegen des Staates bestimmt wird. Der Staat ist das, was die Menschen zum Bösen zwingt, was sie dazu bringt, ohne Gewissensbisse unmenschlich zu handeln. Denn er schiebt sich als Moment der Vermittlung zwischen den Menschen und seine Handlungen. Die Hauptgestalt des Romans, der Fürst Nechljudov, beobachtet diese »Entfremdung« des Menschen und seines Gewissens durch die Einbindung in die Institution des Staates:

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Alles liegt daran, […] dass diese Menschen das als Gesetz betrachten, was kein Gesetz ist, und nicht das als Gesetz betrachten, was das ewige, unveränderliche und unaufschiebbare Gesetz ist, das von Gott selbst in die Herzen der Menschen geschrieben wurde. Wenn eine psychologische Aufgabe formuliert würde: Wie kann man es erreichen, dass Menschen unserer Zeit, Christen, humane, einfach gute Menschen, die allerschrecklichsten Verbrechen verüben, ohne sich dabei schuldig zu fühlen, dann gibt es dafür nur eine Lösung: Es muss das geben, was es gibt; diese Leute also müssen Gouverneure, Aufseher, Offiziere, Polizisten sein, d.h. sie müssen erstens davon überzeugt sein, dass es eine solche Sache gibt, die man Staatsdienst nennt, im Rahmen derer man mit Menschen wie mit Dingen umgehen kann, ohne eine menschliche, brüderliche Beziehung zu ihnen, und zweitens davon, dass die Menschen durch diesen Staatsdienst so gebunden wären, dass die Verantwortung für ihre Taten im Umgang mit den Menschen auf niemanden individuell fiele. Jenseits dieser Bedingungen gibt es keine Möglichkeit, heutzutage solche schrecklichen Taten zu verüben wie die, die ich neulich gesehen habe. Alles liegt daran, dass die Menschen denken, dass es Situationen gebe, in denen man einem Menschen ohne Liebe entgegentreten dürfe, doch solche Situationen gibt es nicht. (PSS 32: 351f)

Am Ende erkennt Nechljudov klar den Trugschluss, die unauflösbare Paradoxie, auf welcher der Staat als perfider circulus vitiosus basiert: Ihm wurde jetzt klar, dass all dieses schreckliche Böse, dessen Zeuge er in den Gefängnissen und Übergangslagern geworden war, […] nur daher kam, dass diese Menschen ein unmögliches Ding tun wollten: Indem sie böse waren, wollten sie das Böse verbessern. Sündhafte Menschen wollten sündhafte Menschen verbessern und dachten, dies auf mechanischem Wege erreichen zu können. (PSS 32: 442)

Dieser »mechanische Weg« der Ausbesserung des Bösen ist nichts anderes als der Staat und seine Institutionen: eine verselbständigte und vom persönlichen Gewissen der Individuen unabhängige Konstruktion, die, indem sie das Böse zu bekämpfen vorgibt, es dadurch doch nur immer wieder neu erschafft. Gegen das Böse des Politischen setzt Tolstoj das Moment der Entdifferenzierung: die Wiederherstellung der gottgewollten Einheit, die von den menschlichen Institutionen aufgespalten wurde. In seinem Brief an Alexander III., dessen Vater Alexander II. im Jahre 1881 bei einem politisch motivierten Attentat ermordet worden war, verlieh Tolstoj dieser Strategie Ausdruck, indem er dem Zaren ankündigte, Gott werde ihn »nicht nach der Erfüllung der Verpflichtungen des Zaren, sondern nach der Erfüllung der menschlichen Pflichten fragen« (f 126; PSS 63: 45). Daher appellierte er an den Zaren, die Täter zu begnadigen: »Ihr sollt Böses mit Gutem vergelten, dem Bösen keinen Widerstand leisten, allen vergeben« (f 128; PSS 63: 47). Bemerkenswert ist, dass Tolstoj hier, im Jahre 1881, noch nicht konsequent von der Unvereinbarkeit von Staatlichkeit und Christentum ausgeht, vielmehr sieht er den Zaren und damit Russland selbst an einem »Scheideweg« zwischen Gut und Böse: Rein und unschuldig sind Sie vor sich selbst und vor Gott. Doch Sie stehen am Scheideweg. Noch wenige Tage, und es triumphieren womöglich diejenigen, die sagen und denken, dass die christlichen Wahrheiten nur Gerede sind, dass im Leben des Staates Blut

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fließen und der Tod herrschen muss. Wenn das eintritt, werden Sie diesen glückseligen Zustand der Reinheit und des Lebens mit Gott für immer hinter sich lassen und den Weg jener zahllosen staatlichen Notwendigkeiten einschlagen, die alles rechtfertigen, selbst den Verstoß gegen Gottes Gesetz für den Menschen. (f 130f; PSS 63: 50)

Von diesem »Scheideweg« aus – die verurteilten Angehörigen der Gruppe Volkswille, für die sich Tolstoj verwendet hatte, wurden am 15. April 1881 gehängt – ging der russische Staat den Weg einer verschärften Repression, während Tolstoj seine vorderhand impulsive und intuitive Ablehnung der staatlich sanktionierten Gewalt zu einer sorgfältig ausargumentierten Theorie der absoluten Unvereinbarkeit von Staat und christlicher Botschaft bzw. »religiösem Bewusstsein« entwickelte. Und wenn auch Tolstojs negative politische Theologie in den sich zuspitzenden innenpolitischen Konfliktlagen des russischen Imperiums weitgehend folgenlos bleiben sollte, so entfaltete sie doch eine gewisse internationale Wirkung, und dies vor allem wegen ihres dezidiert pazifistischen Gehalts: Die bloße Existenz von Nationalstaaten, dieser »unmöglichen und absurden Verbindungen« (PSS 45: 243), ist für den Universalisten Tolstoj ein offensichtlicher Aberglaube: Dieses Konzept einer künstlichen Trennung unter den Menschen führe dazu, dass in seinem Namen gemordet und geraubt werde, dabei sei es doch Gottes Wille, dass die Menschen in Einheit lebten (PSS 45: 255). Aller Vermittlung und Konvention entkleidet wird am Ende auch das Verhältnis des Einzelnen zum Staat: Das lakonische »Lasst mich in Ruhe« aus Der Weg des Lebens erscheint als die einzig moralisch vertretbare Haltung gegenüber dem Staat und seinen Ansprüchen (PSS 45: 274). Gerade im Verhältnis des russischen Volkes zur Staatsgewalt machte Tolstoj eine, wenn auch nicht konsequent antistaatliche, so doch aber gegenüber dem umfassenden Machtanspruch des Staates zutiefst distanzierte Haltung aus: Jeglicher Gedanke an Partizipation sei dem russischen Volk fremd, die gesamte politische Verantwortung habe es an den Zaren übertragen, weil ihm, dem Volke, die »innere Ruhe teurer ist als die Politisiererei«.6 Damit knüpfte Tolstoj an slavophiles Gedankengut an:7 Eher noch als »westliche« Vorstellungen von Gesellschaftsvertrag, Demokratie und Republik lässt sich das System der russischen Autokratie mit seiner negativen politischen Theologie vereinbaren, da sich hier das mit der Ausübung von Macht notwendig verbundene Böse letztlich in einer Person konzentriere. Bei aller Wertschätzung vor allem auch für die radikale Unabhängigkeit der slavophilen Positionen, machte sich Tolstoj jedoch keine Illusionen über deren Beweggründe, die eben nicht in religiösen Überzeugungen, sondern in einem nationalistischen, auf die slavische Völkergemeinschaft bezogenen Gedankengut zu suchen waren.8

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Recht und Gesellschaft Der antigesellschaftliche Impuls, die Auflehnung gegen das comme il faut, gegen Distanz, Inauthentizität und Gefühllosigkeit im sozialen Umgang ist das zentrale gedankliche Leitmotiv in Tolstojs Schaffen seit den ersten autobiographischen Erzählungen, seit Kindheit, Knabenalter, Jugend (1852–57). Tolstojs gesamtes Denken des Sozialen steht unter dem Primat der Unmittelbarkeit: Alle gesellschaftlichen Beziehungen sollen auf unmittelbar empfundener Liebe gründen. Unter dieser Prämisse ist es kaum möglich, sich sinnvoll Gedanken über komplexe soziale Strukturen zu machen. Die Familie und die bäuerliche Dorfgemeinschaft als traditionale, auf direktem Nahkontakt ihrer Angehörigen beruhende Gemeinschaftsformen sind für Tolstoj die Idealformen menschlichen Zusammenlebens. In Auferstehung hatte Tolstoj, der ja immerhin auf ein abgebrochenes Studium der Rechtswissenschaften zurückblicken konnte, eine vernichtende Abrechnung nicht nur mit dem russischen Rechtssystem seiner Zeit, sondern sogar mit der Institution des Rechts als solcher geliefert. Im Jahre 1909 präzisierte er in einem Brief an einen Studenten über das Recht, dass das »Recht« selbst nichts anderes sei als ein weiterer verhängnisvoller »Aberglaube«, der zu nichts anderem diene als zur Rechtfertigung der Gewalttaten der Herrschenden: Der Aberglaube und teilweise Betrug irgendeiner im Volk kursierenden wundertätigen Ikone der heiligen Gottesmutter ist nicht gut, allerdings gibt es in diesem Aberglauben und Betrug noch eine gewisse Poesie; außerdem ruft dieser Betrug in den Menschen doch immerhin positive Gefühle hervor; im Aberglauben und Betrug des »Rechts« gibt es hingegen nichts als die allerwiderlichste Schurkerei: der Wunsch, eine von allen anerkannte moralisch-religiöse Wahrheit nicht nur zu verstecken, sondern sie zu entstellen und die allergrausamsten und unmoralischsten Handlungen als Wahrheit auszugeben: Raub, Gewalt, Morde. […] Selbst die Theologie eingeschlossen, gibt es nichts, was die Menschen so unvermeidlich verdürbe […]. (PSS 38: 57, 59)

Rechtsbeziehungen betrachtete Tolstoj als überflüssig und sogar schädlich. Er war der Überzeugung, dass das Böse proportional zur Anzahl der Gesetze zunehme, die zu seiner Verhinderung geschaffen würden (PSS 45: 271). Aus den Worten der Bergpredigt »Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet« (Mt 7,1) und dem Vers des Lukas-Evangeliums »Verurteilt nicht, so werdet ihr nicht verurteilt« (Lk 6,37) in Verbindung mit dem Dogma vom Nicht-Widerstand gegen das Böse leitete Tolstoj apodiktisch ein Verbot jeglicher menschlichen Gerichtsbarkeit ab (f 110; PSS 23: 318) – und schloss sogar das Zivilrecht mit ein: »In der Bergpredigt sagt er an alle gewandt: Und wenn jemand dein Hemd einklagen will, dann gib ihm auch den Rock. Das heißt, er verbietet allen, Klage zu führen« (PSS 23: 320). Die menschlichen Gesetze galten Tolstoj schlicht als eine »grobe Verspottung jener ewigen Gesetze, die in den Herzen der Menschen aufgeschrieben sind« (PSS 58: 58).

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In seiner grundlegenden sozialethischen Schrift Was sollen wir denn tun?, an der er von 1882 bis 1886 arbeitete, legt Tolstoj dar, dass privates Eigentum und vor allem Eigentum an Grund und Boden eine Perversion darstellten, die es abzuschaffen gelte (PSS 25: 182–411). Bereits 1865 hatte er notiert: »[Das Wort] ›La propriété, c’est le vol‹ bleibt wahrer als die Wahrheit der englischen Verfassung, solange die Menschheit existiert. – Es handelt sich um eine absolute Wahrheit […]« (PSS 48: 85). Seit seiner geistigen Neuorientierung Ende der 1870er Jahre hatte Tolstoj auf die Einkünfte aus seinen Werken verzichtet und jedem den Nach- und Abdruck freigestellt (ausgenommen blieben die bis 1881 publizierten Texte; die Rechte an diesen hatte er an seine Frau überschrieben). Auch sein Gut Jasnaja Poljana überschrieb er an seine Familie (was ihn freilich nicht davon abhielt, dort weiterhin zu wohnen und einen standesgemäßen Lebensstil zu pflegen). Tolstoj sah es nicht als die Aufgabe eines Christen an, sich über die Funktionstüchtigkeit gesellschaftlicher Ordnungen den Kopf zu zerbrechen; es könne nur um die Befolgung des göttlichen Willens gehen. Die Beurteilung der Konsequenzen seines Handelns stehe dem Menschen gar nicht zu. Solch sorglose Prinzipientreue wirkt besonders frappierend, wo es um die Frage der geschlechtlichen Liebe geht. In seinen letzten Lebensjahren kategorisierte Tolstoj das menschliche Dasein scharf nach zwei Möglichkeiten: einer areligiösen, letztlich tierischen und einer im emphatischen Sinne menschlichen, von religiösem Bewusstsein erhellten Existenz. Bedingung für die letztere war nicht zuletzt die Abkehr vom »tierischen Gesetz der Paarung«, also bedingungslose Keuschheit: »›Aber was wird dann aus der menschlichen Art?‹ – Ich weiß es nicht« (PSS 58: 47),9 notierte er in seinem Tagebuch. Seine Gedanken zur Gesellschaft waren vor allem in den letzten Lebensjahren von einer radikalen kulturkritischen Note geprägt, die zuweilen apokalyptische Züge annahm. Die Gesellschaften des zeitgenössischen Europa sah er in einem inhaltsleeren Fortschrittswahn befangen und jeglicher moralischer Orientierung beraubt. Die Kirche könne schon längst keine Orientierung mehr geben; das Leben der Menschen habe – allen glänzenden Erfolgen der Wissenschaft zum Trotz – seine Richtung und seinen Sinn verloren (PSS 23: 442). »Sinn« ist die zentrale Deutungsfigur in den moralphilosophischen Reflexionen Tolstojs;10 das individuelle wie das gesellschaftliche Leben wird daran gemessen, ob ihm »Sinn« zukommt oder nicht. Dieser »Sinn«, für Tolstoj zugleich der notwendige innere Vektor jedes echten zivilisatorischen Fortschritts, ist nur durch eine fundamentale und allumfassende Neuorientierung wiederzugewinnen. In seiner Schrift Was ist Kunst? von 1897/98 verdammt er weite Teile der künstlerischen Produktion der Neuzeit, um dann am Ende die Kunst auf genau ein – außerästhetisches – Ziel zu verpflichten: Sie »muss die Gewalt beseitigen« (f 221; PSS 30: 194). Und auch die Wis-

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senschaft sieht er auf einem verhängnisvollen Irrweg, habe sie sich doch weitgehend zu einem »System von Sophismen«, einer »formlosen Anhäufung aller möglicher, größtenteils wenig oder gar völlig nutzloser Kenntnisse« entwickelt. Dies, weil sie ihr einziges legitimes Ziel aus den Augen verloren habe, das da laute: »diejenigen Wahrheiten in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, die sich aus dem religiösen Bewusstsein unserer Zeit ergeben«. Nur die Wissenschaft, die das bewirkt, stellt sich ihm als ein »wohlgeformtes organisches Ganzes« dar (PSS 30: 193f; vgl. 38: 67), nur als solche hat sie eine Daseinsberechtigung. Der sich in Russland und Europa abzeichnenden modernen Gesellschaft mit ihrem sich verselbständigenden technischen Fortschritt und ihren ausdifferenzierten Funktionssystemen hält Tolstoj ein Streben nach Vereinfachung entgegen. Es geht ihm um die Verpflichtung aller sozialen Funktionssphären auf den einen Sinn, die religiös begründete Moral von der Einheit in Liebe. An diesem hat sich alles messen zu lassen, ohne diesen ist alles dem Untergang geweiht: Maschinen, um zu produzieren – was? Telegraphen/-phone, um zu übermitteln – was? Schulen, Universitäten, Akademien, um zu lehren – was? Versammlungen, um zu besprechen – was? Bücher, Zeitungen, um Informationen zu verbreiten – worüber? Eisenbahnen, um befahren zu werden – von wem und wohin? Versammelte und einer Macht untergeordnete Millionen von Menschen, um zu tun – was? Spitäler, Ärzte, Apotheken, um weiterzuleben, doch weiterleben – wozu? (PSS 58: 48)

In seinem Kampf für das Erwachen der Menschheit erschrieb sich Tolstoj immer mehr die Rolle eines alttestamentlichen Propheten, der seine Mitmenschen zur Umkehr aufruft. So notierte er am 27. Dezember 1905, am Ende des Jahres der ersten russischen Revolution, in seinem Tagebuch: Ich bin wie der Mensch, der, auf dem Tender eines bergab rasenden Zuges stehend, vom Schrecken erfasst wurde, als er sah, dass der Zug nicht zu bremsen war. Die Passagiere schraken erst auf, als die Katastrophe passiert war. (PSS 55: 177)

Religiöser Anarchismus? Schon in der Schrift Das Reich Gottes ist in euch von 1893 ist Tolstoj überzeugt, dass der Staat längst nicht mehr als Garant sinnvoller, sozial nützlicher Institutionen auftrete, sondern vielmehr die dringend notwendige Gestaltung »neuer Formen des Lebens« verhindere (PSS 28: 143). Natürlich dürfe andererseits der Versuch der Etablierung dieser neuen Formen niemals über den Weg der Gewalt verlaufen, denn das werde unweigerlich zu einer ansteigenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt führen, und die neue, revolutionäre Macht werde nur immer noch despotischer und grausamer sein als die vorherige (PSS 28: 155).

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Der einzige Ausweg liegt nach Tolstoj in einer Hinwendung zum religiösen Bewusstsein. Denn wenn dieses sich erst einmal weiter verbreite und seine Wirkung entfalte, wofür er in der russischen Gesellschaft seiner Zeit erste Anzeichen erblickt haben will (PSS 28: 185f), dann führe dies zur Zersetzung der auf Gewalt gegründeten Ordnung. Tolstoj meinte dies dezidiert im Sinne einer politischen Strategie. Im Gespräch mit seinem Arzt und Freund Duˇsan Makovick´y äußerte er 1904: Wenn die höchsten staatlichen Autoritäten mich um Rat fragen würden […], so würde ich ihnen die Religionsfreiheit nicht anraten, weil die Regierung dadurch den Ast abschlagen würde, auf dem sie sitzt. Die Pressefreiheit – ja, das schadet ihr nichts.11

Tolstoj setzte durchaus auf die »öffentliche Meinung« als treibende Kraft bei der Verbreitung wahrhaft christlicher Prinzipien und Anschauungen. Die Pressefreiheit spielte hier eine untergeordnete Rolle; stattdessen setzte er auf das Konzept der »Ansteckung« (PSS 28: 200; f S. Sasse, Kunst). Mit dieser medizinischen Metapher konzeptualisierte er die schwer fassbare, aber doch in ihrer Wirkung deutlich zu spürende Macht der öffentlichen Meinung. Die »öffentliche« (im russischen »gesellschaftliche« – obˇsˇcestvennoe) Meinung vollzieht sich nach Tolstojs Vorstellung gewaltfrei auf der Ebene der Gesellschaft und ist der immer gewaltsamen Aktivität des Staates entgegengesetzt.12 Wohlbemerkt bedeutet diese politische Einschätzung nicht, dass Tolstoj vom Primat der Selbstvervollkommnung abgerückt wäre. Im Vordergrund, so legte er dar, müsse stets die Arbeit an sich selbst stehen, und erst davon aus werde sich die Gesellschaft verbessern.13 In den letzten Jahren äußerte er sich dann immer wieder auch skeptisch über die Möglichkeiten der öffentlichen Meinung. Er sah weiterhin ihr emanzipatorisches Potential, unterstrich aber auch: Losgelöst von der religiösen Lebensauffassung, der sie doch eigentlich zum Durchbruch verhelfen sollte, könne sie nur schädlich sein. Eine konkrete, positive Vision der künftigen Gesellschaft hat Tolstoj nicht formuliert. Ihm ging es um die Befolgung der inneren Stimme des Gewissens. Was daraus an politischen Konsequenzen folgen würde, war für ihn nachrangig: »Nur das Suchen des Reiches Gottes und seiner Wahrheit in sich selbst gibt eine wahre, nicht aufhörende, sondern wachsende Freude« (PSS 55: 177). Er lehnte es ab, sich über die Eventualität einer Abschaffung des Staates Gedanken zu machen. Der Staat selbst war für ihn der schon eingetretene worst case, vor dem die Apologeten der Staatlichkeit immer warnten (PSS 45: 261). Die Frage indes, »welche Form des Lebens« sich infolge der angestrebten Erneuerung etablieren werde, existiere für einen Christen nicht (PSS 45: 260), sagte Tolstoj, denn sie falle nicht in die Kompetenz des persönlichen Gewissens: Alle sagen: Wie soll es gehen ohne Regierung? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass die Regierung ein Übel ist, und zwar nicht nur ein physisches, sondern ein moralisches, spirituelles Übel. (PSS 55: 343)

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Dabei war ihm natürlich klar, dass es für diese Form einer staatsfernen Utopie einen politischen Begriff gibt. Die Affinität zum Anarchismus (f U. Schmid, Anarchismus) unterstrich er auch, wenn er in Der Weg des Lebens Bakunin als Gewährsmann für das Aufscheinen eines neuen, wahrhaft menschlichen Zustands zitierte, der sich einstellen werde, wenn der Staat verschwunden sei (PSS 45: 267). Aber die Frage der politischen Terminologie erschien ihm irrelevant, ihm war allein an der Substanz der religiös begründeten moralischen Lehre gelegen: Die Lehre, für die ich lebe, ist kein Anarchismus. Sondern die Erfüllung des ewigen Gesetzes, das keine Gewalt erlaubt und auch keine Teilnahme an derselben. Ob die Konsequenz der Anarchismus oder, im Gegenteil, die Versklavung unter dem Joch des Japaners oder des Deutschen sein wird? Das weiß ich nicht und will ich nicht wissen. (PSS 58: 7)

In den publizistischen Interventionen Tolstojs finden sich gleichwohl in Grundzügen auch Ideen zur konkreten sozialen Erneuerung: Vehement vertrat er das Programm einer Rückkehr zur Landwirtschaft, gerade auch für die Massen der Fabrikarbeiter, die in den Ländern Europas ein den Regierungen unterworfenes Leben führten. Seine verschiedentlich andeutungsweise skizzierte Idealvorstellung war ein Gemeinwesen, das aus locker assoziierten, horizontalen Verbünden bestehen sollte. In dessen Rahmen wären dann auch soziale Institutionen denkbar; vorausgesetzt, dass diese auf freiwilliger Initiative basierten und jenseits jeglicher Einflussnahme irgendeiner Regierung funktionierten (PSS 36: 312, 507). Tolstojs Sekretär Valentin Bulgakov berichtet in seinen Aufzeichnungen Tolstoj in seinem letzten Lebensjahr von dessen begeisterter Reaktion auf die Erzählungen eines befreundeten Künstlers (Nikolaj Gay) über einen Aufenthalt in der Schweiz: Er fand, dass die Schweiz der Staat sei, der einer anarchistischen Gesellschaft am nächsten komme und in dem am wenigsten Gewalt angewendet werde, und stimmte völlig überein mit dem Gedanken Gays, dass sich aus ihr, wie aus einem Embryo, ähnliche Gesellschaften entwickeln müssten […]. Als jemand sagte, dass man dort keine Befreiung von der Militärpflicht zu erwarten habe […], bemerkte Lev Nikolaeviˇc: »Bei ihnen gibt es wenigstens etwas, was mit Gewalt zu verteidigen ist. Aber wer hätte es nötig, unsere Unordnung zu verteidigen?«14

Der moralische Rigorismus der Ideen Tolstojs und seine Plädoyers für nicht durch Gewalt vermittelte Formen des Zusammenlebens gab schon zu Lebzeiten des Autors den Anknüpfungspunkt für die Bildung von Gemeinschaften, von Landkolonien von Tolstojanern. Tolstoj selbst stand dieser Abgrenzung der Gutwilligen gegenüber der »Welt« höchst kritisch gegenüber: Denn auch wenn jede Teilhabe an der modernen Gesellschaft unweigerlich schuldbelastet sein müsse,15 so sei doch ein »reines, heiliges« Leben ohne den Austausch mit den Menschen nicht möglich; nur im Kontakt mit anderen gewinne das Leben des Einzelnen seinen »Sinn« (PSS 65: 223). Bei genauer Betrachtung ist die ethische Lehre Tolstojs nicht so »welt-

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flüchtig« (M. Weber),16 wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn er kämpfte in allen seinen Interventionen dafür, dass der moralische Sinn in der Welt zur Geltung kommen müsse.17 Gleichwohl rief die Radikalität und politische Sorglosigkeit der Positionen Tolstojs noch zu Lebzeiten des Autors in Kreisen der philosophisch gebildeten und religiös interessierten russischen Intelligenz bitterste polemische Reaktionen hervor (f R. Zwahlen, Russische Religionsphilosophie). Ivan Il’in, ein wegen seiner apologetischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus umstrittener Philosoph der Emigration, dessen Werke in jüngster Zeit in Russland vermehrt Aufmerksamkeit erfahren, widmete der Auseinandersetzung mit der Lehre Tolstojs 1925 ein ganzes Buch. Unter dem programmatischen Titel Vom gewaltsamen Widerstand gegen das Böse bezeichnet er sie als »eine Art juristischen, staatlichen und patriotischen Nihilismus«. Durch ihre »scheinbare« Übereinstimmung mit dem Geist der Gebote Christi habe sie die russische religiöse und politische Kultur nachhaltig »vergiftet«.18 Denn Tolstoj verkenne, dass ein »geistiges Aufblühen der Menschheit auf der Erde außerhalb einer gesellschaftlichen Zwangsorganisation, außerhalb von Gesetz, Gericht und Schwert«,19 nicht möglich sei. Gerade an diesem offensichtlichen ideologischen Gegenpol zeigt sich jedoch auch eine bemerkenswerte Konvergenz zu den pessimistischen Befunden der negativen politischen Theologie Tolstojs: Ein Gesetz ohne Blutvergießen (»Schwert«) und ein Staat ohne Zwang sind für Il’in genauso wenig denkbar wie für Tolstoj. Einen wirklich wunden Punkt der Methode und der Ideologie Tolstojs trifft Il’in hingegen mit dem Vorwurf einer »hedonistischen Moral«:20 Tolstoj, der sich selbst buchstäblich »im Zentrum der Welt sah«21 und Zeit seines Lebens nur diejenigen Wahrheiten anerkennen wollte, die sich ihm persönlich offenbart hatten, ist in seiner ganzen All-Einheits-Philosophie, seinem Authentizitätskult und Absolutheitsanspruch vor allem ein radikaler Individualist. Seine gesellschaftlichen Vorstellungen spiegeln letztlich die innere Paradoxie einer modernen, extrem gesteigerten Subjektivität, die sich jeder äußeren Disziplinierung widersetzt und deshalb in ein komplexes Programm eingespannt wird, das die Etappen von Selbstsuche, Selbstvervollkommnung und schließlichem Selbstverlust22 umfasst. Die antimodernen Volten Tolstojs müssen auch als eine Art Kompensationsstrategie gelesen werden, mit der dieses höchst paradoxe Programm ideologisch abgefedert bzw. diszipliniert werden soll.

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Anmerkungen 1 Vgl. D. Nedeljkovi c, ´ Quelle est ma foi? Et l’idéal de la vie authentique, in: Cahiers Léon Tolstoï 2: Tolstoï philosophe et penseur religieux, Paris 1985, 13–21. 2 Vgl. A.A. Gusejnov, Velikie moralisty, Moskau 1995, 196. 3 Vgl. a.a.O., 225. 4 Die Formel »negative politische Theologie« meint hier in Anknüpfung an den von Carl Schmitt geprägten – von ihm positiv verstandenen – Begriff der »politischen Theologie« die theologisch begründete Ablehnung von Macht, Herrschaft und staatlicher Gewalt. Vgl. J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992, 23ff, 73; W.-D. Hartwich, A./J. Assmann, Nachwort, in: J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, hg. v. A. Assmann/J. Assmann, München 1993, 176 5 Vgl. dort das Kap. XIV mit dem Titel »Gewalt« (Nasilie), a.a.O., 202ff. 6 D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910. Jasnopoljanskie zapiski D. P. Makovickogo, 5 Bd., Moskau 1979–1981, Bd. 2, 41f (= Literaturnoe nasledstvo, 90). Vgl. P. Kolstø, Power as Burden. The Slavophile Concept of the State and Lev Tolstoy, in: The Russian Review 64, 2005, 570. 7 A.a.O., 569f. 8 D.P. Makovickij, U Tolstogo, Bd. 4, 36. 9 Vgl. den Kurzroman Die Kreutzersonate (1889, Krejcerova sonata). 10 Vgl. zur »Sinn-Semantik« bei Tolstoj: H. Tyrell, Intellektuellenreligiosität, »Sinn«Semantik, Brüderlichkeitsethik – Max Weber im Verhältnis zu Tolstoi und Dostojewski, in: A. Sterbling/H. Zipprian (Hg.), Max Weber und Osteuropa, Hamburg 1997, 39ff. 11 D.P. Makovickij, U Tolstogo, Bd. 1, 99. 12 D.P. Makovickij, U Tolstogo, Bd. 2, 378. 13 D.P. Makovickij, U Tolstogo, Bd. 4, 39. 14 V.F. Bulgakov, L.N. Tolstoj v poslednij god ego zˇ izni. Dnevnik sekretarja Tolstogo, Moskau 1989, 318. 15 Vgl. H. Tyrell, Intellektuellenreligiosität, 49. 16 Vgl. zur Tolstoj-Rezeption Max Webers: E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 168ff. 17 Vgl. Ju.N. Davydov, Max Weber und Lev Tolstoj. Verantwortungs- und Gesinnungsethik, in: ders./P.P. Gaidenko, Rußland und der Westen. Heidelberger MaxWeber-Vorlesungen 1992, Frankfurt a.M. 1995, 66f. 18 I.A. Il’in, O soprotivlenii zlu siloju, Moskau 2007 [zuerst Berlin 1925], 34. 19 A.a.O., 102 (dort kursiv). 20 A.a.O., 89f. 21 L.V. Karasev, Tolstoj i mir, in: Voprosy filosofii 2001, Nr. 1, 53. 22 Vgl. – stellvertretend – einen Tagebucheintrag vom 13. 9. 1910: »Sich an Gott erinnern und sich selbst vergessen – das heißt: sich an Gott in sich selbst erinnern, an die eigene Göttlichkeit, Persönlichkeitslosigkeit [bezliˇcnost’] und die eigene Körperlichkeit, die eigene Persönlichkeit vergessen« (PSS 57: 138).

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Sylvia Sasse

Kunst Lev Tolstoj verfasst zwischen 1882 und 1897 eine ästhetiktheoretische Streitschrift mit dem Titel Was ist Kunst?. Die fünfzehn Jahre der Arbeit an diesem Text schildert er in Exzerpten, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen als äußerst mühsam. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn die Abfassung der Schrift fällt in die Zeit einer kompletten ästhetischen und religiösen Neuorientierung Tolstojs. Den Beginn dieser Neuorientierung markiert die kurz zuvor, 1879, in seinem 51. Lebensjahr verfasste öffentliche Beichte. Diese Beichte, versehen mit dem Untertitel Vorrede zu einem unveröffentlichten Werk, markiert einen Wendepunkt in seinem literarischen Schaffen und Leben. In der Folge der in der Beichte formulierten Vergehen verurteilt er auch sein gesamtes Frühwerk, bis auf die Erzählungen Gott sieht die Wahrheit und Der Gefangene im Kaukasus, als schlechte Kunst. Mit der Beichte beginnt Tolstojs Prozess einer umfassenden Relektüre, zunächst der Relektüre seines Selbst und seiner eigenen Werke, um im Anschluss eine Relektüre religiöser Schriften vorzunehmen, die er in der Untersuchung der dogmatischen Theologie (1880–84), in der Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien (1879–81) und schließlich in seiner Bekenntnisschrift Mein Glaube (1883/84) darlegt. Selbstlektüre und die Lektüre der heiligen Schrift stehen bei Tolstoj in einem unmittelbaren Zusammenhang, der erst in den ästhetiktheoretischen Schriften, insbesondere in Was ist Kunst? explizit von ihm formuliert wird.

Ansteckung Im Mittelpunkt von Was ist Kunst? steht der Versuch, ein neues Kriterium für das Fällen ästhetischer Urteile ins Spiel zu bringen, das Tolstoj im Prozess der »Ansteckung« (zaraˇzenie) vermutet. Obwohl »Ansteckung«1 begrifflich zunächst nicht auf einen ästhetischen Prozess verweist, verwendet Tolstoj diesen im Sinne einer durch künstlerische Werke hervorgerufenen, religiös motivierten, ethischen Kinesis. Religiöses Interesse und ästhetischer Entwurf treffen sich im Konzept der Ansteckung. Die von Tolstoj geforderte kommunikative Funktion der Kunst lässt sich als ein Modell be-

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schreiben, das ästhetische Erfahrung als communio und auch als sobornost’2 konzipiert. Tolstoj vertritt in Was ist Kunst? die These, dass nur Kunst, die anzustecken vermag, wahrhaftige Kunst sei. Ansteckung bezeichnet Tolstoj als die kommunikative Funktion der Kunst. Der Autor, so seine Überzeugung, stecke die Leser genau mit jenem Gefühl an, das er selbst beim Schreiben empfunden hat: Ein einmal empfundenes Gefühl erneut in sich hervorzurufen und, hat man es in sich hervorgerufen, es vermittels Bewegungen, Linien, Farben, Tönen oder in Worten ausgedrückter Bilder so wiederzugeben, dass andere genau das gleiche Gefühl empfinden – hierin besteht das Wirken der Kunst. Kunst ist eine menschliche Tätigkeit, die darin besteht, dass ein Mensch durch bestimmte äußere Zeichen anderen die von ihm gefundenen Gefühle bewusst mitteilt und dass andere von diesen Gefühlen angesteckt werden und sie erleben. (PSS 30: 65)

Bevor Tolstoj diesen Vorgang Ansteckung nennt, ist sein Wirkungs- oder Übertragungsanliegen terminologisch noch unbestimmt; er schreibt zwar gelegentlich, dass er jenseits des geäußerten Inhalts rühren, mitfühlen, bewegen, bis ins Mark erschüttern oder mitreißen wolle, äußert sich aber nicht über das Bewegungsprinzip und die Qualität der von ihm bevorzugten Übertragung. Auch einige Szenen in Anna Karenina (1877) verraten schon ein ungewöhnlich mimetisches Verhältnis Annas zur Literatur: Las sie, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, dann hatte sie den Wunsch, sich selbst mit lautlosen Schritten im Krankenzimmer zu bewegen; las sie von der Rede, die ein Mitglied des Parlaments gehalten hatte, dann wünschte sie, diese Rede selbst zu halten, und auch wenn sie meinte, der Held müsse sich schämen, überkam sie selbst ein Gefühl der Scham. (PSS 18: 106f)

In einem Tagebucheintrag vom 23. März 1894, in der Spätphase von Was ist Kunst?, schreibt Tolstoj schließlich: »Ein künstlerisches Werk ist jenes zu nennen, das die Menschen ansteckt, das sie alle in ein und dieselbe Stimmung versetzt« (PSS 52: 113). Als Ansteckung bezeichnet Tolstoj hier jenen Vorgang, der Kunst überhaupt zu Kunst macht. Das Maß der Ansteckung impliziert quasi ein ästhetisches Urteil. Wenn Ansteckung hingegen nicht zustande kommt, dann handelt es sich nicht um Kunst, zumindest nicht um »echte«, authentische, verständliche und moralische Kunst. In Was ist Kunst? antwortet Tolstoj mit seinem Konzept der Ansteckung auf jene tradierten ästhetischen Urteile, mit deren Zustandekommen er sich polemisch von Baumgarten bis Nietzsche, teilweise zurückgreifend auf Aristoteles und Platon und in Opposition zu jener Kunst, die er als Kunstimitat betrachtet (insbesondere die französischen Symbolisten, Wagner oder den späten Beethoven), auseinandersetzt. Insgesamt handelt Tolstoj angefangen mit Baumgarten sechzig Philosophen und deren Ästhetiken ab. Die meisten Theorien gibt er jedoch aus zweiter Hand wieder.

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Ansteckung vs. Erregung Tolstojs Wirkungsästhetik will den Leser nicht mit irgendeinem Gefühl anstecken, sondern genau mit jenem, das der Autor beim Schreiben des Werkes oder der Szene empfand, wobei nur ein beim Verfassen des Werkes tatsächlich empfundenes Gefühl auch zu übertragen ist. Der künstlerische Eindruck, d.h. die Gefühlsübertragung, findet nicht statt, wenn der Autor ein fremdes, ihm selbst mitgeteiltes Gefühl wiedergibt. Tut er dies, dann vermag er nur Kunst zu imitieren, und das könnte allenfalls zu einer effektheischenden Erregung führen, zu einer bloßen Reizung der Nerven (vozdejstvie na nervy, PSS 30: 117). Die negative Wirkung der erregend-ansteckenden Kunst hatte Tolstoj vor der Ausformulierung der positiven Ansteckungstheorie in Was ist Kunst? in seiner Erzählung Kreutzersonate (1889) dargestellt. Tolstoj gibt in der Kreutzersonate über die Beichte des Protagonisten Pozdnyˇsev zu verstehen, dass Musik generell und insbesondere Ludwig van Beethovens Kreutzersonate eine gefährliche Sache sei, die eine merkwürdige, zur Selbstvergessenheit führende Wirkung erzielen könne: Musik erweckt in mir immer das Gefühl, als empfände ich etwas, was ich in Wirklichkeit gar nicht empfinde, als verstünde ich etwas, was ich gar nicht verstehe, als könnte ich etwas ausführen, wozu ich gar keine Möglichkeiten habe. (PSS 27: 61)

Eine solche negative Reizung der Nerven, wie sie in der Kreutzersonate dargestellt ist, erzeugen jene Kunstimitate, wie Tolstoj sie nennt, die nur das Gefühl übertragen, das der Künstler mithilfe herkömmlicher Techniken wiederholt, nicht aber selbst empfindet. In Was ist Kunst? begründet Tolstoj am Beispiel von Beethovens Spätwerk den Unterschied von guter Ansteckung und verwerflicher Erregung. Denn aufgrund seiner fortschreitenden Taubheit sei Beethoven nicht mehr in der Lage gewesen zu hören und damit auch zu empfinden, was er komponierte. Dies führte dazu, dass der taube Beethoven »völlig konstruierte, unfertige und daher oft sinnlose, musikalisch unverständliche Werke« geschrieben habe (PSS 30: 134). Aber nicht nur die emotionale Authentizität beim Schreiben, auch andere Faktoren können aus gewollter Ansteckung bloße Erregung werden lassen. Dazu zählt Tolstoj eine unangemessene Rezeptionssituation, im Salon oder im Theater, und die Offensichtlichkeit von Techniken und Verfahren, das Zurschaustellen des Künstlerischen der Kunst. Wenn Kunst nicht in der Lage sei, ihre Kunstgriffe zu verbergen, dann übertrage sie nicht nur keine Gefühle, sondern rufe eigentlich nur noch Ärgernis hervor: Die Romane und Erzählungen Zolas und anderer mit ihren so herzergreifenden Sujets haben mich nicht eine Minute gerührt, vielmehr habe ich mich über diese Autoren geärgert, wie man sich über jemanden ärgert, der einen für so naiv hält, dass er nicht einmal den Kniff verbirgt, mit dem er einen übers Ohr hauen will. (PSS 30: 145)

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Nicht ein ehrlich erlebtes Gefühl werde hier übertragen, sondern lediglich »der Wunsch des Autors, einen Roman schreiben zu wollen« (PSS 30: 145). Die Unterscheidung von ehrlichem Gefühl und gekünsteltem Effekt und Affekt, von spontaner, authentischer Kreativität (poiesis) und Könnertum (techne), das losgelöst von einer moralisch-ethischen Intention Regungen evoziert, ist für Tolstoj das grundlegende Kriterium, Kunst von der Kunstimitation zu unterscheiden. Diese Unterscheidung adressiert Tolstoj gleichermassen an eine epigonale Nachahmungskunst wie auch irrtümlicherweise an den »ästhetischen Extremismus« der »dekadenten« Gegenwartskunst, die seiner Auffassung nach dafür verantwortlich sei, dass die Kunst immer komplizierter, ornamentaler und undeutlicher werde und allein auf Genuss abziele (PSS 30: 141). Doch auch der ornamentalen Kunst könne man in Ausnahmefällen, wenn ihr eine ehrliche Empfindung zugrunde liegt, zugestehen, dass sie Kunst sei. Dieses Eingeständnis macht Tolstoj und er ahnt im Moment des Formulierens wohl schon, dass ihm diese Widersprüchlichkeit in der Argumentation dann zum Verhängnis werden könnte, wenn er seine Übertragungstheorie nicht noch moralisch qualitativ fundiert. Deshalb heißt es schließlich: Übertragen werden kann Kunst, »die Gefühle vermittelt, welche dem religiösen Bewusstsein des Menschen entstammen« bzw. die »die allereinfachsten irdischen Gefühle vermittelt« (PSS 30: 159). In seinem Tagebuch vermerkt er zusätzlich, dass die Übertragung der religiösen Gefühle nicht zuletzt darauf zurückzuführen sei, dass diese in Form von »bewussten Erfindungen« erscheinen, also weitergeben werden in »einer poetischen, begeisterten und halb vom Glauben getragenen Verbindung« (PSS 30: 25).

Übertragungstheorien im ausgehenden 19. Jahrhundert Die Verwendung des Begriffs »Ansteckung« zur Bezeichnung einer Übertragung von Gefühlen durch künstlerische Werke ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht unüblich, nur drei Beispiele sollen dies kurz verdeutlichen. Zunächst wird in der Kunstsoziologie, insbesondere beim Philosophen Jean Marie Guyau, die These vertreten, dass Kunst und alle zeichenhaften Systeme indirekte Mittel zur Übertragung von Emotionen seien. Sie hätten die Aufgabe, »die individuelle Emotion zu verdichten, um sie unmittelbar übertragbar, um sie gewissermaßen soziabel zu machen«.3 Ein Kunstwerk zu rezipieren bedeute, Teil einer mentalen Gesellschaft zu werden, an einer Induktion teilzunehmen, die durch Expression und Fiktion vonstatten gehe. Wie Tolstoj verwendet Guyau den Begriff der Ansteckung (contagion) und den der Übertragung (transmission). Zu den direkten Mitteln der Übertragung zählt er dem gegenüber alle die Sinne betreffenden Wege wie Berüh-

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ren, Riechen, Hören, Sehen, ohne jedoch zu diskutieren, welche Sinnlichkeit den indirekten Mitteln, der geschriebenen und gesprochenen Sprache, innewohnt.4 Guyau nennt die im Menschen durch Kunst hervorgerufenen Gefühle eine »ästhetische Emotion«, die nicht nur Einfluss auf das »seelische, geistige und das sinnliche Leben« haben kann, sondern auch auf das »organische«.5 Die Übertragung selbst stellt er sich recht naiv vor: Die durch Nervenschwingungen bewegten Körper werden, bis sie zu uns gelangen, von den Licht- oder Schallwellen getragen. Im Grunde genommen gibt es nur Empfindungen von Bewegungen, und in jeder dieser Bewegungsempfindungen kann man eine mehr oder minder elementare Nachahmung der wahrgenommenen Bewegung erblicken. Der Eindruck des Angstschreis kommt dadurch zustande, dass dieser Schrei uns völlig durchdringt, uns auf eine den Nervenschwingungen des Wesens, das ihn ausgestoßen hat, symmetrische Art vibrieren lässt; ebenso beginnt mit dem Sehen einer Bewegung diese Bewegung in uns selbst.6

Tolstoj übernimmt Guyaus Übertragungskonzept nicht, ihm geht es nicht darum, in den mentalen Raum des Kunstwerks einzutauchen, sondern darum, die moralische Emotion des Autors beim Schreiben eines Werkes an den Leser zu übertragen und dabei das literarische Werk als Transmitter einzusetzen. Einig sind sich beide Autoren jedoch über die Möglichkeiten, durch Ansteckung Gemeinschaft zu stiften. Guyau glaubt, dass mimetische Reaktionen oder mimetische Reflexe eine Art »Nervenwelle« verursachen, die zu einer »Solidarität der Nervensysteme« führt.7 In den 1890er Jahren unterscheidet der Neurologe und Psychiater Vladimir Bechterev, der bei Charcot in Paris studierte, zwischen »physischen Infektionen« durch »parasitische Mikroorganismen« (dem contagium vivum) und nicht physikalisch greifbaren Infektionen, die durch ein contagium psychicum verursacht würden. Er schreibt, das contagium psychicum werde »durch Worte und Gesten übertragen, durch Bücher und Zeitungen weiter verbreitet, und wo immer wir uns befinden mögen, überall sehen wir uns umgeben von psychischen Mikroben, überall droht die Gefahr psychischer Infektion«.8 Nicht durch den Haupteingang, sondern über die Hintertreppe würden die Vorstellungen den Körper und den Geist des Rezipienten betreten. Vor dem Hintergrund eines solchen Bedrohungsszenarios analysiert Bechterev in einer Studie zur Suggestion Prozesse psychischer Infektion, also die »Übertragung seelischer Zustände, Ideen, Gefühle«,9 die nicht nur durch logische und inhaltliche Überzeugung vonstatten gehen, sondern durch Umgehung des Willens und des Bewußtseins des Rezipienten. Bechterev warnt zwar vor der manipulativen Kraft der Suggestion, allerdings macht er zugleich deutlich, dass die Geschichte der »psychischen Epidemien« immer einhergeht mit einer Ideologie (politisch oder religiös), die behauptet, dass Sprache oder Kunst als Übertragungsmittel von Sünde und damit verbunden von Krankheit überhaupt in Frage kommt. Tolstoj bezieht sich nicht auf

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Bechterev, gleichwohl waren Bechterevs Forschungen zur Suggestion seit den 1890er Jahren in Russland so populär, dass er sie kaum übersehen haben kann. Auf Guyau bezieht sich Tolstoj in Was ist Kunst? mehrfach, allerdings auf frühere Werke und dies zudem aus zweiter Hand. Als vielleicht die zentralste Quelle für einen Aspekt von Ansteckung bei Tolstoj gilt Max Nordaus Schrift Entartung, die 1893 in russischer Übersetzung erschien. Felix Philip Ingold hat gezeigt, dass Tolstoj Nordaus »prognostische These über die fernere Kulturentwicklung« nicht nur gründlich gelesen und zugleich missverstanden habe, »sondern – seiner eigenen Position entsprechend – in ihr Gegenteil verkehrte«.10 Ingold schreibt, dass dies auch für den Begriff der Ansteckung gelte. Nordau jedoch bezieht sich nur sehr allgemein auf Wirkungsmechanismen der Kunst, er spricht zwar davon, dass »die Aufgabe der Kunst das Erregen von Emotionen«11 sei, sieht aber umgekehrt in der Wirkung der entarteten Kunst, die von einer diffusen Macht des Wortes ausgeht, und auch in der Reizbarkeit der Leser und ihrer Nachahmungssucht eher ein Zeichen für den von ihm diagnostizierten Erschöpfungszustand der Epoche. Tolstoj stimmt Nordau in seiner kunst- und kulturpessimistischen Diagnose zu und verurteilt wie auch Nordau jene »geistige Zerrüttung«, die durch dekadentes und exzentrisches Verhalten provoziert wird. Tolstoj übernimmt sogar einige Formulierungen aus Nordaus Untergangsphantasie, obwohl er selbst Gegenstand von Nordaus polemischen Pauschalverdikten wurde. Auch Tolstoj wird in Nordaus Buch als Beispiel einer spezifischen Entartung vorgestellt, deren Symptom die Widerspruchswut ist. Es ist wahrscheinlich, dass sich Tolstoj bemüßigt sah, eben aufgrund dieser unheilvollen Erwähnung seine Ansteckungstheorie zu modifizieren. Die von Tolstoj abgelehnte effektheischende Ansteckung, die leere Erregung, passt sehr gut zu Nordaus Kulturpessimismus, während Tolstojs positive, religiös motivierte Ansteckung in Nordaus Denksystem keinen Platz hätte.

Kommunikation und Kommunion Tolstojs Schwierigkeiten, mit den Tücken der möglichen Wirkung von Kunst und der Übertragung zurechtzukommen, resultieren aus seinem Wunsch, der Kunst eine kommunikative Funktion zuzuschreiben. Nicht die Schönheit, so Tolstoj, ist zugrunde zu legen, auch keine physiologisch-evolutionistische Funktion, die er beispielsweise bei Friedrich Schiller, Charles Darwin oder Herbert Spencer entdeckt, keine empirische wie bei Eugène Véron, keine, die aus dem individuellen Geschmacksempfinden resultiert, sondern eine kommunikative Funktion, der ein religiöses Bewusstsein zugrunde liegt.

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Die kommunikative Funktion stellt nicht nur eine Verbindung zwischen Kunstwerk und Leser her, sondern auch »zu all denen, die gleichzeitig mit ihm, vor ihm oder nach ihm den gleichen künstlerischen Eindruck empfangen haben oder empfangen werden« (PSS 30: 64f). Denn Kunst, die anstecke, besitze die Eigenschaft, Menschen zu vereinen, sie rücke alle durch das gemeinsam empfundene Gefühl auf eine Stufe. Es handle sich um eine »Wahrheit aus dem Gebiet des Verstandes«, die »auf das Gebiet des Gefühls übertragen wird, so dass das Wohl der Menschen auf ihrer Einigung untereinander beruhe« (PSS 30: 304). Dabei ist für Tolstoj hier nicht nur der gegenwärtige Aspekt der Gemeinschaftsstiftung entscheidend, sondern auch der an die Vergangenheit anknüpfende. Denn durch die von der Kunst vermittelte Kommunikation wird für jeden einzelnen Menschen auf dem Gebiet des Gefühls all das zugänglich, was die Menschheit vor ihm erlebte, alle von Zeitgenossen erlebten Gefühle, auch wenn sie Tausende von Jahren zurückreichen (PSS 30: 78, 110). Darin, eine kommunikative Funktion zu haben, ist die Kunst auch den Worten gleich; nur gebe Kunst nicht in erster Linie Gedanken, sondern Gefühle weiter. Damit zielt Tolstoj auf die Übertragung eines anderen Wissens, eines emotionalen Wissens, und auf eine über das Gefühl vermittelte Verständlichkeit (PSS 30: 110). Ingold nennt dies einen »durch ästhetische Infizierung vermittelten Erfahrungsgewinn«, der als Selbsterfahrung nicht nur eines Anderen (d.h. des Autors), sondern auch – und zugleich – aller Anderen (d.h. der Rezipienten) stattfindet, die somit jeder auf seine Weise an derselben individuellen Erfahrung teilhaben und dadurch, zumindest »gefühlsmäßig eins werden«.12 Versucht man nun, Tolstojs ethische Kinesis anhand seiner Beschreibungen mit anderen Wirkungsästhetiken zu vergleichen, dann fällt eine Nähe zur Katharsis und auch zur Rührung auf. Im Unterschied zur Aristotelischen Katharsis, die eine homöopathische, entgegengesetzte Wirkungsmechanik beinhaltet, will Tolstoj mit der Ansteckung eigentlich eine direkte, keine antithetische Übertragung evozieren. Selbst wenn er Reue oder Läuterung auslösen will, will er diese nicht auf Umwegen herbeiführen. Allerdings verlagert er den Konflikt im Unterschied zu Aristoteles auf die Beziehung zwischen Inhalt und ästhetischer Erfahrung. Während er das abzulehnende Gefühl oder die abzulehnenden Ansichten des Helden schildert, muss er diese Ablehnung formulieren, ohne davon zu handeln. Dichtung soll so, auf eine andere Weise als bei Aristoteles, beim Anstecken impfen, und zwar durch die Übertragung des guten und religiösen Gefühls. Auf der anderen Seite der ansteckenden, kommunikativen Kunst wünscht sich Tolstoj den »idealen Leser«, dessen Nachahmungsvermögen einem sozialen Ziel folgt, nämlich der Stiftung von Gemeinschaft. Der »ideale Leser« ist ein ganz im Sinne der Forderung nach sittlicher Empfindsamkeit formu-

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liertes Konzept, das Tolstoj schon im Artikel An die Leser, den er als Vorwort zur Kindheit konzipiert hatte, und schließlich in seinen ästhetischen Schriften, dann in Verbindung mit dem Begriff der Ansteckung, wieder aufnimmt. Der ideale Leser ist der angesteckte Leser, der sich dem auf einer religiösen Grundlage vermittelten Gefühl anvertraut. Lesen bedeutet damit nicht, zu interpretieren oder eine Schrift auszulegen, ganz im Gegenteil, ein solches Lesen verfälscht und verdunkelt die von Tolstoj angenommene ursprüngliche Bedeutung des Kunstwerks. Lesen bedeutet vielmehr ein Empfangen, und zwar ein sinnliches Empfangen. Ein solchermaßen passiv entworfener Rezipient wird, wie der Psychologe und Kunsttheoretiker Lev Vygotskij in seinem 1925 verfassten Buch Die Psychologie der Kunst mit Bezug auf Tolstoj kritisiert, zu einem bloßen »Resonator« degradiert und das Kunstwerk zum Medium.13 Vygotskij kommentiert: »Wenn ein Gedicht über die Traurigkeit nichts wollte, als uns mit der Traurigkeit des Verfassers anzustecken, so wäre das sehr traurig für die Kunst.«14 Für Tolstoj ist dieses Empfangen des angesteckten Gefühls die Voraussetzung für eine unmittelbare Rezeption, die auch für seine Relektüre der religiösen Schriften eine wichtige Bedeutung erhält. Um es noch einmal zusammenzufassen: Tolstoj formuliert in Was ist Kunst? sowohl ein produktions- als auch ein rezeptionsästhetisches Modell, das auf der Basis unmittelbarer sinnlicher Kommunikation beruht, bei der der Autor zugleich der Empfänger eines im Text implizit formulierten, übertragungsfähigen emotionalen Wissens ist. Ob ein Kunstwerk echt, wahrhaft und schön sei, könne man an der Übertragungsfähigkeit erkennen bzw. daran, ob es seine kommunikative und ansteckende Funktion erfüllt. Wirkung wird damit direkt an Aufrichtigkeit und Wahrheit gebunden.

Wirkung und Wahrheit Diese Verbindung von Wirkung und Wahrheit hatte Tolstoj implizit schon in seiner Beichte formuliert, in der er ebenfalls gegen Nachahmung, Hermetik und Rhetorik polemisiert. Ohne den Begriff »Ansteckung« zu verwenden, hatte er auch beim Beichten schon vor anzustecken. Allerdings strebte er in der Beichte keinesfalls an, dass sich der Leser von den »Vergehen« des Autors anstecken lassen solle, auch solle er sich nicht in diese hineinversetzen oder sie gar nachahmen. Damit es nicht zu einer Nachahmung oder einer Empathie auf dieser Ebene kommen kann, schildert Tolstoj seine Sünden möglichst nur summarisch und nüchtern, bestenfalls ekelt er sich vor ihnen. Anstecken lassen soll man sich gerade von dieser Distanzierung und dem Ekel, denen eine tiefe Reue vorausgeht. Tolstoj will Sympathie für den

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Akt der Beichte und Reue, keinesfalls aber für seine Schwächen. Die nüchterne Art und Weise der inneren Buchführung, die viele seiner Leser, u.a. Nikolaj Berdjaev, an seiner aufrichtigen und tiefen Reue zweifeln ließ, folgt dem Muster der parrhesia, der freimütigen Rede, die so tut, als käme sie ohne Kunstgriffe aus. Indem er auf diese Weise über sich selbst spricht, ohne die Kunstgriffe der Rhetorik und ohne die formelhafte, verbale Sünden abpuffernde Lexik der Beichte, rebelliert Tolstoj sowohl gegen die religiöse Auffassung der Beichtpraxis als auch gegen die durch Rhetorik vermittelte Wahrheit in Religion und Ästhetik. Auch in Tolstojs kirchenkritischen und theologischen Schriften lässt sich die Idee der Gefühlsübertragung im Konzept der Relektüre des Evangeliums finden. Bei der Relektüre des Evangeliums fällt Tolstoj auf, dass es die Leser und Exegeten waren, die den Blick auf die ursprüngliche Wahrheit der Schrift im Laufe der Zeit verstellt haben. Von dieser verdunkelnden und entstellenden Geschichte der Lektüre will Tolstoj das Evangelium befreien, geradezu reinigen – wie im Akt der Beichte, indem er das Geschriebene nicht rational erfasst und deutet, sondern sich vom Geschriebenen unmittelbar anstecken lässt. Zu Beginn seiner Lektüre stellt er deshalb auch rigoros fest: Nicht auslegen will ich Christi Lehre! Ich will nur erzählen, wie mir das, was in ihr einfach, klar, verständlich, unzweifelhaft und an alle Menschen gerichtet ist, klar wurde, und wie das, was mir klar geworden ist, meine Seele umgewandelt und mir Frieden und Glück gegeben hat. Nicht auslegen will ich Christi Lehre; nur eines möchte ich: verhindern, dass sie ausgelegt werde. (PSS 23: 304)

Tolstoj verbindet die Lektüre des Selbst in der Beichte und die Lektüre des Evangeliums miteinander. Er kommt zum Schluss, dass der Fehler seines Lebens vor der Beichte darin bestand, an die falschen Gesetze, d.h. an die Auslegungen, geglaubt zu haben. Das Problem bestehe darin, die Worte nicht einfach so aufzufassen und zu empfangen, wie sie sind, sondern in ihnen immer noch einen anderen Sinn zu suchen und sich beim Suchen dieses Sinns bereits vom Gesetz des Auslegens bestimmen zu lassen (PSS 23: 312f). Seine eigene Lektüre hingegen soll ein »Abstreifen all dessen, was den Sinn der Lehre verhüllte« (PSS 23: 306), sein, so wie die Beichte ein Abstreifen all dessen war, was den eigentlichen Sinn des eigenen Lebens verstellt hatte. Man kann es auch noch deutlicher formulieren: Die Literatur und die heilige Schrift von der Hermeneutik und der damit verbundenen Hermetik zu befreien, ist Tolstojs eigentliches Ziel, denn die Rolle des Interpreten, der als Ausleger fungieren soll, bestehe in einem Schöpfertum, das die Institution der Kirche erfand, um die Klarheit der schon geäußerten Gedanken unzugänglich zu machen. Auslegung stellt sich Tolstoj als eine Gewalt der Verdunkelung dar, Hermeneutik offenbart sich ihm als Hermetik, die eine unmittelbare Kommunikation, wie im Konzept der Ansteckung dargestellt,

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verhindert. Tolstojs Beichtkritik, die er im Schreibakt der Beichte und durch das Beichten gegen die institutionelle Beichte vorbringt, steht damit in einem ganz anderen Kontext als beispielsweise die Beichtskepsis und Beichtlust von Fedor Dostoevskijs Protagonisten. Während Dostoevskijs Mensch aus dem Kellerloch in seinem langen paradoxen Beichtmonolog das Recht auf Hermetik gegen die Forderung der Transparenz der Kirche einklagte und in seinem Sprechakt darauf abzielte, möglichst unverständlich zu bleiben, geht Tolstoj von einer ganz anderen Auffassung des Hermetischen aus. Für ihn ist Verdunkelung eine Technik der Kirche, eine Praxis der Macht, nicht aber eine Praxis der Subversion, die sich gegen die Kirche wendet. Unverständlichkeit ist bei Tolstoj nicht im Wort selbst angelegt, sondern wird erst in der Deutung des Wortes hergestellt. Unverständlichkeit wird produziert, sie ist weder der Sprache noch dem Sprechen selbst schon eigen. Unverständlichwerden ist kein Akt des Aufbegehrens, sondern eine Übernahme bestimmter Machtstrukturen bei der Verwendung von Sprache. Nur vor diesem Hintergrund der Auffassung der Evangelien lässt sich auch Tolstojs ästhetische Kritik verstehen, in der er gegen jede Art poetischer Verdunklung anschreibt. Die Art und Weise der Lektüre des Selbst in der Beichte und später die Relektüre der Heiligen Schrift lässt sich als eine Reinigung von Zurechtlegungen und Interpretationen lesen, die nicht auf dem ewigen Gesetz, den in den Evangelien durch Christus formulierten Gesetzmäßigkeiten, beruhen. Diese Möglichkeit der Befreiung von künstlichen, kirchlichen oder ästhetischen Gesetzen legt Tolstoj auch seinen Lesern nahe, indem er ihnen, ganz seiner später formulierten Theorie der Ansteckung entsprechend, das Gefühl der Reue zu übertragen sucht, das ihm die Beichte ermöglichte. Die Ansteckung zur Reue, und zwar zu einer vollkommenen Reue, contritio, der Voraussetzung zur Beichte, soll auch die Kunst leisten und so eine Hörer- bzw. Lesergemeinschaft stiften. Tolstoj formuliert in seinen ästhetischen Schriften explizit und in seinen religiösen Schriften implizit ein Konzept von Literatur, das man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Religiöse Literatur hat eine unmittelbare Wirkung, die durch die direkte Übertragung des vom Autor beim Verfassen des Textes erlebten Gefühls bestimmt ist. Eine Beichte, die vom Gefühl der Reue getragen wird, kann und soll nach Tolstoj genau diese übertragen: die Reue. Es handelt sich bei Tolstoj um ein durch Affekte bestimmtes Lektürekonzept und ein damit verbundenes Verstehen. Tolstoj spricht den Leser seiner Texte nicht direkt an, vielmehr vertritt er eine Sprachauffassung, die durch emotionale Kommunikation, und zwar durch eine ethische Kinesis bestimmt ist.

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Rezeption Eine Sprach- und Kunstauffassung, die eine unmittelbare und sinnliche Kommunikation mit passiver Rezeption beinhaltet, wird auch im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Zusammenhängen reaktualisiert, zuerst im Gottbauertum (bogostroitel’stvo) bei Anatolij Lunaˇcarskij und Maksim Gor’kij, dann, ab 1920, im Entwurf des Agitationskonzepts von Anatolij Lunaˇcarskij, und insbesondere in der Literatur des Sozialistischen Realismus sowie in der sozialistischen Selbstkritik. Anatolij Lunaˇcarskij nobilitiert Tolstojs Kunsttheorie zu Beginn der 1920er Jahre – und dies auch vor dem Hintergrund einer Korrektur und der gleichzeitigen Wiederbelebung seines eigenen Interesses an ästhetischer Wirkung, das schon seine Theorien im Kontext des Gottbauertums bestimmt hatte. Schon in seinem 1904 verfassten Aufsatz über die Grundlagen einer positiven Ästhetik beschreibt er seine auf die Idee der »reinen Erfahrung« bei Richard Avenarius und Ernst Mach zurückgehende Idee der ästhetischen Emotion. Zu Beginn der 1920er Jahre verdeutlicht er dann die Rolle der Kunst als »Organisator von Ideen und Emotionen«.15 Sie organisiert, so heißt es mit Bezug auf Tolstojs Ansteckung in Die Grundlagen der künstlerischen Bildung, »die Emotionen als Kampfkraft, als erzieherische Kraft«.16 Eine Ansteckungsskepsis und -ablehnung hingegen lässt sich in der unmittelbar auf Tolstojs Traktat folgenden Reaktion von Valerij Brjusov finden. In seinem Essay Über Kunst (1899) schreibt Brjusov, dass er mit Tolstoj zwar dahingehend übereinstimme, Kunst als Mittel der Mitteilung zu betrachten (sredstvo obˇsˇcenija), aber eine direkte und unmittelbare Ansteckung lehne er ab. Brjusov stört an Tolstojs Ansteckungskonzeption die Übereinstimmung von Reiz und Reaktion. Brjusov zufolge könne Übertragung nie ein identisches Gefühl hervorrufen, sondern immer nur ein abgewandeltes oder ähnliches Gefühl. Gefühlsübertragung könne nie Gefühlswiederholung sein. Gegen Ansteckung setzt Brjusov Intuition. Seine Erzählung Die Republik des Südkreuzes (1905) lässt sich auch als Parodie auf Tolstojs Ansteckungsbegriff lesen. Die Helden in Brjusovs Erzählung erkranken an der Widerspruchswut (mania contradicens), das ist ausgerechnet diejenige Krankheit, die Max Nordau in seinem Buch Entartung bei Tolstoj diagnostiziert hatte.17 Die Widerspruchswut ist bei Brjusov hochansteckend und wird am effektivsten im Theater oder durch Zeitungen übertragen, so dass am Schluss alle Bewohner der von ihm entworfenen Welt des Südkreuzes (Nordaus eigentlicher Name lautet Südfeld) der Krankheit erliegen. Brjusov gelingt es also mit dieser kurzen Erzählung, sowohl Tolstojs Ansteckungsenthusiasmus als auch Nordaus Kulturpessimismus ironisch aufeinandertreffen und sich gegenseitig aufheben zu lassen.

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Anmerkungen 1 Zur Ansteckung vgl. auch R.F. Gustafson, Leo Tolstoy. Resident and Stranger. A Study in Fiction and Theology, Princeton 1986. 2 Im Unterschied dazu vgl. etwa D. Mereˇzkovskijs Idee der »Literatur als Kirche«. Sobornost’ meint die Kirche als Leib Christi und die Gemeinschaft der orthodoxen Christen als Teil dieses einen Körpers. 3 J.M. Guyau, Die Kunst als soziologisches Phänomen [1889], Berlin 1987, 36. 4 A.a.O, 36. Zu Guyau und Tolstoj vergleiche: P. Brang, L.N. Tolstoj, J.-M. Guyau und die Ansteckungstheorie, in: Die Welt der Slaven 57/1, 2012, 146–160. Brang geht detailliert auf die Rezeption Guyaus durch Tolstoj ein. 5 J.M. Guyau, Die Kunst als soziologisches Phänomen, 37. 6 A.a.O., 35. 7 A.a.O., 36. 8 W. v. Bechterew, Suggestion und ihre soziale Bedeutung. Rede gehalten auf der Jahresversammlung der Kaiserl. Medizin. Akademie 1897, St. Petersburg, Leipzig 1899, 7. 9 Ebd. 10 Vgl. F.Ph. Ingold, Lev Tolstoj und Max Nordau. Zur Rezeption und Diskussion des Dekadentismus in Russland, in: Komparatistik. Theoretische Überlegungen und südosteuropäische Wechselseitigkeit, FS Z. Konstantinovi´c, Innsbruck, am 5. Juni 1980, hg. v. F. Rinner/K. Zerinschek, Heidelberg 1981 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Folge 3, 51), 413. 11 M. Nordau, Entartung, Bd. 1, Berlin 1893, 151. 12 F.Ph. Ingold, Lev Tolstoj und Max Nordau, 404. 13 L. Vygotskij, Psychologie der Kunst, Dresden 1976, 283. 14 A.a.O., 287. Vgl. auch S. Sasse, Ästhetische Reaktionen. Lev Vygotskijs künstlerische Reaktologie, erscheint in: A.A. Hansen-Löve/B. Obermayer/G. Witte, Die vergessene Akademie. Kunstwissenschaft und Philosophie in Russland der zwanziger Jahre, München 2012. 15 A. Luna cˇ arskij, Die Revolution und die Kunst [1920/1922], in: ders., Die Revolution und die Kunst, Essays, Reden, Notizen, Dresden 1974, 27. 16 A. Luna cˇ arskij, Die Grundlagen der künstlerischen Bildung [1926], in: ders., Musik und Revolution, Leipzig 19, 116. 17 Vgl. dazu S. Sasse, Moralische Infektion. Tolstojs Konzept der Ansteckung und die Symptome der Leser, in: M. Schaub/N. Suthor (Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, 275–293.

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Kernkonzepte

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Jean-Jacques Rousseau Die Affinitäten zwischen den moralphilosophischen und weltanschaulichen Positionen Lev Tolstojs und dem Denken der französischen Aufklärung sind offensichtlich. Sie betreffen nicht nur den Inhalt der Traktate zu politischen und ethischen Fragestellungen, sondern auch die ideologischen Leitlinien sowie die erzählerische Anlage seiner Romane und Erzählungen. Selbst Tolstojs Stil, seine Denkungsart und sein Habitus sind vielfältig beeinflusst von der Ideenwelt und dem öffentlichen (Nach-)Wirken der französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts. Für die russischen Eliten gehörten die Werke der französischen Aufklärer seit dem späten 18. Jahrhundert zum Bildungsgut. Als Spross der Hocharistokratie beherrschte Tolstoj seit Kindertagen die französische Sprache und kam in der Bibliothek seines Großvaters mütterlicherseits auf dem Familiengut Jasnaja Poljana früh mit den dort reich vertretenen Büchern Voltaires, Rousseaus und anderer in Berührung.1 Spuren seiner Voltaire-Lektüre finden sich zahlreich in den Erzählungen und Romanen, aber auch in publizistischen Texten, den Notizbüchern und den Tagebüchern Tolstojs.2 Mit Montesquieus De l’esprit des lois setzte er sich schon als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Kazan’ intensiv auseinander (PSS 46: 8, 10). Der entscheidende Stichwortgeber war aber schon früh Jean-Jacques Rousseau.3 Die Vehemenz, mit der Tolstoj selbst den prägenden Einfluss Rousseaus auf die eigene Gedankenwelt immer wieder hervorhob, ist frappierend, wenn auch wohl nicht ganz frei von Stilisierung. Am 7. März 1905 schrieb er in einem Brief an den Genfer Literaturwissenschaftler Bernard Bouvier, der mit dem Projekt der Gründung einer »Société Jean-Jacques Rousseau« an ihn herangetreten war: Rousseau war mein Meister seit dem Alter von 15 Jahren. Rousseau und das Evangelium waren die großen positiven Einflüsse meines Lebens. Gerade in letzter Zeit kam ich dazu, einige seiner Werke wieder zu lesen, und ich empfand dabei dasselbe Gefühl der seelischen Erhebung und der Bewunderung, das ich verspürte, als ich ihn in frühester Jugend las.4

Und im Gespräch mit einem französischen Slavisten, den er 1901 auf Jasnaja Poljana empfing, rühmte er die »großen Meister des 18. Jahrhunderts, Voltaire, Diderot, Rousseau« und deren »schöne, für jeden nützliche, morali-

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sche« Werke, um dann auf seine jugendliche Verehrung für Rousseau zu sprechen zu kommen: Ich habe ihn mehr als bewundert; ich erwies ihm einen veritablen Kult: Mit fünfzehn Jahren trug ich sein Portrait in einem Medaillon um den Hals wie ein Heiligenbild. Seine Seiten sprechen mir so sehr nach dem Herzen, dass ich glaube, ich hätte sie selbst geschrieben.5

Ganz ähnlich äußert sich Nikolen’ka Irten’ev, die Hauptfigur der Trilogie Kindheit, Knabenalter, Jugend (1852–57), über seine Begegnung mit Rousseau. Nie werde er den »starken und freudigen Eindruck und jene Verachtung gegenüber der menschlichen Lüge und die Liebe zur Wahrheit vergessen«, die er durch die Werke Rousseaus erfahren habe. Insbesondere auch die Passagen über die »moralische Überlegenheit des Naturzustands gegenüber dem der Zivilisiertheit« hätten seine Zustimmung gefunden: »Mir war, als läse ich meine eigenen Gedanken« (PSS 2: 345).6 Ob nun Tolstoj bei Rousseau tatsächlich den »Keim aller seiner Ideen über Individualismus, Naturzustand, Gesellschaft, Erziehung, Moral und Religion« gefunden hat, wie Milan Markovitch 1928 in seiner Monographie Jean-Jacques Rousseau et Tolstoï postulierte,7 sei dahin gestellt. Der nachhaltige Einfluss der Werke Rousseaus, und zwar insbesondere der Romane Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761), Émile ou de l’éducation (1762) und der Autobiographie Confessions (1782/1789) auf das Denken nicht nur des jungen Tolstoj steht aber außer Frage.8 Die folgende Darstellung des aufklärerischen Erbes im Werk Tolstojs wird daher – orientiert an den Schwerpunkten »Erziehung«, »Geschichte«, »Wissenschaft«, »Religion«, »Politik«, »Moderne« – vor allem diesen (neben dem Evangelium) »zweiten positiven Einfluss«9 in Tolstojs Leben in den Fokus nehmen.

Erziehung Die Erziehung ist ein Lebensthema Tolstojs. Von seiner ersten literarischen Veröffentlichung, der Erzählung Kindheit (1852), bis zu den Briefen, Artikeln und Tagebuchaufzeichnungen der letzten Jahre nimmt die Frage der inneren Entwicklung des Individuums und der äußeren Einwirkung auf diesen Prozess eine Schlüsselstellung ein. »Immer klarer und klarer sehe ich, dass der Schlüssel zu allem in der Erziehung liegt. Dort liegt die Lösung von allem«, schrieb er am 14. Juli 1897 an seinen Vertrauten Pavel Birjukov (PSS 70: 103). Der Weg zur Erneuerung der Menschheit führte für Tolstoj über die Erziehung. Auch hier ist er ein Kind der Aufklärung. Die Tagebücher dokumentieren, dass er parallel zur Arbeit an Kindheit Rousseau las: Sein Bemühen, das »Kind im Kind« zu sehen und kindliche

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Bewusstseinsregungen in ihrem Facettenreichtum literarisch darzustellen, steht ganz im Zeichen eines maßgeblich von Rousseau begründeten Kindheitskults:10 Das Kind erscheint hier als das echte, noch unverdorbene, unschuldige und zu allem Guten fähige Wesen. Die Gegenwart der Kindheit, so eines der Hauptanliegen Rousseaus, solle nicht zur Geisel einer – ohnehin immer ungewissen – Zukunft werden.11 Darin artikuliert sich auch eine nostalgische und kulturkritische Note: Denn hier wird als gegeben vorausgesetzt, dass die Kindheit eine Phase der ungetrübten, glücklichen Präsenzsattheit sei, und vor allem, dass sie von den Kindern auch so empfunden werde. Letzteres kann schon das Versuchskaninchen Émile nicht zeigen; noch schwieriger wird es bei Tolstoj, wo die ganze Trilogie des Heranwachsens in erster Linie eine Erzählung über den Abschied von der Kindheit ist.12 Gleichwohl muss die pädagogische Revolution, die in den Gedanken Rousseaus wie auch in der pädagogischen Theorie und Praxis des Schulgründers Tolstoj steckt, als solche gewürdigt werden. Rousseau will mit seiner »negativen Erziehung«13 dem Zögling eine ungestörte, gegenüber dem schädlichen Einfluss von Vorurteilen und sozialen Institutionen abgeschirmte Entwicklung seiner Sinnesgaben und Erkenntnisorgane ermöglichen. Es geht ihm um die Bewahrung der »forme originelle«.14 Die Natur hat bei Rousseau »alles zum Besten« eingerichtet. »Vorurteile und menschliche Institutionen« wirken da nur zerstörerisch. Daher hat die ideale Erziehung des idealen Menschen fernab von der Zivilisation und vor allem der Stadt, diesem »Abgrund der menschlichen Art«, stattzufinden.15 Der Zögling soll lernen, das »Leben« zu spüren und seinen Freiheitstrieb zu entwickeln. Nur so könne der verhängnisvollen Einwirkung der Zivilisation entgegengewirkt werden. Alle diese Ansätze finden sich im pädagogischen Denken Tolstojs wieder,16 der sie freilich in der ihm eigenen Art der konsequenten Zuspitzung einmal erkannter »Wahrheiten« radikalisierte. Die liberalen Vorstellungen Rousseaus gehen bei ihm in eine Doktrin der erzieherischen Nichteinwirkung über. Die Erziehung, so Tolstoj in einem Beitrag für die von ihm 1862 gegründete pädagogische Zeitschrift Jasnaja Poljana, »verderbe« die Menschen, anstatt sie zu verbessern. Das Kind, so erläutert er, stehe dem Ideal von »Harmonie, Wahrheit, Schönheit und Güte« immer schon näher als sein Erzieher, der es zu diesem Ideal erst hinführen wolle.17 Ganz im Sinne Rousseaus war Tolstoj der Meinung, dass der Mensch »vollkommen« geboren werde:18 »Unser Ideal liegt hinter uns und nicht vor uns« (PSS 8: 323). Auch noch Jahre später notierte er, dass das Wichtigste an der Erziehung eben »Untätigkeit« sei: Man müsse sich, so weit es eben gehe, »einer aktiven, geschweige denn gewalttätigen«, ja sogar »einer jeglichen Einwirkung auf die Kinder enthalten« (PSS 58, 205). Die Natur wird bei Tolstoj überall über, wenn nicht sogar gegen die Kultur gestellt. Seine Romane handeln von den Dilemmata, die sich für den Einzel-

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nen ergeben, wenn er sich in das Geflecht sozialer Beziehungen und Kontrollmechanismen begibt. Gattungsmäßig oft als »Gesellschaftsromane« kategorisiert, wirken sie in ihrer weltanschaulichen Ausrichtung als reinste Anti-Gesellschaftsromane: Sie verdammen alle Formen und Gestalten der Nicht-Unmittelbarkeit, ohne die die komplexe gesellschaftliche Organisation der Moderne nicht auskommt. Die Kindheit ist in der Vorstellung Tolstojs und Rousseaus noch eine »Epoche der Unmittelbarkeit«,19 die mit dem Eintritt des Heranwachsenden in die Gesellschaft verloren geht. Das Leben in der Gesellschaft kann deshalb gegenüber der verlorenen »Heimat« der Kindheit nur als eine Art »Exil« gesehen werden.20 Daher Tolstojs Bestreben, sich der bäuerlichen Lebensweise anzunähern, seine Ablehnung des comme il faut, des städtischen Lebens, der »Falschheit« in Gefühlswelt und Verhalten. Daher aber auch das stete Ungenügen an sich selbst und die unaufhörliche Selbstsuche, die den Autor mit den Hauptfiguren seiner Romane verbindet. Das Erziehungsprojekt bei Rousseau, das im Kern ein anthropologisches Experiment ist, stellt den Versuch einer Rekonstruktion des »Menschen« überhaupt dar. Tolstoj »versuchte, sein seelisches Leben in Regeln zu ketten und experimentierte als Pädagoge mit sich selbst«.21 Die Grundformel von Tolstojs moralischer Erziehung ist der Appell zur Selbstvervollkommnung. Die perfectibilité, das Alleinstellungsmerkmal des Menschen bei Rousseau,22 wird bei Tolstoj zur andauernden moralischen Verpflichtung. Die Tagebuchaufzeichnungen des jungen Studenten stehen genauso unter dem Druck dieses Ethos einer unablässigen Perfektionierung des Selbst wie noch die moralphilosophischen Reflexionen des weltberühmten Schriftstellers (PSS 90: 148). In seinem letzten Roman Auferstehung (1889–99) findet sich gar das Bild einer »Säuberung der Seele« (ˇcistka duˇsi), mit dem der Totalitätsanspruch des aufklärerischen Menschenbilds zugleich radikalisiert und verinnerlicht wird: Im Zuge dieser Säuberung will Nechljudov, die Hauptgestalt des Romans, den ganzen »Schmutz« beseitigen, der zur »Verlangsamung« oder sogar zum »Stillstand« seines inneren Lebens geführt hat (PSS 32: 102). Mit dieser pädagogischen Figurenkonzeption arbeitet sich Tolstoj an den erzählerischen Versuchsanordnungen des 18. Jahrhunderts ab, denen es darum ging, über die Darstellung exemplarischer Fallgeschichten zu anthropologischen Universalien vorzudringen. »Also sind alle Menschen genauso wie ich«, freut sich der Ich-Erzähler Tolstojs bei der Lektüre der Confessions: »[…] nicht nur ich allein bin als ein solch hässlicher Mensch mit einem Abgrund an widerwärtigen Eigenschaften auf die Welt gekommen« (PSS 2: 345).23 Er genießt hier den Trost, den das rousseausche Experiment und die von ihm in Gang gesetzte Lesedisposition des Traktatromans des 18. Jahrhunderts zu spenden vermochten. Aber dieser Trost hält nicht lange vor, weil die moralischen Nöte sich mit einer individuelleren Betrachtung des Einzelmenschen unendlich diversifizieren.

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Dabei war Rousseaus abstrakter Mensch gerade eine Antwort auf die Erfordernisse der Moderne gewesen: Er reagierte damit auf die vorgefundene »Beweglichkeit der menschlichen Angelegenheiten«.24 Denn da man im Vorhinein die Umstände gar nicht kenne, mit denen ein Mensch im Laufe seines Lebens konfrontiert werde, könne man ihn auch nicht auf deren konkrete Gestalt hin vorbereiten, sondern müsse ihm zuallererst Techniken vermitteln, die es ihm ermöglichten, durch alle Fährnisse hindurch »Mensch« zu bleiben. Es scheint, dass das Wesen des Menschen in der Epoche der allgemeinen »Beweglichkeit« nur dann konzeptionell erfasst werden kann, wenn es selbst als beweglich begriffen wird. Tolstoj übernimmt von Rousseau den so emphatischen wie abstrakten Begriff des Menschen und setzt ihn unter den Druck der Selbstoptimierung. Bereits ein früher philosophischer Entwurf setzt ein mit der apodiktischen Feststellung »Der Mensch strebt, d.h. der Mensch ist aktiv«, um dieser Aktivität dann eine moralische Richtung beizugeben: [W]enn jeder Mensch nach seiner eigenen Vervollkommnung strebt, dann kann die Ordnung auf keinen Fall zerstört werden, denn jeder wird für den anderen das tun, von dem er wünscht, dass es der andere für ihn tun werde. (PSS 1: 229)

Tolstoj verinnerlichte das aufklärerische Erziehungsideal, um es radikal zu veräußerlichen. Das erlaubte ihm, globalere Probleme in Angriff zu nehmen, ohne dass er dabei den Umweg über »Gesellschaft« oder gar »Institutionen« nehmen musste: Das letzte und einzig gültige Ziel der Erziehung ist für ihn die Realisierung der »wahren Natur« des Menschen (PSS 90: 135). Diese wahre Natur realisiere sich, wenn der Mensch nach dem Willen Gottes lebe, und das tue er, wenn alle menschlichen Beziehungen von »Einheit« und »Liebe« geprägt seien.

Geschichte Tolstojs pädagogische Überlegungen trafen nicht zuletzt wegen ihrer durch keinerlei Historisierung getrübten Orientierung an naturrechtlichen Vorstellungen auf kritische Stimmen. In einer Entgegnung auf einen solchen Einwurf formulierte Tolstoj 1862: Seit den Zeiten Hegels und seines berühmten Aphorismus »was geschichtlich ist, ist auch vernünftig« dominiert in literarischen und mündlichen Debatten insbesondere bei uns ein ziemlich merkwürdiger geistiger Zaubertrick unter dem Namen historische Betrachtung. […] Eine historische Betrachtung antwortet auf alle unsere Versuche nur damit, dass Rousseau und Luther Produkte ihrer Zeit waren. Wir suchen jenes ewige Prinzip, das sich in ihnen ausdrückte, und man spricht uns von der Form, in der dieses Prinzip sich ausdrückte […]. (PSS 8: 326, 330)

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Tolstoj war im Geist des französischen 18. Jahrhunderts vom Glauben an die universelle, überhistorische und objektive Gültigkeit bestimmter grundlegender Werte und Prinzipien beseelt.25 Eine historisierende Perspektive kann da nur stören. »[D]ie Geschichte ist eine der rückständigsten Wissenschaften und eine Wissenschaft, die ihren Zweck verloren hat«, stellt er schon zu seiner Kazaner Studentenzeit in den Philosophischen Bemerkungen zu den Reden Jean-Jacques Rousseaus fest (PSS 1: 222). In einem Brief an Aleksandr Gercen, der wie kaum ein anderer russischer Autor der Epoche dem geschichtsphilosophischen Paradigma verpflichtet war, tat Tolstoj später die Geschichte selbst und mit ihr den Erkenntniswert historischer Erklärungsmodelle als längst geplatzte »Seifenblase« ab (PSS 60: 374). Der Widerstreit zwischen dem Historismus des 19. und dem metaphysischen Humanismus des 18. Jahrhunderts ist eine zentrale ideengeschichtliche Wasserscheide im russischen intellektuellen Leben des 19. Jahrhunderts.26 Mit seiner Positionsnahme gegen das Denken der Historizität riskierte Tolstoj sogar eine Abweichung vom rousseauschen Modell, machten doch dessen anthropologische Überlegungen ausgiebig Gebrauch von der historischen Dimension.27 Das bedeutet nicht, dass Tolstoj die Geschichte als solche negierte, und schon gar nicht, dass Rousseaus historisierende Legitimationsfiguren etwas mit Realgeschichte zu tun hätten: Das heißt aber, dass Tolstoj seine Wertvorstellungen eben nicht durch den Verweis auf ihre Gewordenheit begründete oder sie in fiktiven Naturzuständen zu verankern suchte: Er dachte in Kategorien des Absoluten.28 Alle seine moralphilosophischen Überlegungen und selbst seine politischen Stellungnahmen brechen historische Konstellationen auf außerhistorische Kategorien herunter und verhandeln sie in den Parametern von »gut« (= natürlich, echt, wahr …) und »böse« (= unnatürlich, geheuchelt, verlogen …). Gleichwohl interessierte er sich intensiv für historische Fragestellungen, gleichwohl setzte er sich mit dem Historismus seiner Zeit auseinander und entwickelte sogar eine eigene Theorie der Geschichte – was ihn wiederum grundsätzlich von Rousseau unterscheidet.29 Seine Überlegungen sind dabei stets von Ausfällen gegen die dominierenden historiographischen und geschichtsphilosophischen Modelle seiner Zeit begleitet.30 Der historische Roman Krieg und Frieden diente nicht zuletzt der Demonstration der praktischen Unmöglichkeit einer verstandesmäßigen Erfassung oder gar aktiven Lenkung historischer Abläufe durch das Individuum. Das »Leben«, dieser von Tolstoj stets mit großer Emphase verwendete Begriff, ist einfach zu komplex, als dass es mit den Mitteln menschlicher Logik aufgeschlüsselt werden könnte.31

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Wissenschaft Die theoretischen Inkonsistenzen in Tolstojs Ausführungen zur Geschichte haben ihre Wurzeln in den inneren Paradoxien der aufklärerischen Episteme: Einerseits ist Tolstoj Empiriker und daher prinzipiell skeptisch eingestellt gegenüber Abstraktionen und metaphysischen Spekulationen. Was nicht unmittelbar sinnlich erfassbar oder logisch nachvollziehbar ist, erscheint ihm als unnatürlich und unwahr und wird zum Objekt seines beißenden Spottes. »Nur solche Wissenschaft, die auf der Erfahrung beruhte, rief nicht seine ablehnende Haltung hervor«,32 resümiert Alla Polosina Tolstojs Wissenschaftsverständnis. Auch noch diese Ablehnung »unnatürlicher« Spekulation erinnert stark an die Überlegungen Rousseaus, der in Émile den Präzeptor seines Ich-Erzählers befinden lässt, dass der »Jargon der Metaphysik, noch nie zur Entdeckung auch nur einer einzigen Wahrheit« geführt habe.33 Diesem radikalen Skeptizismus einer selbstgewissen Vernunft steht aber andererseits bei Tolstoj (wie auch bei Rousseau) das Festhalten an ewigen Werten und Wahrheiten gegenüber. Die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit dieser Werte und Wahrheiten kann nur dekretiert oder intuitiv erfahren werden, wobei diese beiden Strategien bei Tolstoj aufgrund des apodiktischautoritativen Stils seiner Prosa kaum auseinander zu halten sind. Insbesondere seit der religiös-moralischen Wende der späten 1870er Jahre polemisierte Tolstoj scharf gegen das positivistische Wissenschaftsverständnis seiner Zeit: Auch die Wissenschaft unterwarf er dem Primat der »Liebe« und wollte sie nur dort gelten lassen, wo sie auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen hinwirkt (PSS 30: 190, 193f). Die »Nützlichkeit« als oberstes Kriterium der Naturwissenschaft machte Tolstoj auch bei Diderot aus, dessen Ausgewählte Werke er 1891 las (PSS 52: 24). Diese Indienstnahme der Wissenschaft für die Zwecke der Moral hinderte ihn keineswegs daran, die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen wahrzunehmen und in seine Konzeption einzupassen: So ist er dem Darwinismus »sehr dankbar«, weil dieser gezeigt habe, dass es keine kategoriale »Grenze« zwischen den einzelnen Erscheinungsformen des Menschen gebe: Daher müsse man sich auch unterschiedslos allen gegenüber moralisch verhalten (PSS 52: 14). Tolstoj war der Überzeugung, dass die eigentliche Bestimmung des Menschen in seiner geistigen Existenz liege; diese werde von den materiellen Gegebenheiten, die allein Gegenstand der Wissenschaft seien, nicht affiziert. Man könnte hier von einer dualistischen Erkenntnistheorie sprechen, wenn nicht die »Erkenntnis auf dem Wege der fünf Sinne« der Erkenntnis durch »Liebe« so klar untergeordnet wäre (PSS 52: 101).

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Religion Nach Karl Barth hat Rousseau mit seiner »Erweiterung des Vernunftbegriffs« den spätestens im 18. Jahrhundert offensichtlich zu Tage tretenden inneren Widerspruch zwischen einem scharfen methodischen Skeptizismus einerseits und der Anerkennung der »Geistnatur« des Menschen andererseits gelöst. Barth sieht in den theologischen relevanten Inhalten der Lehre Rousseaus sogar eine »Schlichtung des Streites zwischen Vernunft und Offenbarung«, insofern hier die Sünde und die Gnade gleichermaßen immanentisiert, in die menschlichen Möglichkeiten hineingelegt würden.34 Der zugrunde liegende Impuls ist also der einer Entdifferenzierung von zuvor in der theologischen Tradition getrennt geführten Sphären – was der Grundausrichtung von Tolstojs theologischem Denken entspricht. Manche von Tolstojs Überlegungen erscheinen wie Fortentwicklungen etwa der Gedanken des Vicaire savoyard, dessen »Profession de foi« Rousseau ins vierte Kapitel seines Émile aufgenommen hatte. In dieser Schrift, der der 23-jährige Student Tolstoj in seinem Tagebuch attestierte, sie sei »voller widersprüchlicher, unklar-abstrakter Stellen und ungewöhnlicher Schönheiten« (PSS 46: 128), findet sich eine »Definition« Gottes, wie sie auch beim späten Tolstoj zu lesen sein könnte: Dieses Wesen, das will und kann, dieses Wesen, das durch sich selbst aktiv ist, dieses Wesen schließlich, wer es auch sei, das das Universum bewegt und die Dinge anordnet, ich nenne es Gott. […] Ich erkenne Gott überall in seinen Werken; ich spüre ihn in mir, ich sehe ihn überall um mich herum; aber sobald ich ihn in sich selbst betrachten möchte, sobald ich suchen möchte, wo er ist, was er ist, welches seine Substanz ist, entflieht er mir und mein verwirrter Geist erkennt gar nichts mehr.35

Auch Tolstoj fasst Gott als eine Unbestimmtheitsstelle, die im Zentrum der Welt und seines persönlichen Strebens angesiedelt wird. »Nun, so also denke, vielmehr fühle ich« (f 224),36 notiert Tolstoj über seine Reflexionen zu Gott; der Vicaire savoyard sagt: »Ich sehe ihn oder spüre ihn eher.«37 Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch eine gewisse Gelassenheit gegenüber den konkreten Ausformungen des religiösen Bekenntnisses. Anfang 1887 übertrug Tolstoj die Kurzerzählung Le café de Surate des französischen Schriftstellers Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814) ins Russische:38 Ganz im Geist Rousseaus klingt hier ein Disput unter den Angehörigen verschiedener Religionsgruppen mit den weisen Worten eines Konfuzianers aus, der deren jeweiligen Exklusivitätsanspruch mit einem Verweis auf die »Natur« als das perfekte Urbild »aller Tempel der Welt« entkräftet.39 In sein Kalenderbuch Für jeden Tag, in dem er »Gedanken vieler Schriftsteller über die Wahrheit, das Leben und das Verhalten« versammelte, nahm Tolstoj unter der Überschrift »Offenbarung und Vernunft« einen mehrseitigen Ausschnitt aus der »Profession de foi« als Wochenlektüre auf (PSS 42:

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176–180). Die ideale Sicht auf die Religion, die Rousseau hier entfaltet, richtet sich sowohl gegen die atheistische Polemik der philosophes wie gegen die Amtskirche mit ihrem Anspruch auf Exklusivität, ihren Dogmen und ihrem dekretierten Wunderglauben. Gott habe dem Menschen wohl kaum den Verstand gegeben, um ihm dann dessen Gebrauch zu verbieten, heißt es in der genannten Passage, und: »Der Glaube wird durch das Verstehen bestärkt.«40 Überhaupt wird die Kirche als Institution bei Rousseau wie dann auch bei Tolstoj negativ bewertet. Zentral dagegen ist für beide das Evangelium und der individuelle Zugang zur Religion. Bei Rousseau geht es nur darum, was Gott »zum Herzen des Menschen« spricht.41 Religion wird hier als empfindsamer Diskurs gepflegt. Tolstoj bleibt beim Verzicht auf Institution, Dogmen und Sakramente und operiert ebenfalls mit einem weitgehend ins individuelle Empfinden verlegten Zugang zur Religion, aber er setzt dann viel stärker auf die moralisch bindende Dimension der christlichen Botschaft bzw. der religiösen Lebensanschauung. Eine reine Immanentisierung liegt bei Tolstoj eben nicht vor. Vielmehr extrahiert er die Sphäre des Religiösen und zeigt eine scharfe Grenze auf, die zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen verläuft. Hier ergeben sich sogar die Konturen eines Dualismus, mit dem Tolstoj die heillose irdische Welt von der Heilswelt des wahren Christentums abgrenzt: »Wenn der Mensch keinen Gott hat, ist er ein Tier«, hielt der späte Tolstoj fest.42 Tolstoj, der daran glaubte, dass das Reich Gottes als Möglichkeit in den Menschen liege,43 sah zugleich die Notwendigkeit einer scharfen Abgrenzung. Im Grunde ist es diese, auf die es ihm ankommt, denn nur diese scharfe Unterscheidung lässt sich in Handeln übersetzen: »Alles, was wir wissen können, ist das, was wir, die wir die Menschheit ausmachen, tun müssen und was wir unterlassen müssen, damit dieses Reich Gottes anbricht« (f 187; PSS 28: 220).

Politik Rousseau äußert sich in Du contrat social skeptisch über die Vereinbarkeit von Christentum und republikanischen Prinzipien. Das Christentum schaffe zwar eine echte Gemeinschaft der Gläubigen, »entferne« aber zugleich die »Herzen« seiner Anhänger »vom Staat wie von allen irdischen Dingen«. Daher gebe es nichts, was dem »Gesellschaftsgeist« (esprit social) mehr zuwiderlaufe.44 Mit den Christen ist also kein Staat zu machen. Wenn Rousseau bemerkt, dass etwa die Christen, die an den Kreuzzügen teilgenommen hätten, »weit davon entfernt« gewesen seien, wirkliche Christen zu sein, und hervorhebt, dass ein »heiliger Krieg« für Christen ein Ding der Unmöglichkeit sein müsse,45 dann weist dies hinaus auf Tolstojs mit Berufung auf

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Mt 5,39 begründete (f 107; PSS 23: 310f) Aufforderung, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen. Mit dem Unterschied, dass Rousseau diese Ethik mit einiger Skepsis auf ihre Verwertbarkeit im Rahmen der politischen Ordnung der Republik überprüft, während Tolstoj ganz klar für den Primat der christlichen Ethik optiert, und zwar nicht etwa aus Eskapismus (wie Rousseau den »wahren« Christen implizit unterstellt), sondern weil er überzeugt ist, dass eine getreue Gefolgschaft gegenüber den Geboten Jesu eine Erneuerung auch der sozialen Beziehungen der Menschheit herbeiführen werde. Schon als Student vertrat Tolstoj im Zuge seines Vergleichs von Montesquieus De l’esprit des lois mit der »Instruktion für eine Kommission zur Abfassung eines Projekts für ein neues Gesetzbuch« von Katharina II. die Ansicht, dass das »positive Gesetz, um perfekt zu sein, identisch mit dem moralischen Gesetz« sein müsse (PSS 46: 15). Später teilte er mit den Slavophilen das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Institution des Rechts als Basis eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Es ist daher klar, dass er auch ein Gemeinwesen, wie es im Contrat social skizziert wird, ablehnen muss: Tolstoj ist schlicht ein Gegner jeglicher staatlichen Organisation.46 Denn in der Staatlichkeit liegt für ihn immer das Moment der Gewalt. Dass zum Beispiel Rousseau in dem von ihm projektierten Idealstaat die Todesstrafe für das »schlimmste aller Verbrechen«, den Bruch des Gesellschaftsvertrags, vorsieht,47 wäre im Sinne Tolstoj nur als deutlicher Beleg für die geradezu strukturelle Verquickung zwischen staatlicher Ordnung, formalem Recht und physischer Gewalt zu lesen. Sein Programm ist hingegen das eines »christlichen Anarchismus«.48 Er ist überzeugt, dass es die moralische Pflicht der Menschen sei, darauf hinzuwirken, den Willen Gottes zu verwirklichen, und das heißt, eine »harmonische Einigung alles Lebenden« herzustellen (PSS 28: 306). Die Instanz, auf die sich Tolstoj dabei beruft, ist die »Wahrheit«. Seine Hoffnung setzt er in das »höhere Bewusstsein« und das »Gewissen« des einzelnen Menschen. Dessen Abkehr von der bisherigen Heuchelei und Staatshörigkeit vergleicht er mit dem Erwachen aus einem »Alptraum« (PSS 28: 305). Bemerkenswert ist, dass Tolstoj auf seinem Feldzug gegen die Staatlichkeit auf die Macht der »öffentlichen Meinung« setzte (PSS 28: 302). Hier liegt der Impuls für sein kulturkritisches Wirken und seine unablässigen öffentlichen Interventionen in tagespolitischen Fragen. Auch darin knüpfte er an seine Vorbilder aus der französischen Aufklärung an, die es ebenfalls als ihre Aufgabe gesehen hatten, mittels öffentlicher Meinungsbekundung eine Verbesserung vorgefundener Missstände herbeizuführen. Die Position, der Tolstoj auf diesem Wege zum Durchbruch verhelfen wollte, ist allerdings keineswegs von aufklärerischer Liberalität geprägt. Sie verträgt sich auch schlecht mit der Vorstellung eines pluralistischen Meinungskampfes, wie sie gewöhnlich mit dem Begriff der »öffentlichen Meinung« assoziiert wird. Vielmehr

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ging es ihm um die Umsetzung einer alle erfassenden Harmonie und insofern wohl um eine besondere Form der gewaltfreien Theokratie. Immerhin entkam er so den Sachzwängen einer Diktatur der Tugend, wie sie in der politischen Philosophie der französischen Aufklärung angelegt waren.

Die Moderne Mit seinem Bestreben, im Sinne subjektiv anerkannter höchster Wahrheiten auf eine umfassende Verbesserung der Menschheit hinzuwirken, steht Tolstoj, wie gesehen, in direkter Nachfolge zu den französischen Denkern und Intellektuellen des 18. Jahrhunderts. Zugleich ist sein künstlerisches Wirken, ist sein philosophisches und theologisches Denken wie auch sein gesellschaftliches Engagement von einem machtvollen antimodernen Impuls geprägt, der die Komplexität der modernen Kultur und Zivilisation im Sinne einer allgemeinen Harmonisierung radikal reduzieren will. Alles, was über »natürliche« Empfindungen und »unmittelbare« Beziehungen hinausgeht, sieht er skeptisch. Vor den Auswüchsen eines Skeptizismus ohne Stoppregel rettet das Individuum bei Tolstoj aber keine komplizierte gesellschaftstheoretische Konstruktion, sondern eine unmittelbare, auf das subjektive Empfinden heruntergerechnete Orientierung an der Gemeinschaft. Und hier kommt die Religion ins Spiel. Wenn dies nicht eine absurde Formulierung wäre, könnte man sie als Tolstojs Gesellschaftsvertrag bezeichnen: Denn es ist nur allein das religiöse Gefühl, das dem souveränen, aber einsamen Individuum den heilsamen Weg zur Gemeinschaft weist.49 Ein Tagebucheintrag vom 6. Juni 1905 gibt Aufschluss über Tolstojs eigene Einschätzung seines widersprüchlichen Verhältnisses zum kultur- und modernekritischen Gehalt der Schriften Rousseaus: Man vergleicht mich mit Rousseau. Ich bin R[ousseau] in vielem verpflichtet, aber es gibt einen großen Unterschied. Dieser Unterschied ist der, dass R[ousseau] jegliche Zivilisation ablehnt, ich aber lehne nur die pseudochristliche ab. (PSS 55: 145)

In diesen lakonischen Befund müssen wir aber hineinlesen, dass die Ablehnung der gegenwärtigen Zivilisation bei Tolstoj alle Sphären von Kultur und gesellschaftlicher Ordnung umfasste und dass es ihm gerade eben nicht um alternative Modelle der Organisation ging. Insofern ist Tolstojs Kritik viel fundamentaler als die Rousseaus. Denn sie bezieht sich umfassend auf die gesamten kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Ordnungsmodelle der modernen Welt – einer Welt, die sich die kulturkritischen Reflexe, aber vor allem die politischen Entwürfe der französischen Aufklärung in Vielem zu eigen gemacht hat.

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Anmerkungen 1 A.N. Polosina, L.N. Tolstoj – cˇ itatel’ Vol’tera, in: Tolstoj – e˙ to celyj mir. Materialy i issledovanija, 2004, 61. Vgl. N.N. Gusev, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj. Materialy k biografii s 1828 po 1855 god, 1955, 630; A.N. Polosina, Knigi Zˇan-Zˇaka Russo v jasnopoljanskoj biblioteke, in: Tolstovskij sbornik 2000. Materialy XXVI Meˇzdunarodnych Tolstovskich cˇ tenij, Cˇ ast’ II: Duchovnoe nasledie L.N. Tolstogo i sovremennost’, Tula 2000, 307; dies., Sobranie knig XVIII veka v biblioteke L.N. Tolstogo, in: Jasnopoljanskij sbornik 2000. Stat’i, materialy, publikacii, Tula 2000, 298. 2 A.N. Polosina, L.N. Tolstoj – cˇ itatel’ Vol’tera. Vgl. P.R. Zaborov, Russkaja literatura i Vol’ter. XVIII-pervaja tret’ XIX veka, Leningrad 1978, 230. 3 Vgl. I. Berlin, Russian Thinkers, London 1979, 240: »His closest affinity […] is with Rousseau; he liked and admired Rousseau’s views more than those of any other modern writer.« Vgl. V. Zborilek, Tolstoy and Rousseau. A Study in Literary Relationship, Ph.D. University of California, Berkeley 1969. 4 L.N. Tolstoy, in: Annales de la Société J.-J. Rousseau, Bd. 1, 1905, 7: »Rousseau a été mon maître depuis l’âge de quinze ans. Rousseau et l’Evangile ont été les deux grandes et bienfaisantes influences de ma vie. Tout dernièrement il m’est arrivé de relire quelques-unes de ses œuvres et j’ai éprouvé le même sentiment d’élévation d’âme et d’admiration que j’ai éprouvé en le lisant dans ma première jeunesse.« 5 P. Boyer, Chez Tolstoï. Trois jours a Jasnaïa Poliana, in: Le Temps, mercredi, 28. 08. 1901, 2 (kursiv dort): »Je faisais mieux que l’admirer; je lui rendais un culte véritable: à quinze ans, je portais au cou son portrait en médaillon comme une image sainte … Telles pages de lui me vont au cœur; je crois que je les aurais écrites.«; vgl. M. Markovitch, Jean-Jacques Rousseau et Tolstoï, Paris 1928, 5. Zum Medaillon vgl. D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910. Jasnopoljanskie zapiski D.P. Makovickogo, 5 Bd., Moskau 1979–1981, Bd. 2, 101 (= Literaturnoe nasledstvo, 90). 6 Die zitierte Passage entstammt der unvollendet gebliebenen »Zweiten Hälfte« zu der Erzählung Jugend, an der Tolstoj 1857 arbeitete. 7 M. Markovitch, Jean-Jacques Rousseau et Tolstoï, 6. 8 Vgl. auch einen Brief Tolstojs an den Verleger Michail Lederle vom 25. Oktober 1891, in dem er beim Rückblick auf die Lektüreerlebnisse seiner Jugend den Eindruck, den die Confessions und Émile auf ihn gemacht hätten, als »gewaltig« (ogromnoe) und den der Nouvelle Héloïse als »sehr groß« taxiert (PSS 66: 67). Rousseaus Bücher folgen in der Liste gleich nach der ebenfalls mit »gewaltig« notierten Bergpredigt und Laurence Sternes Sentimental Journey (»sehr groß«). 9 L.N. Tolstoy, in: Annales de la Société J.-J. Rousseau, Bd. 1, 1905, 7. 10 Vgl. J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, in: Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin/M. Raymond, Bd. 4, Paris 1969, 302. 11 A.a.O., 303. 12 Vgl. C. Anschuetz, The Young Tolstoi and Rousseau’s Discourse on Inequality, in: The Russian Review 39/4, 1980, 401–425. 13 J.-J. Rousseau, Lettre à Christophe de Beaumont, in: Œuvres complètes, Bd. 4, 945. 14 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 261. 15 A.a.O., 304, 310, 277. 16 Vgl. P.F. Kapterev, Istorija russkoj pedagogii, St. Petersburg 2004, 471, 480. 17 PSS 8: 323: »Wer soll von wem schreiben lernen, die Bauernkinder von uns oder wir von den Bauernkindern?« (1862, »Komu u kogo uˇcit’sja pisat’, krest’janskim rebjatam u nas, ili nam u krest’janskich rebjat?«). 18 Vgl. P.F. Kapterev, Istorija russkoj pedagogii, 472.

Jean-Jacques Rousseau

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19 J. Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle suivi de Sept essais sur Rousseau, Paris 1971, 175. 20 C. Anschuetz, The Young Tolstoi and Rousseau’s Discourse on Inequality, 412. . 21 B.M. E jchenbaum, Molodoj Tolstoj, Petrograd/Berlin 1922 (ND: München 1968), 17. 22 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, in: Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin/M. Raymond, Bd. 3, Paris 1964, 142. 23 Aus dem unvollendeten Entwurf der »Zweiten Hälfte« von Jugend. 24 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 252 (»la mobilité des choses humaines«). 25 I. Berlin, Russian Thinkers, 53, 247. 26 J.M. Lotman, Istoki »tolstovskogo napravlenija« v russkoj literature 1830-ch godov, in: ders., O russkoj literature. Stat’i i issledovanija (1958–1993). Istorija russkoj prozy. Teorija literatury, St. Petersburg, 558, 549. 27 A.A. Divil’kovskij, Tolstoj i Russo (1912), in: Zˇ.-Zˇ. Russo. Pro et Contra. Idei ZˇanZˇaka Russo v vosprijatii i ocenke russkich myslitelej i issledovatelej (1752–1917). Antologija, St. Petersburg 2005, 659. 28 Ebd. Vgl. V.K. Kantor, Lev Tolstoj. Iskuˇsenie ne-istoriej, in: Oˇcerki russkoj kul’tury XIX veka 5: chudoˇzestvennaja literatura. Russkij jazyk, Moskau 2005, 291. 29 Vgl. I. Berlin, Russian Thinkers, 53. . 30 Vgl. B.M. E jchenbaum, Lev Tolstoj. Semidesjatye gody, Leningrad 1960, 105ff. 31 Vgl. I. Berlin, Russian Thinkers, 36. 32 A.N. Polosina, Francuzskie knigi XVIII veka jasnopoljanskoj biblioteki – kak istoˇcniki tvorˇcestva L.N. Tolstogo, avtoreferat dissertacii na soiskanie uˇcenoj stepeni kandidata filologiˇceskich nauk, Moskau 2008 (= www.imli.ru/nauka/ds/002_209_02/ polosina.php [31. 03. 2011]). 33 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 577. 34 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 61994, 206. 35 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 581: »Cet Être qui veut et qui peut, cet Être actif par lui-même, cet Être, enfin, quel qu’il soit, qui meut l’univers et ordonne toutes choses, je l’appelle Dieu. […] J’apperçois Dieu par tout dans ses œuvres; je le sens en moi, je le vois tout autour de moi; mais sitôt que je veux le contempler en lui-même, sitôt que je veux chercher où il est, ce qu’il est, quelle est sa substance, il m’échappe et mon esprit troublé n’apperçoit plus rien.« 36 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 6. 37 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 580f. 38 PSS 29: 47ff: »Suratskaja kofejnaja (po Bernarden de Sen-P’eru)«. 39 J-H. de Saint-Pierre, Le café de Surate, in: ders., Études de la nature, nouvelle édition, Bd. 5, Basel 1797, 328f. Vgl. A.N. Polosina, Vosprijatie L.N. Tolstym tvorˇcestva Bernardena de Sen-P’era, in: Tolstoj i o Tolstom. Materialy i issledovanija, Bd. 2, Moskau 2002, 160–162. 40 PSS 42: 180: »Vera utverˇzdaetsja ponimaniem«. Im Original: »La foi s’assure et s’affermit par l’entendement« (J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 614). 41 J.-J. Rousseau, Émile ou de l’éducation, 608. Vgl. a.a.O., 627: »le culte essenciel est celui du cœur«. 42 D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910, Bd. 2, 8. 43 Vgl. PSS 28, die Abhandlung Das Reich Gottes ist in euch von 1893. 44 J.-J. Rousseau, Du contrat social ou, Principes du droit politique, in: Œuvres complètes, Bd. 3, 465. Rousseau weist eigens darauf hin, dass es ihm hier nicht um das Christentum »von heute« gehe, sondern um das »des Evangeliums«, das »ganz etwas anderes« sei. Ebd.

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45 A.a.O., 467. 46 D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910, Bd. 4, 362: Den Contrat social hält Tolstoj denn auch für »nicht das beste Buch« Rousseaus. 47 J.-J. Rousseau, Du contrat social, 376f, 468. 48 I. Berlin, Russian Thinkers, 253. 49 Vgl. V.I. Porudominskij, O Tolstom, St. Petersburg 2005, 187.

Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer

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Ulrich Schmid

Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer Tolstoj rezipiert die deutsche Philosophie spät und eklektisch. Hegel ist für ihn ein »schwacher Denker« (PSS 48: 345), der nur das Bestehende rechtfertige. Diese verkürzende und simplifizierende Hegeldeutung verfügt in Russland über eine lange Tradition. Sie taucht auch an prominenter Stelle in Tolstojs Beichte auf, wo das berühmte Zitat aus der Vorrede der Philosophie des Rechts für alle gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht wird: Um aber […] die Überzeugung zu haben, wir seien höchst bedeutende Menschen, brauchten wir noch eine Theorie, die unsere Tätigkeit rechtfertigte. Und so legten wir uns die Sache folgendermaßen zurecht: Alles was ist, ist vernünftig. (PSS 23: 7)

Die schroffe Ablehnung Hegels (PSS 76: 187) kontrastiert bei Tolstoj mit einer positiven Aufnahme Kants und einer zunächst großen Affinität zu Schopenhauer.1 Eine systematische Kant- und Schopenhauer-Lektüre ist allerdings erst für den Sommer 1869 nachweisbar. In einem Brief vom 30. September an seinen Dichterfreund Afanasij Fet lobte Tolstoj vor allem den Frankfurter Philosophen in höchsten Tönen: Wissen Sie, was der vergangene Sommer für mich war? Eine ununterbrochene Begeisterung für Schopenhauer und eine Reihe geistiger Genüsse, die ich noch nie erfahren hatte. Ich habe alle seine Werke bestellt und las und lese (ich habe auch Kant gelesen), und wahrscheinlich hat ein Student in seinem Kurs noch nie so viel gelernt und erkannt wie ich in diesem Sommer. Ich weiß nicht, ob ich meine Meinung noch ändern werde, aber jetzt bin ich überzeugt, dass Schopenhauer der genialste Mensch ist. (PSS 61: 219)

Tolstojs Verehrung ging so weit, dass er sogar ein Schopenhauer-Porträt mit dessen eigenhändiger Unterschrift in seinem Arbeitszimmer in Jasnaja Poljana aufhängte.2 Mit seinem enthusiastischen Urteil stand Tolstoj in der russischen Literatur nicht allein: Afanasij Fet war ebenfalls ein überzeugter Anhänger Schopenhauers und übersetzte sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ins Russische. Auch Ivan Turgenevs Spätwerk ist stark von Schopenhauers Weltsicht geprägt.3 Durch die gleichzeitige Rezeption der beiden deutschen Philosophen übernimmt Tolstoj auch Schopenhauers Kantkritik, die ja den Ausgangspunkt von Die Welt als Wille und Vorstellung bildet. Zwar anerkennt Schopenhauer Kants Definition der »traumartigen Beschaffenheit der ganzen

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Welt«, moniert aber den »bedeutenden Fehler«, dass er für das Wirken des »Willens« blind geblieben sei.4 Für Tolstoj bedeuten Kants Überlegungen deshalb nur das Propädeutikum zur wahren Philosophie, die sich zumindest in den 1870er Jahren mit dem Namen Schopenhauer verbindet. Indes baut Tolstoj durchaus auf Grunderkenntnissen von Kant auf: So anerkennt er etwa Kants Nachweis der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises (PSS 23: 44). Ebenfalls kantianisch ist Tolstojs Überzeugung, dass die Wirklichkeit nur über die subjektiven Formen der Anschauung zugänglich ist und deshalb nicht als letzte Realität gelten darf (PSS 38: 140). Ein ambivalentes Verhältnis hat Tolstoj zu Kants Ethik. Der kategorische Imperativ taucht in vereinfachten Formulierungen immer wieder in seinen Schriften auf, vor allem in den späten Leseanthologien: »Handle so, dass du jedem sagen kannst: Handle so, wie ich gehandelt habe« (PSS 41: 333). Tolstoj erblickt im kategorischen Imperativ ein rein formales Prinzip, das zwar mit den Geboten christlichen Handelns übereinstimmt, aber keine Antwort auf die Frage »Was sollen wir denn tun?« liefern kann. Für Tolstoj besteht das Ziel des menschlichen Gemeinwesens nicht in der Lösung von Konflikten, sondern in einem kollektiven Erschaffen des Guten, das nur durch das unbedingte Vermeiden des Bösen erreicht werden könne. Deshalb bildet der kategorische Imperativ die notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für die Realisierung von Tolstojs ethischem Programm. In einem Brief aus dem Jahr 1904 setzt er den kategorischen Imperativ mit dem »höchsten moralischen religiösen Gesetz« gleich und kündigt das Absterben aller Gerichtsinstitutionen an, wenn die Menschen diese eine Regel befolgen würden (PSS 75: 96). Wie Kant leitet auch Tolstoj seine Ethik aus einer anthropologischen Konzeption ab. Kant erklärt im berühmten »Beschluss« der Kritik der praktischen Vernunft, dass ihn »der bestirnte Himmel über mir« und das »moralische Gesetz in mir« mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllten. Er begründet seine Ethik ja gerade nicht mit einer göttlichen Aufsicht über den Menschen, sondern aus der Autonomie des menschlichen Handelns. Es wäre für Kants Menschenbild herabwürdigend, wenn der Mensch sich nur aus Unterordnung oder aus Furcht vor künftiger Strafe moralisch verhielte. Deshalb betont Kant in der Metaphysik der Sitten mit allem Nachdruck den Begriff der Freiheit: Wenn der vernünftige Mensch seinen freien Willen einsetzt, wird er notwendigerweise zum kategorischen Imperativ gelangen und die Freiheit des Anderen respektieren. Zwar schließt Kant eine Beweisbarkeit Gottes und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele aus, er führt aber beide Begriffe durch die Hintertür wieder ein und erklärt sie zu Postulaten der praktischen Vernunft. Damit sind Gott und die Unsterblichkeit der Seele nicht einfach gegeben, sondern

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aufgegeben. Kant geht von einem mündigen Menschen aus, der an seiner eigenen Vollkommenheit arbeiten muss. Erlösung kommt nicht von außen, sondern von innen: Den »bestirnten Himmel« kann erst richtig erkennen, wer das »moralische Gesetz« in seiner Brust spürt. Diese anthropologische Grundkonzeption steht Tolstoj sehr nahe. Pierre Bezuchov aus Krieg und Frieden und Konstantin Levin aus Anna Karenina sind eigentlich kantianische Individuen, die über ein Sensorium für den geheimen Zusammenhang zwischen Kosmos und Mensch verfügen.5 Immer wieder insistiert er auf dem Grundgedanken, dass der Mensch an sich arbeiten müsse, dass moralisches Verhalten nicht in einem göttlichen Gnadenakt geschenkt werde, sondern durch Selbstdisziplin erreicht werden müsse. Besonders deutlich wird dieser asketische Impetus im Nachwort zur Kreutzersonate. Tolstoj nimmt hier Kants Gedanken, dass Gott ein Postulat der praktischen Vernunft sein müsse, fast wörtlich. Christus tritt als letztes moralisches Vorbild für das menschliche Verhalten überhaupt auf. Wie bei Kant kontrolliert aber nicht Gott, sondern der Mensch selbst seine Handlungen: Die christliche Lehre des Ideals ist die einzige Lehre, die der Menschheit als Leitbild dienen kann. Man kann und darf nicht das Ideal Christi durch äußere Regeln ersetzen, sondern muss sich dieses Ideal fest in seiner Reinheit vor Augen halten und, was am wichtigsten ist, daran glauben. Einem nahe am Ufer Schwimmenden kann man zurufen: »Orientiere dich an jenem Hügel, Kap, Turm« usw. Aber es kommt die Zeit, wenn die Schwimmer sich vom Ufer entfernen. Dann können und sollen ihnen nur noch unerreichbare Gestirne und der Kompass zur Orientierung dienen. Das eine wie das andere ist uns gegeben. (PSS 27: 92)

Der »bestirnte Himmel« und das »moralische Gesetz« sind hier in leicht abgeänderter Metaphorik als Leitprinzipien des selbstverantworteten menschlichen Handelns deutlich erkennbar. Gleichzeitig fällt aber auch ein wichtiger Unterschied zu Kant auf: Tolstoj lehnt alle »äußeren Regeln«, zu denen er selbstverständlich auch den kategorischen Imperativ zählt, ab. Ethik ist bei Tolstoj immer religiös fundiert, während Kant die Religion als praktische Konsequenz des vernünftig und deshalb auch moralisch handelnden Menschen begreift. Tolstoj überführt freilich auch die Grundthese der Kritik der reinen Vernunft in einen religiösen Kontext: Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit geistigen Ursprungs sei, finde sich schon im Evangelium. Bereits vor 2000 Jahren habe Christus dasselbe wie Kant gesagt, nur »in verständlicher Form«: »Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts« (Joh 6,63; PSS 53: 103). In diesem gewagten Argumentationsbogen ist allerdings der Wunsch der Vater des Gedankens: Aus der Formulierung des Neuen Testaments lässt sich nur mit kühner Übertreibung eine erkenntnistheoretische Einsicht ableiten. Trotzdem ist Tolstojs Versuch, Kant mit der Bibel in Übereinstimmung zu bringen, bezeichnend: 1909 notiert Tolstoj in seinem Tagebuch,

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dass Kants Betrachtung der Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft ihm »sehr nahe« sei (PSS 57: 43). Bereits fünf Jahre früher findet sich eine bilanzierende Einschätzung zu Kant in Tolstojs Tagebuch: Kant gelesen. Sein Gott und seine Unsterblichkeit, d.h. das zukünftige Leben, erstaunen durch ihre Beweislosigkeit. Übrigens sagt er selbst, dass er den Wunsch nach dem Beweis der Unsterblichkeit nicht von der einen Waagschale nimmt. Sein Grundgedanke über den außerzeitlichen Willen, das Ding an sich, ist vollkommen richtig und allen Religionen (der brahmanischen) bekannt, nur wird er dort einfacher, besser ausgedrückt. Es bleibt ein, aber ein großes Verdienst: Die Bedingtheit der Zeit. Das ist groß. Man fühlt, wie weit man zurückgeblieben wäre, wenn man dies nicht dank Kant verstanden hätte. (PSS 55: 91)

Die Anerkennung, die Tolstoj für Kants philosophische Leistungen bereit hält, bleibt bestenfalls verhalten. Schon in einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1870 sagt sich Tolstoj von Kants Konzentration auf das einzelne Subjekt los: Alle neuen philosophischen Theorien seit Descartes weisen den Fehler auf, dass sie nur das Selbstbewusstsein des Individuums, des so genannten Subjekts anerkennen, wo doch genau das Bewusstsein der ganzen Welt, des so genannten Objekts, ebenso unzweifelhaft ist. (PSS 48: 127)

Diese Feststellung steht deutlich unter dem nachhaltigen Eindruck der Schopenhauer-Lektüre des Jahres 1869. Tolstoj akzeptiert Schopenhauers Hauptthese, dass die Welt von einem Willen beherrscht wird, der in der Vorstellung seines Wollens zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangt: Der Wille […] erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen und von dem, was es sei, das er will, dass es nämlich nichts anderes sei als diese Welt, das Leben, gerade so, wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektität […].6

Von Schopenhauer übernimmt Tolstoj auch den Gedanken, dass der körperlich existierende Mensch mit seinem Lebenswillen nur die Objektivierung des Weltwillens darstelle. Die individuelle Existenz des Menschen strebt bei Schopenhauer nach Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Beides wird allerdings abgelehnt: Der Mensch erfahre nur Leid während seines Lebens, der Geschlechtsakt sei nichts weiter als ein dumpfer Instinkt zur Weitergabe dieses Leidens an ein neues Individuum. Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe dient Tolstoj als philosophische Grundlage für seinen Kampf gegen die Sexualität. Beide Denker entlarven die Liebe als Illusion, die allein auf dem Geschlechtstrieb beruhe. Liebende sind für Tolstoj und Schopenhauer nicht Menschen, die eine höhere Existenzstufe erreichen, sondern nachgerade »Verräter, welche heimlich danach trachten, die ganze Not und Plackerei zu perpetuieren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde«.7 Denselben Gedanken äußert auch der Protagonist der Kreutzersonate, der

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alle Fleischeslust verdammt und sogar das allmähliche Aussterben der Menschheit begrüßt, wenn sich das asketische Sexualideal überall durchgesetzt haben wird. Auch in der Erzählung Vater Sergij tritt ein Heiliger auf, der den Willen zum Leben abtötet und sich selbst sogar in durchsichtiger Sexualsymbolik den Daumen abhackt, um seiner Fleischeslust Herr zu werden. Konsequenterweise treffen sich Schopenhauer und Tolstoj auch in ihren Glückskonzeptionen. Das Leben ist ein Jammertal, in dem der Mensch zwischen Sehnsucht und Langeweile schwankt: Entweder ist das Gewünschte nicht da oder es verliert schnell den Reiz des Neuen (PSS 52: 49). Deshalb ist Glück im Leben nicht zu haben. In seiner Beichte wiederholt Tolstoj Schopenhauers Mantra des unglückseligen Lebens: »Glücklich ist, wer nicht geboren ist. Der Tod ist besser als das Leben; man muss sich von diesem befreien« (PSS 23: 27). Wie Schopenhauer schließt auch Tolstoj die Möglichkeit eines glücklichen Lebens für ein Individuum aus. Nur im Verzicht auf persönlichen Vorteil kann der Menschen sich von der falschen Existenz befreien. »Der einzige Zweck des Lebens, den der Mensch von Anbeginn vor sich sieht, ist das Glück seiner Person; Glück für eine Person kann es aber nicht geben« (PSS 26: 43). Schopenhauer empfiehlt das Quietiv des Willens als Ausweg aus dem Dilemma der fatalen Einzelexistenz. Der Mensch muss sich von allen Motiven seines Handelns lossagen und die engen Grenzen seines individuellen Lebens überwinden. Auf eindringliche Weise hat Tolstoj in seiner Erzählung Herr und Knecht genau diesen Vorgang literarisch gestaltet. Ein reicher Kaufmann und sein Diener werden während einer Schlittenfahrt von einem Schneesturm überrascht. Der Herr wirft sich über den Knecht und rettet ihn mit seiner eigenen Körperwärme, stirbt dabei aber selbst. Die Pointe dieser Erzählung liegt darin, dass der Kaufmann intuitiv die Wahrheit dieses Handelns spürt. Deshalb ist der Vorfall auch kein tragisches Unglück, sondern eine Befreiung aus dem falschen Leben, in dem die Menschen in gesellschaftlichen Klassen isolierte Existenzen führen. Der Moment des Sterbens ist gleichzeitig der Moment der höchsten Erkenntnis: Er [der Kaufmann] versteht, dass dies der Tod ist, und ist darüber überhaupt nicht betrübt. Und er denkt daran, dass Nikita unter ihm liegt und dass er sich gewärmt hat und lebt, und ihm scheint, dass er Nikita ist und Nikita er und dass sein Leben nicht in ihm, sondern in Nikita sei. Er spitzt die Ohren und hört das Atmen, sogar das schwache Schnarchen Nikitas. »Nikita lebt, also lebe auch ich«, sagt er triumphierend zu sich selbst. (PSS 29: 43f)

In dieser Schlüsselstelle inszeniert Tolstoj das zentrale Credo Schopenhauers: das Fallen der Schranken der Individuation. Der Kaufmann ist nicht mehr durch den sozialen Stand von seinem Knecht getrennt, er ist nicht einmal mehr als Person von ihm getrennt, sondern verschmilzt mit ihm zu

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einer Persönlichkeit und erlebt dadurch das höchste Glück, das er allerdings mit dem Leben bezahlen muss. Schopenhauer kommt an versteckter Stelle auch im Roman Anna Karenina vor. Über das. prominente Motto »Die Rache ist mein« ist viel gerätselt worden, bis Boris Ejchenbaum nachweisen konnte,8 dass Tolstoj diese Bibelstelle nicht aus dem Originalzusammenhang zitiert, sondern aus § 62 von Die Welt als Wille und Vorstellung, wo Schopenhauer die positive Rechtslehre als bloße Negation des Unrechts kritisiert.9 Die Ehebrecherin Anna Karenina soll aus Tolstojs Sicht nicht nach gesellschaftlichen oder juristischen Kategorien beurteilt werden, sondern nach der Tragik einer Person, die ihrem Geschlechtstrieb gefolgt ist. Später nimmt Tolstoj gegenüber Schopenhauer allerdings eine immer kritischere Haltung ein. 1887 nennt er den Philosophen in einem Brief einen »talentierten Schmierfink« und verurteilt dessen pessimistische Weltanschauung (PSS 64: 105 und 230f). In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1894 stößt sich Tolstoj vor allem an Schopenhauers Fatalismus: Ich lese Schopenhauers Parerga. Es gibt bei ihm einen seltsamen Fehler: Der Charakter ist unveränderlich, jeder Kampf ist nutzlos, weil der Charakter aus einem früheren Leben stammt. Weshalb ist er so und nicht anders? Er hat sich verändert. Genau diese Veränderungen bilden unsere Lebensaufgabe. Sie erfolgen nicht aufgrund von Überlegung, Kampf, Erfahrung, Milieu, Liebe, sondern durch all dies gemeinsam. (PSS 52: 124f)

Die wachsende Ablehnung Schopenhauers ist mit dem religiösen Amt verbunden, das Tolstoj nach 1877 für sich in Anspruch nimmt. Er tritt als Lehrer der russischen Nation auf, der seinen zentralen Glaubenssatz »Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt« zum maßgeblichen gesellschaftlichen Organisationsprinzip erheben will. Dazu bedient er sich modernster medialer Techniken: Er wirft seine religiösen Traktate, Anthologien und Volkserzählungen in billigen Volksausgaben auf den Markt und will dadurch eine Bewusstseinsveränderung bei den Menschen erreichen. Tolstoj akzeptiert Schopenhauers These der »Welt als Vorstellung« nur als erkenntnistheoretisches Problem, weigert sich aber, daraus ontologische Folgerungen zu ziehen. 1896 notiert Tolstoj in seinem Tagebuch: Die ganze äußere Welt wird von uns, von unseren Sinnen gebildet. Wir wissen nichts und können nichts über sie wissen. […] [Die so genannten Gelehrten] sind naiv davon überzeugt, dass die äußere Welt die wirkliche Realität sei, genauso wie die Bauern davon überzeugt sind, dass die Sonne und die Sterne um die Erde kreisen. Wie die Bauern nichts davon wissen, was Galilei, Kopernikus und Newton gemacht haben, oder, wenn sie es gehört haben, es nicht glauben, so haben die materialistischen Gelehrten nichts davon gehört oder glauben nicht daran, was Descartes, Kant, Berkeley und noch früher als sie die Inder und alle Religionslehren in der Erkenntniskritik gemacht haben. (PSS 53: 113f)

Das Wissen um die Unerkennbarkeit der Wirklichkeit hindert Tolstoj jedoch nicht daran, die Welt zum wichtigsten Bezugspunkt des menschlichen Lebens

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und Handelns zu erheben. In einem Brief heißt es deshalb: »Die materielle Welt ist kein Hirngespinst, keine Lappalie, kein Böses, sondern jenes Material und jene Instrumente, mit denen wir arbeiten müssen« (PSS 63: 314). Auch im Bereich der Ästhetik trennt sich der späte Tolstoj genau aus diesen Gründen von Schopenhauer. Bereits Kants Definition des Schönen als eines Gegenstands interesselosen Wohlgefallens10 stößt auf Tolstojs scharfen Widerspruch. Wie so oft erweist sich Tolstoj hier allerdings nicht als genauer Kant-Leser. Er vollzieht Kants Trennung des Angenehmen und Schönen nicht nach und wirft ihm vor, eine zweckfreie Ästhetik verzichte von vornherein auf gesellschaftliche Einflussnahme. Damit blendet Tolstoj die auch bei Kant vorhandene Verwandtschaft zwischen Ethik und Ästhetik komplett aus seiner Argumentation aus.11 Aus Tolstojs Sicht kann Kunst nur durch die »Ansteckung« des Rezipienten mit einem wahren religiösen Gefühl gerechtfertigt werden (f Sasse, Kunst). Deshalb bezeichnet er auch Schopenhauers Ästhetik als »Leichtsinn und Gewäsch« (PSS 50: 123). Tolstoj teilt zwar Schopenhauers Ansicht, dass die Kunst höher stehe als die Wissenschaft. Die Wissenschaft bleibe in einem Zirkel von Gründen und Folgen gefangen, während die Kunst überall am Ziel sei: »Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntnis der Ideen, ihr einziges Ziel Mitteilung dieser Erkenntnis.«12 Nicht folgen kann Tolstoj Schopenhauer aber bei der Kontemplativität der Kunst. Für Tolstoj muss Kunst gerade zum Handeln aufrufen, die Menschen zur Umkehr bewegen. Tolstojs Verhältnis zu Kant und Schopenhauer ist durch eine gegenläufige Verschränkung von Kritik und Anerkennung gekennzeichnet: Bis zur geistigen Wende von 1877 genießt Schopenhauer fast uneingeschränkte Wertschätzung, während Kant nur als Wegbereiter gilt. Um die Jahrhundertwende schließt sich Tolstoj dagegen immer mehr Kants aufklärerischem Religionsverständnis an und kritisiert in zunehmendem Maße Schopenhauers Quietismus.

Anmerkungen 1 G. Maertz, Elective Affinities. Tolstoy and Schopenhauer, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 40, 1994, 53–62. 2 R. Löwenfeld, Gespräche über und mit Tolstoj, Leipzig 1901, 66. 3 S. McLaughlin, Schopenhauer in Russland. Zur literarischen Rezeption bei Turgenev, Wiesbaden 1984. 4 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke Bd. 1, Frankfurt a.M. 1986, 11, 567. 5 G.R. Jahn, Tolstoy and Kant, in: G.J. Gutsche/L.G. Leighton (Hg.), New Perspectives on Nineteenth Century Russian Prose, Columbus 1982, 60–70, hier 68. Z. Hajnády, The Starry Heavens Above and the Moral Law Within, Tolstoy’s Moral Philosophy, in: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 27, 1985, 281–293.

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6 A. Schopenhauer, Bd. 1, 380. 7 A. Schopenhauer, Bd. 2, 718. 8 J.T. Baer, Anregungen Schopenhauers in einigen Werken von Tolstoj, in: Die Welt der Slaven 23, NF 2, 1978, 225–247, 230. 9 A. Schopenhauer, Bd. 1, 463. Zitat auf Seite 476. 10 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790, 17. 11 M. Kasulke, A Case of Well-Concealed Indebtedness. L.N. Tolstoy’s Rejection of Kantian Beauty in What is Art?, in: Canadian Review of Comparative Literature 27, 2000, 25–50. 12 A. Schopenhauer, Bd. 1, 265.

Friedrich Nietzsche

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Ilja Karenovics

Friedrich Nietzsche Thomas Mann ging in seinem Essay Dostojewski – mit Maßen (1948) von der Vermutung aus, dass Nietzsche, der sich über die Entdeckung Dostoevskijs überschwänglich geäußert hat, Tolstojs nirgends »auch nur mit einem Worte gedächte«.1 Mit dieser Annahme lag Mann allerdings falsch. In der dritten, der Frage »Was bedeuten asketische Ideale?« gewidmeten »Abhandlung« von Nietzsches Streitschrift Zur Genealogie der Moral (1887) wird Tolstoj namentlich erwähnt. Der Beginn des letzten Abschnitts handelt vom Nihilismus der wertfreien, rein deskriptiven »gesammte[n] moderne[n] Geschichtsschreibung«: Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heißen ›Wozu?‹, ›Umsonst!‹, ›Nada!‹ – hier gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches ›Mitleid‹.2

Ein weiteres Mal findet Tolstoj explizit Erwähnung in dem späten Werk Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1888, Erstdruck 1895), dem die »Umwerthung aller Werthe«3 (so die letzten Worte des Werks) obliegen soll, und zwar im siebten Abschnitt, der vom Christentum als »Religion des Mitleidens« handelt: Vom Instinkte des Lebens aus müsste man in der That nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen Häufung des Mitleides, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsrer gesammten litterarischen und artistischen décadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt …4

Dies sind allerdings in der Tat die einzigen beiden Stellen in den von Nietzsche selbst herausgegebenen bzw. zur Veröffentlichung vorbereiteten Werken, an denen Tolstoj erwähnt wird. Weitere Verweise finden sich im umfangreichen Nachlass, Nietzsches »intellektuellem Tagebuch«,5 das für seine Beschäftigung mit anderen Autoren von besonderer Bedeutung ist. In einem Fragment vom Herbst 1887 wird unter der Überschrift »Hauptsymptome des Pessimism« »der russische Pessimism. Tolstoi Dostoiewsky«6 aufgeführt – eine Zeile unter den an erster Stelle notierten »dîners chez Magny« (im Café Magny, dem berühmten Pariser Intellektuellentreffpunkt, hatten sich u.a. 1863 Flaubert und Turgenev kennen gelernt). Beide Punkte werden etwas später wiederum gemeinsam in einer ähnlichen Liste aufgeführt; aller-

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dings figurieren die dekadenten »dîners« nun unter dem Rubrum »große[r] Ekel«, während »Tolstoi, Dostoiewsky« – gefolgt von »Parsifal« – wieder für das »groß[e] Mitleid« stehen.7 Die Motive des Mitleids und des Pessimismus kommen, vereint zum »Mitgefühls-Pessimismus (wie der Tolstoi’s, Alfred de Vigny’s)«, mit anderen »Pessimismen« in einem weiteren Fragment aus derselben Zeit (1887/88) noch einmal vor: Alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene? … Das excessive Wichtignehmen von Moralwerthen, oder von ›Jenseits‹-Fiktionen, oder von socialen Nothständen oder von Leiden überhaupt: jede solche Übertreibung eines einzelnen Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja!8

In einem längeren Nachlassfragment mit dem Thema »Philosophie als décadence« führt Nietzsche Tolstoj nicht als Beispiel für die von ihm kritisierte »décadence«-Haltung an, sondern er argumentiert hier für einmal im positiven Sinne mit ihm (wie auch mit Dostoevskij) dagegen: Resultat: in der Praxis des Lebens, in der Geduld, Güte und gegenseitigen Förderung sind ihnen [den zuvor kritisierten Philosophen der Tugend – I. K.] die kleinen Leute über: ungefähr das Urtheil, wie es Dostojewsky oder Tolstoi für seine Moujik’s in Anspruch nimmt: sie sind philosophischer in der Praxis, sie haben eine beherztere Art, mit dem Nothwendigen fertig zu werden …9

Bedeutender als diese expliziten, wenn auch beiläufigen Erwähnungen Tolstojs, die den Autor von Krieg und Frieden als »Russen« so reflexartig wie plakativ mit den moralgenealogischen »décadence«-Topoi »Mitleid« und »Pessimismus« assoziieren, ist allerdings der Einfluss von Tolstojs Traktat Mein Glaube (1883/84), das Nietzsche nachweislich gelesen hat, auf den Antichrist. Einzelne Exemplare von Tolstojs Bekenntnisschrift, die in Moskau von der Zensurbehörde verboten und nach dem Druck beschlagnahmt worden war, kursierten in Russland in Behörden- und Regierungskreisen, ansonsten zunächst nur in illegalen Abschriften und Auszügen (PSS 23: 548ff).10 Das Werk erschien für ein breites Publikum erstmals in französischer Übersetzung: Unter dem Titel Ma religion11 kamen 1885 in Paris bei Fischbacher zwei Auflagen der Übersetzung von Lev Urusov heraus, dem Vize-Gouverneur von Tula, dessen Bekanntschaft Tolstoj 1878 gemacht hatte; Urusov verstarb noch im Erscheinungsjahr 1885 (PSS 90: 256, Anm. 8). Eine vollständige russische Ausgabe erschien später in Genf (ohne Jahr, 2. Aufl. 1888, 3. Aufl. 1900), eine weitere 1902 in Berlin. Obwohl ebenfalls bereits 1885 außer einer englischen auch eine deutsche Übersetzung vorlag,12 las Nietzsche Tolstojs Traktat – wie auch etwa die Werke Strindbergs und anderer nichtfranzösischer Autoren – in französischer Übersetzung:13 »ich fühle mich im heutigen Europa nur den geistigsten Franzosen und Russen verwandt, und ganz und gar nicht meinen gebildeten Landsleuten«.14

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Ma religion las Nietzsche etwa zur gleichen Zeit wie Dostoevskijs Roman Die Dämonen.15 Aus beiden Werken hat er zur Zeit der ersten Niederschrift des Antichrist (Anfang 1888) exzerpiert.16 Aus Ma religion liegen zwei wörtliche Exzerpte vor; das erste17 endet – für Nietzsche eher untypisch – mit der Quellenangabe: »Tolstoi, ma religion. Moskau 22 Januar 1884« (mit dieser Datumsangabe schließt Tolstojs Werk); das zweite, längere enthält sogar die entsprechenden Seitenangaben (»p. 243« und »p. 236«).18 Die Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe (KGW) resp. Studienausgabe (KSA) der Werke Nietzsches haben darüber hinaus gut 40 weitere Nachlassfragmente ohne Quellenangabe identifiziert, die während der Tolstoj-Lektüre resp. im Anschluss daran entstanden sind.19 Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um mehr oder weniger genaue Wiedergaben aus Ma religion in deutscher Sprache, deren Originalstellen bei Tolstoj ermittelt werden konnten: teils um sinngemäß zusammenfassende Paraphrasen, teils um wörtliche Übersetzungen; in manchen Fällen werden sie – freilich nicht markiert – direkt ergänzt um eigene, daran anknüpfende Kommentare oder Überlegungen (»›dem Bösen‹ nicht widerstehen … Aber wenn man nicht an Gut und Böse glaubt, was heißt dies dann?«),20 in anderen Fragmenten stehen solche thematischen Anschluss-Reflexionen allein.21 Die Notate, von denen sich manche als direkte Vorstufen zu entsprechenden Passagen des Antichrist herausstellen sollten, kreisen um die zentralen Themen des Traktats: Urchristentum vs. Kirchenglauben; realitätsfremder, verlogener und verstandeswidriger Unsinn des Glaubens (Wunder, Dogmen etc.); »dem Bösen widerstehen«; Staatskritik, Gewaltverzicht und Gewaltlosigkeit; kirchliche Dogmatik vs. Lehre Jesu; Einheit von Theorie und Praxis bei Jesus; »die fünf Commandos [der Bergpredigt – I. K.]: erzürnt euch nicht; begeht keinen Ehebruch; leistet keinen Eid; wehrt euch nicht durch Gewalt; zieht nicht in den Krieg« (f 114; PSS 23: 452);22 die »Cruditäten«23 bzw. »die Missverständnisse der Kirche / das Abendmahl / ›der Sohn Gottes‹ / der Tod am Kreuz als Abzahlung / der Sündenfalls-Geschichte / des ›Glaubens‹«.24 Nietzsches Tolstoj-Lektüre – wie auch die anderer, parallel rezipierter Autoren, etwa Julius Wellhausens – wurde vom Nietzsche-Archiv »wissentlich verschwiegen«.25 Die Lesefrüchte seiner Beschäftigung mit Ma religion wurden in Auszügen erstmals in der berüchtigten, philologisch unhaltbaren Kompilation später Nachlasstexte unter dem Titel Der Wille zur Macht veröffentlicht, die 1901 in zwei, 1906 bzw. 1911 dann in vier Bänden als angebliches »Hauptwerk« Nietzsches erschien. Dabei fehlte jeder Hinweis auf Tolstoj als Quelle resp. Hintergrund; die wörtlichen (französischen) Exzerpte wurden ganz unterschlagen,26 einige der auszugsweisen Tolstoj-»Übersetzungen« wurden explizit als Nietzsche-»Aphorismen« ausgegeben.27 Die Nietzsche-Forschung war daher, was eine mögliche Tolstoj-Rezeption betraf, bis in die 1970er Jahre auf Spekulationen und Indizien angewiesen.

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Diese – besonders Tolstojs Schlüsseltopos Mt 5,39: »Widersteht nicht dem Übel« – erwiesen sich im Antichrist jedoch als stark genug. So behauptete der spätere »völkische Theologe« Emanuel Hirsch (1888–1972) bereits 1920 in einer Fußnote mit entsprechenden Stellenangaben, es sei »Nietzsches späte Beurteilung des Urchristentums im Antichrist stillschweigend aus Tolstois 1885 erschienener Schrift ›Worin besteht mein Glaube?‹ übernommen.«28 Hirsch weist etwa auf die Auslegung der Bergpredigt (die »fünf Commandos«), Jesus als Prinzip, den Gegensatz zwischen Kirche und Evangelium, Jesus als Anarchist, das Fehlen der »Wunderthäter- und Erlöser-Fabel«29 im Urchristentum hin. Hirschs Position, die nicht als Hypothese, sondern als Feststellung einer bereits erwiesenen Tatsache vorgetragen wurde, war in der Folge sehr einflussreich.30 Von Hirschs Feststellung geht auch dessen Schüler Wolfgang Trillhaas in seiner Dissertation Seele und Religion (1931) aus, die eine der ersten Analysen von Nietzsches Verhältnis zum Christentum unter Berücksichtigung Tolstojs bietet:31 Nicht das ursprüngliche Evangelium wolle Nietzsche verteidigen;32 indem er sich Tolstojs Verfallsgeschichte des Christentums anschließe, weise es doch selbst bereits sämtliche Merkmale einer »kampfesfeindlichen Religion« auf. Die Unterscheidung des ursprünglichen Evangeliums (auf dem der Abfall des historischen Christentums vom ursprünglichen beruhe) von einem »echten« Christentum ziele vielmehr auf Jesus, der – als zwar dekadenter, aber ressentimentfreier, friedlicher, vor allem aber in der Tat und nicht im Glauben gegründeter positiver seelischer Typus – buddhistischen Idealen angenähert wird.33 Vorsichtig bis ablehnend stand Ernst Benz (Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 1938) Hirschs These gegenüber. Im Bestreben, sie kritisch zu widerlegen, arbeitet Benz in einer eingehenden vergleichenden Analyse von Mein Glaube und dem Antichrist die Gemeinsamkeiten, vor allem aber die – entscheidenden – Unterschiede heraus:34 Bei Nietzsche setzt der Verfall des Christentums bereits bei den ersten Jüngern ein, und die Kirche hat schon von ihrem Anfang an nichts mehr mit Jesus zu tun, der Nietzsche vor allem als Typus und »Leben« interessiert: »im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das ›Evangelium‹ starb am Kreuz«.35 Wenn bei Nietzsche das Leben zur Lehre, das lebendige Evangelium (Jesus) zum »Dysangelium«36 entartet, so vollzieht sich der Verfall (Paulus) bei Tolstoj als allmählicher Abfall der Kirche von der Lehre Christi, hinter der die Person Jesus gänzlich verschwindet. Unterschiede macht Benz auch in der Kritik der »Wundertäter- und Erlöserfabel« geltend, insofern Tolstoj die Erlösung nicht prinzipiell, sondern nur die von der Kirche selbst verfertigte Karikatur davon ablehne; ansonsten erwarte er sie sogar rationalistisch aus der Lehre Jesu. Die Bergpredigt wiederum werde einmal als Lehre (Tolstoj), einmal als Ausdruck eines Heiligkeitstypus (Nietzsche) interpretiert. In der Deutung Jesu als Menschensohn schöpften schließlich beide aus derselben

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theologischen Tradition. Zentral ist für Benz der diametrale Gegensatz in der Einstellung beider zum Glauben und zum »Nichtwiderstehen«, das den Angelpunkt von Tolstojs Glauben bildet, für Nietzsche aber nur ein Zeichen der Schwäche, Unfähigkeit und Impotenz darstellt. Benz’ Vorbehalte (vor Bekanntwerden der Nachlassfragmente und somit auch von Nietzsches Quellenpolitik), weshalb Nietzsche, bei aller thematischen Nähe, die Thesen eines Autors, dessen Grundüberzeugungen so sehr von seinen eigenen abwichen, »übernehmen« und ihn dabei auch noch verschweigen sollte, sind nachvollziehbar. Hirsch sollte indessen zumindest, was die tatsächliche Tolstoj-Lektüre und das »Stillschweigen« darüber betrifft, recht behalten. Dass von einer vollständigen »Übernahme« tolstojscher Theoreme so nicht die Rede sein kann, hat Benz aufgezeigt. Allerdings steht der Einfluss der Tolstoj-Lektüre auf den Antichrist außer Frage.37 Die Interpretation des Urchristentums, seines missverstandenen Symbolcharakters sowie seiner Verfallsgeschichte, die rationalistische Kritik an Wunder- und Erlösungsgläubigkeit, das Bild Jesu als (nur) eines Menschen wie auch als »Typus«,38 die Assoziation von Christentum und Demokratie,39 die Kirchenkritik, schließlich das »Nichtwiderstehen« als Kennzeichen einer christlichen »Friedens- und Unschuldspartei« (Nachlass)40 – alle diese Elemente des Antichrist lassen auf dem Hintergrund der erwähnten Nachlassfragmente klar den Einfluss der Rezeption von Ma religion erkennen.41 Bei Nietzsche steht die schwärmerische Bekanntgabe von Lektürefunden in einzelnen Fällen (so auch in jenem Dostoevskijs) neben einem irritierenden Verschweigen oder gar Vertuschen seiner Quellen in anderen.42 So erwähnt Nietzsche im Antichrist Tolstoj en passant als décadent – pikanterweise jedoch nicht dort, wo er ihm in der Anamnese des historischen Christentums einiges verdankt. Bleibt abschließend die Feststellung, dass es auch in diesem Werk Nietzsches nicht primär »auf die Originalität der Gedanken, sondern auf ihre argumentationsstrategische Zurüstung ankommt«.43 Und diese wendet sich – nach Gemeinsamkeiten bei der Erhebung von Anamnese und Diagnose – im totalen »Fluch gegen das Christentum« radikal gegen die Grundintentionen Tolstojs, der zu ganz anderen Schlussfolgerungen gelangt: zu seiner eigenen »Religion«. Das biblische »Widersteht nicht dem Übel« kann für Nietzsche nur Ausdruck einer ressentimentgesteuerten »Herdenmoral« sein: »es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel«.44 Seine Gleichsetzung des dekadenten Mitleids, das er mit Tolstoj assoziiert, mit dem Nihilismus (»Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus«45), des Nihilismus mit dem Christentum (»Nihilist und Christ: das reimt sich nicht bloß …«46), schließlich die Identifikation von Christentum und Anarchismus im Antichrist (»Der Anarchist und der Christ sind Einer Herkunft …«47) ließe sich auch als letzte versteckte Allusion auf Tolstoj lesen.

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Tolstoj über Nietzsche Die breite Wirkung Nietzsches in Russland, wo er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einer der am intensivsten rezipierten westlichen Denker war, setzte um 1890 ein; bis 1911 lagen seine Werke übersetzt vor (in Einzelausgaben, unvollständig erschienenen Werkausgaben und einer Gesamtausgabe).48 Tolstoj, der nicht nur fließend Englisch, Französisch und Deutsch sprach, sondern auch noch viele weitere Sprachen beherrschte,49 konnte Nietzsche im Original lesen, und in seiner Korrespondenz äußerte er sich u.a. auch auf Deutsch über ihn. Am 15. August 1900 – kurz nach Nietzsches Tod – hielt Tolstoj in seinem Tagebuch eine der äußerst seltenen positiven (oder zumindest neutralen) Bemerkungen zu Nietzsche fest, die von ihm überliefert sind – eine Anspielung auf Also sprach Zarathustra (1883–85): Die Ehe ist selbstverständlich gut und unerlässlich für die Fortpflanzung; für die Fortpflanzung (ein herrlicher Auszug aus Nietzsche) müssen die Eltern allerdings die Kraft in sich spüren, ihre Kinder nicht zu Schmarotzern zu erziehen, sondern zu Dienern Gottes und der Menschen. (PSS 54: 35)

Ein Exzerpt von unbekannter Hand aus Zarathustras Rede »Von Kind und Ehe« aus dem ersten Teil (»Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe!«50) hat sich in Tolstojs Nachlass gefunden (PSS 54: 420). Tolstoj hat den Zarathustra auf Deutsch gelesen (11. Aufl. 1899),51 dazu Elisabeth Förster-Nietzsches Artikel Wie der ›Zarathustra‹ entstand in der Zeitschrift Zukunft (Berlin 1897) (PSS 54: 450). Ein späterer Tagebucheintrag, aus dem wir von dieser Lektüre erfahren, resümiert Tolstojs Einstellung zu Nietzsche einigermaßen repräsentativ: Ich habe Nietzsches Zarathustra gelesen und die Aufzeichnung seiner Schwester darüber, wie er schrieb, und ich habe mich vollständig davon überzeugt, dass er ganz und gar wahnsinnig war, als er schrieb, und zwar wahnsinnig nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern im direkten, ganz genauen: die Zusammenhangslosigkeit, die Sprünge von einem Gedanken zum anderen, Vergleiche ohne Hinweis darauf, was da miteinander verglichen wird, angefangene, nicht zu Ende geführte Gedanken, das Springen von einem Gedanken zum anderen in Widerspruch Kontrast oder Harmonie, und alles vor dem Hintergrund seines Wahnsinns – der idée fixe, dass er, indem er alle höheren Grundlagen des menschlichen Lebens und Denkens negiert, seine übermenschliche Genialität beweise. Was ist denn das für eine Gesellschaft, wenn ein solcher Wahnsinniger, ein bösartiger Wahnsinniger zumal, als Lehrer anerkannt wird? (PSS 54: 77)

Tolstoj hat vermutlich mehrere Werke Nietzsches gelesen (PSS 20: 524). Am häufigsten erwähnt er das Schlagwort vom »Übermenschen«, es findet sich aber auch eine Anspielung auf Jenseits von Gut und Böse. Konkret belegt ist Tolstojs Nietzsche-Lektüre außer für den Zarathustra auch für den Antichrist, den Tolstoj ebenfalls auf Deutsch gelesen hat.52 Am 31. Juli 1902 schrieb

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Tolstoj an den Kritiker Vladimir Stasov (1824–1906), der 1900 gemeinsam mit ihm in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war und der Tolstoj regelmäßig mit Büchern versorgte: Heute habe ich einen Brief [PSS 73: 275, Anm. 6]53 folgenden Inhalts erhalten. ›Das Christentum hat die fortschreitende Vervollkommnung der Menschheit und die Schaffung vollkommenerer Übermenschen verhindert. Man braucht sich nur vorzustellen, alle Menschen wären echte Christen, um vom Grauen gepackt zu werden …‹ usw. Das steht doch bei Nietzsche. Daher wäre meine große Bitte an Sie, mir die wichtigsten Werke mitzubringen, die diesen Gedanken am besten und klarsten zum Ausdruck bringen.

Und im P.S.: Ich fürchte, Sie verstehen nicht, was ich brauche. Ich brauche den Gedanken, dass das Christentum eine bösartige und für die Menschheit schädliche Lehre sei, geäußert von einem oder mehreren populären Schriftstellern. Auf diesen Gedanken stoße ich in letzter Zeit oft. Wenn möglich, bringen Sie solche, die als verbreitete Meinung zitiert werden können. Falls das bei Nietzsche am klarsten ausgedrückt sein sollte, hätte ich das gerne für eine gewisse Zeit. Ich habe Nietzsche gelesen, aber mit solchem Widerwillen, dass ich mich nicht daran erinnere, wo das steht. (PSS 73: 274)

Offensichtlich lieferte Stasov ihm daraufhin Nietzsches Antichrist, den Tolstoj dann tatsächlich fast zwei Jahre lang behielt. Am 30. November 1902 schrieb er Stasov: »Die Bücher, außer dem Antichrist (kann ich ihn behalten?), sende ich zurück« (PSS 73: 336). Am 22. April 1904 sandte er das Buch dankend zurück (PSS 75: 86). Bereits vor der Jahrhundertwende hatte sich Tolstoj indessen schon verschiedentlich in seinen Schriften über Nietzsche geäußert. Allerdings könnte die von Lev Sˇestov 1900 angestellte Vermutung, Tolstoj könne Nietzsche »nur aus zweiter Hand, nur vom Hörensagen«54 kennen (sonst wären seine Urteile unverständlich), bis zu diesem Zeitpunkt, als er den Zarathustra las, durchaus zutreffen. Tolstojs Bemerkungen zu Nietzsche, denen entsprechende Brief- und Tagebuchkommentare an die Seite gestellt werden können, erweisen sich jedoch im gesamten Zeitraum von 1893 bis 1907, in den diese Äußerungen fallen, als durchgängig vernichtend. Nietzsche ist in ethischer Hinsicht, in Fragen der »Religion und Sittlichkeit« für Tolstoj, der hier utilitaristisch-deontologisch denkt, ein Paradebeispiel dafür, was er ablehnt (»Jedwede philosophische oder religiöse Lehre ist nur eine Lehre davon, was man tun soll. Und wenn man nun die Lehre Nietzsches an diesem Maß misst?« (PSS 54: 69). Tolstoj führt ihn in diesem Zusammenhang auch einmal (wie Nietzsche umgekehrt stillschweigend ihn) rhetorisch positiv zur Stützung seiner eigenen Argumentation an: Der kürzlich so berühmt gewordene unglückliche Nietzsche ist besonders wertvoll, weil er diesen Widerspruch entlarvt [welcher in der Praxis zwischen der christlichen Ethik und der gegenwärtigen Philosophie besteht – I. K.]. Er hat zweifellos Recht, dass vom Standpunkt der existierenden nichtchristlichen Philosophie aus alle Regeln der Sittlichkeit nur

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Lüge und Heuchelei seien und dass es für den Menschen weit vorteilhafter, angenehmer und vernünftiger sei, eine Gesellschaft von Übermenschen zu bilden und einer von diesen zu sein als einer aus jener Menge, die diesen Übermenschen als Bühne dient. Keinerlei Konstruktionen einer von einer heidnischen religiösen Weltanschauung ausgehenden Philosophie können dem Menschen beweisen, dass es für ihn vorteilhafter und vernünftiger wäre, nicht für sein erwünschtes, verständliches und mögliches Heil […] zu leben. (f 204f; PSS 39: 20f)

Nietzsches Einfluss als »modischer« Vordenker des Amoralismus wird von Tolstoj hoch veranschlagt, er sieht in ihm einen der Hauptverantwortlichen für die allgemeine Tendenz zur »Dekadenz« in der zeitgenössischen Philosophie, Literatur und Moral. Zumindest aber steht er exemplarisch für den entsprechenden Typus – im Tagebuch hält Tolstoj fest: Vorgestern habe ich einen zerlumpten, bettelnden Passanten getroffen. Ich bin mit ihm ins Gespräch gekommen: er ist ein ehemaliger Zögling des Pädagogischen Instituts. Ein Nietzscheaner sans le savoir. Und was für ein überzeugter: »Der Dienst an Gott und den Nächsten, die Unterdrückung der Leidenschaften – das ist Borniertheit, ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur. Man muss seinen Leidenschaften folgen, sie geben uns Stärke und Größe.« Erstaunlich, wie Nietzsches Lehre, der Egoismus, eine notwendige Folge der Gesamtheit aller pseudowissenschaftlichen, künstlerischen und vor allem pseudophilosophischen und popularisierenden Tätigkeit ist. (PSS 55: 31f)

An den Schriftsteller und Literaturhistoriker Eugen Reichel (1853–1916) schreibt Tolstoj – in deutscher Sprache – am 2. März 1907: Ich erwarte sogar, dass dieses Sinken des allgemeinen Vernunftsniveau immer größer und größer wird nicht nur in der Kunst, sondern auch allen anderen geistigen Gebieten: in der Wissenschaft, Politik und besonders der Philosophie. (Kant kennt schon niemand, man kennt Nietzsche) und es kommt zu einem allgemeinen Krach der Civilisation […]. (PSS 77: 49 [Original in deutscher Sprache])

Ein weiterer Tagebucheintrag stellt Nietzsche als gefährlichen Rechtfertiger des Bösen in eine Reihe mit Hegel und Darwin: Drei modische Philosophien sind mir im Geist haften geblieben: Hegel, Darwin und nun Nietzsche. Der erste rechtfertigte alles Seiende;55 der zweite hat den Menschen dem Tier gleichgestellt und den Kampf gerechtfertigt, also das Böse in den Menschen; der dritte beweist, dass das, was in der Natur des Menschen dem Bösen widersteht – nur falsche Erziehung, ein Fehler sei. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll. (PSS 54:126f)

Den schädlichen Einfluss Nietzsches – oder zumindest Parallelen zu seiner Haltung – macht Tolstoj auch im Werk zeitgenössischer russischer Schriftsteller aus. So notiert er im Tagebuch über Anton Cˇechovs (1860–1904) moderne psychologische Ehebruchserzählung: Ich habe Cˇechovs Dame mit dem Hündchen gelesen. Das ist alles Nietzsche. Menschen, die in sich keine klare Weltanschauung herausgebildet haben, welche Gut und Böse unterscheidet. Zuvor waren sie zaghaft, suchend gewesen; jetzt aber, in der Meinung, sie stünden jenseits von Gut und Böse, bleiben sie diesseits, also beinahe Tiere. (PSS 54: 9)

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Fast zehn Jahre später hält er wiederum im Tagebuch folgende Beobachtung über Maksim Gor’kij (1868–1936) fest: Ich habe nach dem Essen über Gor’kij gelesen. Und seltsam – ein ungutes Gefühl ihm gegenüber, das ich bekämpfe. Ich rechtfertige mich damit, dass er, wie Nietzsche, ein schädlicher Schriftsteller ist: ein großes Talent, dem jedwelche wie auch immer geartete religiöse, das heißt die Bedeutung des Lebens erfassende Überzeugung fehlt […]. (PSS 57: 176f)

Tolstojs Kritik gilt nicht nur Nietzsches Moralphilosophie und ihrem verderblichen Einfluss, sondern auch seiner Ästhetik, die Tolstoj – für den diese beiden Bereiche ohnehin nicht zu trennen sind – etwa in der Schrift Über das, was Kunst genannt wird (1896) als volksfern und dekadent-verkünstelt charakterisiert: »Alle Künste verkomplizieren ihre Technik, suchen nach Neuem und Seltsamem, entfernen sich immer weiter vom Allgemeinmenschlichen. In der Philosophie ist Nietzsche Vertreter dieser Richtung« (PSS 30: 256). In seinem umfangreichen Traktat Was ist Kunst? (1897/98), in der die Antwort auf die Titelfrage in einem großen tour d’horizon durch die Geschichte der Ästhetik von einer moralischen Warte und vornehmlich ex negativo gegeben wird (mit einem »kurzen Index der erlaubten Bücher«,56 wie Sˇestov bissig bemerkt), geißelt Tolstoj die Auffassung eines asozialen und somit unmoralischen, elitären Ästhetizismus ebenfalls mit Verweis auf Nietzsche: […] dass Teilhaber und Nutznießer des Erhaben-Schönen […] nur schöne Geister sein können […] oder ›Übermenschen‹, wie es die Anhänger Nietzsches nennen. – Gestützt auf Nietzsche und Wagner, nehmen die Künstler der Neuzeit an, sie müssten von der ungehobelten Masse nicht verstanden werden […]. – Die Folge einer falschen Einstellung [der ›Ästheten‹] zur Kunst [die der Schönheit den Vorzug vor der Sittlichkeit gibt, die sie vernachlässigt] tritt dank ihrem Propheten Nietzsche und seinen Anhängern sowie dank ihren Zeitgenossen, den Dekadenten und englischen Ästheten, mit besonderer Dreistigkeit in Erscheinung. (PSS 30: 172)

Schließlich spart Tolstoj auch nicht mit persönlicheren Charakterisierungen des Philosophen und Schriftstellers Nietzsche, die in der Mehrzahl »beleidigend deutlich«57 (Nietzsche) ausfallen – was im Übrigen auch für seine Kommentare zu anderen Persönlichkeiten in jener Zeit zutrifft. Nietzsche ist für Tolstoj in erster Linie ein ärgerlicher »Schwätzer«. Im Vorwort zur Übersetzung von Wilhelm von Polenz’ Roman Der Büttnerbauer (1898; russ. Übers. Krest’janin, 1901) heißt es: »Als höchste Errungenschaft der Philosophie gilt heute das unsittliche, lümmelhafte, aufgeblasene und zusammenhanglose Geschwätz eines Nietzsche«.58 Und in der kritischen Skizze Über Shakespeare und das Drama (1903/04) schreibt Tolstoj, Darwin und seine Lehre würden »von der Lehre Nietzsches verdrängt, die zwar ungereimt, undurchdacht, unklar und inhaltlich schädlich ist, aber der vorherrschenden Weltanschauung besser entspricht« (PSS 35: 262).

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Immer wieder fällt Nietzsches Name auch bei der Aufzählung anderer Denker, Künstler usw., die Tolstoj ablehnt. So bezeichnet Tolstoj im Tagebuch die »Philosophie Nietzsches, die Dramen Ibsens und Maeterlincks und die Wissenschaft Lombrosos […]«, über die er in der Presse gelesen hat, als »komplette Verkrüppelung des Denkens, Verstehens und Fühlens« (PSS 54: 7). In einem späteren Eintrag zählt er die »Nietzscheaner« gemeinsam mit den Materialisten und Positivisten zu den »Verirrten« (PSS 54: 178). Und in der zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Aufzeichnung Über den Wahnsinn (1910) ist die Rede vom »Geschwätz der Darwins, Haeckels, Marxens, diverser Maeterlincks, Knut Hamsuns, Weiningers, Nietzsches u. dgl. m.« (PSS 38: 401). Dem deutsch-österreichischen Journalisten Hugo Ganz (1862–1922),59 dem er unter anderem eröffnete, dass er Gottfried Keller nicht kenne und Goethe nicht sonderlich schätze, diktierte Tolstoj während eines Interviews 1904 auch folgendes, von der Moskauer Zeitung Russkie vedomosti (Russische Nachrichten) überliefertes Urteil über Nietzsche in den Notizblock: Ich verstehe nicht, weshalb die heutigen Deutschen diese beiden Schriftsteller [Kant und Lichtenberg – I. K.] vernachlässigen und sich für einen koketten Feuilletonisten wie Nietzsche begeistern. Schließlich ist Nietzsche überhaupt kein Philosoph, ja er ist noch nicht einmal bestrebt, die Wahrheit zu suchen und auszusprechen. Schopenhauer halte ich für den größeren Stilisten. Selbst wenn man Nietzsches glänzendes stilistisches Vermögen anerkennen mag, so ist auch dies nicht mehr als die Fertigkeit eines Feuilletonisten, die ihn nicht in eine Reihe mit den großen Denkern und Lehrern der Menschheit stellt.60

Eine Erwähnung immerhin ließ Tolstoj dem von ihm so rigoros kritisierten Nietzsche auch in seinem künstlerischen Werk zuteil werden – eine, die wohl als subtile künstlerische Form der Satisfaktion interpretiert werden kann: In der Auferstehung (1899), seinem letzten großen Roman, an dessen Ende wiederum die Prinzipien der Bergpredigt stehen, heißt es zum Schluss des 19. Kapitels im dritten Teil, wo von den sibirischen Gefängnissen die Rede ist: Nur bei einer besonderen Pflege des Lasters, wie sie in diesen Anstalten betrieben wurde, konnte man den russischen Menschen auf jenen Zustand herabdrücken, der bei den Landstreichern seine Grenze erreichte, die die neue Lehre Nietzsches vorwegnahmen, alles für möglich und nichts für verboten hielten und diese Lehre zuerst unter den Häftlingen und dann unter dem ganzen Volk verbreiteten. (PSS 32: 413)

Möglicherweise hat Tolstoj Nietzsches Werk Götzen-Dämmerung (1888) gelesen (PSS 13: 491), in dem von Dostoevskij und seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860) die Rede ist: Dieser tiefe Mensch […] hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst.61

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Ob Tolstoj nun von hier aus die Verbindung zum »Übermenschen« zog oder nicht – es bleibt die ironische Pointe,62 dass der elitaristische Moralgenealoge Nietzsche mit seiner Lehre vom Übermenschen in der Auferstehung zu einem Epigonen der Ausgestoßenen vom untersten Rand der Gesellschaft wird.

Tolstoj und Nietzsche Die meisten und wichtigsten Untersuchungen zum Thema »Tolstoj und Nietzsche« entstanden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.63 Die vermutlich früheste Monographie, in der die beiden »modernen Propheten«64 (Karl Rösener) miteinander in Verbindung gebracht werden, erschien bereits 1893. Der Philosoph Nikolaj Grot (1852–1899) stellt in seiner kleinen Schrift Die sittlichen Ideale unserer Zeit. Friedrich Nietzsche und Lev Tolstoj (1893)65 Tolstoj und Nietzsche als die »beiden moralischen Protagonisten unserer Zeit«66 dar: »Der Mensch ist ein dressiertes Tier, der Mensch ist die volle Verkörperung der göttlichen Vernunft auf Erden: Das sind die einander entgegenstehenden Grundanschauungen und daraus folgt alles Weitere.«67 Lev Sˇestov stellt diesen Antagonismus68 in Tolstoi und Nietzsche (1900) als scheinbaren, lediglich vordergründigen heraus. Er wendet Nietzsches Methode der »Genealogie« auf Tolstoj an – und auf Nietzsche selbst, um in einer philosophischen Psychoanalyse sui generis die tiefer liegenden persönlichbiographischen Ursprünge ihrer Lehren aufzudecken.69 In dieser Perspektive konvergieren die Ausgangspunkte beider Lehren in einem Nichtertragenkönnen der eigenen Existenz, der »sündhaften« (Tolstoj) bzw. »sündenfreien« (Nietzsche) eigenen Lebensvergangenheit, gegen die dann die »Poesie des Predigens«70 einer Lehre gesetzt wird, die freilich wenig mit der wirklichen Person des Predigers zu tun hat. Insofern erweist sich Nietzsches rhetorische Frage »schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?«71 als Basisaxiom für Sˇestovs Analyse. Dieser zufolge entspricht Tolstojs tatsächliche eigene Lebenspraxis keineswegs der von ihm propagierten Moral – vielmehr erkennt Sˇestov im berüchtigten Prinzip Zarathustras: »was fällt, das soll man auch noch stoßen!«72 »die Zusammenfassung von Tolstois Verhalten gegen das Bettelvolk der Nachtasyle«.73 Tolstoj gehe es nämlich in erster Linie darum, sich selbst besser zu fühlen. Nietzsche seinerseits erkennt Sˇestov zufolge, dass auch das »Gute«, an das er glaubte und das er in seiner Vergangenheit lebte, nicht weiterhilft, dass es Ausdruck von Schwäche ist, dass es ihn in seinem persönlichen Leben im Stich lässt.74 Der Kranke, Zweifelnde, Verzweifelnde erkennt, so Sˇestov, dass der Gott des Guten tot ist. Dem setzt Nietzsche, der sehr wohl zum Mitleid Fähige,75 als seine theoretische Rache, als seine Lehre, das Anerkennen des

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Bösen (amor fati) und den »Übermenschen« entgegen. »Gott ist gestorben« und »Gott ist das Gute« sind, folgt man Sˇestov, gleichwertige Sätze.76 In summa: Beide, Tolstoi und Nietzsche stellen als Prediger eine Lehre auf, die ihre eigentliche Weltanschauung vor uns nur zu verbergen hat. Wer dem ›Guten‹ nach dem Programm Tolstois dienen wollte, wäre dem Schöpfer dieses Programms ebenso fremd, wie ein Mensch, der sich dem Übermenschen opferte, Nietzsche fremd gewesen wäre […].77

In seinem grundlegenden Werk L. Tolstoj und Dostoevskij78 stellt der symbolistische Romancier, Kritiker und Religionsphilosoph Dmitrij Mereˇzkovskij (1865–1941), im Anschluss an Sˇestov, die vermeintlich antagonistische, bei Sˇestov bereits parallelisierte Beziehung zwischen Tolstoj und Nietzsche als eine eminent dialektische heraus (ihre Synthese heißt ähnlich wie bei Sˇestov – Dostoevskij): »Jeder von ihnen [Tolstoj und Nietzsche – I. K.] widerlegte durch seine Taten gleichsam mit Absicht sein ganzes Leben lang seine eigene Lehre und propagierte die Lehre des anderen.«79 Der sprichwörtliche Vorwurf »practice what you preach!« wird in Mereˇzkovskijs Beobachtung zu einem wechselseitigen »I practice what you preach«. Diese Dialektik zeigt Mereˇzkovskij als faktische an zahlreichen Beispielen auf, in denen sich die eigene Lehre und Praxis der beiden jeweils überkreuz reziprok zu Theorie und Verhalten des anderen widersprechen: an ihrem Verhältnis zum Eigentum (Tolstoj lehnt es theoretisch ab, besitzt aber welches, bei Nietzsche verhält es sich umgekehrt), zum Krieg, zur körperlichen Liebe, zu Ruhm und Ehre: »Jeder von ihnen verwirklichte in seinem Leben das, wovor er sich fürchtete und was der andere wollte«.80 Doch auch die Konvergenzen zwischen Tolstoj und dem Nietzsche des Antichrist, seinem »scheinbaren Antipoden«,81 der neben ihm als »einziger Mensch im heutigen Europa zu einer derartigen Gotteslästerung« imstande war,82 konstatiert Mereˇzkovskij – etwa in der Abkehr der beiden »gegensätzlichen Zwillinge« vom historischen Christentum und ihren Sympathien für den »christlichen« Buddhismus.83 Die Beziehung zwischen Nietzsche und Tolstoj lässt sich, dies zeigen die referierten Studien, am treffendsten als eine dialektische beschreiben. Als Extreme stehen sie sich in ihrer Ethik wie in ihrer Ästhetik gegenüber. Gegen Tolstojs moralischen Bergpredigt-Imperativ »Widersteht nicht dem Übel« setzt Nietzsche apodiktisch sein »anzügliches« Grundprinzip, »dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist«: Im »Versuch einer Selbstkritik« in der Neuausgabe 1886 von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) »wird die Kunst – und nicht die Moral – als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen hingestellt«.84 Der »höhere Typus« des später zum »Proto-Faschisten«85 erklärten Nietzsche steht

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den russischen Bauern Tolstojs gegenüber, den wiederum Lenin als »Spiegel der russischen Revolution«86 vereinnahmte (f O. Caspers, Marxismus, 632f). Gemeinsam war ihnen, neben der rationalistischen Kritik am Christentum und gewissen (bei Nietzsche freilich relativen) Sympathien für den Buddhismus, der Hang zur Provokation, der Widerstand gegen alles Moderne – wie Nietzsche war auch Tolstoj »ein Kämpfer gegen seine Zeit«.87 Sˇestov und Mereˇzkovskij fassten darüber hinaus Nietzsche als das »Andere« Tolstojs (und vice versa) auf. In ihrer gegenseitigen Wahrnehmung à distance haben sie sich nicht verstanden – unabhängig von einander beschimpften sie sich gegenseitig als »dekadent«, worunter beide grundsätzlich Verschiedenes verstanden – und anders als im Fall von Nietzsches Dostoevskij-Lektüre88 war dies auch kein produktives Missverständnis. Der Zusammenfall der Extreme kam im Zusammenbruch: Der Prediger der Härte und »sanftmütigste Mensch auf Erden« (Mereˇzkovskij)89 Nietzsche soll im Januar 1889 in Turin aus Mitleid einem gezüchtigten Droschkengaul tränenüberströmt um den Hals gefallen sein90 – genau wie es Dostoevskijs atheistischer Romanheld Rodion Raskol’nikov in Verbrechen und Strafe im Traum getan hatte. Nietzsche, der bis zuletzt »Dionysos gegen den Gekreuzigten«91 gestellt hatte, unterzeichnete seine finalen »Wahnsinnszettel« aus Turin zunächst als »Dionysos«, ganz am Ende aber mit »Der Gekreuzigte«.92

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T. Mann, Neue Studien, Stockholm 1948, 78. F. Nietzsche, Kritische Studien Ausgabe (KSA) 5: 406 (GM III.26). KSA 6: 253 (AC 62). KSA 6: 174 (AC). M. Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 94. KSA 12, 409 (N 9 [126]). KSA 13, 75 (N 11 [159]). KSA 13, 90 (N 11 [228)]). KSA 13, 312 (N 14 [129]). So erschien das zehnte Kapitel 1886 einzeln in der Monatszeitschrift Russkoe bogatstvo (Russischer Reichtum) und ein Jahr später unter dem Titel »V cˇ em sˇcast’e?« (Worin besteht das Glück?) auch in Band XII der Gesammelten Werke Tolstojs (Moskau 1887). Ma religion par le comte Léon Tolstoï, Paris 1885 (ohne Nennung des Übersetzers). – Diese Ausgabe ist in der zweiten Auflage (1885) als Faksimile-Edition im Internet verfügbar: http://fr.wikisource.org/wiki/Livre:Ma_religion.djvu. – 1924 folgte eine französische Neuübersetzung von Jean-Wladimir Bienstock unter dem Titel Quelle est ma foi?. L.N. Tolstoi, Mein Glaube. Eine Studie, übers. v. S. Behr, Leipzig 1885. Vgl. R.-R. Wuthenow, Nietzsche als Leser. Drei Essays, Hamburg 1994, 51. KSB 8: 70 (Brief vom 12. 5. 1887 an Malwida von Meysenbug).

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15 Th. Dostoïevsky, Les Possédés (Bési), übers. v. V. Derély, Paris 1886. 16 KSA 15, 169f (Chronik): Brief vom 13. Februar. 17 »[V]ous n’avez actuellement aucune règle […]« KSA 13, 103 (N 11 [274]), Exzerpt aus Ma religion (1885), 244. 18 »›La doctrine de Jésus ne peut pas contrarier en aucune façon les hommes de notre siècle […].‹ L’antagonisme entre les explications de l’Église, qui passent pour la foi, et la vraie foi de notre génération […]« (KSA 13: 104f (N 11 [277]). 19 Nachlass-Fragmente 11 [236] – 11 [282] (mit wenigen Ausnahmen) sowie 11 [295], 11 [356], 11 [360], 11 [364], 11 [365]; KSA 13: 93–117; 155f; 158; 160ff. Vgl. den Kommentar (ggf. mit Quellenangabe): KSA 14: 754–757. 20 KSA 13: 96 (N 11 [246]); vgl. auch N 11 [247] (ebd.); vgl. L. Tolstoï, Ma religion (1885), 12. – Natürlich geht es Nietzsche hier um ein »Jenseits von Gut und Böse«; nicht überzeugend ist A.U. Sommers Vermutung »Vielleicht hätte Nietzsche die Schwierigkeiten mit dem ›Bösen‹ (›mal‹ in der französischen Tolstoj-Übersetzung) nicht, wenn er, der revidierten Luther-Übersetzung folgend, an dessen Stelle ›Übel‹ setzte« (A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 284): Einerseits lässt sich auch frz. »mal« (ebenso wie das damit exakt übersetzte russische Wort »zlo«, das im Original steht) sowohl mit »Böses« als auch mit »Übel« übersetzen (womit die französische Übersetzung näher am Original ist als jede mögliche deutsche). – Nietzsche hat selbstverständlich mit Bedacht die Übersetzung gewählt, die ihm »passt«; andererseits stünde jedoch auch ein diesem »Übel« intendiertes Nichtwiderstehen, ungeachtet der semantischen Differenz, seiner immoralistischen Konzeption des »Starken« und »Gesunden« nicht weniger entgegen. 21 Z.B. N 11 [240], KSA 13: 94. 22 KSA 13: 103 (N 11 [273]); vgl. L. Tolstoï, Ma religion (1885), 243f. 23 KSA 13: 115 (N 11 [295]). 24 KSA 13: 137 (N 11 [324]); ohne Verweis auf Tolstoj im Kommentar (KSA 14: 756). 25 KSA 14: 754. 26 KSA 14: 755. 27 So die Nachlass-Fragmente 11 [236], 11 [256], 11 [257], 11 [259], 11 [260], 11 [262], 11 [263] (alle KSA 13: 93–99), vgl. Kommentar KSA 14: 754f. 28 E. Hirsch, Nietzsche und Luther, in: Jahrbuch der Luther-Gesellschaft II/III, 1920/21, Leipzig 1921, 98, Anm. 3. – Vgl. schon zuvor R. H. Grützmacher, Nietzsche, Leipzig (1910) 41919, 125. 29 KSA 6: 209 (AC 37). 30 Vgl. etwa J. Hofmiller, der in seinem Werk Friedrich Nietzsche (1932) schrieb, Hirsch habe den »Nachweis« erbracht, »dass sich Nietzsches Auffassung des Ur-Christentums und seines Stifters sogleich ändert, als er 1885 Leo Tolstois Schrift Mein Glaube kennengelernt hat«; J. Hofmiller, Friedrich Nietzsche, Hamburg 1947, 35. – Zu Hofmiller als Nietzsche-Forscher vgl. Hoffmann, Friedrich Nietzsche, 286–336. 31 W. Trillhaas, Seele und Religion. Das Problem der Philosophie Friedrich Nietzsches, Berlin 1931, 107ff. 32 Vgl. A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 388. 33 W. Trillhaas, Seele und Religion, 108f. 34 E. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, Stuttgart 1938, 70–82. 35 KSA 6: 211 (AC 39). 36 Ebd. 37 Vgl. W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, aus dem Amerikan. übers. v. J. Salaquarda, Darmstadt 21988, 398, F [2].

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38 Vgl. A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 390. 39 Vgl. P. Kessler, Tolstoj-Studien des späten Nietzsche, in: Zeitschrift für Slawistik 23, 1978, 17–26. Kessler bietet eine marxistisch-leninistische Interpretation von Nietzsches Tolstoj-Rezeption, die vor dem Hintergrund des Klassenkampfes analysiert wird: Nietzsche als »Philosoph des Großkapitals« lege eine »grundsätzlich ablehnendfeindselige Haltung gegenüber dem Demokraten und Humanisten Tolstoj« (19f) an den Tag. Vgl. A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 283f, Anm. 134. 40 KSA 13: 95, 11 [240] NL 1887/88. 41 Natürlich sind hier parallel auch andere Lektüren zu erwähnen: Julius Wellhausens Reste arabischen Heidenthumes / Prolegomena zur Geschichte Israels, David Friedrich Strauß’ Der alte und der neue Glaube, vermutlich Fedor Dostoevskijs Idiot sowie Ernest Renans Vie de Jésus (wobei die Renan-Lektüre auch bei Tolstoj spürbar ist). Vgl. A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 282, Anm. 130. 42 Der gravierendste Fall verschwiegener mutmaßlicher Quellen betrifft Max Stirner. Vgl. C.A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Nach ungedruckten Dokumenten und im Zusammenhang mit der bisherigen Forschung dargestellt von C.A. Bernoulli, Jena 1908, Bd. 1, 135f; D.M. Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin/New York 1991, 458f und die dort angegebene Literatur (458, Anm. 111). 43 A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 191. 44 KSA 6: 210 (AC 38). 45 KSA 6: 173 (AC 7). 46 Vgl. die Fragmente 11 [281] (1887/88), KSA 13, 107f; L. Tolstoï, Ma religion, 220–222; A.U. Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«, 596. 47 KSA 6: 244 (AC 57). 48 M. Deppermann, Nietzsche in Russland, in: Nietzsche-Studien 21, 1992, 211–254. 49 Tolstoj konnte auch Polnisch, Tschechisch und Serbisch, darüber hinaus Altgriechisch, Altkirchenslavisch und Latein, Ukrainisch und Tatarisch; er lernte Hebräisch, Türkisch, Niederländisch, Bulgarisch und weitere Sprachen. Siehe K.N. Lomunov, Tolstoj, Lev Nikolaeviˇc, in: Russkie pisateli. Biobibliografiˇceskij slovar’, Bd. 2, Moskau 1990, 295. 50 KSA 4: 90 (Z). 51 Die russische Übersetzung. von Ju.M. Antonovskij erschien 1907: F. Nic sˇ e, Tak govoril Zaratustra. Kniga dlja vsech i ni dlja kogo, St. Petersburg 1907. 52 In russischer Übersetzung erschien das Werk erst 1907 in einer Übersetzung von V. A. Flerova: F. Nicˇs e, Antichristianin. Opyt kritiki christianstva, St. Petersburg 1907. 53 Dieser Brief und sein Absender konnten nicht eruiert werden. 54 L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, München 1994, 25. 55 Eine Anspielung auf die oftmals missverstandene Formel aus der Vorrede zu Hegels Grundlinien einer Philosophie des Rechts: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1979, 24.) 56 L. Schestow, Tolstoj und Nietzsche, 163 57 KSA 7: 171 (N 7 [122]). 58 »Vorwort zu W. von Polenz’ Roman Der Büttnerbauer«, in: Ästhetische Schriften, 342. – »Poslednim slovom filosofii v naˇse vremja priznaetsja beznravstvennaja, grubaja, napyˇscˇ ennaja, bessvjaznaja boltovnja Nicˇse« (PSS 34: 275). 59 Ganz widmete Tolstoj zwei Kapitel in seinem Buch The Land of Riddles. Russia Of Today, N.Y./London 1904.

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60 Russkie vedomosti, 13. 08. 1904, Nr. 224, zit. nach: Interv’ju i besedy s L’vom Tolstym, Moskau 1987, 213. 61 KSA 6: 146f (GD § 4); vgl. auch die Variante in KSA 14: 422. 62 Mereˇzkovskij attestiert dieser Stelle aus Auferstehung eine selbst für die hinsichtlich des Umgangs mit Nietzsche unzimperlichen russischen Verhältnisse bisher unerreichte »Unverschämtheit«, D.S. Mere zˇ kovskij, L. Tolstoj i Dostoevskij. Veˇcnye sputniki, Moskau 1995, 261. 63 Zur deutschen Diskussion über Tolstoj und Nietzsche um die Jahrhundertwende und entsprechenden bibliographischen Hinweisen s. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 107–111. 64 K. Rösener, Moderne Propheten, Bd. 1: Hartmann, Tolstoi. Nietzsche, München 1907. 65 Deutsche Übersetzung von A. Markow: N. Grot, Nietzsche und Tolstoj, Berlin 1898. 66 N. Grot, Nietzsche und Tolstoj, 24. 67 A.a.O., 18. 68 Vgl. auch die thematisch ähnliche Darstellung von V.G. Sˇ cˇ eglov, Graf L.N. Tolstoj i F. Nicˇse. Oˇcerk filosofsko-nravstvennogo ich mirovozzrenija, Jaroslavl’ 1897 (Graf L.N. Tolstoj und F. Nietzsche. Ein Abriss ihrer philosophisch-sittlichen Weltanschauung) sowie die kulturphilosophische Arbeit: M. Wadkowsky, Tolstoi und Nietzsche über den Wert der Kultur. Ein Beitrag zur Kulturphilosophie, Diss. Jena 1910. 69 Vgl. B. Groys, Die Krankheit Philosophie, in: L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche, XV. 70 L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche, 255. 71 KSA 5: 234 (GM § 289); L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche, 204. 72 KSA 4: 261 (Z. III.20). 73 L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche, 42. 74 Vgl. A.a.O., 248. 75 A.a.O., 224. 76 A.a.O., 126. 77 A.a.O., 216. 78 D. S. Mere zˇ kovskij, L. Tolstoj i Dostoevskij. Veˇcnye sputniki [1900–1902], Moskau 1995. – Deutsche Übers.: D.S. Mereschkowski, Tolstoj und Dostojewski als Menschen und als Künstler. Eine kritische Würdigung ihres Lebens und Schaffens, übers. v. C. v. Gütschow, Leipzig 1903 (2. Ausg., Berlin 1919; 3., durchges. und erg. Aufl., Berlin 1924). 79 A.a.O., 261. 80 A.a.O., 262. 81 A.a.O., 183. 82 A.a.O., 239. 83 A.a.O., 264. – Auf den Thesen von Sˇestov und Mereˇzkovskij bauen im wesentlichen auch zwei weitere Arbeiten zum Thema aus jener Zeit auf: der im März 1924 am King’s College gehaltene Votrag »Tolstoy und Nietzsche« des in England lehrenden slowenischen Slavisten Janko Lavrin (1887–1986) (J. Lavrin, Tolstoy and Nietzsche, in: The Slavonic Review 4, 1925, Nr. 10, 67–82. Vgl. auch Lavrins Werke Nietzsche and Modern Consciousness. A Psycho-Critical Study, London 1922 sowie Tolstoy. An approach, London 1944) sowie das Werk der amerikanischen Philosophin H.E. Davis, Tolstoy and Nietzsche. A Problem in Biographical Ethics, New York 1929. Davis untersucht in einem biographisch-psychologischen »Experiment« die beiden extremen ethischen Prinzipien Nietzsches und Tolstojs hinsichtlich ihrer Bewährung in der Lebenspraxis

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der Autoren. Zusammenfassend konstatiert Davis, dass beide Denker ihre persönlichen Bedürfnisse zu ethischen Weltforderungen erhöben – beide sähen aber nur einen Teil des Ganzen, beide scheiterten. Beide Forderungen könnten zudem nur situativ berechtigt sein, keine aber einseitig-absolut. KSA 1: 17 (GT). P. Heller, Nietzsche über die Vornehmen und die Vornehmheit, in: Literaturwissenschaften und Sozialwissenschaften 11, Stuttgart 1979, 309ff. V.I. Lenin, Lev Tolstoj kak zerkalo russkoj revoljucii [1908], in: ders., PSS 17, Moskau 1967, 206–213. KSA 1: 295 (HL 6); vgl. R. Steiner, Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit, Weimar 1895. Vgl. u.a. W. Gesemann, Nietzsches Verhältnis zu Dostoevskij auf dem europäischen Hintergrund der 80er Jahre, in: Die Welt der Slaven 6/2, 1961, 129–156; C.A. Miller, Nietzsche’s ›Discovery‹ of Dostoevsky, in: Nietzsche-Studien 2, 1973, 202–257. Vgl. bei Peter Gast: »ein solcher Mann, der über alledem doch noch so eifrigen, ja hülfreichen Antheil an den Geschicken seiner Mitmenschen nimmt, ist ohne echte Herzensgüte nicht denkbar. Und dass er dies nicht Wort haben wollte, war nur eine neue Seite eben dieser Güte« (P. Gast, Vorwort, in: Friedrich Nietzsches Briefe an Peter Gast, Leipzig 1908, XXV). Vgl. Nietzsche-Handbuch, 30f. KSA 6: 374 (EH); vgl. auch KSA 13: 266 (N 14 [89]). KSB 8: 576f (Turin, 4. 01. 1889).

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Anarchismus Im März 1861 besuchte Lev Tolstoj in Brüssel den Begründer des modernen Anarchismus Pierre-Joseph Proudhon (PSS 75: 71). In besonderem Masse stießen Proudhons Grundthesen, dass Eigentum Diebstahl sei und dass alle Herrschaft auf Gewalt beruhe, auf Tolstojs Sympathie. Im Gespräch teilte Tolstoj dem französischen Denker mit, dass dieser zwar in Russland viel gelesen werde, man aber dort nicht die große Bedeutung verstehe, die er dem Katholizismus beimesse. In Russland sei die Kirche nichts.1 Im Gegensatz zu Proudhon, der jede Gottesanbetung ablehnte und sich als Antitheist bezeichnete, plädierte Tolstoj für die Ablösung etablierter Gesellschaftsstrukturen durch ein neues religiöses Bewusstsein. Unter dem Eindruck der Begegnung mit Proudhon begann Tolstoj 1861 die Erzählung Leinwandmesser zu schreiben; allerdings stellte er den Text erst 24 Jahre später fertig. Aus der Perspektive eines Pferdes wiederholt Tolstoj hier Proudhons Kritik am Privateigentum, die ihm »wahrer als die Wahrheit der britischen Verfassung« erscheint (PSS 48: 85): Damals aber konnte ich gar nicht begreifen, was das eigentlich hieß, dass sie mich das Eigentum eines Menschen nannten. Der Ausdruck »mein Pferd« bezog sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und kam mir ebenso seltsam vor wie die Worte: »mein Land, meine Luft, mein Wasser«. […] Als ich dann später den Kreis meiner Beobachtungen erweiterte, überzeugte ich mich, dass der Begriff »mein« nicht nur in Bezug auf uns Pferde, sondern auch ganz allgemein lediglich auf einem niedrigen, animalischen Instinkt der Menschen beruht, den sie Eigentumssinn oder Eigentumsrecht nennen. (PSS 26: 3)

Aus derselben Zeit stammt ein Briefentwurf, in dem Tolstoj einen Unterschlagungsprozess kommentiert. Ein gewisser Mel’nickij hatte einen großen Geldbetrag veruntreut und behauptete, er sei selbst bestohlen worden. Der Angeklagte wurde im November 1882 zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien deportiert. Tolstoj gesteht, er habe »in dieser Tat niemals ein Verbrechen erblicken können«, und holt aus zu einem Rundumschlag gegen alle Besitzenden: Wir können nicht glauben, dass alle Richter, die über Mel’nickij zu urteilen hatten, ihren Besitz durch rechtschaffene Arbeit erworben haben. Fragt doch alle diese Menschen, vom Polizeiaufseher bis zum Senator, vom Handlungsgehilfen bis zum reichen Kaufmann, vom kleinen Bauern bis zum Großgrundbesitzer, ob sie alle ihr Eigentum auf rechtschaffene Art verdient haben!

Anarchismus

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Jeder Mensch, der auf diese Frage gewissenhaft antworten will, wird sie verneinen müssen. Der Unterschied liegt nur darin, dass wir alle langsam, Jahr für Jahr, ein unrechtmäßig erworbenes Vermögen zusammenscharren, wie die Hühnchen ein unrechtes Gut körnerweise aufpicken, während Mel’nickij einmal in seinem Leben, mit einem Schlag, das erreicht hat, wonach wir ein ganzes Leben lang streben. Ich habe nicht den Mut zu behaupten, seine Handlungsweise sei weniger moralisch als unsere. Wäre seine Tat gelungen, so hätte alle Welt ihn im Stillen beneidet; nur damit kann ich mir die Entrüstung so vieler Leute erklären: »Ich selbst«, denken sie, »habe mein ganzes Leben hindurch Betrügereien vollführt und dabei nur so wenig zusammengescharrt; dieser Mel’nickij aber ist bis in sein hohes Alter ehrlich geblieben und hat dann an einem einzigen Tag mehr zusammengerafft als wir mit allen unseren kleinen Betrügereien.«2

Tolstoj zog in seiner Eigentumskritik eine deutliche Linie zwischen kommunistischen und anarchistischen Konzeptionen. Eine rein politische Lösung der Unterschiede zwischen Arm und Reich lehnte Tolstoj ab. Ihm ging es um eine grundlegende Veränderung des menschlichen Bewusstseins, die gewissermaßen als Nebeneffekt die Aufhebung der gesellschaftlichen Hierarchien nach sich ziehen würde. Die Sozialisten richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die äußeren ökonomischen Bedingungen des menschlichen Lebens. Viel zu wenig Aufmerksamkeit wird den inneren Verbesserungsmöglichkeiten des Menschen geschenkt. […] Ich habe mehr Vertrauen in den Anarchismus. Ich teile Kropotkins und Bakunins Ideen, aber nicht ihre Taktik. Der Anarchismus darf nicht durch eine Revolution siegen, nicht durch Gewalt, sondern mit friedlichen Mitteln. Und um das zu erreichen, muss das ethische Bewusstsein der Menschen gestärkt werden.3

Tolstoj scheint bereits früh Sympathien für Bakunin gehegt zu haben. Jedenfalls bekannte Bakunin in einem Brief aus Tomsk aus dem Jahr 1860, dass er Pavel Annenkov und Lev Tolstoj sein Leben und seine Freiheit verdanke.4 Es ist allerdings nicht bekannt, worin genau Tolstojs Hilfe bestand. Möglicherweise hatte er sich für die Verlegung des kranken Bakunin aus der Festung Schlüsselburg und die Umwandlung seiner Haft in eine Verbannungsstrafe eingesetzt. Ich meine die Freiheit eines jeden, die weit davon entfernt ist, vor der Freiheit anderer wie vor einem Grenzpfahl haltzumachen, in derselben im Gegenteil ihre Bekräftigung und ihre unendliche Ausdehnung findet – die Freiheit eines jeden, unbegrenzt durch die Freiheit aller, die Freiheit durch die Solidarität, die Freiheit in der Gleichheit, […] die Freiheit, die nach der Niederwerfung aller himmlischen und irdischen Götzenbilder eine neue Welt gründen und organisieren wird, die Welt der solidarischen Menschheit, auf den Ruinen aller Kirchen und aller Staaten.5

Zwar möchte auch Tolstoj alle hierarchischen Gesellschaftsstrukturen in Schutt und Asche sehen, für ihn ist aber nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern das »Reich Gottes in uns« das zentrale Kriterium. Der Mensch ist bei Tolstoj nicht frei, sondern er ist eingebunden in eine Bestimmung, die er erkennen und erfüllen muss. Überhaupt passen Bakunins Freiheitspathos

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und Tolstojs Betonung der Askese nicht zueinander. Bakunin will dem Menschen möglichst breite Gestaltungsmöglichkeiten einräumen, während Tolstoj ihn auf eine radikale Selbstdisziplinierung verpflichtet. Beide lehnen zwar die Idee eines personalen Gottes ab, für Tolstoj steht jedoch die Notwendigkeit einer weltumgreifenden Religion aller Menschen außer Zweifel. Bakunin kommt in seiner Kritik des Christentums zu ganz anderen Schlüssen. Nicht nur existiert kein Gott, auch alles Reden über Gott ist sinnlos: »Das Weltall ist ewig und seine Organisation ebenso. Und in diesem unendlichen Weltall ist nicht der geringste Platz für den Herrgott!«6 Bakunin ist ein überzeugter Atheist, der auch die Vergottung der menschlichen Existenz, wie sie Tolstoj predigt, für schädlich hält. Petr Kropotkin ist in seiner Religionskritik zurückhaltender. Gott spielt in seinem Denken eine untergeordnete Rolle. Sein anarchistisches Programm stützt sich auf politökonomische, nicht religiöse Überlegungen. Tolstoj selbst lobte im Jahr 1898 Kropotkins Artikel über die Ermordung der österreichischen Kaiserin Elisabeth (PSS 88: 143) und fünf Jahre später die autobiographischen Aufzeichnungen eines Revolutionärs (PSS 88: 284f). Tolstojs Ehefrau, Sof ’ja Andreevna, behauptete in ihren späten Lebensjahren, Kropotkin sei ihr Halbbruder: Ihr Vater hatte als junger Arzt eine Liaison mit Mme. Kropotkina, die sich mit ihrem älteren Ehemann langweilte.7 Tolstojs engster Vertrauter Vladimir Cˇertkov traf Kropotkin im Jahr 1901 in London.8 Gleichwohl war Kropotkin keine zentrale Figur in Tolstojs Leben, vor allem weil die beiden Denker sich in der Bewertung der Gewaltanwendung nicht einig waren. Während Tolstoj für einen absoluten Pazifismus plädierte, betrachtete Kropotkin die Revolution als eine genauso natürliche Lokomotive der Geschichte wie die Evolution. Ein Bürgerkrieg könne auch ohne Absicht der jeweiligen Führer ausbrechen; in einem solchen Fall gehe es vor allem um die Begrenzung, nicht aber um die prinzipielle Vermeidung von Blutvergießen.9 Kropotkin anerkannte jedoch Tolstojs Engagement für das russische Volk. Beide engagierten sich 1898 für die Auswanderung der Duchoborzen-Sekte (f A. Donskov, Die Duchoborzen in Kanada): Tolstoj ließ den Erlös seines Romans Auferstehung den Emigranten zukommen, während sich Kropotkin während eines Kanada-Aufenthalts für die Aufnahme der Sektierer einsetzte.10 Gleichzeitig wies Kropotkin aber auch auf eine Reihe von Inkonsequenzen hin. Tolstojs religiöse Wende deutete er als Ausdruck einer widersprüchlichen, rein intuitiv begründeten Geisteshaltung: Ein furchtbarer Konflikt muss damals im Geiste des großen Schriftstellers vor sich gegangen sein. Das kommunistische Gefühl, das ihn bei der Erzählung von dem Straßensänger in Luzern beherrscht hatte und das ihn zu einer strengen Anklage gegen die begüterten Klassen veranlasste, die Gedankenrichtung, die seine strenge Kritik gegen das Privateigen-

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tum in Leinwandmesser: die Geschichte eines Pferdes diktierte, die anarchistischen Ideen, die ihn in seinen Aufsätzen über die Erziehung zur Verneinung einer Zivilisation, die sich auf den Kapitalismus und den Staat stützt, führten, und andererseits seine Auffassung vom Privateigentum, die er versuchte mit seinen kommunistischen Ideen in Einklang zu bringen (z.B. in der Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern Levin in Anna Karenina), seine Kühle gegenüber den Parteien, die sich im Widerstreit mit der russischen Regierung befanden, und gleichzeitig seine tiefbegründete Verachtung jener Regierung – alle diesen Tendenzen müssen sich im Geist des großen Schriftstellers in unvereinbarem Konflikt befunden haben.11

Kropotkins Tolstoj-Bild ist aber auch von Missverständnissen gekennzeichnet. In seiner Autobiographie unternimmt Kropotkin den Versuch einer Ehrenrettung des Nihilismus, den er als wichtigstes kritisches und vernunftgeleitetes Orientierungsprinzip der russischen Intelligencija bezeichnet. Als Nihilist in diesem Sinne gilt ihm auch Tolstoj. Der »größte Künstler des 19. Jahrhunderts« habe diese Haltung auf die kürzeste Formel gebracht: »Ein Paar Stiefel ist wichtiger als alle eure Madonnen und alle eleganten Erörterungen über Shakespeare.«12 Damit reiht Kropotkin Tolstoj in die Gruppe der revolutionären Literaturkritiker der 1860er Jahre (Dobroljubov, Pisarev, Cˇernyˇsevskij) ein und blendet die religiöse Dimension seines Gesellschaftsprojekts ganz aus. Einig waren sich Tolstoj und Kropotkin in der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Kropotin sah darin nur ein »auf die Spitze getriebenes Beamtentum«: Das angeblich souveräne Volk dankt alle paar Jahre mit der Abgabe eines Wahlzettels ab und legt sein Schicksal in die Hände einiger weniger Berufspolitiker. Im Zentrum von Kropotkins Kritik steht nicht einmal der Verrat des Politikers an seinem politischen Mandat, wenn er eigene Interessen verfolgt. Die staatliche Verwaltungsmaschinerie kann gar keine Rücksicht mehr nehmen auf den Willen des Einzelnen, weil sie in ihrer eigenen Organisationsstruktur gefangen bleibt.13 Ganz ähnlich argumentierte auch Tolstoj in einem Gespräch im Jahr 1905: Delegierte sind Usurpatoren! […] Wenn Delegierte auch auf beste Art gewählt werden, sie können doch nie das Volk repräsentieren. Vielleicht gibt es unter hundert Wählern einundfünfzig Dumme und neunundvierzig Gescheite. Ein Mensch kann niemals den anderen vertreten. […] Vielleicht habe ich gestern so gedacht und denke heute anders; der Mensch ist in steter Entwicklung begriffen. Und darum ist die Repräsentanz eine Puppenkomödie. […] Mich über den Parlamentarismus zu befragen ist das Gleiche, wie wenn man, nicht gerade den Papst, aber einen Mönch fragen wollte, wie die Prostitution zu regulieren sei.14

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Anmerkungen 1 Correspondance de Pierre-Joseph Proudhon, Bd. 10, Paris 1875, 34. Proudhon nennt in dieser Briefstelle Tolstoi einen »homme fort instruit«. 2 R. Fülöp-Miller (Hg.), Der unbekannte Tolstoi. Die offizielle Ausgabe der Familie Tolstoj, Zürich/Leipzig/Wien 1927, 266f. 3 V. Ja. Lakˇs in, Interv’ju i besedy s L’vom Tolstym, Moskau 1987, 339. 4 M.A. Bakunin, Sobranie soˇcinenij i pisem 1828–1876, Bd. 4, Moskau 1935, 301. 5 M.A. Bakunin, Die Commune von Paris und der Staatsbegriff, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1923, 267–281, 268. 6 M.A. Bakunin, Gott und der Staat, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1923, 94–306, 294. 7 A. Fodor, A Quest for a Non-Violent Russia, Lanham, London 1989, 133. 8 V.A. Markin, Neizvestnyj Kropotkin, Moskau 2002, 258. 9 P.A. Kropotkin, Zapiski revoljucionera, St. Petersburg 1906, 260–263. 10 P. Avrich, Anarchist Portraits, Princeton 1990, 83. 11 P.A. Kropotkin, Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Frankfurt a. M. 1975, 135. 12 P.A. Kropotkin, Zapiski revoljucionera, 269. 13 P.A. Kropotkin, Worte eines Rebellen, Reinbek 1972, 89–116. 14 R. Fülöp-Miller (Hg.), Der unbekannte Tolstoi, 386, 389.

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Sozialismus Tolstojs Einstellung zum Sozialismus hat sich im Laufe seines Lebens stark verändert: Während er in den vierziger und fünfziger Jahren Sympathie für die utopischen Theorien der Frühsozialisten Fourier und Saint-Simon empfand, begann er in den siebziger Jahren den wissenschaftlichen Sozialismus (Marxismus) zu kritisieren und kam zum Schluss, dass es sich um den »größten Unsinn« (veliˇcajˇsij vzdor) handle (PSS 25: 634). Paradoxerweise wurde Tolstoj von Kritikern aus diametral entgegengesetzten Lagern den Sozialisten zugerechnet. So bezeichnete Lenin im Artikel Tolstoj und seine Epoche (1911) die Lehre des Grafen aus Jasnaja Poljana als »utopisch« und »sozialistisch«.1 Auch Rosa Luxemburg sah in Tolstoj einen »sozialen Denker« und stellte ihn in »die Reihe der großen Utopisten des Sozialismus«: Seine idealistische Gesellschaftskritik, meinte sie, erinnere »an die alten Utopistenklassiker des Sozialismus, an Saint-Simon, Fourier und Owen«.2 Obwohl Tolstoj eine gewaltsame Revolution und den Klassenkampf ablehnte und stattdessen die innere Vervollkommnung der Menschen propagierte, zählten ihn sozialistische Denker zu den Wegbereitern der Revolution. Auch religiös-philosophische Schriftsteller charakterisierten Tolstoj als Bolschewisten avant la lettre. Dmitrij Mereˇzkovskij z.B. schrieb 1918: »Der Bolschewismus ist der Selbstmord Europas. Tolstoj hat mit ihm angefangen, Lenin wird ihn vollenden«.3 Und Nikolaj Berdjaev warf Tolstoj vor, er habe durch seinen unerbittlichen Kampf gegen Staat und Kirche die revolutionären Forderungen der russischen Intelligencija unterstützt und der Revolution von 1917 den Weg geebnet.4 . Der russische Formalist Boris Ejchenbaum, Autor zweier Monographien und zahlreicher Publikationen über Tolstoj, wies darauf hin, dass gewisse Ideen Tolstojs vom utopischen Sozialismus beeinflusst seien. Zum Beispiel führte er Tolstojs Gedanken zur moralischen Selbstperfektionierung auf frühsozialistische Ideen zurück.5

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Der utopische Sozialismus: Saint-Simon und Fourier Die Diskussionen um die Frühsozialisten Saint-Simon und Fourier, die in den späten vierziger Jahren in Russland geführt wurden, verfolgte der junge Tolstoj mit großem Interesse. Aus seinem Tagebuch von 1847 geht hervor, dass er damals von der »spekulativen Philosophie« (umozritel’naja filosofija) enttäuscht war und sich einer »praktischen Tätigkeit« widmen wollte (PSS 46: 31). Auch wenn sich nicht eindeutig belegen lässt, dass Tolstoj die französischen Sozialisten gelesen hat, lassen sich Spuren ihrer Theorien in seinen Werken nachweisen.6 1852 begann Tolstoj mit der Arbeit an einem autobiographischen Roman über einen russischen Gutsbesitzer (Roman russkogo pomeˇsˇcika). Der Protagonist Nechljudov, der die Universität verlässt und aufs Land fährt, um »sich und seine Bauern glücklich zu machen«, stellt darin fest: »Ja, die Arbeit ist der große Antrieb der menschlichen Natur; sie ist die einzige Quelle des Glücks und der Tugend auf Erden« (PSS 4: 337). Diese Aussage entspricht einem Hauptgedanken Fouriers, der die Arbeit als Quelle des Glücks betrachtete. Auch finden sich im Romanentwurf Hinweise auf Tolstojs Affinität zum Saint-Simonismus. Zum Beispiel an jener Stelle, wo Nechljudov sich der ganzen Problematik seiner Landreform bewusst wird: Auf wie viele Hindernisse stieß doch das einzige Ziel seines Lebens, dem er sich mit dem Eifer seines jugendlichen Enthusiasmus widmete! […] Falsche Routine ausrotten, eine neue Generation erwarten und ausbilden, das Laster vernichten, das auf der Armut beruht, darf man nicht – man muss es mit den Wurzeln ausreißen. Jedem soll eine Beschäftigung nach seinen Fähigkeiten gegeben werden. (PSS 4: 355)

Die Ideen der Frühsozialisten fanden in Russland große Resonanz, namentlich im Kreis der Petraˇsevcy, dessen Mitglied Aleksandr Beklemiˇsev Tolstoj 1849 in Petersburg kennen lernte. Beklemiˇsev war Gutsbesitzer, propagierte sozialistisches Gedankengut und gestaltete das Leben seiner Bauern nach den Prinzipien Fouriers: Die Arbeit ist die wirkliche Bestimmung des Menschen, nur durch die Arbeit wird er zum wahrhaftigen Herrscher über die Natur. […] Die Vereinigung der gesamten Welt – das ist unsere Zukunft. Jedem nach seinen Fähigkeiten, jeder Fähigkeit nach ihren Taten – das ist das neue Recht, welches das Recht durch Eroberung und das Geburtsrecht ersetzen wird.7

Aus dem Tagebuch geht hervor, dass Tolstoj beabsichtigte, Beklemiˇsev auf seinem Gut in Reval zu besuchen.8 In den Jahren 1852 und 1853 stand er zudem in Kontakt mit den Mitgliedern des Petraˇsevskij-Zirkels Aleksandr Evropeus und Nikolaj Kaˇskin. Graf Henri de Saint-Simon, der wie Tolstoj zum Hochadel gehörte und in jungen Jahren den Militärdienst quittierte, entwarf eine tief greifende Gesellschaftsreform. Er vertrat die These, dass nur die Arbeit dem Menschen

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das Recht auf Existenz verleihe und dass die ideale Gesellschaft aus Menschen bestehe, die geistige und körperliche Arbeit leisten. Als nützliche Mitglieder der Gesellschaft galten für ihn jene Individuen, die durch ihre Arbeit Güter produzieren. Den unproduktiven Adel dagegen bezeichnete er als »parasitäre Klasse«.9 Diese Einstellung gegenüber der Aristokratie ist derjenigen Tolstojs sehr ähnlich. Auch der Vorstellung Saint-Simons, dass die moderne Geschichtsauffassung eine Biographie der Macht darstelle, hätte Tolstoj zustimmen können. Saint-Simon stellte eine Moral der allgemeinen Arbeitspflicht auf und schuf eine Rangordnung, die auf der Arbeitsleistung basiert. Dennoch forderte er, anders als Tolstoj und die Kommunisten, keine Abschaffung des Eigentums, sondern nur die Beseitigung des Eigentumsprivilegs. Das Recht auf Eigentum focht er nicht aus moralischen, sondern aus organisatorischen Gründen an. Wie Tolstoj entwarf Saint-Simon zudem ein Konzept eines »neuen Christentums«. Dabei berief er sich auf das Liebesgebot als »das einzig wahre Prinzip« des christlichen Glaubens. »Die Religion«, so Saint-Simon, solle »die Gesellschaft auf das große Ziel der möglichst schnellen Verbesserung der ärmsten Klasse hinlenken«. Den Schwerpunkt setzte er auf die christliche Morallehre, während er den kirchlichen Kultus und die Dogmen zu Nebensachen degradierte.10 Auch der Autodidakt Charles Fourier beeinflusste Tolstojs sozial-religiöse Lehre. Gemeinsam war beiden Denkern die Kritik an der Zivilisation und der existierenden Gesellschaftsordnung. Besonders der Gedanke an die Schaffung von Gemeinschaftssiedlungen, phalanstères, in denen sich die Selbstverwirklichung des Individuums durch Arbeit vollziehen sollte, weist auf eine enge Verwandtschaft der Ideen Tolstojs und Fouriers hin. Der französische Sozialist legte ebenfalls viel Wert auf die Rolle der Religion in der zukünftigen Gesellschaft. Im Traktat der häuslichen und landwirtschaftlichen Assoziation (1822) schilderte er ausführlich, wie man die Arbeit in der idealen Gesellschaft verrichten soll.11

Kritik an Marx Seit den 1870er Jahren befasste sich Tolstoj mit den Klassikern der sozialistischen politischen Theorie. Laut eigenen Worten »setzte er sich dreimal hin, um Mill, Proudhon und Marx zu lesen, ließ dieses Vorhaben jedoch fallen, weil er zum Schluss kam, dass alles, was in diesen Büchern steht, der größte Unsinn sei« (PSS 25: 634). Gleichwohl verstand sich Tolstoj im Jahr 1895 als »Marx-Experte«:

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Alle werfen mir vor, dass ich darüber schreibe, wie man das Leben am besten einrichten soll, ohne eine Ahnung von Wirtschaftswissenschaft zu haben, ohne zu wissen, was Marx gesagt und entdeckt hat. Sie irren sich. Ich habe aufmerksam Das Kapital von Marx gelesen und bin bereit, eine Prüfung darüber abzulegen. Aber ich habe nichts Neues bei ihm entdeckt. Es ist mir unangenehm aufgefallen, dass er die einfachsten Sachen sehr verwirrend und ausschweifend darlegt.12

Tolstoj verfasste zwar keine Studie über den Marxismus. Doch sind in seinen Werken zahlreiche Äußerungen über den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und seine Theorie verstreut. Die Urteile Tolstojs stellen keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie dar, haben jedoch stets einen kritischen Charakter. Im Artikel Sklaverei unserer Zeit (1900), dem ein Zitat des Frühsozialisten Robert Owen vorangestellt ist, bezeichnete Tolstoj die politische Ökonomie als eine »Pseudowissenschaft«, die konservativ, grob und brutal sei (PSS 34: 144–200). Drei Jahre später im Artikel An das arbeitende Volk äußerte sich Tolstoj erneut negativ über die »populäre sozialistische Lehre, die voller Unklarheiten, eigenwilliger Behauptungen und Widersprüche, ja geradezu Dummheiten« sei (PSS 35: 122f). Makovick´y notierte in seinen Aufzeichnungen eine Aussage Tolstojs vom 14. Oktober 1907: Das Kapital von Marx sei ein leeres Buch, pedantisch und einseitig.13 Der Marxismus erweist sich nach Tolstoj als eine unbegründete, fehlerhafte und unmoralische Theorie. Der Hauptfehler der Marxisten bestehe darin, übersehen zu haben, dass das Leben der Menschheit nicht nach ökonomischen Gesetzen, sondern durch das Wachstum des Bewusstseins und durch den Glauben bedingt sei. Der marxistischen politischen Ökonomie stellte Tolstoj seine eigene sozial-religiöse Lehre entgegen. Gusev weist in seinen Memoiren darauf hin, dass Tolstoj sich für die Kritik Bernsteins an Marx interessierte: Gestern [am 30. April 1908] beim Mittagessen sagte Lev Nikolaeviˇc, dass er in einem englischen Buch über den Sozialismus auf Bernstein gestoßen sei, und ihn interessiere, worin dessen Kritik an der Theorie von Marx bestehe. Heute Morgen habe ich in der BrockhausEnzyklopädie einen Artikel über Bernstein gefunden und legte das Buch auf den Tisch von Lev Nikolaeviˇc. […] Später sah ich ihn bei der Lektüre dieses Artikels. »Ich suche immer noch«, sagte er, »ob jemand über den Sozialismus das gesagt hat, was ich sage. Nein! Sie gehen nicht einmal annährend von dieser Seite an die Frage heran«.14

Obwohl keine These Tolstojs auf marxistischer Grundlage beruht, wie man dies in der Sowjetunion zu beweisen versuchte, finden sich in seinen sozialen Schriften Gedankengänge, die denjenigen von Marx ähnlich sind. So benutzte Tolstoj bei der Formulierung seiner sozialökonomischen Positionen einige Ideen von Marx: z.B. über den Prozess der Enteignung der Bauern von ihrem Grund und Boden in der Epoche der beginnenden Kapitalakkumulation sowie über den negativen Einfluss der Arbeitsteilung in der bourgeoisen Gesellschaft auf die Entwicklung der Persönlichkeit.15

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Semën Brajtburg untersuchte die Edition des Kapitals, die sich in der Bibliothek von Jasnaja Poljana befand und von Tolstoj persönlich gelesen wurde, und stellte fest, dass sich der Schriftsteller besonders für die Kapitel »Ware und Geld«, »Die Verwandlung von Geld in das Kapital« und »Die Produktion des absoluten Mehrwerts« interessierte.16 Über die Einstellung des späten Tolstoj zum Sozialismus geben zwei seiner Schriften Auskunft: der Brief an einen Revolutionär (Januar 1909) und der Aufsatz Über den Sozialismus (1910). Im Brief an einen Revolutionär bezweifelt Tolstoj, dass ein vernünftiger Egoismus und die Anwendung von Gewalt eine gerechte Basis für eine zukünftige Gesellschaftsordnung bilden können. Bei allen revolutionären Veränderungen würden sich nur die Machthabenden abwechseln und sich die Lage der Arbeitenden verschlechtern: Berge von Büchern sind und werden noch von den Marxens, Jaurès, Kautskys und anderen geschrieben […] Man darf aber den Umstand nicht übersehen, dass all diese Berge von sozialistischen, politischen und wirtschaftlichen Aufsätzen, die an Allgemeinwissen und Vernunft reich sind, ihrem Wesen nach nichts anderes sind als leere, unnütze und dazu noch enorm schädliche Schriften, die das menschliche Denken von dem natürlichen und vernünftigen Weg abbringen und es in eine falsche, künstliche und verderbliche Richtung lenken. (PSS 38: 265)

Tolstoj war der Meinung, dass die Idee des Aufbaus einer zukünftigen Gesellschaft auf der Basis von Arbeit und Solidarität gerecht sei. Dies könne aber nur durch ein »religiöses Gefühl« (religioznoe ˇcuvstvo) erreicht werden. Er warf den Sozialisten vor, die Bedeutung der Religion zu verkennen, welche die einzige Bedingung sei, unter der sich die Arbeitenden von der Unterdrückung befreien könnten: Sie sagen, […] dass die zukünftige ideale Gesellschaft auf Arbeit und Solidarität aller beruhen soll. Das alles ist absolut gerecht, aber das kann nur durch religiöse Gefühle erreicht werden, deren Basis die Liebe ist, und auf keinen Fall durch Gewalt, welche die Errichtung einer solchen Gesellschaft nur hemmt. (PSS 38: 267)

Tolstoj setzt diesen Gedankengang fort und erklärt, wie sich seiner Meinung nach das Volk von der Gewalt befreien kann: Damit das Volk sich von der Unterdrückung befreien kann […], braucht man die Verbreitung einer Religion, die dem Zeitgeist entspricht, die den gleichen göttlichen Ursprung in allen Menschen anerkennt und deshalb die Gewalt der Menschen untereinander nicht zulässt. Darüber, wie sich das Volk einrichtet, nachdem es sich von der Gewalt befreit haben wird, wird es selbst nachdenken, wenn sich die Befreiung vollzogen hat, und das Volk wird die geeignete und notwendige Gesellschaftsordnung ohne Hilfe gelehrter Professoren finden. (PSS 38: 267)

1910 wurde Tolstoj von einem seiner Briefkorrespondenten gebeten, einen Artikel über soziale und ökonomische Fragen bzw. über das optimale wirtschaftliche System für die zeitgenössische Gesellschaft zu verfassen. Er lehnte das Angebot ab und argumentierte damit, dass er im Unterschied zu den

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sozialistischen Reformern Saint-Simon, Fourier, Owen, Marx, Engels und Bernstein nicht wisse, welche Gesellschaftsform die beste sei und nicht darüber spekulieren wolle (PSS 38: 426). Seiner Meinung nach wird das familiäre, gesellschaftliche, politische, internationale und wirtschaftliche Leben der Menschen nicht aufgrund von allgemeinen objektiven Gesetzen gestaltet, die von Marx, Engels und Bernstein formuliert worden sind, sondern immer nur auf der Basis eines ganz anderen Gesetzes, das für alle Menschen gleich sei und vor Urzeiten ausgerufen wurde. Nach Tolstoj verletzen alle Regierungen, alle revolutionären Parteien, alle Kommunisten und Sozialisten jeglicher Ausrichtung das religiös-moralische Gesetz. Die sozialistischen Lehren propagierten Gewalt, um an die Macht zu kommen. Aber sie täten nichts, um die Lüge des Staates und der Machthabenden zu bekämpfen. Aus diesem Grund wird der Sozialismus von Tolstoj nur als ein weiteres Mittel angesehen, das die Wahrheit vor dem Volk verheimlichen soll: Der Sozialismus, der Parlamentarismus und allerlei Kongresse sind dagegen den Regierungen und Kapitalisten nützlich: All diese Einrichtungen mit ihren komplizierten Debatten verheimlichen vor den Menschen sehr wirkungsvoll den Grund des Bösen, gegen das sie angeblich kämpfen. (PSS 38: 431)

Zum Schluss ruft Tolstoj die Sozialisten jeder Couleur dazu auf, sich eine religiöse Weltanschauung anzueignen, sich vom »Aberglauben des Sozialismus« (sueverie socializma) zu befreien und sich auf die Erforschung der »wahren« religiösen Grundlage des Lebens zu konzentrieren, um die natürliche Bestimmung aller Menschen zu erfüllen, die zu einem »gnadenvollen Ziel führt« (PSS 38: 431f).

Anmerkungen 1 V.I. Lenin, Tolstoi und seine Epoche, in: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution, Berlin 1985, 52. 2 R. Luxemburg, Tolstoi als sozialer Denker [1908], in: dies., Gesammelte Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 2, Berlin 1974, 253. 3 D.S. Mere zˇ kovskij, Lev Tolstoj i bol’ˇsevizm, in: Carstvo antichrista, München 1921, 195. 4 Vgl. N.A. Berdjaev, Duchi russkoj revoljucii o russkoj revoljucii, in: Iz glubiny. Sbornik statej o russkoj revoljucii, Moskau/Petrograd 1918, 63–70. . 5 Vgl. B.M. E jchenbaum, 90-tomnoe sobranie soˇcinenij L.N. Tolstogo. Kritiˇceskie zametki, in: Russkaja literatura, 1959, Nr. 4, 216–223. . 6 Ejchenbaum vermutet, dass Tolstoj seine Tagebücher aus den Jahren 1848–1849 nach der Verhaftung der »Petraˇsevcy«, denen u.a. die Verbreitung der sozialistischen Theo. rien Saint-Simons und Fouriers zur Last gelegt wurde, vernichtete. Vgl. B.M. E jchenbaum, 90-tomnoe sobranie soˇcinenij L.N. Tolstogo, 216–223.

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7 A.P. Beklemi sˇ ev, O strastjach i vozmoˇznosti sdelat’ trud privlekatel’nym, in: Delo Petraˇsevcev, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1941, 358. 8 Vgl. Literaturnoe nasledstvo, Bd. 37/38, 142. 9 H. Saint-Simon, Œuvres, Bd. 2, Paris 1966, 211. 10 Vgl. H. Saint-Simon, Nouveau christianisme, in: ders., Œuvres, Bd. 3, Paris 1966, 99–192. 11 Vgl. Ch. Fourier, Traité de l’association domestique-agricole, in: Œuvres complètes, Bd. 2–5, Paris 1966. 12 V.A. Posse, Tolstoj, in: L.N. Tolstoj v vospominanijach sovremennikov, Bd. 2, Moskau 1955, 13–14. 13 D.P. Makovickij, Jasnopoljanskie zapiski. U Tolstogo, Bd. 2, Moskau 1979, 535 (= Literaturnoe nasledstvo, 90). 14 N.N. Gusev, Dva goda s L.N. Tolstym, Moskau 1928, 145. 15 Vgl. K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Hamburg 1890, 744–761. 16 Vgl. S.M. Brajtburg, Lev Tolstoj za cˇ teniem »Kapitala« Marksa, in: Zven’ja. Sbornik materialov i dokumentov po istorii literatury, iskusstva i obˇscˇ estvennoj mysli XIX veka, Moskau/Leningrad 1935, 732–741.

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Pål Kolstø

Orthodoxie Lev Tolstoj entwickelte seine religiösen Ideen in bewusstem Gegensatz zum orthodoxen Glauben, in dem er erzogen worden war. Kurz nach seiner religiösen Krise in den späten 1870er Jahren begann er die orthodoxe dogmatische Theologie, wie sie in den gängigen Katechismen vermittelt wurde, eingehend zu studieren. Das Ergebnis dieser Arbeit war die lange und schwerfällige Untersuchung der dogmatischen Theologie, in der Tolstoj alle theologischen Versuche ablehnte, das Wesen Gottes zu definieren und in Worte zu fassen. Tolstoj bezeichnete die Lehre der russischen Kirche, die ja eigentlich den Glauben des einfachen Volkes wiedergeben sollte, als Lüge, ja sogar als absichtliche Täuschung (PSS 23: 63). Diese Lehre setze sich aus »reinen Märchen«, »Fieberhalluzinationen«, »bewussten Lügen« und »bedauerlichen und bösartigen Entstellungen« zusammen. Aus diesen und ähnlichen vernichtenden Aussagen könnte man leicht folgern, dass Tolstoj den orthodoxen Glauben rundheraus ablehnte. Doch bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass Tolstoj ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zur Orthodoxie hatte: Er fühlte sich von der orthodoxen Spiritualität zugleich abgestoßen und angezogen. Bisweilen machte Tolstoj einen Unterschied zwischen der Lehre und Praxis der Kirche, die er ablehnte, und dem lebendigen Glauben des Volkes, den er bewunderte. In einigen Schriften, in denen Tolstoj die Verlogenheit der orthodoxen Doktrin anprangerte, zeigte er sich gleichzeitig fasziniert von der Spiritualität der einfachen russischen Gläubigen. Oft wiederholte er die Ansicht, dass in der orthodoxen Tradition viele wertvolle Formen der Frömmigkeit zu finden seien. Am deutlichsten kommt dies vielleicht in seinem kurzen Aufsatz Du sollst nicht töten (1907) zum Ausdruck: […] seit jeher existierte im russischen Volk neben diesem offiziellen Glauben ein nichtoffizieller, lebendiger christlicher Glaube, der auf mysteriöse Art und Weise, durch das heilige Leben der Starzen, durch die Narren in Christo, die Wanderasketen [starcy, jurodivye, stranniki], in das russische Volk einging, sich in seinen Sprichwörtern, seinen Erzählungen und Legenden niederschlug und es leitete. (PSS 37: 47f)

Die drei religiösen Phänomene, die in diesem Zitat als positive Beispiele erwähnt werden – das starˇcestvo, jurodstvo und stranniˇcestvo – sind spezifisch orthodoxe Formen der Frömmigkeit, für die es in der westlichen religiösen Tradition keine direkten Analogien gibt. Tolstoj bewunderte diese ostkirch-

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lichen Frömmigkeitsformen nicht nur, sondern ahmte sie in seinem eigenen Leben auch bewusst nach. Einige Zeitgenossen bezeichneten Tolstoj sogar als orthodoxen Starez, als orthodoxen Wanderasketen oder als Narren in Christo.1 Man sollte jedoch nicht vorschnell schließen, Tolstoj habe die orthodoxe Theologie – »den offiziellen Glauben« – abgelehnt und die Frömmigkeit der einfachen Gläubigen vorbehaltlos gutgeheißen. Eine genaue Lektüre der Untersuchung der dogmatischen Theologie zeigt, dass Tolstoj die zeitgenössische russische Theologie von einer Warte aus kritisierte, die der apophatischen Tradition orthodoxer Mystiker bemerkenswert nahe stand (vgl. f M. George, Gott, 356f). Was die Schuldogmatiker in Tolstojs Augen zu Gotteslästerern machte, war nicht zuletzt die selbstgefällige Anmaßung der Theologen, Gott als allmächtig, allgegenwärtig, allliebend etc. beschreiben zu können. Tolstoj hält dem entgegen, dass alle Ansprüche, Gott zu erkennen, ihn nur erniedrigen. Die Theologen hätten sich angemaßt, Gott in den kraftlosen und beschränkten menschlichen Kategorien erfassen zu können. Tolstoj wird nicht müde zu wiederholen, dass man von Gott nur sagen könne, er sei »unfassbar« (nepostiˇzim). Als die Untersuchung der dogmatischen Theologie erschien, wurde sie von Geistlichen und Laien gleichermaßen ignoriert. In eklatantem Gegensatz zu Tolstojs anderen religiösen Schriften, die fast alle nach ihrem Erscheinen für Aufsehen sorgten und viele Kommentare hervorriefen, geriet dieses Buch nach Erscheinen bald in Vergessenheit. Auch von der Wissenschaft wird es bis heute stark vernachlässigt. Viele Untersuchungen zu Tolstojs religiösem Schaffen erwähnen die Untersuchung mit keinem Wort oder weisen nur in einer Fußnote auf sie hin. Auch wenn man sich der Meinung anschließen kann, dass dieses Werk keine literarischen Qualitäten aufweist, stellt es doch eine wichtige Quelle für das Verständnis der religiösen Ideen Tolstojs dar. Tolstoj maß diesem Werk selbst große Bedeutung bei. Es war eines der ersten Bücher, das er nach seiner »zweiten Geburt« (wie er seine Lebenskrise bezeichnete) schrieb, und das erste, das er nach der Niederschrift seiner Beichte vollendete. Diese beiden Werke sind denn auch eng miteinander verknüpft. In der Beichte beschreibt Tolstoj seine lange und verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens und seine enttäuschte Abkehr vom Kulturoptimismus des 19. Jahrhunderts, vom Pessimismus schopenhauerscher Prägung und vom orthodoxen Christentum. Für Tolstoj war keines dieser »Lebensverständnisse« (ˇzizneponimanija) imstande, das Rätsel der menschlichen Existenz hinreichend zu erklären. Dennoch endet die Beichte nicht mit einer totalen Ablehnung der Orthodoxie, wie oft behauptet wird. Im Gegenteil: In diesem Werk äußert Tolstoj die Ansicht, dass die Orthodoxie ein Gemisch aus Lügen und Wahrheiten sei, die »mit feinsten Fäden miteinander verwoben« seien. Der Schlusssatz der Erstausgabe der Beichte lautet wie folgt:

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Dass diese Lehre Wahrheit enthält, steht für mich außer Frage; doch genauso außer Frage steht auch, dass sie Lüge enthält, und ich musste Wahrheit und Lüge finden und sie voneinander trennen. Und so machte ich mich an diese Aufgabe. Was ich in dieser Lehre an Lüge fand und was ich an Wahrheit fand und welche Schlüsse ich daraus zog, das wird der Inhalt der folgenden Teile dieser Arbeit sein. (PSS 23: 57)

Bei diesen »folgenden Teilen« handelt es sich um nichts anderes als um die Untersuchung der dogmatischen Theologie. Im Manuskript folgen die ersten Zeilen der Untersuchung unmittelbar auf die letzten Zeilen der Beichte,2 die im Grunde nur ein Vorwort zum eigentlichen Werk darstellt. Deshalb wies die Erstausgabe der Beichte folgenden Untertitel auf: »Einleitung zu einem unveröffentlichten Werk« (PSS 23: 522). Mit Fug und Recht darf man im Schluss der Beichte den methodologischen Ausgangspunkt der Untersuchung der dogmatischen Theologie sehen, d.h. man sollte nach den Lichtstrahlen suchen, die Tolstoj in der orthodoxen Finsternis entdeckt hatte. Und tatsächlich finden sich in der Untersuchung der dogmatischen Theologie – neben vielen Invektiven und Vorwürfen – auch positive Bewertungen orthodoxer Elemente, entsprechend der Vorstellung von einer »mit Lügen verwobenen Wahrheit«. Doch sind diese positiven Bewertungen meist nicht explizit formuliert, sondern müssen aus Tolstojs Beweisführung und der allgemeinen Struktur seiner Argumente erschlossen werden. Wenn sich Tolstoj angeblich auch den gesamten Korpus der orthodoxen Theologie vornahm, so ist sein Werk in Wahrheit eine Streitschrift gegen einen einzigen Theologen: den Moskauer Metropoliten Makarij (Bulgakov, 1816–1882). Dieser gelehrte Bischof verfasste mehrere theologische Standardwerke, wovon die 1200-seitige Orthodoxe dogmatische Theologie sein wichtigstes ist. Dass sich Tolstoj auf Makarijs Dogmatik konzentrierte, hat mehrere Gründe. Sie war die neueste und umfassendste theologische Darstellung, die er kannte, und sie enthält zahlreiche Verweise auf die Kirchenväter und Theologen früherer Jahrhunderte. Tolstoj war der Ansicht, dass Makarijs Dogmatik ein Kompendium der gesamten orthodoxen Tradition darstelle und als Inbegriff orthodoxer Gelehrsamkeit gelten könne (PSS 23: 61). Aber seine Wahl war keine glückliche: Makarijs Werk hat die Zeiten nicht überdauert und ist heute weitgehend vergessen, ja selbst zu Tolstojs Zeiten wurden ihm von russischen Gläubigen fundamentale Mängel vorgeworfen.3 Die Frage nach dem Wesen Gottes und der menschlichen Fähigkeit, Gott zu erkennen, ist für Makarijs Theologie ebenso grundlegend wie für das Denken Tolstojs. Makarij ist in seinem dogmatischen Ansatz ausgesprochen theozentrisch. Bei jedem Problem, das er abhandelt, nimmt er das Gottesdogma zum Ausgangspunkt, und die ersten 350 Seiten seiner Dogmatik sind ausschließlich dem Thema »Gott in sich selbst« (v samom sebe) gewidmet. Ganz ähnlich rang Tolstoj mit dem Problem des Göttlichen, dem er sich von

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verschiedenen Seiten näherte, auch wenn er spürte, dass es ihm kaum vergönnt sein werde, eine zufrieden stellende Antwort zu finden. Einige Bemerkungen Tolstojs zum Thema »Gott« wurden von Vladimir Cˇertkov gesammelt und unter dem Titel Gedanken über Gott herausgegeben (f 223–233). Viele Sentenzen in dieser Broschüre weisen frappierende Parallelen zu der Art und Weise auf, wie die Gottesfrage in der orthodoxen Theologie behandelt wird. In manchen Fällen sind die Übereinstimmungen dermaßen frappant, dass man versucht ist zu glauben, sie seien dem Werk Makarijs entnommen. Makarij beginnt mit einer erkenntnistheoretischen Fragestellung: Ist Gott mit dem menschlichen Verstand überhaupt zu begreifen? Seine vorläufige Antwort ist ein kategorisches Nein: Gott ist für den Menschen unbegreiflich. Dies wird auf verschiedene Art und Weise erklärt: Gott sei unendlich, während der menschliche Verstand endlich ist; zudem ist der Mensch ein körperliches Wesen, Gott aber reiner Geist; und schließlich sei das menschliche Erkenntnisvermögen getrübt durch Sünde.4 Nach einer solchen Einführung in die Gottesfrage könnte man vermuten, dass Makarijs theologisches Schiff gekentert sei, noch bevor es richtig in See stechen konnte. Ein vollkommen unbegreiflicher Gott kann nur schwerlich Thema einer Lehrbuchabhandlung sein. Doch schon bald schwächt Makarij seine Eingangsbehauptung ab: Gottes Unbegreiflichkeit sei nicht absolut, insofern sich Gott entschieden habe, sich der Menschheit zu offenbaren, durch die Schöpfung und in der Schrift. Deshalb, so der Bischof, sei es möglich, Gott »teilweise«5 zu erkennen. Diese Behauptung wird von Tolstoj sogleich angegriffen: Wenn Gott wirklich unbegreiflich sei, dann sei es vollkommen ausgeschlossen, ihn auch nur teilweise erkennen zu können (PSS 23: 70). Das unscheinbare Wort »teilweise« dient Makarij als Sprungbrett, um zum Kern seiner theologischen Lehre zu kommen. Er unternimmt den Versuch, eine Anzahl von Merkmalen anzuführen, die Gott zugeschrieben werden können. Und es sind ihrer nicht wenige: Gott sei selbstgenügsam, autonom, allgegenwärtig, ewig, unveränderlich, allmächtig und allwissend. Ihm komme grenzenlose Weisheit, Freiheit, Heiligkeit, Güte, Treue und Gerechtigkeit zu. Jedem dieser Merkmale widerspricht Tolstoj mit dem immer gleichen Argument: Makarij müsse Gottes Unbegreiflichkeit vergessen haben. Die Vorstellung von Gottes Unbegreiflichkeit ist kein peripheres Thema in der orthodoxen Theologie, im Gegenteil: Ihr kommt eine zentrale Bedeutung zu, was u.a. daran ersichtlich ist, dass sich eine ganze theologische Tradition dieser Frage angenommen hat. In statu nascendi lässt sich die »negative« oder »apophatische« Theologie bereits im 4. Jahrhundert in den Schriften der kappadokischen Väter beobachten. Hauptsächlich verbindet man sie aber mit dem Corpus Areopagiticum, einer Sammlung theologischer Abhandlungen aus dem 6. Jahrhundert aus Syrien, die lange Zeit jenem Dio-

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nysios zugeschrieben wurde, dem Paulus auf dem Areopag in Athen begegnete. Diese Texte sind von immenser theologiegeschichtlicher Bedeutung.6 In einer dieser Abhandlungen, Über die mystische Theologie, unterscheidet Pseudo-Dionysios zwei diametral verschiedene Ansätze der Gotteserkenntnis – den kataphatischen und den apophatischen. Mithilfe der kataphatischen Methode versucht der Mensch, das Wesen Gottes zu definieren, indem er ihm gewisse Merkmale zuschreibt: Gott ist gütig, allmächtig, allwissend. Dies wurde möglich durch Gottes eigene historische Taten: In einer ganzen Reihe von Theophanien, von denen die Menschwerdung die bedeutendste war, hat er sich dem Menschen selbst offenbart. Die kataphatische Methode beruht hauptsächlich auf dem Prinzip der Analogie: Wir erkennen Gott in Analogie zu der Welt, wie sie sich uns darstellt. Deshalb ist dieser Ansatz, so unverzichtbar er auch sein mag, nur von bedingtem Wert. Eine höhere Form der Theologie ist der apophatische Ansatz – wobei »höher« nicht in dem Sinne zu verstehen ist, dass er genauere Erkenntnisse über Gott vermittelt. Genau genommen kann er überhaupt keine positiven Erkenntnisse vermitteln. Man nähert sich Gott durch Verneinungen an und beschränkt sich auf Aussagen, was Gott nicht ist. Wie ein Bildhauer mit seinem Meißel Stücke eines Steinblocks abträgt, um so ein Bildnis zu erschaffen, so befreit der negative Theologe Gott von allen menschlichen Definitionen und Vorstellungen, die ihm nicht zukommen. Pseudo-Dionysios erinnert daran, dass Gott weder Form noch Gestalt habe, und fügt hinzu, dass er weder Seele noch Verstand sei. Gott kann nicht als groß oder klein beschrieben werden. Er ist weder zeitlich noch ewig, weder Wahrheit noch Lüge, weder Licht noch Nicht-Licht. Im Angesicht Gottes versagen nicht nur Worte, sondern auch Gedanken. Gott erweist sich als unaussprechlich und unbegreiflich. Während Makarij Gottes Unbegreiflichkeit auf das beschränkte Erkenntnisvermögen des Menschen zurückführt, ist dieses Phänomen für Pseudo-Dionysios ein wesentlicher und unveräußerlicher Zug Gottes selbst. Apophatismus ist keine abstrakte Spekulation, sondern ein Weg der Läuterung. Der Gläubige entledigt sich aller Begriffe, um Gott in sich aufzunehmen. Nicht Erkenntnisse über Gott, sondern die Einheit mit ihm ist das letzte Ziel. In Tolstojs Tagebüchern und veröffentlichten Werken finden sich mehrere Stellen, die durch apophatische Ausdrucksweise auffallen. Einige Beispiele sollen hier genügen: In seinem Tagebuch von 1904 beschreibt Tolstoj Gott als »Deus absconditus, den unbegreiflichen. […] Er ist mir unbekannt, bekannt ist mir aber nicht nur meine Bestimmung in ihm, sondern meine Teilhaftigkeit an ihm bildet die eigentliche unerschütterliche Grundlage meines Lebens« (PSS 55: 51). In einer Aufzeichnung, die zehn Jahre früher entstanden ist, tritt dieser Aspekt noch deutlicher hervor:

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Je ernsthafter und aufrichtiger ich über mich, das Leben und seinen Ursprung nachdenke, desto kleiner wird mein Bedürfnis nach Gott, desto verheerender wird der Gottesbegriff. Je näher man Gott kommt, desto weniger sieht man von ihm. Nicht etwa deshalb, weil es ihn nicht gibt, sondern weil es immer beängstigender wird, von ihm zu sprechen, nicht etwa ihn definieren, sondern ihn auch nur benennen zu wollen. (PSS 52: 144)

In Tolstojs Gedanken über Gott findet sich eine ähnliche apophatische Beschreibung: Ich kann und will mich Ihm annähern, darin besteht mein Leben, aber die Annäherung erweitert meine Kenntnis keineswegs und kann sie nicht erweitern. Jeder Versuch, mir einzubilden, dass ich Ihn erkenne (z.B. dass Er der Schöpfer ist, barmherzig oder etwas in der Art), entfernt mich von Ihm und behindert meine Annäherung an Ihn. (f 223)7

In seinem spirituellen Leben machte Tolstoj dieselbe Erfahrung wie PseudoDionysios. Die Ähnlichkeiten in ihrer Ausdrucksweise verdanken sich nicht nur einer ähnlichen seelische Entwicklung, sondern der Herkunft aus einer gemeinsamen Tradition. Tolstoj war bestens vertraut mit der apophatischen Tradition der Ostkirche, und so wirft er Makarij auch explizit vor, die »tiefsinnigen und aufrichtigen Worte der Apostel und der Kirchenväter, welche die Unbegreiflichkeit Gottes zu beweisen suchten« (PSS 23: 71), zu verfälschen. Fest verankert in dieser Tradition, konnte Tolstoj Makarij sogar vorwerfen, dass sein Denken nicht ausreichend orthodox sei. Man hat versucht, Tolstojs Gottestheorie auf andere Einflüsse zurückzuführen als die Orthodoxie. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang Kant mit seinem Nachweis der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises genannt.8 Doch zwischen dem Denken der Kirchenväter und demjenigen des Königsberger Philosophen gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während die orthodoxe Theologie die Existenz Gottes voraussetzt und nur die Möglichkeit anzweifelt, sein Wesen beschreiben zu können, ist Kant in der Kritik der reinen Vernunft – der einzigen Kritik, die Tolstoj vor der Abfassung seiner Untersuchung gelesen hat – Agnostiker. In dieser Frage schlug sich Tolstoj auf die Seite der Kirchenväter: Wenn wir vom Ursprung alles Seienden, von Gott, sprechen, dann ist klar, dass wir seine Existenz anerkennen und begreifen. Aber wenn wir über das eigentliche Wesen Gottes sprechen, wird klar, dass wir nicht imstande sind, es begreifen zu können. (PSS 23: 69)

Tolstoj konnte sich aus verschiedenen Quellen über den orthodoxen Apophatismus kundig machen. Wenn er auch kaum eine der areopagitischen Schriften gelesen hatte, so wurde diese Tradition von vielen späteren Kirchenvätern, die Tolstoj wohlbekannt waren, am Leben erhalten. Eine klassische Darstellung des Apophatismus findet sich zum Beispiel im Traktat Über den orthodoxen Glauben von Johannes von Damaskus,9 einem der theologischen Bücher, die Tolstoj während der Arbeit an der Untersuchung studierte. Unverkennbare apophatische Formulierungen haben sogar Ein-

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gang in die orthodoxe Liturgie gefunden. Im wichtigsten Gebetsbuch (Trebnik) wird Gott angerufen als »ewiger Zar, der ohne Anfang, unsichtbar, unerklärlich, unbegreiflich und unsagbar« ist. Diese und viele andere apophatische Quellen werden von Makarij zitiert,10 der ironischerweise all die Munition liefert, die Tolstoj gegen ihn verwendet. Wie schon viele orthodoxe Theologen vor ihm begnügt sich Tolstoj allerdings nicht mit der Vorstellung von Gottes Unbegreiflichkeit. Er erkennt, dass die negative Theologie mit positiven Argumenten ergänzt werden muss. Er ist durchaus bereit anzuerkennen, dass Gott eins ist und dass er in den Kategorien der Liebe, des Willens und der Vernunft beschrieben werden kann. Dies hat auch Makarij in seiner Orthodoxen dogmatischen Theologie postuliert. Der Beweis der Einheit Gottes ist die erste und wichtigste Stufe in Makarijs kataphatischer Ableitung. Dabei betont er, dass dieser Begriff nicht in streng mathematischem Sinne zu verstehen ist. Gott ist nicht »eins« in dem Sinne, dass er durch die Zahl 1 abgebildet werden könne, sondern dass er vollkommen in sich selbst sei (vsecelyj).11 Auf diese Aussage stürzt sich Tolstoj voller Sarkasmus: Genauso gut könne man behaupten, Blätter seien grün, aber nicht was ihre Farbe betrifft, spottet er. »[…] die Wörter ›eins, einzig‹ bezeichnen Zahlen und sind deshalb nicht anwendbar auf den Gott, an den wir glauben« (PSS 23: 79). Doch hier spielt der polemische Impetus Tolstoj einen Streich, denn in diesem Punkt stimmt er mit Makarij völlig überein. In den Gedanken über Gott behauptet Tolstoj: »Über Gott kann man nur sagen, was Moses und Mohammed gesagt haben – Er sei der Eine« (f 229).12 Und diese Aussage kommentiert er daraufhin genauso, wie es Makarij getan hat. Er wiederholt die Worte des Bischofs nahezu wörtlich: »[…] in Bezug auf Gott kann es den Begriff der Zahl nicht geben, deshalb kann man über Gott nicht einmal sagen, Er sei der Eine (1 – in der Bedeutung der Zahl) –, sondern in dem Sinne, dass er einzentrisch [odnocentren] ist« (f 229).13 Ein wichtiger Punkt, in dem Tolstoj von der orthodoxen Theologie abzuweichen scheint, ist die Frage nach der Persönlichkeit Gottes. Tolstoj hat mehrfach bestritten, dass es möglich sei, Gott eine Persönlichkeit zuzuschreiben. Da die Vorstellung eines persönlichen Gottes von grundlegender Bedeutung für die christliche Theologie ist, sind viele Autoren zum Schluss gekommen, dass dieser Dissens eine unüberbrückbare Kluft zwischen Tolstojs Denken und der christlichen Tradition darstelle. Tolstojs Gottesvorstellung wird oft als pantheistisch bezeichnet.14 Doch hier gilt es zu bedenken, dass Tolstoj sich selbst explizit vom Pantheismus distanziert hat. Gemäß seinen Gedanken über Gott ist Gott »kein Begriff, sondern ein Wesen […], das, was die Orthodoxen den lebendigen Gott nennen im Gegensatz zum pantheistischen Gott, d.h. das höchste geistige Wesen, das in allem wohnt« (f 229).15

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Wenn in der christlichen Theologie von einem »persönlichen« Gott die Rede ist, dann meint man damit üblicherweise, dass Gott über Geist und Willen verfüge und ein genuines Interesse am Wohlergehen seiner Schöpfung habe. Gott soll sogar einen Plan für das Leben jedes einzelnen Menschen haben. Das ist auch ein Grundpfeiler von Tolstojs religiöser Lehre. Tolstoj wird nicht müde zu betonen, dass Gott einen Willen hat, und zwar nicht nur einen allgemeinen Willen im schopenhauerschen Sinne, sondern einen individuellen für jedes einzelne menschliche Wesen. Es ist die Aufgabe unseres Lebens, diesen Willen zu realisieren und zu erfüllen.16 Der orthodoxe Schriftsteller Vladislav Maevskij, der Tolstojs religiösen Vorstellungen ein ganzes Buch gewidmet hat, sieht in dieser Idee den Beweis dafür, dass Tolstojs Gott »mit dem Gott der Kirche identisch« sei.17 Hier ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Obwohl Tolstoj in vielen wichtigen Punkten dem orthodoxen Gedankengut verhaftet war, entfernte er sich in anderen, nicht weniger wichtigen Fragen weit vom historischen Christentum. Hier genügt es, auf Tolstojs leidenschaftliche Ablehnung der Trinität hinzuweisen, die er »nicht verstehen« konnte, oder auf seine Christologie. Für Tolstoj war Christus nicht der einziggeborene Sohn Gottes, sondern ein außergewöhnlich erleuchteter Mensch, der Gottes Willen besser verstand als irgendjemand sonst vor und nach ihm. Zudem lehnte Tolstoj so zentrale Dogmen wie jene der Erlösung und der Gnade ab, da so dem Menschen die Last der moralischen Verantwortung abgenommen werde. Und schließlich ist auch für die Ekklesiologie und die Sakramente kein Platz in Tolstojs theologischem Denken. Das orthodoxe Substrat hat Tolstoj wohl größtenteils unbewusst übernommen, und daraufhin war es Transformations- und Verschmelzungsprozessen mit anderen Ideen ausgesetzt, weshalb es einer sehr gründlichen Analyse bedarf, um es wieder isolieren und identifizieren zu können. Die meisten Autoren schließen kategorisch aus, dass Tolstoj von einer Kirche beeinflusst werden konnte, die er selbst leidenschaftlich attackierte. Deshalb hat man sich bei der Suche nach seinen geistigen Vorvätern auch vornehmlich auf die Quellen konzentriert, die Tolstoj selbst hervorgehoben hat – etwa auf Rousseau, Kant, Schopenhauer oder Konfuzius. Die meisten von ihnen haben in Tolstojs Denken ihre Spuren hinterlassen, allerdings nicht auf Kosten anderer, die ihm viel näher standen. Ein westlicher Autor, der den orthodoxen Glauben als Bezugsrahmen für eine Untersuchung von Tolstojs Werk hervorhob, war Richard Gustafson. Er ging weiter als die meisten anderen, verwischte die theologischen Differenzen zwischen Tolstoj und der Russischen Orthodoxen Kirche und behauptete, dass »Tolstojs Gott des Lebens und der Liebe ein ostchristlicher Gott« sei.18 Gustafson bediente sich strukturalistischer Methoden, d.h. er suchte nach Ähnlichkeiten zwischen Tolstojs Denkweise und dem »orthodoxen

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Geist«. Doch nirgendwo machte sich der Autor die Mühe zu erörtern, wie man sich den orthodoxen Einfluss auf Tolstoj konkret vorstellen muss. Bereits zu Beginn tat Gustafson die ganze damalige orthodoxe Theologie ab als »leichte Modifizierungen westlicher Denksysteme, katholischer und protestantischer«.19 Trotzdem wurde Gustafson von seiner Intuition nicht im Stich gelassen. Sein »close reading« von Tolstojs Werk fasste er wie folgt zusammen: »Tolstoj mag zwar kein orthodoxer Denker sein, aber sicherlich ist er ein östlichchristlicher Künstler und Theologe innerhalb der Kultur der russischen Orthodoxie«.20 Grundsätzlich ist dieses Urteil zutreffend, auch wenn man Tolstoj nur bedingt als »christlich« bezeichnen kann. Die dogmatische Theologie war indessen nicht die einzige orthodoxe Quelle, aus der Tolstoj schöpfen konnte. Genauso wichtig war die mystischasketische Tradition, mit der er in Kontakt kam. Diese Tradition verschwand nach der Niederlage der »Transwolga-Starzen« im Konflikt mit den Josephiten im 16. Jahrhundert zunächst von der Bildfläche. Zwei Jahrhunderte später wurde sie von Paisij Veliˇckovskij wiederbelebt und von seinen Schülern nach Russland zurückgebracht. Paisij unternahm eine Reise zum Berg Athos in Nordgriechenland, einem der wichtigsten Zentren orthodoxer Spiritualität, dem die russische Kirche viel zu verdanken hat.21 Dort hatte der Mönch Nikodemus soeben seine Übersetzung ausgewählter antiker und mittelalterlicher monastischer Texte abgeschlossen, die unter dem Titel Philokalia (Liebe zum Schönen) veröffentlicht wurde. Durch Paisijs kirchenslavische Übersetzung und später durch Bischof Feofans erweiterte Übersetzung ins Russische erreichte diese Anthologie auch die russische Kirche und hat mehr zur geistlichen Wiedergeburt der russischen Orthodoxie beigetragen als jedes andere Buch aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Tolstoj hat die Philokalia in Paisijs Übersetzung gelesen.22 Es gibt gute Gründe, das asketische Moment seiner Morallehre eher im Kontext der ostchristlichen Klosterkultur zu verstehen, als in ihm ein entferntes Echo buddhistischer oder stoizistischer Einflüsse zu sehen.23 Tolstojs Ideal der Gleichgültigkeit Spott, Schmerzen und Begierden gegenüber scheint in der orthodoxen Vorstellung von der Leidenschaftslosigkeit, der apatheia (kirchenslav. bezstrastie), ihren Ursprung zu haben. Sowohl die griechischen Kirchenväter wie auch der russische Schriftsteller beharrten darauf, dass echte Liebe nur dann aufblühen könne, wenn es uns gelingt, unsere Lüste und Leidenschaften zu zügeln.24 Zu den alten Traditionen, die Paisijs Schüler in Russland wieder eingeführt hatten, gehörte auch die Institution des Starzentums. Ein »Starez« ist ein erfahrener (nicht unbedingt alter) Mönch, der Novizen und Laien auf dem dornigen Pfad zur Heiligkeit anleitet. Das Starzentum ist ein charismatisches Phänomen, d.h. die Autorität des Starez beruht ausschließlich auf

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seiner individuellen Gabe, andere zu leiten. Starzen müssen nicht unbedingt ordinierte Priester sein, und ihre Funktion ist nicht Teil der etablierten hierarchischen Klosterstruktur.25 Das bedeutendste Zentrum des Starzentums im Russland des 19. Jahrhunderts war das Kloster Optina im Gouvernement Kaluga. Massen von Pilgern suchten die Optinaer Starzen auf, ungebildete Bauern ebenso wie Vertreter der Intelligencija (Nikolaj Gogol’, Fedor Dostoevskij, Ivan Kireevskij und Vladimir Solov’ev gehörten zu den prominenten Besuchern).26 Tolstoj besuchte die Optina-Einsiedelei nicht weniger als viermal – 1877, 1881, 1890 und 1910. 1890 machte er sich zu Fuß auf den Weg, in einfacher Bauernkleidung und mit Bastschuhen an den Füßen, um das Starzentum genauso erleben zu können wie ein gewöhnlicher Pilger. Offensichtlich suchte Tolstoj nicht in erster Linie geistlichen Rat – seine Reisenotizen überraschen dadurch, dass er offenbar keine hohe Meinung von den Lehren der Starzen hatte.27 Es scheint wahrscheinlicher, dass das Ziel seiner Reise das Studium des Starzentums selbst war, das Tolstoj schon bald mehr oder weniger bewusst in Jasnaja Poljana nachahmen sollte. Wie die Starzen reiste Tolstoj nicht im ganzen Land herum, um seine Lehre zu verbreiten, sondern er empfing die nach Erleuchtung Dürstenden bei sich zu Hause. Wie schon erwähnt war das Starzentum nur locker in die Klosterstruktur eingebunden. So bereitete es auch keine Mühe, das Starzentum vom klösterlichen Rahmen zu lösen und in eine weltlichere Umgebung zu transponieren. Wie bei allen Anregungen, die Tolstoj von der Orthodoxie erhalten hatte, wiederholte er auch jetzt nicht einfach das, was er in Optina vorfand: So gründete sich seine Autorität nicht etwa auf Wunderheilungen oder einer prophetischen Gabe, wie dies für die orthodoxen Starzen charakteristisch war, und ebenso wenig verlangte Tolstoj von seinen »Gläubigen« unbedingten Gehorsam. Offenbar hat sich Tolstoj selbst nie als Starez bezeichnet, doch wurde ihm dieser Ehrentitel des Öfteren von Orthodoxen und Nicht-Orthodoxen verliehen.28 Die Bezeichnung wurde für ihn so üblich, dass Bischof Nikon die Feinde der Kirche bezichtigte, der christlichen Sprache einen Titel entwendet zu haben, um das Andenken eines Häretikers und Gotteslästerers zu ehren.29 Tolstoj hat sich auch nach seiner Krise in mehreren Schriften mit Fragen der orthodoxen Theologie und Spiritualität auseinandergesetzt. Dies gilt sowohl für fiktionale Werke wie Vater Sergij (1890–98) und Auferstehung (1889–99) als auch für religiöse Traktate wie Mein Glaube (1883/84) und Das Reich Gottes ist in euch (1890–93). In seiner berühmten Antwort auf den Beschluss des Synods (1901) revanchierte sich Tolstoj dafür, dass die Kirche vor seiner religiösen Lehre öffentlich gewarnt hatte; die Lehre der russischen Kirche sei »in theoretischer Hinsicht eine heimtückische, schädliche Lüge und in praktischer Hinsicht eine Sammlung primitivster Irrlehren und Zaubereien« (f 243; PSS 34: 247).30

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Es scheint, dass Tolstoj manchmal keine Mühe scheute, wenn es darum ging, die religiösen Gefühle der russischen Gläubigen zu verletzen. So gesehen ist die Untersuchung der dogmatischen Theologie, wie Daniel Rancour-Laferrière durchaus zutreffend anmerkt, in vieler Hinsicht ein »einziges anti-orthodoxes Pamphlet«.31 Trotzdem ist dies nicht das letzte Wort, das über Tolstojs Verhältnis zur Orthodoxie gesagt werden kann. Rancour-Laferrière weist darauf hin, dass Tolstoj in späteren Werken seine Haltung in einigen Fragen, die in der Untersuchung behandelt werden, abschwächt oder sogar neu überdenkt, und dass auch der Sinn der Untersuchung selbst um einiges vieldeutiger sei, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Die meisten westlichen Monographien über Tolstojs religiöses Denken übergehen einen möglichen orthodoxen Einfluss,32 während andere Tolstoj-Experten zumindest einräumen – allerdings stets nebenbei – dass man in Tolstojs Lehre Spuren orthodoxen Denkens entdecken könne. So schreibt etwa Robert Donahoo, dass Tolstojs religiöse Lehre »eine seltsame Mischung aus orthodoxem Christentum, europäischem Humanismus des 19. Jahrhunderts und Tolstojs persönlichen Idiosynkrasien« darstelle, und Andrew Norman Wilson bemerkt, dass »Tolstoj seltsamerweise in mancher Hinsicht ein russischer Orthodoxer« gewesen sei.33 Doch auch wenn nachgewiesen werden könnte, dass Tolstoj von orthodoxen Denkmustern beeinflusst worden ist, muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass Tolstoj weniger heterodox war, als er dies von sich behauptete und wie dies für die meisten seiner Zeitgenossen außer Frage stand. Denn sowohl sein Bruch mit der Kirche als auch die Verbindungen zwischen Tolstojs Lehre und der Orthodoxie waren intensiv und real. Und deshalb muss Tolstojs Verhältnis zur russischen Kirche in diesem Spannungsfeld zwischen Anziehung und Ablehnung verortet werden.

Anmerkungen 1 P. Kolstø, The Elder at Iasnaia Poliana – Lev Tolstoi and the Orthodox Starets Tradition, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 9 (3), 2008, 533–554; P. Kolstø, For here we do not have an Enduring City. Tolstoy and the Strannik Tradition in Russian Culture, in: Russian Review 69 (1), 2010, 119–134. 2 N.N. Gusev, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj: Materialy k biografii s 1870 po 1881 god, Moskau 1963, 618. 3 So etwa vom Metropoliten Filaret (Gumilevskij). Siehe G. Florovskij, Puti russkogo bogoslovija, Paris 1981, 222. 4 Makarij (Bulgakov), Pravoslavno-dogmatiˇceskoe bogoslovie, Bd. 1, St. Petersburg 51895, 69. 5 A.a.O., 66. 6 V. Lossky, The Mystical Theology of the Eastern Church, London 1973, 33f. Dies ist eine der besten greifbaren Darstellungen des orthodoxen Apophatismus.

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7 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 5f. 8 Tolstoj las die Kritik der reinen Vernunft schon 1869 und zeigte sich tief beeindruckt (Die Kritik der praktischen Vernunft las er erst 1887). Robert Quiskamp behauptet, dass Tolstoj, »was seine Gotteslehre angeht, ein überzeugter Schüler Kants« gewesen sei (R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoj, Emsdetten 1937, 60). In einem anderen Buch, das sieben Jahre früher erschien, nahm Quiskamp die Gotteserkenntnis jedoch aus von den Bereichen, in denen Kant Tolstoj beeinflusst haben könnte (R. Quiskamp, Die Beziehungen L.N. Tolstojs zu den Philosophen des deutschen Idealismus, Emsdetten 1930, 59). 9 »Gott ist unendlich und unbegreiflich, und das Einzige, was man von ihm begreifen kann, ist seine Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit […]. Gott gehört nicht zu der Klasse der seienden Dinge; nicht dass ihm kein Dasein zukäme, sondern er steht über allen seienden Dingen, ja sogar über dem Dasein selbst« (Johannes von Damaskus, De fide Orthodoxa, Teil 1, Kapitel 4). 10 Makarij (Bulgakov), Pravoslavno-dogmatiˇceskoe bogoslovie, Bd. 1, 69f. 11 A.a.O., 77. 12 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 30. 13 Ebd. 14 So argumentiert eine ganze Reihe orthodoxer Autoren, so z.B. A.F. Gusev, O suˇscˇ nosti religiozno-nravstvennogo uˇcenija L. Tolstogo, Kazan’ 1902, 80ff. 15 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, 30. 16 So schreibt Tolstojs z.B. in seinem Brief an V.K. Zavolokin vom 17. 12. 1900, »dass der Mensch nicht nach seinem eigenen Willen in die Welt kam und daher auch nicht nach seinem eigenen Willen leben sollte, sondern nach dem Willen Desjenigen, Der ihn in die Welt gesandt hat« (f 270; PSS 72: 527). 17 V. Maevskij, Tragedija bogoiskatel’stva L’va Tolstogo, Buenos Aires 1952, S. 76. 18 R.F. Gustafson, Leo Tolstoy, Resident and Stranger, Princeton, 1986, 108. 19 A.a.O., xi. 20 A.a.O., 457. 21 Vgl. S. Cˇetverikov, Starec Paisij Veliˇckovskij, Belmont 1980. 22 Biblioteka L’va Nikolaeviˇca Tolstogo v Jasnoj Poljane, Moskau 1972, Bd. 1, Teil 1, 265. 23 In einer Tagebuchaufzeichnung vom 22. September 1900 vergleicht Tolstoj die Stoa und den Buddhismus explizit mit der christlichen Lehre und gibt der Letzteren klar den Vorzug (PSS 54: 43f). 24 Das ist in etwa die Kernaussage von Tolstojs Kreutzersonate. 25 Siehe z.B. P. Kolstø, The Elder at Iasnaia Poliana. 26 S. Bolshakoff, Russian Mystics, London 1977, 184ff. 27 Der Starez Amvrosij etwa wird als »bemitleidenswert« beschrieben (PSS 51: 23). 28 Vgl. P. Kolstø, The Elder at Iasnaia Poliana, 549–553. 29 Missionerskoe obozrenie 1911, Nr. 11, 687. 30 Die öffentliche Warnung des Hl. Synods wird oft als Exkommunikation bezeichnet, obwohl die kirchlichen Behörden nie explizit bestätigt haben, dass es die Absicht der Kirche war, den berühmten Schriftsteller zu exkommunizieren; vgl. P. Kolstø, A Mass for a Heretic? The Controversy over Leo Tolstoi’s Burial, in: Slavic Review 60 (1), 2000, 75–95. 31 D. Rancour-Laferrière, Tolstoy’s Quest for God, New Brunswick 2007, 78. 32 Siehe z.B. N. Weisbein, L’évolution religieuse de Tolstoï, Paris 1960; G.W. Spence, Tolstoy – the Ascetic, Edinburgh 1967. 33 R. Donahoo, Toward a Definition of ›Resurrection‹. Tolstoy’s Novel as Theology and Art, in: Literature and Belief 1991, 1–12; A.N. Wilson, Tolstoy, Harmondsworth

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1989, 320–321. Noch zu Lebzeiten Tolstojs sind einige qualifizierte Beobachter zum selben Schluss gekommen. Nach Tolstojs Tod im November 1910 hielt der renommierte russische Theologe und kirchliche Würdenträger Antonij Chrapovickij einen Vortrag zum Thema »Woran ist ersichtlich, dass die Orthodoxie auch die neuesten Werke des Grafen L.N. Tolstoj beeinflusst hat?«. Die geistige Verwandschaft der orthodoxen Lehre mit Tolstojs Denken war tief, postulierte Antonij, sehr viel tiefer, als Tolstoj dies selbst vermutet habe; Antonij (Chrapovickij), V cˇ em prodolˇzalo otraˇzat’sja vlijanie pravoslavija na poslednija proizvedenija gr. L.N. Tolstogo?, in: Zˇizneopisanie i tvorenija blaˇzennejˇsago Antonija, Mitropolita Kievskago i Galickago v 17 tomach, Jordanville/NY 1978, Bd. 14, 247–268. Antonij war persönlich mit Tolstoj bekannt und verfasste nicht weniger als sieben Artikel und Broschüren zu verschiedenen Aspekten von Tolstojs Lehre. Für weitere Einzelheiten siehe P. Kolstø, The Demonized Double. The Image of Lev Tolstoj in Russian Orthodox Polemics, in: Slavic Review 65 (2), 2006, 304–324.

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Erich Bryner

Protestantismus Als Tolstoj während seiner zweiten Auslandreise 1860 von Bad Kissingen aus die Wartburg besuchte und sich über Martin Luther Gedanken machte, schrieb er begeistert in sein Tagebuch »Luther ist groß« und »Luther, ein Reformator in der Religion, zu den Quellen« (PSS 48: 26f).1 In den folgenden Jahren notierte er weitere anerkennende Bemerkungen über Luther, darunter den Satz »Luther hält dazu an, dass wir die Heilige Schrift im Original kennen lernen und nicht bloß nach den Kommentaren der heiligen Väter« (PSS 8: 10),2 wie es in der orthodoxen Kirche üblich ist. 1884, 22 Jahre nach dem Besuch auf der Wartburg, äußerte sich Tolstoj demgegenüber wiederholt äußerst kritisch über Luther und sein Werk, verurteilte die Reformation Luthers als eine »törichte Erscheinung«, als »Triumph der Begrenztheit und Dummheit« (PSS 49: 65) und nannte die lutherische Kirche – zusammen mit andern Konfessionskirchen – eine »Anstalt des Betrugs« (PSS 44: 105).3 Tolstojs Äußerungen über Luther waren sehr ambivalent und reichten von höchster Begeisterung bis zu leidenschaftlicher Ablehnung. Wie sind diese Äußerungen zu interpretieren? Und allgemeiner gefragt: Wann, wo und in welchen Ausprägungen begegnete Tolstoj dem Protestantismus? Was bedeuteten diese Begegnungen für ihn und sein Vorhaben, eine neue Religion, »befreit von Glauben und Geheimnis« (f 38; PSS 47: 37), zu gründen, das Christentum »nicht als mystische Lehre, sondern als neues Lebensverständnis«4 zu definieren? Welche Einflüsse des Protestantismus lassen sich in seinem Werk feststellen?

Erste Begegnungen mit protestantischem Gedankengut Tolstoj genoss in seiner Jugend eine russisch-orthodoxe Erziehung. Zu den standesgemäßen Bildungszielen gehörte aber auch eine enge Vertrautheit mit der französischen Sprache und Literatur. Insbesondere die Werke Rousseaus einschließlich ihrer Ausführungen über religiöse Fragen machten auf den heranwachsenden Tolstoj einen tiefen Eindruck. Er soll im Alter von 15 Jahren sein orthodoxes Halskreuz abgelegt und an seiner Stelle ein Medaillon mit dem Porträt Rousseaus getragen haben (f J. Herlth, Jean-

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Jacques Rousseau, 478). Noch im Alter von 73 Jahren hielt er rückblickend fest, dass er in jungen Jahren sämtliche Werke Rousseaus gelesen hatte und tief von ihnen beeindruckt war.5 1852 studierte er das Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars (Profession de foi du Vicaire savoyard) in Rousseaus Erziehungsroman Émile und war von den Ausführungen über die natürliche Religion, die Gotteserkenntnis aus dem Gefühl, die Unsterblichkeit der Seele und das Gewissen sehr angetan. Noch im gleichen Jahr formulierte er ein entsprechendes Glaubensbekenntnis: Ich glaube an den einigen, unfassbaren Gott, an die Unsterblichkeit der Seele und an die ewige Vergeltung für unsere Taten. Ich verstehe das Geheimnis der Dreieinigkeit und der Geburt des Gottessohnes nicht, aber ich achte den Glauben meiner Väter und lehne ihn nicht ab. (PSS 46: 149)

Rousseaus religiöse Gedanken prägten Tolstojs Auffassungen zeit seines Lebens tief. Ebenfalls 1852 studierte Tolstoj das damals weit verbreitete Andachtsbuch des protestantischen Theologen und Volkserziehers Heinrich Zschokke (1771–1848) Stunden der Andacht, die der aus Magdeburg stammende und viele Jahre in der Schweiz tätige Theologe 1808–16 in seinem Sonntagsblatt und 1816 in Buchform publiziert hatte. Zschokke vertrat in ihnen eine volkstümliche, von Aufklärung und Rationalismus geprägte, gefühlsbetonte Theologie, ein undogmatisches, ethisch und kirchenkritisch ausgerichtetes Christentum. Tolstoj fühlte sich davon sehr angesprochen. Manche Ideen Zschokkes über Gotteserkenntnis, Bibelverständnis und Gewaltlosigkeit fanden in Tolstojs späteren Werken ihre spezifischen Ausprägungen und Zuspitzungen.6 Außerdem beeindruckten ihn die religiösen und sozialen Gedanken in den Werken von Charles Dickens und im Roman Onkel Toms Hütte der Amerikanerin Harriet Beecher-Stowe, den er 1854, sieben Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland, las und wegen der Darstellung der praktischen Nächstenliebe und der Idee der Gewaltlosigkeit schätzte.7 1855 plante er, wie er in seinem Tagebuch in Sevastopol’ notierte, eine neue Religion zu gründen, »eine Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht zukünftige Glückseligkeit verspricht, sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt« (f 38; PSS 47: 37).8 Damit hatte er sich von der Orthodoxen Kirche weit distanziert, doch gebrochen hatte er mit ihr noch lange nicht. Während seines Aufenthaltes in Genf 1857 nahm er an einem eucharistischen Gottesdienst in der orthodoxen Kirchgemeinde teil und kommunizierte. Dies fiel ihm jedoch immer schwerer. 1859 schrieb er an die Gräfin A.A. Tolstaja, dass er nicht mehr in die Kirche gehen, das Gemurmel unverständlicher Gebete nicht mehr hören und die Priester und »das ganze gemischte Volk ringsum« nicht mehr sehen könne, darum nehme er schon das zweite Jahr nicht mehr an Eucharistiefei-

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ern teil. Allerdings bete er im stillen Kämmerlein und lese regelmäßig das Evangelium. Zufällig habe er einmal zum Neuen Testament gegriffen, das die Société biblique in alle Hotelzimmer gelegt habe, dann habe er selber ein Exemplar gekauft und lese morgens und abends in den Evangelien (PSS 60: 287). In den folgenden zwei Jahren studierte Tolstoj das Neue Testament noch intensiver und las aus ihm in seiner Schule in Jasnaja Poljana regelmäßig vor oder erzählte seinen Schülern biblische Geschichten. Dabei legte er Wert auf den ungekürzten Text und auf ein buchstäbliches Verständnis der Bibel. Auch dachte er an eine gut verständliche Bibelübersetzung in der russischen Umgangssprache. Aus verschiedenen Gründen gab Tolstoj seine Schule in Jasnaja Poljana 1862 auf.9

Tolstoj über den Protestantismus im Russland seiner Zeit Mit den Lutheranern und Reformierten in Russland, die in der Regel Einwanderer aus Deutschland, Holland, England und der Schweiz waren, pflegte Tolstoj keine Kontakte und äußerte sich auch in seinem Schrifttum nicht über sie. Jedoch kannte er die verschiedenen Formen des schwärmerischen Pietismus seiner Zeit, die erwecklich-mystizistische Frömmigkeit am Petersburger Hof in der Zeit von 1812 an und die Petersburger Erweckungsbewegung von 1874 sehr genau. Deutliche literarische Niederschläge finden sich in seinen drei Hauptromanen Krieg und Frieden (1864–69), Anna Karenina (1875–77) und Auferstehung (1889–99). Tolstoj machte es seinen Leserinnen und Lesern nicht schwer, in den Romangestalten seine Sympathien und Antipathien zu erkennen. So erzählte er in Krieg und Frieden, dass Prinzessin Mar’ja Bolkonskaja einmal von ihrer Freundin Julie Karagina einen Brief und ein Buch zugeschickt erhalten habe, einen »Schlüssel des Geheimnisses«, etwas Religiöses von »deiner Héloise« (PSS 9: 109),10 wie sich ihr Vater spöttisch ausdrückte. »Lesen Sie das mystische Buch, das ich Ihnen schicke«, schrieb Julie, »es macht bei uns Furore […], es ist ein wunderschönes Buch, dessen Lektüre die Seele beruhigt und erhebt« (PSS 9: 113).11 Bei diesem Buch handelt es sich wahrscheinlich um ein Werk des Mystikers Karl von Eckhartshausen (1752–1805), das in den Kreisen der russischen Intelligenz vom Ende des 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert gut bekannt war.12 Tolstojs Skepsis gegenüber jeglichem Mystizismus ist auch in der an sich sehr eindrücklichen Schilderung der Freimaurerei zu spüren. Pierre Bezuchov wurde zwar Mitglied einer Loge, doch nach der Begegnung mit dem Bauern Platon Karataev distanzierte er sich wieder von ihr, weil ihm die schlichte Frömmigkeit der Menschen auf dem Land mehr zusagte (PSS 10: 67–83; 12: 46–51, 154–156).13 Charakteris-

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tisch für Tolstojs Ablehnung der mystisch-erwecklichen Frömmigkeit am Hofe Alexanders I. war auch seine Beurteilung der Person des Kaisers: Vortrefflich bis 1812, »aber er hat falsch gehandelt, […] als er Golicyn und den Mystizismus förderte« (PSS 12: 236).14 Schließlich heißt es von Pierre Bezuchov gegen Ende des Romans – im Sinne des Autors – »Mystizismus verzieh er jetzt niemandem« (PSS 12: 283).15 Der schwärmerische Pietismus und die Petersburger Erweckungsbewegung wurden von Tolstoj im Roman Anna Karenina schonungslos karikiert, wie aus den Gestalten der Gräfin Lidija Ivanovna und des alten Karenin besonders deutlich hervorgeht. Nach Tolstojs Darstellung kümmerte sich Karenin in seinen jüngeren Jahren wenig um die Religion, befolgte aber die Lebensregeln der orthodoxen Kirche exakt und verweigerte deswegen auch die Scheidung von Anna, als sie ihm untreu geworden war (PSS 18: 298).16 Dann geriet er jedoch unter den Einfluss der pietistisch geprägten Gräfin Lidija Ivanovna, die als eine Vertreterin der Petersburger Erweckungsbewegung einem, wie Tolstoj schreibt, »ekstatischen Mystizismus« anhing, wie er sich damals (1864 und in den folgenden Jahren) unter dem Einfluss von Lord Grenville Radstock (1833–1913) in der russischen Hauptstadt vor allem unter den Adligen ausbreitete. Lidija Ivanovna machte Karenin zu einem treuen Anhänger der neuen Frömmigkeit. Dieser habe zwar geahnt, dass die Vorstellungen dieses Glaubens von großer Leichtfertigkeit (legkost’) und Falschheit (oˇsiboˇcnost’) waren, doch er habe sich unter der Führung von Lidija Ivanovna in allen Angelegenheiten seines Lebens von der Bibel leiten lassen (PSS 19: 78–82).17 Typisch ist auch das Gespräch zwischen Lidija Ivanovna, Karenin und Stepan Oblonskij über Glaubensfragen gegen Ende des Romans. Der ungläubige Stepan Oblonskij spürte intuitiv, dass mit dieser modernen mystizistischen und exaltierten Frömmigkeit der Petersburger Oberschicht etwas nicht stimmen konnte, und verwies darauf, dass ein Glaube ohne Werke gemäß seinen Erinnerungen an den kirchlichen Unterricht tot sein müsse (PSS 19: 312–315).18 Eine weitere geistliche Karikatur schuf Tolstoj in der bigotten Russin Madame Sˇtal’ (Stahl), der Kiti Sˇcˇ erbackaja während ihres Kuraufenthaltes in Deutschland begegnete; Madame Sˇtal’ war eines Tages zu den Pietisten gegangen, lebte, wie sie glaubte, eine tugendhafte, hochmoralische, praktische Frömmigkeit, in welcher der Glaube in jedem menschlichen Leid Trost gewähre. Ihre Pflegetochter Mademoiselle Varen’ka, die sich in ihrem Gefolge befand, lebte dieselbe Frömmigkeit. Kiti war sehr beeindruckt; gegenüber Frau Sˇtal’ blieb sie skeptisch, jedoch Varen’ka wurde ihr Vorbild und ihre Freundin. Sie legte sich einen neuen Lebensplan zurecht, nach dem sie Unglücklichen und Kranken helfen und ihnen das Evangelium nahe bringen wollte, und dies tat sie eine Zeit lang auch. Doch bereits nach einem Monat entschwand ihr das Bild der Madame Sˇtal’. »Und trotz aller Anstrengung ih-

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rer Phantasie gelang es Kiti nicht, Madame Sˇtal’ wieder im alten Licht zu sehen« (PSS 18: 235–245).19 Gegen Ende des Romans erinnerte sich Kiti aus großer Distanz noch einmal an jene Madame Sˇtal’ und ihre heuchlerische Frömmigkeit (PSS 19: 366).20 In seinem Roman Auferstehung schilderte und karikierte Tolstoj in der Gräfin Ekaterina Ivanovna nochmals eine Vertreterin der Petersburger Erweckungsbewegung. Sie war »eine passionierte Anhängerin jener Lehre, deren Wesen im Glauben an die Erlösung besteht«, schrieb er, und besuchte regelmäßig deren Versammlungen, doch obschon in ihnen die religiösen Riten, die Verehrung von Heiligenbildern und die Sakramente verworfen wurden, hatte sie Ikonen in ihren Zimmer und sogar über ihrem Bett hängen und erfüllte alles, was die orthodoxe Kirche verlangte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen (PSS 32: 248f).21

Tolstojs Lebenskrise und seine radikale Interpretation der Bergpredigt Als Ivan Turgenev anfangs 1880 Tolstoj besuchte, war er entsetzt über das, was er vorfand, und er hielt in einem Brief fest: Es ist eine unverzeihliche Sünde, dass Lev Tolstoj aufgehört hat zu schreiben … Er hat in der zeitgenössischen Literatur nicht seinesgleichen. Alles, was er anpackt, wird unter seiner Feder lebendig … Aber was soll man mit ihm anfangen? Er hat sich kopfüber in ein anderes Gebiet gestürzt: hat sich mit Bibeln und Evangelien in fast allen Sprachen umgeben und einen Haufen Papier vollgeschrieben. Er hat einen ganzen Koffer voll mystischer Ethik und Pseudointerpretationen … Es hat ganz den Anschein, als wenn er der Literatur nichts mehr geben würde, oder wenn er wieder kommt, dann mit jenem Koffer.22

Was war geschehen? Tolstoj hatte sich, so Turgenevs Eindruck, von der schönen Literatur ab- und trockenen moralphilosophischen und biblischen Studien zugewandt, mit denen der Autor von Väter und Söhne nichts anfangen konnte. Tolstoj durchlebte eine tiefe Lebenskrise, doch diese kam nicht unvermittelt. Die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes hatten Tolstoj schon sein ganzes Leben lang umgetrieben, und den Wunsch, eine neue, allein auf der Vernunft basierende Religion zu gründen, hatte er schon 1855 in Sevastopol’ niedergeschrieben. Erlebnisse des Todes hatten ihn immer wieder zutiefst aufgewühlt, so 1857, als er in Paris der Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten beiwohnte, 1860, als er Augenzeuge des Todeskampfes seines Bruder Nikolaj wurde, 1866 bei der Hinrichtung eines Mandanten, den er zuvor vor Gericht erfolglos verteidigt hatte. Sein intensives religiöses Suchen und die damit verbundenen inneren Qualen hatte er in der Gestalt des Levin im Roman Anna Karenina eindrücklich dargestellt. Er war sich

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sicher bewusst, dass seine Leserinnen und Leser den Namen Levin mit seinem eigenen Vornamen Lev in Verbindung brachten und Levins langes Fragen und die von ihm schließlich gefundenen Antworten als Tolstojs eigene Fragestellungen, Qualen und Problemlösungen verstanden. Tolstoj wollte nach Abschluss des Romans seine weltanschaulichen Fragen konsequent und kompromisslos weiterdenken, und das hieß für ihn zunächst, sich von der Kunst loszusagen und sich ausschließlich moralphilosophischen Studien zuzuwenden. Er umgab sich zu diesem Zweck nicht nur mit Bibeln und Evangelien in allen möglichen Sprachen, wie Turgenev schrieb, sondern auch mit sehr viel philosophischer und theologischer Literatur, darunter mit Werken der protestantischen Theologie und Bibelexegese. Seine Kenntnisse des westeuropäischen und amerikanischen Protestantismus und der zeitgenössischen protestantischen Theologie gewann Tolstoj aus der Zeitschrift Revue des deux mondes, die in Paris erschien und die er von 1860 bis 1882 regelmäßig las, wie Franz-Heinrich Philipp in seiner Studie über Tolstoj und den Protestantismus belegt hat,23 jedoch auch aus der Lektüre der wichtigsten Werke protestantischer Theologen, die im damaligen Russland sehr gut bekannt waren. Dazu gehörten das Hauptwerk des Tübinger Theologen David Friedrich Strauß (1808–1874) Das Leben Jesu kritisch bearbeitet (1835/36) und das Jesusbuch des französischen Wissenschaftspublizisten Ernest Renan La vie de Jésus (1863).24 Beide Werke lösten kurz nach ihrem Erscheinen in kirchlichen Kreisen Stürme der Entrüstung aus. Von den kirchlich nicht gebundenen Gliedern der Bildungsgesellschaft wurden sie aber mit umso größerer Begeisterung gelesen und diskutiert, auch in Russland. Die Revue des deux mondes enthielt ausführliche Artikel über die Kirchen- und Theologiegeschichte, Konfessions- und Religionskunde, Religionsphilosophie, Ethik und Sozialwissenschaften, darunter Artikel über die Geschichte des Protestantismus in Frankreich, England und Spanien, Studien des liberalen französischen Theologen Albert Réville (1829–1906), der die Ergebnisse der deutschen historisch-kritischen Forschung an der Bibel in Frankreich bekannt machte und Tolstoj unter anderem auch die Hauptwerke des Tübinger Theologen Ferdinand Christian Baur (1792–1860) und des Straßburger Exegeten Edouard Reuß (1804–1891) nahe brachte. Das Leben Jesu kritisch betrachtet von David Friedrich Strauß, das auch Dostoevskij sehr gut kannte,25 beinhaltete die These, dass die Evangelien in der Hauptsache Mythen enthielten, die sich um eine historische, aber wissenschaftlich kaum mehr erkennbare Person Jesus von Nazareth gebildet hatten. Die Geschichten in den Evangelien sind also Mythen, Geschichten, die sich in Wirklichkeit nicht zutrugen, sondern von der Urgemeinde konstruiert wurden, um damit eine theologische Wahrheit auszudrücken und weiter zu vermitteln. Demzufolge kann der Glaube nicht auf der biblischen Geschichte aufgebaut werden, sondern muss mit philosophischen Prinzipien

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begründet werden, was Strauß auch tat. Tolstoj gewann aus der gründlichen Analyse der neutestamentlichen Texte von Strauß Anregungen für seine eigene Jesusinterpretation, vor allem für seine Auffassung von der Ethik Jesu, von der Predigt der Nächsten- und Feindesliebe, aber auch für seine Ablehnung der Wunder, des Kreuzestodes als Sühnopfer, der Auferstehung und der kirchlichen Christologie. Mehr noch als mit dem Leben Jesu beschäftigte sich Tolstoj mit dem weit weniger bekannten Werk von Strauß Der alte und der neue Glaube (1872), weil Strauß sich dort darum bemühte, eine neue Religion zu schaffen. Trotz aller Anerkennung seiner exegetischen Einsichten zu den Texten des Neuen Testamentes kam Tolstoj dennoch zu dem Urteil, dass Strauß »als Protestant fast nichts in Bezug auf die Religion« verstehe.26 Er vermisste bei Strauß die Konzentration der Lehre Jesu auf die Antithesen der Bergpredigt und insbesondere auf das Gebot, man dürfe dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen. Tief enttäuscht war Tolstoj von Strauß’ Auffassung, dass Jesus ein Schwärmer gewesen sei und die Grundsätze seiner Lehre nicht auf die aktuellen Verhältnisse übertragen werden könnten. Von Renans La Vie de Jésus war Tolstoj bei weitem nicht so begeistert wie Dostoevskij bei der Konzeption seines Romans Der Idiot.27 Zwar verschlang Tolstoj dieses sprachlich und stilistisch glänzend geschriebene Buch seiner eigenen Aussage nach 1878 innerhalb von 24 Stunden,28 doch blieb er zurückhaltend und kritisch. Renan hatte die Resultate der deutschen kritischen Leben-Jesu-Forschung übernommen und popularisiert. Als sozusagen fünftes Evangelium hatte er persönliche Reiseeindrücke aus Palästina in seinem Jesusbild verarbeitet. Auch hatte er es unternommen, die Sagen und Legenden aus den Evangelien zu entfernen, wie er sagte, um ein Bild von Jesus zu zeichnen, das auf rationaler Einsicht beruhte. Jesus war für ihn somit ein erhabener Mensch, ein Ideal reiner Humanität, eine außerordentliche Persönlichkeit. Tolstoj war auf der einen Seite damit einverstanden, dass Jesus nach Renan ein Sittenlehrer war und dass Jesu Lehre von der Urchristenheit zu einer übernatürlichen Religion verfälscht wurde, wie es Renan in seinem mehrbändigen Werk, dessen Jesusbuch nur der erste Teil war, darstellte. Auf der anderen Seite war Tolstoj über Renans Buch entrüstet, denn Renans Jesus erinnerte den russischen Schriftsteller an einen »promeneur« und »charmant docteur« in den Pariser Boulevards, dann störte ihn die Behauptung enorm, dass Jesu radikale Gebote der Nächstenliebe im Alltag nicht praktikabel seien, was ja gerade das Kernanliegen von Tolstojs Suchen war, und schließlich warf Tolstoj dem Franzosen vor, sich viel zu sehr für die historische Gestalt Jesu zu interessieren und viel zu wenig für seine Lehre. 1878 schrieb Tolstoj an Strachov: »Was habe ich aus diesen historischen Einzelheiten Neues gelernt? Denken Sie einmal […] Nichts, absolut nichts« (PSS 62: 414). Tolstoj gewann aus der Lektüre von Strauß und Renan viele Anregungen für das eigene Bibelstudium und Jesusverständnis, doch von einer »geistigen

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Verwandtschaft« zwischen Strauß und Tolstoj29 kann man nicht sprechen; dafür waren die beiden doch viel zu verschieden. Tolstojs Wille war es, die Bibel wörtlich, ohne menschliche Vermittlung, ohne kirchliches Vorverständnis zu rezipieren und eine vernunftgemäße ethische Religion ohne Dogmen und traditionelle Mystik und frei von der kirchlichen Tradition zu finden und aufzubauen. Von der orthodoxen Kirche entfernte er sich immer mehr. 1879 hatte er noch nicht ganz mit ihr gebrochen. Wie Pierre Bezuchov in Krieg und Frieden und Levin in Anna Karenina pflegte er intensiven Umgang mit den einfachen Bauern seiner Umgebung und suchte außerdem das durch sein Starzentum berühmte Kloster Optina Pustyn’ auf, war aber vom Gespräch mit dem Starzen Amvrosij (Grenkov, 1812–1891) enttäuscht, und ähnlich erging es ihm auch bei einem Besuch des Kiever Höhlenklosters.30 Intensive Bibelstudien und hartes geistiges Ringen führten Tolstoj schließlich zum Durchbruch, zu seinem Schlüsselerlebnis, nämlich zur Erkenntnis, dass der Kern der Lehre Jesu in dessen Wort liege, man dürfe dem, der einem Gewalt antue, keinen Widerstand leisten. Über diesen Durchbruch schrieb er in seinem Traktat Mein Glaube: »Ich will erzählen, wie ich den Schlüssel zum Verständnis der Lehre Christi gefunden habe, der mir die Wahrheit in einer Klarheit und Überzeugungskraft eröffnete, die jeden Zweifel ausschloss« (PSS 23: 306). Über seine plötzliche Erleuchtung schrieb er: Die Stelle, die für mich der Schlüssel zu allem wurde, war eine Stelle aus dem 5. Kapitel Matthäus, Vers 39: »Euch ist gesagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt …« Plötzlich verstand ich diesen Vers zum ersten Mal wörtlich und einfach. (f 106; PSS 23: 310) Widerstrebe nicht dem Übel bedeutet: Widerstrebe niemals dem Bösen, d.h. wende nie Gewalt an, begehe nie eine Handlung, die der Liebe stets entgegengesetzt wäre. Und wenn du dabei gekränkt wirst, so ertrage die Kränkung und tue dennoch nichts Gewaltsames gegen den Anderen. (PSS 23: 313)

Von dieser Kernaussage her entwarf er seine Lehre von der Gewaltlosigkeit und Widerstandslosigkeit und entwickelte seine leidenschaftliche Kritik an Kirche, Staat, Justiz, Militär und Gesellschaft. Er distanzierte sich entschieden von allem, was er in seiner Jugend über Gerechtigkeit, Krieg und gesellschaftliche Konvention gelernt hatte und von dem man ihm sagte, es sei gut und entspreche Christi Gesetz.

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Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA In den folgenden Jahren verfasste Tolstoj ein gutes Dutzend philosophischtheologischer Schriften, in denen er seine religiöse Entwicklung minutiös darlegte, die dogmatische Theologie der Kirche einer kritischen Analyse unterzog und erklärte, worin sein Glaube bestehe; dieser sei nicht eine mystische Lehre, sondern ein undogmatisches, praktisches Lebensverständnis. Außerdem verfasste er eine Evangelienharmonie, in der er allerdings in völlig unprotestantischer Weise sehr frei mit seinen Textvorlagen umging und mit Streichungen und Auslassungen, die willkürlich erscheinen, seine eigene Lehre unterstrich (vgl. f Ch. Münch, Offenbarung und Bibel). Die Wundergeschichten der Evangelien, auch die Geburtsgeschichten und die Überlieferung von der Jungfrauengeburt ließ er weg, denn solche Geschichten waren seiner Meinung nach für die heutigen Menschen überflüssig. Die »Legende« von der Auferstehung habe zwar in der Vergangenheit der Lehre Jesu zu großer Bekanntheit verholfen, doch Tolstoj hielt sie für eine Lüge und strich auch sie weg (vgl. dazu f 164–173; PSS 24: 790–798). Die Lehre Jesu jedoch war für ihn von allergrößter Bedeutung und bildete dementsprechend den Mittelpunkt der Evangelienharmonie. Seine künstlerische Tätigkeit nahm Tolstoj bald wieder auf. Turgenev hatte ihn kurz vor seinem Tod brieflich beschworen, wieder schriftstellerisch tätig zu sein.31 Tolstoj war zu sehr Künstler, als dass er sich von seiner Kunst auf die Länge hätte lossagen können. Er schrieb in der Folgezeit den Roman Auferstehung, viele Erzählungen, auch die Volkserzählungen mit ihren biblischen Leitgedanken, sowie einige Theaterstücke. Die Kunst hatte seiner Überzeugung nach einen klaren moralischen Auftrag: Sie durfte nicht Kunst um ihrer selbst willen (art pour l’art) sein, sondern sollte der Verkündigung von Tolstojs neuem Lebensverständnis dienen. Sehr deutlich kommt dies in der Gestalt des Nechljudov in Auferstehung zum Ausdruck. Nechljudov strebte nach einer moralischen Wiederauferstehung, suchte das sittlich Gute zu vollbringen und erreichte sein Ziel schließlich auch. Dieser Nechljudov könnte kaum der Held eines von einem protestantischen Schriftsteller geschaffenen Romans sein. Zwar erfährt Nechljudov durch die Lektüre der Evangelien und insbesondere der Bergpredigt eine Bekehrung und beginnt ein neues Leben. Ein protestantisches Bekehrungserlebnis ist es aber nicht, denn in diesen ist Gott allein der Handelnde; der Mensch empfängt die Gnade Gottes. Bei Nechljudov handelt es sich um eine Erkenntnis durch Glaube und Vernunft. Auch seine Kritik am Rechtssystem des Staates, die äußerst scharfe Verurteilung des orthodoxen Gottesdienstes, insbesondere der Eucharistie, und der Durchbruch zu einem neuen Verständnis der alten Evangelientexte waren Tolstojs eigene Probleme und Einsichten. Der Satz »Das Wesentliche des Gottesdienstes bestand darin, dass die vom Priester

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geschnittenen und in Wein getunkten Brotstücke sich durch bestimmte Manipulationen und Gebete in Leib und Blut Gottes verwandeln sollten« (f 235; PSS 32: 135), beruht auf einer rationalistischen Sichtweise, die von einem protestantischen Autor nicht ohne Weiteres zu erwarten wäre. Tolstojs Ansichten und Äußerungen über den Protestantismus in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens und Wirkens sind zwiespältig und widersprüchlich. Sie schwanken zwischen Begeisterung und leidenschaftlicher Ablehnung, wie die eingangs zitierten Urteile über Luther zeigen. An der Reformation schätzte Tolstoj die Kritik an der mittelalterlichen römischen Kirche, den Willen, zu den Quellen des Glaubens und der Theologie zurückzukehren und einen Neuanfang aus den Erkenntnissen der Kernwahrheiten der Evangelien zu finden, doch er kritisierte sehr heftig und scharf die Verfestigungen dieser Erkenntnisse in neuen Organisationsstrukturen und Kirchen. Franz-Heinrich Philipp hat die Äußerungen Tolstojs über protestantische Theologie und Theologen zusammengestellt und interpretiert.32 Danach war Tolstoj von der Person des böhmischen Reformators Jan Hus sehr beeindruckt, insbesondere von seiner Glaubensstärke in der Todesstunde auf dem Scheiterhaufen. Petr Chelˇcick´y, der Gründer der Brüderunität in der weiteren Nachfolge von Hus, wurde von Tolstoj wegen seiner Theologie und Ethik der Gewaltlosigkeit geschätzt. Von den deutschen Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts äußerte sich Tolstoj lobend über Gottfried Arnold und sein Hauptwerk, die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), weil die Ketzer, die Arnold positiv würdigte, energisch gegen erstarrte kirchliche Institutionen kämpften und die Lehre Jesu Christi lebendig verkündeten und lebten. Die Werke der deutschen kritischen Theologen, ihre textkritischen und exegetischen Arbeiten am Neuen Testament, ihre Neuausgaben des griechischen Urtextes, ihre Synopsen, Konkordanzen und Kommentare studierte Tolstoj in den Jahren 1880–1884 sehr intensiv und entnahm ihnen zahlreiche Anregungen für seine eigenen Interpretationen und Darstellungen der Lehre Jesu. Unter den Neutestamentlern der deutschen protestantischen Theologie schätze er insbesondere Hermann Olshausen (1796–1839) und seine Kommentierung des ganzen Neuen Testamentes nach der grammatisch-historischen Methode, Heinrich August Wilhelm Meyer (1800–1873) und seinen Kritisch-exegetischen Kommentar über das Neue Testament, Friedrich Lücke (1791–1855) aus der Schleiermacher-Schule mit seinen Arbeiten über die Johannesschriften und den Straßburger Neutestamentler Edouard Reuß (1804–1891), dessen 16-bändiges Werk La Bible, traduction nouvelle avec introductions et commentaires (1874–81) er als das beste Werk der Bibelkritik beurteilte und ausgiebig aus ihm zitierte. Intensiv benutzte er die textkritischen Bibelausgaben von Johann-Jacob Griesbach und Konstantin Tischendorf.33 Doch wie schon bemerkt: Er ging mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der neutesta-

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mentlichen Forschung sehr frei und großzügig um und manipulierte manches zugunsten seiner eigenen Ansichten über die Lehre Jesu. Intensiv beschäftigte sich Tolstoj ferner mit den Schriften und Ideen von Vertretern des zeitgenössischen französischen und angelsächsischen Protestantismus. Die fünfbändige Histoire des trois premières siècles de l’Eglise chrétienne des reformierten Theologen aus der Schule Alexandre Vinets, Edmond Dehault de Pressensé (1824–1891), hielt Tolstoj für das beste Werk über die frühe Kirchengeschichte. Mehrere reformierte Theologen aus dem französischsprachigen Raum traten mit Tolstoj in eine briefliche oder sogar persönliche Beziehung, so der Pariser Kirchenhistoriker Amy Gaston Bonet-Maury (1842–1919).34 Tolstoj kannte eine ganze Reihe von angelsächsischen Theologen und Schriftstellern, deren Werke er intensiv studierte, mit denen er korrespondierte und z.T. sogar persönlich verkehrte. Es waren allerdings nicht anglikanisch-hochkirchliche, sondern liberale und freikirchliche Persönlichkeiten, die man leicht dem Protestantismus zuordnen kann. Zu ihnen gehörte der englische Geistliche Charles Kingsley (1819–1875), dessen Predigten die Kirche energisch auf das Industriearbeiterproblem hinwiesen, der Prediger Frederick William Robertson (1816–1853), der in seiner Verkündigung einen undogmatischen Jesus zeichnete, zu dessen Nachfolge er aufrief, der methodistische Prediger John Coleman Kenworthy mit seinen christlichsozialen Grundideen, der unitarische Pfarrer Kenneth Herbert Bond und weitere Vertreter christlich-sozialer Theologien.35 Am US-amerikanischen Protestantismus faszinierten Tolstoj vor allem die sozialkritischen und sozialethischen Konzepte der Vertreter des Social Gospel und der Lehre vom gewaltlosen Widerstand gegen das Böse. So war der Theologe und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803–1882) nach Tolstojs Urteil einer der besten Denker der Welt, denn auch er vertrat eine Lehre der Zivilisationskritik und Gewaltlosigkeit. Für sein Werk Das Reich Gottes ist in euch (1890–93) erhielt Tolstoj zahlreiche Anregungen aus dem nordamerikanischen Protestantismus, so aus den Schriften des universalistischen Pfarrers Adin Ballou (1803–1890) und anderen.36 Während Tolstoj im deutschen Protestantismus vor allem die Werke der neutestamentlichen Wissenschaft interessierten, waren es im angelsächsischen Protestantismus in erster Linie Fragen der Sozialethik und des praktischen christlichen Lebens, mit denen er sich auseinandersetzte. Tolstoj beschäftigte sich zeitweilig intensiv, aber auch sehr kritisch mit dem deutschen, französischen und angelsächsischen Protestantismus. Er schätzte an ihm die Konzentration auf die Bibel, den Rückgriff auf die Quellen, die Bibellektüre ohne fremde Hilfe und ohne fremde Auslegung, die Bemühungen, den Urtext mit wissenschaftlichen Methoden zu erschließen und zu

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interpretieren und die Bibel in die Volkssprache zu übersetzen. Vom Mut und der Glaubensstärke der Reformatoren war er beeindruckt. Sein besonderes Interesse galt den Fragen der Sozialethik und der praktischen Lebensgestaltung, der Grundhaltung von Protest, Traditions- und Kirchenkritik. Doch Tolstoj erkannte auch, dass der Protestantismus keine Religion ohne Dogmen und Mystik, nicht einfach ein neues ethisches Lebensverständnis auf Grundlage der Bergpredigt und der Idee von der Gewaltlosigkeit und nicht einfach eine Protestreligion ist. Tolstoj kritisierte am Protestantismus sehr scharf die Aufnahme und Weiterführung der altkirchlichen Dogmen wie derjenigen von der Dreieinigkeit Gottes, der göttlichen Natur Jesu Christi und der Erlösung. Scharf kritisierte er ebenfalls die dogmatischen Neubildungen der Reformation, ihre Verfestigung in kirchliche Organisationsstrukturen, starre Gottesdienstformen und kirchliches Brauchtum, verschiedene Formen von Mystik, die engen Verbindungen von Kirche und Staat sowie die konkreten Ausprägungen pietistischer, erwecklicher und schwärmerischer Frömmigkeit in der russischen Oberschicht seiner Zeit. Tolstoj übernahm aus dem Protestantismus viele Anregungen für die Interpretation der Bibel und für seine Konzeption einer Religion als neuem Lebensverständnis, ging mit ihnen aber oft sehr eigenwillig um und legte sie gerne so zurecht, dass sie in sein religionsphilosophisches Grundkonzept passten. Seine Äußerungen über den Protestantismus sind sehr ambivalent und reichen von großer Hochachtung bis zu schroffster Ablehnung. Seine Religionsphilosophie ist eine völlig eigenständige Schöpfung in einer spezifisch tolstojschen Ausprägung.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, Gießen 1959, 25. Vgl. auch PSS 8: 6. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 26. So der Untertitel seiner Schrift Das Reich Gottes ist in euch (1893). F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 12. E. Beyreuther, Zschokke, Heinrich, in: RGG3, 6, 1934f; F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 18–20. 7 F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 17f, 20f. 8 Die Worte oˇciˇsˇcennoj ot very i tainstvennosti werden verschieden übersetzt: Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 23: »gereinigt von Glaubenssätzen und Wundern«; K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Schriftsteller und Bibelinterpret, Berlin (Ost) 1980, 19: »gereinigt von Glauben und Geheimnis«; J. Lavrin, Tolstoj in Selbstdarstellungen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1961, 95: »gereinigt von Dogmen und Mystik«. Gemeint ist eine Religion, die allein durch Vernunfterkenntnis und nicht durch supranaturale Offenbarung bestimmt ist, wie sie etwa Immanuel Kant in sei-

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nem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) postulierte und wie sie für den konsequenten Rationalismus der Aufklärung typisch war. Vgl. oben Anm. 4. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 33f. Krieg und Frieden, Bd. 1, Teil 1, Kap. 22. »Deine Héloise« ist eine Anspielung auf Rousseaus Werk Julie ou la nouvelle Héloise. Krieg und Frieden, Bd. 1, Teil 1, Kap. 22. Vgl. G.V. Vernadskij, Russkoe masonstvo v carstvovanie Ekateriny II, Petrograd 1916, 116; A. Pypin, Religioznye dviˇzenija pri Aleksandre I, Petrograd 1917, 116. Krieg und Frieden, Bd. 2, Teil 2, Kap. 2–4; Bd. 4, Teil 1, Kap. 12–13; Bd. 4, Teil 3, Kap. 13. Vgl. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 37. Krieg und Frieden, Epilog, Teil 1, Kap. 1. Krieg und Frieden, Epilog, Teil 1, Kap. 14. Anna Karenina, Teil 3, Kap. 13. Anna Karenina, Teil 5, Kap. 22. Zur Petersburger Erweckungsbewegung vgl. I. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche 2, Berlin 1990, 224f, W. Kahle, Evangelische Freikirchen und freie Gemeinden im Russischen Reich, in der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten, Gummersbach 1995, 141–143, zu Lord Radstock a.a.O., 148f. Anna Karenina, Teil 7, Kap. 21. Anna Karenina, Teil 2, Kap. 33–34. Anna Karenina, Teil 8, Kap. 7. Auferstehung, Teil 2, Kap. 14. Zitiert nach J. Lavrin, Tolstoj, 95f. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 39–42. E. Bryner, Das »Leben Jesu« Ernest Renans und seine Bedeutung für die russische Theologie- und Geistesgeschichte, in: Zeitschrift für slavische Philologie, 47, 1987, 6–38. K. Onasch, Dostojewski-Biographie. Materialsammlung zur Beschäftigung mit religiösen und theologischen Fragen in der Dichtung F.M. Dostojewskis, Zürich 1960, 41f. A.a.O., 58. E. Bryner, Das »Leben Jesu«, 23–25. A.a.O., 26. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 63. Belege bei F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 79. »Ich schreibe Ihnen insbesondere, um Ihnen meine letzte aufrichtige Bitte auszudrücken. Mein Freund, kehren Sie zur literarischen Tätigkeit zurück! … Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich denken könnte, dass meine Bitte fruchten würde!!« Turgenev an Tolstoj, 29. Juni 1883, in: I.S. Turgenev, Pis’ma, Bd. 13, Buch 2, 1882–1883, Leningrad 1968, 180. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 83–125. A.a.O., 88–90. A.a.O., 91–96. Lamennais, der von Philipp in diesem Zusammenhang auch genannt wird, war Reformkatholik und nach seinem Bruch mit der Kirche Sozialist. Auch die Gestalt des Bischofs Myriel in Victor Hugos Roman Les misérables ist als Reformkatholik und nicht als ein »verkappter Protestant« gezeichnet, wie Philipp meint (32). F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, 97–104. A.a.O., 104–114, bes. 104f, 113f.

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Tolstojs Auseinandersetzung mit Philosophie und religiösen Traditionen

Ulrich Schmid

Katholizismus Tolstoj lehnte den römischen Katholizismus grundsätzlich ab. Damit stand er in der russischen Kulturgeschichte nicht allein: Chomjakov, der Begründer der Slavophilie, warf der katholischen Kirche etwa vor, sie habe das Christentum durch den Geist des Rationalismus und juristischen Formalismus entstellt. Auch Dostoevskij verdammte in seinen Romanen Der Idiot und Die Brüder Karamazov den Katholizismus, weil sich die päpstliche Kirche durch ihre Gnadenökonomie anmaßend selbst an die Stelle Gottes gesetzt habe. Besonders deutlich wird Dostoevskijs Kritik in der »Großinquisitor-Legende«: Der selbsternannte Heilsmanager gesteht Christus sogar, die katholische Kirche sei nicht mit Gott, sondern mit dem Antichrist.1 Anders als Chomjakov und Dostoevskij sieht Tolstoj aber nicht in der Orthodoxie das Heil, sondern in der Vereinigung aller Weltreligionen und Lebensphilosophien. Gerade der Streit um das filioque, der einen zentralen Trennungspunkt zwischen dem römischen Katholizismus und der Orthodoxie darstellt, ist für Tolstoj absolut irrelevant. Er interessiert sich nicht für theologische Spitzfindigkeiten, sondern analysiert das Machtgefüge der römischen Kirche. Tolstojs Verhältnis zum Katholizismus ist deshalb nicht so sehr aggressiv, sondern vielmehr herablassend. In Krieg und Frieden gibt es eine bezeichnende Szene, in der Hélène Kuragina wegen eines bigotten Franzosen zum Katholizismus konvertiert. Tolstojs erzählt diese Episode aus amüsierter Distanz: Der bezaubernde M-r de Jobert, un jésuite à robe courte, unterhielt sich mit Hélène im Garten beim Licht von Illuminationen und unter Musikklängen über die Liebe zu Gott, über das Herz der Gottesmutter und über die Tröstungen, die ihr die katholische Religion in diesem und im zukünftigen Leben biete. Hélène war gerührt, und einige Male standen in ihren und M-r. Joberts Augen Tränen und ihre Stimmen zitterten. […] Eines Tages führte er die Gräfin in eine katholische Kirche, wo sie vor dem Altar kniete […]. Der nicht mehr junge, bezaubernde Franzose legte ihr die Hände auf den Kopf, und, wie sie später selbst erzählte, fühlte sie etwas wie das Wehen eines frischen Luftzugs, der ihr in die Seele ging. Man erklärte ihr, dass dies la grâce sei. (PSS 11: 281)

Die Gräfin, die nun als Zeichen ihrer taubenhaften Reinheit nur noch weiße Kleider mit weißen Bändern trägt, möchte sich scheiden lassen. Der katho-

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lische Abbé erklärt ihr, dass dies eine lässliche Sünde sei und sie erneut heiraten könne, wenn sie einigen jesuitischen Einrichtungen eine Spende zukommen lasse. Die Gräfin entgegnet darauf, dass sie ja das erste Eheversprechen in einer »falschen Religion« gegeben habe und deshalb nun, nach dem Eintreten in die »wahre Religion«, nicht mehr daran gebunden sei. Ihr »directeur de conscience« ist über diesen verblüffend einfachen Einwand erstaunt und kann ihn nur unter Aufbietung aller jesuitischen argumentativen Winkelzüge entkräften. Tolstojs spöttische Entlarvung des exklusiven Heilsanspruchs der katholischen Kirche, mit dem auch noch Geld von den Gläubigen erpresst wird, weist voraus auf seine generelle Kritik am gesamten Christentum. Nach der religiösen Wende von 1877 nennt Tolstoj den Katholizismus in der Regel in einem Atemzug mit der Orthodoxie und dem Protestantismus. Er lehnt alle christlichen Konfessionen gleichermaßen ab, weil sie immer mit dem staatlichen Herrschaftsapparat verbunden seien. Die einzigen katholischen Denker, die Tolstoj gelten lässt, sind Abweichler. Besonders zu nennen sind hier Blaise Pascal (1623–1662) und Félicité Robert de Lamennais (1782–1854). Beiden widmete Tolstoj in seinen späten geistlichen Anthologien jeweils eine biographische Skizze, in der er ihre kritische Leistung innerhalb des Katholizismus würdigte. Im Lesezyklus dienen Pascal und Lamennais auch als wichtige Stichwortgeber: Tolstoj griff zahlreiche Zitate aus ihrer Feder auf und integrierte sie in sein religiöses Lektüreprogramm für das einfache Volk. Tolstoj parallelisiert seinen eigenen Lebensweg, der von der Zäsur des Jahres 1877 gekennzeichnet ist, deutlich mit Pascals Biographie: Pascal wurde 1646 Anhänger des Jansenismus, einer Geistesrichtung, die sich als Rückbesinnung auf die katholische Gnadenlehre des Augustinus verstand. Pascal polemisierte gegen alle Autoritäten und plädierte für einen Mittelweg zwischen der Skepsis eines Montaigne und der Ethik Epiktets. Tolstoj schätzte an Pascal vor allem den Versuch, Rationalität und Glaube einander anzunähern. Am deutlichsten äußert sich diese Konvergenz in Pascals berühmtem Argument, man solle den Glauben an Gott als Wette auffassen: »Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert Ihr nichts.« Tolstoj vermerkt anerkennend, Pascal habe nach seiner Wende zum Jansenismus auf seine geliebte Beschäftigung mit der Wissenschaft verzichtet. Implizit klingt hier Tolstojs eigene Abwertung seiner literarischen Tätigkeit an. Außerdem bewunderte Tolstoj auch den asketischen Zug in Pascals Denken, der ihn an Nikolaj Gogol’s religiöse Spätphase erinnerte. Er habe Pascal ohnehin erst über Gogol’ verstehen gelernt. Beeindruckt zeigte sich Tolstoj von Pascals Selbstdisziplinierung mittels eines auf der Innenseite mit Dornen bestückten Gürtels, der auf leichten Druck hin dem Träger die Wichtigkeit religiöser Praxis in Erinnerung rief. Auch die breite zeitgenössische

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Kritik an Pascals Pensées, die Tolstoj in seinem Bericht hervorhebt, lässt sich in ein Argument pro domo wenden: Auch Tolstoj selbst galt ja vielen Zeitgenossen seit seiner religiösen Wende als verrückt. In Pascal fand Tolstoj das Vorbild eines autonomen Denkers, der sich von der kompakten Meinung seiner Leserschaft nicht unter Druck setzen ließ. Deutlicher noch als bei Pascal spiegelte Tolstoj seine eigene Entwicklung in der Biographie von Lamennais. Tolstoj sympathisierte mit Lamennais’ kritischem Verhältnis zu allen staatlichen und kirchlichen Hierarchien. 1825 verfasste Lamennais eine Schrift Über die Religion in ihrem Verhältnis zur politischen und bürgerlichen Ordnung. Er forderte die Trennung von Kirche und Staat, die 1830 vom unabhängig gewordenen Belgien in die Tat umgesetzt wurde. 1831 trat Lamennais für die polnischen Aufständischen ein, die vergeblich auf die Unterstützung des Papstes gehofft hatten. Für seinen späten Lesezyklus verfasste Tolstoj eine kurze Lamennais-Biographie, in der er den intellektuellen Lebensweg des Priesters als Entwicklung vom papsttreuen Katholiken zum religiösen Freidenker darstellte. Tolstoj behauptete, dass Lamennais vor allem das Wohl des Volkes im Auge hatte: Keine staatlichen Reformen, sondern nur die moralische Vervollkommnung der Menschen könne das schwere Los der breiten Bevölkerung lindern. Tolstojs findet die deutlichsten Worte für sein Verdikt über die katholische Kirche in seinem Traktat Das Reich Gottes ist in euch (1890–93): Jede Kirche […] kann nicht anders, als den wahren Sinn der Lehre Christi zu verbergen und ihn durch ihre eigene Lehre zu ersetzen, die zu nichts verpflichtet, die jede Möglichkeit, die wahre, tätige Lehre Christi zu verstehen, ausschließt und, das ist das Wichtigste, die Existenz der Priester rechtfertigt, die sich auf Kosten des Volks ernähren. Machte und macht der Katholizismus mit seinem Verbot, das Evangelium zu lesen, und mit der Forderung bedingungsloser Unterordnung unter die Kirchenfürsten und den unfehlbaren Papst etwas anderes? Predigt der Katholizismus etwas anderes als die russische Kirche? Derselbe äußerliche Kult, dieselben Reliquien, Wunder und Statuen, wundertätige Notre-Dames und Prozessionen. Dieselben erhaben-nebligen Sermone über das Christentum in den Büchern und Predigten, und wenn es zur Sache kommt, die Unterstützung der gröbsten Götzenanbeterei. (PSS 28: 63)

Es ist bezeichnend, dass Tolstoj im selben Atemzug alle anderen christlichen Kirchen mit demselben Vorwurf konfrontiert. Aus seiner Sicht ist die römisch-katholische Kirche mit dem Papsttum nur der deutlichste Ausdruck des weltlichen Machtstrebens aller religiösen Institutionen.

Anmerkungen 1 Vgl. S. McReynolds, Redemption and the merchant god. Dostoevsky’s economy of salvation and antisemitism, Evanston 2008.

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Rainer Goldt

Judentum Die erstmals 1908 publizierte und rasch ins Deutsche übersetzte Broschüre des Tolstojaners Isaak Teneromo (d.i. Fajnerman, 1865–1925) L.N. Tolstoj über die Juden, zu der der damalige Duma-Abgeordnete Osip Pergament ein Vorwort beisteuerte, setzt mit der Schilderung eines Besuchs Aleksej Suvorins in Jasnaja Poljana ein. Suvorin, Freund und Förderer Cˇechovs, ein russischer Citizen Kane und Herausgeber der einflussreichen antisemitischen Zeitung Novoe vremja, traf Tolstoj nicht an und geriet unversehens in ein Gespräch mit Teneromo, das dieser später mit Tolstoj erörtert haben will. Lev Nikolaeviˇc ergriff angeblich uneingeschränkt Partei für die im sogenannten »Ansiedlungsrayon« zusammengepferchten russischen Juden und nannte Suvorin einen jener »galligen Publizisten«, die das russische Volk vergeblich gegen die Juden aufhetzen wollten.1 Suvorin (1834–1912) las die Wiedergabe seines Gesprächs bereits 1904 in einer odessitischen Zeitung und bezeichnet in einer Tagebuchnotiz seine dort wiedergegebenen Aussagen entrüstet als Fälschung. Am 19. November berichtet er von einer Unterredung mit Tolstoj, der seinen judenfeindlichen Kurs in der Tat verurteilte: »Er [Tolstoj] sagte, dass jeder Mensch das unveräußerliche Recht besitzen müsse, dort zu leben, wo er wolle«. Allerdings »pflichtete Lev Nikolaeviˇc bei, dass der Jude [ˇzid; es bleibt unklar, ob Tolstoj selbst das pejorative Wort benutzte oder Suvorin es ihm in den Mund legt] auf dem Dorf nur die Bevölkerung ausbeuten werde«.2 Kaum ein Vorfall gibt das schier undurchdringliche Dickicht von Legenden und Vermutungen um Tolstojs Verhältnis zum Judentum plastischer wieder als der eklatante Widerspruch dieser beiden Dokumente. In Tolstojs moralischer Autorität erfuhr der Mythos der russischen Intelligencija seine Vollendung, und es lag nahe, sein Wort in die Waagschale der für Russland schicksalhaften »jüdischen Frage« zu werfen. Allein dieses Wort blieb nirgends so widersprüchlich wie ausgerechnet hier, gaben doch Anti- wie Philosemiten gleichermaßen vor, auf Aussagen des Weisen von Jasnaja Poljana bauen zu können. So erschien 1908 in Warschau unter dem Namen Tolstojs der später als Fälschung entlarvte apologetische Essay Was ist ein Jude?, nur zwei Jahre später in Kiev aber auch ein anonymes achtseitiges Heft, das den Teneromo imitierenden Titel L.N. Tolstoj und die Juden wählte. In dieser . . polemischen Schrift schildert die bekennende Antisemitin E.R.S. (Eleonora

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Tolstojs Auseinandersetzung mit Philosophie und religiösen Traditionen

Romanovna Stamo, eine in Jasnaja Poljana verkehrende bessarabische Gutsbesitzerin) Tolstoj als begeisterten Leser Houston Stewart Chamberlains. In der Tat zeigte sich dieser in einem Brief an Stamo vom 14. Dezember 1907 ausgesprochen angetan von Chamberlains »vollkommen gerechtfertigter und unwiderlegbar bewiesener« These, Jesus Christus sei »rassisch gesehen kein Jude« gewesen (PSS 77: 258).3 Am Ende zitiert sie den Freund solcher Persönlichkeiten wie Aleksandr Gol’denvejzer und Leonid Pasternak, für den Tolstoj das »Prinzip der Nächstenliebe«4 verkörperte, mit den Worten, er »fühle sich schlechter, wenn er erfahre, dass sein Gesprächspartner ein Jude sei«.5 Und eben dieser Tolstoj hatte 1890 als Erster die von dem Religionsphilosophen Vladimir Solov’ev (1853–1900) und dem englischen Sprachwissenschaftler und Tolstoj-Übersetzer Emile Dillon (1854–1933) initiierte, von der Zensur schließlich verbotene Protestnote russischer Intellektueller angesichts neuer Repressionen gegen die jüdische Minderheit unterschrieben. Auch wenn der Brief schließlich lediglich in der Londoner Times und ohne Namensnennung der Unterzeichner erscheinen konnte, sprach sich Tolstojs maßgebliche Beteiligung wie ein Lauffeuer herum: [D]er Graf L. Tolstoj (der berühmte Schriftsteller) und Solov’ev (der Philosoph) haben eine Note erstellt, die gegen den modernen Blick auf die Juden protestiert […]. Soll nun noch einmal irgendein Student das Wort »Jidde« [ˇzid] aussprechen, so wird man ihn daran erinnern können, dass die besten russischen Menschen, vor denen auch er sich verneigt, zur Verteidigung der Juden aufgetreten sind,

schreibt der Student und spätere Literaturhistoriker und Philosoph Michail Gerˇsenzon (1869–1925) im Oktober 1890 an seine Mutter.6 Welcher Tolstoj war nun der authentische?

Das jüdische Thema im erzählerischen Werk Das erzählerische Werk Tolstojs kennt jüdische Protagonisten oder Themen nur in episodischen Rollen. In Anna Karenina (1875–77) tritt erstmals in seinem Werk die Figur des jüdischen Finanziers in Erscheinung, wie er in Russland um diese Zeit gerade bei sozialkritischen Autoren wie Nekrasov (Ballett, 1865/66) und vor allem Saltykov-Sˇcˇ edrin (etwa in der Gestalt Lazar’ Oˇsmjanskijs, Bruder des Eisenbahnmagnaten Booz Oˇsmjanskij in Eine moderne Idylle, 1877–83) häufig begegnet. Der hoch verschuldete Stepan Arkad’eviˇc Oblonskij muss in Petersburg bei dem mächtigen jüdischen Bankier Bolgarinov antichambrieren, um eine wohldotierte Stellung zu erhalten. Der wahrscheinlich dem einflussreichen Finanzmagnaten und Eisenbahn-

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investor Lazar’ Poljakov (1842–1914) nachempfundene Bolgarinov lässt Oblonskij zwei Stunden lang warten. Schließlich verabschiedet er den adligen Bittsteller mit kaum verhohlener Genugtuung angesichts dessen Erniedrigung und ohne Hoffnung auf Fürsprache. Es ist offensichtlich, dass Tolstoj bis hin zur äußerlichen Beflissenheit Bolgarinovs kaum ein Stereotyp des jüdischen Kapitalisten und Parvenüs auslässt. Allerdings verzichtet Tolstoj im Gegensatz zu Saltykov-Sˇcˇ edrin bei seinen jüdischen Helden durchweg auf Beschreibungen des Äußeren. Erzähltechnisch dient Bolgarinov Tolstoj ohnehin eher als Folie für den Irrweg, dem sich der Genussmensch Stepan ergibt, denn als Allegorie jüdischer Wirtschaftsmacht. Die Episode verbleibt somit in einer gewissen Ambivalenz, weil selbst der Erzählerkommentar keine rechte Auskunft über die Gefühlslage Oblonskijs zu geben vermag: Sei es, dass Stepan Arkad’eviˇc, ein Nachkomme Ruriks und ein Fürst Oblonskij, zwei Stunden im Wartezimmer eines Juden hatte ausharren müssen, sei es, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nicht dem Beispiel seiner Vorfahren folgte, die seit jeher im Staatsdienst gestanden hatten, und auf einem ganz neuen Gebiet hervortreten wollte – jedenfalls war ihm die Angelegenheit sehr peinlich geworden […], in Wirklichkeit hatte er sich nur bemüht, seine wahre Stimmung nicht nur vor den Anwesenden zu verbergen, sondern sie auch sich selbst nicht einzugestehen. […] Stepan Arkad’eviˇc beeilte sich, das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen. Und als er sich jetzt wieder daran erinnerte, errötete er. (VII, Kap. 17; PSS 19: 300f)

Vor dem Hintergrund von Levins wütenden Invektiven gegen jene Spekulanten, die ohne jegliche produktive Arbeit den Eisenbahnbau in Russland beherrschen – es fällt der betont unrussische, auf den englischen Nationalökonomen und Philosophen Thomas Robert Malthus anspielende Name eines Eisenbahnkönigs Mal’tus (Teil VI, Kap. 11) – gewinnt diese Begebenheit allerdings mehr als nur episodischen Charakter. Unterstrichen wird diese Vermutung durch die kompositorisch subtile Verbindung, die Tolstoj zwischen diesen im Roman weit auseinanderliegenden Gesprächen durch die auffällige Reflexion über »ehrliche« und »unehrliche« Arbeit in beiden Kapiteln schafft. Ein weiteres, bisher offenbar nicht beachtetes jüdisches Motiv in Anna Karenina betrifft den allerdings nur durch seinen Namen als Juden ausgewiesenen französischen Hochstapler Jules Landau. Er hatte sich in Paris bei einflussreichen Persönlichkeiten den Ruf eines Wunderheilers und Hellsehers (clairvoyant) verschafft und gelangte als solcher nach Russland, wo er rasch Zutritt zu höchsten Kreisen erlangte. Einst einfacher Ladengehilfe (commis),7 ist er nun von einer russischen Verehrerin adoptiert und dadurch zum Grafen Bezzubov avanciert, wie der bass erstaunte »Nachfahre Ruriks« Stepan Arkad’eviˇc von der einflussreichen Fürstin Mjagkaja erfahren muss. Schlimmer noch: Landau hat sogar Karenin unter seinen Einfluss gebracht, der keine Entscheidung von Tragweite mehr ohne seinen Rat trifft.

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Erneut bedient sich Tolstoj vertrauter antijüdischer Klischees. Zunächst noch mit der Fürstin Mjagkaja einer handelnden Figur in den Mund gelegt, die noch dazu als enfant terrible der Petersburger Gesellschaft verschrien ist (Teil II, Kap. 6), erfahren sie bald Bestätigung durch Oblonskijs persönliche Bekanntschaft mit dem ebenso gewandten wie undurchsichtigen Franzosen, dessen Name im gesamten Text ausschließlich in lateinischen Buchstaben erscheint, was seine Fremdheit und den Gegensatz zu dem Titel eines russischen Grafen Bezzubov zusätzlich betont: Stepan Arkad’eviˇc war verwirrt von all den neuen und für ihn seltsamen Gesprächen, die er hier hörte. Die völlige Verworrenheit [usloˇznennost’] des Petersburger Lebens wirkte überhaupt anregend auf ihn […]. Wenn er der Gräfin Lidija Ivanovna zuhörte und zugleich die schönen, naiven oder spitzbübischen [plutovskie] – er wusste es selbst nicht recht zu sagen – Augen Landaus auf sich gerichtet sah, verspürte er eine eigenartige Schwere im Kopf. (VII, Kap. 22; PSS 19: 315f)

In gewisser Weise kann Landau als Vorläufer des Hypnotiseurs Grosman aus den Früchten der Aufklärung (1891) gelten, den der Nebentext als dunkelhaarigen Mann jüdischen Typs, beweglich, nervös und lautsprecherisch vorstellt.8 Eine seltsamerweise gleichfalls unberücksichtigte These zur jüdischen Psychologie findet sich in der hintergründigen, nicht zuletzt durch Tolstojs fatale Nachschrift zumeist eindimensional interpretierten Erzählung Die Kreutzersonate (1891). Dort entspannt sich zwischen dem Rahmenerzähler und dem (unzuverlässigen?) Narrator Pozdnyˇsev im 9. Kapitel ein Gespräch über die Macht der Frau, an der Pozdnyˇsev zufolge die gesamte Welt leide. Auf den Einwand des Rahmenerzählers, es seien doch die Männer, in deren Händen die Macht liege, entgegnet er: Das erklärt gerade auch die ungewöhnliche Erscheinung, dass es einerseits vollkommen korrekt ist, dass die Frau auf die tiefste Stufe der Erniedrigung herabgewürdigt wird, und dass sie andererseits herrscht. Es verhält sich mit ihr genauso wie mit den Juden. Wie diese sich durch ihre Geldmacht für ihre Unterjochung rächen, so rächen sich auch die Frauen. »Ah, ihr wollt, dass wir nur Händler sein sollen? Gut: wir, die Händler, werden die Herrschaft über euch erlangen«, sagen die Juden. »Ah, ihr wollt, dass wir nur ein Gegenstand der Sinnlichkeit sein sollen? Gut: als Gegenstand der Sinnlichkeit werden wir euch versklaven«, sagen die Frauen. (PSS 27: 25)9

Was sich auf den ersten Blick wie ein Versatzstück aus Verschwörungstheorien über das Finanzjudentum ausmacht, birgt bei näherem Hinsehen einen nicht minder emanzipatorischen Ansatz als Pozdnyˇsevs scheinbar misogyne Theorien. Setzt man als Leser nämlich die Analogie fort, so ergibt sich, dass es ebenso wenig typisch jüdische wie typisch weibliche Eigenschaften gibt. Pozdnyˇsev, in vielerlei Hinsicht zweifellos Sprachrohr Tolstojs, gibt sich jedenfalls überzeugt, dass die Frauen erst durch den verwerflichen Einfluss nicht zuletzt der eigenen Mütter zu Kokotten erzogen würden, ganz so wie

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der Jude zum ressentimentgeladenen Händler. Das Fehlen nationaler Spezifika war in der Tat eine Grundüberzeugung Tolstojs auch und gerade im Hinblick auf die Juden, wie er am 30. Juni 1890, zehn Monate nach Abschluss des Manuskripts, an Fajvel’ Gec schrieb: [F]ür mich ist die Gleichheit aller Menschen ein Axiom, ohne das ich nicht leben könnte. Was im Herzen des einen Menschen angelegt ist, liegt auch dem Bewusstsein eines anderen zu Grunde, und das, was dem Bewusstsein des einen Volkes zu Grunde liegt, findet sich auch im Bewusstsein eines jeden anderen wieder. (PSS 65: 117)

Umgekehrt schloss diese Überzeugung für Tolstoj auch die Idee einer Auserwähltheit des Volkes Israel aus. In seinem 1899 vollendeten Roman Auferstehung, zu dessen Stärken die psychologische Typologie der nach Sibirien verbannten Revolutionäre gehört, hatte Tolstoj ursprünglich auch einen jüdischen Protagonisten namens Vil’gelmson vorgesehen. Im Laufe der Arbeit rückte er jedoch von diesem Plan ab und übertrug einige von dessen Eigenschaften auf jenen Simonson, der schließlich aus Mitgefühl um die Hand Katja Maslovas anhalten wird, nicht ohne sich allerdings zuvor der Einwilligung Nechljudovs versichert zu haben. Simonson gehört zu jenen Menschen, die laut Erzähler »immer auf die Forderungen ihrer Vernunft hören und sich ihr unterordnen« (Teil III, Kap. 4; PSS 32: 369). Die in Briefen Tolstojs mehrfach anklingende Empörung angesichts der Rechtslage der jüdischen Bevölkerung im Ansiedlungsrayon löst bei einem der Katorga-Häftlinge sogar die Hinwendung zur revolutionären Tätigkeit aus. So wird der Nechljudov besonders nahe stehende, tuberkulosekranke und einst einer glänzenden Universitätskarriere entgegen sehende Kryl’cov wegen des Justizmords an einem noch im Stimmbruch befindlichen jüdischen Jugendlichen namens Rozovskij, der »wie alle Juden sehr musikalisch war« (Teil III, Kap. 6; PSS 32: 376), zum unversöhnlichen Regierungsgegner. Das Fehlen eines jüdischen revolutionären Protagonisten ist im Vergleich zu der vor allem nach 1917 in der Emigration publizierten Literatur augenfällig. Gerade der Typus des von persönlichem Ehrgeiz oder gar Zynismus getriebenen Intellektuellen, wie ihn in Auferstehung der sinistre Novodvorov verkörpert (vgl. seine Charakteristik in Teil III, Kap. 15), geht in späteren Jahren eine Symbiose mit antisemitischen Klischees ein und ist hier noch einmal in seiner ursprünglich Genese als russischer Charakter dingfest zu machen.10 Als Befund bleibt die Erkenntnis, dass die wenig komplexen und eher episodischen jüdischen Charaktere im Werk Tolstojs zumeist nur als Katalysatoren für Entwicklung und Entscheidungssituationen seiner eigentlichen Helden auftreten (Oblonskij, Kryl’cov) oder gängige Klischees fortschreiben (der Kapitalist Bolgarinov, die gewitzten Hochstapler Landau und Grosman).

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Tolstojs Studien zum Judentum Wesentlich tiefgründiger gestalten sich Tolstojs Studien zur jüdischen Religion und Kultur, die relativ spät, zu Beginn der 1880er Jahre, einsetzen. Sie verdienen allerdings schon deshalb Aufmerksamkeit, weil sie im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner »geistigen Krise« in dieser Lebensphase zu sehen sind. Ein wesentlicher Beförderer dieses neuen Interesses war neben Vladimir Solov’ev dessen Lehrer der Judaistik, der Publizist und Pädagoge Fajvel’ Meer Benceloviˇc Gec (1853–1931). Tolstojs Reflexionen finden rasch Niederschlag in seinen philosophischen Schriften dieser Zeit, vor allem in Mein Glaube (1883/84). Die Arbeit an der Beichte (1879–82) geht ihnen unmittelbar voran; zur selben Zeit beginnt er mit der Niederschrift seiner Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886). Tolstojs Studien fallen in eine Zeit, die die russische Gesellschaft erstmals für die jüdische Frage sensibilisiert und zugleich spaltet: Obwohl 1881 unter den maßgeblich an der Ermordung von Zar Alexander II. beteiligten Terroristen der Narodnaja volja kein einziger Jude war, erschüttert schon einen Monat nach dem Anschlag eine Welle von Pogromen das Land. Die Reformära Alexanders ist gescheitert, ca. 1,7 Millionen Juden werden bis 1914 das Land verlassen und den Staat einer unschätzbaren intellektuellen Ressource berauben. Russlands Weg in den Abgrund beginnt weder 1905 noch 1914 oder 1917, sondern mit dem Bombenanschlag vom 1. März 1881. Der von Katharina II. begründete sog. Ansiedlungsrayon war zusammen mit dem russischen Ostpolen mit 5,2 Millionen Juden das größte jüdische Siedlungsgebiet der damaligen Welt. Alexanders liberale Politik hatte neben der Aufhebung der Leibeigenschaft und einer grundlegenden Justiz- und Verwaltungsreform auch den Juden erhebliche Erleichterungen gebracht, obwohl der Erhalt der vollen Bürgerrechte noch immer an die Konversion zur Orthodoxie gebunden blieb. 1859 wurde erstmals Juden der Zugang zur privilegierten ersten Gilde der traditionell erzkonservativen russischen Kaufmannsschaft ermöglicht, ab 1861 wurde Juden mit Hochschulabschluss das Verlassen des Ansiedlungsrayons erlaubt. Tolstoj interessierte sich jedoch zunächst so gut wie gar nicht für die soziale und rechtliche Lage der Juden, sondern ausschließlich für ihre Religion und Philosophie. 1882 nahm er Hebräischunterricht bei Zelik (Solomon Alekseeviˇc) Minor (d.i. Zalkind, 1826–1900), von 1869 bis zu seiner Ausweisung aus Moskau im Juli 1892 Oberhaupt der jüdischen Gemeinde Moskaus.11 Minor berichtete 1890 Tolstojs deutsch-jüdischem Biographen und Herausgeber Raphael Löwenfeld (1854–1910) u.a. auch vom Interesse seines prominenten Schülers am Talmud.12 Dieses begleitete Tolstoj ein Leben lang und fand noch in der Sammlung Gedanken weiser Menschen für jeden Tag (postum 1911) seinen Ausdruck.

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Schon kurze Zeit nach dem Beginn der Hebräischstudien mit Zelik Minor fließen Überlegungen zum Verhältnis von Juden- und Christentum in Tolstojs religionsphilosophische Reflexionen ein. Die in jener Zeit, der zweiten Dezemberhälfte 1882, spätestens im Januar 1883 begonnene Abhandlung Mein Glaube enthält nicht nur Tolstojs zentrale Deutung von Lehre und Persönlichkeit Jesu Christi, sondern auch seine grundlegenden Gedanken zur jüdischen Religion. Hervorgegangen aus den Entwürfen eines Antwortschreibens an M.A. E˙ngel’gardt, der Tolstoj nach einer möglichen Verwirklichung der Evangelien in der Gegenwart befragt hatte, entwickelt Tolstoj aus einer an die Beichte erinnernden persönlichen Einleitung heraus Grundsätze seiner Theologie, die schon in Zeiten der Glaubensferne die Bergpredigt als zentrale Botschaft des Neuen Testaments begriffen hatte (f 104; PSS 23: 308). Das auch wegen seiner kategorischen Forderung, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstreben, zu Berühmtheit gelangte Werk wurde nach seinem Abschluss 1884 in Russland verboten, u.a. weil Tolstoj die Frage nach der Göttlichkeit Jesu Christi offen ließ und jegliche Staatlichkeit als per se gewaltbehaftet ablehnte. Deutsche und französische Übersetzungen erschienen bereits 1885 und machten Tolstojs Gedanken in ganz Europa bekannt. Für die vorliegende Thematik ist die Abhandlung auch deshalb von Interesse, weil sich Tolstoj bemüht, das Volk der Juden (evrei) und das Volk Israel als Träger der Religion (iudei) terminologisch exakt zu unterscheiden.13 Auch in diesem Text Tolstojs begegnen die Juden (evrei) in erster Linie als Volk des einen Gesetzes, »vollkommen göttlich und das gesamte Leben bis in seine feinsten Einzelheiten umfassend« (PSS 23: 340). Zugleich liegt in diesem Gesetz die Möglichkeit einer persönlichen Gottesbeziehung beschlossen. In einer kurzen Gegenüberstellung der Weltreligionen kommt Tolstoj zu dem Schluss, das Wesen des Judentums liege »in einer persönlichen Befolgung des Bundes mit Gott [zavet s Bogom] durch einen jeden« begründet (PSS 23: 379). Nur unter dieser Prämisse vermag man zu einer gerechten Beurteilung zu gelangen: Wir haben uns so an die zumindest seltsame Auslegung gewöhnt, die Pharisäer und irgendwelche bösen Juden [iudei] hätten Christus gekreuzigt, dass die einfache Frage, wo diese denn nicht Pharisäer und nicht böse, sondern wirkliche gesetzestreue Juden [iudei] gewesen seien, uns gar nicht in den Sinn kommt. Es genügt, sich diese Frage zu stellen, damit alles vollkommen klar wird. Christus, sei er nun ein Mensch oder Gott, brachte seine Lehre unter ein Volk in die Welt, das ein Gesetz achtete, das das gesamte Leben der Menschen bestimmte und sich Gesetz Gottes nannte. (PSS 23: 341)

Tolstoj sieht Christus weniger als Überwinder denn als Vollender dieses Gesetzes – der Tora und der Propheten, besonders Jesajas, des ersten Künders des Messias:

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Im Verhältnis zum Mosaischen Gesetz und mehr noch zu den Propheten, vor allem Jesaja, dessen Worte er beständig anführt, bekennt Christus, dass im jüdischen [evrejskom] Gesetz und den Propheten ewige, göttliche Wahrheiten enthalten seien, die mit dem ewigen Gesetz zusammenfallen. Und diese, wie etwa den Ausspruch ›Liebe Gott und Deinen Nächsten‹, nimmt er zur Grundlage seiner Lehre. (PSS 23: 342)

Christus setzt also das Gesetz nicht außer Kraft, sondern bringt es zur Vollendung, indem er es nicht auf die fünf Bücher Mose beschränkt wissen will, während für den Juden das Gesetz Gottes und die Bibel eins sind (vgl. PSS 23: 339). Bis in die Irrtümer hinein sieht Tolstoj jüdische und christliche Lehre miteinander verwoben. Einer dieser Irrwege bestehe darin, sich als Gerechter von der Welt abzuwenden, wie es Jonas hatte tun wollen – eine Verirrung, die »den Juden [evrejam] seit langem bekannt ist, aber nicht nur dem Christentum, sondern auch dem Judentum [iudaizmu] in ihrem Geiste wesensfremd ist« (PSS 23: 413). Tolstoj wird diesen Gedanken in seiner Variation der Jonas-Geschichte, der Lebensbeschreibung des Fürsten, Offiziers und nach langer Kloster- und Einsiedlerzeit in die Welt tätiger Nächstenliebe zurückkehrenden Starzen Stepan Kasackij illustrieren, die 1911 postum unter dem Titel Vater Sergij erschien. Einen fundamentalen Unterschied zwischen Juden und Christen erblickt Tolstoj im diametral entgegengesetzten Lebensverständnis. Der Hauptunterschied zwischen unserem Begriff des menschlichen Lebens und demjenigen der Juden [evreev] besteht darin, dass nach unserer Auffassung unser sterbliches Leben, das von Generation zu Generation übergeht, nicht das wahre Leben ist […], dem Verständnis der Juden nach dagegen dieses Leben […] das höchste Heil darstellt, das dem Menschen unter der Voraussetzung der Erfüllung des göttlichen Willens gegeben ist. (PSS 23: 396f)

Tolstoj kann dem von der Kirche gelehrten Glauben an ein ewiges Leben wenig abgewinnen und nennt diese Vorstellung »ein Trugbild, das bei der ersten Berührung mit der Vernunft zerstiebt« (PSS 23: 400). Für ihn bedeutet die Lehre Jesu durchaus in einer gewissen Nähe zur jüdischen Lehre die Aufforderung, dem individuellen Leben in der Verleugnung des Ich zugunsten eines diesseitigen Dienstes an der Menschheit Sinn zu verleihen, wie es sein Vater Sergij am Ende seines Weges einsieht. Tolstojs Fazit beruht auf der These von einer Urverwandtschaft jüdischen und christlichen Denkens: Die metaphysische Grundlage der alten Lehre der Juden und derjenigen Jesu Christi ist ein und dieselbe: die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Die Anwendung dieser Lehre auf das Leben jedoch ist nach Moses und nach dem Gesetz Christi sehr unterschiedlich. (PSS 23: 451)

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Zögerliche Solidarität: Tolstoj zur sozialen Lage der russischen Juden Das ausschließlich religiöse Interesse am Judentum, das Tolstoj u.a. noch zu der Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien inspirieren sollte, machte ihn zur Enttäuschung seiner jüdischen Besucher und Korrespondenten merkwürdig unempfindlich für die reale Situation der Juden im Russischen Reich, insbesondere im Ansiedlungsrayon. Viele hatten sich in Tolstoj einen Fürsprecher im Kampf um bürgerliche Gleichberechtigung erhofft, doch der Weise von Jasnaja Poljana blieb reserviert: Ich bedaure die Bedrückungen, denen die Juden ausgesetzt sind, […] aber dieser Gegenstand beschäftigt meine Gefühle und Gedanken nicht ausschließlich oder vorzugsweise gegenüber anderen. Es gibt viele Dinge, die mir größere Sorgen bereiten als dieser, und deshalb könnte ich zu diesem Gegenstand auch nichts schreiben, was die Menschen berühren würde,

heißt es am 25./26. Mai 1890 in einem Brief an Fajvel’ Gec (PSS 65: 98). Hinderlich auf dem Wege zur Freiheit sind den Juden Tolstoj zufolge vor allem ihre »archaischen und überlebten Grundlagen der Sittenlehre«, bei deren Beurteilung sich Tolstoj vor allem auf den Talmud bezieht (PSS 65: 99).14 Es kommt im Grunde der alten Forderung nach Christianisierung gleich, wenn Tolstoj als erbitterter Feind der Staatskirche schreibt, »Vergebung und Feindesliebe« (PSS 65: 191) seien das Unterpfand der Erlösung und stünden jedem Menschen offen: Und deshalb habe ich theoretisch stets befunden, dass die ganze Höhe der christlichen Lehre einem jeden Volk zugänglich sei, um so mehr dem jüdischen, aus dem sie hervorgegangen ist. Hinderlich ist dabei, wie ich denke, vornehmlich jene Ausschließlichkeit, jene besondere Mission, die die Juden sich zuschreiben,

heißt es in dem bereits zitierten Brief an Gec vom 30. Juni 1890 (PSS 65: 117). In diesem Kontext sind auch die Tagebuchaufzeichnungen vom 9. und 10. Mai 1890 zu verstehen, in denen Tolstoj den großen ethischen Lehren der Menschheit – er nennt in dieser Reihenfolge Christentum, Buddhismus und Konfuzianismus – an ihre Fähigkeit zur Relativierung des eigenen Standpunktes und Wissens knüpft. Über die Juden heißt es nach der Lektüre u.a. von Gec’ Über Charakter und Bedeutung der jüdischen Ethik (St. Petersburg 1882) am 10. Mai 1890 im Tagebuch: »Ich hegte Sympathien für die Juden; nach dieser Lektüre sind sie mir zuwider geworden« (PSS 51: 41).15 Tolstojs zurückhaltende Position wurde auch äußerlich offenkundig, als sich angesichts der sich anbahnenden, wie üblich publizistisch vorbereiteten Verschlechterung der jüdischen Rechtsstellung die liberale Intelligencija 1890 auf Gec’ Initiative zu der bereits erwähnten Protestnote entschloss. Auf die Bitte Solov’evs und Dillons, eine angemessene Denkschrift zu verfassen,

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reagierte Tolstoj ausweichend. In seinem Antwortschreiben vom 15. März bat er Solov’ev um die Abfassung: Für Sie ist das natürlich, da Sie wissen, was genau den Juden droht und was darüber erzählt wird. Ich jedoch kann mich nicht dazu zwingen, etwas zu einem vorgegebenen Thema zu schreiben, und einen eigenen Ansporn dazu verspüre ich nicht. Möge Ihnen Gott bei dieser guten Sache beistehen. (PSS 65: 45)

Als eine solche empfand Tolstoj die Dreyfus-Affäre offenbar nicht, denn noch 1898 wird er während des Prozesses gegen Zola bei aller Hochachtung für das Engagement des Schriftstellers im Kampf gegen »Chauvinismus und Antisemitismus« skeptisch bleiben: »Ich kenne Dreyfus nicht, kenne aber viele ›Dreyfuse‹, und alle waren sie schuldig.«16 Es sieht so aus, als sei zu dieser Zeit eine soziale, politische oder gar nationale »jüdische Frage« für Tolstoj hinter seinem Streben nach religiöser Universalität gar nicht mehr erkennbar gewesen – sogar für seine Anhänger. Auch das Verhältnis zu Gec bleibt nicht ungetrübt, der sich enttäuscht über das mangelnde Engagement Tolstojs zeigte.17 In einem Brief an den Petersburger Arzt Naum Botvinnik äußerte sich Tolstoj im selben Jahr 1898 wie folgt: Sie schreiben, ob wir nicht vor unserer Nation schuldig werden, wenn wir unsere Nationalität umgehen und unseren Kindern ausschließlich allgemeinmenschliche Ideale vermitteln? Ich glaube, wir werden furchtbar schuldig vor unserem Gewissen und Gott sein, wenn wir dies nicht tun. Alles Unglück der Juden rührt daher, dass sie dies nicht einsehen wollen. Mir scheint, dass die Juden diesen Fehler wirklich nicht begehen sollten. Ihr Messias, der die Menschen vereinen kann, befindet sich in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Und vereinen kann die Menschen nicht das in unserer Zeit sinnlose Märchen von der Schöpfung der Welt und einem auserwählten Volk und nicht die Verordnungen des Talmuds usw., sondern eine unterschiedslose brüderliche Liebe allen Menschen gegenüber, Söhnen des einen Gottes. (PSS 71: 520)18

Dennoch oder gerade deshalb bleibt für Tolstoj jüdische Identität an die Religion gebunden; säkularen Juden gegenüber blieb er erstaunlich skeptisch. So hatte ihn im März 1884 ein jüdischer Emigrant namens Gureviˇc aufgesucht, der das »Bindeglied zwischen Russen und Juden suchte« und Tolstoj einen Artikel zur Lektüre hinterließ. Im Tagebuch notiert dieser verdrossen: Ja, es ist nicht vorteilhaft, die Synagoge und den Talmud mit dem Gymnasium und der Grammatik zu vertauschen. Der vermeintliche Vorteil besteht lediglich darin, dass man am Gymnasium und der Universität an nichts glaubt; man macht sich von allem frei, aber das bleibt nicht lange angenehm. (PSS 49: 68)

Nur im Lichte dieses sich allmählich dogmatisch verselbstständigenden religiösen Universalismus wird Tolstojs verstörend ambivalentes Verhalten nach den Kiˇsinever Osterpogromen von 1903 einigermaßen begreiflich. In einem . Brief an den Zahnarzt Emmanuil Grigor’eviˇc Lineckij, der um eine Stellung-

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nahme zu den blutigen Exzessen vom 6.–8. April 1903 gebeten hatte, antwortet Tolstoj lapidar: »Mein Verhältnis zu den Juden kann kein anderes sein als dasjenige zu Brüdern, die ich nicht deshalb liebe, weil sie Juden sind, sondern deshalb, weil wir und sie wie alle Menschen Söhne eines Vaters – Gottes – sind« (PSS 74: 107).19 Tolstoj sieht alles Übel nicht beim russischen Volk, das er immer wieder gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz nahm, sondern bei der zynischen und gewissenlosen Regierung. Er rät den Juden, so zu leben, wie er es allen rate, nämlich »so zu handeln, wie du möchtest, dass man dich behandle«, ohne jegliche Gewalt (PSS 74: 108).20 Diese Distanziertheit mag befremden, erscheint jedoch im Lichte einer Passage aus Mein Glaube von 1884 erklärlich, in der er sich seiner Studien mit Zelik Minor erinnert: Ich las unlängst mit einem Rabbiner das 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Bei fast jeder Wendung sagte er: Das gibt es auch in der Bibel, das gibt es im Talmud […]. Als wir aber zu dem Vers darüber kamen, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sagte er nicht: Das gibt es auch im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: »Und, handeln die Christen danach? Halten sie die andere Wange hin?« […] Und ich konnte ihm nichts antworten. (PSS 23: 315f)

In der Person Lev Tolstojs treffen verschiedene, einander oft widersprechende Auffassungen von jüdischer Identität und Religiosität zusammen. Während er in seinen literarischen Werken kaum über holzschnittartige Charaktere hinauskommt, verhinderte sein in späten Jahren zunehmend dogmatischer religiöser Universalismus eine differenzierte Auseinandersetzung mit jüdischem Denken, um das er sich vor allem zu Beginn der 1880er Jahre während seiner tiefen Persönlichkeitskrise ernsthaft bemüht hatte. Als Humanist und Christ war Tolstoj durchaus bestrebt, seine immense Autorität zu Gunsten der russischen Juden in die Waagschale zu werfen, doch erfolgten alle diese Aktionen ausschließlich auf Anregungen von außen und gehorchten eher abstraktem Pflichtgefühl denn wirklicher Anteilnahme oder gar Sympathie. Dennoch genoss Tolstoj auch in der jüdischen Welt hohes Ansehen und übte etwa auf die Pioniere des Zionismus, speziell der Kibbutz-Bewegung wie auf den aus Russland stammenden Acharon David Gordon (1856–1922) einen gewissen Einfluss aus, der aber weniger in seinem Verhältnis zum Judentum gründete.21 Die beinahe mythische Autorität Tolstojs, die kaum jemals wieder ein Schriftsteller erreichen dürfte, inspirierte Thomas Mann 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier seiner Geburt zu der berühmt gewordenen Formulierung: »während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären«.22 Es bleibt zu hoffen, dass Thomas Mann mit demselben Recht davon hätte spre-

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chen können, die Bejlis-Affäre, jener einen internationalen Skandal provozierende Kiever Ritualmordprozess des Jahres 1913, wäre zu Tolstojs Lebzeiten undenkbar gewesen.

Anmerkungen 1 I. Teneromo, L.N. Tolstoj o evrejach, Vorwort von O.Ja. Pergament, St. Petersburg 1908, 14. Zur Persönlichkeit Teneromos im Umkreis der Tolstojaner vgl. u.a. die Erinnerungen Bunins (I.A. Bunin, Tolstoj, in: Polnoe sobranie soˇcinenij v XIII tomach, Bd. 9: Vospominanija. Dnevnik (1917–1918). Dnevniki (1881–1953). Moskau 2006, 49). – Es sagt einiges über das wissenschaftliche Niveau von Solˇzenicyns Studie Zweihundert Jahre gemeinsam (1795–1995) aus, wenn er Teneromos Darstellung widerspruchslos übernimmt, um anschließend gegen Tolstoj zu polemisieren (»Auf welchen Wolken schwebte er?«). Vgl. A.I. Sol zˇ enicyn, Dvesti let vmeste (1795–1995), Teil 1, Moskau 2001, 157. Darüber hinaus zitiert Solˇzenicyn kritiklos zweifelhafte Quellen zu Tolstojs Meinung über die Kiˇsinever Pogrome des Jahres 1903 (»ein grober Ausdruck des Volkswillens«, a.a.O., 403) aus Erinnerungen seines slowakischen Leibarztes und Übersetzers Duˇsan Makovick´y (1866–1921), dessen Antisemitismus Tolstoj nachweislich suspekt war. 2 A.S. Suvorin, Dnevnik Alekseja Sergeeviˇca Suvorina, hg. v. N.A. Roskina, D. Rejfild/O.E. Makarova, London/Moskau 1999, 478. Teneromo gilt als nicht immer zuverlässiger Chronist. Tolstoj selbst fand in dessen Broschüre »erstaunliche Erfindungen«, und N.N. Gusev schrieb am 12. 1. 1908 im Auftrag Tolstojs an Stamo, dieser . »habe niemals etwas Derartiges gesagt« (E.R. Stamo, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj i evrei, Kiev 1910, 6). – Aber auch die Entfremdung zwischen Tolstoj und Suvorin schritt zunehmend voran. Am 10. August 1908 erschien in Suvorins einflussreicher Zeitung Neue Zeit unter dem Titel Tolstoj i vlast’ ein Tolstojs moralische Autorität in Frage stellender Essay seines Chefpublizisten und bekennenden Antisemiten Oleg Men’ˇsikov (1859–1918, erschossen), der selbst einmal dem Tolstojanertum nahe gestanden hatte (Nachdruck in M.O. Men’ˇs ikov, Pis’ma k russkoj nacii, Moskau 1999, 89–98). 3 Diesen Brief führt Stamo. gleich zu Eingang ihrer Hetzschrift auf Seite 2 an. 4 Zit. nach Ju. Slezkin, Era Merkurija. Evrei v sovremennom mire, Moskau 2005, 180. . 5 E.R. Stamo, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj i evrei, 8. 6 Brief Gerˇsenzons an seine Mutter vom 31. Oktober 1890, in: M.O. Gerˇs enzon, Izbrannoe, Bd. 4, Moskau/Jerusalem 2000, 378. – D. Belkin, Gäste, die bleiben. V. Solov’ev, die Juden und die Deutschen, Hamburg 2008, 128–136. 7 In Auferstehung (1899) befindet sich unter den Geschworenen auch ein Handelsgehilfe (prikazˇcik) jüdischer Herkunft bzw. »jüdischen Typus« (evrejskogo tipa). 8 Dieser wiederum geht auf das reale Vorbild des jüdischen Hypnotiseurs Fel’dman zurück, der Tolstoj im April 1889 zweimal besucht und Proben seines Könnens abgelegt hatte. In seinem Tagebuch belegt ihn Tolstoj mit verächtlichen Epitheta und nennt ihn einen »Scharlatan«. Vgl. hierzu L.D. Opul’skaja, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj. Materialy k biografii s 1886 po 1892 god, Moskau 1979, 186f. 9 Dieser Gedanke findet sich 1889 erstmals in Tolstojs Notizbuch (PSS 50: 204): »Frauen sind durch die Wollust (sladostrastie) erniedrigt. Genau damit zahlen sie zurück, daher rührt ihre Macht. Wie die Juden.« – Und noch vier Jahre später heißt es im Tagebuch

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(PSS 52: 95): »Frauen zahlen wie die Juden für jene Sklaverei, in der man sie hält, mit der Unterjochung der Männer.« Dies reicht hin bis zur russischen Religionsphilosophie. Sergij Bulgakov etwa wird in der Emigration sogar den biblischen Judas als Prototyp des »jüdischen Messianisten, […] Revolutionärs, messianischen Marxisten und Bolschewiken« interpretieren (S.N. Bulgakov, Iuda Iskariot apostol’-predatel’, Teil 1, in: Put’ 26, 1931, 9f). »Diese ganze Zeit über habe ich mich beharrlich mit der jüdischen Sprache beschäftigt und sie fast erlernt, ich lese schon und verstehe. Mein Lehrer ist der hiesige Rabbiner Minor, ein sehr guter und kluger Mensch. Ich habe dank diesem Unterricht sehr vieles erfahren«, schreibt Tolstoj am 7.–15. (?) November 1882 an V.I. Alekseev (PSS 63: 106). Tolstoj setzte sich später für dessen Sohn Lazar’ ein, den späteren Begründer der Moskauer neuropathologischen Schule. Vgl. hierzu N.N. Gusev, Lev Nikolaeviˇc Tolstoj. Materialy k biografii s 1881 po 1885 god, Moskau 1970, 164–166; R. Löwenfeld, Gespräche über und mit Tolstoi, Berlin 1891. Die terminologische Trennung von iudei (aus griech. #I «) und evrei (aus griech.

E «) hatte sich seit der Reformära Mitte des 19. Jahrhunderts im Russischen durchgesetzt, wobei der alte, zunehmend pejorativ besetzte Begriff ˇzid (vgl. ital. giudeo) aus der Standardsprache verschwand und höchstens noch im offen antisemitischen Sinne verwendet wurde. »Judäer (iudei) ist ein Artbegriff, Juden (evrei) ein Gattungsbegriff […]. Alle Judäer sind Juden, aber es gab auch Juden, die nicht Judäer waren«, heißt es bei dem Historiker N.I. Kostomarov 1862 (Iudejam, in: N.I. Kostomarov, Russkie inorodcy. Istoriˇceskie monografii i issledovanija, Moskau 1996, 282. – Ich danke Ludger Udolph, Dresden, für den Hinweis auf diese Schrift). Vgl. hierzu auch Tolstojs Ausführungen in Mein Glaube: »[…] ich habe mich davon überzeugt, dass der Nächste in der Sprache des Juden immer nur einen Juden meint […]. [Christus] spricht: Das Gesetz Mose macht einen Unterschied zwischen dem Juden und dem Nichtjuden, dem Volksfeind, ich aber sage euch, dass ihr diesen Unterschied nicht machen sollt« (PSS 23, 364f). Dass Tolstoj die Schriften von Gec im Auge hat, geht aus dem Anmerkungsapparat (PSS 51: 194) hervor. V. Jakovlev, U grafa L.N. Tolstogo, in: Kur’er 39, 8. Februar 1898, Nachdruck in: Interv’ju i besedy s L’vom Tolstym, eingel., zsgest./komm. v. V.Ja. Lakˇsin, Moskau 1986. Hier zitiert nach: www.moshkow.nino.ru/LITRA/TOLSTOJ/interv1.txt_Piece40.08. Im selben Gespräch bezeichnete Tolstoj die Dreyfus-Affäre als für Russland ohnehin als weniger wichtig: »[…] wir haben genug eigene Angelegenheiten, für deren Lösung unser Engagement wichtig ist.« Zu Gec’ erstaunlicherweise bis heute unpublizierten Briefen an Tolstoj vgl. D. Belkin, Gäste, die bleiben, 129. Brief vom 30. Dezember 1898. In seinen späten Schriften wie z.B. Schicksale des jüdischen Volkes (1922) wird Michail Gerˇsenzon, in jungen Jahren unter dem Einfluss Tolstojs stehend, den Gedanken der Universalität als Mission gerade des Judentums deuten. Andererseits kritisierte Tolstoj in einem Entwurf das Verhalten der russischen Regierung aufs schärfste und stellte ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Grausamkeiten noch über diejenige der türkischen Regierung gegenüber den Armeniern (PSS 74: 109). Diesen Vorwurf wiederholt Tolstoj in seinem Brief an Solomon Rabinoviˇc (Sˇolom-Alejchem, 1859–1916) vom 6. Mai 1903 (PSS 74: 118f) und bedauert, diese Meinung in keiner legalen Publikation in Russland darlegen zu können. Es ist nicht ganz schlüssig zu eruieren, wie der ausweichende und von einigen Autoren scharf ge-

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rügte Ton zu begründen ist. Tatsache ist, dass Tolstoj am selben Tag gegenüber Nikolaj Il’iˇc Storoˇzenko seine freudige Bereitschaft erklärt, eine Protestnote an das Stadtoberhaupt von Kiˇsinev zu unterzeichnen, und lediglich um die Änderung einer Formulierung bittet. 20 Tolstoj zitiert hier Mt 7,12. 21 »[…] it was in Tolstoyan philosophy that the first kibbutzniks found much of their original inspiration.« M. Slann, Tolstoy and the Beginnungs of Kibbutz Ideology, in: Judaism 21/1, 1972, 333. 22 Th. Mann, Tolstoi. Zur Jahrhundertfeier seiner Geburt, in: ders., Reden und Aufsätze 2, Frankfurt a. M. 1960, 233.

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Islam Tolstoj hegte große Sympathien für den Islam. Das zeigt sich bereits in seiner Studienwahl an der Universität von Kazan’: Er entschied sich zunächst für Orientalistik und begann Arabisch sowie Persisch zu lernen. Zwar brach er das Studium bald ab. Das Interesse für die muslimischen Völker vor allem in Russland aber blieb, wie seine Reisen in den Kaukasus zeigen.1 Nach seiner religiösen Bekehrung bat er, man möge ihn nicht als Verrückten oder als Revolutionär, sondern als eine »Art Mohammedaner« betrachten (PSS 63: 201). Kurz vor seinem Tod beruhigte er eine orthodoxe Russin, die einen Muslim geheiratet hatte und deren Söhne nun zum Islam konvertieren wollten: Wer sich entscheiden muss, entweder zur orthodoxen Kirche oder zum Islam zu gehören, wird als vernünftige Person bei seiner Wahl nicht zögern. Jeder wird den Islam vorziehen mit seinem Grundsatz eines einzelnen Gottes und seines Propheten statt solch komplizierter und unverständlicher theologischer Dinge wie die Trinität, Erlösung, Sakramente, Heilige und ihre Bilder, komplizierte Gottesdienste. (PSS 79: 118)

Aus dieser Empfehlung darf allerdings nicht geschlossen werden, dass Tolstoj den Islam als einzig wahre Religion predigte. Der Islam kommt Tolstojs synthetischem Religionsideal einer pazifistischen, vernünftigen Heilslehre einfach näher als die durch Macht und Geld korrumpierte Orthodoxie. Aber auch der Islam weist aus Tolstojs Sicht den grundlegenden Mangel jeder Einzelkonfession auf, die nicht die ganze Menschheit umfassen kann. Überdies kritisiert er, dass Mohammed im Islam als Prophet gilt, wo er doch nur ein Mensch mit hohen religiösen Ansprüchen gewesen sei. Besonders lehnt Tolstoj auch den Bericht im Koran ab, wonach Mohammed durch die sieben Himmel geflogen sei und mit Allah persönlich gesprochen habe.2 Darin erblickt er – ähnlich wie in der Himmelfahrt Christi – den Ausdruck eines falschen Wunderglaubens. In einem Brief aus dem Jahr 1902 fasst Tolstoj seine Haltung zum Islam am deutlichsten zusammen: Zu einer rechten Religion werden und mit den Lehren aller wahrhaft religiösen Menschen übereinstimmen wird der Islam erst dann, wenn er den blinden Glauben an Mohammed und den Koran aufgibt und sich nur das daraus nimmt, was mit der Vernunft und dem Gewissen aller Menschen in Einklang steht. (PSS 73: 321)

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Es ist bezeichnend, dass Tolstoj im Jahr 1909 auf der Grundlage einer englischsprachigen Publikation des indischen Anwalts Abdallah al-Suhravardi eine apokryphe Sammlung von Sprüchen Mohammeds herausgab, die nicht in den Koran Eingang gefunden haben.3 In den muslimischen Gebieten Russlands genießt Tolstoj bis heute eine hohe Anerkennung. Der zentrale Text, auf dem diese Wertschätzung beruht, ist der Kurzroman Hadˇzi Murat (1904). Tolstoj schildert hier die brutale Zerstörung eines tschetschenischen Auls durch die Armee des Zaren und zögert nicht, die Offiziere und Soldaten als »russische Hunde« zu bezeichnen: Sados Sohn, jener hübsche Knabe mit den blitzenden Augen, […] war auf einem mit einem Filzmantel bedeckten Pferd tot in die Moschee gebracht worden. Er war durch einen Bajonettstich in den Rücken getötet worden. Sados ehrbare Gattin […] stand im zerrissenen Hemd, das ihre welken Brüste den Blicken preisgab, mit zerrauftem Haar über der Leiche des Sohnes, kratzte sich selbst vor Schmerz das Gesicht blutig und wehklagte voll Verzweiflung. […] Auch die Moschee war verunreinigt worden, und der Mullah musste sie mit Hilfe der Moscheediener erst wieder säubern. Kein Wort des Hasses gegen die Russen wurde laut. Das Gefühl, das alle Tschetschenen vom jüngsten bis zum ältesten diesem Feinde gegenüber hegten, war stärker als Hass. Sie sagten sich, dass diese russischen Hunde keine Menschen seien, und ein solcher Abscheu und Ekel, ein solches Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Kreaturen ergriff sie, dass der Wunsch, sie auszutilgen, wie man Wölfe, Ratten und giftige Spinnen austilgt, ebenso natürlich erschien wie der Trieb zur Selbsterhaltung. (PSS 35: 80f)

Der ganze Text bezieht seine Spannung aus der Gegenüberstellung von falscher russischer Zivilisation und wahrer tschetschenischer Lebensweise. Die Grundrichtung der narrativen Argumentation zielt auf die Umkehrung des Vorwurfs der fehlenden Kultur: Die eigentlichen Barbaren sind nicht die Tschetschenen und Dagestaner, sondern die Russen. Diese Dichotomie hat auch eine religiöse Dimension. Zar Nikolaj verrichtet seine Gebete mechanisch, »ohne sich bei den Worten, die seine Lippen murmelten, auch nur das Geringste zu denken« (PSS 35: 68). Sˇamil’ hingegen verspürt eine innere Notwendigkeit, sein Gebet in Richtung Mekka zu verrichten, »das ihm als geistige Speise so notwendig geworden war wie das tägliche Brot« (PSS 35: 87). Tolstoj ordnete dem Islam eine Mittelstellung in seiner impliziten religiösen Evolutionslehre zu: Der Islam steht zwar höher als die christlichen Konfessionen, weil seine Glaubensinhalte einfacher und vernünftiger sind, er hat jedoch noch nicht den Status einer vereinigenden Weltreligion erreicht, weil er sich immer noch als Partikularbekenntnis definiert. In einem Brief aus dem Jahr 1908 misst Tolstoj den Islam an seinem Ideal einer universalen Wahrheit: Was aber Ihre persönliche Meinung über meine Beurteilung des Islam angeht, so möchte ich Ihnen erwidern, dass es meiner Überzeugung nach nur eine wahre Religion gibt. Ganz hat sich diese wahre Religion der Menschheit noch nicht offenbart, aber bruchstückweise erscheint sie in allen Bekenntnissen. Aller Fortschritt der Menschheit beruht auf der im-

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mer engeren Vereinigung aller in dieser einen wahren Religion und in ihrer immer klareren Offenbarung. Daher müssen alle wahrheitsliebenden Menschen bemüht sein, nicht die Unterschiede unter den Religionen und ihre Mängel hervorzusuchen, sondern das, was sie einigt und ihren Wert ausmacht. So bemühe ich mich gegenüber allen Religion zu verfahren und auch gegenüber dem mir gut bekannten Islam. (PSS 78: 164f)

Den entscheidenden Schritt zur Vereinigung der Religionen vollzieht in Tolstojs Augen eine andere Glaubensrichtung, die sich vom Islam abgespalten hat. Tolstoj interessierte sich stark für den Babismus und den daraus hervorgegangenen Bahaismus.4 Das Programm der Bahai entsprach genau der Zielrichtung von Tolstojs eigenen Anstrengungen: Angestrebt werden die Synthese aller Konfessionen, die Angleichung des religiösen Glaubens an die Vernunft, die Annäherung des Menschen an Gott, die Abschaffung aller Gewalt und damit letztlich die friedliche Vereinigung der Menschheit. Es gibt eine ihrem religiösen Gehalt nach sehr hochstehende Sekte, die Babisten. Sie wurde von Beha Ullah weiter entwickelt, der von der türkischen Regierung nach Akka verbannt wurde, wo sein Sohn lebt. Seine Anhänger anerkennen keine äußeren Formen und sehen die allen Religionen gemeinsame Grundlage in einem guten Leben, d.h. in der Liebe zum Nächsten, und darin, dass sie sich unter keinen Vorspiegelungen zur Teilnahme am Bösen verleiten lassen. (PSS 79: 121)

Große Sympathie empfand Tolstoj deshalb für die Begründerin des russischen Bahaismus Izabella Grinevskaja (1854–1942). In den Dramen Bab (1903) und Becha-Ulla (1912) präsentierte die Autorin die synthetische Heilslehre der Bahai. Am 22. Oktober 1903 schrieb Tolstoj einen Brief an Grinevskaja, in dem er ihr Stück lobte und auf eine »einheitliche Religion für die ganze Menschheit« hoffte (PSS 74: 207f). Tolstojs Interesse an dieser Glaubensrichtung hielt bis zu seinem Tod an. Im Mai 1910 las er eine Broschüre des armenischen Publizisten Ambarcum Arakeljan über den Babismus. Sein Sekretär Valentin Bulgakov berichtet, dass Tolstoj diesen Bericht sehr lobte und ihn bat, Arakeljans Broschüre nach England zu Pavel Bulanˇze zu schicken, damit dieser eine populäre Schrift darüber verfasse.5 Bezeichnenderweise wollte aber Tolstoj auch den Bahaismus nicht als letzte Wahrheit anerkennen, sondern gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass dieser sich früher oder später mit dem christlichen Anarchismus vereinigen werde (PSS 73: 109). Gleichwohl wird Tolstoj auch heute von den Bahai als geistesverwandter Denker verehrt, der eine Synthese aller religiösen Lehren anstrebte.

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Anmerkungen 1 A. Sˇ ifman, Lev Tolstoj i Vostok, Moskau 1971. 2 Ja. Koblov, Graf L.N. Tolstoj i musul’mane, Kazan’ 1904, 14. 3 Izreˇcenija Magometa, ne voˇsedˇsie v Koran. Izbrany L.N. Tolstym, Moskau 1910. Siehe auch PSS 38: 343–349. 4 L. Stendardo, Leo Tolstoy and the Bahá’í Faith, Oxford 1985. 5 V.F. Bulgakov, Tolstoj v poslednij god ego zˇ izni, Moskau 1989, 210f.

Buddhismus

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Radha Balasubramanian

Buddhismus Tolstoj galt westlichen Orientalisten vielfach als eine der größten Autoritäten auf dem Gebiet des Buddhismus in Russland.1 Doch war sein Interesse an der buddhistischen Religion kein gesondertes, da er sich zeitlebens mit religiösen Fragen auseinandersetzte und in verschiedenen Religionen nach Antworten suchte. Wie aus seinem Tagebuch hervorgeht, kam Tolstoj schon 1847 mit Buddhas Lehre in Kontakt (PSS 81: 138f) und bewahrte sein Interesse für sie in den folgenden sechs Jahrzehnten bis zu seinem Tod im Jahr 1910. Nach Pavel Birjukovs Darstellung geriet Tolstoj erstmals 1847 in einem Gespräch mit einem Burjatenlama in einem Kazaner Krankenhaus mit dem Buddhismus in Kontakt.2 Der Lama erzählte dem jungen Grafen, wie er unterwegs von einem Straßenräuber angefallen und verwundet wurde. Als Tolstoj ihn fragte, was er zu seiner Verteidigung unternommen habe, antwortete der Lama, er habe »sich gegen den Räuber nicht zur Wehr gesetzt, sondern mit geschlossenen Augen unter Gebeten seinen Tod erwartet«. Diese Geschichte beeindruckte den angehenden Schriftsteller und machte ihn mit einem Grundsatz bekannt, den der Buddhismus mit anderen Religionen teilt: dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen. Diese Maxime wurde später zu einem grundlegenden Element von Tolstojs eigener Lehre (in seinem 1893 vollendeten Traktat Das Reich Gottes ist in euch ordnete er sie freilich dem Christentum zu). Nach dieser ersten Berührung mit dem Buddhismus wurde Tolstojs Interesse erneut geweckt, als ihm Nikolaj Strachov 1866 die französische Ausgabe der Lalitavistara von Philippe Edouard Foucaux schickte.3 Außerdem las er Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung, das von buddhistischem Gedankengut beeinflusst ist und das Afanasij Fet, ein Dichter und enger Freund Tolstojs, in den 1870er Jahren ins Russische übersetzt hatte.4 In den späten 1870er und in den 1880er Jahren beschäftigte sich Tolstoj intensiv mit dem Buddhismus, was sich in seinen Tagebüchern und Briefen niederschlug. Er las eine ganze Reihe übersetzter Werke von renommierten Buddhismus-Forschern, wie Eugène Burnouf, Carl Friedrich Koeppen, Friedrich Max Müller, Hermann Oldenberg und Rhys Davids.5 Ihn faszinierten der zeitlose Charakter des buddhistischen Denkens und die Ablehnung von Riten, Wundern und Dogmen. Der Buddhismus entsprach Tolstojs Idealvorstellung von einer allgemeingültigen, vernünftigen und prak-

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Tolstojs Auseinandersetzung mit Philosophie und religiösen Traditionen

tischen Religion, welche die Menschen auffordert, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Außerdem glaubte Tolstoj bei Buddha Parallelen zum eigenen Lebensweg entdeckt zu haben. Die Vorstellung, der Welt abzuschwören und einen entlegenen Ort aufzusuchen, um dort über den Sinn des Lebens zu meditieren, wie es Buddha und die heiligen Männer Indiens getan hatten, faszinierte ihn.6 Und so überrascht es nicht, dass Tolstoj in seiner Beichte neben Sokrates, Salomo und Schopenhauer auch Sakyamuni (ein Beiname Buddhas) zu seinen geistigen Lehrern zählt (PSS 23: 22). Die Beichte, die einzelne Aspekte von Tolstojs innerer Suche thematisiert, entstand in einer Zeit, als der Autor eine geistige Krise durchmachte und seine Wertvorstellungen einer umfassenden Revision unterzog. Tolstoj fühlte sich bestärkt durch Buddhas Weisung, »sich vom Leben zu befreien« (PSS 23: 26), und fügte diese Haltung in eigene Worte: »Glücklich, wer nie geboren wurde, der Tod ist besser als das Leben; man muss sich von diesem befreien« (PSS 23: 27). Nachdem Tolstoj bei Buddha eine Bestätigung seines Gedankens gefunden hatte, dass das Leben nur eine endliche Reise, der Tod aber die ewige Zuflucht sei, intensivierte er sein Buddhismus-Studium in den 1880er Jahren. Er beabsichtigte, seinen Lesern die Weisheit des Ostens in einer möglichst einfachen und eingängigen Form näher zu bringen.7 1885/86 begann Tolstoj mit seiner Arbeit am Werk Siddharta, genannt ›Buddha‹, d.h. der Heilige, einer Schilderung des Lebens und der Lehre des großen Meisters (PSS 25: 540–543, 659–662).8 Die Buddha-Vita wird darin wie eine Volkslegende erzählt, bar aller mystischen, irrationalen oder übernatürlichen Elemente. Es ist die Geschichte eines Mannes, der zum Nutzen seiner Mitmenschen die Gesellschaft von allem Übel befreien will. Zwar hat Tolstoj das Werk nie vollendet, doch verfasste er stattdessen kürzere Arbeiten. 1905 schrieb er für seinen Lesezyklus den Artikel »Buddha«, worin er das Wesen des Buddhismus erläutert und auf die Notwendigkeit hinweist, durch Enthaltsamkeit, wie sie der Buddhismus lehrt, die verderblichen Triebe des Fleisches zu besiegen (PSS 41: 96–101).9 Und 1909–10 redigierte er Pavel Bulanˇzes Traktat Das Leben und die Lehre von Siddharta Gotama, genannt Buddha (der ›Makellose‹), zu dem er auch das Vorwort schrieb.10 In Bulanˇzes Buch wird Buddha als idealer Mensch dargestellt, der es versteht, seine Mitmenschen mit Vernunft und pädagogischem Geschick zu leiten. Hier kommt der Buddhismus den religiösen Idealvorstellungen Tolstojs sehr nahe, besonders in Bezug auf seine »Allgemeingültigkeit, seinen Appell an die Vernunft als höchste Instanz wider die religiöse Diskriminierung sowie sein lebensbejahendes, aktives Streben nach Läuterung, gemäß dem Vorbild Buddhas und seiner Anhänger«.11 Noch klarer als in seinen Schriften über Buddha und den Buddhismus zeigt sich Tolstojs Auffassung buddhistischer Konzepte in seinen Überset-

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zungen und Adaptionen von Erzählungen. Ein Schlüsselkonzept, das »Karma«, erläutert Tolstoj in seiner Übertragung der gleichnamigen Erzählung von Paul Carus (PSS 31: 47–56).12 Das Thema von Carus’ Erzählung aus dem Jahr 1894 ist die individuelle Verantwortung für begangene Taten. Obwohl alle Figuren in der Erzählung nach dem Guten streben, wird es nur jenen zuteil, die uneigennützig und zum Wohl der gesamten Menschheit handeln. So werden Personen geschildert (wie etwa der Weise Narada, der Juwelier Pandu oder der Bauer Devalu), die ihre selbstsüchtigen, egoistischen Triebe überwinden und zur Wahrheit vorstoßen. Andere dagegen (wie der Diener Magaduta oder der Räuber Kandata) gehen elend zugrunde. Diese Erzählung beeindruckte Tolstoj derart, dass er sie übersetzte und ein Vorwort dazu verfasste. Tolstoj erklärt den Begriff »Karma« als Gesetz von Ursache und Wirkung, das sich in den Folgen von Handlungen manifestiert: Alle guten Taten werden demnach das Schicksal im nächsten Leben positiv beeinflussen, während sich schlechte Taten negativ im nächsten Leben auswirken (PSS 31: 47).13 Eine ähnliche Anziehungskraft wie das »Karma« übte auf Tolstoj auch das buddhistische Konzept der Einheit allen Lebens aus. Die Erzählung Das bist du eines anonymen deutschsprachigen Autors illustriert das Prinzip der Einheit allen Lebens und wurde von Tolstoj im Jahre 1903 übersetzt (PSS 34: 138–140).14 Darin sucht ein Tyrann nach der grausamsten Methode, wie er an seinem Feind Rache nehmen kann. Der Weise, den der Tyrann zu diesem Zweck um Rat angeht, gibt ihm zu verstehen, dass er und sein Feind im Grunde genommen ein einziges Wesen seien. Der Tyrann vermag für einen Moment das Einssein mit seinem Feind zu spüren, was ihn dazu bringt, sich mit ihm zu versöhnen, Sinn und Zweck des Lebens zu erkennen und den Pfad zum ewigen Frieden einzuschlagen (PSS 34: 140). Im Sanskrit wird dieses Konzept durch die Formel »Tat tvam asi« (die Einheit der Seele, auch »Atman«) ausgedrückt.15 Davon inspiriert schrieb Tolstoj die Kurzgeschichte Asarhaddon, König von Assyrien, die von zwei verfeindeten Königen handelt, Asarhaddon und Laïlieh. Asarhaddon obsiegt, und der unterlegene Laïlieh soll hingerichtet werden. Daraufhin entschließen sich die beiden, ihre Rollen zu tauschen. Dieser Rollentausch initiiert die geistige Wende des siegreichen Asarhaddon, welcher realisiert, dass er und sein Feind ein einziges Wesen sind: »Das Leben in dir kannst du nur dadurch verbessern, dass du die Schranken niederreißt, die dein Leben von anderen Wesen trennen, dass du die anderen Wesen als Teil deiner selbst erkennst und sie liebst« (PSS 34: 129). So lautete Tolstojs Plädoyer für eine allumfassende Liebe. Diesem Gedanken begegnen wir in einer Reihe seiner Werke wieder, wie etwa in Wovon die Menschen leben (1881) und Herr und Knecht (1895). In all diesen Erzählungen streicht Tolstoj den Gedanken heraus, dass sich kein Mensch vom anderen unterscheide, da alle Lebewesen ein und demselben Lebens-

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quell entsprängen und von ein und derselben lebensspendenden Energie geschaffen seien. Aber um dies auch realisieren zu können, muss man sich, nach Tolstojs Auffassung, zuerst von seinem Ich befreien. Ansonsten bringe einen dieses Ich dazu, dass man sich mit dem eigenen Fleisch gleichsetze und nur nach dem persönlichen Vorteil strebe. »Buddha sagt, dass das Glück darin besteht, anderen möglichst viel Gutes zu tun. Wie seltsam dies bei oberflächlicher Betrachtung auch anmuten mag, so ist es doch zweifelsohne wahr; Glück ist nur dann möglich, wenn man das Streben nach persönlichem, egoistischem Glück aufgibt«.16 Der Lossagung vom eigenen Ich, das der Vereinigung mit allem Leben im Wege steht, ist die buddhistische Legende Kunalas Augen gewidmet, die Tolstoj übersetzt hat.17 In dieser Erzählung wird der Prinz Kunala geblendet, da er die Liebe der Königin nicht erwidert. Erst nachdem er sein Augenlicht verloren hat, ist Kunala imstande, die eigentliche Wahrheit zu erblicken und die höhere Wirklichkeit zu erfahren. Deshalb empfindet er Dankbarkeit für seine Blendung, da er erst durch den Verlust des Augenlichts die Wonne der absoluten Wahrheit verspüren kann. Das Thema dieser Erzählung ist die »Aufgabe des egozentrischen Daseins als Voraussetzung für das wahre Glück«.18 Von einem ähnlichen Bedürfnis, sein Ich aufzugeben und Friede und Glück zu erfahren, handelt auch Tolstojs Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886), in welcher der Titelheld im Angesicht des Todes auf sein Leben zurückblickt und erkennen muss, dass er ein falsches Leben gelebt hat, da all seine Wertvorstellungen auf Irrtümern beruhten. Er schließt Frieden mit seinem inneren Ich und wartet auf den Tod. Ivan Il’iˇc ist, wie die Mehrheit der positiven Figuren Tolstojs, ja wie der Autor selbst, auf der Suche nach einem durch Selbstbeschränkung sinnerfüllten Leben. All diese Figuren finden ihren inneren Frieden, als sie ein enthaltsames Leben zu führen beginnen und das Streben nach persönlichem Gewinn, nach Reichtum und Ruhm aufgeben. Tolstoj selbst, der ebenfalls nach dem Sinn des Lebens suchte, fand einige seiner Fragen in östlichen Religionen beantwortet, namentlich im Buddhismus, von dem er sich in gewissen Aspekten des Lebens leiten ließ und der ihm half, Ordnung in sein Seelenleben zu bringen und sich auf den Tod vorzubereiten. Tolstojs religiöse Suche konzentrierte sich auf die religiösen Universalien, d.h. auf den ethisch-moralischen Kern, der allen Religionen gemeinsam ist und Aldous Huxleys Philosophia perennis (1945) sehr nahe kommt.19 Tolstoj beurteilte die Weltreligionen danach, wie sehr sie die philosophia perennis akzentuieren und auf Dogmen, Riten und Wunder verzichten. Nach Tolstojs Auffassung muss eine ideale Religion allgemeingültig, vernunftbetont und praktisch sein und ihren Anhängern abverlangen, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Auch an den Buddhismus stellte Tolstoj diese Anforderungen, wobei ihn der frühe Buddhismus (Hinayana) mit seiner Vernunftbetontheit besonders anzog.

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Für Tolstoj war »Religion Bewusstsein derjenigen Wahrheiten, die allen Menschen gemeinsam und verständlich sind, in jeder Situation und zu jeder Zeit, und die genauso unzweifelhaft sind wie die Tatsache, dass zwei mal zwei vier ergibt« (PSS 63: 339). Ein solches Bewusstsein kann für Tolstoj keinem blinden Glauben entspringen, sondern nur einem Glauben, der sich mit der Vernunft gepaart hat. Tolstoj stützte sich bei seiner Buddha-Biographie auf die frühen Schriften (Hinayana), die nicht die Göttlichkeit Buddhas in den Mittelpunkt stellen, sondern seine Lehre, die durch menschliche Erfahrung verifizierbar ist. Der frühe Buddhismus kennt keine Wunder, Rituale oder Dogmen und entspricht damit Tolstojs Idealvorstellung einer Religion. Der spätere Buddhismus (Mahayana), der Buddhas Göttlichkeit herausstreicht und den Riten, Wundern und Dogmen eine größere Bedeutung beimisst, war für Tolstoj dagegen eine Verfälschung der ursprünglichen Lehre. Trotz dieser Kritik spürte Tolstoj eine große Affinität zu den Grundlagen des Buddhismus und fand in Buddhas Streben nach der Wahrheit ein Identifikationsmodell für den eigenen Lebensweg. Wie Buddha erfuhr auch Tolstoj in Bezug auf das Leben eine umfassende Desillusionierung. In seinem Vorwort zur Christlichen Lehre schreibt er: »[…] ich begriff, dass das Einzige, was ich nach diesem sinnlosen, unglücklichen Leben zu erwarten habe, Leiden, Krankheit, Alter und Auslöschung sind« (39: 117). Auf seiner lebenslangen Suche gelangte Tolstoj indessen zur Erkenntnis, dass dauerhaftes und ewiges Glück nur durch die Aufgabe des eigenen Ich möglich ist, sodass sich der Geist (oder Atman / Brahman) vom Körper und der äußerlichen Welt befreien kann. Er kam zum Schluss, dass eine wahrhaftige Befreiung nur dann möglich sei, wenn man allen Träumen und Sehnsüchten entsagt habe. Am Ende seines Lebens wollte er seine Seele befreien, und so trat er seine letzte Reise an und ließ Ruhm und irdischen Besitz hinter sich. Es ist offensichtlich, dass viele Elemente des Buddhismus mit Tolstojs eigener Philosophie kompatibel waren oder vielmehr mit der philosophia perennis, wie er sie verstand, zum Beispiel die Ablehnung von Krieg und Töten, das Gebot, sich dem Bösem nicht mit Gewalt zu widersetzen, die Absage an die materielle Welt, das Bedürfnis, Mitleid zu empfinden und Gnade zu erweisen. Tolstoj war auch fasziniert von der Lehre vom »Nirvana«, dem Bewusstseinszustand der absoluten Harmonie, den man erreicht, wenn man sich von all seinen Unzulänglichkeiten befreit hat. Obgleich Tolstoj also der buddhistischen Weltanschauung wohlwollend gegenüberstand, konnte er die buddhistische Entwertung des menschlichen Daseins als eines Zustands des Leidens und Verzagens nicht akzeptieren. In den verschiedenen Varianten des Buddhismus, mit denen er sich beschäftigte, versuchte Tolstoj stets, die »wahren« Lehren Buddhas herauszufiltern und mit seinen eigenen religiös-philosophischen Ansichten in Einklang zu

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bringen. Nach seiner Überzeugung konnte jedoch keine Religion alle Ideale abdecken, welche die Menschheit anstreben soll. Deshalb arbeitete er in seinem letzten Lebensjahrzehnt an einer unvollendet gebliebenen Darstellung der wesentlichen philosophischen und spirituellen Erkenntnisse, die er aus dem Traditionsgut verschiedener Religionen zusammentrug und als Richtschnur für seine Leser konzipierte. Darin hat Tolstoj auch manche Grundprinzipien des Buddhismus aufgenommen: so das Gesetz von Ursache und Wirkung einer jeden Handlung, die Einheit und Allumfassenheit des Bewusstseins sowie die Überzeugung, dass man sich dem Bösen nicht widersetzen solle und der materiellen Welt entsagen müsse, um Gott näher zu kommen.

Anmerkungen 1 A.I. Shifman, Lev Tolstoy and India, Delhi 1978, 22. 2 P. Birukoff, Tolstoi und der Orient. Briefe und sonstige Zeugnisse über Tolstois Beziehungen zu den Vertretern orientalischer Religionen, Zürich/Leipzig 1925, 10f. Auch Romain Rolland verweist in einem »La réponse de l’Asie à Tolstoy« betitelten Kapitel seiner Tolstoj-Biographie auf diese Episode: R. Rolland, La Vie de Tolstoï, éd. revue et augmentée, Paris 1928, 214. Vgl. A.I. Shifman, Lev Tolstoy and India, 10. 3 A.I. Shifman, Lev Tolstoy and India, 13. Laut Sˇifman erschien diese Übersetzung im vierten Band der Annales du Musée Guimet. Die Lalitavistara ist ein zentraler buddhistischer Text in Sanskrit. Diese Buddha-Biographie ist eine ergiebige Quelle zur Kultur- und Sozialgeschichte Indiens in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt. Die Lalitavistara ist weder ein unifizierter Text noch das Werk eines einzelnen Autors. Unbekannt ist auch, wann die Redaktion, die uns heute vorliegt, entstanden ist. Es handelt sich um eine Kompilation von Überlieferungen unterschiedlicher Entstehungszeit, die nebeneinander angeordnet wurden; siehe: www.ibiblio.org/radha/ rpub007.htm. 4 D. Milivojevi c, ´ Leo Tolstoy and the Oriental Religious Heritage, New York 1998, 2. 5 Ebd. Für eine vollständige Liste der Literatur über den Buddhismus in der Bibliothek von Jasnaja Poljana siehe: V.F. Bulgakov, Knigi ob Indii v biblioteke L.N. Tolstogo, in: Kratkie soobˇscˇ enija Instituta vostokovedenija 31, 1959 sowie die Dissertation von E.Ju. Petrova, Rossijsko-indijskie istoriˇceskie svjazi v dokumentach i materialach archivov L.N. Tolstogo i muzeja-usad’by »Jasnaja Poljana«, Moskau 2003, 22–39. 6 A. Syrkin, The »Indian« in Tolstoy (Part two), in: Wiener Slawistischer Almanach 24, 1989, 65–86. Der Autor weist darauf hin, dass Tolstojs Wunsch, der Welt zu entsagen, mit zunehmendem Alter immer stärker wurde und dass er sich diesen Wunsch schließlich kurz vor seinem Tod durch seine »Flucht« aus Jasnaja Poljana auch erfüllt hat. 7 D. Milivojevi c, ´ Leo Tolstoy and the Oriental Religious Heritage, iii. 8 Vgl. I.A. Bunin, The Liberation of Tolstoy: A Tale of two Writers, Evanston, Illinois 2001, xxv. S. auch PSS 25: 887–890. 9 Vgl. A.I. Shifman, Lev Tolstoy and India, 18. 10 I.A. Bunin, The Liberation of Tolstoy. A Tale of two Writers, xxv. 11 D. Milivojevi c, ´ Leo Tolstoy and the Oriental Religious Heritage, 5.

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P. Carus, Karma, a Story of Buddhist Ethics, Chicago 1894. Vgl. D. Milivojevi c, ´ Leo Tolstoy and the Oriental Religious Heritage, 9, Anm. 29. Vgl. a.a.O., 165. Siehe auch die Erläuterung des Sanskrit-Ausdrucks »Tat tvam asi« im Chandogya Upanishad (www.aspiringindia.org/upanishads/the_principal_upanisha ds/chandogya_ upanishad). Diese Aussage Tolstojs hielt Aleksandr Gol’denvejzer am 3. Juli 1900 in seinen Aufzeichnungen fest (A.B. Gol’denvejzer, Vblizi Tolstogo, Bd. 1, Moskau 1922, 35). D. Milivojevi c, ´ Leo Tolstoy and the Oriental Religious Heritage, 163f. A.a.O., 15. A.a.O., 2, Anm. 2.

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3. Rezeption und Wirkung der Theologie Tolstojs

Russische Orthodoxe Kirche

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Georgij Orechanov

Russische Orthodoxe Kirche Die Rezeption der Lehre Tolstojs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts muss im Kontext dreier Paradigmen betrachtet werden, welche sowohl die gesamte religiöse Situation in Russland als auch den Konflikt Tolstojs mit der Russischen Orthodoxen Kirche bestimmt haben: Erstens haben wir es mit der Lehre des Schriftstellers selbst zu tun, die er für das wahre Christentum, ja in gewissem Sinne für das Urchristentum hielt und welche eine ausgesprochen kirchenfeindliche Tendenz aufweist. Zweitens geht es um die diffusen religiösen Vorstellungen der »gebildeten Minderheit«, der russischen Intelligencija, die sich zwar nur schwer zu einem Gesamtbild fügen lassen, aber doch gleichzeitig durch eine Reihe ganz konkreter historischer und kultureller Faktoren bedingt wurden. Und drittens muss man das Beziehungsgeflecht zwischen Kirche und Staat im Blick haben, das sich in Russland zu Beginn der 1860er Jahre herausgebildet hatte und das man in gewisser Weise als Staatschristentum bezeichnen kann. Den ersten beiden Paradigmen ist der Umstand gemeinsam, dass sie in einem religiösen Vakuum entstanden sind, das in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre in Russland entstanden war. Dieses Vakuum kann als Krise und Wendepunkt in der russischen Geistesgeschichte betrachtet werden – eine Krise, die in hohem Maße durch die Enttäuschung der Hoffnungen der »1860er-Generation« hervorgerufen wurde. Chronologisch fällt diese Entwicklung zusammen mit der religiösen Suche Tolstojs, die ihn schließlich zum Bruch mit der Kirche und ihrer Lehre führte. Von daher ist auch die vorwiegend apologetische Ausrichtung der Polemik zu verstehen, welche die kirchlichen Autoren gegen Tolstoj führten: Es ging darum, die Doktrin der Kirche gegen einen in der russischen Geistesgeschichte beispiellosen Angriff zu verteidigen, der alle zentralen Bereiche des kirchlichen Lebens in Frage stellte – die Glaubenslehre, die Hierarchie, den Gottesdienst und die Tätigkeit der Geistlichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es wohl keinen anderen Autor, dem die Professoren der russischen geistlichen Akademien und die russischen Philosophen so viel Aufmerksamkeit widmeten. Tolstoj war damals ein Hauptthema in den wissenschaftlichen und polemischen Abhandlungen der orthodoxen theologischen Literatur und den orthodoxen Massenmedien. Pål Kolstø zählt um die Jahrhundertwende allein von Autoren,

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die sich als Anhänger der Orthodoxen Kirche bezeichneten, 85 Bücher und Broschüren sowie 260 Artikel gegen Tolstoj. Kolstø weist indes auch darauf hin, dass mit Ausnahme der Kazaner Zeitschrift Glaube und Vernunft theologische Fachzeitschriften wie die Moskauer Theologische Sammlung und die Arbeiten der Kiever Geistlichen Akademie in dieser Frage nicht besonders aktiv waren.1 Wie Kolstø überzeugend dargelegt hat, lassen sich die Autoren der kritischen kirchlichen Literatur gegen Tolstoj in drei Gruppen einteilen: – Forscher und Geistliche, die einen Zusammenhang zwischen Tolstojs Tätigkeit und den Krisensymptomen innerhalb der russischen Kirche sahen und darauf hinwiesen, dass das religiöse Schaffen des Schriftstellers – entgegen dessen eigener Meinung – von der orthodoxen Tradition abhängig sei (Bischof Antonij [Chrapovickij], Prof. Sergej Bulgakov und Prof. . Vasilij Ekzempljarskij, dem wegen seiner Ansichten sogar die Lehrerlaubnis an der Kiever Akademie entzogen wurde); – erbitterte Kritiker von Tolstojs Lehre (das war die mit Abstand größte Gruppe); – Autoren, welche die beiden o.g. Standpunkte kombinierten (v.a. Vladimir Solov’ev).2 Für heutige Kirchenkundler ist Tolstoj v.a. als historische Persönlichkeit von Interesse, als einzigartiges Phänomen in der russischen Geschichte, als große Herausforderung für die russische Kirche, als Ausdruck einer spezifischen religiösen Krise, einer Krise der Kirchlichkeit und der Spiritualität. Die Erforschung dieses Phänomens ist in erster Linie mit der Rezeptionsgeschichte des berühmten Beschlusses verbunden, den der Hl. Synod im Februar 1901 gefasst hat (f 240).

Exkommunikation oder Lossagung? Die Frage nach den Motiven für den synodalen Beschluss Nr. 557 vom 20.–22. Februar 1901 »über den Grafen Lev Tolstoj« beschäftigt die Historiker bis heute, da viele Einzelheiten nie restlos geklärt worden sind. Zwei Umstände trugen zur Zuspitzung des Konfliktes bei: Zum einen ist die Veröffentlichung des Romans Auferstehung zu erwähnen, der zwei antikirchliche Kapitel enthält (f 234–239; PSS 32: 134–139); zum anderen bestärkte die Ausweisung einiger engster Mitarbeiter Tolstojs (Vladimir Cˇertkov u.a.) im Jahre 1897 den Autor in seinem Entschluss, den Kampf gegen das »Regime« aufzunehmen.

Russische Orthodoxe Kirche

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Es ist bezeichnend, dass bis zum Jahr 1899 keine Maßnahme konsequent umgesetzt wurde, die für den Schriftsteller mit Repressalien verbunden gewesen wäre. Dies gilt sowohl für den ersten Versuch einer Exkommunikation Tolstojs, der 1899 von Erzbischof Amvrosij (Kljuˇcarev) unternommen wurde und in Form eines schroff formulierten Schreibens in der Zeitschrift Glaube und Kirche3 bekannt gemacht wurde, wie auch für eine geheime Bulle, die der Vorsitzende des Hl. Synods, Metropolit Ioannikij (Rudnev), aus Anlass der Erkrankung und eines möglichen baldigen Todes Tolstojs im März 1900 an die Bischöfe versandte. Offenbar brachte erst ein Brief von Metropolit Antonij (Vadkovskij) an den Oberprokuror Konstantin Pobedonoscev vom 11. Februar 1901 den Stein ins Rollen.4 Der Metropolit teilte seinem Korrespondenten mit, dass alle Mitglieder des Synods übereingekommen seien, am Vorabend der »Woche der Orthodoxie« das Urteil der Kirche über Tolstoj im Kirchlichen Nachrichtenblatt zu veröffentlichen. In seinen Memoiren weist Vasilij Skvorcov, ein synodaler Missionar und enger Mitarbeiter Pobedonoscevs, darauf hin, dass in den ursprünglichen, vom Oberprokuror verfassten Text Korrekturen von Metropolit Antonij und anderen Synodalen eingefügt worden seien, die »den Tonfall und die Aussage der Bulle mildern sollten, um keine Bannbulle, sondern eher ein Memorandum über die Lossagung Lev Tolstojs von der Kirche und seine Trennung von der Kirche zu erlassen – und nicht zuletzt einen Aufruf zur Buße«.5 Wenn man den Text des Entwurfs der Exkommunikation6 mit der endgültigen Fassung vergleicht, lässt sich eine allgemeine Tendenz feststellen: Die Verfasser der endgültigen Variante waren darum bemüht, alles, was eine Exkommunikation auch nur andeuten könnte, aus dem Text zu tilgen. Und so stellt sich die Frage, inwiefern der synodale Beschluss aus dem Jahr 1901 überhaupt als Exkommunikation des Schriftstellers gedeutet werden kann? Dazu lassen sich folgende Feststellungen treffen: Die Kirche war sehr darauf bedacht, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Deshalb ersetzte man die Wörter »Anathema« (anafema) und »Exkommunikation« (otluˇcenie) konsequent durch den neutraleren, aber weniger eindeutigen Terminus »Trennung« (ottorˇzenie). So war denn die Resolution ihrer Form nach ausgesprochen milde und vorsichtig formuliert. In dieser Hinsicht ist Ludolf Müller zuzustimmen. Es sei kein Zufall, meint er, dass das Dokument keinerlei formale Anzeichen einer Bannbulle aufweise; die sieben Bischöfe, die das Schriftstück unterzeichneten, hätten alles getan, um den Eindruck einer Exkommunikation zu vermeiden. Im Gegensatz zur Auffassung vieler zeitgenössischer Beobachter und der unter heutigen Forschern und Verehrern des Schriftstellers weit verbreiteten Meinung sei das Ziel der Bischöfe, die das Dokument unterzeichneten, nicht der Ausschluss Tolstojs aus der Kirche gewesen, vielmehr habe man mit Bedauern feststellen wollen, dass Tolstoj sich selbst von ihr getrennt habe.7

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Andererseits ist der synodale Beschluss im Gegensatz zur Bulle von Metropolit Ioannikij aus dem Jahr 1900 der Form nach ein kirchliches Bekenntnisschreiben, das keine Zweifel offen lässt, was seine kirchenkanonischen Folgen betrifft: Es gibt unmissverständlich zu verstehen, dass Tolstoj im Falle seines Todes ohne Widerruf sowohl ein christliches Begräbnis als auch ein Totengebet verwehrt bleiben würden. Gleich nach dem Erscheinen von Tolstojs Antwort auf den Beschluss des Synods (f 240–248; PSS 34: 245–253) nahm der Bischof von Jamburg, Sergij (Stragorodskij), Stellung und betonte, dass der synodale Beschluss von 1901 das »äußerliche Äquivalent einer Exkommunikation« bilde und für den Schriftsteller zur Folge habe, dass ihm kirchliche Privilegien verwehrt seien, in erster Linie die Teilnahme an den Sakramenten und ein kirchliches Begräbnis. Obwohl die Erklärung über die Lossagung »ihrer Form nach recht milde« erscheine, sei eine Exkommunikation »ihrem eigentlichen Sinne nach weit weniger tragisch«.8 Zusammenfassend kann man sich der Meinung William Nickells anschließen: Obwohl die Mitglieder des Hl. Synods sich große Mühe gaben, dem synodalen Beschluss eine möglichst gemäßigte Form zu verleihen, wurde er von der überwiegenden Mehrheit der Zeitgenossen als Bannbulle aufgenommen.9 Der synodale Beschluss vom 20.–22. Februar 1901 spielte eine wichtige Rolle im weiteren Leben des Schriftstellers: Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass Tolstoj die kirchliche Resolution gleichgültig zur Kenntnis genommen habe, war er im Innersten zutiefst verletzt und gekränkt. Auch wenn Tolstoj selbst und seine Angehörigen, darunter seine Gattin Sof ’ja Andreevna, mit Nachdruck beteuerten, dass er ruhig und freudig lebe und sich dem Tod genauso ruhig und freudig nähere, wie es im Schlussteil der Antwort auf den Beschluss des Synods heißt (f 248; PSS 34: 253), so entsprach dies nicht den Tatsachen: Der synodale Beschluss traf Tolstoj offensichtlich tief, und seine Antwort zeugt davon, wie gründlich der Schriftsteller das Dokument studiert hat. Dieser Umstand war für Tolstojs letzte Lebensjahre von großer Bedeutung.

Tolstoj und die russische Geistlichkeit (1901–1910) Flucht und Tod Dass der Konflikt Tolstojs mit der russischen Geistlichkeit eskalierte, lag zunächst am offiziellen Auftreten des Hl. Synods. Doch kurz nach dessen Beschluss veröffentlichte Tolstoj eine ganze Reihe von Aufsätzen, die sich nicht nur gegen die Kirche richteten, sondern dabei auch ausgesprochen polemisch und aggressiv formuliert waren: An den Zaren und seine Gehilfen (1901), Über die Glaubenstoleranz (1901) und Was ist Religion und worin be-

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steht ihr Wesen? (1901/02). Den krönenden Abschluss bildete sein Aufruf An die Geistlichkeit aus dem Jahr 1902 (f 249–269; PSS 34: 299–318). In diesem Pamphlet fasst Tolstoj seine Vorwürfe gegen den Klerus in prägnanter Form zusammen, wobei er besonders die Täuschung des Volkes und die Verdummung der Kinder anprangert. Er bezeichnet die Tätigkeit aller Geistlichen als unmoralisch und ruft dazu auf, ein für alle Mal damit aufzuhören. Nur einen einzigen Ausweg gebe es: »Je schneller sich diese Befreiung durch den Austritt aufgeklärter, guter Menschen aus dem geistlichen Stand vollzieht, desto besser« (f 268; PSS 34: 318). Dennoch hatte Tolstoj auch in den letzten zehn Jahren seines Lebens intensiven Kontakt mit Geistlichen. Von besonderem Interesse ist dabei seine Begegnung mit Erzbischof Parfenij (Levickij), welche am 20. Januar 1909 in Jasnaja Poljana stattfand. Anhand der spärlichen Quellen, die über dieses Treffen existieren, gibt ein Zeitgenosse die Ansichten und Methoden des späten Tolstoj wie folgt wieder: Tolstoj hielt zwar an seinen weltanschaulichen Prinzipien fest, fand es aber unnötig, die Orthodoxe Kirche aktiv zu bekämpfen, und zweifelte stark daran, ob seine Schriften für antiklerikale Propaganda unter dem Volk geeignet seien.10

In der Tat finden sich nach der Lehre Christi, dargestellt für Kinder (1907/08) in der Gesamtausgabe Tolstojs keine Schriften mehr, die gegen die Kirche gerichtet sind. In der Haltung, welche die russische Geistlichkeit gegenüber Tolstoj einnahm, lassen sich drei unterschiedliche Positionen ausmachen: Erstens wurde die Lehre Tolstojs aufs Heftigste kritisiert und der Schriftsteller an den Pranger gestellt. Sein strengster Ankläger war dabei der hl. Ioann von Kronˇstadt (1829–1908). In seinen Predigten und Tagebuchaufzeichnungen formulierte er die beiden wichtigsten Prinzipien, die seiner Ansicht nach die öffentliche Meinung in Russland über Tolstoj bestimmten: Die Haltung zu Tolstojs Werk und seiner Tätigkeit sei ein »Lackmustest« für die Kirchlichkeit eines Russen11 und das gebildete Russland ergreife im Konflikt zwischen Tolstoj und der Kirche Partei für den Schriftsteller.12 Zweitens gab es eine Gruppe von Geistlichen, die versuchten, auf den Schriftsteller einzuwirken und ihn zur kirchlichen Buße zu bewegen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist der Erzpriester Dimitrij Troickij, ein einfacher Gefängnispfarrer aus Tula, der sich das seelische Drama des Schriftstellers zu Herzen nahm. In einer nach Tolstojs Tod veröffentlichten Schrift berichtet er, dass die Geistlichkeit von den Angriffen Tolstojs auf die Kirche vollkommen überrascht worden sei: Unser russisch-orthodoxes Hirtenamt war nicht darauf vorbereitet, auf ein solches, in Russland noch nie dagewesenes Phänomen, wie es Tolstoj in seiner extremen Verblendung darstellte, in irgendeiner Art und Weise einwirken zu können.13

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Deswegen versuchte der Erzpriester auch mehrmals, sich persönlich mit dem Schriftsteller zu treffen, allerdings ohne Erfolg.14 Drittens gab es eine Gruppe von Priestern, die mit Tolstoj sympathisierten und seine Ansichten teilten: Aleksandr Apollov, der Schima-Mönch Ksenofont (Vjazemskij) und einige andere. In diesem Zusammenhang ist etwa auch die Episode mit dem »Totenamt« Tolstojs aufschlussreich. Dieses wurde am 12. Dezember 1912 gesprochen; der Name des Priesters, der sich der kirchlichen Subordination widersetzt hatte, wurde lange geheimgehalten. Erst vor kurzem konnte nachgewiesen werden, dass es Grigorij Kalinovskij, ein junger Priester aus dem Dorf Ivan’kovo im Gouvernement Poltava, gewesen war, der das Totengebet für Tolstoj gelesen hatte.15 Aus Tolstojs Korrespondenz mit orthodoxen Geistlichen lassen sich indes keinerlei Hinweise entnehmen, dass er etwa vor seiner Flucht aus Jasnaja Poljana eine kirchliche Buße in Betracht gezogen hätte. Die Gründe für Tolstojs Flucht aus Jasnaja Poljana sind für die Analyse seines Konflikts mit der Kirche von grundsätzlicher Bedeutung. Wenn man bedenkt, welch wichtiges Ereignis die Angriffe des Schriftstellers auf die Kirche in Russland darstellten und welche Bedeutung dem Beschluss des Hl. Synods im Jahr 1901 zukam, kann man nur darüber spekulieren, wie die öffentliche Resonanz auf eine Rückkehr des Schriftstellers in den Schoß der Kirche ausgefallen wäre. Der Dichter Vladislav Chodaseviˇc betont ganz zu Recht, dass dieses hypothetische Ereignis »weitreichende Konsequenzen gehabt hätte, nicht nur für ihn selbst, sondern für ganz Russland, für sein gesamtes religiöses, geistiges und vielleicht sogar politisches Schicksal«.16 Das ist auch der Grund, weshalb Tolstojs Flucht aus Jasnaja Poljana in der kirchlichen Presse in ideologischen Oppositionspaaren beschrieben wurde: »Tragödie oder Triumph«, »Flucht oder Pilgerfahrt«, »Suche nach einem neuen literarischen Sujet oder nach einem Ausweg aus der geistigen Sackgasse«? Heute weiß man, dass Tolstoj nach seiner Flucht aus Jasnaja Poljana mit den Starzen von Optina sprechen wollte. Doch er konnte sich nicht dazu überwinden, die Schwelle der Einsiedelei zu übertreten, wo eine Begegnung mit ihnen möglich gewesen wäre.17 Kurz vor seinem Tod in Astapovo versuchten kirchliche Repräsentanten, sich mit Tolstoj zu treffen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Dies belegen die Telegramme, die der Optinaer Starez Iosif (Litovkin),18 Metropolit Antonij (Vadkovskij)19 und der Tambover Bischof Kirill (Smirnov)20 nach Astapovo schickten. Im Auftrag des Hl. Synods fuhr sogar Starez Varsonofij (Plichankov) aus Optina nach Astapovo, doch sein Versuch, zum sterbenden Schriftsteller vorgelassen zu werden, blieb erfolglos.21 Varsonofij war mit einer außerordentlichen Vollmacht ausgestattet: Er brachte die heiligen Gaben mit für den

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Fall, dass Tolstoj Buße tun sollte. Dabei hätten allein die Worte »ich bereue« (kajus’) ausgereicht – als Zeichen dafür, dass Tolstoj seiner Lehre abgeschworen hätte, um vom Starzen die letzte Kommunion zu empfangen.22 Doch alle Bemühungen Varsonofijs wurden von einem Kreis enger Vertrauter, die den Autor von der Umwelt abschirmten, vereitelt. So kam es, dass der berühmte Schriftsteller, dessen Flucht aus Jasnaja Poljana von der ganzen Welt mitverfolgt wurde, die letzten und entscheidenden Momente seines Lebens in tragischer Einsamkeit verbrachte. Er erfuhr nichts von den Versuchen verschiedener Menschen, in den letzten Stunden seines Lebens, mit ihm in Kontakt zu kommen. Vladimir Cˇertkov, der engste Adept und Erbe Tolstojs, und eine kleine Gruppe von Leuten, die dessen Einfluss unterstanden, isolierten den Schriftsteller vollständig von der Außenwelt. Er hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit, sich von seiner Frau zu verabschieden. Der Kreis der Entfremdung, der Tolstoj umgab, hatte sich endgültig geschlossen.

Tolstoj und die Russische Orthodoxe Kirche heute Die russische Kirche im 20. Jahrhundert hat schließlich das kraftvolle Stimulans zur Fortentwicklung erkannt, dass Tolstojs Kritik an der kirchlichen Doktrin in sich birgt: »Das erstarrte religiöse Leben, das den lebendigen, dynamisch-schöpferischen Ursprung des Dogmas in tote, ausgetrocknete, ja nahezu sinnentleerte Worte verwandelte«,23 hat im 20. Jahrhundert eine Entwicklung »durch Wort und Tat« erfahren: durch das Wort in den Schriften russischer Theologen (in erster Linie seien hier die Vertreter der Pariser Schule genannt – die Erzpriester Georgij Florovskij, Sergij Bulgakov und Vasilij Zen’kovskij sowie Ivan Il’in) und durch die Tat in der selbstaufopfernden Askese der Neumärtyrer und Bekenner, welche den Zweifeln und Fragen Tolstojs eine überzeugende Antwort erteilen. Aus bekannten Gründen war eine objektive historische Aufarbeitung von Tolstojs Konflikt mit der Russischen Orthodoxen Kirche bis Anfang der 1990er Jahre nahezu unmöglich. In jüngster Zeit zeichnen sich in der Diskussion dieser Frage zwei Tendenzen ab: Entweder wird das religiöse Schaffen des Schriftstellers seinem Inhalt nach als christlich oder gar als orthodox qualifiziert, was die Frage aufwirft, weshalb die Kirche ihn nicht als einen der »ihren« annehme, oder man spricht Tolstojs Werk jegliche religiöse Grundlage ab und verneint daher, dass Tolstoj für die theologischen Disziplinen einen angemessenen Forschungsgegenstand bilden könne. Hinzu kommt, dass die Führung der Russischen Orthodoxen Kirche von verschiedenen Seiten dazu aufgerufen wird, die Exkommunikation Tolstojs

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aufzuheben, mit dem Hinweis auf die hypothetische Möglichkeit, der Schriftsteller hätte auf dem Sterbebett bereuen können. Bezeichnenderweise wird diese Hypothese nicht im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses aufgeworfen. Sie erklingt vielmehr in den Diskussionen über die Rolle der Orthodoxen Kirche im heutigen Russland und hat somit einen eher publizistischen Charakter. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass der synodale Beschluss von 1901 als »eine der skandalösesten Seiten« in der russischen Kirchengeschichte bezeichnet wird24 und dass die Kirche mit Nachdruck dazu aufgerufen wird, ihre Haltung gegenüber Tolstoj zu überdenken: Tolstoj kann nicht mehr für sich selbst sprechen. Die russische Kirche hingegen könnte das sehr wohl. Ist es nicht langsam an der Zeit, Tolstoj als einen großen russischen Christen zu verstehen und zu akzeptieren, der in seiner Lehre vom Gebot der Liebe und vom Nichtwiderstehen gegen das Böse das unerschöpfliche humanistische Potential der russischen Orthodoxie zum Ausdruck gebracht hat?25

Leider verfügt die Forschung über keinerlei eindeutige Beweise dafür, dass sich Tolstojs Haltung gegenüber der Russischen Orthodoxen Kirche in den letzten Jahren seines Lebens geändert habe. Und deshalb wäre auch die Aufhebung des synodalen Beschlusses von 1901 durch die Kirche ein Zeichen von Respektlosigkeit gegenüber dem Willen, der Freiheit und dem Andenken des Schriftstellers, ganz zu schweigen davon, dass dies vom liturgischen Standpunkt aus völlig sinnlos wäre, weil orthodoxe Totengebete darauf abzielen, was Tolstoj selbst verneinte: den christlichen Glauben an die Auferstehung Christi und die Buße. Ludolf Müller hebt denn auch diesen Aspekt hervor: Man würde Tolstoj Gewalt antun, wenn man ihn ohne seine Zustimmung auf dem Sterbebett mit der Kirche »versöhnen« wollte, und man würde ihm ebensolche Gewalt antun, wenn man die »Versöhnung« mit der Kirche hundert Jahre nach seinem Tode, gegen seinen zu Lebzeiten geäußerten Willen, herbeiführen würde. Dieser Konflikt sei nicht mit solch fragwürdigen Mitteln zu lösen, indem man Tolstoj postum zu jemandem mache, der bereut habe.26 Müller ist vielmehr der Ansicht, dass die Kirche über Tolstoj keine Strafe verhängt habe, die hundert Jahre später einer Aufhebung bedürfe. Ungeachtet dessen steht außer Zweifel, dass Tolstojs Werk für Kirchenhistoriker seit jeher von großem Interesse war und immer noch ist. Dabei ist nicht nur Tolstojs Biographie im Kontext des intellektuellen Klimas der Epoche und des damaligen Staatskirchentums von Interesse, sondern auch der soziale Aspekt der tolstojschen Lehre, der durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener kulturhistorischer Faktoren bedingt war.

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Anmerkungen 1 P. Kolstø, The Demonized Double. The Image of Lev Tolstoi in Russian Orthodox Polemics, in: Slavic Review 65, 2006, 305. 2 A.a.O., 307. 3 Vera i Cerkov’ 1, 1903, 165–167. 4 G.I. Petrov, Otluˇcenie L’va Tolstogo ot Cerkvi, Moskau 1978, 28f. 5 Kolokol 1915, 10. November, 1. 6 Otdel rukopisej Gosudarstvennogo muzeja im. L.N. Tolstogo (Moskau; OP GMT), F. 1, Kp. 4784: Delo o grafe L’ve Tolstom Svjatejˇsego Pravitel’stvujuˇscˇ ego Sinoda, 1901 g. 7 L. Müller, Die Religion Tolstojs und sein Konflikt mit der Russischen Orthodoxen Kirche, in: K. Pinggera (Hg.), Russische Religionsphilosophie und Theologie um 1900, Marburg 2005, 7. 8 Zapiski peterburgskich Religiozno-filosofskich sobranij 1901–1903, Moskau 2005, 72f. 9 W. Nickell, Transfigurations of Tolstoy’s Final Journey. The Church and the Media in 1910, in: Tolstoy Studies Journal 17, 2006, 35. 10 A. Starodub, Lev Tolstoj i episkop Parfenij (Levickij). K voprosu o »zagadke predsmertnogo begstva Tolstogo« (= www.krotov.info/history/20/1900/starodub_tolstoy. html [06. 10. 2009]). 11 Vgl. K.I. Zajcev, Tolstoj, kak javlenie religioznoe, in: Russkie mysliteli o L’ve Tolstom. Sbornik statej, Jasnaja Poljana 2002, 520. 12 Ioann Kronˇs tadtskij, Christianskaja filosofija. Izbrannye raboty, Moskau 2004, 406f. 13 D. Troickij (prot.), Pravoslavno-pastyrskoe uveˇscˇ anie grafa L.N. Tolstogo, Sergiev Posad 1913, 7. 14 A.a.O., 16. 15 V.N. Cˇisnikov, Tajnoe otpevanie na mogile L.N. Tolstogo 12 dekabrja 1912 goda, in: Neva 9, 2008, 220ff. Vgl. A. Bronzov, »Otpevanie« grafa Tolstogo, in: Christianskoe cˇ tenie 2, 1913; V.N. Cˇisnikov, Svjaˇscˇ enik, pomolivˇsijsja o greˇsnoj duˇse raba Boˇzija L’va, in: Novyj zˇ urnal 1, 1993. . 16 V.F. Chodasevi cˇ , Uchod Tolstogo, in: ders., Knigi i ljudi. Etjudy o russkoj literature, Moskau 2002, 251. 17 D.P. Makovickij, U Tolstogo 1904–1910. Jasnopoljanskie zapiski, hg. v. der Akad.d.Wiss., Bd. 4, Moskau 1979 (= Literaturnoe nasledstvo, 90), 403–405. 18 Smert’ Tolstogo, Moskau 1928, 93. 19 A.a.O., 70. 20 A.a.O., 90, 149. 21 A.a.O., 163f. 22 Otdel rukopisej Gosudarstvennogo muzeja im. L.N. Tolstogo (OP GMT), F. 1, Nr. 39675, Bl. 10v–11. 23 V. Svencickij, Poloˇzitel’noe znaˇcenie L’va Tolstogo (K vos’midesjatiletnemu jubileju), in: Tolstoj. Novyj vek 1, 2005, 27. 24 V. Alekseev, Lev Tolstoj i Cerkov’ (K voprosu ob otluˇcenii L.N. Tolstogo ot Cerkvi) (= www.krotov.info/history/20/1900/alek2005.htm [06. 10. 2009]). 25 V.N. Nazarov, Metafory neponimanija. Lev Tolstoj i Russkaja Cerkov’, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra. Liˇcnost’ i tvorˇcestvo L’va Tolstogo v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej. Antologija, St. Petersburg 2000, 821. 26 L. Müller, Die Religion Tolstojs und sein Konflikt mit der Russischen Orthodoxen Kirche, 8f.

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Regula Zwahlen

Russische Religionsphilosophie Lenin hat seine religiös argumentierenden Zeitgenossen gern als weltfremde Leute dargestellt, die sich aus den Turbulenzen ihrer Zeit in spekulative Gedankenexperimente zurückgezogen hätten. Er wusste allerdings sehr wohl um deren Anziehungskraft. Über Nikolaj Berdjaev (1876–1948) schrieb er schon 1901: »Mir ist zu Ohren gekommen, dass die russische Leserschaft geradezu in Berdjaev verliebt sei. Er ist jemand, den wir zerschlagen müssen, und zwar nicht nur seine Philosophie.«1 Die meisten dieser Denker hatten wie Lenin in marxistischen Studentenkreisen verkehrt, weil sie von der Dringlichkeit sozialen Wandels überzeugt waren. Auf verschiedene Weise – häufig durch die Lektüre der Werke Dostoevskijs und Tolstojs – erkannten sie aber im sozialrevolutionären und atheistischen Denken bald menschenfeindliches Potential. So taten sie fortan ihre Auffassung kund, dass sich soziale Anliegen mit religiösen Argumenten weit überzeugender untermauern ließen, auch wenn die Kirche bisher dafür noch wenig getan habe. Als entscheidende Katalysatoren des »neuen religiösen Bewusstseins« vieler russischer Intellektueller können der Religionsphilosoph Vladimir Solov’ev (1853–1900) und Lev Tolstoj beziehungsweise dessen Exkommunikation durch die Russische Orthodoxe Kirche gelten (1901). In den meisten Fällen argumentierten die neuen Religionsphilosophen im Gegensatz zu Tolstoj nicht kirchenfeindlich, sondern nahmen an der allgemeinen Kirchenreformdebatte in der russischen Öffentlichkeit teil.2 Als »Religionsphilosophie« und nicht als Theologie wird ihr Denken deshalb bezeichnet, weil sie über keine theologische Ausbildung verfügten und außerhalb der kirchlichen Akademien und Priesterseminare wirkten. Obwohl sie den Dialog mit der russischen orthodoxen Geistlichkeit explizit suchten, verharrte diese bis auf wenige Ausnahmen in skeptischer Distanz zu den »religiösen Revolutionären«.3

Vladimir Solov’ev und Lev Tolstoj Solov’ev und Tolstoj hatten sich derselben Aufgabe gewidmet: Sie wollten zeigen, wie ein aktives christliches Leben in dieser Welt und nicht erst im Jenseits verwirklicht werden kann. Dabei kamen sie zu sehr unterschied-

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lichen Schlüssen: Tolstoj lehrte den Rückzug zur eigenen Scholle und die Ablehnung staatlicher Institutionen, Solov’ev rief zur aktiven Gestaltung von Kultur und Staat auf. Sehr deutlich zeigt sich dieser Unterschied in ihrer Haltung zum Recht: Tolstoj bezeichnete es als »institutionalisierte Gewalt«, Solov’ev als einzige Möglichkeit, ein Minimum moralischer Forderungen durchzusetzen.4 Solov’evs und Tolstojs persönliche Bekanntschaft ist zu Beginn von gegenseitiger Faszination, schon bald aber von immer schärferer Polemik geprägt. Hatte Tolstoj Solov’evs Freidenkertum in der Dissertation Die Krise der westlichen Philosophie (1874) noch gelobt, so retournierte er 1877 Solov’evs Buch Die philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens aufgrund »unerträglicher Langeweile«. Nachdem er eine der berühmten Vorlesungen über das Gottmenschentum Solov’evs (1877–81) besucht hatte, bezeichnete Tolstoj diese als »Kinderzeug und Irrengeschwätz« (PSS 62: 413). 1884, nach einer weiteren Begegnung mit Solov’ev, meinte er: »Ich brauche ihn nicht, er ist schwerfällig und erbärmlich.« (PSS 49: 81) Im selben Jahr kommentierte Solov’ev Tolstojs Traktat Mein Glaube (1883/84) mit den Worten: »Was röhrt das Tier im tauben Walde?«5 Folgende Elemente der Lehre Tolstojs konnte Solov’ev gemäß Aleksej Losev (1893–1988) nicht akzeptieren: das unpersönliche Gottesbild, das Ignorieren übernatürlicher Wunder in den Evangelien, die Zivilisations- und Fortschrittskritik, die Lehren der Vereinfachung und des Nicht-Widerstands, die Ideologie des patriarchalen Bauerntums und die vegetarische »Reispuffer-Mystik«.6 Dabei störte Solov’ev vor allem, dass Tolstoj seine Morallehre nicht zur Diskussion stellte, sondern als »gereinigtes Christentum« und somit als absolute Wahrheit verkündete. Gerade aufgrund Tolstojs Berühmtheit hielt Solov’ev dessen willkürliche gedankliche Schnellschüsse mit Berufung auf die Autorität Christi für verantwortungslos.7 Im Artikel Idole und Ideale (1891) führte Solov’ev aus, wie Tolstojs Lehre der Vereinfachung direkt ins buddhistische Nirvana führe und zudem die hungernden Bauern verhöhne – im Winter 1891 herrschte in Russland eine verheerende Hungersnot. 1894 startete Solov’ev einen Versöhnungsversuch, indem er Tolstoj in einigen Briefen zu überzeugen versuchte, die Auferstehung Christi in seine Lehre zu integrieren. Da der Erfolg ausblieb, wurde der Bruch Solov’evs mit Tolstoj endgültig. Solov’ev hat diese Auseinandersetzung auf literarische Weise in seinen Drei Gesprächen über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist (1900) dargestellt. Teilnehmer dieser Gespräche ist unter anderen »ein junger Fürst, Moralist und Volksfreund [narodnik], der verschiedene mehr oder weniger gute Broschüren über sittliche und gesellschaftliche Fragen herausgibt«. Es handelt sich unverkennbar um Tolstoj, dessen Lehre des Nicht-Widerstands gegen das

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Böse von Herrn Z., dem »Sprachrohr« Solov’evs, widerlegt wird: Gewaltanwendung werde durchaus zur christlichen Pflicht, wenn damit größeres menschliches Leiden verhindert werden könne.8 Solov’ev ging hier soweit, die Lehre Tolstojs als »Verfälschung« der Lehre Christi zu entlarven: Tolstoj sei zwar nicht der Antichrist selbst, liege aber ganz auf dessen Linie.9 Um die Jahrhundertwende, im revolutionär gärenden Russland, ist diese Aussage nicht etwa distanziert-ironisch, sondern todernst gemeint.10 Tolstoj hingegen vermerkte am 19. Dezember 1906 in seinem Tagebuch: »Ich habe mich oft über die Ideenkonfusion solch kluger Leute wie Vladimir Solov’ev gewundert (dazu würde auch Bulgakov gehören, wenn ich ihn für klug hielte)« (PSS 55: 286). Sergej Bulgakov war einer der treuesten Nachfolger Solov’evs, von denen in der Folge die Rede sein wird.

Die Religiös-Philosophischen Gesellschaften Der Wille, Gesellschaft, Staat und Kirche nicht nur zu kritisieren, sondern tatkräftig zu verändern, bewog viele neu am Christentum interessierte Intellektuelle dazu, Tolstoj zwar für die Aufrüttelung ihres religiösen Gewissens zu danken, geistig aber in die Fußstapfen Solov’evs zu treten. Den atheistischen Sozialrevolutionären wollten sie beweisen, dass das Christentum nicht Opium für das Volk sei, sondern zu sozialem Engagement aufrufe.11 Aus dieser Einsicht zogen die einen den Schluss, dass mit der »historischen« Institution der Kirche gebrochen und ein »Neues Religiöses Bewußtsein« geschaffen werden müsse. Dieser Aufgabe widmete sich die St. Petersburger Religiös-Philosophische Gesellschaft um Dmitrij Mereˇzkovskij (1866–1941). Diese Gesellschaft reagierte außerdem auf Tolstojs Schrift Was ist Kunst? (1897/98): Tolstoj hatte hier verkündet, subjektiver Kunstgenuss sei dekadent (so auch sein eigenes literarisches Schaffen), wahre Kunst müsse immer den Bedürfnissen des Volkes dienen; Schönes und Gutes seien unvereinbar (vgl. f S. Sasse, Kunst). Die Petersburger konzentrierten sich in der Folge auf die Verteidigung eines eigenständigen Wertes der Kunst, welche – so auch die Auffassung Solov’evs – die Fähigkeit habe, die Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem zum Ausdruck zu bringen.12 Die andere Gruppe religiöser Intellektueller fühlte sich von der Tradition der Russische Orthodoxen Kirche angezogen. Sie befasste sich mit dem Erbe der Kirchenväter und suchte bei ihnen Argumente für eine Kirchenreform. Die Kirche sollte nicht mehr der Legitimation staatlicher Interessen, sondern eigenständig der Verbesserung der sozialen Verhältnisse und dem Staat als »Gewissen« dienen. Zu diesem Zweck wurde 1905 in Moskau die Religiös-Philosophische Vladimir Solov’ev-Gesellschaft gegründet, in der die Ver-

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einbarkeit von russischer Orthodoxie, politischem Liberalismus und russischem Patriotismus diskutiert wurde.13 Einige ihrer Mitglieder etablierten 1910 den religiös-philosophischen Verlag Put’ (Weg), in dem nach dem Band Zu Vladimir Solov’ev (1911)14 auch der Sammelband Zur Religion Lev Tolstojs (1912)15 erschien. Solche Sammelbände waren populär, weil sich hier diverse bekannte Autoren zur religiösen Deutung einer aktuellen Frage äußerten (zum Beispiel 1906 Gegen die Todesstrafe16). Zielgruppe war ein intellektuell gebildetes, an religiösen Fragen interessiertes Publikum. Der Band zu Ehren des 1910 verstorbenen Tolstoj sollte dessen »eigentlichem Anliegen«, nämlich der »religiösen Erweckung der zeitgenössischen Gesellschaft«, dienen, gleichzeitig aber die Irrtümer des Tolstojanertums bekämpfen.17 Im Vorwort wurde Folgendes klargestellt: »Die Religion Tolstojs ist nicht unsere Religion. Seine Ablehnung des Glaubens an Christus als Sohn Gottes, Retter und Erlöser und an Seine Kirche zieht eine unüberwindliche Grenze zwischen der Religion Tolstojs und unserem Verständnis des Christentums.«18 Dennoch fühlte sich die Russische Orthodoxe Kirche durch den Band stärker gekränkt als die Tolstojaner selbst19 und verbot den Professoren der Geistlichen Akademien die Teilnahme an den Aktivitäten der Solov’evGesellschaft.20

Philosophische Literaturkritik Literarischen Themen und Autoren widmeten sich viele russische Denker schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Angeregt von der begeisterten Rezeption vor allem deutscher Philosophen (insbesondere Hegels, Schellings, Schopenhauers und Nietzsches), suchte man nach »eigenen« Quellen philosophischen und religiösen Denkens. Man fand sie – aufgrund der Zensur und der restriktiven Kontrolle des Bildungswesens – nicht in der akademischen Philosophie, sondern in der russischen Literatur. Die Gegenüberstellung von Tolstoj und Dostoevskij wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem häufigen Motiv solcher Abhandlungen. Das Ziel, anhand der Werke großer Autoritäten die eigene weltanschauliche Position zu legitimieren, diente allerdings selten einer ausgewogenen Darstellung. Den Stein ins Rollen gebracht hatte Vasilij Rozanovs (1856–1919) Essay Die Legende vom Großinquisitor F.M. Dostoevskijs im Jahr 1891: Im Unterschied zum harmonisierenden Tolstoj analysiere Dostoevskij in seiner Prosa das Gebrochene des menschlichen Daseins.21 Mereˇzkovskij trug in seinem Werk Tolstoj und Dostoevskij (1901) seine Idee vom »religiösen Bewusstsein einer universalen Kultur« als Synthese von Fleisch und Geist vor. Tolstoj bezeichnete er dabei als »Seher des Fleisches«, Dostoevskij als »Seher des Geistes«.22 Tolstojs Figu-

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ren könnten sich nie von der Macht ihres natürlichen, sinnlichen Daseins befreien – anschaulichstes Beispiel dafür sei der Selbstmord Anna Kareninas.23 Rozanov und Mereˇzkovskij lösten eine Kaskade philosophischer Interpretationen aus, in denen die Schriftsteller als Vermittler, ja als Propheten betrachtet wurden, die in ihrem Werk die Grenzen zwischen Idealismus und Materialismus aufhoben: Das Interesse galt einer Synthese von Kant und Marx.24 Danach strebten alle russischen Religionsphilosophen, welche die sozialen Forderungen des Marxismus beibehielten, diesen aber mit geistigen, ästhetischen und religiösen Bedürfnissen in Einklang bringen wollten.

Die Auseinandersetzung mit Tolstoj Tolstojs Bruch mit seinem bisherigen literarischen Schaffen enttäuschte sie deshalb besonders. Im Band Zur Religion Lev Tolstojs schrieb Aleksandr Glinka-Volˇzskij (1878–1940), dass Tolstojs Kunst paradoxerweise vor seiner religiösen Umkehr zutiefst lebensnah und christlich-orthodox gewesen sei, erst danach habe er sich von christlicher Dogmatik und Metaphysik, und vor allem von wahrhaft christlicher Demut entfremdet.25 Die Kritik der Religionsphilosophen bezog sich deshalb vor allem auf Tolstojs Spätwerk. Gemäß . Vladimir Ern (1882–1917) bestand die Tragik Tolstojs darin, dass er fern seiner Berufung gestorben sei, die im künstlerischen Ausdruck der russisch-or. thodoxen Lebensweise bestanden habe.26 Vasilij Ekzempljarskij (1875–1933) zufolge war aber nicht nur Tolstoj an der heftigen Konfrontation mit der Kirche schuld: Zu oft habe diese Lehren verkündet, die mit dem Evangelium . nicht vereinbar seien. Ekzempljarskij wollte zeigen, dass Tolstojs moralische Forderung, die Gebote der Bergpredigt lebenspraktisch umzusetzen, durchaus mit den Lehren der Kirchenväter vereinbar seien; Tolstojs Verurteilung der Patristik beruhe auf Unkenntnis und Missverständnissen.27 Tatsächlich ging Tolstoj auf diverse Versöhnungsversuche orthodoxer Priester nicht ein. Rozanov schrieb hierzu: Sie haben einander nicht verstanden; ja gar nicht gekannt. Also trennten sie sich. Das hatte auf der einen Seite den Kirchenbann (die Exkommunikation Tolstojs), auf der anderen Seite fundamentale Geringschätzung zur Folge (Tolstojs Verhältnis zur Kirche).28

Erst drei Monate vor Tolstojs Tod machte ihn sein Nachbar Mitrofan Lodyzˇ enskij (1852–1917) auf die Philokalia (Dobrotoljubie) aufmerksam, eine Anthologie mit Schriften orthodoxer asketischer Schriftsteller aus dem 4.–15. Jahrhundert, die seit 1877 in modernem Russisch vorlag und von den Religionsphilosophen eifrig studiert wurde. Tolstoj hatte dieses Werk zuvor nicht gekannt und zeigte großes Interesse.29 Diesen möglichen Anknüp-

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fungspunkt kaum ahnend, haben die meisten religiösen Denker versucht, die Kommunikation zwischen dem Anliegen Tolstojs – der Suche nach dem guten Leben – und der Kirche wiederherzustellen. Insofern ist ihre Kritik an Tolstoj nicht als Einstimmen in den reaktionären Kirchenchor zu verstehen, sondern als Formulierung dessen, was sie selbst als die »Wahrheit der christlichen Lehre« verstanden. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass Tolstojs Lehre aufgrund ihrer Aufrichtigkeit »volksnaher« war als der staatstreue Hl. Synod.30 Die Auseinandersetzung mit Tolstojs Religion bot eine geeignete Projektionsfläche für die Kernfragen der zeitgenössischen russischen Philosophie: Erstens das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft, zweitens die Relation zwischen Geist und Natur, drittens der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, und viertens Ziel und Zweck des menschlichen Schaffens, der Kultur. Anhand der unterschiedlichen Interpretationen Tolstojs zeigt sich die russische Religionsphilosophie nicht als homogene Einheit, sondern macht die Vielfalt der individuellen Anliegen ihrer Vertreter deutlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Tolstojs literarischem Werk und dem hohen ethischen Anspruch seiner Moral Hochachtung zollen, in Abgrenzung von ihm aber den kirchlichen Dogmen (v.a. dem Glauben an die Trinität, die Gottmenschlichkeit Christi und die Auferstehung der Toten) treu bleiben wollten. Seine Geringschätzung der letzteren betrachteten sie als tragisches, durch kirchenpolitische Fehlinterpretationen hervorgerufenes Missverständnis.

Glaube und Vernunft Sergej Bulgakov (1871–1944) brachte die am weitesten verbreitete Haltung gegenüber Tolstojs Religion auf den Punkt: »Die Religion Tolstojs ist im Wesentlichen eine Religion der Selbstgerechtigkeit und Selbsterlösung durch die Vernunft und vernünftiges Verhalten.«31 Dieses Urteil unterstreicht er mit einem Tolstoj-Zitat: »Christus lehrt die Menschen keine Dummheiten zu machen. Darin besteht der einfache, allen zugängliche Sinn der Lehre Christi«.32 Tolstojs Religion sei fern jeder Metaphysik und Mystik der christlichen Offenbarung und habe mit dem Christentum nur noch die Ethik gemein.33 Berdjaev betont, dass die Lehre von Christi Erlösung für Tolstoj ein Ärgernis sei, weil sie den Menschen der Eigenverantwortung für sein Tun enthebe. Nicht durch die Person Christi, sondern durch die Erfüllung der Gebote Christi werde der Mensch in Tolstojs Religion erlöst.34 Dass Tolstoj damit in eine Sackgasse gerate, wird für Bulgakov in Tolstojs späten Erzählungen Der Teufel (1889) und Vater Sergij (1899) offensichtlich: Alle Protagonisten verlieren hier den Glauben an Gott und an die Möglichkeit eines moralisch guten Lebens aus eigener Kraft.35

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Fedor Stepun (1884–1965) raisonniert über Tolstojs Faszination für die Volksfrömmigkeit. Erst glaubte Tolstoj zu erkennen, dass die Wahrheit nicht in der Vernunft, sondern im »Glauben des einfachen Volkes« zu finden sei. Schon bald jedoch wandte er sich enttäuscht wieder von ihm ab, weil »das Volk« während der Gottesdienste tratschte. Er erkannte nicht, dass die Authentizität des Volksglaubens gerade im Bedürfnis besteht, seinen Alltag in der Kirche segnen zu lassen, und nicht darin, die Liturgie rational nachzuvollziehen.36 Bulgakov zufolge hat Tolstoj aus seiner Begeisterung für »das Volk« fälschlicherweise geschlossen, dass die physische Arbeit des einfachen Bauern der Schlüssel zum wahren Glauben sei – »als ob es keinen bäuerlichen Atheismus gäbe!« Diese Lehre sei als Religion zu rational, als Lebenshilfe in der Welt hingegen zu irrational.37 Vasilij Zen’kovskij (1881–1962) bezeichnet Tolstoj als »Vernunftmystiker«, dessen angestrengte Sinnsuche einem mystisch-religiösen Bedürfnis, nämlich der Überwindung seiner Todesangst, und keiner rationalen Fragestellung entsprungen sei: Daraus resultierten die vielen Widersprüche seines Denkens, das auf Empirismus und Individualismus beruhe und sowohl die Glaubwürdigkeit der Erfahrungen anderer als auch Offenbarungen aus einer anderen Dimension negiere.38 Auch Semen Frank (1877–1950) betont diese Einseitigkeit Tolstojs. Sie zeuge aber gerade nicht – wie so oft behauptet – von seiner Denkschwäche, sondern im Gegenteil von der ungeheuren logischen Konsequenz seines Denkens.39 Lev Sˇestov (1866–1938), der im Gegensatz zu den oben erwähnten Denkern eifrig die Unvereinbarkeit von Glaube und Vernunft vertrat, kam zum Schluss, dass Tolstojs Aussage »Gott ist das Gute« mit Nietzsches Aussage »Gott ist tot« identisch sei. Auf der Suche nach einem menschenwürdigen Lebenssinn sei bei beiden die Liebe auf der Strecke geblieben: Bei Tolstoj werden sowohl Anna Karenina, die gegen die Prinzipien des Guten verstoßen hat, als auch Ivan Il’iˇc, der ein »moralisch gutes« Leben geführt hat, kaltblütig in den Tod geschickt, ohne dass sie den Sinn des Lebens gefunden hätten. Wie viele andere schließt Sˇestov aus dem literarischen Werk Tolstojs, dass dieser kaum restlos von der Tauglichkeit seines Vernunftglaubens überzeugt gewesen sein könne (vgl. f R. Grübel, Existenzialismus).40 Auch Vla. dimir Ern konstatiert, dass die Unvereinbarkeit Tolstojs mit dem Tolstojanertum offensichtlich sei.41

Geist und Natur Der Kampf gegen den marxistischen Materialismus war ein Kampf für geistige Werte. Für viele Religionsphilosophen war es deshalb besonders störend, dass Tolstoj die geistig-moralischen Werte nicht in der Transzendenz

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verorten wollte. Daher rühren die Bezeichnungen Tolstojs als Seher des Fleisches (Mereˇzkovskij, s.o.), als geistiger Nihilist (Il’in), Pantheist (Berdjaev, Zen’kovskij) oder Physiokrat (Bulgakov). Gemäß Berdjaev ist Tolstoj ein Pantheist, weil in seiner Lehre Gott, das Gute, die Welt(-seele) und die Natur verschmelzen. Er zitiert Tolstoj: »Es entspricht der menschlichen Natur, das zu machen, was am besten ist.« Um die eigene Natur, also das göttliche Gesetz zu erkennen, reiche es, der Stimme der Vernunft zu folgen, alles Böse rühre daher, dass man das eben nicht tue.42 Im Gegensatz zu Berdjaev zieht . Ekzempljarskij diesen Anspruch nicht ins Lächerliche, sondern betont die Übereinstimmung Tolstojs mit der Lehre des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, dass die Gebote Christi das menschliche Leben nicht erschweren, sondern erleichtern, weil sie »natürlich« sind.43 Wie Berdjaev44 moniert auch Zen’kovskij den Verlust des Persönlich-Individuellen in Tolstojs Religion: Gemäß Tolstoj muss sich der Mensch von seiner Persönlichkeit befreien, um als zeitloses »vernünftiges Ich« in der Erkenntnis des Guten an der Ewigkeit teilnehmen zu können. Die Frage der persönlichen Auferstehung stellt sich so nicht mehr.45 Im Gegensatz dazu lobten Frank und Bulgakov Tolstojs Lehre der persönlichen Vervollkommnung, welche zur »geistigen Geburt der Persönlichkeit« beigetragen habe. Dass jeder Mensch die Verantwortung für sein Leben alleine und in Freiheit trage, entspreche der christlichen Lehre vollkommen.46 Tolstoj beginne aber, Methoden und Ziele der geistigen Vervollkommnung zu verwechseln. Die christliche Askese als Methode, geistige Unabhängigkeit von der Natur zu erlangen, macht Tolstoj laut Bulgakov zur sozialen, physiokratischen Utopie:47 Tolstoj zufolge trägt die physische Arbeit des Bauern am besten zur Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse bei. Bulgakov ärgert sich vor allem als Wirtschaftsprofessor über die ökonomische Naivität des Grafen, die zur Lösung der aktuellen sozialen Fragen nichts Praktikables beitrage.48 Für Bulgakov liegt die geistige Aufgabe des Menschen zwar ebenfalls darin, ein kreatives Verhältnis zur Natur zu entwickeln, doch bestehe dies nicht ausschließlich in der Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse. Die Negation geistiger Bedürfnisse, die nicht bloß durch die Einheit mit der Natur zu stillen sind, führt Ivan Il’in (1883–1954) zufolge von der Idee der Askese direkt in einen sentimentalen Hedonismus.49 Laut Zen’kovskij bleibt Tolstoj jedoch bei einem rationalen Spiritualismus stehen, weil er die sinnliche Leiblichkeit des Menschseins ablehnt und die christliche Vorstellung von der »Auferstehung des Fleisches« als ungeheuerlich bezeichnet. Das Christentum hingegen betrachtet den Menschen als Einheit von Geist, Seele und Leib und anerkennt, »wenn Sie so wollen, die relative Wahrheit des Materialismus«.50 Auch Frank kommt zum Schluss, dass Tolstojs betont weltimmanente Moral die von Gott geschaffene Welt paradoxerweise vollkommen ablehnt.51

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Individuum und Gesellschaft Laut Frank verläuft der Graben zwischen Tolstoj und dem Großteil der russischen Intelligenz entlang der Frage, ob persönliche Vervollkommnung oder gesellschaftliches Engagement zu einem besseren Leben führten. Gemeinsam sei beiden Richtungen, dass sie die Unvereinbarkeit des einen mit dem anderen behaupteten.52 Denker wie Frank und Bulgakov suchten hier eine Zwischenposition: Sie verurteilten Egoismus und Anarchie, verteidigten aber einen »religiösen Individualismus«,53 der für das gesellschaftliche Zusammenleben fruchtbar wird. Nach Bulgakov verläuft der Weg der persönlich-sozialen Vervollkommnung entlang einer Diagonalen in einem Koordinatensystem zwischen den vertikalen absoluten Werten Gottes und den horizontalen relativen Werten der Welt. Tolstoj lege die Bergpredigt anarchistisch-absolut aus, weil er keine relativen Werte anerkennen wolle. Die christliche Ethik zeichnet sich laut Bulgakov jedoch gerade dadurch aus, dass sie die Horizontale (Geschichte, Gesellschaft, Staat, Recht, Wirtschaft) als Instrumente zur Verwirklichung des Guten gestalten und nicht radikal negieren will.54 Fürst Evgenij Trubeckoj kritisierte sowohl Tolstojs Anarchismus als auch Solov’evs Theokratie (Unterordnung des Staates unter die Kirche) und plädiert für die Trennung von Kirche und Staat im Namen der Religionsfreiheit.55 Weil Tolstoj die Russen gelehrt habe, passiv auf die Macht der Natur zu vertrauen und nicht persönlich Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, bezeichnet auch Berdjaev Tolstoj als »asozialen Individualisten«56 und gar als »bösen Geist der russischen Revolution«.57 Besonders heftig reagierten fast alle religiösen Denker in der Nachfolge Solov’evs auf Tolstojs der Bergpredigt entnommene Forderung, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen: Il’in wirft ihm charakterlose Feigheit vor,58 . Ern spricht vom kirchlich abgesegneten Krieg zur Verteidigung der »geistigen Schätze des Glaubens«,59 Rozanov erinnert an Jesu wutentbrannte Vertreibung der Händler aus dem Tempel und an die Worte: »Nicht Frieden bringe ich, sondern das Schwert« (Mt 10,34).60 Tatsächlich bewirkte Tolstojs Auslegung der Bergpredigt eine quasi reformatorische, vertiefte Auseinandersetzung mit den Evangelien. Bezüglich des Gewaltverzichts differenzierte Frank als einziger: Tolstoj habe damit das verheerende »fundamentale Axiom« der ganzen radikalen Intelligenz – ob religiös oder atheistisch – bloßgestellt, das da laute: »Der Zweck heiligt die Mittel«. Damit widersetzte sich Tolstoj dem marxistischen Sozialismus, der sozialen Frieden durch den Klassenkampf erreichen wolle. Aber auch Tolstoj habe sich geirrt, indem er gewaltsame Taten pauschal ablehnte. Die entsprechenden Worte des Evangeliums beträfen nämlich die innere Motivation und nicht die äußere Ausführung von Handlungen. Die richtige Lehre vom Nicht-Widerstand gegen das Böse bedeute, dass die Mittel sozialer Tätigkeit ihren Zielen entsprechen

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müssen: Hass kann nicht durch Hass, sondern nur durch Liebe und Sanftmut überwunden werden – auch wenn letztere manchmal auch gewaltsamer Mittel bedürfen (z.B. zur Befreiung eines Opfers aus der Gewalt seiner Peiniger) – aber hoffentlich immer seltener. Ausgerechnet der Anarchist Tolstoj habe damit die beste Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt formuliert.61

Kultur Weil Tolstoj alles als eitle Neugierde verdamme, was nicht unmittelbar der Selbstvervollkommnung diene, bezeichnet ihn Il’in als religiösen, wissenschaftlichen, ästhetischen, staatsrechtlichen und patriotischen Nihilisten.62 Die Kultur mit allen Facetten des menschlichen Schaffens war den russischen Religionsphilosophen ein wichtiges Anliegen. Tolstojs Apotheose physischer Arbeit griff Berdjaev zu kurz: Tolstojs durchaus gerechtfertigte Ablehnung des gottlosen Spießbürgertums der adligen Gesellschaft sei zu einer haltlosen Kritik an jeder Kulturform entartet.63 Bulgakov, sichtlich beeindruckt vom wirtschaftsfördernden Einfluss des »protestantischen Geistes«, verweist auf die Wurzeln der europäischen Kultur im Christentum. Tolstojs weltverneinender Askese hält er Max Webers Begriff einer »innerweltlichen Askese« als historisch-kulturelle Kraft entgegen.64 Die Bergpredigt lehre nicht materielle Vereinfachung und Unwissenheit, sondern geistige Einfachheit und Weisheit. Immerhin leide das russische Volk nicht an kultureller Komplexität, sondern an materieller Armut und mangelnder Bildung. Zu Recht aber habe Tolstoj die materialistische Komfortkultur gegeißelt und sei zum mächtigen Propheten einer »wahren, geistigen Kultur« geworden.65 Auch Vjaˇceslav Ivanov (1866–1949) anerkennt Tolstojs Leistung, die Relativität kultureller Werte bloßgelegt zu haben, die man nicht verabsolutieren solle. Es gehe aber nicht darum, sie deswegen ganz zu verwerfen, sondern sie als Symbole des Absoluten zu verstehen. Dafür sei die Ikone das schönste Beispiel.66 Die russischen religiösen Denker betrachteten Tolstoj als mächtige gesellschaftliche Autorität, der zur rechten Zeit die richtigen Fragen gestellt, darauf aber keine adäquaten Antworten gefunden hat. Berdjaev meint: »Ohne Tolstojs Kritik und Suche wären wir schlechter und wären erst später erwacht. Ohne Tolstoj wäre die Frage der existenziellen und nicht nur rhetorischen Bedeutung des Christentums nicht in ihrer ganzen Schärfe gestellt worden.«67 Wehmütig zitiert Frank den frühen, undogmatischen Tolstoj aus der Erzählung Luzern (1853):

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Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben! […] Und wer hat schon je einen Zustand gesehen, wo Gut und Böse nicht miteinander vermengt wären? (PSS 5: 24f)68

So zeigen sich ausnahmslos alle russischen Religionsphilosophen letztlich überzeugt, dass alle »unvorsichtigen Worte« Tolstojs ihre Kraft verlieren werden.69 Für Tolstoj gelte dasselbe wie für Goethes Faust: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen!«70 Im Namen all des Guten, das Tolstoj geschaffen habe, »möge ihm der Herr verzeihen«.71

Anmerkungen 1 In einem Brief vom 30. Juli 1901 an den »Großvater des russischen Marxismus«, G. Plechanov, V.I. Lenin, Polnoe Sobranie Soˇcinenii, Bd. 46, Moskau 1964, 135. 2 Zar Peter der Große (1672–1725) hatte das Patriarchat abgeschafft und durch den Heiligen Synod ersetzt, was einer faktischen Unterordnung der Kirche unter den Staat gleichkam. Der russische Zar war bis 1917 auch Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche. Die Reformdebatte konzentrierte sich vor allem auf die Trennung von Kirche und Staat. 3 K. Burchardi, Die Moskauer Religiös-Philosophische Vladimir-Solov’ev-Gesellschaft (1905–1918), Wiesbaden 1998, 128, 217–228. Jennifer Wasmuth zeigt allerdings auf, dass sich auch in den Geistlichen Akademien eine Art »liberale orthodoxe Theologie« entwickelt hat, die sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus um Wissenschaftlichkeit bemühte und neue sozialethische Überlegungen anstellte: J. Wasmuth, Der Protestantismus und die russische Theologie. Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2007. 4 A. Schlüchter, Recht und Moral. Argumente und Debatten »zur Verteidigung des Rechts« an der Wende vom 19. und 20. Jahrhundert in Russland, Zürich 2008, 103–109; A. Schlüchter, Zur Verteidigung des Rechts – Die Kritik an Tolstojs Rechtsnihilismus durch Juristen und Solov’ev (= www.jfsl.de/publikationen/2004/ Schluechter.htm [25. 10. 2011]), 3, 5. 5 A.F. Losev, Vl. Solov’ev i ego bliˇzajˇsee literaturnoe okruˇzenie, in: Literaturnaja uˇceba 3, 1987, 151–164; 152. 6 A.F. Losev, Vl. Solov’ev, 154f. Über Tolstojs Vorliebe für Reispuffer statt Fleisch hat sich auch Lenin lustig gemacht: W.I. Lenin, Leo Tolstoj als Spiegel der russischen Revolution, Berlin 1985 [Erstpubl. 1908], 13. 7 K.G. Isupov, Kommentarii, in: ders. (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 879. 8 L. Müller, Einleitung, in: W.S. Solowjew, Kurze Erzählung vom Antichrist, München 1994, 9–11. 9 A.F. Losev, Vl. Solov’ev, 156f. Losev vermutet aber, dass zwischen Tolstoj und Solov’ev mehr Berührungspunkte bestehen, als es scheint. Als Vermittler könne vielleicht ihr positives Verhältnis zu Dostoevskij dienen. 10 Solov’ev bezieht sich auf die Johannesbriefe: »Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichristen gekom-

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men. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. […] Wer ist der Lügner – wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist: wer den Vater und den Sohn leugnet. […] Viele Verführer sind in die Welt hinausgegangen; sie bekennen nicht, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist. Das ist der Verführer und der Antichrist.« 1 Joh 2, 18.22; 2 Joh 1, 7. Dass aber auch Tolstoj den religiösen Sozialismus inspiriert hat, zeigt f Ch. Münch, Religiöser Sozialismus in der Schweiz. Vgl. J. Scherrer, Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen. Die Entwicklung des religiösen Selbstverständnisses ihrer Intelligencija-Mitglieder (1901–1917), Wiesbaden 1973. K. Burchardi, Die Moskauer Vladimir-Solov’ev-Gesellschaft, 127f; E. Gollerbach, K nezrimomu gradu. Religiozno-filosofskaja gruppa »Put’« (1910–1919) v poiskach novoj russkoj identiˇcnosti, St. Petersburg 2000, 24, 29, 37. Die Mitglieder verwehrten sich explizit gegen den negativ konnotierten Begriff »Nationalismus«. O Vladimire Solov’eve [Zu Vladimir Solov’ev], Moskau 1911. O religii L’va Tolstogo [Zur Religion L. Tolstojs], Moskau 1912. In diesem Band erschienen Beiträge von S.N. Bulgakov (L.N. Tolstoj: I. Zum Tod Tolstojs, II. Tolstoj und die Kirche, III. Mensch und Künstler; »Einfachheit und Vereinfachung«), V.V. Zen’kovskij (Die Frage der Unsterblichkeit bei L.N. Tolstoj), E.N. Trubeckoj (Der . Streit Tolstojs und Solov’evs über den Staat), V.I. Ekzempljarskij (Graf L.N. Tolstoj und der Heilige Johannes Chrysostomos über die Bedeutung der Gebote Christi für das Leben), A. Belyj (Lev Tolstoj und die Kultur), N.A. Berdjaev (Das Alte und das Neue Testament im religiösen Bewußtsein Tolstojs), A.S. Volˇzskij (Glinka) (Angesichts . eines Wunders) und V.F. Ern (Tolstoj gegen Tolstoj). M.N. Gernet/O.B. Gol’dovskij/I.N. Sacharovi cˇ , Protiv smertnoj kazni, Moskau 1906. E. Gollerbach, K nezrimomu gradu, 187f. O religii L’va Tolstogo, II. E. Gollerbach, K nezrimomu gradu, 185–188. K. Burchardi, Die Moskauer Vladimir-Solov’ev-Gesellschaft, 245. R.G. Grübel, An den Grenzen der Moderne. Vasilij Rozanovs Denken und Schreiben, München 2003, 274f, 278. J. Scherrer, Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen, 380. U. Spengler, D.S. Mereˇzkovskij als Literaturkritiker. Versuch einer religiösen Begründung der Kunst, Luzern u.a. 1972, 100–108. G. Steiner, Tolstoy or Dostoevsky?, Hardmonsworth 1967 [1959], 15. A.S. Vol zˇ skij (Glinka), Okolo Cˇuda (o Tolstom), in: O religii L’va Tolstogo, Paris 1978,. 196–213; 202. V.F. E rn, Tolstoj protiv Tolstogo, in: O religii L’va Tolstogo, Paris 1978, 214–248; 247. . V.I. E kzempljarskij, Gr. L.N. Tolstoj i sv. Ioann Zlatoust v ich vzgljade na zˇ iznennoe znaˇcenie zapovedej Christovych [Graf L.N. Tolstoj und der heilige Johannes Chrysostomos und ihre Sicht der Bedeutung der Gebote Christi für das Leben], in: O religii L’va Tolstogo, Paris 1978, 76–113; 77, 110–113. Aufgrund dieses Artikels verlor . Ekzempljarskij postwendend seinen Lehrstuhl an der Kiever Geistlichen Akademie. Vgl. f G. Orechanov, Russische Orthodoxe Kirche, 586. V.V. Rozanov, L.N. Tolstoj i Russkaja Cerkov’ [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 426–436; 426. M.V. Lody zˇ enskij, Mistiˇceskaja Trilogija, Bd. 2, Petrograd 1915, 232–248. Beispielhaft dafür ist Rozanovs Kommentar, dass für ihn das Urteil einer unpersönlichen Synode bloß ein theoretisches und daher nicht gültig sei. Er sei überzeugt,

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dass nicht jedes Mitglied der Synode Tolstoj persönlich verurteilt habe. V.V. Rozanov, Ob otluˇcenii gr. L.N. Tolstogo ot Cerkvi [1902], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 423–425. S.N. Bulgakov, Cˇelovekobog i cˇ elovekozver’. Po povodu poslednich proizvedenij L.N. Tolstogo: »D’javol« i »Otec Sergij« [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 617. Bulgakov zitiert aus Tolstojs Mein Glaube: S.N. Bulgakov, Prostota i oproˇscˇ enie, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg, 2000, 274–298; 279 (vgl. PSS 23: 423). S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj, in: S.N. Bulgakov, Tichie dumy, Moskau 1996 [1911], 240. N.A. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo [1912], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 249–250. S.N. Bulgakov, Cˇelovekobog i cˇ elovekozver’, 631. F.A. Stepun, Religioznaja tragedija L’va Tolstogo [Die religiöse Tragödie Lev Tolstojs, 1922], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 445–472; 449–452. S.N. Bulgakov, Prostota i oproˇscˇ enie, 282, 295. V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, in: O religii L’va Tolstogo, Paris 1978 [1912], 29–33. S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo (K 80-letnemu jubileju Tolstogo 28 avgusta 1908), in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 300. L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, München 1994. [1900], übers. v. N. Strasser, 154, 169–173, 224, 252. V.F. E rn, Tolstoj protiv Tolstogo, 215. N.A.. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 251–253. V.I. E kzempljarskij, Gr. L.N. Tolstoj i sv. Ioann Zlatoust, 98–100. N.A. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 247f. V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, 34, 39–45, 54. S.N. Bulgakov, L.N. Tolstoj, 237; S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo, 306. Gemäß dem amerikanischen Ökonomen Henry George (1839–1897), von dem Tolstojs Roman Auferstehung inspiriert war. Die »Physiokratie« geht davon aus, dass Landarbeit die einzige produktive Arbeit ist und deshalb die wirtschaftliche Wertschöpfung einzig im Landwirtschaftssektor erfolgt. S.N. Bulgakov, Prostota i oproˇscˇ enie, 276, 294–295. I.A. Il’in, O soprotivlenii zlu siloj [1925], in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 331–344; 338f. V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, 48, 54–56. S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo, 306. A.a.O., 304. A.a.O., 306. S.N. Bulgakov, Prostota i oproˇscˇ enie, 288–290. E.N. Trubeckoj, Spor Tolstogo i Solov’eva o gosudarstve [1912], in: O religii L’va Tolstogo, Paris 1978, 60, 72. N.A. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 246. N.A. Berdjaev, Duchi russkoj revoljucii, in: P.B. Struve (Hg.), Iz glubiny. Sbornik statej o russkoj revoljucii, Moskau 1991 [1918], 49–90; 79, 81. I.A. Il’in, O soprotivlenii zlu siloj, 341f. . V.F. E rn, Tolstoj protiv Tolstogo, 243. V.V. Rozanov, Eˇscˇ e o gr. L.N. Tolstom i ego uˇcenii o neprotivlenii zlu, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 264–273; 266, 269.

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S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo, 301–303. I.A. Il’in, O soprotivlenii zlu siloj, 332–336. N.A. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 245. Gemäß Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05). S.N. Bulgakov, Prostota i oproˇscˇ enie, 292–298. V.I. Ivanov, Lev Tolstoj i kul’tura, in: L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 572–574. N.A. Berdjaev, Vetchij i novyj zavet v religioznom soznanii L. Tolstogo, 262f. S.L. Frank, Nravstvennoe uˇcenie L.N. Tolstogo, 307f. . V.F. E rn, Tolstoj protiv Tolstogo, 248. Sowohl Fedor Stepun als auch Vjaˇceslav Ivanov zitieren diesen Vers aus dem zweiten Teil von Goethes »Faust« mit Bezug auf Tolstoj: F.A. Stepun, Religioznaja tragedija L’va Tolstogo, 470; V.I. Ivanov, Lev Tolstoj i kul’tura, 563. V.V. Zen’kovskij, Problema bessmertija u L.N. Tolstogo, 58.

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Martin Tamcke

Protestantische Theologie Über Lev Tolstoj kam die deutschsprachige protestantische Theologie nie zu einem einvernehmlichen Urteil. Während sich die einen mit der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Akt der Exkommunikation Tolstojs 1901 solidarisierten, galt er anderen als Denkanstoß, zuweilen sogar als exemplarisch in seinen Antwortversuchen auf die Nöte seiner Zeit. Natürlich hielten besonders jene innere Zwiesprache mit ihm, die wie er für eine Erneuerung der Kirche kämpften, sich gegen autoritäre Strukturen in den Kirchen auflehnten oder einfach nur ein geistig freieres Christentum befürworteten. Zwischen Weltverneinung und Weltbejahung verortete der theologisch selbst umstrittene Albert Schweitzer die ethische Ausrichtung eines jeden Menschen;1 für das eine berief er sich auf Nietzsche, für das andere auf Schopenhauer.2 Schweitzer gehörte zu jenen Theologen, die ein Unbehagen am herkömmlichen Theologiebetrieb verspürten und zu neuen Ufern aufbrachen. Während die Mehrheit der protestantischen Theologen Tolstoj meist nur mit ablehnender Haltung in den Blick nahm und Bedenken an seinem Umgang mit biblischen Texten anmeldete, würdigte Schweitzer schon in seinem Kolleg zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von Reimarus bis zu Gegenwart Tolstoj am 29. Juli 1908 herausgehoben in der Schlussvorlesung ausgerechnet wegen seines Umgangs mit der Schrift. Das ist das Große an Tolstoi: Während alle Theologie die Worte Gottes dadurch entkräftet, dass sie ihre Gedanken hineinlegt, hat er es gewagt, sie zu sehen, wie sie waren und [hat] gewaltiger gepredigt als wir, und hat schreiben können, was er in der ›Auferstehung‹ geschrieben hat. So isoliert Jesus den Menschen. Wer einmal den Worten Jesu ins Auge schaut, der wird niemals ruhig sein ganzes Leben lang. Er wird immer hineingeworfen in den Kampf mit dem absoluten Leben. Die moderne Ethik hat die absoluten Maßstäbe verloren. Die Größe Jesu ist die: Er ist Autorität geworden für den Einzelnen in seiner wahrhaften Menschlichkeit.3

Der sittliche Ernst und die unmittelbare Aufnahme biblischer Gedanken in den eigenen Lebensvollzug waren die vorbildhaften Merkmale an Tolstoj. Dass dabei bereits das Vorbild Tolstoj den eigenen Denkansätzen Schweitzers dienstbar gemacht wird, mindert gerade nicht die positive, wenn auch durchaus begrenzte Würdigung Tolstojs. Zwar bestritt Schweitzer nicht die Größe Tolstojs, doch war sie seines Erachtens begrenzt, da er gerade in dem

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für ihn selbst entscheidenden Konflikt zwischen Weltverneinung und Weltbejahung Tolstoj einseitig auf der Seite der Verneiner sah. Auch die Erneuerung der christlichen Ethik der Liebe durch Leo Tolstoi (1828–1910), so gewaltig der Eindruck ist, den sie hervorruft, kann auf die Dauer nichts ausrichten, weil sie mit Welt- und Lebensverneinung verbunden ist und also nicht auf ein Wirken im Sinn der Kultur hinausläuft.4

Demgegenüber betonte Schweitzer, dass es sich nicht darum zu handeln habe, »Welt- und Lebensverneinung soviel als nur immer möglich als Ethik zur Auswirkung kommen zu lassen«, sondern dass es sich um eine »lebendige und tiefe Ethik« handeln müsse, »die etwas in der Welt ausrichten will« und sich in Welt- und Lebensbejahung begründe.5 Auch wenn Schweitzer hier Tolstoj anhand der Maßstäbe beurteilt, die für ihn selbst in der Entwicklung seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zentral waren, so ist doch gerade die eindeutig positive Würdigung des Ernstes der Suche nach einem Leben, das sich vor den Maßstäben Jesu konsequent zu verantworten sucht, nicht nur für Schweitzer eine elementare Herausforderung und Ansporn gewesen, den ihn selbst hinsichtlich des menschlichen Lebensentwurfs beschäftigenden Fragen nachzugehen und eine praktische Umsetzung von Tolstojs Vorstellungen ins Leben hinein zu wagen. Dabei spielte die vermeintliche Einheit von Person und Werk bei Tolstoj eine besondere Rolle. Eine Trennung von Person und Werk, wie Werner Elert sie im Blick auf Tolstoj ausdrücklich vornahm, um dessen Ansatz als unhaltbar anarchistisch widerlegen zu können, widersprach Schweitzers Anliegen.6 Heinrich Weinel sah als wichtigstes Verdienst Tolstojs an, dass er die »ewige Lebensfrage« wieder in den Mittelpunkt gerückt habe: »Warum soll ich leben?«7 Die christliche Welt, die sich Kirche nennt, ist freilich nur antike Welt im christlichen Gewand; Tolstoi aber predigt die Welt der Liebe ohne Zwang, Gesetz, Recht und Staat, die auch Jesus geschaut hat. Sein Evangelium ist eine gewaltige Bußpredigt wider das gegenwärtige Christentum nicht bloß der griechischen Kirche, eine Aufdeckung der erbärmlichen Mischmaschethik mit derselben unerbittlichen Schärfe, wie sie Nietzsche hat. Aber während aus diesem der Haß des Abgefallenen spricht, redet aus Tolstoi der Ingrimm dessen, der sein Köstlichstes von blinden Blindenführern entstellt sieht. Und diese Liebe, die wie Haß aussieht, wird uns allein zur Erneuerung helfen und zum endlichen Sieg.8

Der von Tolstoj gewiesene sichere Weg zu Gott sei »ein entschlossenes Leben in der Liebe und im Dienst an den anderen«.9 In Tolstoj sah er Jesu Ideal wirken: Jesus wirkt immer noch wie eine Macht der Gegenwart. Als Tolstoi ihm auf dem Bußweg endlich begegnet, so sieht er ihn wie einen Menschen der Gegenwart und wird von ihm unmittelbar ergriffen. Woran liegt das? Doch wohl daran, dass das sittliche Ideal, welches Jesus zeigte und lebte, noch nicht überboten ist, sondern als etwas Zukünftiges wirkt, wie eine wundervolle Aussicht in ein fernes Land der Seligen.10

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Schweitzer und Weinel standen mit dieser Würdigung des Vorbildlichen an Tolstoj in der Nähe jener Theologen, die sich zwecks »Überprüfung des eigenen Standortes« hinsichtlich ihrer Stellung zur Vereinbarkeit von moderner Kultur und Christentum von ihm angesprochen fühlten und sich in ihrer Selbstreflexion vor die Frage gestellt sahen: »Gehen wir mit Tolstoi oder mit Nietzsche?«11 Insbesondere der Umstand, dass Tolstoj »seine Theorie für seine Person in nüchterne, greifbare Praxis umgesetzt« habe, intensivierte das Interesse derer, die nach neuen Wegen eines in die Zeit hineinsprechenden und in der Zeit handelnden Christentums Ausschau hielten.12 Ihm wurde dabei über die kulturellen Grenzen zwischen Russland und Deutschland hinweg zugestanden, dass er schon aufgrund seines Lebensentwurfes »Anspruch« darauf habe, »ernst genommen zu werden«, zumal seinen Idealen »doch ein leises Sehnen in unserer Brust« entgegenkäme, wie Paul Gastrow meinte. Mehr als nur ein leises Sehnen führte Theologen wie Eberhard Arnold an die Seite Tolstojs. Er und andere Initiatoren eines naturverbundenen Lebens, geprägt von religiösem Anarchismus und Pazifismus, suchten die Realisierung der tolstojschen Ideale als ein Teil der ihrigen in Siedlungen zu gestalten und somit umfassend als Impulse zu einer veränderten Lebensführung ernst zu nehmen.13 Gerade das Unbedingte, das Albert Schweitzer alsbald auch in seiner Ethik betonte, war es, das Tolstoj quer stellte zu allen Vernetzungen des Christentums mit der herrschenden Kultur oder des Arrangements mit der Macht in und außerhalb der verfassten Kirchen. Sein Ruf nach Unbedingtheit und Unnachgiebigkeit forderte die bedingte und »auf Kompromisse eingerichtete Welt« heraus.14 So fanden sich auch unter den deutschen protestantischen Theologen gerade solche im Wirkfeld Tolstojs ein, die ihrerseits auf religiöse Erneuerung mit praktischen Konsequenzen für die Gestaltung des individuellen und sozialen Lebens drängten.15 Das entsprach der internationalen Reaktion auf den russischen Dichter, dessen Wirkung auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King hinlänglich bekannt ist16 – seine Wirkung über Albert Schweitzer bis in den politischen Umsturz in der damaligen DDR und in die Landesverfassungen von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen hinein dagegen weniger.17

Konflikt um Bibel, Bergpredigt und Reich Gottes Doch die große Mehrheit protestantischer Theologen fühlte sich vorrangig zur Kritik an Tolstojs theologisch-religiösem Ansatz herausgefordert. Dabei beschränkte sie sich nicht auf die von Seiten protestantischer Theologen erwartbare Zurückweisung der Weltverneinung etwa in Gestalt sexueller

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Keuschheit. Sondern gerade das, was Schweitzer an Tolstoj groß erschien – das schlichte und wörtliche Ernstnehmen biblischer Botschaft – forderte nachhaltig und bis heute anhaltend die Abwehr protestantischer Theologen heraus. In der Gesamtdarstellung protestantischer Ethik durch Dietz Lange wird so der tolstojsche Ansatz als »perfektionistische Deutung« kategorisiert.18 Zwar gesteht Lange ihm zu, »außerordentlich einflussreich gewesen« zu sein, aber Stein des Anstoßes bleibt, dass bei einem solchen Ansatz die biblischen Forderungen als »umstandslos« erfüllbar gelten. In seiner neun Jahre später erscheinenden Glaubenslehre nimmt Lange diese Sicht Tolstojs noch einmal auf, wenn er konstatiert, dass »über den lebenspraktischen Sinn« der neutestamentlichen Forderungen Jesu »in der Geschichte von Theologie und Kirche viel debattiert« worden sei.19 Fast identisch zu seiner Argumentation in der Ethik klassifiziert Lange den Ansatz Tolstojs als »die perfektionistische Interpretation«, die »der älteste Typus« der Interpretation der neutestamentlichen Forderungen sei: »Danach können und müssen die Imperative im wörtlichen Sinn erfüllt werden.«20 Tolstoj erscheint dabei in der Nähe des Pazifismus, aber auch ganz allgemein gesprochen bei all den Ansätzen, die den »weiten Bereich des Sozialen und Politischen« mit einschließen. In immer neuen Variationen hatte schon Helmut Thielicke Tolstoj so eingeordnet und besonders die Parallele zwischen Tolstoj und Gandhi herausgearbeitet.21 Die bis heute in protestantischer Ethik und Theologie anhaltende Diskussion über Tolstojs hermeneutischen Zugang konnte zeitbedingt die unterschiedlichsten Eintönungen erfahren. Während Tolstoj den Erkenntnis- und Lebenshorizont des Lesers zum hermeneutischen Schlüssel des Lesens der Bibel macht, erklärtermaßen mit verschiedenfarbigen Stiften in der Hand, die über den Stellenwert des Textes nach Maßgabe des Verständnisses des Lesers Auskunft geben (f 213f; PSS 39: 115), wo also durch Tolstojs Hermeneutik Leser und Text zum Zweck konkreter Lebensgestaltung in direkte Interaktion gebracht werden, da beharrten und beharren die protestantischen Theologen auf ihrer herkömmlichen akademisch-wissenschaftlichen Hermeneutik.22 Vom konservativen Lutheraner bis zum liberalen Kulturprotestanten erhoben die Theologen Einspruch gegen die vermeintliche Vergesetzlichung der Bergpredigt durch Tolstoj, auch und gerade im Angesicht der Breitenwirkung Tolstojs, der im Jahr 1903 in einer Umfrage des Berliner Tageblatts zum bedeutendsten Mann der Gegenwart gewählt worden war. Seine Botschaft – ob Kreutzersonate oder Auferstehung – erreichte die Menschen, denen sich auch die protestantischen Theologen verpflichtet fühlten. Ernst Troeltsch stellte dazu schlicht fest: Der heutige Mensch empfängt seine moralische Welt- und Menschenkenntnis nicht mehr wesentlich aus der Bibel und etwas auch aus Plutarch und Seneca, sondern aus einer großartigen, die Phantasie überwältigenden Literatur.23

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Nicht zufällig traf er diese Feststellung in unmittelbarer Nähe von Aussagen zu Tolstoj. Und Karl Holl konstatierte gar: »Die Heutigen denken bei der Bergpredigt immer nur an Tolstoi«.24 Daher sahen sich die Theologen nun zu unterschiedlichsten Verketzerungen Tolstojs herausgefordert. Anarchismus und Sozialismus, seine vermeintliche Nähe zu den Bolschewisten, sein Sektierertum: Alles musste dem Ziel dienen, das Fremdartige und Archaische, das nicht den reflexiven Kulturdebatten Entsprechende einzuebnen und zu entkräften. Die Unmöglichkeit, biblischer Forderung im eigenen Leben entsprechen zu können, wurde als hermeneutische Grundannahme gegen Tolstojs Ansatz ins Feld geführt. Selbst der frühe Bonhoeffer argumentierte so gegen Tolstoj: Es ist das größte Missverständnis, wenn man die Gebote der Bergpredigt etwa selbst wieder zum Gesetz macht, indem man sie wörtlich auf die Gegenwart bezieht. Das ist nicht nur sinnlos, weil undurchführbar, sondern erst recht gegen den Geist Christi, der die Freiheit vom Gesetz brachte. Das ganze Leben etwa des Grafen Tolstoj und so mancher anderer ist aus diesem Missverständnis heraus geführt worden. Es gibt im Neuen Testament keine ethische Vorschrift, die wir buchstäblich zu übernehmen hätten oder auch nur übernehmen könnten.25

Für Wilhelm Hermann führte die wörtliche Befolgung der Bergpredigt à la Tolstoj zwangsweise in die »Unwahrhaftigkeit«.26 Artur Titius plädierte ebenfalls für eine der jeweiligen Zeit angepasste Auslegung der Bergpredigt und verurteilte Tolstoj, da dieser »mit passivem Widerstand gegen alle weltliche Gewalt die Ideale des Evangeliums verwirklichen« wolle.27 Carl Stange geißelte die Reduktion der Religion auf Ethik bei Tolstoj.28 Doch gerade das, was die konservativeren Theologen an Tolstoj schreckte, bewegte die progressiveren. So sah Paul Tillich »in der Neuverkündung der Bergpredigt durch Tolstoi« ein Symptom dafür, dass allenthalben »die an Kant orientierte formale Ethik der Vernunft und Humanität durchbrochen« werde und der enge Becher überschäume in einem unerschöpflichen Strom sich neu regender »Liebesmystik, die eine theonome Überwindung der autonomen ethischen Form« bedeute.29 Auf diese Linie von der Mystik zu Tolstoj hatte auch Bonhoeffer hingewiesen, werde doch bei ihm unbedingter »Gehorsam gegenüber den Geboten der Bergpredigt als Alternative zum Christentum« der jeweils zeitgenössischen Kirche gefordert.30 Er sah in Tolstojs Reich-Gottes-Idee eine Etappe ihrer Säkularisierung und rückte ihr Rousseau, Saint-Simon, Marx, die Religiös-Sozialen und die Jugendbewegung an die Seite.31 Tolstoj beschränke sich dabei darauf, »im Gedanken der Bruderliebe das Reich Gottes verwirklicht zu sehen« und so auf dessen Kommen zu hoffen: »Alles Kirchliche fällt hier weg.« In dieser Wahrnehmung war er sich mit Tillich einig, sah doch dieser ebenso die Behandlung der »großen Fragen« der Sozialethik bei Tolstoj

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»ohne Rücksicht auf die Kirchen« erfolgen.32 Auch er sah Tolstojs Ideal »des armen Christus« als Ausdruck des »mystischen Charakters« von dessen Bergpredigt-Ethik, die nicht »ethisch-theologischer« Natur sei, aber »starke Einmischungen eines humanitär-menschlichen Gefühls« beinhalte.33 Wo Bonhoeffer von einer Säkularisierung der Reich-Gottes-Idee sprach, da sprach Tillich von einer »Profanierung der alten religiösen Idee von der vollkommenen Liebesgemeinschaft des vollendeten Gottesreiches«, deren »glänzendste Vertretung« sich in Tolstoj zeige.34 Als religiöser Sozialist aber hatte er sich von Tolstoj hinsichtlich dessen sozialen Gedankengutes abzusetzen. Tolstoj habe nur »scheinbar etwas mit dem religiösen Sozialismus zu tun«, da er ihn aufhebe, insofern er die Rechtsform verneine.35 Es gebe »keinen direkten Weg von der mystischen Gemeinschaftsidee zur politischen Gestaltung«. Ähnlich ambivalent und mit deutlich ablehnender Tendenz stellte sich Ernst Troeltsch zu Tolstoj. Zwar sah er ihn nicht nur als Negativfolie, von der es sich abzusetzen galt, wie dies sein Weggefährte Max Weber tat.36 Aber er klassifizierte das tolstojanische Christentum doch eindeutig als einen radikalen Sektentypus im Gegensatz zur Kultur des Westens.37 Bonhoeffers Rede von »perfektionistischer Sektenbildung«, gar vom »vorwitzigen« Versuch der »Reinigung der Kirche« als einem Unterfangen, »nun endlich das Reich Gottes nicht mehr im Glauben, sondern im Schauen gegenwärtig zu haben«, liegt hier ganz auf der durch Weber und Troeltsch vorgegebenen Linie. Anstatt das Reich Gottes »verhüllt in den Absonderlichkeiten einer christlichen Kirche« zu sehen, manifestiere es sich da »in Moralität und Heiligkeit der Personen«.38 Solche unverkennbar von Askese und Keuschheit geprägte Heiligkeit aber erschien selbst den protestantischen Theologen vor allem unter der Flagge der Einfachheit. Zwar konnten sie diese Konzeption anerkennen, aber doch nur als Unmöglichkeit für den Protestantismus auffassen. Ernst Troeltsch sah in Tolstoj unter anderem konsequent einen Erneuerer der Askese, der den »Gegensatz gegen die ästhetisch-pantheistische Weltseligkeit wieder zum Worte« bringe.39 Er zitierte sogar Tolstoj in einer Rezension, um den Ernst des Glaubens zu unterstreichen: »Glaube ist kein Phantasiespiel, sondern, wie Tolstoi sagt, der Sinn des Lebens«.40 Aber gerade Troeltsch sprach Tolstojs Entwurf die theologische Dimension ab. Zwar sei dessen »Quietismus der Menschenliebe« ernst und streng, aber er kenne »keinen lebendigen Gott und kein ewiges Leben«.41 Auch Bonhoeffers Vergleich der Äußerungen Tolstojs und Luthers zur Musik unterstellt dies indirekt durch die Gegenüberstellung von Tolstojs lebensverneinender Tendenz gegenüber einer vermeintlich lebensbejahenderen, wenn er Tolstoj als nur auf die Menschen zielend beschreibt, wohingegen Luthers Äußerungen zur Musik als Element der Gottgläubigkeit charakterisiert werden.

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Tolstoi hat einmal gesagt, der Zar müsse verbieten, dass Beethoven von guten Menschen gespielt werden dürfe, er errege die Leidenschaften der Menschen zu tief und gefährde die Menschen. Luther hat andererseits oft gesagt, dass die Musik nächst dem Wort Gottes das Beste sei, was der Mensch habe. Sie haben beide etwas Verschiednes im Auge, Tolstoj jene Musik zu Ehren des Menschen, Luther diese Musik zur Ehre Gottes.42

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges schrieb Karl Holl 1922: »Seit elf Jahren ist Tolstoi nun tot« und beeilte sich hinzuzufügen: »Aber seine Gedanken sind nicht tot. Sie fangen erst jetzt an, eine wirksame Macht zu werden; denn jetzt erst beginnen sie, die Gewissen der Menschen ernsthaft zu beschäftigen.«43 Holl aber zielte darauf, die Wirkung Tolstojs als eines Führers in eine gewaltfreie Zukunft zu verneinen. Was ist also Tolstoi? Ein Künstler von Gottes Gnaden, der mit der Wahrhaftigkeit und der Natürlichkeit seiner dichterischen Gestaltung das ganze gespreizte und übersteigerte Schrifttum unserer Zeit hinter sich lässt, ein rührender Prediger der Einfalt des Christentums und ein in seiner inneren Tragik tief erschütternder Mensch, aber doch kein Führer für uns, keiner, der uns den Weg aus der Wirrnis der Gegenwart ins Freie, in die Zukunft zeigen könnte.44

Damit setzte sich Holl auch von Adolf von Harnack ab, der in seinem Buch Das Wesen des Christentums Tolstoj zwar in die Nähe des Gnostizismus rückt45 und die dem Evangelium entnommene Askese und Weltflucht kritisiert,46 zugleich aber Tolstojs Hinweis unkommentiert und zustimmend aufnimmt, dass Geld »geronnene Gewalt« sei,47 und den Respekt für das von Tolstoj entworfene Ideal nicht verweigert: Man kann auch nicht verkennen, dass das asketische Ideal, welches er dem Evangelium entnimmt, warm und stark ist und den Dienst am Nächsten einschließt; aber die Weltflucht erscheint auch bei ihm als das Charakteristische.48

Auch Tolstojs Grundregel, dass dem Bösen nicht widerstanden werden dürfe, verteidigt Harnack, indem er sie unterscheidet von der Position, Bestehendes einfach nur bekräftigen oder konservieren zu wollen.49 Harnack bewundert zudem die in Tolstojs Geschichten bei den russischen Bauern anzutreffende »Kraft des schlichten Gottvertrauens, eine Zartheit der sittlichen Empfindung und eine thatkräftige Bruderliebe«, die »ihren Ursprung aus dem Evangelium nicht verleugnet«. Wo sich solches findet, könne sich »selbst am Idol der Sinn zu dem lebendigen Gott erheben, wenn die Seele überhaupt nur einmal von ihm berührt ist«.50 Harnacks theologiegeschichtlich so bedeutsames Werk schuf damit bei den deutschen Lesern Verständnis für Tolstoj und für die russische Kirche.51 Auch wenn die unter Einbeziehung protestantischer Theologen im Geiste Tolstojs entstandenen Siedlungen eingingen und sich die Hinweise auf das Russische im Werk Tolstojs und damit auf die kulturelle Differenz etablier-

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ten, fand die zuvor so enthusiastisch geäußerte Sicht auf Tolstojs Ideenwelt schon bald wieder intensivere Beachtung. Gerade das Desaster des Zweiten Weltkrieges reaktivierte für deutsche Leser Tolstojs Ideen angesichts des Versagens aller staatlichen und kirchlichen Institutionen. »Die anarchistische Vision von Jasnaja Poljana schwebt heute als geheimes Wunschbild über der dumpfen Angst gequälter Volksmassen vor neuen weltpolitischen Katastrophen«, stellte der darum zu erneuter Apologie gegen Tolstoj ansetzende Werner Elert fest.52 Wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg der Kieler Systematiker Otto Lempp Tolstoj eine Monographie widmete, so auch nach dem Zweiten Weltkrieg der Göttinger Systematiker und Praktische Theologe Martin Doerne.53 Er interpretiert Tolstojs Werk von dessen Biographie her, betont seinen Realismus und die Bedeutung der Todesthematik, thematisiert dann als Ouvertüre zur Frage nach Gott die »Masken des Teufels« und schließlich die Gottesfrage im Kontext von Das Reich Gottes ist in euch.54 Für ihn ist Tolstoj gerade kein Pessimist, sondern der »Bekenner eines optimistischen ›Dennoch‹«.55 Tolstojs Lehre wird als »praktische Lebenslehre«, als »Pragmatismus« gesehen, die den Vordergrund eines dahinter liegenden »religiösen Spiritualismus« bilde.56 Tolstojs Lehre sei so ein »Wegweiser« hin zum Ideal:57 »Im tiefsten ist seine Lehre vom Ideal der Christusnachfolge doch ein ernstzunehmender Versuch, das spezifisch Evangelische in der Predigt Jesu zu ergreifen.«58 Die Auflösung aller politisch-religiösen Problematik »in die Entscheidung des persönlichen Gewissens ist am Ende nicht nur ein Irrtum«.59 In den schon von den Studentenunruhen geprägten Zeiten hoffte Doerne, dass Tolstoj und seine Lehre von Theologen und Soziologen nicht nur ob der vermeintlichen »Untauglichkeit seiner primitiven Sozialdoktrin für die hochindustrialisierte, in die weltweite Interdependenz verwiesene Gesellschaft von heute und morgen« vorgeführt werde. Doernes Zielpunkt lag vielmehr bei dem von Schweitzer und Weinel: »Möchte darüber das ur-christliche Pathos und die verborgene Weisheit in der ›Torheit‹ Tolstojs nicht überhört werden.«60

Anmerkungen 1 Zu Albert Schweitzer und Tolstoj: P. Ernst, Versuch der Aufklärung einer aufgeklärten Kultur. Ethische Vernunft und christlicher Glaube im Werk Albert Schweitzers. Mit einem Exkurs über religiöse Kultur und Sozialethik im literarischen Entwurf Leo Tolstois, Frankfurt a.M. 1991, 414 (= Europäische Hochschulschriften Reihe, 23). 2 U. Neuenschwander, Albert Schweitzer, in: ders., Denker des Glaubens, Bd. 1, Gütersloh 1974. 3 A. Schweitzer, Werke aus dem Nachlaß. Straßburger Vorlesungen, hg. v. E. Gräßer/J. Zürcher, München 1998, 329f, vgl. 529.

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4 A. Schweitzer, Werke aus dem Nachlaß. Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Teil 1 und 2, hg. v. C. Günzler/J. Zürcher, München 1999, 149. 5 A. Schweitzer, Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, 150. 6 Persönlich gestand Elert Tolstoj dabei zu, »ein Jünger Christi« gewesen zu sein: W. Elert, Das christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik, Tübingen 1949, 526. 7 H. Weinel, Jesus im neunzehnten Jahrhundert, Tübingen 1914, 250f. 8 A.a.O., 257. 9 A.a.O., 258. 10 A.a.O., 259. Weinel hatte sich auf der Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses deutlich gegen Wilhelm Herrmanns Tolstoj-Verständnis verwahrt, vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 257 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 38). 11 A.a.O., 61. 12 P. Gastrow, Tolstoi und das Kulturproblem, in: Protestantenblatt 41, 1908, 463–466 und 481–484, Zitat: 482, dort auch das Folgende. In den Zusammenhang des kulturprotestantischen Tolstoj-Bildes eingeordnet bei E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 68. 13 E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 117–167, bes. 142 und 144–146. 14 G. Bäumer, Leo Tolstoi – der große Unbedingte, in: Die Frau 18, 1910/11, 216–222, Zitat: 216, vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 69. 15 Charakteristisch sind hierfür die Monographien von Emil Blum und Friedrich Rittelmeyer, die eine für die Rezeption im Kontext des Sozialismus, die andere im Kontext der Anthroposophie, der er sich später zuwandte: E. Blum, Leo Tolstoi. Sein Ringen um den Sinn des Lebens, Schlüchtern/Habertshof 1924; F. Rittelmeyer, Tolstois religiöse Botschaft, Ulm 1905. 16 Vgl. etwa K. Gaede, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Schriftsteller und Bibelinterpret, Berlin 1980, 116f. 17 Ein Spätlingswerk eines der führenden Köpfe des politischen Wandels in der DDR ist F. Schorlemmer, Albert Schweitzer. Genie der Menschlichkeit, Berlin 2009. 18 D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 278. 19 D. Lange, Glaubenslehre, Bd. 2, Tübingen 2001, 49. 20 A.a.O., 50. 21 Konzentriert etwa in H. Thielicke, Theologische Ethik. Bd. 2,2: Ethik des Politischen, Tübingen 41987, 675–679. 22 E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 66–73, zur biblischen Hermeneutik Tolstojs ausführlicher K. Gaede, Schriftsteller und Bibelinterpret, 27–40 und 111–128. 23 E. Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg. v. V. Drehsen, Berlin/New York 2004, 386. 24 K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 1921, 252, Anm. 1. 25 D. Bonhoeffer, Grundfragen der christlichen Ethik (8. 2. 1929), in: ders., Werke (DBW), Bd. 10: Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, hg. v. R. Staats/H.Ch. v. Hase, München 1991, 323–345, Zitat: 332. 26 W. Hermann, Die sittlichen Gedanken Jesu in ihrem Verhältnis zu der sittlich-sozialen Lebensbewegung der Gegenwart, in: Die Verhandlungen des vierzehnten Evange-

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lisch-Sozialen Kongresses, abgehalten in Darmstadt am 3. und 4. Juni, Göttingen 1903, 10–29, Zitat: 19. Zum Zusammenhang in den Debatten des Kongresses vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 74–76 (besonders Christliebs Kritik an Hermanns Entwurf als »Kompromissethik« und »Kompromisschristentum« angesichts des Gegensatzes zwischen moderner Ethik und der Ethik Jesu, E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 76). A. Titius, Wie lassen sich die sittlichen Ideale des Evangeliums in das gegenwärtige Leben überführen?, in: Die Verhandlungen des zweiundzwanzigsten EvangelischSozialen Kongresses, abgehalten in Danzig vom 6. bis 8. Juni 1911, Göttingen 1911, 11–30, Zitat: 12. Zum Zusammenhang in den Debatten des Kongresses vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 78–80. Besonders Friedrich Naumann fühlte sich von Titius’ Tolstoj-Verständnis herausgefordert, vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 257. C. Stange, Das Problem Tolstojs, in: AELKZ 1903, 245–249 und 271–275, bes. 275. Tolstoj wurde hier zum Repräsentanten des Modernen (»ein durch und durch moderner Mensch«), C. Stange, Problem, 246. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Stuttgart 1967, 13–31, Zitat: 25. D. Bonhoeffer, Vorlesung (Sommersemester 1932): Das Wesen der Kirche (Mitschrift), in: ders., Werke (DBW), Bd. 11: Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, hg. v. E. Amelung/Ch. Strohm, München 1994, 239–303, Zitat: 299. D. Bonhoeffer, Referat über Kirche und Eschatologie, in: ders., Werke (DBW), Bd. 9: Jugend und Studium 1918–1927, hg. v. H. Pfeifer, München 1986, 336–354, Zitat: 346, dort auch das Folgende. Bonhoeffer argumentierte wiederholt ähnlich, vgl. etwa D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, in: ders., Werke (DBW), Bd. 1, hg. v. J. von Soosten, München 1986, 151. P. Tillich, Religion und Kultur. Die Stellung der Religion im Geistesleben (Wintersemester 1920), in: ders., Berliner Vorlesungen I (1919–1920), Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken 12, Berlin/New York 2001, 297–332, Zitat: 306. P. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (Sommersemester 1919), in: ders., Berliner Vorlesungen I [wie Anm. 32], 27–258, Zitat: 111 (Bestandteil der sechsten Stunde: Luthertum, Calvinismus, Sekten, 98–111). P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart in Politik und Ethik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Die religiöse Deutung der Gegenwart, Stuttgart 1968, 41–64, Zitat: 51. P. Tillich, Grundzüge des religiösen Sozialismus, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, Stuttgart 1962, 114. Besonders Emanuel Hirsch hatte bei seiner Sichtung der ReichGottes-Auffassungen auf die Verbindungslinie der Religiös-Sozialen zu Tolstoj hingewiesen, vgl. E. Hirsch, Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie, Göttingen 1921, 19f und 32, wo er Karl Barth in Gefahr sah, »ernsthaft religiös zu werden, d.h. in eine dem Kommen des Herrn mit fanatischer Leidenschaft entgegenschauende schwärmerische Sekte überzugehen«. Hanke hatte in ihrer Arbeit ursprünglich beim Verhältnis Webers zu Tolstoj eingesetzt, dieser Zusammenhang blieb auch das zentrale Anliegen ihres Buches, vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 5, Anm. 15.

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37 E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 181f; E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften Bd. 1, Tübingen 21922 [11912], 847f. 38 D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 151. Paul Tillich kritisierte den gesetzlichreligiösen Standpunkt der Abhängigkeit von Worten Jesu »in der christlichen Mönchs- und Sektengeschichte und bei Tolstoi«, P. Tillich, Religiöser Sozialismus und Pazifismus, in: ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Erster Teil, Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken 10, Berlin/New York 1999, 371–374, Zitat: 371. 39 E. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, 386 [wie Anm. 23]. 40 E. Troeltsch in seiner Rezension zu Josef Müller, Der Reformkatholizismus. Für die Gebildeten aller Bekenntnisse, 1. und 2. Theil, Zürich 1899, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4: Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hg. v. F.W. Graf, Berlin/ New York 2004, 112–115, Zitat: 114 (zu Müller, Reformkatholizismus, 5). 41 E. Troeltsch, Religionsphilosophische und theologische Principienlehre, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2: Rezensionen und Kritiken (1894–1900), Berlin/New York 2007, 80–163, Zitat: 90. Troeltsch listete wiederholt Bücher Tolstojs in seinen Rezensionen auf oder wies kurz auf Literatur zu Tolstoj hin. 42 D. Bonhoeffer, Predigt zu Psalm 98,1. London, Sonntag Cantate, 29. 4. 1934, in: ders., Werke (DBW), Bd. 13: London 1933–1935, hg. v. H. Goedeking. M. Heimbucher, H.-W. Schleicher, München 1994, 351–356, Zitat: 355. 43 K. Holl, Tolstoi nach seinen Tagebüchern, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 2: Der Osten, Tübingen 1928, 433–449, Zitat: 433. 44 A.a.O., 449. 45 A. von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. und komm. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999, 54. Adolf von Harnack (1851–1930) war seit 1876 außerordentlicher Professor in Leipzig, 1879–1886 in Gießen als ordentlicher Professor, dann 1886–1888 in Marburg, schließlich 1888–1924 in Berlin. Zu ihm: G. Wenz, Der Kulturprotestant. Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker und Kontroverstheologe, München 2001. 46 A. von Harnack, Wesen des Christentums, 109. 47 A.a.O., 112. Das Tolstoj-Zitat Harnacks konnte bislang nicht wörtlich belegt werden, vgl. ebd., Anm. 31. 48 A.a.O., 109. Die sich für ihn begeisternden Gebildeten wären dadurch beruhigt, weil sie zu wissen meinten, dass das Christentum sie nichts anginge. 49 A.a.O., 129. 50 A.a.O., 222. 51 Vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 70. Dort auch der Hinweis darauf, dass Rittelmeyers Darstellung an die von Harnack anknüpft, ebd., Anm. 50. Harnack hatte sich auch bei den Sitzungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses mehrfach mit Hinweis auf Tolstoj in die Diskussion eingemischt, vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 257. 52 W. Elert, Das christliche Ethos, 525 [wie Anm. 6]. 53 O. Lempp, Tolstoi, Tübingen 1912. 54 M. Doerne, Tolstoj und Dostojewskij. Zwei christliche Utopien, Göttingen 1969, 16–82. 55 A.a.O., 79. 56 A.a.O., 80. 57 Ebd.

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58 A.a.O., 81. 59 Ebd.: »dass die Weltveränderung nirgends sonst anfängt als bei dir und mir, dass es nicht anders wird zwischen den Menschen und auch in den Institutionen der Gesellschaft, wenn wir nicht anders werden, darin behält Tolstoj recht.« Die Lehre Christi habe es zuerst und zuletzt mit dem Einzelnen zu tun. 60 A.a.O., 82.

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Ulrich Schmid

Katholizismus Es gibt keine prominente Tolstoj-Rezeptionslinie in der römisch-katholischen Theologie. Dieser Befund wird durch die Tatsache bestätigt, dass Tolstojs Werke sich nie auf dem Index Librorum Prohibitorum befanden. Die wenigen Urteile katholischer Denker über Tolstoj sind ablehnend, ja bisweilen sogar aggressiv. Die jesuitische Zeitschrift La Civiltà Cattolica beschäftigte sich in zwei Artikeln mit Tolstoj. Bereits 1902 hatte sie »Lev Tolstojs Christentum« als »hausgemachtes Evangelium« kritisiert, das weder Gott noch die Kirche anerkenne und die Religion auf sittliches Wohlverhalten reduziere.1 Kurz nach Tolstojs Tod erschien ein langer Aufsatz, in dem Tolstojs religiöse Wende als »Schiffbruch« bezeichnet wurde. Tolstoj sei ein Gotteslästerer, weil er die Trinität nicht anerkenne und den wahren Schöpfergott durch einen von Menschenhand geschaffenen Gott ersetze.2 Auch die französische jesuitische Zeitschrift Études kommentierte Tolstojs Tod. Paul Bernard bezeichnete Tolstoj als Heuchler und stellte ironisch fest: »Die einzige Bruderschaft, der Lev Nikolaeviˇc je angehörte, ist diejenige von Epikur.«3 Der Augustinermönch und ausgewiesene Russlandkenner Aurelio Palmieri schrieb im Jahr 1917, Tolstoj habe mit einem »ungezügelten Hass gegen das historische Christentum« einen »radikalen Sozialismus mit mystischen anarchistischen Tendenzen« gepredigt. Sein schriftstellerisches Werk sei ein »Sakrileg«.4 Bernhard Schultze vom päpstlichen Orient-Instititut reagierte 1949 auf den Versuch von Tolstojs Tochter Tat’jana, ihren Vater in einer katholischen Publikation als gläubigen Christen darzustellen. Schultze warf ihr vor, sie könne nicht behaupten, Tolstoj sei von Christus errettet worden, wenn er weder die Göttlichkeit noch die Heilstat Christi anerkenne.5 Als offiziöse Deutung darf der Eintrag zu Tolstojs Religion in der zwölfbändigen Enciclopedia cattolica des Vatikans gelten. Der Text stammt aus der Feder des polnischen Jesuiten Stanislao Tyszkiewicz, der vor allem zwei Aspekte kritisiert: Tolstojs Reduktion der Religion auf eine Verhaltenslehre und die Ablehnung jeder Kirche als einer schädlichen Organisation. Tolstojs Hauptfehler besteht darin, dass er die Missbräuche in der Geschichte des Christentums mit der Kirche vermengt. Er denkt nicht darüber nach, dass das, was ihn zu Recht stört, nicht die Kirche ist, sondern die Untreue der Kirche gegenüber. Seine Tragödie ist

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die aller Dissidenten: Indem er die übernatürliche Grundlage des Christentums verdrängt, hat Tolstoj dem sowjetischen Atheismus einen großen Dienst erwiesen, der – obwohl er ihm Anerkennung zollt – seine Moraldoktrin ironisiert.6

Diese negative Einschätzung ist bereits bei Vladimir Solov’ev vorgezeichnet, der über große Sympathien für den Katholizismus verfügte. In seinen Drei Gesprächen lehnte Solov’ev vor allem Tolstojs Lehre vom Nichtwiderstand gegen das Böse radikal ab und wies darauf hin, dass der nahende Antichrist mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Dieses Ziel könne nur durch die Vereinigung der drei christlichen Konfessionen erreicht werden.7 Ebenfalls ein Dorn im Auge waren Solov’ev, der gegen einen drohenden »Panmongolismus« und für die Bewahrung der abendländischen Kultur kämpfte, die buddhistischen Elemente in Tolstojs Religionslehre. Solov’evs Position wird zustimmend aufgenommen von Hans-Urs von Balthasar, der in seiner »theologischen Ästhetik« mit dem programmatischen Titel Herrlichkeit (1962) ein ganzes Kapitel über den russischen Philosophen eingeschaltet hat. Balthasar behauptet, dass Solov’ev ganz zum Katholizismus konvertiert sei, und rückt ihn in die Nähe von Teilhard de Chardin.8 Mit Solov’ev lehnt auch Balthasar Tolstojs passive Ethik ab und erblickt Tolstojs größten theologischen Fehler in der Überantwortung der Heilsgeschichte an die Botmäßigkeit des Menschen. Dabei ist aus katholischer Sicht das »allwaltende Kreuz« die letzte Instanz, die über dem Weltprozess steht.9 Vorgespurt wurde diese Deutung im deutschsprachigen Raum durch die beiden katholischen Zeitschriften Hochland und Das Zwanzigste Jahrhundert, die vor dem Ersten Weltkrieg eine Reihe von Stellungnahmen zu Tolstoj publizierten. Man konzedierte eine gewisse Verbundenheit mit der Gesellschaftskritik des russischen Autors, bedauerte aber gleichzeitig, dass Tolstoj nicht den Weg zum »ganzen und vollen katholischen Glauben« gefunden habe.10 Die einzige Strömung innerhalb des römischen Katholizismus, die sich umfassender für Tolstoj interessierte, geriet nach dem Tod des liberalen Leo XIII. (1810–1903) alsbald selbst in Konflikt mit der Kirche. Die Modernisten wollten die christlichen Dogmen mit den neuesten Erkenntnissen der Textwissenschaften, der analytischen Philosophie und der historisch-kritischen Theologie in Übereinstimmung bringen. Darauf reagierte der konservative Pius X. 1907 mit der Enzyclica Pascendi dominici gregis, in der er den Modernismus als »Sammelbecken aller Häresien« verdammte. Im Sommer 1903 reisten die Modernisten Salvatore Minocchi (1869–1943) und Giovanni Semeria (1867–1931) nach Russland, wo sie italienische Gastarbeiter im Eisenbahnbau seelsorgerisch betreuen wollten.11 Während ihrer Reise besuchten sie auch Tolstoj, der sich über den Besuch von zwei katholischen Priestern äußerst verwundert zeigte. Er gab ihnen seinen Aufruf An die Geistlichkeit (1902) zu lesen. In diesem polemischen Text forderte er alle »Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Superintendenten, Priester, Pastoren« auf, ihre

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kirchlichen Ämter niederzulegen und das Volk nicht länger mit Dogmen zu betrügen (f 249–269; PSS 34: 299–318). Als Reaktion auf diesen Frontalangriff erklärte Minocchi Tolstoj seine modernistische Position: Die moralischen Gesetze erheben den menschlichen Geist zu jenem »Seinsprinzip, das sich Gott nenne«. Sie gehen ihrerseits auf »unveränderliche, metaphysische Prinzipien« zurück, welche die Substanz der Dogmen bilden. Minocchi weichte die Dogmen auf, indem er forderte, sie müssten sich dem »menschlichen Fortschritt« und dem »wissenschaftlichen Denken« anpassen. Die Dogmen seien nur der historisch bedingte Ausdruck einer tieferen Wahrheit und unterlägen deshalb selbst auch einem Prozess der Perfektionierung. Allerdings konnte Tolstoj selbst diese gemäßigte Position nicht nachvollziehen. Er warf der Kirche vor, sie wolle das religiöse Bewusstsein des Volkes formen: »Das braucht es [das Volk] nicht; es braucht nur, dass ihr ihm nicht das verderbt, was es von Natur aus besitzt.«12 Der Artikel, den Minocchi im Giornale d’Italia über den Besuch bei Tolstoj veröffentlichte, erregte einiges Aufsehen in Italien. Die Zeitschrift Civiltà Cattolica reagiert mit einer scharfen Replik, in der die beiden Priester für ihre naive Verehrung des Häretikers verspottet wurden.13 Auch der Vatikan goutierte die Begegnung mit Tolstoj überhaupt nicht. Semeria wurde per Telegraph zurückbeordert und distanzierte sich von Minocchis allzu begeisterter Darstellung des Besuchs in Jasnaja Poljana. Nach der Wahl des konservativen Papstes Pius X. bat Semeria in seinen Briefen an Minocchi immer wieder um Vorsicht und Diskretion bei der Verbreitung ihrer Reformbestrebungen.14 Einer der prominentesten Denker, der sich intensiv um Tolstojs Aufmerksamkeit für den katholischen Modernismus bemühte, war Marian Zdziechowski (1861–1938), der zunächst in Krakau, später in Wilna Universitätsprofessor war. 1896 besuchte der polnische Literaturwissenschaftler und Publizist den russischen Autor in Jasnaja Poljana. Dabei kam es zu einer bezeichnenden Diskussion über den Katholizismus. Tolstoj wunderte sich darüber, dass Zdziechowski sich als praktizierenden Anhänger der katholischen Kirche bezeichnete: »Also glauben Sie wirklich, dass der von den Toten auferstandene Christus in den Himmel gefahren ist … et qu’il s’est assis à la droite de son Père?«15 In einem Brief, den Zdziechowski nach seiner Rückkehr an Tolstoj sandte, formulierte er eine späte Antwort auf Tolstojs Frage: Sie wandten sich gegen meinen Katholizismus, und ich vermochte nichts zu antworten. Aber das geschah deswegen, weil mein Katholizismus c’est un état de l’âme, ein Seelenzustand, der bedingt ist durch meine Erziehung, durch ein mir angeborenes Bedürfnis bestimmter Religionsformen und schließlich durch meine intime Kenntnis des katholischen Lebens und das daraus fließende Bewusstsein, dass gerade der Katholizismus über die besondere Kraft verfügt, Heilige hervorzubringen, d.h. Menschen, die fähig sind, sich von den Lehren der Welt loszusagen und sich ganz Gott und dem Nächsten zu widmen.16

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Trotz Tolstojs eigener Skepsis ließ sich Zdziechowski auch später nicht von seiner These abbringen, dass eine »innere Verwandtschaft« zwischen Tolstojs Lehre und dem katholischen Modernismus bestehe.17 Dieses Missverständnis schlug sich auch in Zdziechowskis Behauptung nieder, das beste Anwendungsbeispiel für Tolstojs Ansteckungsästhetik sei der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz.18 Zwar wollte Mickiewicz in der Tat seine Literatur in den Dienst der Nation stellen, seine verrätselnde und hermetische Poetik widerspricht allerdings Tolstojs verstehensgebundenem Kunstverständnis fundamental. Vom anderen Flügel des Katholizismus, der gegen die moderne Textkritik den Neothomismus in Anschlag brachte, nahm als einer der ersten der junge Jacques Maritain (1882–1973) Stellung. Im März 1905 griff er in einem Zeitungsartikel den greisen Schriftsteller an, der nach dem Blutsonntag in der russischen Hauptstadt lediglich erklärt hatte, er hasse die Autokraten genau so wie die Revolutionäre. Maritain wandte sich gegen Tolstojs rein diesseitiges Gottesverständnis, das nur die »soziale Verbesserung« durch individuelle Bewusstseinsbildung als Ziel kenne. Damit verkenne er das wahre Wesen der Beziehung zwischen Mensch und Gott, die immer ein Dialog zwischen Himmel und Erde sei. Auch Tolstojs Ablehnung des Staates sei ein rein negatives Prinzip, es gebe bei ihm keinen konstruktiven Gegenentwurf zur existierenden Gesellschaftsordnung. Maritain gelangte zu einem vernichtenden Urteil über Tolstoj: Es ist an der Zeit, ihn als den zu zeigen, der er ist: Ein großer Dichter, ein falscher Christ, ein falscher Anarchist, ein Prediger der Lüge und des Todes.19

Auch in Maritains wichtigem Traktat Kunst und Scholastik (1920) taucht Tolstojs Name nur als Negativbeispiel auf. Maritain geht davon aus, dass alles Kunstschöne von Gott komme: Gott ist die Schönheit selbst, weil er die Schönheit allen Geschöpfen nach ihren Eigenschaften verliehen hat und weil er die Ursache aller Harmonie und Klarheit ist. Jede wirkende Form, d.h. jedes Licht, ist »eine gewisse Einstrahlung, die von der ursprünglichen Klarheit ausgeht«, »eine Teilhabe an der göttlichen Klarheit«.20

Diese katholische Ästhetik ist mit Tolstojs Kunstauffassung nicht vereinbar, weil hier das göttliche Schöne im Zentrum steht. Tolstoj hatte aber das »Schöne« als gefährliche Sinnesverführung aus seiner Lehre eskamotiert und wollte nur ein wertvolles religiöses Gefühl als Rechtfertigung für ein Kunstwerk gelten lassen. Gleichwohl gibt es auch interessante Parallelen zwischen Maritain und Tolstoj, die beide nicht auf den zentralen Begriff der Inspiration verzichten wollen. Maritain verortet den Ursprung allen Kunstschaffens in der »ersten Intelligenz«: Gott gibt dem Künstler einen Schöpfungsimpuls, der über der individuellen Vernunft steht.21 Ganz ähnlich argumentiert Tolstoj, der eben-

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falls Kunst außerhalb der Religion für unmöglich hält. Der entscheidende Unterschied liegt freilich in der radikal unterschiedlichen Theologie der beiden Denker: Maritain geht von einem Schöpfergott aus, der höher als der Mensch steht, während Tolstoj Gott und Mensch einander radikal annähert. Während also wahre Kunst bei Maritain nur als Inspiration von oben denkbar ist, erscheint sie bei Tolstoj als Realisierung des göttlichen Kerns im Menschen selbst. In Kunst und Scholastik bleibt Maritain bei seiner schroffen Ablehnung von Tolstoj, der aus seiner Sicht den Menschen aus der für ihn vitalen Beziehung zu Gott herausgelöst hat. Eine auf die Ethik reduzierte Anthropologie kommt für Maritain einer Herabwürdigung des Menschen zum Tier gleich: Wenn wir die Rechte Gottes in der moralischen Ordnung verteidigen, so verteidigen wir sie auch in der Ordnung der Intelligenz und der Schönheit, und nichts zwingt uns, um der Liebe zur Tugend willen auf allen Vieren zu gehen.22

In der Regel nennt Maritain Tolstoj in einem Atemzug mit Rousseau, der ihm ebenfalls als »reaktionärer Eiferer« gilt.23 Bei beiden Denkern stört Maritain die Fetischisierung der Vernunft, die Konzentration auf das eigene Ich und die fundamentale Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung, die ja letztlich auch von Gott stammt. Deshalb erblickt Maritain in Tolstoj sogar eine Bedrohung für die abendländische Kultur: Sein »Orientalismus« unterwandere die göttliche Fürsorge für den Menschen.24 Erst in seinem Spätwerk gelangt Maritain zu einem positiveren TolstojBild. Plötzlich wirft er etwa Léon Bloy das vor, was er im Grunde genommen lange Zeit selbst betrieben hatte, nämlich undifferenzierte Kritik an Tolstoj zu üben.25 Im Jahr 1960 rücken definitiv die Gemeinsamkeiten in den Blick. Maritain sieht in Tolstoj nun einen Verbündeten in seinem Kampf gegen das verderbliche Kunstprinzip des »l’art pour l’art« und betont gemeinsam mit ihm die »Verantwortung des Künstlers«. Statt ihn »leeren Geschwätzes«26 zu zeihen, wie er das auch Maurice Maeterlinck, William James und Ralph Waldo Emerson vorwirft, befördert er Tolstoj nun in den Olymp der Literatur und weist ihm einen Ehrenplatz neben Größen wie Dante, Vergil oder Walt Whitman zu.27 Miguel de Unamuno (1864–1936) gehört zu den wenigen katholischen Verteidigern Tolstojs. 1915 veröffentlichte er einen Artikel über den »Egoismus Tolstojs«. Das starke Ich des Schriftstellers, das sich in seinem Leben und seinen Werken äußere, stelle für moralisches Verhalten allerdings kein Hindernis, sondern die Grundlage dar.28 Möglicherweise spricht Unamuno hier auch pro domo. Bereits 1907 hatte er sein eigenes Religionsverständnis skizziert, das in seinem aufklärerischen Impetus Tolstoj sehr nahe steht. Unamuno hielt fest, er wolle »die Wahrheit im Leben und das Leben in der Wahrheit« suchen, »unaufhörlich und unermüdlich gegen das Mysterium

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kämpfen« und das »ewige Ignorabimus abwehren«.29 Die theologische Affinität zu Tolstoj wird auch durch einen Brief bestätigt, in dem Unamuno seiner hohen Wertschätzung beredten Ausdruck verleiht: »Tolstoj war eine jener Seelen, die meine eigene am heftigsten durchgeschüttelt haben; seine Werke haben eine tiefe Spur in mir hinterlassen.«30 Wie Tolstoj zögerte auch Unamuno nicht, seine Kritik an der offiziellen Kirche öffentlich zu machen. Er protestierte vor allem gegen das Engagement des Klerus im »Kreuzzug« des Jahres 1921 gegen Marokko.31 Der englische Romanautor Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) kritisierte noch zu Tolstojs Lebzeiten dessen religiöse Ansichten. Zwar konvertierte Chesterton erst 1922 offiziell zum Katholizismus, seine katholischen Sympathien äußern sich jedoch schon viel früher, am prominentesten in den berühmten Kriminalgeschichten von Father Brown, die seit 1910 erschienen. Chesterton hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten zu Tolstoj geäußert. Der Tenor seiner Kritik ist indes immer derselbe: Tolstoj sei kein religiöser Denker, sondern ein Fanatiker. Alle Mystik sei ihm fremd; er wolle den Menschen und alle Phänomene dieser Welt ausschließlich mit der logischen Vernunft erklären. Deshalb laufe er Gefahr, verrückt zu werden.32 Aus Chestertons Sicht kann nur die Anerkennung der Inadäquatheit des Intellekts den Menschen vor dem Wahnsinn bewahren. Tolstoj verliere aber in seiner rationalistischen Weltsicht seinen eigentlichen Gegenstand aus den Augen, nämlich das einzelne Individuum: Christus liebte nicht die Menschheit; Er hat nie gesagt, dass er die Menschheit liebt: Er liebte die Menschen. Weder Er noch jemand anderer kann die Menschheit lieben; das käme der Liebe zu einem gigantischen Tausendfüssler gleich. Und der Grund, weshalb die Tolstojaner weiterhin an eine gleichmäßig verteilte Zuneigung glauben können, liegt daran, dass ihre Liebe zur Menschheit eine logische Liebe ist, eine Liebe, in die sie durch ihre eigenen Theorien gezwungen werden, eine Liebe, die sogar einen Kater beleidigen würde.33

Die gegenseitige Abneigung zwischen Tolstoj und der katholischen Kirche wurzelt tief in den theologischen Konzeptionen, die sich hier gegenüberstehen. Während sich die katholische Kirche als »gesellschaftlich verfasste Konkretheit des Christentums und die von Gott als unwiderruflich (und siegreich) der Welt zugesagte Verheißung der endgültigen Gottesherrschaft (Reich Gottes)«34 versteht, glaubt Tolstoj an das »Reich Gottes« im Menschen selbst – abseits aller Institutionen und Hierarchien. Das Gegenüber von Gott und Mensch wird bei Tolstoj verwandelt in eine Introjektion Gottes in den Menschen. Erlösung ist deshalb bei Tolstoj keine Heilstat, die von außen kommt, sondern ein langsamer Erkenntnisprozess, in dem der Mensch seinen eigenen göttlichen Kern entdeckt.

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Anmerkungen 1 Il Cristianesimo di Leone Tolstoj, in: La Civiltà Cattolica 53, 1902. 2 L.N. Tolstoj, in: La Civiltà Cattolica 62, 1911, 293–308, 559–575, 179–190, 406– 422. 3 P. Bernard, Leon Nikolaievitch Tolstoj, in: Études 126, 1911, 20–49, 313–337, 507–522, 521. – Für den Hinweis auf die beiden Nekrologe danke ich Constantin Simon, SJ. 4 A. Palmieri, The Church and the Russian Revolution, in: The Catholic World 9, 1917, 580. 5 B. Schultze, Pensatori russi difronte a Cristo. Firenze 1949, 100f; T. Tolstoj, Mio padre difronte a Cristo, in: Regno 1–2, 1942, 83. – Auch den Hinweis auf diese beiden Publikationen verdanke ich Constantin Simon, SJ. 6 S. Tyszkiewicz, La religione di Tolstoj, in: Enciclopedia cattolica. Città del Vaticano 1949–1954, Bd. XII, 223. 7 V.S. Solov’ev, Soˇcinenija v dvuch tomach, Moskau 1990, II, 642, 653, 727. 8 H.U. v. Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Einsiedeln 1962, II, 649, 656. – Es ist eher unwahrscheinlich, dass Solov’ev zum Katholizismus konvertiert ist. Seine Nähe zum Katholizismus ist vielmehr Ausdruck seines Versuchs, die christlichen Kirchen wieder zu vereinigen. 9 A.a.O., 714ff. 10 E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoj als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 85–89. 11 A. Agnoletto, Salvatore Minocchi. Vita e opera (1869–1943), Brescia 1964, 114. 12 S. Minocchi, Visita a L. Tolstoj in Jasnaia Poliana, in: Giornale d’Italia 224 (14. August 1903), 1f. 13 Visita di due sacerdoti cattolici a Leone Tolstoj, in: La Civiltà Cattolica 54, 1903, 594–599. 14 M. Ranchetti, The Catholic Modernists. A Study of the Religious Reform Movement 1864–1907, London/New York/Toronto 1969, 179. 15 D.P. Makovickij, Jasnopoljanskie zapiski. U Tolstogo 1904–1910, Moskau 1979, 222 (Literaturnoe nasledstvo 90/1). 16 B. Białokozowicz, Marian Zdziechowski i Lew Tołstoj, Białystok 1995, 130f. 17 A.a.O., 163. Vgl. auch: M. Zdzechovskij, Golos iz Pol’ˇsi, in: P. Sergeenko, Meˇzdunarodnyj Tolstovskij almanach, Moskau 1909, 64–73, 71. 18 M. Zdziechowski, Szkice literackie, Warszawa/Kraków 1900, 305. 19 J. & R. Maritain, Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1986–1999, XVI, 681. 20 A.a.O., I, 649. 21 A.a.O., 687. 22 A.a.O., I, 785; II, 1228. 23 A.a.O., II, 1247. 24 A.a.O., II, 1247. 25 R. Maritain, Les grandes amitiés, Paris 1993, 121. 26 J. & R. Maritain, Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1986–1999, I, 1092. 27 A.a.O., XI, 172. 28 M. de Unamuno, El Egoismo de Tolstoj, in: ders., Obras Completas IV. La raza i la lengua, Madrid 1968, 1397–1400. 29 M. de Unamuno, Mi religion, in: ders., Obras Completas III. Nuevos ensayos, Madrid 1968, 260. 30 M.G. Blanco, En torno a Unamuno, Madrid 1965, 489.

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31 A. Hamling, Tolstói ante la iglesia ortodoxa y Unamuno ante la iglesia católica, in: Cuadernos de la cátedra M. de Unamuno 34, 1999, 41–53. 32 G.K. Chesterton, Tolstoy, in: G.K. Chesterton, G.H. Perris, Tolstoy, London 1903, 6. 33 G.K. Chesterton, Tolstoy and the Cult of Simplicity, in: ders., Twelve Types, London 1910, 165. 34 K. Rahner, Katholische Kirche [1959], in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 17/1, Freiburg/ Basel/Wien 2002, 447.

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Olga Caspers

Marxismus Die marxistische Rezeption der sozial-religiösen Traktate Tolstojs wurde besonders von Vladimir Lenin und seinem Lehrer Georgij Plechanov geprägt. Die Schriften des russischen Revolutionsführers bildeten die offizielle dogmatische Linie der marxistischen Tolstoj-Forschung, während Plechanov den Mainstream der marxistisch-atheistischen Tolstoj-Rezeption erweiterte, indem er sich von einem materialistischen Standpunkt aus mit Tolstojs Religionsphilosophie auseinandersetzte. Eine alternative Rezeptionslinie innerhalb der marxistischen Kritik stellen die Aufsätze des »Gotterbauers« Anatolij Lunaˇcarskij dar, der versuchte, den Marxismus mit einer religiösen Ethik zu verbinden. Die sowjetische Literaturwissenschaft setzte sich intensiv mit dem künstlerischen Œuvre Tolstojs auseinander. Bei der Rezeption seiner religionsphilosophischen Traktate beschränkten sich die Forscher vorwiegend auf philologische Untersuchungen, reproduzierten sonst die Ansichten Lenins und modifizierten ihre Auslegung nach Maßgabe der aktuellen politischen Großwetterlage. Die religionsphilosophischen Schriften Tolstojs weisen einige Aspekte auf, die eine Vereinnahmung durch das sowjetische Regime erleichterten. So stimmten die antipatriotischen Gedanken Tolstojs und seine Ablehnung des Krieges teilweise mit der Propaganda des Internationalismus und der »Verbrüderung« überein, die die Bolschewiki während des Ersten Weltkrieges an der Front betrieben hatten. Des Weiteren begrüßten sowohl Tolstoj als auch die Marxisten die Trennung von Kirche und Staat und propagierten die Übergabe kirchlicher Grundstücke an die Bauern. Und schließlich griffen die Marxisten, die sich für eine Massenkultur einsetzten, Tolstojs Kritik an der elitären zeitgenössischen Kunst auf. Trotz einiger Kongruenzen zwischen dem Tolstojanertum und der marxistisch-leninistischen Ideologie wurden die religionsphilosophischen Schriften Tolstojs in der sowjetischen Kritik konsequent negativ rezipiert. Dies lag hauptsächlich daran, dass der Marxismus an sich eine materialistische und religionskritische Lehre ist: Bereits Karl Marx bezeichnete die Religion 1844 als »Opium des Volkes«,1 und Friedrich Engels erklärte der Religion und den religiösen Vorurteilen ein für allemal den Krieg. Lenin machte diese oft zitierten Aussagen zu Eckpfeilern der marxistischen-leninistischen Welt-

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anschauung in Religionsfragen und verfolgte energisch das Ziel, jegliche Religion zu einer »Angelegenheit der Vergangenheit« zu machen. Die marxistischen Rezipienten Tolstojs interessierten sich zunächst nicht für religiöse Fragen im engeren Sinne. Später erschien eine Rezeption der theologischen Schriften auf »fachlicher« Ebene als unmöglich, da die Theologie, »der faule Fleck der Philosophie«,2 in der sowjetischen Gesellschaft als überflüssig galt. Die Ethik Tolstojs, die auf dem christlichen Glauben beruht, und seine Konzentration auf das Innenleben in der Überzeugung, dass das Heil der Menschen von ihrer inneren Wandlung und nicht von einer Veränderung der äußeren Verhältnisse abhänge, war den marxistischen Moralvorstellungen diametral entgegengesetzt und deswegen verpönt. Bei der Auseinandersetzung mit den sozialen Schriften Tolstojs verwies die marxistische Kritik auf Lenin als einen »sicheren Kompass« im Umgang mit dem »Bauernideologen«.3 Plechanov bezeichnete den Philosophen Tolstoj als »absoluten Metaphysiker« und »extremsten Idealisten« und schätzte ihn deshalb letztlich als »schwachen Denker«4 ein. Lunaˇcarskij hingegen kündigte im Tolstoj-Jubiläumsjahr 1928 an, dass es zwei führende Ideologien gebe, die die Menschheit spalten – den Marxismus und das Tolstojanertum. Die offizielle sowjetische Linie gegenüber dem Tolstojanertum erwies sich als wechselvoll und hing vom allgemeinen politischen Kurs ab.5 Der Pazifismus und die politische Passivität der Tolstojaner, dieser »verschlissenen, hysterischen Jammerlappen« (istaskannye, isteriˇcnye chljupiki),6 blieb immer ein Dorn im Auge des militaristischen Staates.

Die Verbreitung der religiösen Schriften Tolstojs Im sowjetischen Russland erschienen die sozial-kritischen Werke Tolstojs in großen Auflagen, aber auch die verfemten religiösen Traktate wurden in kleineren Auflagen im Verlag Zadruga publiziert.7 Seit 1923 übernahm der Staatsverlag die Herausgabe der Werke Tolstojs und noch im gleichen Jahr fand in der UdSSR im Rahmen der antireligiösen Kampagne die erste Welle der Bibliothekssäuberungen statt, die von Lenins Ehefrau Nadeˇzda Krupskaja veranlasst wurde. Auf der Liste der Werke, die in den Giftschränken der Bibliotheken verschwinden sollten, befanden sich u.a. auch die religiösen Schriften Tolstojs. Obwohl der im Exil lebende proletarische Klassiker Maksim Gor’kij vehement dagegen protestierte und in diesem Zusammenhang mit dem Verzicht auf die sowjetische Staatsbürgerschaft drohte, landeten die religionsphilosophischen Werke Tolstojs im specchran.

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In der Sowjetzeit wurden die kompletten theologischen Schriften Tolstojs lediglich in der akademischen Jubiläumsausgabe (1928–1958) in niedriger Auflage publiziert und waren deswegen für die breite Leserschaft nur schwer zugänglich. Obwohl Lenin persönlich die Publikation dieser Ausgabe beschlossen hatte, verlief sie nicht reibungslos: In der Zeit des großen stalinistischen Terrors ordnete die zuständige Kommission Kürzungen und Auslassungen an, und während der antireligiösen Kampagne in den 50er Jahren entschied sie wegen der offensichtlichen religiösen Propaganda die Publikation der theologischen Schriften ganz zu verbieten. Die Fortsetzung der editorischen Arbeiten erfolgte erst in der Zeit der Tauwetterpolitik unter Chruˇscˇ ev.8

Die sowjetische Fragmentierung von Tolstojs Werk Nach der Oktoberrevolution 1917 etablierte sich in Sowjetrussland eine ambivalente Einstellung zu Tolstoj: Der »geniale Schriftsteller« wurde auf staatlicher Ebene gepriesen, die Verbreitung seiner Lehre allerdings streng untersagt. Die markanten Ereignisse der sowjetischen Tolstoj-Rezeption waren stets mit Feierlichkeiten »besonderer Daten« wie Geburts- und Todestagsjubiläen verbunden. So fanden bereits im Jahre 1920 anlässlich des 10. Todestages des Grafen in Moskau im Polytechnischen Museum öffentliche Debatten zu religiösen Themen statt, an denen prominente Marxisten (Anatolij Lunaˇcarskij und Jemel’jan Jaroslavskij) sowie Anhänger Tolstojs (Valentin Bulgakov und Vladimir Cˇertkov) teilnahmen.9 Im Jahre 1928 feierte das bolschewistische Regime opulent den 100. Geburtstag Tolstojs. Landesweit wurden grandiose offizielle Veranstaltungen organisiert, die als politische Manifestationen galten – das Regime erklärte sich offiziell zum Erben des Schriftstellers. Führende marxistische Kritiker veröffentlichten anlässlich des Jubiläums ihre Studien, die sich auf die Erforschung des sozialen Profils Tolstojs und nicht auf seine theologischen Schriften konzentrierten.10 Das belletristische Werk des Klassikers wurde in großer Auflage veröffentlicht. Tolstoj-Denkmäler wurden errichtet, Museen in Moskau und Jasnaja Poljana eröffnet, feierliche Veranstaltungen in Schulen, Gewerkschaftsorganisationen, in der Armee und in Initiativgruppen gegen den Alkoholismus durchgeführt. Parallel zur Lobpreisung Tolstojs entfesselte das zentrale literarische Presseorgan der Sowjetunion, die Literaturnaja gazeta, eine Hetzkampagne gegen die Tolstojaner. Deren Feierlichkeiten in Jasnaja Poljana wurden wegen aktiver religiöser Propaganda kritisiert. Die Anhänger Tolstojs wurden verfolgt und man warf ihnen subversive Tendenzen vor.11

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In der späten Stalinzeit konstruierte die marxistische Kritik ein Bild von Tolstoj als einem genialen Schriftsteller und Vorläufer des sozialistischen Realismus, der sich für das Wohlergehen der Bauern einsetzte und eine starke Affinität zum Kommunismus aufwies.12 Als brisant erschien dabei die Tatsache, dass die sowjetische Literaturkritik dieser Zeit sich nicht auf das Interpretationsmodell des bolschewistischen Führers Lenin bezog, sondern auf das »selektive Verfahren« des »menschewistischen Häretikers« Plechanov. Dieser forderte, man solle nur bestimmte Werke von Tolstoj rezipieren, ihn also »von hierher – bis dahin« verehren (ljubit’ Tolstogo otsjuda i dosjuda).13 Den nächsten markanten Einschnitt in der marxistischen Tolstoj-Rezeption bildete das Jahr 1960, in dem der 50. Todestag des Autors ausgiebig gefeiert wurde. Die Tauwetterpolitik Chruˇscˇ evs bewirkte auch im Bereich der Tolstoj-Rezeption eine Wende. Anlässlich des Jubiläums wurden Beiträge über die sozial-religiösen Traktate Tolstojs veröffentlicht. In der Zeit des wissenschaftlichen Atheismus rückte die Kritik Tolstojs an der Kirche als Institution in den Vordergrund. Tolstoj selbst wurde als Frevler und Ankläger der kapitalistischen Gesellschaft dargestellt, der gegen ihre Ideen- und Prinzipienlosigkeit protestierte. Als repräsentativ für diesen Interpretationsansatz erscheint der Aufsatz von Valentin Asmus, Die Weltanschauung Tolstojs, in der renommierten Reihe Literaturnoe nasledstvo (Literarisches Erbe). Der Autor weist darauf hin, dass die Philosophie Tolstojs keine religiöse, sondern eine ethische und soziale gewesen sei, die nur marginale religiöse Elemente (nekotoroe ponjatie o boge) enthalte, die metaphorisch verstanden werden sollten.14 Der 150. Geburtstag des Schriftstellers wurde in der Breˇznevzeit aufwändig zelebriert. Im Jahre 1978 rekurrierten die veröffentlichten Jubiläumsartikel der marxistischen Kritiker erneut auf die sakrosankten Schriften Lenins und beschworen die Einheit des Künstlers und Denkers Tolstoj. Die Beichte wurde z.B. als rein »soziale Deklaration Tolstojs«15 interpretiert. Bemerkenswert ist, dass in der dritten Ausgabe der Großen Sowjetenzyklopädie zum ersten Mal ein Artikel über das Tolstojanertum erschien, in dem es als »eine unbedeutende religiös-utopische Strömung«, als »der Ausdruck einer primitiven bäuerlichen Demokratie« definiert wurde, die »sich in der Periode des neuen gesellschaftlichen Aufschwungs am Anfang des 20. Jahrhunderts von selbst auflöste«.16 Als symptomatisch für diese Zeit darf die Aussage des sowjetischen Schriftstellers Vladimir Tendrjakov gelten: »Das Religiöse war nur eine dünne Staubschicht im Schaffen des großen Künstlers, unter der sich stets eine ›menschliche Grundlage‹ [ˇceloveˇceskaja osnova] verbarg. Einen tiefsinnigeren Materialisten gab es noch nie in der russischen Literatur«.17 In den 1970er Jahren wurde der Religionsphilosoph Tolstoj aus dem Bewusstsein der sowjetischen Leser komplett verdrängt. In der UdSSR exis-

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tierte nur noch der Schriftsteller Tolstoj, was die Eintragung des »literarisch ambitionierten« Generalsekretärs Leonid Breˇznev im Gästebuch in Jasnaja Poljana anlässlich des Jubiläums des Autors zusätzlich bestätigte: »Dem genialen Künstler, dem Autor von Krieg und Frieden«.18 1988 kam es in der UdSSR im Zusammenhang mit dem 1000-jährigen Jubiläum der Taufe Russlands zu einer religionspolitischen Wende. Erst ab diesem Zeitpunkt begann sukzessive eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tolstojs Religionsphilosophie.

Lenin Lenin ist die Schlüsselfigur der marxistischen Tolstoj-Rezeption. Der Revolutionsführer verfasste sieben Aufsätze über den Schriftsteller und seine Epoche, die die methodologische Basis der marxistischen Tolstoj-Forschung bilden. Mit der Apostrophierung des Klassikers als »lächerlichen Propheten, der neue Rezepte zur Rettung der Menschheit erfunden hat«, bestimmte Lenin den Grundton der marxistischen Rezeption der religiösen Schriften des Grafen. Signifikant ist, dass Lenin den Künstler Tolstoj nicht vom Ideologen trennt. Er stellt einen Konnex zwischen dem »genialen Künstler« und der Revolution her und vereinnahmt Tolstoj für seine eigenen Zwecke: Der Künstler, Denker und Prediger Tolstoj spiegle in seinem kompletten Schaffen mit erstaunlicher Prägnanz die russische Revolution von 1905 und ihre Weltbedeutung wider. Der professionelle Revolutionär bezeichnet den Denker Tolstoj als originell, »weil die Gesamtheit seiner Anschauungen, als Ganzes genommen, die Besonderheiten der bäuerlichen bürgerlichen Revolution zum Ausdruck bringt«.19 Die sozialen Ideen Tolstojs seien zwar utopisch und ihrem Inhalt nach reaktionär, enthielten aber kritische Elemente, die sich als wertvoll für das Proletariat erwiesen. Lenin betont den aktuellen Nutzen von Tolstojs Lehre trotz ihres utopischen und reaktionären Charakters. Gleichzeitig ist er der Ansicht, dass die Versuche, die religiöse Lehre Tolstojs zu idealisieren und seinen »Nichtwiderstand gegen das Böse« zu rechtfertigen, unterbunden werden müssen. Lenin widmete der Religionskritik deutlich mehr Aufmerksamkeit als seine geistigen Väter Marx und Engels. Voller Hass kritisierte er Tolstojs »Predigt eines der abscheulichsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, das Bestreben, die Pfaffen mit behördlicher Bestallung zu ersetzen durch Pfaffen aus sittlicher Überzeugung, d.h. Kultivierung der raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pfäfferei«.20 Ebenfalls

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wies Lenin auf die Schädlichkeit der »Predigt einer neuen, geläuterten Religion, eines neuen […] verfeinerten Gifts für die unterdrückten Massen« hin.21 Den christlichen Glauben Tolstojs selbst deutete der überzeugte Materialist nur als Angst eines patriarchalischen Bauern vor dem aufkommenden Kapitalismus. Tolstojs Prinzip des »Nichtwiderstehens gegen das Böse« sei schließlich eine der wesentlichen Ursachen für die Niederlage der ersten Revolution. Bemerkenswert ist, dass Lenin die Erforschung der Lehre Tolstojs befürwortete, da dadurch das ganze russische Volk begreifen werde, worin seine Schwäche bestünde, die es ihm unmöglich machte, das Werk seiner Befreiung zu Ende zu führen. Der Appell des Politikers lautete freilich: Das russische Volk solle nicht von Tolstoj lernen, wie man sich ein besseres Leben erkämpfe, sondern von der Klasse, deren Bedeutung Tolstoj nicht verstanden habe – vom Proletariat.22

Plechanov Plechanov, der als angesehener Kunstkritiker galt, wandte als Erster in Russland marxistische Methoden auf dem Gebiet der Literatur an. Im Gegensatz zu Lenin unterschied er zwischen dem »genialen Künstler« und dem »schwachen Philosophen« Tolstoj. Laut Plechanov sei Tolstoj schon deswegen ein schwacher Denker, weil er den Marxismus nicht akzeptiere, mit der materialistischen Dialektik nicht vertraut sei und kein Verständnis für die revolutionäre Bewegung zeige. Die Hauptquelle seiner ideologischen Schwäche sei der Umstand, dass Tolstoj konsequenter Metaphysiker und Idealist sei, für den im Gegensatz zum dialektischen Materialismus das Bewusstsein das Sein bestimme und der damit die Abhängigkeit der Innenwelt der Menschen von der Außenwelt nicht anerkenne.23 Plechanov verfasste fünf Aufsätze über Tolstoj, in denen er sich mit der religionsphilosophischen Lehre des Grafen und mit dem Tolstojanertum auseinandersetzt. In der religionskritischen Tradition Feuerbachs analysiert Plechanov das Gottsuchertum Tolstojs und erklärt die Religiosität des Schriftstellers einerseits durch die Erziehung und die Gewohnheiten (Kinderglaube), andererseits durch die Angst vor dem Tod. Er konzentriert sich darauf, die Unvereinbarkeit der »meilenweit von einander entfernten Ideologien« zu veranschaulichen. Die Schriften Plechanovs erschienen in einer Zeit, als die russische Sozialdemokratie zur so genannten Synthese von Marxismus und Tolstojanertum tendierte. Plechanov wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Gedanken der modernen Sozialisten trotz äußerlicher Ähnlichkeiten mit Tolstojs Ideen (Ablehnung von Eigentum, Staatsgewalt usw.) den Tolstojanern diametral entgegengesetzt seien.

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Plechanov zeigt die zahlreichen Diskrepanzen in der Lehre Tolstojs auf. Sie sei unbeständig, weil sie einen christlich-asketischen Charakter aufweise und auf der Religion als Hauptquelle der Moral basiere. Der Umstand, dass Tolstoj den Glauben für die erste Bedingung des wahren Glücks der Menschen halte, sei mit der marxistischen Weltanschauung nicht vereinbar. Der materialistisch gesinnte Plechanov kritisiert die Überzeugung des Metaphysikers Tolstoj, dass »Jemandes Wille« die einzige Quelle der Wahrheit und des Guten sei und dass die Menschen ohne »Jemandes Willen« »im Bösen versinken und in Verwirrungen geraten würden«.24 Plechanov stellt dieser Behauptung Tolstojs die These entgegen, dass der Mensch selbst die Quelle der Moral sei. Plechanov kritisiert die asketische Stoßrichtung der Ethik Tolstojs und wirft diesem vor, die physischen Bedürfnisse der Menschen zu vernachlässigen. Tolstojs asketische Ethik lasse sich mit der materialistischen Lehre von der moralischen Berechtigung des Genusses nicht vereinbaren. Darüber hinaus bezeichnet Plechanov die Lehre Tolstojs als »Pessimismus auf religiösem Untergrund oder […] Religion auf der Grundlage einer äußerst pessimistischen Weltauffassung«.25 Dem Pessimismus Tolstojs setzt Plechanov den Optimismus der marxistischen Lehre entgegen. Tolstojs Prinzip des Nichtwiderstehens erscheint Plechanov als »unheilbar steril«, es fehle ihm jeglicher Bezug zur Praxis. Die These, dass die innere Vervollkommnung zur Besserung der Gesellschaft führe, sei völlig lebensfremd. Plechanov behauptet dagegen, dass eine Veränderung der Gesellschaftsordnung sowie die Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung primär seien und der Mensch sich danach bessere. Die Bedeutung der Predigt Tolstojs liege, so Plechanov, nicht in ihrer ethischen und religiösen Ausrichtung, sondern in der bildhaften plastischen Darstellung der Ausbeutung des Volkes. Laut Plechanov eignet sich die Lehre Tolstojs für das Proletariat aus zwei Gründen nicht: Erstens konzipiere Tolstoj sie vom Standpunkt eines Aristokraten für Seinesgleichen. Im Unterschied zu Lenin hält Plechanov den Schriftsteller für »einen Aristokraten, der bis an sein Lebensende ein Grandseigneur blieb«.26 Er orientiere sich zwar in seiner Lehre an der religiösen Moral der Bauern, interessiere sich aber weit weniger für sie als für jene der Grundbesitzer. Seine Ethik trage negative Züge, bleibe einseitig und müsse unbedingt durch eine positive Ethik ersetzt werden. Zweitens sei diese Lehre individualistisch, was dem marxistischen Prinzip des Kollektivismus widerspreche. Plechanov kritisiert den »genialsten und radikalsten Individualisten der Neuzeit«27 und behauptet, dass der Mensch ein kollektives und soziales Wesen sei, das in Gruppen um seine Existenz kämpfe. Das revolutionäre Proletariat dürfe keinesfalls beim Grafen Tolstoj lernen und müsse seine Predigt entschieden ablehnen.

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Plechanov mokiert sich über die »Mode, Marx mit Graf Tolstoj zu ergänzen«, und findet, dass die Begeisterung, welche Eklektiker wie Lunaˇcarskij für Tolstoj zeigten, erbärmlich sei. Dessen Lehre sei ein »Seelenwärmer moderner Niedergeschlagenheit, der sich nur für alte Weiber eignet«.28 Plechanovs Tolstoj-Aufsätze übten einen großen Einfluss auf die Tolstoj-Rezeption von namhaften Marxisten wie Ljubov’ Aksel’rod, Rosa Luxemburg und Franz Mehring aus. Mit der griffigen Formel »Tolstoj nur von hierher bis dahin verehren«29 etablierte Plechanov die selektive Herangehensweise in der marxistischen Literaturwissenschaft, welche in der Sowjetzeit zur Transformation solcher Klassiker wie Gogol’ und Dostoevskij führte.

Lunaˇcarskij Lenin und Plechanov argumentieren in ihren Tolstoj-Artikeln utilitaristisch und religionsfeindlich. In der marxistischen Tolstoj-Rezeption gab es indessen auch eine alternative Richtung. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 entstand im Kreis der russischen Sozialdemokraten die philosophisch-ethische Strömung der »Gotterbauer« (bogostroiteli), deren bedeutendste Theoretiker Lunaˇcarskij, Bazarov und Bogdanov waren. 1908 veröffentlichte Lunaˇcarskij seine Monographie Religion und Sozialismus,30 in der er versuchte, den Marxismus mit religiöser Semantik zu verbinden. 1911 publizierte der spätere sowjetische Kulturminister einen Aufsatz über Tolstoj, worin er dessen Ethik positiv bewertete und dazu aufrief, sie in die sozialökonomische Lehre von Marx zu integrieren (was bei Plechanov und Lenin auf vehemente Kritik stieß).31 Dieser Aufsatz wurde in der UdSSR nie veröffentlicht. Bemerkenswert ist, dass Lunaˇcarskij ca. 35 Schriften über Tolstoj verfasste, von denen nur jene publiziert wurden, die nach seiner Wende zum Bolschewismus entstanden waren.32 Als »Gotterbauer« war Lunaˇcarskij der Auffassung, dass die sozialistischen Ideale nicht nur durch revolutionäre Veränderungen, sondern auch durch die moralische Vervollkommnung der Massen zu erreichen sind. Im Unterschied zu Lenin und Plechanov sah er in der Religion einen notwendigen sozialen Regulator und ein Mittel der emotionalen Bindung des Individuums an die gemeinsame Aufgabe, das den Menschen zusätzlich zur Selbstaufopferung motiviere. Er unternahm den Versuch, die sozialökonomisch orientierte marxistische Lehre durch die Ethik Tolstojs zu anthropologisieren. Der Marxismus war für Lunaˇcarskij eine Arbeiterreligion, die nicht auf der Transzendenz, sondern auf dem Realismus der reinen Erfahrung basiere und die Schaffung eines irdischen Gottesreiches anstrebe, eine Art kosmo-

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politische Bruderschaft aller Werktätigen. In Analogie zu Tolstoj befreite Lunaˇcarskij die Gestalt Christi von jeglicher Mystik und schuf ein Bild von Christus als einem Menschen, der der Macht und dem Reichtum entsagt und Selbstaufopferung propagiert hat. Auch die Objekte der religiösen Anbetung der »Gotterbauer« stimmten teilweise mit jenen von Tolstoj überein: Natur, Kosmos und kollektives Schaffen materieller oder geistiger Art. Im Unterschied zu Tolstoj, der eine Reinigung der existierenden Religion anstrebte, versuchte Lunaˇcarskij eine neue Religion zu schaffen. Nach der Oktoberrevolution wurde Lunaˇcarskij von Lenin zum Volkskommissar für Aufklärung und Bildung ernannt. Ab diesem Zeitpunkt passte sich Lunaˇcarskij der offiziellen Linie der marxistischen Kritik an: Tolstojs war für ihn eine kolossale, aber ambivalente Gestalt. Ab 1928 hieß es: Der Ideologe Tolstoj sei ein Prediger von »Schafsinstinkten« (oveˇc’i instinkty) und ein Verkünder nichtiger asketischer Ideale.33 Als ehemaliger »Gotterbauer« warf Lunaˇcarskij dem Grafen von Jasnaja Poljana, welcher Fortschritt, moderne Technik und Kultur anprangerte, Rückständigkeit vor. In seinen späteren Aufsätzen beschrieb Lunaˇcarskij Tolstoj nur noch als Gegner in der Arena des revolutionären Kampfes und das Tolstojanertum als ein Hindernis, das es erschwert, die Bauern für den Aufbau des Sozialismus zu gewinnen.34

Anmerkungen 1 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: K. Marx/ F. Engels, Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1970, 17. 2 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, Frankfurt a.M. 2005, 4. 3 A.V. Luna cˇ arskij, Tolstoj i Marks [1928], in: Literaturnoe nasledstvo 35–36, Moskau 1939, I, 407. 4 G.W. Plechanow, Karl Marx und Lew Tolstoi (1911), in: L.N. Tolstoi im Spiegel des Marxismus, Wien/Berlin 1928, 52. 5 Die Ambivalenz der offiziellen Linie bezüglich der Tolstojaner zeigte sich bereits in den . ersten Jahren des bolschewistischen Regimes. In der NEP-Zeit begrüßte der Kreml die Teilnahme der Tolstojaner am landwirtschaftlichen Aufbau des Landes und unterstützte die Gründung ihrer Kommunen. Seit 1927 wurde die Politik der Kollektivierung auf dem Lande forciert. Für die stalinistische Landwirtschaft stellten die Tolstojaner eine Gefahr dar. Im Jahre 1939 liquidierte das Regime die letzte Tolstojaner-Kommune in der UdSSR. Während des Zweiten Weltkriegs verfolgte man die Tolstojaner wegen Kriegsdienstverweigerung und rehabilitierte sie erst unter Chruˇscˇ ev. Ausführlich darüber in: M. Popovskij, Russkie muˇziki rasskazyvajut. Posledovateli Tolstogo v Sovetskom Sojuze, London 1983; W. Edgerton, Memoirs of Peasant Tolstoyans in Soviet Russia, Bloomington 1993. 6 W.I. Lenin, Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution [1908], Berlin 1985, 13.

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7 Vgl. A.L. Tolstaja, Probleski vo t’me, Washington 1965, 21–25. 8 Den Kampf um die kritische Tolstoj-Ausgabe beschreibt L.A. Osterman in seiner Monographie Sraˇzenie za Tolstogo. Istorija vychoda Polnogo 90-tomnogo sobranija soˇcinenij L.N. Tolstogo, 1928–1958, Moskau 2000. 9 Vgl. V.F. Bulgakov, Lev Tolstoj i Karl Marks, in: Lev Tolstoj i sovremennost’, Moskau 1981, 55–66; A.V. Luna cˇ arskij, O Tolstom, Moskau 1928. 10 V.M. Fri cˇ e, O Tolstom. Literaturno-kritiˇceskij sbornik, Moskau 1928; D.Ju. Kvitko, Filosofija Tolstogo, Moskau 1928; M.S. Gel’fand, Tolstoj i tolstovˇscˇ ina v svete marksistskoj kritiki, Saratov 1928. 11 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Aleksandra Tolstaja, die Tochter des Schriftstellers, als »Kommissarin von Jasnaja Poljana« für ihre Mitgliedschaft in antisowjetischen Organisationen so oft verhaftet wurde, bis sie 1929 endgültig das Land verliess und nach Japan emigrierte; Ja.S. Lur’je, Posle L’va Tolstogo, St. Petersburg 1993. 12 Vgl. A.Sˇ. Gurˇs tejn, Lenin o Tolstom, in: Literaturnoe nasledstvo 35–36, Moskau 1939, 3–13. 13 G.V. Plechanov, Otsjuda i dosjuda [1910], in: ders., Soˇcinenija, Bd. 24, Moskau 1925, 185. 14 Vgl. V.F. Asmus, Mirovozzrenie Tolstogo, in: Literaturnoe nasledstvo 69, Moskau 1961, I, 35–102. 15 G.Ja. Galagan, Put’ Tolstogo k »Ispovedi«, in: L.N. Tolstoj i russkaja literaturnoobˇscˇ estvennaja mysl’, Leningrad 1979, 192. 16 Vgl. Bol’ˇs aja sovetskaja enciklopedija, ˙ 3. Aufl., Bd. 26, Moskau 1972, 49. 17 V.F. Tendrjakov, Boˇzeskoe i cˇ eloveˇceskoe L’va Tolstogo, in: L.N. Tolstoj i russkaja literaturno-obˇscˇ estvennaja mysl’, Leningrad 1979, 288. 18 Dan’ pamjati velikogo russkogo pisatelja, in: Pravda, 18. Januar 1977. 19 W.I. Lenin, Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution [1908], 16. 20 A.a.O., 13f. 21 W.I. Lenin, L.N. Tolstoi [1910], in: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution, Berlin 1985, 24. 22 A.a.O., 33. 23 Vgl. G.W. Plechanow, Karl Marx und Lew Tolstoi, 90. 24 G.W. Plechanow, »Von hierher bis dahin« [1910], in: L.N. Tolstoi im Spiegel des Marxismus, Wien/Berlin 1928, 58. 25 Vgl. G.W. Plechanow, Karl Marx und Lew Tolstoi, 105. 26 A.a.O., 100. 27 Vgl. G.W. Plechanow, Begriffsverwirrung [1911], in: L.N. Tolstoi im Spiegel des Marxismus, Wien/Berlin 1928, 69. 28 Vgl. G.W. Plechanow, Karl Marx und Lew Tolstoi, 111. 29 G.W. Plechanow, »Von hierher bis dahin«, 52. 30 A.V. Luna cˇ arskij, Religija i socializm, St. Petersburg 1908. 31 Vgl. G.W. Plechanow, Karl Marx und Lew Tolstoi, 111. 32 K.N. Lomunov, Neopublikovannaja lekcija A.V. Lunaˇcarskogo o Tolstom, in: Literaturnoe nasledstvo 69, II, 403. 33 Vgl. A.V. Luna cˇ arskij, Sobranie soˇcinenij v vos’mi tomach, Bd. 1, Moskau 1963, 344. 34 A.a.O., 349.

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Christian Münch

Religiöser Sozialismus in der Schweiz Als religiöser Denker stieß Tolstoj vor 100 Jahren besonders bei protestantischen Theologen auf Interesse. Und dies ist nicht verwunderlich, rekurriert Tolstoj in seinen sozial-religiösen Schriften doch selbst auf den Protestantismus und dessen Vorläufer: auf Jan Hus, Petr Chelˇcick´y, Martin Luther, den radikalen Pietismus (Arnold), die Quäker und die liberale Theologie (Strauß).1 Tolstojs Orientierung an der Bibel als Norm, anhand welcher er die Tradition, den Kultus und die Mysterien kritisiert, entspricht einem urprotestantischen »Verfahren«. Gerade von orthodoxer und katholischer Seite wurde Tolstoj deshalb eine Nähe zum Protestantismus nachgesagt: Nikolaj Minskij z.B. erblickte im Grafen von Jasnaja Poljana einen »russischen Luther«,2 und der katholische Theologe Robert Quiskamp bezeichnete ihn als »Protestant im eigentlichen Sinne des Wortes«.3 Die protestantischen Theologen selbst, die sich durch Tolstojs Lehre herausgefordert fühlten, scheuten sich allerdings, Tolstoj mit dem Protestantismus in Verbindung zu bringen. Neben allem, was sie mit Tolstoj verband, mussten sie in seiner Lehre so grundlegende reformatorische Prinzipien wie die Rechtfertigung aus Glauben ohne Werke vermissen, empfanden aber auch vieles als fremd, als »typisch russisch« – so etwa seine Akzentuierung des Gebots des Nichtwiderstehens, worin manche den Ausdruck einer in Russland verbreiteten Passivität erblickten.4 Was Tolstojs Bergpredigt-Auslegung, seine Kulturkritik und seine Vision vom Gottesreich auf Erden betrifft, so gingen die Meinungen weit auseinander. Die theologische Auseinandersetzung damit geschah im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts v.a. in folgenden zwei protestantischen Lagern: in jenem der liberalen Protestanten (1.) und in jenem der Religiös-Sozialen (2.): 1. Zur Tolstoj-Rezeption im liberalen Protestantismus. Die liberalen Theologen, die das Christentum mit der modernen Kultur versöhnen wollten, nahmen Tolstojs religiöse Botschaft ernst. Sie sahen darin eine Herausforderung, der sie sich stellen mussten. Einerseits begrüßten sie Tolstojs Kritik an der orthodoxen Verfälschung der Lehre Christi und sein Anliegen, diese vernunftgemäß und unter Betonung ihrer ethischen Stoßrichtung auszulegen. Andererseits lehnten sie Tolstojs vermeintlich gesetzmäßige BergpredigtAuslegung und seine Kulturkritik in ihren praktischen Konsequenzen ab. Sie

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machten den pazifistischen Charakter des Evangeliums für die Welt unwirksam, indem sie die Reichweite des christlichen Glaubens auf das Gebiet der Gesinnung und Innerlichkeit beschränkten oder die Eigengesetzlichkeit der Welt betonten. Letzteres tat beispielsweise der liberale Politiker und Theologe Friedrich Naumann auf dem Hintergrund der Zwei-Reiche-Lehre Luthers. In seinen 1903 erschienenen Briefen über Religion stellte er dem Christen folgende zwei Prinzipien zur Auswahl: das Prinzip »Bismarck« und das Prinzip »Tolstoj« – das »Evangelium von der gepanzerten Faust« und das »Evangelium der Brüder vom gemeinsamen Leben«. Als Politiker meinte Naumann nur »Bismarck« folgen zu können und befürwortete die militärische Aufrüstung als Pflicht. Andererseits war er auch der Ansicht, das Leben stehe über allen Gegensätzen und Prinzipien, so dass es sowohl »Bismarck« als auch »Tolstoj« brauche – biblisch gesprochen: sowohl das, was des Kaisers ist, als auch das, was Gottes ist; »je nach Zeit und Ort«.5 Das Beispiel Naumann zeigt, wie Liberale Tolstoj als religiösen Denker ernst zu nehmen versuchten, sich seinem Einfluss aber entzogen, indem sie durch die Auseinandersetzung mit ihm v.a. den eigenen kulturprotestantischen Standpunkt überprüften.6 2. Zur Tolstoj-Rezeption im religiösen Sozialismus. Anders zu Tolstoj verhielten sich die Religiös-Sozialen. Im Unterschied zu vielen Liberalen benutzten sie Tolstojs religiöse Botschaft nicht bloß zur Reflexion des eigenen Standpunktes, sondern ließen sich z.T. maßgeblich von ihr beeinflussen. Einige von ihnen erkoren Tolstoj sogar zu ihrem Vorbild und integrierten seine Thesen in ihre Theologie. Dem »Evangelium von der gepanzerten Faust«, das Naumann vermittelte, erteilten sie eine schroffe Absage. »Tolstoj statt Bismarck« lautete ihre Parole.7 Sie lehnten das »Kompromiss- und Wohnstubenchristentum« der Liberalen ab. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bildete die Schweiz das Zentrum des deutschsprachigen religiösen Sozialismus. Hier gründeten 1906 die Theologen Leonhard Ragaz und Hermann Kutter – unter dem Einfluss des württembergischen Pfarrers Christoph Friedrich Blumhardt – die religiös-soziale Bewegung. Ihr Ziel war es, eine Brücke zwischen Christentum und Sozialismus zu schlagen – ähnlich, wie es einst die Frühsozialisten Saint-Simon und Weitling getan hatten. Dabei grenzten sie sich sowohl gegen die nichtreligiösen Sozialisten wie auch gegen die religiösen Antisozialisten ab. Die Lehre Christi hielten sie in ihrem Wesen für sozialistisch. In der Bergpredigt sahen sie das Dokument einer gewaltlosen Weltrevolution und im Gottesreich ein »Reich für diese Welt« in der Art einer gewalt- und klassenlosen Friedensgemeinschaft, die Staat und institutionalisierte Religion überwindet. Im Kreis der Schweizer Religiös-Sozialen fanden sich einige, die sich an Tolstoj orientierten: darunter die Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945), Jean Matthieu

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(1874–1921) und Emil Blum (1894–1978). Diesen drei Exponenten des religiösen Sozialismus und ihrer Auseinandersetzung mit Tolstoj gilt im Folgenden unsere Aufmerksamkeit. Dabei kommt dem erstgenannten – Leonhard Ragaz, der zweifellos der bekannteste unter den dreien ist – das Hauptaugenmerk zu. Ragaz selbst wurde wiederholt als Tolstojaner bezeichnet.8

Leonhard Ragaz (1868–1945) Leonhard Ragaz stammte aus einer einfachen Bauernfamilie und wuchs im genossenschaftlich organisierten Kanton Graubünden auf. Der Agrarsozialismus, mit dem er als Kind und Jugendlicher in Berührung kam, prägte seine spätere Vision vom Reich Gottes auf Erden.9 Im Alter von 18 Jahren wurde er zum Theologiestudium bestimmt, nicht weil er dazu geneigt war, sondern weil es dafür Stipendien gab. Nach dem Studium in Basel, Jena und Berlin arbeitete er als Pfarrer in verschiedenen Bergdörfern des Kantons Graubünden, später in der Hauptstadt Chur. In Chur las er 1900 Tolstojs Roman Auferstehung, der ihn begeisterte und worin er »die Predigt für unsere Zeit« erblickte.10 Damals war er gerade als Gefängnisseelsorger tätig gewesen, engagierte sich auf dem Gebiet der Armenpflege und kämpfte gegen Alkoholismus und Prostitution. Nachdem er 1902 als Pfarrer ans Basler Münster gewählt worden war, erlebte er eine Krise, in deren Folge er sich vom Liberalen zum Sozialisten und Fürsprecher der streikenden Arbeiter wandelte. 1903 las er Tolstojs Buch Das Reich Gottes ist in euch, das ihn – ähnlich wie Marx’ Kapital – beeindruckte, ja erschütterte.11 »Der Eindruck«, schreibt er in seiner Autobiographie, »war umso gewaltiger, als hier, zu meiner großen Überraschung, all die revolutionären Gedanken ausgesprochen waren, die schon lange, als radikale Ketzerei, in mir gearbeitet hatten«. »Tolstoi ist«, schreibt er weiter, »ein Hauptelement meiner geistigen Existenz geworden. Allseitig und immer aufs Neue habe ich mich mit ihm bekannt gemacht und auseinandergesetzt, bis auf diesen Tag«.12 In Tolstoj sah er einen Propheten – einen, »der unserer Zeit ein Wort Gottes zu sagen hat«, einen »Vertreter und Wiederhersteller des durch die Kirche in sein Gegenteil verkehrten ursprünglichen Evangeliums«.13 In seinem Buch Du sollst aus dem Jahr 1903 stellte er den geistigen Sozialismus Tolstojs dem Individualismus Nietzsches und dem Positivismus Comtes gegenüber.14 1906 organisierte Ragaz zusammen mit Hermann Kutter und anderen die religiös-soziale Bewegung und gründete die Zeitschrift Neue Wege, die zum wichtigsten deutschsprachigen Publikationsorgan der religiösen Sozialisten wurde. In den Neuen Wegen, die als eine der ältesten Zeitschriften der Schweiz bis heute überdauert haben, erschienen auch einige Artikel über Tolstoj15 sowie Über-

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setzungen kürzerer Schriften von ihm.16 1908 folgte Ragaz einem Ruf als Professor für systematische und praktische Theologie an die Universität Zürich. Nachdem er 1913 der Sozialdemokratischen Partei beigetreten war, galt sein ganzes Engagement nun dem Kampf gegen den Krieg: Er trat für die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein und machte sich, wie er selbst schreibt, »zum gefürchtetsten und gehasstesten Mann der Schweiz«.17 Während des Ersten Weltkriegs stand Ragaz in »einer engen Verbindung« mit den Tolstojanern Valentin Bulgakov und Pavel Birjukov.18 Letzterer war Schweizer geworden und veröffentlichte in der Zeitschrift Neue Wege Artikel über Tolstoj und den Prozess der Tolstojaner in Moskau.19 Zur selben Zeit begegnete Ragaz den russischen Revolutionären, die damals in Zürich lebten. Er lernte Trockij kennen, der sich später in seiner Autobiographie anerkennend über Ragaz äußerte.20 Zu Lenin dagegen, der die religiösen Sozialisten als »weinerliche Sozialpfaffen« abstempelte, bewahrte er Distanz.21 Im Gewaltglauben der Bolschewisten sah Ragaz einen Abfall vom wahren Sozialismus und nach der Oktoberrevolution stellte er dem Prinzip »Lenin« das Prinzip »Tolstoj« gegenüber.22 An die Stelle der früheren Opposition Nietzsche-Tolstoj rückte nun das Problem »Marx und Tolstoj« bzw. »Lenin und Tolstoj«. Dazu äußerte sich Ragaz wie folgt: Das Problem »Marx« (oder »Lenin«) und »Tolstoi« steht […] im Mittelpunkt meines eigenen Lebensproblems. Rein statisch-systematisch ist es wohl schwer zu lösen, aber vielleicht genetisch-dynamisch. Wenigstens ist das meine Lösung. »Marx« geht sozusagen voraus, er ist nötig, so lange »Tolstoi« noch nicht gilt. Anders gesagt: unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie Gottes scheint mir heute der Sozialismus (als Kollektivismus) notwendig, aber sein letztes Wort ist die Nachfolge Christi. Bildlich ausgedrückt: Der Sozialismus ist nicht das Fundament, aber das Gemäuer, der Giebel aber ist die Bergpredigt […].23

Ragaz plädierte für einen friedlichen Weg.24 Ab 1919 setzte er seine Hoffnungen in den Völkerbund. Immer mehr aber wurde sein Gewissen vom täglichen Zwiespalt belastet, in dem er sich als gut verdienender Professor befand: Wie konnte er den Mammon, den Caesar und den Mars anprangern, wenn er doch selbst ein Diener derselben war? Er gab Tolstoj recht, der schrieb: »Ein Christ kann nicht Staatsdiener sein« (Christianin ne moˇzet sluˇzit’ gosudarstvu).25 Und so beschloss Ragaz, von Tolstojs Flucht aus Jasnaja Poljana inspiriert,26 seine Stelle als Universitätsprofessor aufzugeben und mit seiner Familie vom noblen Zürichberg in das Arbeiterquartier Außersihl zu ziehen. Dieser Schritt, den er 1921 – im Alter von fast 53 Jahren – vollzog, sorgte für landesweite Bewunderung, aber auch für Kopfschütteln. Hatte Ragaz doch kein Vermögen im Rücken, und befanden sich seine Kinder noch in Ausbildung. Es war ein Schritt ins Ungewisse. Anfänglich wollte er Fabrikarbeiter werden, doch scheint ihn seine Familie von diesem Vorhaben abgebracht zu haben.

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Schließlich schuf man in der Redaktion der Neuen Wege eine Stelle für ihn, die ihm ein bescheidenes Einkommen garantierte. Als einziger besoldeter Redaktor der Neuen Wege hat Ragaz seinen Kampf für Frieden und Gerechtigkeit bis zu seinem Tode fortgesetzt. Aufs Schärfste verurteilte er in den 1930er und 1940er Jahren den Nationalsozialismus und den Antisemitismus, weshalb die Neuen Wege während des Zweiten Weltkriegs vom Armeestab unter Vorzensur gestellt wurden (angeblich wegen neutralitätswidriger Einstellung). Ragaz aber ließ sich dadurch nicht beirren. Er gab die Einstellung der Zeitschrift bekannt und druckte sie fortan illegal. Im Jahr 1945 starb er, kurz nachdem er die Atombombe als »Wunder Satans« verurteilt hatte.27 Im Leben von Leonhard Ragaz spielte Tolstoj, wie gezeigt worden ist, eine signifikante Rolle. Entsprechend häufig bezieht sich der Bündner Theologe in seinem umfangreichen Schaffen auf ihn. Gar viele Zeilen hat er dem russischen Schriftsteller gewidmet, ja dessen Weltanschauung im Sommersemester 1918 sogar zum Thema einer akademischen Veranstaltung gemacht.28 Worin aber stimmte Ragaz genau mit Tolstoj überein? Und wogegen grenzte er sich ab? Wenn Ragaz zuweilen auch als Tolstojaner bezeichnet wurde, so zählte er sich jedenfalls nicht dazu.29 Mit dem Ausdruck »Tolstojaner« verband er Namen wie Vladimir Cˇertkov und Martin Schulz30, von deren dogmatischen Haltung er sich distanzierte. Dazu schreibt er: »Mir scheint überhaupt bei den Jüngern Tolstois ›nach dem Fleische‹ sich das tragische Schicksal solcher Jüngerschaft [zu erneuern]: das Stehenbleiben bei einer bestimmten Phase im Leben des Meisters«.31 Ragaz war der Ansicht, dass sich Tolstojs lebenslanges religiöses Suchen, das unaufhörlich in Bewegung war, nicht in ein doktrinäres System pressen lässt. Auch war er sich bewusst, dass Tolstoj als religiöser Denker immer zugleich Künstler blieb. Als solcher, schreibt er, hatte er seine Stärke nicht in der Abstraktion, sondern in der Anschauung, weshalb seine Begriffe oft unklar seien.32 Unter diesen Prämissen war Ragaz’ Verhältnis zu Tolstoj nicht das eines Jüngers zum Meister. Er teilte mit ihm zwar einige Grundthesen, entwickelte diese aber weiter, modifizierte sie und differenzierte sie aus. Manches an Tolstojs Weltanschauung lehnte er sogar ausdrücklich ab. Wenn Ragaz als Tolstojaner bezeichnet wurde, so geschah dies meist aufgrund seines Antimilitarismus und seines Eintretens für die Dienstverweigerung. Doch rückte dieser Aspekt erst in der Zeit des Ersten Weltkriegs in den Vordergrund. Ragaz’ entscheidendes »Zusammentreffen mit Tolstoi« erfolgte nicht über das Prinzip der Gewaltlosigkeit, sondern aus einer umfassenderen Sicht der Dinge, namentlich des »Reiches Gottes« und der »Nachfolge Christi«. »Reich Gottes« ist der zentrale Begriff in der Theologie von Ragaz und von anderen religiösen Sozialisten. Als Ragaz 1903 Tolstojs Buch

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Das Reich Gottes ist in euch las, hatte er seine Reich-Gottes-Theologie in Ansätzen zwar schon entworfen,33 fand hier aber eine Bestätigung und weiterführende Impulse (und dies noch vor seiner Beschäftigung mit Christoph Blumhardt). Wie Tolstoj lehnte Ragaz die verbreitete Ansicht ab, dass das Reich Gottes in einem himmlischen Jenseits liege. Jesus habe das Reich Gottes für die diesseitige Welt gewollt. Wenn das Reich Gottes auch nicht von dieser Welt sei, d.h. nicht ein Reich in der Art der Weltreiche, so sei es doch für diese Welt, d.h. es soll in diese Welt kommen, um sie zu überwinden.34 Dabei stehe das Reich Gottes im Gegensatz zu aller Macht und Gewalt, d.h. auch im Widerspruch zum Staat, der auf Gewalt beruhe. Das Reich Gottes, wie es Jesus verkündete, hebe den Staat auf.35 Es lasse sich überhaupt nicht binden an Institutionen, Formen und Traditionen. Es sei volkstümlich und laienhaft und stehe im Gegensatz zu allen kirchlichen und theologischen Schablonen. Gerade die Kirche stehe dem Reich Gottes im Wege. Denn in ihr konzentriere sich die »Sinnestäuschung« der Christenheit. Dazu schreibt Ragaz: »Wir erschrecken vor der heiligen Lüge im Kirchentum. […] Das ist die furchtbarste Finsternis, in die die Welt geraten kann, schlimmer als ›Unglauben‹ oder Laster. Das ist das Antichristentum: das Gegenteil des Christentums im Gewand des Christentums«;36 die Kirche hat Jesus »ans Schandkreuz geschlagen«.37 Hier steht Ragaz – bis zu einzelnen Formulierungen – Tolstoj sehr nahe. Freilich verband er seine Kirchenkritik mit einem negativen Religionsbegriff. Anders als Tolstoj verstand er unter »Religion« nur »das, was die Menschen aus Gott machen, als Gott ausgeben und was oft anders ist als Gott«, die menschliche Lehre: Theologie, Dogma, Kirche, Kultus und eine gewisse Art von Frömmigkeit.38 Religion in diesem Sinne habe Jesus abgelehnt. Unter diesen Vorgaben gab Ragaz Karl Marx Recht und verurteilte die Religion als »Opium der Welt«.39 Und so kam er zum Schluss: Das Reich Gottes hebt Staat und Religion auf. Ähnlich wie Tolstoj schwebte Ragaz eine nicht-institutionalisierte überkonfessionelle und überreligiöse Friedensgemeinschaft vor – eine Gemeinschaft im Geiste Jesu (in Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), die im positiven Sinne des Wortes säkular ist. Als Vorbild für diese säkulare Friedensgemeinschaft diente ihm das anarchistische Genossenschaftswesen, wie er es u.a. bei den freien Genossenschaften seines Heimatkantons gesehen hatte. Wie aber ist diese Friedensgemeinschaft zu erreichen? Für Ragaz war der Weg zum Reich Gottes ein Weg der Revolution. Doch sollte diese Revolution gewaltlos verlaufen und eine permanente, nie abgeschlossene sein. Denn das Reich Gottes, schreibt er, »ist der ewige Morgen«.40 Gleichzeitig sei das Reich Gottes ein Appell zur Mitarbeit eines jeden Einzelnen: Jeder sei aufgerufen, die Wahrheit des Gottesreiches in seinem eigenen Leben – u.a. durch Verzicht auf Besitz und Gewalt – zu verwirklichen. In diesen Punkten war Ragaz

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mit Tolstoj einig.41 Wie Tolstoj verknüpfte er Sozial- und Individualethik: die Aufrichtung des Gottesreiches mit der Nachfolge Christi.42 Und gerade in der Nachfolge Christi war ihm Tolstoj im Leben und Denken ein großes Vorbild: »In der Gestalt Tolstojs, in der Tragik seines Lebens und Sterbens«, schreibt Ragaz, haben die Worte Jesu, wie sie in der Bergpredigt enthalten sind, »Fleisch und Blut angenommen«.43 In Tolstoj sah Ragaz einen existenziellen Zeugen des Bergpredigt-Christentums und rechnete es zu den großen Verdiensten des Russen, gezeigt zu haben, »dass die Bergpredigt das wahre Leben beschreibe und dass sie gelebt werden könne und müsse«.44 Ähnlich wie Tolstoj sah Ragaz in den Thesen der Bergpredigt keine äußeren Vorschriften, sondern Prinzipien und Richtungsanzeiger, die den eigenen Möglichkeiten entsprechend realisierbar sind und sowohl im personalen wie auch im gesellschaftlichen Bereich Gültigkeit haben. Für wesentlich hielt er dabei, dass das höchste Ziel, wie es in der Bergpredigt formuliert ist, stets im Auge behalten werde und dass es durch Kompromisse mit der bestehenden Ordnung nicht aus dem Blickfeld gerate.45 Ragaz stimmte Tolstoj inhaltlich zu, dass die Bergpredigt das Ideal, das Absolute vermittle, welches letztlich nur in der Unendlichkeit erreichbar sei, in allen relativen Bereichen des Lebens aber annäherungsweise und den Prämissen entsprechend verwirklicht werden könne und müsse. Für entscheidend hielt er dabei – genauso wie Tolstoj – die Einheit von Glauben und Handeln, mit der beide Denker ihre Vorstellung von Nachfolge verbanden. Bei allen Gemeinsamkeiten und Analogien sind die Unterschiede zwischen Ragaz und Tolstoj jedoch unübersehbar. Was ihre Reich-GottesKonzeptionen betrifft, so liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass Ragaz – wie die anderen religiösen Sozialisten – den Begriff »Reich Gottes« eschatologisch deutete: Nach Ragaz ist das Reich Gottes etwas radikal Neues, das, von Gott herkommend, als Gericht über die bürgerliche Kulturwelt mit ihrer sozialen Ungerechtigkeit hereinbricht, während es nach Tolstoj in der Seele der Menschen angelegt ist und von diesen durch Erfüllung des Willens Gottes errichtet wird. Insofern ist das Reich Gottes nach Ragaz eine transzendente Realität, die ins Diesseits hereinbricht, während es nach Tolstoj von innen heraus, durch die im Menschen wirkende göttliche Vernunft, entsteht. In diesem Zusammenhang machte sich Ragaz konkretere Gedanken zur Verwandlung der sozialen Strukturen als Tolstoj, der das Gottesreich vom Religiös-Personalen aus dachte. In seiner eschatologischen Deutung des Gottesreiches war Ragaz besonders von Christoph Blumhardt beeinflusst, mit dem ihn letztlich mehr verband als mit Tolstoj (in diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Nikolaj Berdjaev in seiner Autobiographie bekannt gibt, gerade hinsichtlich der Eschatologie von Ragaz und Blumhardt beeinflusst worden zu sein).46

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Im eschatologischen Kontext steht auch Ragaz’ Verständnis von Gottes Handeln in der Geschichte, das bei Tolstoj, der zum aufklärerischen Deismus neigte, keine direkte Entsprechung fand. Im Gegensatz zu Tolstoj hat Ragaz sein Gottes- und Christusbild wie auch seine ganze theologische Konzeption vor dem Hintergrund seiner akademischen Bildung und Lehrtätigkeit entwickelt. Zwar lehnte er, wie Tolstoj, die Form des Dogmas ab, doch hielt er beispielsweise am Inhalt der Lehre von den zwei Naturen Christi fest. Tolstojs Rationalismus in der Beurteilung des Dogmas und des Neuen Testaments wies er zurück, genauso wie seine Haltung zu den wirtschaftlichen Problemen, zur Kunst und zur sexuellen Frage.47 Und während der Russe den Sozialismus mit Gewalt und Materialismus assoziierte (f O. Caspers, Sozialismus, 524–526), hielt Ragaz den Sozialismus im Wesen für gewaltlos und für konform mit dem Geist des Evangeliums. Schließlich kritisierte Ragaz auch Tolstojs Bergpredigt-Auslegung: Einerseits warf er dem russischen Grafen vor, die Forderung nach Vollkommenheit in eine solche Höhe geschraubt zu haben, dass sie unerreichbar schien.48 Andererseits empfand er Tolstojs Art der Auslegung als »gesetzlich« und verurteilte die Konstruktion eines »Gesetzes Christi« im Sinne der Mosaischen Gebote.49 Immer skeptischer verhielt sich Ragaz auch zu Tolstojs Lehre vom Nichtwiderstehen. Nachdem er sie eine Zeit lang vertreten hatte und oft mit ihr in Verbindung gebracht worden war, schrieb er in seiner Autobiographie: Was aber seine [d.i. Tolstojs] Lehre von der Gewaltlosigkeit, oder besser, dem Nichtwiderstehen, betrifft, so habe ich sie für einige Zeit angenommen und vertreten, wenn auch nie ganz in seinem Sinne, sie aber nie doktrinär verstanden und schließlich um des passiven und quietistischen Charakters willen, den sie leicht annehmen kann, ganz aufgegeben.50

Im Laufe der Zeit, spätestens durch den Terror der Nationalsozialisten, wurde Ragaz hier zum Umdenken bewogen. In seiner Reich-Gottes-Konzeption bekam das Recht eine immer größere Bedeutung, namentlich das Menschenrecht und das Recht als Schutz gegen Gewalt.51 Tolstojs Lehre vom Nichtwiderstehen hat er – wie viele religiöse Sozialisten – letztlich als »Irrtum« aufgegeben.52 Diese Unterschiede aber taten der großen Bedeutung keinen Abbruch, die Ragaz dem Grafen von Jasnaja Poljana zuschrieb: die eines einzigartigen Zeugen der Weltrevolution Christi. Anlässlich von Tolstojs 100. Geburtstag schrieb Ragaz in den Neuen Wegen: [V]on jenem Jasnaja Poljana her, von einem ganz unerwarteten Orte her, [fuhr] aus dem Munde eines Laien, eines Grafen, Dichters, Schriftstellers, der Blitz, der Christus heißt, in die abendländische Welt. Schlag auf Schlag kamen, bald als gewaltige Dichtungen, die nicht nur die größten dieser Zeit waren, sondern zu den größten aller Zeiten gehören, bald als prophetische Prosaschriften, jene Manifeste der größten Geistesrevolution, die das Abendland seit den Tagen der Apostel erlebt hat und künftig erleben wird, die auch Tolstoi

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nicht macht, von der er aber einer der gewaltigsten und in mancher Beziehung ein einzigartiger Zeuge ist: der Revolution der Welt durch Christus. Staunend erfuhr die Welt, dass diese Macht, das Christentum genannt, die man gewohnt war für die festeste Stütze aller bestehenden Ordnungen zu halten, in ihrer echten Gestalt ihre größte Feindin und die revolutionärste aller Gewalten sei. […] Und ebenso unglaublich war die Entdeckung einer andern Grundwahrheit des Neuen Testaments: die Nachfolge Christi – und zwar eine mitten in unserer Zeit – die Nachfolge Christi in Demut, Liebe und Armut.

Weiter schreibt er: Das ist die Revolution, die nun kommt: die Revolution Gottes, die Christus bedeutet, die Umkehrung und Umstimmung der verweltlichten Welt auf das Reich Gottes hin, das Bergpredigt und Kreuz offenbaren. Sie kommt – und mit ihr, darin als bescheidener Zeuge verschwindend, auch Leo Tolstoi. Sie kommt: als Morgendämmerung Gottes steigt sie über einer mit Blut und Fluch bedeckten Welt empor und sie wird einst zur Sonne und zu einem Gottesfrühling werden, nach ungeheuren Stürmen! Sie wird zuletzt auch Lenin überwinden – wenn einmal die Liebe wieder groß wird in der Nachfolge der Liebe.53

Jean Matthieu und Emil Blum Unter dem Einfluss Tolstojs standen zwei weitere Exponenten der religiössozialen Bewegung im Umfeld von Ragaz: Jean Matthieu und Emil Blum. Matthieu war ein enger Freund von Ragaz und Mitredaktor der Neuen Wege (laut Mattmüller war »Matthieus Freundschaft mit Ragaz […] eine der wenigen ganz nahen menschlichen Beziehungen, die dem einsamen Bündner in seinem Leben geschenkt waren«).54 Emil Blum wiederum war ein Schüler von beiden. Jean Matthieu (1874–1921) wuchs als Sohn eines Neuenburger Pastors in der elsässischen Fabrikstadt Mülhausen auf, studierte in Basel Theologie und amtete fünf Jahre als Pfarrer in Delémont, wo er sich der religiös-sozialen Bewegung anschloss. 1910 wurde er Religionslehrer an der Kantonsschule in Zürich, trat der Sozialdemokratischen Partei bei und war von 1912 bis 1921 Mitredaktor der Neuen Wege. Matthieu begeisterte sich für die russische Literatur und für den Anarchismus Proudhons, Kropotkins und Tolstojs. Den historischen Determinismus der späteren Marxisten und »die Eventualitäten eines autoritären, die Individualität unterdrückenden Sozialismus« lehnte er ab.55 Den Sozialismus wollte er nicht als wissenschaftliche Lehre, sondern als »das Leben« verstanden wissen.56 Matthieu war es, der den Religiös-Sozialen der deutschsprachigen Schweiz den Anarchismus erschloss.57 1913 schrieb er sein Hauptwerk Das Christentum und die soziale Krise der Gegenwart, das als »früheste wissenschaftliche Darstellung des schweizerischen religiösen Sozialismus« gilt (Mattmüller).58 Darin schlug er sich auf die Seite Tolstojs und stellte dessen sozial-pazifistisches Evangelium

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dem bismarckschen »Evangelium von der gepanzerten Faust« entgegen, genauso wie er Tolstojs »Entweder-oder« gegen das »Sowohl-als-auch« der Liberalen ausspielte.59 In Tolstoj sah er den Wiederhersteller eines »unverfälschten Christentums«, und zwar insofern, als jener das Christentum wieder zu einem Sklavenaufstand gemacht hatte. Das Christentum sei verfälscht worden – »weil es nicht den Mut hatte, ein Sklavenaufstand zu bleiben«.60 Matthieu hat Tolstoj einen Aufsatz und mehrere Abschnitte in größeren Abhandlungen gewidmet, z.B. in seiner Schrift Die Bedeutung der russischen Literatur von 1919.61 In einem prophetischen Artikel, den er wenige Wochen nach der Oktoberrevolution publizierte, hielt er das Prinzip »Tolstoj« dem Prinzip »Lenin« entgegen und veurteilte die bolschewistische Revolution als Verrat am sozialistischen Ideal. Matthieu schreibt: Man hat dafür gesorgt, dass Tolstoj nicht zum leitenden Prinzip der russischen Sache wurde. Man hat sich nicht an das Höchste im russischen Volk gewandt, damit es über das Niedrige den Sieg davon trage. Man hat sich auf das Niedrigste, auf die tierischen Instinkte, gestützt. […] Man will die Volksverbrüderung und mordet den Bruder. Der Apostel ist zugleich Henker. Das Volk, das uns Tolstoj geschenkt hat, hat durch eine blutige Ironie der Geschichte Apostolat und Schergentum in einer noch nie dagewesenen Art verbunden.62

Gegen Ende seines Lebens begeisterte sich Matthieu für Jugendsiedlungen und Pioniergemeinschaften und plante, diese im Ausland zu studieren. Den Prinzipien Tolstojs folgend wollte er in der Praxis alle Lebensgebiete, und sei es auch nur in der kleinsten Keimzelle, dem christlichen Ideal unterordnen.63 Doch konnte er seine Pläne nicht mehr realisieren. Nachdem er schon längere Zeit von Depressionen heimgesucht worden war, schied er 1921 freiwillig aus dem Leben. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder. Ragaz schrieb einen Nachruf auf Matthieu in den Neuen Wegen, in dem er sich Selbstvorwürfe machte.64 Matthieus Begeisterung für Tolstoj und für die religiös-anarchischen Jugendsiedlungen ging auf seinen Schüler Emil Blum (1894–1978) über. Diesem war es vergönnt, einige Pläne seines Lehrers zu realisieren. Blum besuchte Matthieus Religionsunterricht am Gymnasium Zürich und blieb seinem Lehrer zeitlebens freundschaftlich verbunden. Wohl auf dessen Rat hin las er im Jahr 1912 Tolstojs Beichte, worüber er in seinen Erinnerungen berichtet: In jener Zeit war die kleine Schrift von Leo Tolstoi »Meine Beichte« für mich von großer Bedeutung geworden. Ich hatte sie in Erwartung irgendwelcher Pikanterien erworben. Statt dessen fand ich eine packende Darstellung der Krise, in die Tolstoi auf der Suche nach dem Sinn des Lebens geraten war. Das war gerade die Frage, die mich bewegte: Wozu leben wir, wenn doch der Tod am Ende des Lebens eines jeden steht und alles Leben auf Erden eines Tages aufhören wird, wie es eines Tages geworden ist. Dabei blieb mir die Frage nach einem »Leben nach dem Tode« irrelevant.65

Unter dem Einfluss von Tolstojs Beichte und dem Religionsunterricht Matthieus entschloss sich Blum gegen den Wunsch seiner Eltern, Theologie zu

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studieren. Von 1914 bis 1918 absolvierte er das Theologiestudium an der Universität Zürich u.a. bei Leonhard Ragaz. In dieser Zeit schloss er sich der religiös-sozialen Bewegung an und trat der Sozialdemokratischen Partei bei. Nach zweijährigem Pfarramt in Aigle folgte er seinem Wunsch nach verstärktem sozialem Engagement und reiste 1921 mit seiner Frau nach Sannerz (Hessen) zum religiösen Sozialisten Eberhard Arnold, der dort eine religiösanarchische Siedlung nach den Idealen der Bergpredigt leitete. Blum und seine Frau entschieden sich 1922, auf die nahe gelegene Genossenschaftssiedlung Habertshof zu ziehen, wo Blum eine Heimvolkshochschule gründete und eine Gütergemeinschaft anstrebte. In der Siedlung waren neben der Schule ein landwirtschaftlicher Betrieb, eine Gärtnerei, ein Kinderheim und ein Verlag integriert. 1922 veröffentlichte Blum in diesem Verlag seine Monographie über Tolstoj, die er dem Andenken Matthieus widmete.66 Blums Monographie ist der umfangreichste religiös-soziale Beitrag zu Tolstoj und kann als Summe der Tolstoj-Rezeption im schweizerischen religiösen Sozialismus betrachtet werden. Sie gibt weniger Aufschluss über Tolstoj und seine religiöse Weltanschauung als vielmehr über den religiösen Sozialismus und dessen Tolstoj-Rezeption. Blums Tolstoj-Buch liest sich denn zuweilen auch wie eine Programmschrift der Religiös-Sozialen. So heisst es darin: »Der religiöse Sozialist ersehnt ein freies Bruderreich, in dem der Staat aufgehoben ist und keine Gewalttat mehr geübt wird, gerade so wie Tolstoi.«67 Doch ist Blums Abhandlung die bei weitem kritischste aller Tolstoj-Studien der Religiös-Sozialen. Zwar stimmte Blum den tolstojschen Thesen in ihrer Tendenz zu, doch lehnte er sie in ihrer Radikalität ab, insbesondere das Prinzip des Nichtwiderstehens. Dazu schreibt er: Die Menschheit ist ein eng verschlungenes Ganzes, und der tiefste Ausdruck der Solidarität besteht darin, dass Menschen aus lauter Liebe das Zerbrechen, das Verbrechen auf sich nehmen. Wo es aus notwehrender Liebe geschieht, ist es vor Gott keine Sünde; denn in der Gotteskindschaft haben wir die Gesetzlichkeit der Moral überwunden und wissen, dass wir in der Freiheit stehen.68

Auch beim Verwalten der Genossenschaftssiedlung war Blum bald zu Kompromissen gezwungen. Er konnte die Siedlung nur retten, indem er Zugeständnisse an die kapitalistische Umwelt machte. Schließlich ließ er die Heimvolkshochschule sogar vom Preußischen Kultusministerium subventionieren. Blums Experiment scheiterte nicht, obwohl es zuletzt kaum mehr den Idealen entsprach, wie sie einst Matthieu formuliert hatte. Der Habertshof existierte bis 1933, ehe ihn die Nationalsozialisten auflösten und in ein HJ-Zentrum verwandelten. Blum kehrte in die Schweiz zurück und wurde 1934 der erste Studentenberater an der Universität Bern – ein Amt, das von der Kirche finanziert wurde und aus dem später das Hochschulpfarramt hervorging. 1939 wurde Blum als Pfarrer an die Nydeggkirche gewählt und war in den Augen Ragaz’ nunmehr ein »klerikaler Kirchenmann«.69 Aber

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auch in der neuen Stellung führte er sein soziales und politisches Engagement weiter: So publizierte er im Sommer 1944 im Gemeindeblatt der Nydeggkirche Berichte über die Gaskammern von Auschwitz, womit er die Öffentlichkeit aufrüttelte.70 Diese Fakten mussten wie eine Widerlegung des tolstojschen Weltbildes anmuten. Hat sich Tolstoj geirrt? – Diese Frage nahm nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderer Schweizer Theologe auf, der einst als Pfarrer in Safenwil und als Religiös-Sozialer wiederholt auf Tolstoj rekurriert hatte:71 Karl Barth. In seiner Kirchlichen Dogmatik schreibt er über Tolstoj und dessen Jünger Mahatma Gandhi: Wenn Tolstoi und Gandhi sich geirrt haben, so waren sie mit ihrer Lehre der Wahrheit doch immer noch hundertmal näher als – um von dem primitiven Evangelium von der gepanzerten Faust nicht zu reden – alle die Doktrinen, die diesen Worten durch irgendeine geistreiche Lehre von einem Reich, in dem sie gelten, und einem anderen, in dem sie nicht gelten sollten, die Spitze abzubrechen versucht haben. Und es wäre wahrlich schon besser, es wäre in der Weltgeschichte öfters in der Richtung von Tolstoi und Gandhi übertrieben und geirrt worden als in der entgegengesetzten!72

Anmerkungen 1 Zu Tolstojs Rezeption von reformatorischen und protestantischen Theologen und Erscheinungsformen s. F.-H. Philipp, Tolstoj und der Protestantismus, Giessen 1959 (= Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe 2: Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, 2). Siehe dazu auch E. Bryners Beitrag »Protestantismus« im vorliegenden Band auf S. 541–553. 2 N.M. Minskij, Tolstoj i reformacija [1909], in: K.G. Isupov (Hg.), L.N. Tolstoj. Pro et contra, St. Petersburg 2000, 442. 3 R. Quiskamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten 1937, 139. 4 E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 38), 72. 5 F. Naumann, Briefe über Religion [1903], Berlin 61916, 74. 6 Vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen, 72f. 7 J. Matthieu, Das Christentum und die soziale Krise der Gegenwart, Basel 1913, 123; ders., Ein Selbstverständlicher. Leo Tolstoi, in: Neue Wege 9, 1915, 570; L. Stückelberger, Bismarck oder Tolstoj?, in: Neue Wege 10, 1916, 109–121; K. Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung), hg. v. H. Schmidt, Zürich 1985 (= Karl Barth, Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1919), 259; M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 2, Zürich 1968, 21f. 8 Leonhard Ragaz in seinen Briefen, hg. v. Ch. Ragaz, M. Mattmüller und A. Rich, Bd. 2, Zürich 1982, 390, Anm. 2; M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 47. 9 Vgl. L. Ragaz, Mein Weg, Zürich 1952, Bd. 1, 50f.

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10 Leonhard Ragaz in seinen Briefen, hg. v. Ch. Ragaz, M. Mattmüller und A. Rich, Bd. 1, Zürich 1966, 141. 11 Der Eindruck, den die Lektüre von Marx’ Kapital auf Ragaz machte, war – wie er schreibt – ähnlich »wie der von Tolstojs ›Das Reich Gottes ist inwendig in euch‹, nämlich gewaltig, erschütternd, revolutionär« (L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 73). 12 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 17f. Vgl. auch A. Lindt, Leonhard Ragaz. Eine Studie zur Geschichte und Theologie des religiösen Sozialismus, Zollikon 1957, 64. 13 L. Ragaz, Du sollst, Freiburg i.Br./Leipzig 21904, 34f. 14 A.a.O., 27–38. 15 L. Ragaz, Tolstois Tod, in: Neue Wege 4, 1910, 388f; P. Birjukov, Tolstoj und der Krieg, in: Neue Wege 9, 1915, 511–518; J. Matthieu, Ein Selbstverständlicher. Leo Tolstoi, in: Neue Wege 9, 1915, 564–572; L. Stückelberger, Bismarck oder Tolstoi?, in: Neue Wege 10, 1916, 109–121; P. Birjukov, Der Prozess der Tolstojaner in Moskau, in: Neue Wege 10, 1916, 342–353; O. Volkart, Leo Tolstoi, in: Neue Wege 10, 1916, 353f; L. Ragaz, Leo Tolstoi (Zu seinem hundertsten Geburtstage), in: Neue Wege 22, 1928, 401–404; R. Friedmann, Was sollen wir tun? Eine Betrachtung im Sinne Leo Tolstois, in: Neue Wege 22, 1928, 404–418; Ch. Strasser, Der Löwe Tolstoi, in: Neue Wege 23, 1929, 440–445, 512–529; R. Friedmann/Ch. Strasser, Um Tolstoi, in: Neue Wege 24, 1930, 110–115; R. Friedmann, Zwei Artikel über die Liebe. Eine Betrachtung im Geiste Leo N. Tolstois, in: Neue Wege 29, 1935, 590–600; M. Susman, Leo Tolstoj. Ein Vortrag, in: Neue Wege 43, 1949, 104–120. 16 In Neue Wege 11 (1917) wurden folgende, von Dora und Ludwig Berndl übersetzte Werke Tolstojs abgedruckt: der Dialog Der Durchreisende und der Bauer (Proezˇzij i krest’janin, 431–437), Ausschnitte aus Leo Tolstois Tagebuch (689–694) sowie ein Brief Tolstojs zur Kriegsfrage (576f). Im Jahrgang 22 (1928) findet sich eine von Robert Friedmann zusammengestellte Blütenlese von Tolstoj-Worten (418–421), im Jahrgang 23 (1929) Tolstojs Rede Du sollst nicht töten (Ne ubij, 227–233). 17 L. Ragaz, Meine geistige Entwicklung, in: M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 1, Zollikon 1957, 245. 18 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 24 und M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 47. 19 P. Birjukov, Tolstoj und der Krieg, in: Neue Wege 9, 1915, 511–518; P. Birjukov, Der Prozess der Tolstojaner in Moskau, in: Neue Wege 10, 1916, 342–353. 20 L.D. Trockij, Moja zˇ izn’. Opyt avtobiografii, Moskau 1991, 255. 21 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 83 (vgl. V.I. Lenin, Werke, Bd. 21, 82). 22 Vgl. M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 388. 23 L. Ragaz in seinen Briefen, Bd. 2, 388. Vgl. dazu a.a.O., 404: »›Marx‹ und ›Tolstoi‹ sind als Prinzipien zu verstehen, die beide sich gegen die bestehende Ordnung wenden; das erste Prinzip mehr auf Materie und Gesellschaft, das zweite mehr auf Geist und Individuum bezogen.« 24 L. Ragaz, Sozialismus und Gewalt, Olten 1919, 7. 25 PSS 69: 167. 26 L. Ragaz, Tolstojs Tod, in: Neue Wege 4, 1910, 388f. Vgl. dazu Leonhard Ragaz in seinen Briefen, Bd. 2, 390, Anm. 2; M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 47. 27 L. Ragaz, Eingriffe ins Zeitgeschehen. Reich Gottes und Politik, Luzern 1995, 244. 28 Im Sommersemester 1918 an der Universität Zürich, s. A. Lindt, Leonhard Ragaz. Eine Studie zur Geschichte und Theologie des religiösen Sozialismus, Zollikon 1957, 80, Anm. 9.

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29 »Ich bin nie einfach Tolstojaner geworden«, schreibt er in seiner Autobiographie (L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 18). 30 Gustav Martin Walter Schulz (1889–1918), Buchbinder, Mitarbeiter der Neuen Wege, galt als Tolstojaner. 31 Leonhard Ragaz in seinen Briefen, Bd. 2, 389. 32 A.a.O., 419. 33 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 19. 34 Vgl. L. Ragaz, Die Botschaft vom Reiche Gottes, Bern 1942, 13. 35 Vgl. a.a.O., 67; dazu L.N. Tolstoj, PSS 28: 186 (»Das Christentum in seiner wahren Bedeutung hebt den Staat auf«). 36 L. Ragaz, Was wir von der Kirche halten?, in: Neue Wege 1, 1907, 217ff. Vgl. PSS 28: 55 (»die Kirchen als solche, als Vereinigungen, die ihre Unfehlbarkeit behaupten, sind antichristliche Einrichtungen«). 37 L. Ragaz, Die Botschaft vom Reiche Gottes, 10. Vgl. PSS 23: 331 (»Und dafür kreuzigt man jetzt seine Lehre«). 38 L. Ragaz, Die Botschaft vom Reiche Gottes, 14. 39 A.a.O., 15. 40 A.a.O., 28. Vgl. dazu L. Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, 102. 41 Vgl. PSS 55: 156 (»Die russische Revolution muss die bestehende Ordnung zerstören, aber nicht durch Gewalt, sondern passiv, durch Ungehorsam«); PSS 55: 153 (»Nur diejenige Revolution ist fruchtbar, die man nicht abstellen kann«); f 187, PSS 28: 293 (»Der einzige Sinn des Lebens der Menschen besteht darin, der Welt zu dienen, indem sie an der Errichtung des Reiches Gottes mitwirken. Dieser Dienst kann nur durch die Anerkennung der Wahrheit und das Bekenntnis eines jeden einzelnen Menschen vollbracht werden«). 42 Vgl. PSS 28: 41 (»Die Erfüllung der Lehre besteht nur in dem Fortschreiten auf dem angewiesenen Weg, in der Annäherung an die innere Vervollkommnung – die Nachfolge Christi, an die äußere – die Aufrichtung des Gottesreiches«). 43 L. Ragaz, Jesus, Christentum und Reich Gottes (1913), in: ders., Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, Bd. 1, Zürich u.a. 1922, 114. 44 L. Ragaz, Tolstois Tod, 389. 45 Vgl. L. Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, 100–102. 46 Vgl. N.A. Berdjaev, Samopoznanie. Opyt filosofskoj avtobiografii, Moskau 1991, 260). 47 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 18. 48 Vgl. L. Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, 8. 49 Vgl. L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 18 und L. Ragaz, Du sollst, 120. 50 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 18. 51 L. Ragaz, Die Botschaft vom Reiche Gottes, 21, 34, 69 und L. Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, Hamburg 1971, 78–90. 52 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 18. 53 L. Ragaz, Leo Tolstoi, 402 und 404. 54 M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 136. 55 J. Matthieu, Die Hauptströmungen der Arbeiterbewegung in ihrem Verhältnis zum modernen Kulturproblem, Zürich 1911 (= Sozialpolitische Zeitfragen der Schweiz, 16/17), 30. 56 J. Matthieu, Der Zusammenbruch der Internationale, in: Neue Wege 9, 1915, 172. 57 Vgl. L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 40; ders., Zu Matthieus Hingang, in: Neue Wege 15, 1921, 351. 58 M. Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, 136.

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59 J. Matthieu, Das Christentum und die soziale Krise der Gegenwart, Basel 1913, 123–125. 60 J. Matthieu, Ein Selbstverständlicher. Leo Tolstoi, in: Neue Wege 9, 1915, 570. 61 J. Matthieu, Die Bedeutung der russischen Literatur, Zürich 1919, 15, 22f, 25–27. 62 J. Matthieu, Der russische Zusammenbruch, in: Neue Wege 12, 1918, 125. 63 Vgl. L. Matthieu-Stockmeyer, Zum Gedächtnis Jean Matthieus, in: Neue Wege 15, 1921, 438. Siehe dazu auch Matthieus Schriften Richtlinien und Keimzellen (in: Neue Wege 14, 1920) und Volksbildung, Sozialismus, Religion (Zürich und Mühlhausen i.Thür. 1921). 64 L. Ragaz, Zu Matthieus Hingang, in: Neue Wege 15, 1921, 347–354. 65 E. Blum, Als wäre es gestern gewesen. Wie konnte ich Pfarrer sein – im 20. Jahrhundert, Zürich 1973, 33f. 66 E. Blum, Leo Tolstoi, Schlüchtern-Habertshof 1922 (in der 2. Aufl. 1924 mit dem Untertitel »Sein Ringen um den Sinn des Lebens«). Das Buch ging aus einer Aufsatzreihe hervor, die Blum in der Zeitschrift Der Aufbau publiziert hatte (1921: Nr. 18–52; 1922: Nr. 1–7). 67 E. Blum, Leo Tolstoi. Sein Ringen um den Sinn des Lebens, Schlüchtern-Habertshof 21924, 174. 68 Ebd. 69 L. Ragaz, Mein Weg, Bd. 2, 166. 70 Gemeindeblatt der Nydeggkirche, August 1944, 136–139. 71 K. Barth, Predigten 1916, hg. v. H. Schmidt, Zürich 1998, 303f; Predigten 1917, Zürich 1999, 160; Predigten 1920, Zürich 2005, 58. 72 K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, Zollikon-Zürich 21957, 491.

Ludwig Wittgenstein

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Robert Hodel

Ludwig Wittgenstein Am 7. August 1914 tritt Wittgenstein in Krakau seinen freiwilligen Kriegsdienst an. Die Biographen Wuchterl und Hübner1 führen als Grund der Freiwilligkeit neben einem »unpolitischen Patriotismus«, der sich auch in einer hohen Geldspende an die Artillerie (»Mörserspende«) und seinem »leuchtenden Beispiel soldatischer Pflichttreue und Pflichterfüllung« (Belohnungsantrag vom 30. 7. 1918) manifestierte, den Krieg als ultima ratio seiner damaligen Ausweglosigkeit an. Gegenüber einem späteren Lehrerkollegen verlautete er 1920, dass er in den Kämpfen den Tod finden wollte.2 Von seinen Gedanken an Sinnverlust und Irrsinn zeugen in den Kriegsjahren zahlreiche Briefe und Gespräche. Unerbittlich ist auch seine Selbstanklage: »Mein Leben war bisher eine große Schweinerei – aber soll es immer so weitergehen?«3 In dieser Zeit des »labilen Gleichgewichts«4 wird Wittgenstein mit Tolstojs Schrift Kurze Darlegung des Evangeliums vertraut. Er entdeckt sie Ende August 1914 im galizischen Tarnov in einer kleinen Buchhandlung.5 Der Text war Wittgenstein zwar bereits durch William James’ The varieties of religious experience bekannt, auch sind 1912 Sympathien zu Tolstojs Erzählungen, insbesondere zu Hadˇzi Murat, belegt,6 doch erst der Zufall brachte ihn zur intensiven Lektüre des späten, religiös-ethisch orientierten Tolstoj. Wittgenstein liest die Kurze Darlegung des Evangeliums mehrfach durch, sodass er bald viele Stellen auswendig kennt und von den Soldaten an der Front »der mit dem Evangelium« genannt wird.7 Wie beeindruckt Wittgenstein von der Schrift ist, bezeugt sein Brief an Ficker vom 24. 7. 1915: Sie leben sozusagen im Dunkel dahin und haben das erlösende Wort nicht gefunden. Und wenn ich, der ich so grundverschieden von Ihnen bin, etwas raten will, so scheint das vielleicht eine Eselei. Ich wage es aber trotzdem. Kennen Sie die »Kurze Erläuterung des Evangeliums« von Tolstoj? Dieses Buch hat mich seinerzeit geradezu am Leben erhalten. Würden Sie sich dieses Buch kaufen und es lesen? Wenn Sie es nicht kennen, so können Sie sich auch nicht denken, wie es auf den Menschen wirken kann.8

Wittgenstein gibt hier den Titel der Schrift nicht genau wieder. Nach Hellerer9 lag ihm entweder die 1891 im Berliner Steinitz-Verlag erschienene Ausgabe Kurze Auslegung des Evangeliums oder die Reclam-Ausgabe von 1892 Kurze Darlegung des Evangeliums vor. Da Tolstojs religiös-moralische Schriften in Russland nur sehr restriktiv erscheinen konnten, kam der Text zu-

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nächst 1890 in Genf unter dem Titel Abrégé de l’Évangile heraus; die erste Ausgabe in Russland erschien postum in der 20-bändigen Werkausgabe.10 Die Frage, wie groß Tolstojs Einfluss auf Wittgensteins Denken und Werk in diesen Kriegsjahren war, beinhaltet zweifellos spekulative Momente, da beide Denker auch unter dem Einfluss gemeinsamer Dritter stehen (Schopenhauer, Kierkegaard, Kant, Dostoevskij u.a.). Unbezweifelt ist jedoch, dass Wittgensteins persönliche Wandlung vom dezidierten Atheisten zu einem Menschen, der ein genuin religiöses Interesse bekundet, mit Tolstojs Lektüre einhergeht. Von seinem Wandel zeugt u.a. ein Brief von Bertrand Russell (vom 20. 12. 1919), in dem von Wittgensteins Ende August 1918 fertig erstellten Logischphilosophischen Abhandlung (ursprüngliche Bezeichnung des Tractatus logico-philosophicus, kurz Tractatus) die Rede ist: »Ich habe in seinem Buch einen Beigeschmack von Mystizismus gespürt, aber ich war überrascht zu sehen, dass er zu einem vollkommenen Mystiker geworden ist«.11 Im Folgenden soll nun Tolstojs Wirkung auf den frühen Wittgenstein zunächst auf der Grundlage von Tagebucheintragungen belegt werden, bevor dann in einem zweiten Schritt auf das philosophische Frühwerk einzugehen ist. In einem dritten Abschnitt wird schließlich nach Tolstojs Spuren in Wittgensteins Spätwerk zu fragen sein. Es liegt in der Natur der Fragestellung, dass der Fokus nicht auf Differenzen gerichtet ist, die zwischen dem religiösen Denker Tolstoj und dem Sprachphilosophen Wittgenstein offenkundig sind. Am 12. September 1914 notiert Wittgenstein: »Immer wieder sage ich mir im Geiste die Worte Tolstojs vor: ›Der Mensch ist ohnmächtig im Fleische, aber frei durch den Geist‹«.12 Wittgenstein zitiert hier den Untertitel des mit »Sohn Gottes« überschriebenen ersten Kapitels der Kurzen Darlegung des Evangeliums (Cˇelovek, syn Boga, bessilen vo ploti i svoboden duchom; PSS 24: 818). Am 5. Oktober desselben Jahres hält Wittgenstein fest: In den Zeiten des äußeren Wohlergehens denken wir nicht an die Ohnmacht des Fleisches; denkt man aber an die Zeiten der Not, dann kommt sie einem zum Bewusstsein. Und man wendet sich zum Geist.13

Der Widerwille und Kampf gegen ein »fleischliches« (animalisches) Leben war bereits bei Tolstoj zutiefst biographisch begründet gewesen, wie der Dichter in seiner Beichte (1879–82) und in der Kreutzersonate (1889) unerbittlich darlegt. Mit »Schrecken« und »Abscheu« schaut er auf sein Leben zurück: Ich tötete Menschen im Krieg, forderte zum Duell heraus, um zu töten, frönte dem Kartenspiel, aß die Arbeit der Bauern auf, verurteilte sie zum Tode, buhlte, betrog. Lüge, Diebstahl, Geschlechtsverkehr jeglicher Art, Trinksucht, Gewalt, Mord … (PSS 23: 5)

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Mag sein, dass gerade die privilegierte und als sündig empfundene Existenz, die Graf Tolstoj durch ein arbeitstätiges und einfaches Leben aufzulösen und auszusühnen trachtete und die ihn schließlich 1910 von seinem Gut Jasnaja Poljana flüchten ließ, für Wittgenstein ein wichtiger Faktor der Identifikation mit der tolstojschen Lehre war. Zu Tolstojs Wandlung lesen wir in der Kurzen Darlegung des Evangeliums: Was mich zum Christentum gebracht hat, waren weder theologische noch historische Studien, sondern die Tatsache, dass ich im Alter von fünfzig Jahren, nachdem ich mich selbst und alle weisen Menschen meines Umfelds befragt hatte, was ich und was der Sinn meines Lebens sei, und zur Antwort bekommen hatte, ich sei eine zufällige Verkettung von Teilchen, mein Leben habe keinen Sinn und das Leben als solches sei ein Übel – dass ich nach dieser Antwort verzweifelte und mich umbringen wollte. (f 134; PSS 24: 806)

Hier drängt sich auch der Gedanke an Anna Kareninas Liebhaber Vronskij auf, den der Autor mit intensiven autobiographischen Zügen ausgestattet hat: Nach einem gescheiterten Selbsttötungsversuch antwortet der einstige Liebling der Petersburger Gesellschaft auf seine Perspektivlosigkeit mit einem Kriegseinsatz im fernen Serbien, wo er den Tod zu finden hofft. Als Wittgenstein im August 1919 aus der Kriegsgefangenschaft nach Wien zurückkommt, zeigen seine Entscheidungen die Handschrift des russischen Schriftstellers und Moralisten: Er befreit sich von seinem Millionen-Vermögen, indem er es seinen Geschwistern überlässt oder z.T. für wohltätige Zwecke spendet,14 macht eine zweijährige pädagogische Ausbildung und arbeitet fünf Jahre als Grundschullehrer in den entlegensten und ärmlichsten Dörfern Niederösterreichs. Parak15 vermutet, dass Wittgenstein nur das lange Theologiestudium vom Pfarrerberuf abgehalten habe. So zitiert er in seinen Aufzeichnungen Wittgenstein: »Zwar würde ich am liebsten Priester werden, aber ich werde auch als Lehrer mit den Kindern das Evangelium [das heißt, Tolstois Botschaft] lesen«. Ob sich Wittgenstein mit der katholischen Kirche wirklich hätte arrangieren können, bleibt fragwürdig, da ihn mit Tolstoj auch eine tiefe Skepsis gegenüber religiösen Institutionen verbindet. Und vor allem hadert Wittgenstein mit seinem Glauben: Ich weiß, dass der Selbstmord immer eine Schweinerei ist. Denn seine eigene Vernichtung kann man gar nicht wollen […]. Alles läuft natürlich darauf hinaus, dass ich keinen Glauben habe!16

Umso asketischer freilich gestaltet der Volksschullehrer 1920–1925 sein Leben – so hat z.B. eine seiner Wohnungen nur zwei Quadratmeter17 – und umso selbstloser setzt er sich für seine Zöglinge ein, um am Ende doch einsehen zu müssen, dass sein Temperament nicht für den Lehrerberuf geschaffen ist.

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Doch was entnimmt nun der junge Wittgenstein für sein philosophisches Weltbild aus Tolstojs Kurzer Darlegung des Evangeliums? Neben den bereits erwähnten Tagebuchnotizen bietet vor allem der Eintrag vom 11. 6. 1916, den man als philosophisches Glaubensbekenntnis bezeichnen könnte, Aufschluss: Gott und den Zweck des Lebens? Ich weiß, dass diese Welt ist. Dass ich in ihr stehe, wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld. Dass etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn nennen. Dass dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr. Dass das Leben die Welt ist. Dass mein Wille die Welt durchdringt. Dass mein Wille gut oder böse ist. Dass also Gut und Böse mit dem Sinn der Welt irgendwie zusammenhängt. Den Sinn des Lebens d.i. der Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran knüpfen. Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens. Ich kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken, sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig von der Welt machen – und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen – indem ich auf einen Einfluss auf die Geschehnisse verzichte.18

Mehrere Gedanken, die hier in gedrängter Form niedergeschrieben sind, finden sich in der Kurzen Darlegung des Evangeliums wieder: Auch für Tolstoj ist der Sinn des Lebens mit der Frage nach dem Ethischen verbunden: Wer das Leben versteht (f 136; PSS 24: 816) und aus diesem Verständnis heraus Gutes tut, erfüllt den »Willen des Geist-Vaters« (volja otca ducha, f 143; PSS 24: 850). Dieser »Vater«, den Tolstoj auch »Vater des Lebens« nennt (otec ˇzizni, f 143; PSS 24: 849), ist kein extramundaner Gott – »Gottes Reich sei unsichtbar, es sei nicht außen«, heißt es im dritten Kapitel (f 139; PSS 24: 832) –, sondern ein Sinnbild dafür, dass die Menschen als dessen »Kinder« (f 156f; PSS 24: 907f) vor der letzten Sinnfrage alle gleich sind (vgl. f 136; PSS 24: 816). Jedem Menschen ist das »Verständnis des Lebens« zugänglich und er braucht sich nur, Christus nachfolgend, für dieses »Prinzip des Lebens« (naˇcalo ˇzizni, f 159; PSS 24: 917) zu entscheiden, indem er sich vom »fleischlichen Leben« (plotskaja ˇzizn’, f 146; PSS 24: 862), vom Reichtum und vom Ruhm (f 140; PSS 24: 838) lossagt und seinen Nächsten liebt. Die Lehre Christi ist für Tolstoj eine Sittenlehre und Christus ist kein Erlöser, sondern »Gottes Auserwählter«19 und ein »großer Lehrer« (velikij uˇcitel’, f 212; PSS 39: 114). Ob Christus eine Gottheit im Sinne eines Weltenschöpfers darstellt, ist Tolstoj, wie er sich salopp ausdrückt, »ganz egal« (vse ravno, f 135; PSS 24: 807). Religion ist für ihn ausschließlich Erklärung des Leidens und des Bösen in der Welt. Ihr Ziel ist es zu zeigen, dass der Mensch ungeachtet seiner empirischen Natur frei von der Welt und von Prozessen ist, die in ihr vorgehen.20 Auch Tolstojs Ansatz ist also ungeachtet der Absage an die Metaphysik – und weitgehend analog zur rigorosen Trennung von Sagbarem und NichtSagbarem im Tractatus – dualistisch: Der Mensch hat die Wahl, sich entweder für ein »geistiges« oder »fleischliches« Leben zu entscheiden. Diese

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Unabhängigkeit ist ihm gegeben, weil er die Welt aus einer Perspektive betrachtet, in der das »Ich« nicht präsent, sondern vielmehr zugunsten einer Gemeinschaft ausgeblendet ist. Wer geistig lebt, erlebt das Gottesreich auf Erden, er wird als »Sohn Gottes« (syn ˇceloveˇceskij) Teil der gesamten Menschheit. Die Tagebücher von 1914 bis 1916 legen freilich auch nahe, dass Wittgenstein kein »Tolstojaner« war. Dies zeigt sich etwa hinsichtlich Tolstojs Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit: »Irdische Könige kämpfen und ziehen in Schlachten, sie haben Heere, ich aber bin gefesselt und geschlagen worden, wie du siehst, und ich habe mich nicht gewehrt«, schreibt Tolstoj im 12. Kapitel seiner Evangeliendarlegung (f 163; PSS 24: 926). Der diplomierte Ingenieur Wittgenstein dagegen, der zu Beginn des Jahres 1916 mit dem 5. Feld-Haubitzen-Regiment in den ersten Linien steht, nimmt nicht nur mehrere Tapferkeitsmedaillen und Beförderungen entgegen, er wendet sich auch dezidiert gegen pazifistische Vereinigungen, indem er ihnen Unehrlichkeit vorwirft.21 Tolstojs Text ist für Wittgenstein kein Evangelium, sondern Ausgangspunkt einer Anamnese. Wenn wir nun in den nächsten Abschnitten Tolstojs Impulsen in Wittgensteins philosophischem Frühwerk und ansatzweise auch in seinen späteren Schriften nachspüren, ist nochmals zu betonen, dass zwar angesichts der zahlreichen Briefe und Tagebucheinträge eine unmittelbare Verarbeitung von tolstojschem Gedankengut auch in philosophischen Schriften sehr wahrscheinlich ist, dass jedoch nicht von einem eigentlichen Aufweis die Rede sein kann. Dies trifft in hohem Maße auf die Spätschriften zu, gilt aber auch für den zwei Monate vor Kriegsende abgeschlossenen Tractatus, an dem Wittgenstein in den ersten Kriegsjahren22 und also parallel zur TolstojLektüre besonders intensiv arbeitete.

Tractatus Eine gewisse Verwandtschaft mit Tolstojs ethisch-religiösen Schriften ergibt sich zunächst in der Frage nach dem Sinn der Philosophie. Im Vorwort zum Tractatus sieht Wittgenstein den Wert seiner Arbeit in Zweierlei: Zum einen darin, die philosophischen Probleme als Scheinprobleme aufgelöst zu haben – »Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen«, also letztlich, wie in Tractatus 6.53 expliziert, allein Sätze der Naturwissenschaft. Damit entzieht sich Wittgenstein – analog zu Tolstoj, der sich nach Vollendung des Romans Anna Karenina das Schreiben fiktiver Prosa verbieten möchte – die Grundlage des weiteren Philosophierens. Mit nicht geringem Argwohn hatte bereits Russell Wittgenstein in seiner Tätigkeit als Hilfsgärtner und Volks-

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schullehrer mit Tolstoj und Pascal verglichen, die ihr Talent ebenfalls zugunsten einer »vorgetäuschten Demut« vergeuden würden.23 Zweitens liegt der Sinn des Tractatus darin, dass diese Arbeit »zeigt, wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind«.24 »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort«, lautet Tractatus 6.52. Damit verweist der Tractatus auf eine ihrem Wesen nach unaussprechliche Ethik. Diese Ethik bildet den Schlüssel zur Lösung der Lebensprobleme und den Grund des glücklichen Lebens. Die Forderung nach moralischer Integrität hatte Wittgenstein schon länger beschäftigt. Im Dezember 1913 schrieb er an Russell: »… aber wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin! Vor allem muss ich mit mir in’s Reine kommen«.25 Die Unaussprechbarkeit des Ethischen im Tractatus steht nun zwar in einem deutlichen Gegensatz zu Tolstojs fünf Geboten (»Pentalog«), die er aus den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48, f 140f; PSS 24: 839) ableitet, doch ist das Ethische auch bei Wittgenstein präsent, und zwar insofern, als es sich zeigt. Diese Form der Präsenz gilt auch für den Gedanken der Verbindung des Ethischen mit dem Glück. Wie empirische Sätze zeigen, was logische Sätze auszudrücken versuchen, zeigt sich der Wert ethischer Sätze in den Handlungen und Einstellungen des Menschen, deren Richtigkeit sich wiederum im glücklichen Hinnehmen der Welt manifestiert. Eine deutliche Spur dieses Gedankens findet sich bereits in den Tagebüchern (1914–16): Das glückliche Leben scheint in irgendeinem Sinne harmonischer zu sein als das unglückliche. In welchem aber? Was ist das objektive Merkmal des glücklichen, harmonischen Lebens? Da ist es wieder klar, dass es kein solches Merkmal, das sich beschreiben ließe, geben kann. Dies Merkmal kann kein psychisches, sondern nur ein metaphysisches, ein transzendentes sein.26 Um glücklich zu leben, muss ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja ›glücklich sein‹. […] Immer wieder komme ich darauf zurück, dass einfach das glückliche Leben gut, das unglückliche schlecht ist. Und wenn ich mich jetzt frage: aber warum soll ich gerade glücklich leben, so erscheint mir das von selbst als eine tautologische Fragestellung; es scheint, dass sich das glückliche Leben von selbst rechtfertigt, dass es das einzig richtige Leben ist.27

Dieser Gedanke findet sich auch bei Tolstoj. Der Schriftsteller wird von seiner tiefgehenden Lebenskrise, in der er sich intensiv mit Sokrates, Schopenhauer, Salomo und dem Buddhismus (PSS 23: 22) auseinandersetzt, um schließlich zu seinem eigenen Religionsverständnis zu gelangen, während der Niederschrift von Anna Karenina erfasst. Dieser Roman beginnt bekanntlich mit dem programmatischen Satz: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist un-

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glücklich auf ihre Art« (PSS 18: 3). Programmatisch ist der Satz deshalb, weil der ganze Roman als dessen Illustration betrachtet werden will. Das Leben unglücklicher Familien, die Tolstoj in den Karenins, Vronskijs und Oblonskijs darstellt, ist von Eitelkeit, Hedonismus (Ehebruch) und Geringschätzung des Glaubens bzw. von einem volksfernen, aufgepfropften Glauben (wie bei Karenin oder bei Varen’ka) geprägt. Die glücklichen Familien hingegen – das Fürstenpaar Sˇcˇ erbackij, die L’vovs und das junge Ehepaar Konstantin und Kiti Levin – gleichen einander in ihrem natürlichen (ererbten) Glauben, der sich in einem Zurückhaltung übenden Lebenswandel niederschlägt. Wittgensteins Gedanke von der tautologischen Frage, warum jemand glücklich leben soll, lässt sich veranschaulicht im gegensätzlichen Leben der beiden Freundinnen Kiti und Varen’ka wiedererkennen. Während sich Varen’ka kraft ihres »pietistischen« Glaubens einem altruistischen Leben verpflichtet hat und dadurch unfähig geworden ist, sich einem Partner zu öffnen, wird Kitis Hilfsbereitschaft gegenüber Levins sterbendem Bruder als natürlicher, nicht hinterfragter Ausdruck eines liebenden Herzen rezipiert. Sie tut Gutes, nicht weil ihr der Glaube dies vorschriebe oder sie sich dessen ständig bewusst wäre, sondern weil sie, beinahe instinktiv, aus ihrem Glauben heraus handelt. In Was ist Religion? schreibt Tolstoj: Glaube ist das Bewusstsein des Menschen über jene seine Lage in der Welt, die ihn zu bestimmten Handlungen verpflichtet. Der Mensch handelt in Übereinstimmung mit seinem Glauben nicht deshalb, weil er, wie es im Katechismus heißt, an das Unsichtbare wie an das Sichtbare glaubt, nicht deshalb, weil er auf zu Erwartendes hofft, sondern weil er, nachdem er seine Lage in der Welt bestimmt hat, gemäß dieser Lage in natürlicher Weise handelt. (PSS 35: 170)

Bereits in diesem Verständnis des Glaubens, das am Verhalten gemessen wird und das Tolstoj in der Kurzen Darlegung des Evangeliums als »Verständnis des wahren Lebens« (razumenie istinnoj ˇzizni) fasst, wie er die Rede vom »Wort« nach Joh 1,1 (»Im Anfang war das Wort«) deutet, klingt der frühe Wittgenstein vielfältig an. Doch bevor wir auf dieses ethische Motiv eingehen, ist der Aspekt des Metaphysischen genauer auszuführen. Gleich zu Beginn der Kurzen Darlegung des Evangeliums lehnt Tolstoj sowohl den theologischen wie den historischen Zugang zur Christus-Figur ab. Seinen Standpunkt legt er in einem Gleichnis dar: Ein geheilter Blinder […] könnte nur sagen, dass er blind war, jetzt aber sieht. Genau dies und nicht mehr kann auch einer sagen, der den Sinn seines Lebens früher nicht verstand und jetzt versteht. Ein solcher Mensch würde nur sagen, dass er das wahre Heil des Lebens [istinnoe blago ˇzizni] früher nicht kannte, jetzt aber kennt. Und wie der geheilte Blinde, wenn man ihm sagte, er sei nicht richtig geheilt, denn der Mensch, der ihn geheilt habe, sei ein Sünder, und er müsse auf andere Weise geheilt werden, nur antworten könnte, dass er nichts weiß von der Richtigkeit der Heilung und der Sündigkeit des Heilers; und dass er

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von einer anderen, besseren Heilung nur eines weiß, nämlich dass er blind war, jetzt aber sieht. Genauso kann auch einer, der den Sinn der Lehre vom wahren Heil, der Erfüllung des Willens des Vaters [ispolnenie voli otca], erfasst hat, nichts darüber sagen, ob diese Lehre richtig ist […], sondern er wird sagen: Früher sah ich den Sinn des Lebens nicht, jetzt aber sehe ich ihn, das ist alles, was ich weiß. (f 148f; PSS 24: 874)

Diese Stelle steht in einem engen Zusammenhang mit Tractatus 6.521 und Tractatus 6.5211: Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.)

Tolstoj rückt mit diesem beinahe stummen Verständnis Christi dabei sehr weit vom orthodoxen Bekenntnis ab. So argumentiert er: Als die Umgebung Christi nach »äußeren Anzeichen« suchte und ihn beschwörte, »quäle uns nicht, sondern sprich geradeheraus: Bist du der Christus oder nicht?«, antwortete dieser: »Nicht den Worten sollt ihr glauben, sondern den Werken. An den Werken, die ich lehre, werdet ihr erkennen, ob ich wahrhaft lehre oder nicht. Tut, was ich tue, und kümmert euch nicht um die Worte« (f 149; PSS 24: 875). Tolstoj befreit die Evangelien gänzlich von äußeren Beweisen.28 Das Metaphysische in Gestalt des Wunders erhält eine natürliche Erklärung. So psychologisiert er die »wunderbare Brotvermehrung« folgendermaßen: Nicht die Brote wurden vermehrt, sondern alle erhielten dadurch, dass sie dem Nächsten ein Stück abtraten, geistige Nahrung und wurden in diesem geistigen Sinne satt. Was Tolstoj im theologischen Feld betreibt, radikalisiert Wittgenstein in Bezug auf die Philosophie: Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. (Tractatus 6.53) Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige. (Tractatus 6.531)

Nicht anders motiviert Tolstoj seine Darlegung des Evangeliums in Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen?: Ich habe keine Lehre, sondern ich verstehe die christliche Lehre so, wie sie in den Evangelien dargelegt ist. Wenn ich Bücher über die christliche Lehre geschrieben habe, dann nur deshalb, um die Unwahrheit jener Erklärungen zu beweisen, die von den Exegeten der Evangelien gegeben werden. (f 212; PSS 39: 114)

Eine metaphysische Dimension spricht Tolstoj auch der Unsterblichkeit der Seele ab:

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Und damit alle verstehen, was das wahre Leben ist, jenes Leben, für das es keinen Tod gibt, hat Jesus gesagt: Das ewige Leben ist nicht als Leben ähnlich dem jetzigen zu verstehen, das es irgendwo und irgendwann geben wird. Das wahre Leben im Willen des Vaters kennt weder Ort noch Zeit. Man darf sich das wahre Leben nicht als zeitliches, persönliches Leben vorstellen. Diejenigen, die zum wahren Leben erwacht sind, leben im Willen des Vaters, für den es weder Zeit noch Ort gibt. (f 154; PSS 24: 896)

Das wahre und gute Leben liegt außerhalb der Zeit, es liegt »im Gegenwärtigen« und, wie es in der Schrift Das Reich Gottes ist in euch heißt, »inwendig« im Menschen (f 187; PSS 28: 293). Davon handelt ausführlich das 8. Kapitel der Kurzen Darlegung des Evangeliums (PSS 24: 885), das mit »Das Leben ist nicht in der Zeit. Und deshalb ist das wahre Leben nur das Leben im Gegenwärtigen« (Zˇizn’ ne vo vremeni. I potomu istinnaja ˇzizn’ est’ tol’ko ˇzizn’ v nastojaˇsˇcem) überschrieben ist. Auf dieses 8. Kapitel scheint sich Wittgenstein im Tagebucheintrag vom 8. 7. 1916 zu beziehen, wenn er schreibt: »Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich«.29 Mit dieser »Gegenwart« versteht Wittgenstein, wie Tolstoj, ein Leben im Einklang mit der Welt und dem Gewissen, ein Leben im Geiste. Und wie für Tolstoj verändert sich dadurch auch das Verständnis des ewigen Lebens und des Todes: Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (Tractatus 6.4312)

So ist denn auch der Tod kein Ereignis des Lebens, sondern lediglich das Aufhören des Lebens. »Den Tod erlebt man nicht« (Tractatus 6.4311). Es gibt kein Rätsel, das mit dem Tod verbunden wäre. Die Angst vor dem Tod ist ohne Grund oder vielmehr: Zeichen eines falschen bzw. amoralischen Lebens.30 Milkov31 verweist in diesem Zusammenhang nicht zufällig auf Tolstojs Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886): Der Titelheld dieser Erzählung überwindet allmählich seine Todesangst, indem er sich bewusst wird, dass er in seinem Leben die falschen Werte vertreten hat (Karriere, Reichtum, Vergnügen). Je mehr die Gewissheit des Todes wächst, umso mehr erkennt er die Falschheit seines Milieus, das ihm noch immer Genesung vorgaukelt, insgeheim aber seinen Tod herbeisehnt. Allein der gläubige Diener Gerasim nimmt den schweren Sterbeprozess an. Durch seine selbstverständliche und selbstlose Betreuung erfährt Ivan, was im Leben wirklich zählt. Von Gerasims Nächstenliebe erfasst, wird auch er nun fähig, obwohl seine Schmerzen kaum nachlassen, seine nächste Umgebung neu zu erfahren. Am Ende suggeriert der Text, dass Ivans Gesinnungswandel, der sich in einem verän-

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derten Verhalten niederschlägt, auch seine Familie erreicht. So hört sein Leben auf, ohne dass »das Prinzip des Lebens« stirbt. Der gefundene Glaube erweist sich als Wissen über das rechte Leben, das sich allein im Verhalten zeigt. »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« – lautet Tractatus 6.522. Dazu nochmals Tolstoj in Gedanken über Gott: Wenn ich Ihn verstünde, würde ich ihn erreicht haben, und es gäbe nichts, wonach ich streben könnte, es gäbe kein Leben. Doch ich kann, was widersprüchlich erscheint, Ihn nicht verstehen und nicht nennen, und zugleich kenne ich Ihn, ich kenne die Richtung zu Ihm […]. (f 223)32

Philosophische Untersuchungen Während die meisten Autoren fast ausschließlich vom Einfluss Tolstojs auf die frühe Philosophie Wittgensteins sprechen, schreibt Milkov: »Paradoxerweise war Wittgensteins spätere theoretische Philosophie mehr von Tolstojs Gedankengut beeinflusst als seine frühere.«33 Gründe hierfür sieht Milkov einerseits in der Weiterführung des lebensphilosophischen Ansatzes des Tractatus auch in der zweiten, sprachphilosophischen Phase (des Weiteren: Wittgenstein II), andererseits in der wiederkehrenden Lektüre von Tolstojs Schriften. Nach 1934 ist überdies davon auszugehen, dass Wittgenstein russische Originaltexte liest. Nach Aussagen seiner Lehrerin Tania Pascal (Mrs Roy Pascal) hatte er 1934 die Sprache so gut gelernt, dass er Dostoevskij lesen konnte und auch imstande war, ein Grimmsches Märchen ins Russische zu übersetzen.34 Beweggrund des Fremdsprachenunterrichts war offenbar der Wunsch, in die Sowjetunion überzusiedeln. Hierbei schien Wittgenstein neben der russischen Kultur und Sprache vor allem von der klassenlosen Gesellschaft und der harten Linken bzw. seiner Vorstellung von ihr angezogen gewesen zu sein. Milkovs Ausführungen zu Wittgenstein II machen freilich auch deutlich, dass ein unmittelbarer Nachweis der Auseinandersetzung mit Tolstoj auf dünnem Eis steht. Davon zeugt bereits der Ausdruck »paradoxerweise«. Es ist deshalb angebracht, weniger von intertextuellen Bezügen als von verwandten Denkansätzen zu sprechen. Eine in der Sekundärliteratur mehrfach hervorgehobene Gemeinsamkeit ist die politische Ambivalenz. Beide Denker zeigen in auffälliger Weise sowohl liberal-anarchische als auch konservativ-hierarchische Züge. Bei Tolstoj zeigt sich der liberale Pol darin, dass er nicht nur die theologische Glaubensvermittlung samt ihrer kirchlichen Institutionen ablehnt, sondern auch die übernatürliche Offenbarung und jegliche Form von Irra-

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tionalität von sich weist. Insofern ist sein Ausschluss aus der Russischen Orthodoxen Kirche kaum als willkürlicher Akt zu betrachten. Aus Werken wie Auferstehung und Briefen35 wird darüber hinaus klar, dass Tolstoj auch eine äußerst radikale Kritik des Militärs und der Rechtsprechung vornimmt. Im besagten Roman wird gar behauptet, dass die wertvollsten Menschen in Russland im Gefängnis säßen. Zugleich, und darin ist Tolstojs patriarchalisch-konservative Linie zu erkennen, geht die Skepsis gegenüber Kirche und Staat mit der Überzeugung einher, dass das einfache russische Volk die religiöse Wahrheit bewahrt habe und dadurch einen Orientierungspunkt für die entwurzelte Intelligenz abgebe. Hinreichend bekannt ist Tolstojs patriarchalische Haltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Dieses gespannte Zusammengehen von radikaler Kritik institutionalisierten Wissens und demütiger Hinnahme des im Volk Bewahrten und Tradierten findet sich nicht nur in Wittgensteins Leben wieder, sondern sie prägt auch zentral seine Sprachspielkonzeption. Wittgenstein setzt sich in den Philosophischen Untersuchungen36 endgültig von seiner frühen realistischen Semantik ab, wonach die Sprache als abstraktes Zeichensystem der Ontologie des Gegenstandsbereiches entspricht, auf den sich die Sprache bezieht. Die Bedeutung eines Wortes fasst Wittgenstein II als dessen Gebrauch in der Sprache. Damit rekurriert er auf so etwas wie Gebräuche und Gepflogenheiten (PU 198). »Die Bedeutung des Wortes kennen, heißt, es auf dieselbe Weise verwenden wie die andern. ›Auf die richtige Weise‹ – das heißt gar nichts«.37 Um ein Wort auf dieselbe Weise verwenden zu können, ist also nicht mehr der außersprachliche Bezug wichtig, sondern die Einübung des Gebrauchs innerhalb eines Sprachspiels. »Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform« (PU 241). Diese Lebensform kann nun ihrerseits nicht mehr in Frage gestellt werden: »Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen« (PU IIxi). Analog verhält es sich mit der Ethik. An die Stelle der ethischen Wertung tritt eine bloße Beschreibung der Gleichheit im Handeln. Die Ethik kann sich (wie bereits im Tractatus) nur zeigen.38 »Wie haben wir denn die Bedeutung dieses Wortes (›gut‹ z.B.) gelernt? An was für Beispielen; in welchen Sprachspielen?« (PU 77). Auch in der Ethik greift also Wittgenstein letztlich auf »Bräuche«, »Sitten« und »Gepflogenheiten« zurück. Ohne Zweifel ist Tolstojs moralisierender Ansatz weit davon entfernt, die Sprache als »Vehikel des Denkens« (PU 329) zu thematisieren, nichtsdestoweniger drängt sich auch hier eine Analogie zur Relation Bedeutung-Gebrauch auf: Tolstoj verwirft die Bedeutung des Wortes »Gott« als eine Bezugnahme auf ein Vorstellungsbild oder ein Ding. Gott ist nur insofern, als der

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Mensch zu ihm strebt und sich dieses Streben in der tätigen Nächstenliebe zeigt. Die Verbindung Mensch-Gott wird zurückgewiesen und durch die Verbindung Mensch-Mensch (als Nächster und als »Menschensohn«) ersetzt. Vielsagend ist hier auch ein Gedanke aus der Beichte: »die Vorstellung von Gott ist nicht gleich Gott« (ponjatie boga – ne bog, f 60; PSS 23: 45). Noch ein zweiter Aspekt der Spätphilosophie Wittgensteins ist von Relevanz: die Stellung des eigenen philosophischen Ansatzes hinsichtlich der geäußerten Kritik. Mit der Vorstellung des Sprachspiels einher geht bei Wittgenstein II die Kritik der Philosophie als einer Wissenschaft, die in einer Metasprache über die Sprache bzw. den Sprachgebrauch sprechen kann. Was die Philosophie nach Wittgenstein II tun kann, ist allein »die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (PU 109) bloßzulegen. Gelingt ihr dies, löst sie sich samt ihrer Probleme gleichsam auf. Bei diesem Selbstauflösungsprozess konstituiert sich dabei keine neue Wissenschaft: »Diese Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten« (PU 109). Es bedarf für die Enthexung des Verstandes also keiner Metasprache, die Umgangssprache ist vielmehr vollständig genügend, denn auch explizit geregelte Sprachen (z.B. jene des Tractatus) sind letztlich nur mit Hilfe von nicht explizit geregelten Sprachen möglich: Wenn ich über Sprache (Wort, Satz etc.) rede, muss ich die Sprache des Alltags reden. Ist diese Sprache etwa zu grob, materiell, für das, was wir sagen wollen? Und wie wird denn eine andere gebildet? – Und wie merkwürdig, dass wir dann mit der unsern überhaupt etwas anfangen können! (PU 120)

Auch die Alltagssprache fasst Wittgenstein II als ein Sprachspiel auf, das in einer Lebensform gründet und Teil einer Lebensform ist. Diese Lebensform steht, wie oben erwähnt, innerhalb ihrer selbst nicht in Frage. »Es ist vielmehr das alltägliche Sprachspiel hinzunehmen, und falsche Darstellungen sind als dies zu kennzeichnen« (PU IIxi). Lapidar gesagt: Wer spielt, akzeptiert die Regeln. Akzeptiert man nun diese Prämissen, ist nicht unbedingt einsichtig, warum die Philosophischen Untersuchungen selbst nicht auch auf der Ebene der Philosophie stehen oder umgekehrt, warum die unterschiedlichen philosophischen Diskurse nicht auch als Sprachspiele verstanden werden können. In diesem Widerspruch findet sich eine weitgehende Parallele zu Tolstoj. Wie sich Wittgenstein II gegen die Philosophie wendet, bestreitet Tolstoj nach seiner religiösen Wende den Anspruch der kirchlichen Würdenträger auf eine wahre Vermittlung des Evangeliums. Seine ethisch-religiösen Schriften verfasst er bewusst kunstlos, unverblümt und in einer allgemein zugänglichen, zielgerichteten Sprache. Das einfache Landvolk ist nicht nur Aus-

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gangspunkt seiner Ethik, auch dessen Sprache, die in einer entsprechenden »Lebensform« gründet, ist für den Schriftsteller zum Orientierungspunkt geworden. Dabei hat das Fragen auch für Tolstoj hier – beim Leben des einfachen Volkes – ein Ende. (In diesem Rekurrieren auf ein einfaches, tradiertes Leben manifestiert sich die Bedeutung Rousseaus für beide Denker.) Indessen stellt sich auch bei Tolstoj die Frage: Inwieweit unterscheidet sich seine Kurze Darlegung des Evangeliums von den Schriften der kirchlichen Würdenträger? Und kann denn ein Graf Tolstoj mit seiner privilegierten Lebensweise den schlichten Volksglauben erlangen? Oder umgekehrt: Kann das Volk (narod) als eine weitgehend homogene Masse betrachtet werden, der im Vergleich zu aristokratischen und bürgerlichen Kreisen eine höhere Wahrheit zukommt? Ohne dass diese Aporien gänzlich verschwinden, zeigen doch beide Denker Ansätze zu einer Auflösung. So ist Tolstoj überzeugt, dass »alles, woran Menschen wahrhaft glauben« (vse to, vo ˇcto istinno verjat ljudi), notwendig Wahrheit sei (dolˇzno byt’ istina), dass sich diese Wahrheit aber »unterschiedlich ausdrücken« lasse (ona moˇzet byt’ razliˇcno vyraˇzaema) (f 63; PSS 23: 48). Das Volk ist der Wahrheit nur deshalb näher, weil es unvermittelter auf einen unverfälschten, »vernünftigen Glauben« zurückgreifen kann, zumal es weniger dem sittlichen Verderben ausgesetzt ist. Grundsätzlich jedoch ist diese Wahrheit, die jeder Mensch auf seine eigene Weise ausdrückt, allen zugänglich. Sie ist der gemeinsame menschliche Grund. Auch Wittgenstein II rekurriert auf ein ontologisch Letztes: Es ist für ihn die Möglichkeit der Kommunikation zwischen Sprachspielen, deren Voraussetzung die »gemeinsame menschliche Handlungsweise« (PU 206), der Konsens des Handelns39 ist. Wittgenstein verwirft damit nicht nur den Anspruch der Philosophie auf einen metasprachlichen Diskurs, um die Alltagssprache als ausreichend zu erklären, er wendet sich damit zugleich auch mit Worten vom Wort ab. In diesem Paradoxon liegt eine tiefe Verwandtschaft der Wittgensteinschen Sprachphilosophie mit dem Spätwerk des Schriftstellers und Denkers Tolstoj.

Anmerkungen 1 K. Wuchterl/A. Hübner, Wittgenstein, Reinbek 1979, 55–60. 2 A.a.O., 56. 3 Brief an Russell vom 3. 3. 1914; L. Wittgenstein, Briefwechsel mit B. Russell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. v. Ficker, hg. v. B.F. McGuiness/G.H. v. Wright, Frankfurt a.M. 1980, 53. 4 Brief an Ficker vom 24. 7. 1915; a.a.O., 72. 5 K. Wuchterl/A. Hübner, Wittgenstein, 64.

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6 Brief an Russel im Sommer 1912; L. Wittgenstein, Cambridge Letters, hg. v. B.F. McGuiness/G.H. v. Wright, Oxford 1995, 20. 7 L. Wittgenstein, Personal Recollections, hg. v. R. Rhees, Oxford 1981, 17. 8 L. Wittgenstein, Briefwechsel, 72f. 9 H. Hellerer, Tolstois »Kurze Auslegung des Evangeliums« und Wittgensteins »Tractatus Logico-Philosophicus«, in: W.L. Gombocz (Hg.), Religionsphilosophie. Akten des 8. Internationalen Wittgenstein-Symposiums, Teil 2, Wien 1984, 164–166; 164. 10 L.N. Tolstoj, Soˇcinenija, Moskau 1911, Bd. XIII. 11 L. Wittgenstein, Cambridge Letters, 140. 12 L. Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914–1916, hg. v. W. Braun, Wien 1991, 21. 13 A.a.O., 26. 14 N. Milkov, Tolstoi und Wittgenstein. Einfluss und Ähnlichkeiten, in: Prima philosophia 16, 2003, 187–206; 191. 15 F. Parak, Wittgenstein in Monte Cassino, in: Wittgenstein, Geheime Tagebücher, 145–158; 144. 16 Brief an Engelmann vom 21. 6. 1920; Wittgenstein, Briefwechsel, 113. 17 N. Bogdanov, Leo N. Tolstoi und Ludwig Wittgenstein oder das Ethische als Grundprinzip, in: P. Kampits/A. Weiberg (Hg.), Angewandte Ethik. Akten des 21. Internationalen Wittgenstein-Symposiums, Wien 1999, 15–22; 18. 18 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen (Schriften Bd. 1), Frankfurt a.M. 1960, 85–278, 165. 19 So übersetzt Tolstoj »Christus«, vgl. N. Bogdanov, Leo N. Tolstoi und Ludwig Wittgenstein, 16. 20 Vgl. N. Milkov, Tolstoi und Wittgenstein, 194. 21 K. Wuchterl/A. Hübner, Wittgenstein, 55. 22 Vgl. A. Geschkowski, Die Entstehung von Wittgensteins Prototractatus, Bern 2001, 22. 23 J. Noll, Ludwig Wittgenstein und David Pinsent, Berlin 1998, 159. 24 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, hg. v. B.F. McGuiness/G.H. v. Wright, Frankfurt a.M. 1989: Tractatus, Vorwort. 25 L. Wittgenstein, Briefwechsel, 47. 26 Eintrag vom 30. 7. 1916; L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, 171. 27 A.a.O., 167, 171. 28 Vgl. die »Entmystifizierung« in f Ch. Münch, Glaube und Vernunft, 330. 29 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, 167. 30 Vgl. I. Somavilla, Spuren Tolstois in Wittgensteins Tagebüchern von 1914–1916, in: C. Kanzian u.a. (Hg.), Personen. Ein interdisziplinärer Dialog. Beiträge der Österr. Ludwig Wittgenstein-Gesellschaft / 25. Internationales Wittgenstein-Symposium, Kirchberg am Wechsel 2002, 237–240; 237. 31 N. Milkov, Tolstoi und Wittgenstein, 195. 32 L.N. Tolstoj, Mysli o Bogˇe, Berlin 21901, 5; zu Tolstojs mystischer Ausrichtung siehe f H. Kusse, Religion, 408–411. 33 N. Milkov, Tolstoi und Wittgenstein, 196. 34 J. Moran, Wittgenstein and Russia, in: New Left Review 73, 1972, 85–96; 89. 35 Im Brief vom 27. 4. 1909 »An einen Studenten über das ›Recht‹« (K studentu o »prave«) schreibt Tolstoj: »Recht heißt in Wirklichkeit, für diejenigen, die Macht besitzen, die Erlaubnis, die sie sich selbst erteilen, Menschen, über die sie Macht haben, zu zwingen, das zu tun, was ihnen, den Machthabenden, zum Vorteil gereicht; für die Untergebe-

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nen aber heißt Macht die Erlaubnis, all dies zu tun, was ihnen nicht verboten ist« (PSS 38: 54f). L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, hg. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 2001; aus diesem Werk zitieren wir im Folgenden nur mehr unter Angabe der im Text gegebenen Nummern; PU steht für Philosophische Unteruchungen. L. Wittgenstein, Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik, Cambridge 1939 (Schriften Bd. 7), Frankfurt a.M. 1978, 220. Vgl. H. Billing, Wittgensteins Sprachspielkonzeption, Bonn 1980, 107. Aus Moores Aufzeichnungen von Wittgensteins Vorlesungen der Jahre 1930–33 (vgl. E. Fermandois, Sprachspiele, Sprechakte, Gespräche. Eine Untersuchung der Sprachpragmatik, Würzburg 2000, 81).

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Rainer Grübel

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Das Ende des vom realen Leben und von konkreten Dingen abstrahierenden postmodernen Denkens, das nur Konstruktionen (an)erkannte, ohne den Rohstoff wahrzunehmen, aus denen diese Bauten – gleichsam Luftschlösser – errichtet wurden, weckt neues Interesse für die Begegnung philosophischer Entwürfe mit gelebtem und zu lebendem Leben. Solcherart war die Rezeption von Tolstojs Denken im europäischen Existenzialismus. Dabei gilt es nicht, uns zurückzuversetzen in existenzialistische Grundhaltungen und alles Sein allein am Dasein zu bemessen, sondern darum, diese Sehweise aufzunehmen in eine umfassendere Denkart, die nicht alles zur reinen Erfindung stempelt, was über den Menschen und sein Leben gedacht werden kann. Der Gewinn von Einsichten in Konstruiert-Sein von Weltvorstellungen ist freilich mitzunehmen in die Neubesinnung auf ihren Bezugsgegenstand. Das zweite herausfordernde Element in Tolstojs spätem Denken bildet angesichts heutiger Institutionengläubigkeit seine Institutionenskepsis. Dabei war (wie bei nicht wenigen Intellektuellen dieser Generation) seine Überzeugung, alle administrativen Einrichtungen – nicht nur die des Staates, sondern auch die der Kirche – seien schädlich, geprägt von Denkweisen und Erfahrungen der Altgläubigen sowie der zahlreichen ostslavischen Sekten. Stets stand er auf Seiten der Heterodoxie. Doch hat die Gewissheit, alle VerWaltung sei Gewalt-Missbrauch, bei wenigen so radikale Formen angenommen wie bei ihm. Dass er auch keinem Gericht und keiner Behörde, keiner Partei und keiner Kirche die Mäßigung des Bösen geschweige denn die Besserung der Welt zutraute, hat die Wirkung seines Denkens nicht unberührt gelassen.1 Das dritte Motiv, sich der Rezeption von Tolstojs philosophischem und religiösem Denken zuzuwenden, bildet der Abschied von der Illusion, mit der Säkularisation sei die Religion obsolet geworden. Wer freilich das philosophische und das religiöse Denken Tolstojs voneinander trennt, hat Rechenschaft darüber abzulegen, dass er dessen Gedankenwelt mit einem analytischen Blick fasst, der dem Selbstverständnis dieses Denkens widerspricht. Tolstoj war in dieser Hinsicht Spätromantiker: Auch nach und gegen alle

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Ausdifferenzierung von Philosophie und Religion suchte er die Wirklichkeit noch einmal unter einem einheitlichen Blickwinkel zu fassen, sie in Übereinstimmung mit den Slavophilen in synkretistischem Begehren zu einem Ganzen zu heilen. Im Gegensatz dazu wird hier festgehalten am Unterschied von Religion als allumfassender Bindung des Seins an Gott und Philosophie als sich der spezifisch menschlichen Vernunft bedienendem Streben nach Weisheit. Demnach verhalten sich Glauben und Wissen als menschliche Vermögen komplementär zueinander, indes Tolstoj einem Glauben-Wissen2 den Vorzug gab, das auch philosophische Einsicht als Heilslehre anbot und so dem Zweifel entzog. Da Tolstojs religiöse (zumal ethische) Lehre zunächst und vor allem den Zweck verfolgte, die eigene dionysische Natur in apollinische Zucht zu nehmen,3 war sie für existenzphilosophische Entschlüsselungen4 besonders anziehend. Die Stationen existenzialistischer Rezeption von Tolstoj werden hier in historischer Reihenfolge entfaltet, da in einigen Fällen feststeht und in anderen zu vermuten ist, dass spätere Rezeptionsgänge in Kenntnis früherer stattgefunden haben. Als Heidegger Tolstoj las, kannte er vermutlich das wichtigste Rezeptionszeugnis Lev Sˇestovs, dessen 1923 in deutscher Sprache erschienene Schrift Tolstoj und Nietzsche (1901).5 Und sein Überdenken der Phänomenologie fiel in die Zeit seiner Begegnung mit diesem russischen Existenzialisten. Das Gespräch mit ihm und die Tolstoj-Lektüre gingen der Veröffentlichung der hier einschlägigen Monographie Sein und Zeit (1927) voraus. Sartres Tolstoj-Bild wiederum war mitgeprägt von seiner HeideggerRezeption, die gewiss dessen Anmerkung zu Tolstojs Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc nicht ausgespart hat, und sie verlief wohl in Kenntnis von Sˇestovs Tolstoj-Büchern6 in Konkurrenz zu Albert Camus’ Rezeption des Russen, die ihrerseits nicht in Unkenntnis von Sˇestovs Bild des Schriftstellers einsetzte.7 Überdies hat die Tolstoj-Zurückhaltung des Autors von L’être et néant (Das Sein und Nichts) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgewirkt, ehe im 21. Jahrhundert Camus’ positivere Vision des russischen Schriftstellers erneut Wirkung zeitigte. Am Anfang stand jedenfalls Sˇestovs Gespräch mit Tolstoj, das freilich ungeachtet seines Besuchs beim Grafen in dessen Sterbejahr eine einseitige Antwort des jungen unbekannten Philosophen auf den bereits mehr als achtzig Jahre alten und schon berühmten Romancier Tolstoj geblieben ist.8 Es forderte dazu auf, Philosophie als etwas zu treiben, das den Menschen mitten in der Welt sieht.

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Lev Sˇestov Lev Sˇestov (1866–1938), der sich nach einer Hirnoperation mit Nah-TodErlebnis seit 1895 so gut wie ausschließlich der Philosophie zugewandt hatte, verfasste nach einer kleineren Schrift über Shakespeare, den er als seinen größten philosophischen Lehrer schätzte, zur Jahrhundertwende ein Buch mit der Überschrift Das Gute bei Graf Tolstoj und F. Nietzsche (Philosophie und Predigt). Der Titel tritt kraft der Kopula »und« dem verbreiteten und auch von Lev Tolstoj selbst beförderten Eindruck entgegen, sein Denken bilde einen strikten Gegensatz zum Philosophieren des zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahrzehnt dem Wahnsinn verfallenen Friedrich Nietzsche. Sˇestov widerspricht diesem Urteil mit dem Hinweis auf das gemeinsame fahrlässige Verkürzen des Gottesbildes auf die moralische Kategorie des Guten. Der Kritiker Tolstojs berief sich zu dessen Lebzeiten (der Schriftsteller starb 1910) sogar auf Nietzsches berühmten Spruch aus dem Zarathustra, um das seiner Ansicht nach irreführende, da verkürzende Gottesbild des russischen Schriftstellers bloßzustellen: Das ›Gute‹, die ›brüderliche Liebe‹, ist, wie wir jetzt aus Nietzsches Erfahrung wissen, nicht Gott. »Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, die über ihrem Mitleiden ist.«9 Nietzsche hat den Weg entdeckt. Man muss suchen, was höher ist als Mitleiden, höher als das Gute: Man muss Gott suchen.10

Tolstojs Feier des Guten als Göttliches hält Sˇestov mit Nietzsche die Überlegung entgegen, das Gute bedürfe des Bösen als seines Widerlagers. Dagegen erziele für Tolstoj die Wirkung der Verpflichtung zum Guten eine höhere Stufe humaner Welt-Harmonie. Sˇestov, dessen philosophisches Denken die Kluft zwischen Jerusalem und Athen als Gegensatz von Glauben und Wissen zur Spanne zwischen religiöser Offenbarung auf der einen und Spekulation, Geistschau und Vernunfterkenntnis auf der anderen Seite ausmaß, wandte sich vehement gegen Tolstojs Neigung, Wissen und Glauben noch einmal zur Einheit zu führen. Tolstoj praktizierte einen sekundären Synkretismus, der im Einklang mit Elena Blavatskaja und Rudolf Steiner gegen Sigmund Freud und Henri Bergson erneut die Ganzheit und Einheitlichkeit des menschlichen Bewusstseins zu behaupten suchte. Damit stemmte er sich in der Tradition des slavophilen Orientalismus gegen die Ausdifferenzierung kultureller Funktionen und Werte im europäischen »Westen«. Als weiteren Topos des Tolstoj-Bildes hat Sˇestov die Anschauung verworfen, Tolstoj sei ein großer Künstler und schwacher Denker gewesen. Beide entsprängen vielmehr ein und demselben Impetus:11 der Suche nach innerweltlichem Lebenssinn, nach schlüssiger Immanenz. Überzeugt, die philosophische Reflexion, das Denken aufs Ganze des menschlichen Daseins,

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werde gemäß der eigenen Lebenserfahrung stets durch ein die vormalige Selbstgewissheit des Daseins erschütterndes Erlebnis ausgelöst, das er mit Heidegger »Existenzial« nannte, sah Sˇestov in seiner ein Jahrzehnt später verfassten Schrift über Tolstoj mit dem Titel Der Welten Zerstörende und Erschaffende (Anlässlich des 80jährigen Jubiläums von Tolstoj) dessen Zeugenschaft einer Hinrichtung als Dreißigjähriger und das Erleben des Todes seines Bruders als jene erschütternden Erfahrungen an, die den Schriftsteller aus dem Gleis selbstgewissen epikureischen aristokratischen Lebens geworfen hätten. Zunächst habe Tolstoj die Alternative in Literatur und Pädagogik, dann im Familienglück gesucht, um zuletzt in seiner Lehre das philosophische Denken über das Gute als seinen neuen Lebensinhalt zu begründen. Das von Sˇestov herausgestellte Tolstoj-Zitat über dessen Initialerlebnis zeigt, wie Tolstoj bei aller denkerischen Anstrengung das sprachlich-erzählerische Moment seiner Darstellung nicht aus dem Blick verliert. Von der kunstvollen narrativen Schilderung des Erlebnisses läuft die Passage rhetorisch gezielt zu auf die Pointe – »schlecht« (durno): Als ich sah, wie der Kopf sich vom Körper trennte und der eine wie der andere für sich in den Kasten schlug, verstand ich – nicht mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Wesen – dass keine Theorien der Vernunft des Seienden und des Fortschritts diese Tat rechtfertigen können und dass, wenn auch alle Menschen in der Welt nach welchen Theorien seit der Erschaffung der Welt auch immer fanden, dass dies notwendig sei, ich doch weiß, dass dies nicht notwendig ist, denn es ist schlecht.12

Tolstojs Denken zeichnet sich für Sˇestov dadurch aus, dass es (wie ja auch dasjenige von Marx) die Welt nicht nur besser verstehen, sondern sie auch tatsächlich zu einer besseren machen wolle.13 Freilich gehe es ihm dabei weniger um die Welt an und für sich als, wie gerade seine Beichte (1882) zeige, um sein eigenes Leben oder, noch schärfer gefasst, um das Bild, das er von diesem Leben entwerfe. Als denkerische Grundschriften Tolstojs über die Wende seines Denkens Ende der 70er Jahre zieht Sˇestov neben der Beichte vor allem dessen Abhandlung über die Moskauer Volkszählung von 1882 (PSS 25: 173–181) heran sowie für das spätere Denken den Traktat Was ist Kunst? von 1898. Sˇestov ist frappiert vom Gegensatz zwischen der Aufrichtigkeit in der künstlerischen Schilderung des Romanciers auf der einen Seite und seiner ganz und gar nicht dazu passenden Selbstdarstellung dieser Arbeit auf der anderen (vgl. PSS 23: 14). Als Beispiel für künstlerische Aufrichtigkeit dient das Erzählen von Pierres Erlebnis der Erschießung russischer Kriegsgefangener, das ihn bis in den Urgrund erschüttert habe, zumal er selbst nur durch einen ihm unerklärlichen Zufall diesem Schicksal entronnen sei,14 weiterhin seine Errettung aus der Verzweiflung durch die Begegnung mit dem Bauernphilosophen

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Platon Karataev in Krieg und Frieden. Dazu steht für Sˇestov Tolstojs Selbstbild in der Beichte aufgrund des an ihn selbst gerichteten Vorwurfs der Unaufrichtigkeit in schroffem Widerspruch. Beiden Diskursformen kann und will der Existenzialist keinesfalls Wahrhaftigkeit absprechen, doch wäre – wie Tolstoj in der Beichte behauptet – die Darstellung der Verzweiflung und Rettung Pierres tatsächlich nur Lüge zum Zweck des Erringens von Ansehen und wirtschaftlichem Erfolg auf Seiten des Autors, dann hätte, so folgert Sˇestov, auch die Beichte als nichts anderes zu gelten denn als eine weitere geschickte Neuinszenierung zum Mehren von Ansehen und Gewinn.15 Habe Tolstoj in seiner ersten Krise Napoleon demontiert, so richte er sich in seiner zweiten gegen sich selbst. Für Sˇestov hat sich Tolstoj vor allem in seiner künstlerischen Prosa, zumal in Anna Karenina, mehr noch aber in Krieg und Frieden als bedeutender russischer Philosoph erwiesen. Gleichwohl kritisiert er ihn als religiösen Denker, da er sich gegen das Paradoxon des Glaubens verwahre, das auch Luthers Lehre von der Errettung allein durch den Glauben (sola fide) kennzeichne.16 Wie Nietzsche verfalle Tolstoj dem Irrtum, das Rettungsversprechen aus der Transzendenz in die Immanenz zu verlagern. Die Dominanz des ethischen Wertes über den ästhetischen und den der Erkenntnis bildet das axiologische Äquivalent dieser wissenschaftshistorisch und erkenntnistheoretisch obsoleten Synthese von Wissen und Glauben. Tolstoj hat Sˇestov zufolge zwar die radikalste Forderung des Neuen Testaments aufgegriffen, sich dem Bösen nicht zu widersetzen, dennoch aber an der falschen Vorstellung festgehalten, dieser Verzicht könne das Gute in die Welt tragen. Grundsätzlich gehe seine Vorstellung von Gott als dem Guten fehl, das an Gottes Stelle trete, wenn es, wie Tolstoj fordert, in der Welt verwirklicht werden solle. Im Grunde leugne Tolstoj, wie Sˇestov erneut an Pierres Beispiel und auch am Epilog zu Krieg und Frieden zeigt, auch den Sündenfall.17 Unter der an die Außenwelt gerichteten Überzeugung verberge sich in Wahrheit der Untergrundmensch18 Tolstoj, der den absoluten Glauben des Alten Testaments praktiziert habe.19 Tolstojs Hybrid aus philosophischem Denken und religiösem Glauben kommt in Sˇestovs in Klammern gesetztem polemischem Untertitel »Philosophie und Predigt« zum Ausdruck. Indem Tolstoj so wenig wie Nietzsche die Grenze zwischen Wissen und Glauben achte, biete er seinen GottesGlauben irreführend als Wissen des Philosophen an. Für Sˇestov bringt Nikolaj Ivanoviˇc, der Held des autobiographischen Dramas Ein Licht leuchtet in der Finsternis, ein Prediger des Guten und der Vernunft, auf für sich selber und andere durchschaubare Weise den Menschen Unglück, lasse indes nicht davon ab, weil nicht das Sterben schrecklich sei, sondern ein Leben auf gefühl- und sinnlose Weise: »unser Leben ist Tod, unser Tod – Leben und der Anfang des Lebens.«20

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Im Aufsatz Vor dem Jüngsten Gericht21 (1920) legt Sˇestov Tolstojs Erzählungen Der Tod des Ivan Il’iˇc und Herr und Knecht als Deutungen des Lebens durch das Sterben aus. Sie böten Tolstojs Fußfall vor der Vernunft als Selbstunterwerfung unter eine absurde Logik dar und bereiteten den Auszug des Grafen vor seinem Tod aus dem Gutshaus nach Astapovo vor.

Martin Heidegger An Sˇestovs Problematisierung des Todes im Verhältnis zum Leben durch Tolstoj-Lektüre knüpft Martin Heidegger (1889–1976) an. Er verweist in seinem bislang veröffentlichten Gesamtwerk nur ein einziges Mal auf Lev Tolstoj, zudem nicht auf die Schriften des Denkers, sondern auf eine Erzählung des Künstlers, auf die Novelle Der Tod des Ivan Il’iˇc. Doch steht dieser Hinweis an prominenter Stelle, im Paragraphen 51 des Schwellenwerks Sein und Zeit (1927). Der gehört zum ersten, »Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode« überschriebenen Kapitel des Abschnitts »Dasein und Zeitlichkeit«. Es bildet argumentativ eine komplementäre Parallele zum ersten Abschnitt, der »Vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins«. In der Überschrift dieses Paragraphen unterminiert die zum Topos gewordene Formel »Das Sein zum Tode« die »Alltäglichkeit des Daseins«. Heideggers Fußnote ist samt zugehörigem Abschnitt kulturgeschichtlich überwiegend als philosophische Auslegung von Tolstojs künstlerischer Novelle aufgefasst worden.22 Als einer der ersten hat W. Barrett erklärt, der Philosoph Heidegger habe Tolstojs Novelle zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung des Todesphänomens genommen.23 Hier ist dagegen zu zeigen, dass Heidegger im Grunde einem kreativen Missverständnis der Erzählung aufsitzt. Er liest nämlich sein Verständnis des Todes erkenntnisfördernd in Tolstojs Erzählung hinein. Diese Novelle war zwar bereits 1874 erstmals ins Deutsche übersetzt worden,24 doch hatte die von Rudolf Kassner übertragene Ausgabe von 1913 im Insel-Verlag so viel mehr Erfolg,25 dass wir Grund haben zur Annahme, Heidegger habe diese deutsche Fassung vorgelegen.26 Heideggers Rede vom »hölzernen Eisen«, diese Kritik am Hybrid von Philosophie und Theologie, trennt ihn von Tolstojs Drang nach ihrer Integration. Die Aversion gegen alle scholastische Gotteslehre, die Ablehnung des onto-theologischen Gottesbegriffs27 und das Interesse für Luthers Idee individueller Glaubensentscheidung stimmen indes überein mit Tolstojs Kampf gegen das Institutionalisieren des Glaubens und mit seinem »katholischen« Streben nach guten Taten. Auch Glaube als Erfahrung der Endlichkeit und die Einstellung auf göttliche Rede statt auf die Rede über Gott mag Heidegger bei Tolstoj gefunden haben. Erlösung als Auflösung28 zu fassen, ist dagegen

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gewiss sein eigener Beitrag. Heideggers Rede von 1948, sein Philosophieren sei – Gott als causa sui verwerfendes – »Warten auf Gott«, harmoniert auffällig mit Tolstojs Rede von seinem Leben als Weg zu Gott.29 Heideggers Gedanke, nur als moralische Instanz sei »Gott tot«, steht indes erneut quer zu Tolstojs schon von Sˇestov kritisierter Identifikation Gottes mit dem Guten. Heidegger sucht im Anschluss an Husserls Phänomenologie die Frage nach dem Sein vom Dasein mit dessen (wie er annimmt) ursprünglichem Verhältnis zu seinem eigenen Sein anzugehen: Diese »Existenz« (ein Kierkegaard entlehnter Ausdruck) mache das Dasein in seinem Sein transparent. Er scheidet Dasein in die beiden Modi des uneigentlichen Alltäglichen und Durchschnittlichen als Zuhandensein sowie des »eigentlichen« Modus von Dasein in seiner Ganzheit als Vorhandensein. Dasein in diesem Sinn greift aus nach seinen künftigen Möglichkeiten, deren unüberholbare äußerste (nicht ohne Rücksicht auf Karl Jaspers’ »Grenzsituationen«30 gedachte) eben der Tod ist. Daher ist Dasein »Sein zum Ende«, Sein zum Tode. Dem Sterben anderer könne der Mensch entnehmen, dass allein es als eigenste Möglichkeit vorwegzunehmen sei, wobei die »Geworfenheit« des Daseins sich als Befinden der Angst niederschlage. Der Appell, die Möglichkeit des eigenen Todes frei anzunehmen, setzte indes voraus, dass Dasein in seinem Seinkönnen Zeugnis ablege von jener möglichen Eigentlichkeit seiner Existenz, die es kraft des Gewissens selbst fordere. Hier artikuliere sich das Nichts, das im Dasein als Geworfenheit und Entwurf angelegt sei. Daher sei Dasein wesentlich Grundsein einer Nichtigkeit von etwas. Im Wollen des eigenen Gewissens liege neben der Möglichkeit zur Schuld auch die Potenz beschlossen, gut zu sein.31 Erst der Entschluss zu Eigentlichkeit und Ganzheit mache die Zeitlichkeit des Daseins fassbar. Zeitlichkeit sei ursprünglich vergangen-gegenwärtige Zukunft, die alle Momente des Daseins begründe, des eigentlichen ebenso wie des uneigentlichen. Auf welchem Weg der Sinn des Daseins aus der ursprünglichen Zeit herzuleiten ist, in diese offene Frage mündet das Fragment Sein und Zeit. Dessen Daseins-Negativität hebt sich grundsätzlich ab von Tolstojs positivem Lebensbegriff. Wesentliches Moment des uneigentlichen Seins ist Heidegger zufolge das unpersönliche »Man«, das dem persönlichen Ich gegenüber steht, dem Agens des eigentlichen Seins. In der verworfenen Zukunftsgewissheit des eigenen Todes, am unpersönlichen »Man stirbt«, welches das persönliche »Ich sterbe«32 ersetze, verberge sich das Dasein als Sein zum Tode. Gerade diese Formel »Man stirbt« wird für Heidegger im Verlauf von Tolstojs Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc erschüttert und stürzt zusammen. Dabei schließt Heideggers Entwurf des Todes als je »eigenste[r] Möglichkeit des Seins«, als Eröffnung des Daseins als »sein [je] eigenstes Seinkönnen«,33 das dem Alltäglichen des »Man« zu entreißen ist, den Bezug zum Anderen

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aus, durch dessen Tod uns die eigene Sterblichkeit ja überhaupt erst vor Augen geführt wird.34 Und gerade dies ist das bei Tolstoj erzählte Positivum des Todes. In Tolstojs Lehrschrift über das Sterben eines auf den Tod nicht Vorbereiteten kommt es dem sterbenden Juristen Golovin35 am Ende darauf an, die anderen vor Leid an seinem Tod zu bewahren: Er bedeutet der Frau, den Sohn aus der Sterbekammer zu führen, will ihr Verzeihen erbitten, verspricht sich aber und sagt statt »prosti« (»verzeih«/»leb wohl«) – »propusti« (»lass es geschehen«/»lass mich durch«). Diese Fehl-Äußerung, die in ihrer Einfachheit indes den Kern des Vorgangs enthüllt, sie, die Ivan infolge des fortschreitenden Todes nicht mehr zurechtrücken kann, trifft, anders als die Bitte um Verzeihung, nicht mehr nur die Frau, sondern auch ihn selbst: Sie ist zugleich dialogisch und reflexiv. Und sie ist didaktisch, wie Tolstojs Kernaussagen so oft. Analog zu Tolstojs Maxime, sich nicht dem Übel zu widersetzen, hat der Sterbende gelernt, gegen das Unvermeidliche keinen Widerstand zu leisten.36 Im Ver-Sprechen fordert er, von Heidegger völlig unbeachtet, die Frau auf, ein Gleiches zu tun. Golovins letzter Dialog stellt in Übereinstimmung mit Tolstojs Neigung zum Pantheismus und womöglich im Anschluss an gnostisches Denken37 die Absenz des Todes fest: Er begann sich zuzuhören. »Ja, da ist er. Nun, was denn, mag es der Schmerz sein.« »Und der Tod? Wo ist der?« Er suchte seine frühere, gewohnte Furcht vor dem Tod und fand sie nicht. Wo war er? Welcher Tod? Da war überhaupt keine Furcht, weil es auch keinen Tod gab. Anstelle des Todes war Licht. (PSS 26: 113)

Tolstojs Sterbetext löscht den Tod durch Licht. Und er finalisiert den sich aus Sicht des Sterbenden selbst verschluckenden Thanatos kompositorisch. Dabei wahrt der Erzähler mit sublimer Konsequenz zunächst die Innenperspektive des Sterbenden, die dann aufgeht in der Außenperspektive allwissenden Erzählens: In seiner Brust toste etwas; sein ermatteter Leib erzitterte. Seltener und seltener wurde dann das Tosen und Röcheln. »Es ist zu Ende!«, sagte jemand über ihm. Er hörte diese Worte und wiederholte sie in seinem Herzen. »Zu Ende ist der Tod«, sagte er sich selbst. »Es gibt ihn nicht mehr«. Er sog Luft in sich ein, hielt in der Mitte des Seufzers inne, streckte sich und starb. (PSS 26: 113)

Anders als bei Heidegger, der von der Theologie zur Philosophie gegangen war, regiert bei Tolstoj, der die Jurisprudenz zugunsten der Suche nach dem Guten aufgegeben hat, der Tod nicht die Nichtigkeit des Lebens, sondern er erfüllt in fast absurder diesseitiger Gewissheit die Positivität allen Lebens.

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Das Textende kongruiert dabei mit der durch perfektiven Aspekt in seiner Effektivität pointierten Sterbehandlung. Text und Leben münden zum Schluss zwar in den festgestellten Tod, doch so, dass Leben, Denken und Literatur in eins hinauslaufen auf eine ars moriendi (Tolstoj 1908), die der große Theaterkünstler Tolstoj selbst 1910 dann im eigenen Sterben zu Astapovo als Gesamtkunstwerk in Szene setzen sollte.38 Solche Existenzialisierung von Philosophie und Kunst war Heidegger prinzipiell fremd.

Die ambivalente Rezeption von Tolstojs Denken im französischen Existenzialismus Die Bahnstation, auf der Tolstoj starb, war für Albert Camus (1913–1960), dessen Existenzphilosophie dem Dialog mit Dostoevskijs Werk so viel verdankt und der mehr an der Person als an dem Künstler und mehr an dem Schriftsteller als an dem Philosophen Tolstoj Interesse zeigte, wie die Wüste und die Pest Topos der Entscheidung.39 Der französische Existenzialist sah die im Mythos von Sisyphos zutage tretende absurde Vergeblichkeit und Unvermeidlichkeit menschlicher Mühsal geprägt von dem an Sˇestovs TolstojBild gemahnenden Widerspruch zwischen der in Tolstojs Beichte einerseits behaupteten Entwertung aller Werte durch den Tod und dem andererseits behaupteten Appell des Todes, dem Leben selbst ein Ende zu setzen oder aber es »so umzugestalten, dass wir ihm einen Sinn verleihen, den ihm der Tod nicht rauben kann«.40 Anders als Heidegger durchschaut Camus Tolstojs Interesse am Tod als Interesse am Leben.41 Camus’ »Mensch in der Revolte«42 indes tritt Tolstojs Begründung des Guten in der Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen diametral entgegen. Er hat den radikalen Vertreter dieses Standpunkts denn auch als »Anarchisten«43 diskreditiert, der noch die Schergen des Nazireichs höflich willkommen heiße. Camus’ Elemente der Solidarität unter den Revoltierenden und das Selbstopfer in der Revolte zugunsten eines Guten, das über das eigene Schicksal hinaus zielt, lassen sich dagegen mit Tolstojs Ethik verknüpfen. Freilich ist dabei eher die Gerechtigkeit als die Freiheit mit Tolstojs Axiologie zu vereinbaren. Angesichts von Tolstojs Beichte wählt Camus für sich selbst (zur Empörung seiner Zeitgenossen) nicht »Revolutionär«, sondern »Reformer«, genauer »Revoltierender« (révolté) als treffenden Namen.44 Der bekennende Nichtchrist Camus, der sich gegen die Ordnung der Welt empört, ohne den revolutionären Anspruch des Aufbaus einer besseren Welt zu erheben, hat in dem gottgläubigen Kritiker der Orthodoxie Tolstoj vermutlich eine Stütze seines eigenen abstrakten Gottesglaubens gefunden.

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Camus’ Tagebücher45 bezeugen auf sinnfällige Weise seine Lektüren der Prosa von und über Tolstoj.46 Die religiösen Traktate des Russen haben seine Aufmerksamkeit demnach jedoch nur in geringerem Maße gefunden. Dabei zielt die Kritik des Existenzialisten auch auf die reale Person Tolstoj: Er habe aus Unachtsamkeit bei der Eingabe für den Soldaten Cˇibunin dessen Tod verschuldet, indem er die Angabe von dessen Regiment unterlassen habe.47 Das Problem des Selbstmords, das Tolstoj als einzige Alternative zu einem durch das Wissen vom Tod inspirierten Änderung der eigenen Lebensweise in den Mittelpunkt seiner Beichte gerückt hatte, zeichnet Camus aus als »einziges ernsthaftes philosophisches Problem«.48 Und in den Entwürfen zu Tolstojs spätem Roman Auferstehung (1899) gibt der implizite Autor des Textes eine Faszination durch die säkular-mönchische Lebensweise der Terroristen zu erkennen, lässt den Protagonisten (Fürst Nechljudov) die ganze Attraktion dieser verschworenen Gemeinschaft spüren und erschafft eine Welt, die dem Menschen in der Revolte Camus’ durchaus als Folie dienen konnte.49 Im Mittelpunkt der Ideenwelt von Tolstojs Roman steht die Verlagerung des Osterwunders aus der Transzendenz in die Immanenz. Analog transponiert Camus die Grundentscheidung des Menschen aus der christlichen Sphäre der Annahme des Opfertods Christi durch den Glauben in die Entscheidung des Einzelnen, Verantwortung über sein Leben zu übernehmen. An die Stelle Gottes sei infolge der Leugnung der Teleologie des Menschen seit dem 18. Jahrhundert die Geschichte getreten, doch sei wirkliche Auflehnung nur dem Einzelnen möglich: als Leben des Widerspruchs in der Kunst. Diese Rettung des Einzelnen und nicht einer Rasse oder Klasse bedeute den Verzicht auf den Anspruch, die Geschichte zu gestalten, eine Haltung, die Tolstojs Grundimpetus des Nichtwiderstehens entspricht und 1952 zum Bruch Sartres mit Camus geführt hat.50 Jean-Paul Sartre (1905–1980) gibt an keiner Stelle seines philosophischen Werks – weder in der Moralphilosophie51 mit ihrer Erweiterung des Gedankens, Imagination erschließe Freiheit durch die Gegen-Idee, Imagination könne Unfreiheit erzeugen, noch in Das Sein und das Nichts52 mit der Gegenüberstellung von An-Sich-Sein und Für-Sich-Sein, weder in Ist der Existenzialismus ein Humanismus? noch in Die Wege der Freiheit53 – die Wirkung von Tolstojs Denken zu erkennen.54 Dies hing vermutlich mit dessen religiösem Synkretismus zusammen, der dem säkularen Denken Sartres abgrundtief fremd war. Nicht einmal in seiner Einführung Was ist das, die Literatur?55 mit ihrer Forderung politischen Engagements, deren Titel an Tolstojs Schrift Was ist das, die Kunst? anzuschließen scheint, hat er den russischen Realisten auch nur erwähnt, den Lenin auf das Piedestal des Vorbilds gehoben hat wie zuvor Engels Honoré de Balzac. Sartre kennt wie Tolstoj keinen Gott, der dem Menschen sein Wesen vorgibt. Doch anders als beim Russen bestimmt beim französischen Philosophen der Einzelne sich in seiner Existenz selbst.

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Die Existenz gehe der Essenz voraus, d.h. der Mensch existiere zunächst, begegne sich, tauche in der Welt auf und definiere sich erst hernach. Der Mensch ist unter der Maßgabe dieser atheistischen Selbstverantwortung verurteilt zur Freiheit. Für den Philosophen Sartre ist im Unterschied zum Denker Tolstoj Gott entweder Teil der den Menschen umfassenden Totalität, die er dann nicht von außen wahrnehmen kann, oder aber ein von den Menschen getrennter Teil der Totalität, die er nur als Gegenstand erfahren könne, ohne sie (von innen) zu kennen. In beiden Fällen sei göttliche Allwissenheit unmöglich. Stattdessen sieht Sartre Gott als ideales Symbol einer Bewusstheit, die den Grund ihres Seins an sich im reinen Bewusstsein von sich selbst habe. Gegen Tolstojs Votum für das Nicht-Widerstehen gegen das Böse hat er (so in der Rom-Vorlesung) an der Gewaltausübung in besonderen Situationen festgehalten.56 Der amerikanische Schriftsteller und Literarhistoriker John Gardner hat Tolstoj geradezu als Antipoden Sartres ausgemacht: Lev Tolstoj kannte die kosmische Verzweiflung, und er hat eine geistige Krise erlebt. Doch er trat aus dieser Krise nicht mit einer Theorie darüber hervor, dass ein jeder seine eigenen Regeln aufstellen könne. […] Anders als Sartre, der zur »transzendenten Bestimmung des Individuums« aufruft, dachte Tolstoj nach über die transzendente Bestimmung des Menschen überhaupt; ähnlich den frühen englischen und französischen Romantikern träumte er von einer Welt, die nicht mit Hilfe von Polizisten regiert wird, sondern durch den Faktor der moralischen Wahl, von einer Welt, in der es das hauptsächliche stolze Streben ist, auf Christus zuzugehen.57

Nachdem in den 80er Jahren bereits von der »Negativen Theologie« Sartres die Rede ging,58 wird jüngster Zeit unter dem atheistischen Firnis der Argumente Sartres in der Tiefenstruktur seiner Ausdrücke und Denkfiguren eine religiöse Schicht bloßgelegt,59 die in seinem künstlerischen Werk offen zutage liegt. So stellt das Drama Der Teufel und der liebe Gott (1951) die Entwicklung des Einzelmenschen Götz vom idealistischen Gottsucher in der Tradition Tolstojs zum gottverneinenden Existenzialisten auf die Bühne. Vom Vertreter des absolut Bösen wandelt sich der Adlige zum Verfechter des absolut Guten, verzichtet ganz im Sinne der Soziallehre Tolstojs auf Besitz und seiner religiösen Lehre auf Widerstand gegen das Böse, durchschaut aber durch eine weitere Drehung an der Schraube der Selbstkritik am Ende sein eigenes beispielgebendes Verhalten als Hochmut und zieht aus Nietzsches Einsicht »Gott ist tot« die marxistische Konsequenz: Wenn Götz zu den Menschen herabsteigt, so hat er auf jegliche Unbedingtheit des ethischen Imperativs verzichtet, weil er bescheiden geworden ist und sich nicht mehr auf Gott bezieht – im Bösen ein Ungeheuer, im Guten ein Heiliger. Er verzichtet auf jegliche Forderung nach dem Unbedingten, weil das Gute in einer auf Ungerechtigkeit gegründeten Welt unmöglich ist.60

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Diese Fremdheit gegenüber dem russischen Denker gilt anders als bei Romain Rolland61 sogar für den existenzialistischen religiösen Denker und Schriftsteller Gabriel Marcel mit seiner Forderung der Disponibilität füreinander in der Zerbrochenen Welt62 und seiner Unterscheidung von Problem und Geheimnis (analog zu Haben und Sein) im Geheimnis des Seins.63 Es war wohl neben dem religiös-philosophischen Synkretismus die lehrhafte Grundhaltung des russischen Grafen in seinen denkerischen Schriften, die sich mit dem eher fragenden Habitus der französischen Intellektuellen nicht gut vertragen hat. Das Existenzial des Todes verleiht dem Leben auch in seiner religiösen und philosophischen Deutung einen verbindlicheren Charakter als die Beliebigkeit postmodernder Konstruktion. Noch die Deutung des Sterbens als Zufall kann nur seinem Zeitpunkt gelten, nicht aber seiner Unentrinnbarkeit. Mögen Sˇestov und Heidegger, Camus und Sartre aus ihr auch verschiedene Folgerungen gezogen haben – sie alle verbindet mit Tolstoj das Ernstnehmen des Todes als bestimmendes, nichtkonstruiertes Moment menschlichen Daseins.

Anmerkungen 1 Tolstoj verwarf die Orthodoxe Kirche wegen ihrer Haltung zu Krieg und Strafe. Der Institutionenfreund Lenin hob den Institutionenfeind Tolstoj überraschend auf den Schild vorbildlicher Schreibkultur. Der Verfechter der Parteilichkeit von Literatur sah zwischen dem Künstler und dem Denker Tolstoj demnach eine tiefe Kluft. 2 »[D]er Glaube ist das Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens« (vera est’ znanie smysla ˇceloveˇceskoj ˇzizni [PSS 23: 35]). 3 Einblick in diese spektakuläre Selbstbändigung vermitteln noch stets am ehesten die Biographien von H. Troyat, Tolstoï, Paris 1965 (dt.: Tolstoi. Widerspruch eines Lebens, Düsseldorf 1966) und M. Braun, Tolstoj. Eine literarische Biographie, Göttingen 1978, 15, 21, 322. 4 Der Begriff »Existenzphilosophie« ist 1929 von F. Heinemann (Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig) geprägt worden. 5 L. Schestow, Tolstoj und Nietzsche, übers. v. N. Strasser, Köln 1923 (Neuausg.: L. Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, übers. v. N. Strasser, mit Aufsätzen von B. Groys, G.A. Conradi und A. Remisow, München 1994). Russ. Original: L. Sˇ estov, Dobro v uˇcenii gr. Tolstogo i F. Nitˇse (Filosofija i propoved’), St. Petersburg 1901. 6 L. Chestov, Les Révélations de la mort. Dostoïevsky – Tolstoï, übers. v. B. de Schloezer, Paris 1923, 1958; L. Chestov, L’idée de bien chez Tolstoï et Nietzsche (Philosophie et prédication), übers. v. T. Beresovski-Chestov/G. Bataille, eingel. v. J. de Gaultier, Paris 1925, 1949, 2004. Vgl. S. Moyn, Transcendence, Morality, and History. E. Levinas and the Discovery of Søren Kierkegaard in France, in: Yale French Studies 104, 2003, 22–54.

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7 A. Camus, Tagebücher 1935–1951, Reinbek b. Hamburg 1997, 188. In derselben Notiz, in der er die Eintönigkeit der Werke Sˇestovs und Tolstojs feststellt, erwähnt Camus den russischen Schriftsteller überhaupt zum ersten Mal. 8 Nach dem Gespräch am 2. März 1910 notierte Tolstoj: »Es kam Sˇestov. Wenig interessant – ein ›Literat‹ [literator] und keineswegs ein Philosoph« (PSS 58: 21). 9 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, F.N., KGA III, Bd. 12, 27f. Vgl. über Sˇestovs Verhältnis zu Nietzsche zuletzt: N.K. Boneckaja, L. Sˇestov i F. Nicˇse, in: Voprosy filosofii 2008/8, 113–133. 10 L. Sˇestov, Dobro v uˇcenii gr. Tolstogo i F. Nitˇse (Filosofija i propoved’), St. Petersburg 1900, 209; dt.: L. Schestow, Tolstoj und Nietzsche, Köln 1923, 258 (Übersetzung revidiert). 11 Auch die religiösen Schriften Tolstojs seien »Modelle literarischer Prosa« (L. Sˇ estov, Jasnaja Poljana i Astapovo. K dvadcatipjatiletiju so dnja smerti L. Tolstogo, in: Sovremennye zapiski 61, 1936, 217–230, hier 224). Vgl. zur Aktualität Sˇestovs H.-B. Gerl-Falkovitz, Zu einer europäischen Kultur der Vergebung. Von Derrida zu Leo Schestow, in: dies., S. Gottlöber, R. Kaufmann und H.R. Sepp (Hg.), Europäische Menschenbilder, Dresden 2009, 423–434. 12 L. Sˇ estov, Razruˇsajuˇscˇ ij i sozidajuˇscˇ ij miry, 315f, kursiv Sˇestov. Das Zitat ist Tolstojs Beichte entnommen (PSS 23: 8). 13 In der Tat gerät Tolstoj im 11. Kapitel der Beichte in einen existenziellen Zirkel, da er argumentiert, die Erkenntnis des Lebenssinns setze ein sinnvolles Leben des Erkennenden selber voraus. 14 Sˇestov identifiziert hier auf narratologisch problematische Weise Pierres Erlebnis mit Tolstojs Leben, indem er diese Passage des Romans als autobiographisches Zeugnis liest. 15 Hier gilt es zu beachten, dass Sˇestov, der selbst eine Karriere als Sänger angegangen war, der Kunst und der Kunstfertigkeit stets wohlwollend gegenüberstand. 16 Sˇestov wiederholte in seinen Schriften stets aufs Neue die Losung Tertullians: »Credo quia absurdum« (Ich glaube, weil es widersinnig ist). 17 L. Sˇ estov, Jasnaja Poljana i Astapovo. K dvadcatipjatiletiju so dnja smerti L. Tolstogo, in: Sovremennye zapiski 61, 1936, 217–230, hier 222. Erneut in: ders., Umozrenie i otkrovenie, Paris 1964. 18 Den Begriff »Untergrundmensch« entlehnt Sˇestov bei Dostoevskij. 19 A.a.O., 230; ders., Otkrovenie smerti, in: ders., Na vesach Iova, Moskau 2001, 86–92. 20 L. Sˇ estov, Na vesach Iova, 131. 21 L. Sˇ estov, Na straˇsnom sude (Poslednie proizvedenija L.N. Tolstogo), in: ders., Soˇcinenija v dvuch tomach, Bd. 2: Na vesach Iova, Moskau 1993, 98–148. 22 K. Hamburger, Leo Tolstoi. Gestalt und Problem, München 1950, 79f; W. Kaufmann, Religion from Tolstoy to Camus. Introduction, New York 1961; J. Kulenkampff, Der Tod des Iwan Iljitsch – Sterblichkeit und Ethik bei Heidegger und Tolstoi, in: W. Brüstle/L. Siep (Hg.), Sterblichkeitserfahrung und Ethikbegründung. Ein Kolloquium für Werner Marx, Essen 1988, 164–179; Z. Hajnády, Ivan Il’iˇc und das »Sein zum Tode«. L. Tolstoj und M. Heidegger, in: Wiener Slawistisches Jahrbuch 36, 1990, 23–35; A. Pratt, A Note on Heidegger’s Death Analytic. The Tolstoyian Correlative, in: Analecta Husserliana 38, 1992, 297–304; N. Repin, Being-toward-Death in Tolstoy’s The Death of Ivan Il’ich. Tolstoy and Heidegger, in: Canadian-American Slavic Studies 36/1–2, 2002, 101–132; H.F. Guney, Tolstoy and Heidegger. Search of Authenticity in The Death of Ivan Illyich, in: The Philosophical Age 10 (Philosophy as Fate. Russian Philosopher as a Sociocultural Type), Petersburg 1999, 73–83. 23 W. Barrett, Irrational Man. A Study in Existential Philosophy, New York 1962, 120.

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24 L.N. Tolstoj, Der Tod des Iwan Iljitsch, in: ders., Neue Erzählungen, Leipzig 1887. 25 L.N. Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch – Erzählungen, übers. v. R. Kassner, Leipzig 1913 (1922 bereits 40000 Exemplare). Auf die Erzählung kann Heidegger auch durch die Lektüre von R. Rollands Das Leben Tolstojs (Frankfurt a.M. 1922, 124f) gestoßen worden sein, das auf die außerordentliche Wirkung dieser Novelle auf französische Leser aus der Provinz hinwies. 26 Heidegger gibt nicht an, auf welche Übertragung er sich bezieht. Dabei ist auch die Frage zu bedenken, ob eine einzige Fußnote genügt, die Annahme einer intensiven Rezeption zu belegen. Da freilich Tolstojs Novelle den einzigen literarischen Text bildet, den der Marburger Philosoph hier anführt und sein Faible für Literatur offen zutage liegt, ist diesem Verweis eine gewisse Relevanz nicht abzusprechen. Schwieriger liegt der später zu erörternde Fall Sartres, der Verweise auf Tolstoj partout vermeidet. 27 M. Heidegger, Phänomenlogie und Theologie [1927], in: ders., Phänomenologie und Theologie, Tübingen 1970. Vgl. O. Pöggeler, Philosophie und hermeneutische Theologie. Heidegger, Bultmann und die Folgen, München 2009. 28 P. Capelle, Le divin et le Dieu chez Martin Heidegger, in: L. Langlois/Y.C. Zarka (Hg.), Les philosophes et la question de Dieu, Paris 2006, 287–310. 29 Ob beide Aussagen unabhängig voneinander stehende buddhistische Quellen haben, wäre noch zu klären. 30 K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen [1919]; vgl. ders., Nietzsche und das Christentum, München 1952. 31 In dieser Befähigung zum Guten stimmt Heidegger erneut mit Tolstoj überein, nur erwächst sie bei diesem – anders als bei jenem – nicht notwendig aus der Reflexion über die eigene Sterblichkeit. 32 »Ich sterbe« soll der Fama gemäß 1904 Cˇechovs letzter Satz (zudem in deutscher Sprache!) gelautet haben. 33 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 263. Vgl.: »Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu ›Verwirklichendes‹ und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Er ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu …, jedes Existierens« (a.a.O., 262). 34 Auf diese Pointe der Alterität des Todes – wir können nur den Tod des anderen erleben – hat bereits in den frühen 20er Jahren Bachtin hingewiesen (M. Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, Frankfurt a.M. 2008). 35 Sein Name ist von russ. golova (Kopf) abgeleitet wie der Name Karenin von gr. kar¯enon (Kopf). 36 Vgl. Tolstojs Maxime, sich nicht (mit Gewalt) dem Bösen zu widersetzen. 37 In der Gnosis wurde das Böse als Abwesenheit des Guten (Gott) und Finsternis als Absenz von Licht gedacht. 38 Schon Stefan Zweig hat Tolstojs Sterben in Astapovo als letzten Akt von dessen Drama Und das Licht scheinet in der Finsternis fortgeschrieben und als »Einen Epilog zu Tolstojs unvollendetem Drama Und das Licht leuchtet in der Finsternis« unter dem Titel »Die Flucht zu Gott« in den Sternstunden der Menschheit (1927) erscheinen lassen. 39 A. Camus, Carnets, Bd. 2 (Janvier 1942 – mars 1951), Paris 1964, 11. Eugène-Melchior Vicomte de Vogüé hat mit seinem Buch Le roman russe (1886) die frühe französische Tolstoj-Rezeption entscheidend geprägt. 40 A. Camus, Tagebücher 1935–1951, Reinbek b. Hamburg 1972, 123; vgl. PSS 23: 16f. 41 Er exemplifiziert dies am Beispiel des Aufsatzes Leben und Tod, der dann doch den Titel Das Leben trug (A. Camus, Carnets, Bd. 3 [Mars 1951 – décembre 1959], Paris 1989, 75). 42 A. Camus, Le mythe de Sisyphe, Paris 1942, 1948; ders., L’homme révolté, Paris 1951.

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A. Camus, Carnets, Bd. 2 (Janvier 1942 – mars 1951), Paris 1964, 236. A.a.O., 271. A. Camus, Tagebuch 1935–1951, 495, 315, 500. Besonders aufmerksam hat Camus die französischen Übersetzungen des Tagebuchs der Gräfin Tolstaja (A. Camus, Carnets, Bd. 3 [mars 1951 – décembre 1959], Paris 1989, 26f) und der Erinnerungen der Tochter Aleksandra (A. Camus, Carnets, Bd. 3, 193) gelesen: Journal de la Comtesse Tolstoi, 2 Bd., Paris 1930–1931; A. Tolstoï, Léon Tolstoï, mon père, Paris 1956. A. Camus, Carnets, Bd. 2, 292. A. Camus, Le mythe de Sisyphe, Paris 1942, 15: »Il n’y a qu’un problème philosophique vraiment sérieux: c’est le suicide«. Vgl.: »Der ächte philosophische Akt ist Selbsttödtung« (Novalis [Friedrich v. Hardenberg], Sämmtliche Werke, hg. v. C. Meißner, Florenz/Leipzig 1898, Bd. 3, 101). Vgl. R. Grübel, Dialogik contra Dialektik. Literarisches Philosophieren über Athanasie und Autothanasie bei Fëdor Dostoevskij, Vasilij Rozanov und Lev Sˇestov, in: R. Schulz (Hg.), Philosophie in literarischen und ästhetischen Gestalten, Oldenburg 2005, 52–99. Vgl. G. Nivat, Le catharisme de Tolstoï, in: ders., Russie-Europe. La fin du schisme, Paris 1993. J.-P. Sartre, Réponse à Albert Camus, in: Les Temps Modernes 8, 1952–1953, 334–353. J.-P. Sartre, Cahier pour une morale, Paris 1983. J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénomenologique, Paris 1943, 1960. J.-P. Sartre, Les chemins de la liberté, Paris 1945–1962. Sartre hat Tolstoj, inspiriert von seiner Großmutter mütterlicherseits, in seiner frühen Jugend gelesen und mit ihr diskutiert (D. Drake, Sartre, London 2005, 19). R.M. Baird (Existentialism, Death, and Caring, in: Journal of Religion and Health 15/2, 1976, 108–115) sieht in Tolstoj, zumal in der Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc, einen Vorläufer von Sartre. J.-P. Sartre, Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1947. Allerdings liest in M. Karrs autobiographischem Roman The Liars’ Club (New York 1995, dt: Der Club der Lügner, München 1996) die Mutter neben Marx vor allem Tolstoj und Sartre, und R. Baumgart (Eine Fundgrube, eine Fallgrube. Rez. von V. Schklowski, L. Tolstoi, Wien 1981 [russ. 1963], in: Der Spiegel, 15. 3. 1982, Nr. 11, 218–222, hier 218) erklärt mit Blick auf »Literatur als Sozialarbeit« Tolstoj geradezu zum »Vorläufer von Sartre«. R.E. Santoni, Sartre on Violence. Curiously Ambivalent, University Park, Pennsylvania 2003. J.C. Gardner, On Moral Fiction, New York, 1978, 25f. P. Verstraaten, The Negative Theology of Sartre’s Flaubert, in: Sartre after Sartre. Yale French Studies 68, 1985, 152–164. S.Z. Charmé, Revisiting Sartre on the question of religion, in: Continental Philosophy Review 33/1, 2000, 1–26. J.-P. Sartre, Le diable et le bon Dieu, Paris 1951. Vgl. R. Rolland, La vie de Tolstoï, Paris 1921, 1928. G. Marcel, Le monde cassé, Paris 1933. G. Marcel, Le mystère de l’être, Paris 1951; G. Marcel, Metaphysisches Tagebuch, Paderborn u.a. 1992.

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Ludger Udolph

Mahatma Gandhi In seiner Londoner Studienzeit (November 1888 – Sommer 1891) wurde Gandhi (1869–1948) durch seine englischen Bekannten vielfach mit Fragen der Religion konfrontiert.1 Zwei unverheiratete, zur Theosophie konvertierte Brüder machten ihn mit der Bhagavadgita bekannt und gaben ihm Edwin Arnolds Buddha-Buch The Light of Asia (1879) zur Lektüre, er las Helena Blavatskys Key to Philosophy (1889) und Annie Besants Why I Became a Theosophist (1889); beide Autorinnen lernte er im November 1889 auch persönlich kennen. In Thomas Carlyles Buch über die großen Männer las er das Mohammed-Kapitel. Das Alte Testament langweilte ihn, das Neue reduzierte sich für ihn auf die Bergpredigt, die er mit Baghavadgita und Light of Asia zu einer Synthese bringen wollte;2 man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass Gandhi das Neue Testament durch die Brille Tolstojs gelesen hat.3 Auch als junger Anwalt in Pretoria war Gandhi immer wieder mit religiösen Fragen befasst, wobei die Versuche seiner englischen Bekannten, ihn zum Christentum zu bekehren, ihn mehr und mehr zum Hindu werden ließen. So wurde er von dem offenherzigen, standhaften Quäker Mr. Coates mit christlichen Büchern überhäuft, die ihm wenig zusagten; besser gefielen ihm Anna Kingsfords The Perfect Way of Finding the Christ (1882) und Edward Maitlands The Story of the New Gospel of Interpretation (1893) mit der »Widerlegung des gängigen christlichen Glaubens«, die Bücher schienen »den Hinduismus zu unterstützen«.4 Ratsuchend wandte er sich an den Dichter Shrimad Rajchandra (1867–1901), der in einem Antwortbrief den Hinduismus für die beste Religion erklärte und Gandhi mehrere hinduistische Bücher zur Lektüre schickte.5 Ghandi las Max Müllers India – What Can It Teach Us? (1883), die Übersetzung der Upanischaden in der Ausgabe der Theosophischen Gesellschaft und beschäftigte sich, da auch Muslime ihn bekehren wollten, mit dem Koran und Washington Irvings Mahomet and His Successors (1849/50). Im April 1894 dann las er zum ersten Mal Tolstojs The Kingdom of God Is Within You. Das Buch habe ihn überwältigt: »Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrhaftigkeit dieses Buches schienen alle Bücher, die mir Mr. Coates gegeben hatte, zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen«.6 Er las die Harmony of the Gospels, How Shall We Escape? und anderes.7 Unter dem Eindruck Tolstojs habe er sich damals von einem Befürworter zu einem Gegner von Gewalt gewandelt.8

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Gandhi interessierte also nicht der Erzähler, sondern der Lebensreformer und Denker Tolstoj, als den er ihn in seiner Zeitung Indian Opinion auch sehr idealisiert porträtierte. Der »Gutmensch« (goodman) Tolstoj sei das moralische Gewissen des Volkes und ein Vorbild für die Bauern. Freiwillig hat er sein komfortables Leben aufgegeben und führt nun ein einfaches Leben. Seine Lehre fasst Gandhi in sechs Punkten zusammen: 1. Der Mensch darf keinen Reichtum akkumulieren; 2. Böses darf nur mit Gutem vergolten werden; 3. der Mensch darf keinerlei Gewalt anwenden; 4. er darf keine politische Gewalt ausüben; 5. er muss in erster Linie seinen Pflichten gegenüber Gott nachkommen; 6. die natürliche Beschäftigung des Menschen ist der Ackerbau; große Städte und die Industrie widersprechen dem göttlichen Gesetz. Die Wahrheit sei dieselbe in allen Religionen; selbstsüchtige Priester hätten die reine Lehre zerstört. In allen Religionen sei die soul-force der brutalen Gewalt überlegen, Böses müsse mit Gutem vergolten werden. Man dürfe seinem Feinde nichts Böses wünschen. Der Mensch müsse immer Gutes tun, dann erfülle er seine religiösen Pflichten.9 Einige Jahre nach der ersten Begegnung mit dem Denken Tolstojs nahm Gandhi dann Kontakt mit dem Denker selber auf. Am 24. Mai 1908 hatte sich der indische Berufsrevolutionär Taraknath Das (1884–1958) aus Seattle in einem Brief an Tolstoj gewandt, in dem er ihn auf die durch die britische Regierung verursachte Armut und Hungersnot der indischen Bevölkerung hinwies und ihn bat, einen Aufsatz über Indien zu schreiben. Tolstoj antwortete ihm mit dem berühmten Letter to a Hindoo vom 14. Dezember 1909.10 Der Brief wurde von Das, der eine eigene Zeitung, Free Hindustan, herausgab, nicht veröffentlicht, gelangte jedoch an Gandhi, dem er gefiel.11 Dieser wandte sich daher am 1. Oktober 1909 aus London brieflich an Tolstoj, in dem er sich und seine Freunde als »firm believers in the doctrine of nonresistance to evil« vorstellt.12 Er weist auf den Erfolg des von ihm organisierten gewaltfreien Widerstandes der Inder gegen die britische Regierung im Transvaal hin und lädt Tolstoj indirekt zur Mitarbeit an seiner Zeitung Indian Opinion ein. Dann kommt er auf den Brief an einen Hindu zu sprechen und bittet Tolstoj um die Erlaubnis, diesen zu veröffentlichen.13 In seinem Brief vom 7. Oktober 1909 erteilte Tolstoj die Genehmigung zum Abdruck, verzichtete auf Tantiemen (von denen Gandhi auch gar nicht gesprochen hatte) und sprach kurz die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Russland an.14 In seiner Antwort vom 10. November 1909 warb Gandhi erneut um Tolstoj als Propagator seiner Sache und sandte ihm daher auch Joseph J. Dokes Buch über sich zu, dem Tolstoj Informationen über Gandhis Kampf zur Befreiung der Inder im Transvaal entnehmen könne. Da Tolstoj wohl z.Z. die größte Öffentlichkeit erreiche, bat Gandhi ihn, seine Bewegung populär zu machen. Er verwies noch auf seine und seines Sohnes Haftstrafen.15 Mit dem nächsten Brief,

Mahatma Gandhi

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Johannesburg am 4. April 1910, schickte Gandhi Tolstoj seine Broschüre Indian Home Rule zusammen mit einigen Exemplaren des Letter to a Hindoo.16 Tolstoj schrieb am 22. April 1909 an V.G. Cˇertkov, er würde dem »indischen Denker und Kämpfer gegen die britische Autokratie« gern antworten, und fragte an, ob Cˇertkov einen solchen Brief ins Englische übersetzen könne. Am 8. Mai 1910 folgte dann ein kurzer Brief Tolstojs an Gandhi, in dem er dessen »passive resistance« als »question of the greatest importance, not only for India but for the whole humanity« würdigte.17 Mit einem längeren Brief an Gandhi vom 7. September 1910 endete dann der Kontakt.18

Das Problem der Wiedergeburt Der Letter to a Hindoo, in dem Tolstoj im Wesentlichen eigene Gedanken wiederholt, ist, anders als es Taraknath Das wohl erwartet hatte, keine politische Kampfschrift, sondern ein ethisch-religiöser Traktat.19 Gewaltanwendung führt zur Entsittlichung der Mehrheit durch die Minderheiten. Der Grund für die Existenz von Unterdrückern und Unterdrückten sei das Fehlen einer vernünftigen Religion, die den Sinn unseres Daseins und das höchste Gesetz unseres Handels vermittelt. Stattdessen finden wir überall Pseudoreligionen und -wissenschaften und die Zivilisation. Der Fehler der politischen Führer in Indien liege nicht darin, dass sie der Religion keine Bedeutung beimessen, sondern dass sie die Unterdrückung beseitigen wollen, indem sie Indien die antireligiöse und unsittliche Gesellschaftsordnung der pseudochristlichen Völker geben wollen. Die Europäisierung also ist das Übel; sie ist die Ursache der Versklavung. In einer von Tolstoj wohl als »Urgesellschaft« gedachten Zeit fand eine Vereinigung von Familien, Geschlechtern und Völkern statt, in der sich die Mehrheit einer oder mehreren Personen unterordnete, also eine durchaus auf Gewalt gegründete Ordnung entstand. Doch tauchte bereits auch die »Idee«, das »geistige Element« der Liebe auf, gedacht als Vereinigung mit allem, was den Menschen wesensverwandt ist, so im Brahmanismus, Judentum, Mazdaismus, bei Zoroaster, im Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, bei den griechischen und römischen Weisen, im Christentum und Islam. Da ein und derselbe Gedanke unabhängig voneinander bei verschiedenen Völkern entstanden ist, ist er wahr; er entspricht dem Wesen des Menschen. Diejenigen, die Gewalt ausübten, haben diese allgemein-menschliche Lehre aber entstellt und für ihren Zweck, die Unterdrückung, nutzbar gemacht. Im Altertum erfand man zur Rechtfertigung der Gewalt Sonderrechte für Herrscher; die Unvereinbarkeit von Liebe und Gewalt werde aber immer deutlicher. Andererseits sind neue Rechtfertigungen von Gewalt gefunden, und zwar wissenschaftliche, die die-

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selbe Autorität für sich beanspruchen wie zuvor die religiösen, so etwa die Formulierung eines »historischen Gesetzes« und der »Sozialdarwinismus«. Schließlich werde die Unterdrückung weniger zum Schutze der Mehrheit heute gerechtfertigt durch den Willen des Volkes. Da der unterdrückten Menge diese Rechtfertigungen mit wichtiger Miene vorgebracht werden, lässt sie sich blenden und nimmt die wissenschaftlichen Dummheiten für heilige Wahrheit. Leider seien auch die asiatischen Völker, die es doch aufgrund ihrer alten religiösen Traditionen besser wissen müssten, vom Europäismus infiziert und verleugneten so das Prinzip der Liebe als einzigen Ausweg aus dem Dilemma. Die Unterdrückung der Inder durch die Briten sei selbstverschuldet, da »die Inder Gewalt als Grundprinzip ihrer Gesellschaftsordnung anerkannten und anerkennen; diesem Prinzip gemäß unterwarfen sie sich ihren Kleinkönigen, ihnen zuliebe kämpften sie untereinander, kämpften sie gegen die Europäer, gegen die Engländer und versuchen es nun wiederum gegen sie zu kämpfen«.20 Am Ende des Briefes ruft der Graf noch zur großen ˇcistka (Säuberung) auf, bei der de facto alle in Jahrhunderten entwickelten religiösen Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnisse hinwegzufegen wären, damit »jenes schlichte, klare, allen zugängliche und alle Fragen und Zweifel lösende Gesetz der Liebe« sich von selber enthülle und die Menschen verpflichte.21 Da zu den falschen Vorstellungen, die der ˇcistka zum Opfer fallen sollen, auch die »Wiedergeburt« gehört, hakte Gandhi hier ein: ob Tolstoj die Reinkarnation nicht ausnehmen könne? Tolstoj wollte »Wiedergeburt« nicht tilgen, denn seiner Meinung nach werde dieser Glaube in der Menschheit niemals jene Bedeutung erlangen können wie der an die Unsterblichkeit der Seele und an die göttliche Wahrheit und Liebe. Allerdings könne Gandhi beim Druck das Wort auch streichen – was dieser hinwiederum unterließ.22 Der Brief an Gandhi vom 7. September 1910 ist Tolstojs Antwort auf dessen Schrift Indian Home Rule von 1909. Hier wollte Gandhi zeigen, dass seine indischen Landsleute eine selbstmörderische Politik betrieben, wenn sie die moderne europäische Zivilisation übernehmen und mit Gewalt die Engländer vertreiben wollten. Dabei geht es Gandhi durchaus um ein politisches, keinesfalls um ein allgemein ethisches und abstraktes Ziel: auch er will Indien von den Engländern befreien. Dabei inspirierte ihn auch nicht unbedingt Tolstojs Idee der Liebe, sondern der Stolz auf die alte indische Kultur, die das Beste, was die Welt je gesehen habe, repräsentiere. Wenn die Inder sich zu ihr bekennen würden, würden die Engländer entweder Inder werden oder das Land verlassen.23 Tolstoj interpretiert nun Gandhis »Satyagraha – Soul Force«24 als die Ausübung der Liebe, deren Gegenteil die Gewalt ist. Die christliche Zivilisation ist der Verrat der Liebe zugunsten der Gewalt: daher gibt es Regierungen, Gerichtshöfe, Armee, Polizei, Eintreibung von Steuern, Krieg und Todesstrafe. Folge des inneren Widerspruchs dieser Zivi-

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lisation, die Liebe fordert und trotzdem Gewalt zulässt, sind Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Heilsarmee, wachsende Kriminalität, Erwerbslosigkeit, Luxus der Reichen und Elend der Armen, die steigende Zahl der Selbstmorde. Gandhis Arbeit im Transvaal sei der praktische Beweis für die Lehre von der Liebe als der Abwesenheit von Gewalt. Unter Hinweis auf die kleine Gruppe von Militärdienstverweigerern in Russland sieht Tolstoj den Konflikt zwischen der Opposition, die gewaltfreien Widerstand übt, und dem Gewalt ausübenden Staat sich zuspitzen.25

Gandhi über Tolstoj In seiner etwas rhapsodischen Rede zum 100. Geburtstag des berühmten Schriftstellers hat Gandhi dann versucht, Tolstojs Bedeutung für sein eigenes Leben zu formulieren.26 Zwei Tatsachen hält Gandhi in Tolstojs Leben für entscheidend: einmal die Identität von Lehre und Leben (»He did what he preached«),27 sodann die Idee der körperlichen Arbeit zum Broterwerb (»bread labour«). Zum Ersten: Tolstoj sei die Verkörperung der Wahrheit in seiner Zeit gewesen. Er war der Advokat der Gewaltlosigkeit; niemand in der Welt habe eine solche Kenntnis der non-violence gehabt wie er. Zwar habe Indien die großen Entdeckungen zur Gewaltlosigkeit gemacht, doch sei hier die Gewaltlosigkeit in einem traurigen Zustand. Hier gebe es keinen Tolstoj, der die Gewaltlosigkeit predige, ob man sie nun hören wolle oder nicht. Für die gebildeten Klassen in Indien sollte Tolstojs Leben eine Quelle der Inspiration sein. Allerdings stellt Gandhi auch die Frage, ob Gewaltlosigkeit in diesem Leben überhaupt möglich sei, und seine Antwort ist keine praktische, sondern eine religiös-ethische. Solange man in seinem Körper lebt, ist Gewaltlosigkeit nicht möglich, möglich ist nur die Annäherung an das Ideal. Das zeigt Tolstojs Leben beispielhaft; für ihn bedeutet das Erschauen der Wahrheit, ihr nun sein Leben lang entgegenzugehen. Man muss ihr in der Gestalt folgen, wie sie uns im Augenblick erscheint, d.h. eben auch von Tag zu Tag anders. Die Widersprüche in Tolstojs Leben sind nur scheinbar, sie sind lediglich eine Illusion unserer Meinung. Das Innere der Person bleibt dem Außenstehenden verschlossen, lediglich Gott kann das Innere sehen.28 Tolstojs Lehre von der körperlichen Arbeit interpretiert Gandhi mit Hilfe der Bhagavadgita, Kap. III, Vers 10–12 in einer durchaus rationalistischen Umdeutung der Opfer-Lehre. So wie die Gita lehre, wer esse ohne ein Opfer auszuführen, der sei ein Dieb und Sünder, so sage Tolstoj, dass niemand ein Recht habe zu essen, wenn er seinen Körper und seine Arbeit nicht »beuge«.29 Ungleichheit, Armut und Reichtum haben ihre Ursache darin, dass die Menschen dieses Lebensgesetz vergessen haben.

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Körperliche Arbeit allein ist nicht genug; wer täglich acht Studen body building treibt, vollbringt damit noch keine Brotarbeit. »Yajna«, Opfer, heisst, dass ein Werk zum Dienst der anderen getan wird.30 Das wahre »Yajna« ist der Verzicht auf Vergnügungen, also Askese. Drei Dinge seien von Tolstoj zu lernen: 1. Selbstkontrolle. Die Menschen müssen wählen zwischen »self-indulgence« oder »self-restraint«. Der wahre Weg ist natürlich der der Selbstkontrolle, wie es das Leben Tolstojs uns zeige. Die schädlichen Einflüsse kommen – natürlich – aus dem Westen (»There are, of course, some beautiful currents, too, like Tolstoy’s life«); die schädliche Literatur vergiftet das Volk und bringt es auf den Weg der »self-indulgence«, die zur Verachtung des Alten führt. Demgegenüber sind vielmehr die Tugenden der Demut, Zucht, Schicklichkeit und Reinheit zu üben, wie sie Sarada Devi (1853–1920) gelehrt hat. Es reicht nicht aus, nur Gutes zu tun, vielmehr müsse das Leben selbst »gereinigt« werden, das Gewissen allein muss uns ein gutes Zeugnis ausstellen. Gandhi weist auf die alten Seher und Propheten hin, die lehrten, dass der Mensch ein inneres Ohr und ein inneres Auge haben müsse und man Selbstkontrolle üben müsse, um Auge und Ohr zu erwerben. Die Richtigkeit dieses Weges habe Tolstoj durch sein Leben der Selbstkontrolle gezeigt.31 2. Gewaltlosigkeit; nur durch sie gelangen wir zur Wahrheit. Gewaltlosigkeit ist Liebe (so hatte ja schon Tolstoj den Begriff swaraj im Brief an Gandhi gedeutet). Liebe ist mehr als nur Nicht-Töten, sie ist eine Vision, eine wahre, ethische Gesinnung.32 3. Brot-Arbeit, das »Yajna« der Gita. Sie ist nicht allein physische Arbeit, sondern Dienst am Anderen und damit ein zentraler Teil der inneren Erneuerung des Menschen. Gandhi versteht Tolstoj als vorbildlichen Menschen, der danach trachtet, das einmal erschaute Ideal des wahren Lebens auch zu erreichen. Es geht nicht primär um Tolstojs Schriften, sondern um den Menschen Tolstoj und seine Lebensweise selbst, in welcher sich die Lehre erst bewährt. Wahrheit bedeutet die Identität von Leben und Lehre. In Tolstoj und anderen Denkern in Europa und Amerika (Ruskin, Thoreau) konnte Gandhi Verbündete finden, die wie er die europäische moderne Zivilisation ablehnten und eine vormoderne, auf Ackerbau, Handwerk und Selbstversorgung beruhende, durch Konsum- und Gewaltverzicht geprägte Lebensweise verwirklichen wollten, deren Ziel eine umfassende Lebensreform, die innere, ethische Erneuerung des Menschen war.

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Anmerkungen 1 Das Folgende nach M. Gandhi, Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit, hg. v. B. Schorr, Berlin 1982 (engl. Fassung: The Story of my Experiments with Truth, 2 Bände, 1927–1929). – Gandhis weitere Schriften werden nach folgender Auswahlausgabe zitiert: M. Gandhi, The Moral and Political Writings, Bd. I–III, hg. v. Raghavan Iyer, Clarendon Press, Oxford 1986–1987 (im Folgenden: M. Gandhi I, II, III mit Seitenzahl). 2 M. Gandhi, Autobiographie, 97. 3 Vgl. etwa Brief an Madame Edmond Privat vom 29. Nov. 1947, in: The Moral and Political Writings III, 25–27, hier: 26. 4 M. Gandhi, Autobiographie, 171. 5 Ebd.; zur Erneuerung des Hinduismus im 19. Jahrhundert s. G. Mensching, Die Söhne Gottes. Aus den heiligen Schriften der Menschheit, Frankfurt a.M. 1959, 79–108; K.M. Panikkar, Neue Staaten in Asien und Afrika, in: G. Mann (Hg.), Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte. 10/1: Die Welt von heute, Frankfurt a.M. – Berlin 1976, 107; A.T. Embrie/F. Wilhelm, Indien. Geschichte des Subkontinents von der Induskultur bis zum Beginn der englischen Herrschaft, Frankfurt a. M. 1967, 311–313 (= Fischer Weltgeschichte, 17). 6 M. Gandhi, Autobiographie, 171; zur Datierung s. M. Gandhi I, 594. Das Buch war im selben Jahr in englischer Übersetzung erschienen: The Kingdom of God is within You: or, Christianity not as a Mystical Doctrine, but as a New Life-Conception, übers. v. A. Delano [= Constance Clara Garnett], London 1894; Carstvo boˇzie vnutri vas [1890–93], in: PSS 28: 1–293. Eine praktische Zusammenfassung des weitschweifigen Traktats gibt L.N. Tolstoj, Carstvo boˇzie vnutri vas. Sokraˇscˇ ënnoe izdanie, München o.J. (= Huebers fremdsprachliche Texte, 24); Darstellung der Thesen bei W. Sandfuchs, Dichter – Moralist – Anarchist. Die deutsche Tolstojkritik 1880–1900, Stuttgart 1995, 218–237. – Ähnlich wie in der Autobiographie hat sich Gandhi zu Tolstoj und The Kingdom of God mehrfach geäußert, vgl. etwa M. Gandhi, Preface to ›Indian Home Rule‹, in: M. Gandhi I, 272, in seiner Tolstoj-Rede von 1928: a.a.O., 115f; Brief vom 11. 3. 1926: a.a.O., 113. Jahre später nach einem Gefängnisaufenthalt schenkte Gandhi dem Gefängnisdirektor ein Exemplar, s. C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika. Eine einführende Biographie mit Dokumentation, Gandhi-Informations-Zentrum Selbstverlag, Berlin 1997, 21. – Zu Tolstoj und Gandhi: P. Birukoff [P.I. Birjukov], Tolstoi und der Orient. Briefe und sonstige Zeugnisse über Tolstois Beziehungen zu den Vertretern der orientalischen Religionen, Zürich 1925; ders.: Tolstoi und Gandhi, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 15, 1928, 166–170; ders.: Mahatma Gandhi und der Tolstoiismus, in: F. Diettrich (Hg.), Die Gandhi-Revolution, Dresden 1930, 149–159; V.F. Bulgakov, Tolstoi. Lenin. Gandhi, übers. v. H. Klassen, Heppenheim/Bergstrasse 1932; K. Nag, Tolstoy and Gandhi, New York 1950; J. Lavrin, Tolstoy and Gandhi, in: Russian Review 19, 1960, IV, Nr. 2, 132–139; A.I. Sˇ ifman, Lev Tolstoj i Vostok, Moskau 1960, 173–283, hier auch wichtiges Material zu Tolstojs Studium indischer Religion und Kultur. 7 M. Gandhi, Autobiographie, 196; von Tolstojs Schriften nennt Gandhi in seiner Indian Home Rule (1909): What Is Art?, The Slavery of Our Times, The First Step, How Shall We Escape? und Letter to a Hindoo (M. Gandhi I, 265). Er kannte Tolstojs Beichte (Brief an Tolstoj vom 15. 8. 1910) und die Volkserzählungen (M. Gandhi, Speech at Prayer Meeting, Simla, 2. 5. 1946, in: M. Gandhi II, 640). 8 M. Gandhi, Speech on Tolstoy’s Birth Centenary, Ahmedabad Youth Association, in: M. Gandhi I, 115f. Die Aussage ist nicht ganz klar; Gandhi las das Buch erstmals

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1894, doch schon im Juni 1893 hatte er beschlossen, der Rassendiskriminierung im Transvaal gewaltlos entgegenzutreten (M. Gandhi I, 594). Der Darstellung widerspricht auch eine Stelle in der Autobiographie, wo Gandhi schreibt, ein Lehrgedicht von Shamal Bhatt (1684–1769) habe ihm Kopf und Herz gefangen genommen: »Seine Vorschrift – Böses mit Gutem zu vergelten – wurde mein Leitsatz« (M. Gandhi, Autobiographie, 5). Das war bereits, bevor er mit Tolstoj bekannt wurde. Count Tolstoy, in: M. Gandhi I, 107f; The Late Lamented Tolstoy the Great, a.a.O., 111f. Das replizierte darauf mit einer umfangreichen Darlegung seiner aktivistischen Position eines auch bewaffneten Kampfes gegen die britische Unterdrückung; C. Bartolf (Hg.), Brief an einen Hindu. Taraknath Das, Leo Tolstoi und Mahatma Gandhi, Berlin 1997, 32–57; zu Das und Tolstoj s. A.I. Sˇ ifman, 232–249. M. Gandhi I, 109. LN, 340. – Der Briefwechsel ist erstmals deutsch unvollständig veröffentlicht worden von P. Birjukov, Tolstoi und der Orient, 70–77; engl. und russ. dann in Literaturnoe Nasledstvo 37–38 / II, Moskau 1939, 339–352 (= LN); Tolstoj, PSS 80: 110–112; PSS 81: 247f; PSS 82: 137–141; die Texte engl. in K. Nag, 59–75, dt. in C. Bartolf, Brief, 58–72. C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 58–61. A.a.O., 61. A.a.O., 62f; J.J. Doke, Gandhi. An Indian Patriot in South Africa, London 1909, dt: Gandhi in Südafrika. Einführung von H.S.L. Polak, Erlenbach/Zürich 1925. C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 63f. LN, 346; C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 64f. A.a.O., 68–72. – Hier soll auch eine (kurzlebige) »Tolstoy Farm« Erwähnung finden. Der deutsche Architekt Hermann Kallenbach (1871–1945), der seit 1896 in Durban und Johannesburg lebte und den Gandhi 1903 kennengelernt hatte, wurde unter dessen Einfluss zum »Aussteiger«; Gandhi schrieb an Tolstoj, Kallenbach habe den Weg, den er in seiner Beichte beschreibe, am eigenen Leibe erfahren (Brief vom 15. 8. 1910). Am 30. 5. 1910 bot Kallenbach seine Farm bei Johannesburg den indischen Familien für die Dauer des Kampfes mit der Transvaal-Regierung »free of any rent or charge« an. Am 4. 6. 1910 siedelten Kallenbach, Gandhi und zwei seiner Söhne auf die Farm um. Am 14. August 1910 schrieb Kallenbach an Tolstoj mit der Bitte, den Namen der Farm – Tolstoy Farm – zu autorisieren. Am 27. 9. 1910 antwortete Cˇertkov in einem eher nichtssagenden Dankesbrief, in dem die Farm gar nicht erwähnt wird. Sie existierte von 1910–1913. – A.a.O., 65–68, 16, 21–27, 131; K. Nag, Tolstoy and Gandhi, 43, 50–51, 99–117. – An die Erfahrungen auf der Tolstoy Farm hat Gandhi 1919 mit der Einrichtung des Satyagraha-Ashram in Ahmedabad wieder angeknüpft; s. H. Rau, Gandhi in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, 68. C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 17–31; engl. Text bei K. Nag, Tolstoy and Gandhi, 78–98; engl. u. russ. Text in L.N. Tolstoj, PSS 37: 245–272. C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 26f. Dieser Aussage hat Gandhi ausdrücklich zugestimmt, s. Preface to Leo Tolstoy’s Letter to an Hindoo, in Gandhi I, 110, 120f. C. Bartolf/I., Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 29.

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22 A.a.O., 60f; K. Nag, Tolstoy and Gandhi, 63. 23 M. Gandhi, Preface to ›Indian Home Rule‹, in: M. Gandhi I, 272. 24 Kap. XVII von Indian Home Rule: M. Gandhi I, 244–251; zum satyagraha vgl. W. Wellock, Mahatma Gandhi und die Satyagraha-Bewegung, in: F. Kobler (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich/Leipzig 1928, 245–256; L. Richter, Mahatma Gandhi, Berlin 1962, 22–30; H. Rau (wie in Anm. 18), 53–67. 25 C. Bartolf/I. Sarid, Hermann Kallenbach. Mahatma Gandhis Freund in Südafrika, 68–72. 26 M. Gandhi, Speech on Tolstoy’s Birth Centenary, Ahmedabad Youth Association, in: M. Gandhi I, 114–123. 27 Zu Leben und Lehre s. Tolstojs Ispoved’, in: PSS 23: 41–43, 46, 49. 28 Zum im Leben unerreichbaren Ideal s. Tolstoj im 4. Kapitel seines Carstvo Boˇzie (wie in Anm. 6), 80 und die »Definition«: »Die göttliche Vollkommenheit ist die Asymptote des menschlichen Lebens, der es immer zustrebt, der es sich immer nähert und die nur in der Unendlichkeit erreicht werden kann« (f 182; PSS 28: 77). – Tolstojs von Gandhi so sehr bewunderter Versuch, seine Lehren ohne Rücksicht auf die Kosten in die Praxis umzusetzen (s. M. Gandhi I, 113, Brief vom 11. 3. 1926), ist nicht von allen gleichermaßen bewundert worden; hinreichend bekannt sind die bitteren und klaren Worte der Gräfin Tolstaja über ihren Mann als Religionsstifter und Apostel der Armut; vgl. dazu M. Gandhi III, 487f. Auch Gandhi selber hat nicht nur Bewunderer gefunden; es koste das Land ein Vermögen, ihm ein Leben in Armut zu ermöglichen, schrieb Sarojini Najdu (1879–1949) einmal, zit. b. A. Franz, Der eitle Asket, in: Die Zeit, 24. 02. 2005, Nr. 9. 29 M. Gandhi I, 119–120; Bhagavadgita. Das Lied der Gottheit, übers. v. R. Boxberger, hg. v. H. v. Glasenapp, Stuttgart 1972, 34f; vgl. auch M. Gandhi II, 588, wo er schreibt, die Idee der Brotarbeit habe er von Tolstoj übernommen, und erneut die Verbindung zur Gita herstellt; s. auch M. Gandhi III, 483, 485. Tolstoj formulierte diese Lehre in Anlehnung an T.M. Bondarev, der selbst wieder von Ruskin inspiriert war. – Torˇzestvo zemledel’ca ili Trudoljubie i tunejadstvo. Soˇc. krest’janina T. Bondareva, s pred. L’va Nik. Tolstogo, izd. »Posrednika«, Nr. 597, 1906. – Zu Bondarev und Tolstoj s. A.A. Donskov, L.N. Tolstoj i krest’janskij myslitel’ T.M. Bondarev, in: ders. (Hg.), L.N. Tolstoj i T. M. Bondarev. Perepiska, München 1996, 1–15 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik, 29). 30 M. Gandhi I, 122f. 31 Gandhi selber hatte im Juni 1906 lebenslange Enthaltsamkeit gelobt; das Zölibatsgelöbnis hatte er abgelegt, nachdem er mit Tolstojs Lehren bekannt geworden war; und obwohl er sein Leben auf der Gita aufgebaut habe, könne er nicht beschwören, dass Tolstojs Lehren und Schriften seinen Entschluss nicht beeinflusst hätten; Brief vom 7. 9. 1928 an Dhan Gopal Mukerjee, in: M. Gandhi I, 114. 32 V.F. Bulgakov (s.o. Anm. 6) sah in Gandhis passivem Widerstand als politischer Waffe »eine sinnvolle Fortführung« von Tolstojs Lehre der Gewaltlosigkeit, da es durch Gandhi anders als durch Lenin auf friedliche Weise zu politischen Veränderungen gekommen war; s.o. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoj als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 145, 167 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 38).

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Ilja Karenovics

Rudolf Steiner Am 1. Juni 1902 erschien in der Zeitschrift Der Freidenker, dem Organ des Deutschen Freidenkerbundes, ein von zahlreichen bekannten Persönlichkeiten unterschriebener »Aufruf«1 zugunsten Lev Tolstojs, der vom Berliner Giordano Bruno-Bund initiiert worden war.2 Unmittelbar neben dem von ihm sehr geschätzten Ernst Haeckel hatte auch Rudolf Steiner (1861–1925), der Begründer der Anthroposophie, den Aufruf mit unterzeichnet. Worum ging es? Der Verleger Eugen Diederichs, der 1901 mit der Herausgabe einer deutschen Tolstoj-Ausgabe begonnen hatte,3 und der TolstojÜbersetzer Raphael Löwenfeld waren von dem katholischen Justizrat Pelizäus wegen der Veröffentlichung von Tolstojs Antwort an den Synod4 verklagt worden: Die Publikation stelle eine Verunglimpfung der katholischen Kirche dar. Die Unterzeichner des Aufrufs, um »die Freiheit aller Weltanschauung grundsätzlich bemüht«, hielten dagegen fest: Tolstois Werke gehören mit Einschluss dieser bedeutsamen Verteidigung seiner Religion entschieden der Weltliteratur an und dürfen als Quellen idealen Lebens, ja schon als geschichtliche Dokumente dem deutschen Volke nicht vorenthalten bleiben.

Sie wiesen auf den absurden Umstand hin, dass hier mittelbar »eine Beschimpfung deutsch-kirchlicher Einrichtungen konstruiert werden soll«,5 und schlossen mit den Worten: »wir fordern demnach von unsern Gesetzgebern, dass sie den veralteten Gotteslästerungs-Paragraphen endlich beseitigen«.6 Der sogenannte »Leipziger Tolstoj-Prozess« vor der 2. Strafkammer des Leipziger Landgerichts,7 der einigen Staub aufgewirbelt hatte, endete am 9. Juli 1902 mit einem Freispruch. Der Gotteslästerungs-Paragraph 166 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB), auf den sich die Anklage gestützt hatte, wurde, ähnlich wie der berüchtigte Antipornographie-Paragraph 184 (»lex Heinze« nach der Novelle zum RStGB vom 25. Juni 1900), häufig gegen Künstler und ihre Werke in Anschlag gebracht.8 Rudolf Steiner, der nach seinem Studium der Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie in Wien und seiner Tätigkeit als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Weimar 1897 als freier Schriftsteller nach Berlin übersiedelt war, nahm auch an Protestveranstaltungen gegen »diese wüsteste Ausgeburt einer reaktionären Gesinnung«9 teil. Er war

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von 1897 bis 1900 Herausgeber und Redakteur der Dramaturgischen Blätter und des Magazins für Literatur, in dem er ebenfalls immer wieder gegen die »lex Heinze« Stellung bezog,10 außerdem hielt er Vorträge in der »Freien Literarischen Gesellschaft«, im »Giordano Bruno-Bund«11 und im Literatenkreis »Die Kommenden«, dessen Leitung er nach dem frühen Tod seines Freundes Ludwig Jacobowski (1868–1900) übernahm. 1899–1904 war Steiner Dozent an der von Wilhelm Liebknecht begründeten Arbeiterbildungsschule. Bereits 1893 hatte Steiner eine Arbeit von Robert Saitschick zu Dostoevskij und Tolstoj in seinem Magazin für Literatur rezensiert.12 1898 bespricht er – weitgehend referierend – Tolstojs Traktat Was ist Kunst? (1897/98): Der russische Romancier hat sich, seit er unter die Moralprediger gegangen ist, die Sympathien eines großen Teiles seiner ehemaligen Verehrer zerstört. Der Inhalt seiner Morallehre steht durchaus nicht auf der Höhe seines Künstlertums. […] Verwässertes Christentum ist der beste Ausdruck, den man dafür finden kann. […] Ich glaube, dass von Tolstoi übersehen wird, welchen Ursprung die Kunst hat. Nicht auf die Mitteilung kommt es dem Künstler zunächst an. […] Der Mensch will nicht […] reiner Zuschauer den Weltereignissen gegenüber sein. Er will auch aus Eigenem etwas zu dem hinzu erschaffen, das von außen auf ihn eindringt. […] wenn von der Wirkung der Kunst auf die menschliche Kultur gesprochen werden soll, so mag Tolstoi recht haben. Aber die Berechtigung der Kunst als solche muss, unabhängig von ihrer Wirkung, in einem ursprünglichen Bedürfnisse der menschlichen Natur gesucht werden.13

In einem Gesamtüberblick über die Literatur und das geistige Leben im XIX. Jahrhundert wird Tolstoj ebenfalls knapp charakterisiert, und zwar als »Repräsentant des ganzen russischen Geisteslebens«: Er entwickelte sich vom kraftgewaltigen Erzähler […] zum Propheten einer neuen Religionsform, die ihre Wurzeln in einem etwas gewaltsam ausgelegten Urchristentum sucht und die völlige Selbstlosigkeit zum Lebensideal erhebt. Auch in aller Kunst, die nicht auf das menschliche Mitgefühl und die Besserung des Zusammenlebens abzielt, sieht Tolstoi einen überflüssigen Luxus, dem sich ein selbstloser Mensch nicht hingibt.14

1899 schließlich nimmt Steiner Tolstoj, Dostoevskij und andere Schriftsteller gegen die interpretatorische Willkür von Kritikern und Lesern in Schutz: Wer möchte die psychologischen Wühlereien Dostojewskijs in seiner grandiosen Darstellung, die tiefwahren Deutungen, die Tolstoi dem Menschenleben gibt, verantwortlich machen dafür, wie sie vom Publikum gelesen werden?15

1901 bezeichnet Steiner Tolstoj in einem Essay mit dem Titel Haeckel, Tolstoi und Nietzsche erstmals als Repräsentanten seiner Zeit bzw. »unserer Weltanschauung« nach der Entdeckung des Menschen als Naturwesen im 19. Jahrhundert (Goethe, Lamarck, Darwin), die Steiner mit der kopernikanischen Wende vergleicht: »Die wissenschaftliche Denkweise ist im Begriffe, vollends die christliche aufzulösen.«16 Steiner ordnet den drei herausragenden Zeitgenossen – entsprechend ihren »Ausdrucksmitteln« – drei »Ideale

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der Menschheit« zu: »Haeckel redet die Sprache der Wahrheit, Tolstoi die der Güte, Nietzsche die der Schönheit.«17 Tolstoj bekämpft diese neue Wissenschaft, die für Haeckel die Wahrheit verbürgt, und predigt die »Rückkehr zur wahrhaft christlichen Anschauung vom Geiste«: »Der Wissenschaft gehört das Räumliche und Zeitliche. Das Räumliche und Zeitliche ist aber sündhaft. Gerade in der Überwindung des Räumlichen und Zeitlichen muss der Geist sein Wesen finden.« Steiner führt die Erzählung Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886) an: »Niemals ist diese Ansicht hinreißender geschildert worden als von Tolstoi in der Novelle […]«. Als größtmöglicher Gegensatz zu dieser »Verklärung des Todes« erscheint die »Lebenstrunkenheit« Nietzsches, der eine innerweltliche, nicht-christliche, vielmehr ästhetische Erhöhung der Welt anstrebt.18 Aus seinem philosophisch-erkenntniskritischen Frühwerk19 ergibt sich für Rudolf Steiner zur Überraschung seiner früheren Umgebung um die Jahrhundertwende eine Verbindung zur Theosophie, die er jedoch in Anknüpfung an den deutschen Idealismus unabhängig und eigenständig entwickelt. Ab 1902 (und bis zum Bruch mit ihr im Jahre 1912) ist Steiner Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Eine äußerst intensive Vortragstätigkeit in Mittel- und Nordeuropa setzt ein, zunächst in Verbindung mit der Theosophischen, später der Anthroposophischen Gesellschaft. In zahlreichen öffentlichen Vorträgen20 kommt Steiner immer wieder auf Tolstoj zu sprechen. Eine besondere Verbindung zu Russland21 bestand seit der Jahrhundertwende durch seine engste Mitarbeiterin und spätere zweite Ehefrau Marie von Sivers (1867–1948), die als Tochter eines livländischen Offiziers im Russischen Reich aufgewachsen war. Im erhalten gebliebenen, gegen 9000 Bände umfassenden Teil von Steiners Privatbibliothek finden sich 25 Bücher mit Werken von Tolstoj in deutscher Übersetzung22 und vier Werke der Sekundärliteratur23 zu Tolstoj. Belegt ist Steiners Tolstoj-Lektüre für den Januar 1892.24

Vergeistigung und Lebenspraxis Am ausführlichsten ging Steiner in zwei öffentlichen Vorträgen auf Tolstoj ein, die 1904 und 1909 im Berliner Architektenhaus an der Wilhelmstraße stattfanden, wo Steiner von 1903 bis 1918 jedes Wintersemester vor großem Publikum wöchentliche Vorträge hielt. Der erste (vom 3. November 1904) setzte unter dem Titel Theosophie und Tolstoi die in früheren Vorträgen des Zyklus, insbesondere im unmittelbar vorangegangenen (Theosophie und Darwin), begonnenen Betrachtungen fort. An den Beginn seines Vortrags stellt Steiner die komplementären Prinzipien von »Leben« und »Form«:

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»Die beiden Vorstellungen, die uns durch das Labyrinth der Welterscheinungen hindurchführen müssen, sind Leben und Form.«25 Das letztere – eine regelrechte »Formenkultur des Westens« (113) – dominiere in der Gegenwart einseitig und extrem, repräsentiert etwa durch das auf die Evolution der äußeren Lebensformen fokussierte Denken Darwins: »Darwins Blick ist auf die Entwickelung der Formen […] gerichtet, und er fühlt selbst die Unmöglichkeit, einzudringen in dasjenige, was diese Formen belebt« (111). Dasselbe Prinzip beherrscht Steiner zufolge auch die aktuelle Soziologie (etwa im Marxismus) sowie den literarischen Naturalismus (Zola, Ibsen). Diese Veräußerlichung, so Steiner, habe aus theosophisch-anthroposophischer26 Sicht ihre absolute kulturgeschichtliche Berechtigung: »Das muss so sein. Dies muss die Theosophie als eine unbedingte Notwendigkeit verstehen« (114). Allerdings müsse sie um die Suche nach dem Prinzip des Lebens ergänzt werden, das sich in den sich wandelnden, stets erneuernden Formen ausdrücke und als Bleibendes durch diese hindurchgehe – wie bei der Pflanze im Zyklus vom Samen zum neuen Samen – und sie bestimme. Dieses Bestreben werde durch Tolstoj verkörpert27 – sowohl in dessen künstlerischen als auch in den theoretischen Werken:28 »überall sucht er die Seele, die lebendige Seele […]« (115). Und zwar – wie im Tod des Ivan Il’iˇc – selbst dort, wo der Tod das Leben aufzuheben scheine: Die kranke Seele Ivan Il’iˇcs finde hier im kranken Körper ihren adäquaten Ausdruck, beide werden nicht getrennt aufgefasst; der Tod schließlich werde von Tolstoj nicht als Ende des Lebens, sondern als Umwandlung gestaltet: »Dabei ist künstlerisch das Problem des Todes in wunderbarer Weise gelöst. Der Tod ist zu einem Glück im Leben geworden. Der Sterbende fühlt die Metamorphose von einer Lebensform zur anderen« (116).29 Die Wissenschaft, die sich auf die Erforschung der Form beschränkt, so Steiner, setzt das Leben als Tatsache voraus, kann es aber nicht fassen – sie muss so zwangsläufig beim »Ignoramus, ignorabimus« (Du Bois-Reymond)30 enden. Dem stellt Steiner Tolstojs Denken gegenüber, welches auf das Leben gerichtet sei, das sich im Inneren vollzieht: Der Wissenschafter des Westens sieht als erstes, Stabiles, die leblose Materie an. […] Nur kann er nicht begreifen, wie das Leben zustande kommt […]. Hier setzt Tolstoi mit seiner Lebensbetrachtung ein und untersucht, was der Mensch als sein Leben erfassen kann, wenn auch die raffinierte, überreife Denkweise es in den großen Linien des einfachen Denkens nicht begreifen kann: Willst du die Form recht verstehen, dann musst du in das Innere sehen. (119)

Steiner zitiert im Folgenden längere Abschnitte aus Tolstojs Werk Über das Leben. Tolstoj gelange über die wissenschaftliche Problemstellung hinaus zur ethisch-sozialen: Weder die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse noch das Streben nach gesellschaftlicher Wohlfahrt – die einer Summierung der Einzelinteressen gleichkäme – genügten seinem Ideal, hätten auch sie

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doch stets nur die »äußere Form« (121) im Auge. Dieses Ideal wolle Tolstoj daher »nach dem, was der Seele selbst sich ergibt, was der Seele in ihrem Inneren, durch den Gott, der in ihr lebt, als Ideal sich darbietet« (121), erfassen, und zwar durch »eine Art höher ausgestaltetes Christentum« (121): Wenn der Mensch nicht von außen die ethischen Ideale, die Kulturideale in sich aufnimmt, sondern aus einer Seele herausquillen lässt, was in seinem Herzen aufgeht, was Gott in seine Seele gesenkt hat, dann hat er aufgehört, bloß in der Form zu leben, dann hat er tatsächlich einen sittlichen Charakter. Das ist innere Sittlichkeit und Inspiration. (122)

Hieraus resultiere, so Steiner, auch Tolstojs Kritik an der – zumal westlichen – Kultur. Der herkömmliche Sozialismus etwa strebe lediglich danach, die »äußere Gestaltung einer Revolution zu unterwerfen« (123), während Tolstoj nicht zum »Prediger eines dogmatischen Sittenideals« werde, sondern bei der »vollkommenen Umgestaltung der menschlichen Seele« des Einzelnen ansetze: Das ist der Sozialismus Tolstois, und es ist seine Anschauung, dass aus aller Umgestaltung der Formkultur des Westens niemals eine Erneuerung der sittlichen Kultur erstehen kann, sondern dass diese Erneuerung […] vom Inneren heraus geschehen muss. (124)

Steiner schließt mit einem Hinweis auf die Bestrebungen seiner Theosophie bzw. Anthroposophie – die er auch als »Geisteswissenschaft« (im Sinne einer »Wissenschaft vom Geist«) bezeichnet – zur Erkenntnis der übersinnlichgeistigen Ursachen der Evolution: »Wie schön und übereinstimmend mit unseren Lehren ist manches, was gerade Tolstoi in bezug auf die Auffassung des Menschen in seiner Unmittelbarkeit sagt« (127).31 Der zweite Vortrag zu Tolstoj (vom 28. Januar 1909) trägt den Titel Tolstoj und Carnegie.32 Steiner stellt hier Lev Tolstoj und den amerikanischen StahlTycoon und Philanthropen Andrew Carnegie (1835–1919), den reichsten Menschen jener Jahre, als psychologisch komplementäre »repräsentative Persönlichkeiten unserer Zeit«33 im Sinne Emersons dar, an denen sich die Bedürfnisse der Gegenwart erkennen ließen. Er betrachtet hierzu die Biographien Tolstojs und Carnegies mit besonderem Augenmerk auf ihre seelische Entwicklung. Diese charakterisiert Steiner als konträr verlaufend: Dasjenige, was Tolstoj nimmermehr begehrte, als er die Höhe seiner Seelenentwickelung erreicht hatte, war ihm in reichem Maße im Beginne seines Lebens gegeben. Dasjenige, was Carnegie sich zuletzt in ausgiebiger Fülle erworben hatte, die äußeren Güter des Lebens, das war ihm im Beginne seines Lebens völlig versagt. (216)

Nicht nur im Selbstekel angesichts seines zeitweise ausschweifenden Lebens zeigten sich in der seelischen Entwicklung Tolstojs, so Steiner, schon früh »besondere Eigentümlichkeiten« (218). So etwa an der Episode mit dem Elfjährigen, der vernimmt, Gott sei lediglich eine menschliche Erfindung: Und alles, was man wissen kann über den Eindruck, den dieses Knabenerlebnis auf Tolstoj machte, zeigt uns an der Art, wie er es aufnahm, dass in ihm eine zu den höchsten Höhen

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des menschlichen Daseins hinaufstrebende und sich hinaufarbeitende Seele schon damals rang. (218)

Charakteristisch für die genannte Eigentümlichkeit sei das Goethe-Wort »Den lieb ich, der Unmögliches begehrt«34: Eine Seele, die sozusagen etwas begehrt, was in ganz offenbarem Sinn für alles philiströse Anschauen eine selbstverständliche Torheit ist, eine solche Seele, namentlich wenn sie sich in ihrer ersten Jugend als solche zeigt, verrät gerade durch solche Absonderlichkeiten Weite des Gesichtskreises, Weite des Strebens. (219)

Steiner nennt an solchen Versuchen, »herauszugehen aus dem Geleise, das einem links und rechts vorgezeichnet ist« (220), etwa das überlieferte Abrasieren der Augenbrauen oder die »Flugversuche« des jungen Tolstoj: »So erscheint diese Seele von Anfang an groß und weit angelegt« (220). Später sei die Grundstimmung Tolstojs, dem ein Ziel gefehlt habe, von der stark empfundenen Sinnlosigkeit des Lebens bestimmt gewesen, das in einem ebenso sinnlosen Tod zu enden schien: »Er war nicht so weit gekommen, dass sich ihm aus dem Geiste selbst in der Seele hätte irgendein Lebensinhalt entzünden können« (223). Als »grandios« bezeichnet Steiner Tolstojs Gegenüberstellung der einfachen Menschen und derjenigen aus seinem eigenen Milieu: »Alles ist aus dem Monumentalen der Paradigmen heraus gedacht« (227). Trotz seines Widerwillens gegen die äußeren Formen des Glaubens und der Dogmen sei Tolstoj religiös geworden, doch auch hier, so Steiner, ohne zu wirklicher Geisterkenntnis zu gelangen: »Aber er konnte sich nicht erheben zu dem positiven Inhalt, der Erkenntnis des Geistes, zu geistiger Anschauung, die Wirklichkeit gibt« (228). Tolstoj suche im Urchristentum ein wahres Christentum, das eine Umwandlung des ganzen Lebens bewirken solle; Steiner resümiert: Also in gewissem Sinne einen Verneiner der Gegenwart sehen wir aus Tolstoj werden und einen Bejaher desjenigen, was er den Christus-Geist nennen konnte, den er aber nicht in der Gegenwart finden konnte, sondern nur in den ersten Zeiten des Christentums. (229)

Diesem »Verneiner der Gegenwart« stellt Steiner im Folgenden Carnegie gegenüber, der aus dem Elend heraus zu Reichtum und zur »intensivsten Bejahung« (229) der Gegenwart gelangt sei. Carnegie selbst kritisiert Tolstoj in seinem Evangelium des Reichtums (The Gospel of Wealth, 1889, dt. Leipzig 1907) für die Rückwärtsgewandtheit seiner imitatio Christi, die ihn zeitgemäße Möglichkeiten der Nächstenliebe verfehlen ließ.35 Steiner vergleicht die Radikalität von Carnegies berühmtem Satz »The man who dies thus rich dies disgraced«36 mit derjenigen tolstojscher Äußerungen: Und der Satz, mit dem er das formuliert, der grotesk erscheinen kann, der aber doch aus der ganzen Denkweise Carnegies hervorgeht, ist dieser: ›Wer reich stirbt, stirbt entehrt.‹ Man könnte in gewissem Sinne sagen, noch revolutionärer klinge der Satz des Stahlkönigs als mancher Satz Tolstojs. (236)

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Zum Ende seines Vortrags zeigt Steiner auf, wie die exemplarischen Positionen Tolstojs, der »aus dem Geiste heraus die Seele zu Höherem führen will«, und Carnegies, »der aus der Betrachtung des materiellen Lebens hin[weist] darauf, dass im Inneren des Menschen der Quell des Arbeitens und der Lebensgesundheit ist«, durch die Theosophie bzw. Anthroposophie und ihre Auffassung von Wiederverkörperung und Schicksal (Reinkarnation und Karma) konsequent verfolgt und vertieft werden könnten, um zu mehr als nur einer »im äußeren Sinne heilsame[n] Verteilung des Reichtums«, nämlich zu einer wirklichen »Vertiefung und Vergeistigung des Lebens« zu gelangen (236f). Tolstojs zukunftsweisendes Denken, namentlich in den späten Schriften, charakterisiert Steiner dabei im Vergleich mit der westlichen philosophischen Tradition (und durchaus in Übereinstimmung mit der Selbstcharakterisierung vieler russischer Denker) wie folgt: Dinge, die hier im Westen mit einem ungeheuren Aufwand von philosophischem Nachdenken, gelehrten Grübeleien, Hin- und Herschieben von Schlüssen und Schlussfolgerungen zusammengebracht werden, sie stellen sich bei Tolstoj so dar, dass sie in fünf bis sechs Zeilen wie Gedankenblitze auftreten und für den, der so etwas auffassen kann, zur Überzeugung werden. Da sagt Tolstoj: […] sie suchen das, was sie nicht sehen können, die Atome, zu begreifen. Den Menschen selber aber sehen sie nicht. Diese Art der Denkweise ist so monumental, dass sie wertvoller ist als Dutzende von Erkenntnissen und Theorien, die aus alten Kulturen heraus geschrieben sind. […] Für den Westeuropäer ist das höchst unbefriedigend; erst im Umweg über Kant kommt er dazu. Mit einer Sicherheit des Seelenwirkens wird Tolstoj dazu getrieben, auszusprechen, was nicht bewiesen, aber wahr ist, was durch unmittelbare Anschauung erkannt wird, und von dem man weiß, wenn man es ausgesprochen erhält, dass es wahr ist. […] Das ist es, was […] wie eine Morgenröte leuchten kann einer aufgehenden Zukunft. (238f)

Dabei liege, so Steiner, das Wesentliche gerade nicht im Dogmatischen: Je weniger wir geneigt sind, Tolstoj dogmatisch zu nehmen, je mehr wir geneigt sind, die Goldkörner eines primitiven paradigmatischen Denkens aufzunehmen, desto fruchtbarer wird er sein. Freilich, diejenigen, welche eine Persönlichkeit nur so hinnehmen, dass sie auf ihre Dogmen schwören, sich nicht von ihr befruchten lassen können, die werden von ihm nicht viel haben. Es wird ihnen manches recht schlecht bekommen. Der aber, der sich befruchten lassen kann von ihm, von dem, was aus einer großen Persönlichkeit fließt, der wird viel von Tolstoj empfangen können. (240)

Das Besondere und Wegweisende von Tolstojs »paradigmatischem« Denken besteht nach Steiner vielmehr darin, dass es sich nicht nur in theoretischen Prinzipiensetzungen artikuliert, sondern sozusagen durch die persönliche Lebenspraxis Tolstojs beglaubigt ist: Wir sehen, dass in ihm die Wahrheit wirkt, paradigmatisch, und dass diese Wahrheit mit starken Kräften einfließt in sein persönliches Leben. […] Wie war er aber imstande, seine Grundsätze in das tägliche Leben hineinzuführen? Durch Arbeiten und Wirken, und nicht bloß mit Grundsätzen. Dadurch wird er ein wahrer Pionier für manches, was in der Zukunft erst aufsprießen muss. (240)

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Abschließend beschreibt Steiner Tolstoj, anknüpfend an die Betrachtung eines Porträts des 20jährigen (1848), als widersprüchliches »Kind seiner Zeit« (240), dessen Gedanken bei all ihrer Unfertigkeit die Grundprobleme der Zeit in einer Weise tangierten, die an die anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise heranführen könne: So ist es auch mit der Mannigfaltigkeit der Kräfte, die in Tolstoj leben, und die nicht so recht zum Ausdruck kommen konnten. Es ist so, wie wenn sie karikiert, verzerrt in mancher Beziehung, zum Ausdruck kommen müssten. So muss man auch den Charakter in ihm erkennen, der manchmal ins Groteske verzerrt ist. Daher ist es ganz wunderbar, wenn er in der Lage ist, hinzuweisen auf dasjenige, was man bei den Menschen gewöhnlich ein Vergängliches nennt […]. Etwas ist da, das vor der Geburt da war und nach der Geburt da sein wird, mein besonderes Ich. […] Nicht darauf kommt es an, wie man sich mit den westeuropäischen Gewohnheiten zu einem solchen Ausspruch stellt, sondern darauf, dass man die Empfindung hat: einen solchen Ausspruch kann man tun. […] So sehen wir, wie Tolstoj hart an die Grenze herankommt von dem, was wir, durch die geisteswissenschaftliche Vertiefung verwirklicht, als das innerste Wesen der Seele kennenlernen. (241f)37

In vielen weiteren Vorträgen Rudolf Steiners findet Tolstoj in unterschiedlichen Zusammenhängen Erwähnung. Insbesondere wird er mehrfach angeführt als herausragender Vertreter der russischen Volksseele,38 der – in seinem theoretischen Spätwerk bereits jenseits der Kunst39 – für eine zukunftsweisende spirituelle Seelenauffassung40 und Entwicklung des Menschen steht, die sich von der etwa in Amerika vorherrschenden materialistischen Auffassung des Seelischen und Geistigen unterscheide.41 In ähnlicher Weise wie im oben referierten Vortrag erscheint Tolstoj dabei als ein den Intentionen von Steiners Geisteswissenschaft Nahestehender, dessen theologisches42 Denken sich qualitativ fundamental von westlichen Darlegungen unterscheide (»Bei Tolstoi, können wir sagen, klingt etwas durch, was man den Christusimpuls nennen kann«43): Man braucht nicht Anhänger von Tolstoi zu sein, aber das eine ist wahr: In Westeuropa macht man mit dem Verstande geistige Kultur […]. Und in dieser Beziehung hat die westeuropäische Kultur solches geleistet, dass es kein Zeitalter mehr überbieten wird. Aber sie können das, was durch dreißig Bände solcher westeuropäischer Bibliotheken gesagt werden kann, manchmal in zehn Zeilen zusammengedrängt erhalten, wenn Sie so ein Buch wie ›Über das Leben‹ von Tolstoi verstehen. Da wird mit primitiver Kraft etwas gesagt, aber da haben wenige Zeilen Stoßkraft, die gleichkommt demjenigen, was dort aus den Einzelheiten zusammenziseliert wird. – […] Geradeso, wie überreife Kulturen etwas Verdorrendes haben, so haben solche aufgehende Kulturen frisches Leben und neue Stoßkraft in sich. Tolstoi ist ja eine vorzeitige Blüte einer solchen Kultur, viel früher gekommen, als dass es möglich wäre, jetzt schon ausgebildet werden zu können. Daher ist er mit allen Fehlern einer unzeitigen Geburt behaftet. All das, was er aufbringt an grotesker Darstellung mancher westeuropäischer Dinge […] zeigt eben, dass große Erscheinungen die Fehler ihre Tugenden haben, dass große Gescheitheit die Torheit ihrer Weisheit hat.44

Damit weist Steiner aber zur gleichen Zeit auch bereits auf den gefährdeten, noch in Entwicklung begriffenen Charakter45 dieses Zukünftigen in Russland

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hin, das Vieles aus dem Westen empfangen habe,46 dessen Denker (zumal die slavophilen) aber teilweise in nationalistischem Sendungsbewusstsein bestrebt seien, sich gegenüber dem vermeintlich abgewirtschafteten, dekadenten Westen zu isolieren – und hier wird »selbst Tolstoj« mit eingeschlossen: »Wenn man Dostojewskij und selbst Tolstoj verfolgt oder andere, die tonangebend, die immer reden vom ›russischen Menschen‹, so ist dies ein Wollustgefühl im Nationalen, das sich selbst nicht definieren kann.«47 So kritisiert Steiner zur Zeit des Weltkriegs etwa die Weglassung germanophober Äußerungen Tolstojs in älteren deutschen Übersetzungen (vor jenen R. Löwenfelds), was in Deutschland zu einem falschen, weil unvollständigeinseitigen Tolstoj-Bild geführt habe.48 Nach dem Ersten Weltkrieg stellt Steiner in dem Buch Die Kernpunkte der sozialen Frage (1919) seinen Ansatz einer »sozialen Dreigliederung« von Kultur-, Rechts- und Wirtschaftssphäre vor, von dessen Umsetzung in Deutschland er sich eine Alternative sowohl zum westlichen Kapitalismus als auch zum östlichen Kommunismus erhofft. In diesem Zusammenhang wird Tolstoj noch einmal als Repräsentant des Ostens angeführt. Er wird nun aber als »äußerste[r] Ausläufer der geistigen Senilität des Ostens« dem durch den amerikanischen Erfinder John Ernst Worrell Keely (1827–1898) verkörperten »mechanistischen Materialismus des Westens«49 gegenübergestellt – eine perspektivisch-dialektische Wendung »in geänderter Zeitlage« (Steiner), die verständlich wird, wenn man den Namen Tolstojs, der 1910 verstorben war, in diesem Passus auch stellvertretend für seine zeitgenössischen Anhänger, für ein Nachkriegs-»Tolstojanertum« also, liest: In Tolstoj sehen wir, wie gewissermaßen konzentriert auftritt dasjenige, was einstmals groß war und was jetzt in der völligen Dekadenz ist, was ein interessantes Phänomen ist, aber für uns nicht die geringste Gegenwartsbedeutung hat. […] Vor dem Kriege konnte man noch von Tolstoj als von etwas Gegenwärtigem sprechen. Mit dem Kriege ist das vorüber. […] Es ist etwas durchaus Antiquiertes, heute von Tolstoj als von irgend etwas zu sprechen, was eine Gegenwartsbedeutung hat.

Der Wandel von Steiners Tolstoj-Bild Versucht man die dargestellten Linien zusammenzuführen, so ergibt sich folgendes Bild: Rudolf Steiner beschreibt Lev Tolstoj – den Menschen, aber auch den religiösen Denker – als außergewöhnlichen Repräsentanten seiner Zeit und einer der in ihr zum Ausdruck kommenden Strömungen: jener, die im Gegensatz zu den um die Jahrhundertwende dominierenden materialistischen Tendenzen eine Verinnerlichung und spirituell vertiefte Seelen- und Lebensauffassung vertritt. Aufgrund dieser Denkweise und Bestrebungen

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charakterisiert Steiner Tolstoj zudem als herausragenden Vertreter der russischen Kultur, deren Blüte indessen noch bevorstehe. Entsprechend benennt Steiner am Rande auch die komplementären Merkmale dieser Vorzeitigkeit oder Verfrühtheit – Unfertigkeit, Einseitigkeit, Überzeichnung, Ablehnung der westlichen Kultur –, wie sie ihm zufolge an Tolstoj ebenfalls zum Ausdruck kommen. Einen entscheidenden Wendepunkt stellt der Erste Weltkrieg dar: Hatte Steiner Tolstojs Denken zuvor als in seinem Ansatz zukunftsweisend und kultur-evolutionär hilfreich beschrieben, stellt er es nun als überholt und hemmend dar.50 Dieser Kontrast lässt sich auf dem Hintergrund der kulturhistorischen Zäsur, die der Erste Weltkrieg als solcher für Steiner darstellte, verstehen, wenn man beide Pole kontextualisiert und als jeweils »zeit-gemäße« (und in diesem Sinne nur scheinbar widersprüchliche) Diagnosen der Kulturwirksamkeit und -bedeutung von Tolstojs Denken im Rahmen von Steiners Auffassung der Kultur- und Menschheitsevolution betrachtet. Steiners Hochschätzung für den Belletristen Tolstoj bleibt davon unberührt. 1919 wird in Stuttgart die Freie Waldorfschule als einheitliche Volksund Höhere Schule für die Arbeiterkinder der Zigarettenfabrik WaldorfAstoria auf der Grundlage von Steiners Pädagogik eröffnet. Als Vertreter der fremdsprachigen Weltliteratur empfiehlt Rudolf Steiner für die Lektüre in der Unterstufe Werke von Lev Tolstoj.51

Anmerkungen 1 Abgedruckt in: R. Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884–1902, Dornach 2004 (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Bd. 32 [im Folgenden: GA 32]), 503ff. 2 Herausgeber der Zeitschrift war der Schriftsteller und Philosoph Bruno Wille (1860–1928), der im Mai 1900 auch den »Giordano Bruno-Bund für einheitliche Weltanschauung« gegründet hatte. 3 Hierzu: E. Hanke, Wo ist der Ausweg? Die Tolstoi-Gesamtausgabe im Eugen Diederichs Verlag, in: J.H. Ulbricht/M.G. Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999, 135–155. 4 Tolstoj war 1901 aufgrund seines Romans Auferstehung von der Russischen Orthodoxen Kirche exkommuniziert worden. Mit seiner Antwort auf den Beschluss des Synods (f 240–248; PSS 34: 245–253) reagierte Tolstoj auf den Entscheid der Kirchenbehörde. Sein Sohn Lev L’voviˇc Tolstoj wurde im Dezember 1910, kurz nach dem Tod des Schriftstellers, vom Bezirksgericht Petersburg vom Vorwurf der Gotteslästerung freigesprochen, der wegen der Herausgabe zweier Erzählungen seines Vaters gegen ihn erhoben worden war. 5 Im Simplicissimus (Jg. 7, Nr. 14, 105) wurde am 1. Juli 1902 in der Serie Durchs dunkelste Deutschland eine Karikatur von Thomas Theodor Heine mit dem Titel Tolstoi in Leipzig abgedruckt. Sie zeigt Tolstoj, der am Gängelband von einem Pfarrer durch die Stadt geführt wird, gefolgt von Polizisten mit Pickelhauben und weiteren Geist-

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lichen. Die Unterschrift lautet: »Nee mei Kutester, Se derfen nich gloom, hier wärsch wie in Russland, – bei uns genn so gemeene Gotteslästerungen nich ketuldet wärn.« GA 32, 503ff. Vgl. E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 40 (Literaturhinweise, Anm. 2). Hierzu ausführlich: W. Hütt (Hg.), Hintergrund. Mit den Unzüchtigkeits- und Gotteslästerungsparagraphen des Strafgesetzbuches gegen Kunst und Künstler 1900– 1933, Berlin 1990. R. Steiner, Zu Carl Hauptmanns Tagebuch. [Magazin fu·r Literatur 1900, 69. Jg., Nr. 13], in: GA 32, 374. »Für viele unserer Zeitgenossen waren erst die schrillen Missklänge der lex HeinzeDebatten notwendig, um sie zum Aufmerken darauf zu bringen, wie mächtig die reaktionärsten Gesinnungen in unser Leben eingreifen.« (R. Steiner, Moderne Weltanschauung und reaktionärer Kurs [Magazin für Literatur, 69. Jg., Nrn. 14, 15, 16, 17; 7., 14., 21. u. 28. Apr. 1900], in: ders., Methodische Grundlagen der Anthroposophie 1884–1901; Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde, Dornach 1989 [= GA 30], 404). Vgl. auch Steiners Artikel Gegen die Lex Heinze (Magazin für Literatur, 69. Jg., Nr. 10, 10. März 1900) und »Lex Heinze« (Magazin fu·r Literatur, 69. Jg., Nr. 21, 26. Mai 1900), in: R. Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887–1902, Dornach 1989 (= GA 31), 651f. Vgl. Rudolf Steiner und der Giordano Bruno-Bund. Materialien zu seinem Lebensgang, Berlin 1900 bis 1905, Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Veröffentlichungen aus dem Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach, H. 79/80, Ostern 1983. R. Steiner, R.M. Saitschick, Die Weltanschauung Dostojewskis und Tolstois [Literarischer Merkur 1983, XIII. Jg., Nr. 32], in: GA 32, 173. R. Steiner, Graf Leo Tolstoi: Was ist Kunst? [Magazin für Literatur 1898, 68. Jg., Nr. 17; 30. 04. 1898], in: GA 30, 370, 373. R. Steiner, Literatur und das geistige Leben im XIX. Jahrhundert (H. Kraemer et al. [Hg.], Das XIX. Jahrhundert in Wort und Bild, Berlin etc. o.J. [1889/1900], 4 Bde), in: ders., Biographien und biographische Skizzen, Dornach 1992 (= GA 33), 111f. R. Steiner, Leser und Kritiker [Magazin für Literatur 1899, 68. Jg., Nr. 45], in: GA 32, 19. R. Steiner, Haeckel. Tolstoi und Nietzsche [Magazin für Literatur, 70. Jg., Nr. 45, 09. 11. 1901], in: GA 32, 500. GA 31, 497f. GA 32, 502f. – Vgl. zu Tolstoj und Nietzsche: »So versucht unsere Zeit, große Geister von so grundsätzlicher Verschiedenheit wie Tolstoi und Nietzsche in ganz oberflächlicher Weise nebeneinander zu stellen.« R. Steiner, Über Philosophie. Geschichte und Literatur. Darstellungen an der Arbeiterbildungsschule und der Freien Hochschule in Berlin 1901 bis 1905, Dornach 1983 [= GA 51], 272 [Vortrag: 05. 03. 1905]. 1886 erscheint das Goethes Denkweise epistemologisch fundierende Werk Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886) und 1892 Steiners bei Heinrich von Stein in Rostock verteidigte philosophische Dissertation Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst, in Buchform erweitert unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft. 1894 folgt sein philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – [ab 1918: Seelische] Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher

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Methode. Steiners Buch Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, eine der frühesten Nietzsche-Monographien, erscheint ein Jahr später. Die Rudolf Steiner Gesamtausgabe – als größte Werkausgabe eines einzelnen Autors eines der größten Editionsprojekte der Buchgeschichte – umfasst heute mit 354 Bänden auch rund 6000 Vortragsnachschriften. Einer der russischen Schüler Steiners war der symbolistische Dichter Andrej Belyj (i.e. Boris Bugaev, 1880–1934). Vgl. F.C. Kozlik, L’influence de l’anthroposophie sur l’œuvre d’Andréi Biélyi, 3 Bände, Frankfurt a.M. 1981; T. Gut (Hg.), A. Belyj, Symbolismus. Anthroposophie. ein Weg. Texte – Bilder – Daten, Dornach 1997. – Belyj gibt in seinem unvollendeten, aus dem Nachlass veröffentlichten Werk Geschichte der Entwicklung der Bewusstseinsseele (Istorija stanovlenija samosoznajuˇsˇcej duˇsi) eine anthroposophisch inspirierte Tolstoj-Exegese, die auch die künstlerischen Werke umfasst (A. Belyj, Duˇsa samosoznajuˇscˇ aja, Moskau 1999). Das Werk wird derzeit unter seinem vollständigen Titel in einer textkritischen, kommentierten Edition unter der Leitung von Henrieke Stahl (Trier) und Monika Spivak (Moskau) neu herausgegeben. Vgl. Russian Literature LXX (2011) I/II. Für diese Informationen danke ich Martina Maria Sam von der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung (Dornach). Es handelt sich um folgende Titel: Sinnlose Hirngespinste. Eine Auseinandersetzung über Autokratie und Demokratie (aus dem unveröffentlichten Nachlass des Dichters). – Shakespeare. Eine kritische Studie. – Religion und Sittlichkeit. Theosophische Schriften XXI. – Über den Sinn des Lebens [enth. Anstreichungen]. – Der Sinn des Lebens. – »Eines ist not«. (Über die Staatsmacht). – Die erste Stufe [enth. Anstreichungen]. – Das Ende naht. – Iwan der Narr. Erzählungen eines Markörs. – Muss es denn so sein? – Der lebende Leichnam. – Meine Beichte. – Patriotismus. – Ein Präludium Chopins. – Religion [2 Ex.]. – Sebastopol. – Der Roman der Ehe. – Über die Ehe. – Ueber Gott und Christentum. Vorwort des Uebersetzers; Gedanken über Gott; Leben und Lehre Jesu; Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen? – Über Krieg und Staat. – Volkserzählungen. – Was ist Kunst? Studie. – Wovon die Menschen leben. Erzählungen. – Krieg und Frieden. Historischer Roman. – Der Tod des Iwan Iljitsch. Erzählung. F. Dukmeyer, Die Deutschen in Tolstois Schilderung. Sonderabdruck aus der Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 111 (15. Mai 1902), München, in: Kommission bei der Staegmeyrschen (Ant. Carl Staegmeyer) 1902, 14. – E. Kühnemann, Turgenjew und Tolstoj, Berlin 1893, 39 [enth. Anstreichungen u. Randnotizen]. – E. Kulke, Tolstoi und Ihering. Separat-Abdruck der ausserordentlichen Beilage zu Nr. 10 der Monatsblätter des Wissenschaftlichen Club vom 15. Juli 1888, Wien 1888, 15 [enth. Anstreichungen]. – K. J. Staub, Graf L.N. Tolstois Leben und Werke. Seine Weltanschauung und ihre Entwicklung, Kempten/München 1908, 277 [enth. Anstreichungen]. Ch. Lindenberg, Rudolf Steiner. Eine Chronik 1861–1925, Stuttgart 1988, 111. R. Steiner, Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft, Dornach 1981 (= GA 53), 110 (Vortrag: Berlin, 03. 11. 1904). Die folgenden Zitate aus diesem Vortrag werden nach dieser Ausgabe mit Angabe der Seitenzahlen im Text belegt. Die beiden Begriffe werden von Steiner, wo es um seine »Geisteswissenschaft« im Allgemeinen geht, meist weitgehend synonym verwendet – den Begriff »Theosophie« ersetzte er, um den Unterschied seiner »Geisteswissenschaft« zur herkömmlichen Theosophie deutlich zu machen, auch in Neuauflagen seiner Werke sukzessive durch »Anthroposophie«. Zur sachlichen und Bedeutungsdifferenzierung vgl. z.B. R. Steiner, Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie, Dornach 1965 (= GA 115), 15–34 (Vortrag: Berlin, 23. 10. 1909).

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27 In einem späteren Vortrag desselben Zyklus (»Friedrich Nietzsche im Lichte der Geisteswissenschaft«, Berlin, 01. 12. 1904) bezeichnet Steiner diese Frage als »dasjenige Problem unserer Zeit, das wir kürzlich das Tolstoi Problem nannten […]« (GA 53, 176). 28 Schon zu Beginn des Vortrags Theosophie und Darwin hatte Steiner auf Tolstoj hingewiesen: »In der Gegenwart finden wir zwei wichtige Kulturströmungen. In Darwin zeigt sich die eine, die ihren Höhepunkt bereits überschritten hat, in Tolstoi eine andere Kulturströmung, die im Anfange begriffen ist« (R. Steiner, Ursprung und Ziel des Menschen, 92). Gegen Ende des Vortrags heißt es: »Wie wir heute eine mechanische Wissenschaft haben, so werden wir in Zukunft eine Lebens-, eine Seelen- und Geisteswissenschaft haben« (109). 29 In einem Architektenhaus-Vortrag vom 29. 02. 1912 zum »Tod bei Mensch, Tier und Pflanze« geht Steiner von Tolstojs Wissenschaftskritik aus: »Vor allen Dingen, sagt Tolstoj, habe er nicht irgend etwas über das Wesen des Todes gefunden« (R. Steiner, Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung, Dornach 1962 [= GA 61], 379). 30 Vgl. hierzu K. Bayertz et al. (Hg.), Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2007 (= Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, 3). 31 Offenbar war Tolstoj dieser Vortrag bekannt; Steiner schrieb 1916: »Dieser Vortrag konnte Tolstoi dazumal noch durch eine uns befreundete Seite gezeigt werden. Tolstoi verstand die ersten zwei Drittel, das letzte Drittel nicht mehr, weil da gesprochen war über Reinkarnation und Karma; das verstand er nicht« (R. Steiner, Weltwesen und Ichheit, Dornach 1963 [= GA 169], 67 [Vortrag: Berlin, 20. 06. 1916]). 32 Durch diesen Vortrag vom 28. Januar 1909 lernte der Dichter und spätere Anthroposoph Christian Morgenstern (1871–1914) Steiner kennen: »Die erste Bekanntschaft mit der Theosophischen Gesellschaft verdanke ich den eigenen öffentlichen Vorträgen Dr. Steiners im Berliner Architektenhaus Winter 1909, nach deren erstem (über Tolstoi und Carnegie) ich sofort wusste, dass ich den ganzen, noch aus sieben Vorträgen bestehenden Zyklus besuchen würde.« (Ch. Morgenstern, Gesammelte Briefe, München 1961, 312 [Brief vom 19. 10. 1909]) – Zu Tolstoj vgl. Morgensterns Aphorismus aus dem Jahre 1910: »Tolstoi war ein Protest des höheren Menschen wider den Menschen, wie er gemeinhin heut noch ist. Tolstoi wollte nur ganz einfache, simple Dinge. Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen, – für jeden anständigen Menschen« (Ch. Morgenstern, Werke und Briefe, Band V: Aphorismen, Stuttgart 1987, 124). 33 R. Steiner, Wo und wie findet man den Geist? Dornach 1961 (= GA 57), 216 (Vortrag: Berlin, 28. Januar 1909). Die folgenden Zitate werden nach dieser Ausgabe mit Angabe der Seitenzahlen im Text belegt. 34 J.W. v. Goethe, Faust, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3, München 1993, 228 (Faust II.2, V. 7488 – »Am untern Peneios«, Ende). 35 »The highest life is probably to be reached, not by such imitation of the life of Christ as Count Tolstoi gives us but, while animated by Christ’s spirit, by recognizing the changed conditions of this age and adopting modes of expressing this spirit suitable to the changed conditions under which we live; still laboring for the good of our fellows, which was the essence of his life and teaching, but laboring in a different manner« (A. Carnegie, Wealth, in: The North American Review 148, 1889 [Nr. 391] 661). 36 A. Carnegie, Wealth, 664. 37 In ganz ähnlicher Weise und in ähnlichem Kontext hatte sich Steiner bereits 1904 im Architektenhaus auf Tolstoj bezogen; GA 53, 86 (Vortrag: Berlin, 20. 10. 1904). Im Anschluss an diesen Vortrag erwähnt Steiner Tolstoj noch einmal in der Beantwortung einer Zuhörer-Frage nach der Berechtigung des Gebets: »Ganz die Stimmung, welche

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Tolstoi als Stimmung in der Seele des Menschen schildert […] soll hervorgerufen werden beim Christen durch das Gebet« (GA 53, 88). R. Steiner, Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt, Dornach 1968 (= GA 158), 204 (Ansprache für russische Zuhörer eines Vortragszyklus; Helsingfors, 11. 04. 1912). – Äußerungen Steiners zu Tolstoj sind auch in Erinnerungen überliefert. Vgl. Assja Turgenieff, Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum, Stuttgart 1993, 32ff, 43, 71; Margarita Woloschin, Die Grüne Schlange. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1982, 203, 245. GA 51, 219, 226 (Vortrag: Berlin, 21. 01. 1905). »Es ist eigentümlich, dass auf dieser Erkenntnis: wieviel näher uns unser Seelisches berührt als alles, was außer uns ist, der Einfluss eines großen Dichters hauptsächlich beruht. Tolstojs Pathos gründet sich auf diese ihn erschütternde Erkenntnis. Aus dieser Anschauung führt er den Kampf gegen Kultur, Moden und Launen« (R. Steiner, Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung, Dornach 1972 [= GA 52], 30 [Vortrag: Berlin, 03. 10. 1903]). GA 53, 295 (Vortrag: Berlin, 30. 03. 1905). Der evangelische Theologe und – nach seiner Bekanntschaft mit Steiner (1911) – spätere Mitbegründer der von der Anthroposophie inspirierten »Bewegung für religiöse Erneuerung« (Christengemeinschaft) Friedrich Rittelmyer (1872–1938) hatte 1904 vier Vorträge über Tolstoj gehalten, die in Buchform unter dem Titel Tolstois religiöse Botschaft, dargestellt und beurteilt in vier Vorträgen (Ulm 1905) erschienen sind; ebenso verfasste Rittelmeyer einen Lexikonartikel zu Tolstoj in: RGG 5, 1913, 1284–1289. Vgl. hierzu E. Hanke: Prophet des Unmodernen, 57, 67, 69, 71ff, 109, 225, 249. – F. Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, Stuttgart 1928. – G. Wehr, Friedrich Rittelmeyer. Sein Leben, religiöse Erneuerung als Brückenschlag, Stuttgart 1998. »Ungeheuren Respekt wird man vor einem solchen Denker gerade im Westen haben müssen, wo mit langen philosophischen Zerzausereien sozusagen ganze Bibliotheken vollgeschrieben werden über dasselbe, was ein Tolstoi in einem Buche wie ›Über das Leben‹ groß und gewaltig hinschreibt. Es gibt bei Tolstoi Seiten, wo in elementarer Weise gewisse große Erkenntnisse theosophischer Wahrheiten dargelegt sind, die allerdings der westeuropäische Philosoph nicht so treffen kann, über die er wenigstens eine große Literatur schreiben müsste, weil etwas ganz Gewaltiges damit gesagt ist« (R. Steiner, Das Johannes-Evangelium, Dornach 1959 [= GA 112], 120 [Vortrag: Kassel, 29. 06. 1909]). R. Steiner, Die Apokalypse des Johannes, Dornach 1962 (= GA 104), 153f (Vortrag: Nürnberg, 24. 06. 1908). – Die in Steiners kulturmorphologischer Darstellung auf die gegenwärtige fünfte folgende, sechste, »nachatlantische Kulturperiode« (von je etwa 2160 Jahren Dauer), die sich in der Gegenwart vorbereitet, wird laut Steiner durch eine Blüte der slavischen Kultur gekennzeichnet sein und die Harmonie zwischen der »materielle[n] Kultur und [dem] Leben in der geistigen Welt zur vollen Entwickelung bringen« (R. Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1989 [= GA 13], 293). 1919 erwähnt Steiner im Zusammenhang mit dem Marxismus die »unklare[n], aber echt russische[n] Lehre des Tolstoi« (R. Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Dornach 1964 [= GA 192], 240 [Vortrag: Stuttgart, 29. 06. 1919]). R. Steiner, Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste, Dornach 1962 (= GA 167), 95 (Vortrag: 04. 04. 1916). Vgl.: »Bei Tolstoj ist alles befruchtet durch die welteuropäische Kultur, aber anders als bei anderen Menschen vor ihm. Er spricht in

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gewaltiger, einfacher Weise aus, was kein Kant und kein Spencer hätten aussprechen können. Was hier überreif erscheint, das erscheint bei ihm allerdings noch unvollkommen. Aber so ist es immer mit dem, was Keim ist« (R. Steiner, Grundelemente der Esoterik, Dornach 1987 [= GA 93a], 261f [Vortrag: Berlin, 05. 11. 1905]). R. Steiner, Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister, Dornach 1967 (= GA 159/160), 261 (Vortrag: Linz, 18. 05. 1915). Vgl. hierzu auch R. Steiner, Gedanken während der Zeit des Krieges, in: ders., Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915–1921, 299ff, wo Tolstoj von dem u.a. durch Danilevskij zum Ausdruck kommenden »Angreiferwillen dieses Ostens« ausgenommen wird: »was durch Tolstoi zum Ausdruck gekommen ist, stellt unwirksame Kräfte dar« (306). GA 167, 27 (Vortrag: Berlin, 13. 02. 1916). R. Steiner, Gegensätze in der Menschheitsentwickelung, West und Ost – Materialismus und Mystik – Wissen und Glauben, Dornach 1967 (= GA 197), 164 (Vortrag: 08. 11. 1920). Zur Zeit des Ersten Weltkriegs (ungefähr 1914–1919), in der er den Unterschied zwischen seiner Anthroposophie und der orientalisch orientierten Theosophie deutlich zu machen bestrebt ist, schätzt Steiner orientalische Anschauungen insgesamt besonders kritisch ein. So könnte Tolstoj hier u.U. auch als Repräsentant des »Ostens« im Sinne des Orients gemeint sein (für diesen Hinweis danke ich Angelika Schmitt). R. Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919 bis 1925, Bd. 3: Das fünfte und sechste Schuljahr, Dornach 1975 (= GA 300c), 151.

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Die Stundisten in der Ukraine 1867 berichtete die russische Presse erstmals über eine merkwürdige Stundisten-Sekte, die großen Zulauf unter ukrainischen Bauern hatte. 1877 schrieb die weit verbreitete Zeitung Nedelja, dass die Anhänger dieser Stundisten-Sekte bekannt seien »für ihren Unternehmergeist, ihre Arbeitsliebe, ihre Beharrlichkeit und ihren Einsatz, wenn es um die Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Ziele und Aufgaben geht, und zwar sowohl als Arbeiter als auch als Produzenten«. Laut diesem Bericht »haben die Stundisten ihren Kleidungsstil (Jacke, Stoffhosen, hohe Stiefel usw.) von ihren Lehrern, den Deutschen, übernommen, und das Nachahmen alles Deutschen hat bei ihnen nachgerade pedantische Formen erreicht«.1 Vier Jahre später formulierte das Orthodoxe Kirchenblatt von Cherson noch kategorischer: »Stundisten sind Leute, die den Deutschen in allen Lebensbereichen nacheifern«.2 1893 wurde diese Tatsache von John Brown, einem Gemeindepfarrer aus Großbritannien, bestätigt. »Als Vorbild«, vermerkte Brown, »dient [den Stundisten] nicht so sehr ihr russischer Nachbar, sie orientieren sich vielmehr an den deutschen Siedlern«.3 Es ist bemerkenswert, dass dieser Hang zur Nachahmung, den die stundistischen Bauern an den Tag legten, um sich eine neue, auf dem religiösen Ethos deutscher Protestanten basierende Identität aufzubauen, Russen und Ausländern gleichermaßen auffiel. In den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter war diese Tendenz, Fremdes nachzuahmen, Ausdruck einer Identitätskrise der orthodoxen ukrainischen Bauern in der Spätzeit des russischen Zarenreiches. Diese Krise generierte neue nicht-russische und nicht-orthodoxe Identitätsmuster, welche die traditionelle Sichtweise der russischen (und zwar sowohl der großrussischen als auch der kleinrussischen, d.h. ukrainischen) Bauernkultur als einer vorwiegend christlichen, russisch-orthodox geprägten in Frage stellten. Schlimmer als das »Nachahmen der Deutschen« war für russische Ideologen diese neue kulturelle Identität – das Aufkommen eines »Nicht-Russentums«. Diese eklatante Missachtung der Traditionen trat in Widerspruch zum Mythos der religiösen Identität der ukrainischen Bevölkerung. Ein weiteres Problem für die nationalen Ideologen in Russland war der starke Einfluss von Lev Tolstoj und seiner radikalen Anhänger auf die ukrainischen Stundisten, was ausnahmslos allen zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen war. Tolstoj und seine Anhänger interessierten sich seit jeher aktiv für alle größeren nicht-

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orthodoxen religiösen Sekten im Zarenreich.4 In dieser Hinsicht bildeten auch die Stundisten keine Ausnahme. Historisch gesehen waren die ukrainischen Stundisten Vorgänger verschiedener evangelisch-christlicher Freikirchen wie etwa der Baptisten (StundoBaptisten), der Adventisten und der Anhänger der Pfingstbewegung, die im Süden Russlands Fuß fassen konnten. Von allem Anfang an war dies eine direkte Folge der religiösen Erweckungsbewegung innerhalb der deutschstämmigen und mennonitischen Kolonien in den ukrainischen Provinzen Russlands. Dort trafen evangelische Strömungen unter deutschen Siedlern auf eine religiöse Renaissance in der orthodoxen Bauernbevölkerung, und es entstand eine neue Bewegung, die von Zeitgenossen als »Stundismus« bezeichnet wurde. Zeitgenössische Autoren und Historiker sahen darin einen bedeutenden Schritt in der Entfaltung der ohnehin schon weit verbreiteten evangelischen Bewegung im Zarenreich.5 Deutschsprachige Siedler brachten den Stundismus nach Russland als Teil der pietistischen Bewegung innerhalb der lutherischen Kirche. Die Bezeichnung leitet sich vom deutschen Wort »Stunde« ab. Seit dem frühen 18. Jahrhundert veranstalteten Mitglieder der deutschen Pietistenbewegung, Anhänger von Philipp Jacob Spener (1635– 1705), in den Stunden nach dem Gottesdienst Zusammenkünfte in ihren Privathäusern, um gemeinsam die Bibel zu lesen und auszulegen. Pietisten aus Württemberg, die man »Stundenbrüder« nannte, brachten diese neue religiöse Bewegung 1817 in die deutschen Kolonien der russischen Provinz Cherson; die dortige deutsche Kolonie Rohrbach wurde zu einem eigentlichen Zentrum pietistischer Frömmigkeit. Pastor der lutherischen Gemeinde in Rohrbach war der pietistische Pfarrer Johann Bonekemper, der zum Anführer der neuen pietistischen Stundistenbewegung unter der deutschstämmigen Bevölkerung vor Ort wurde. Die Zusammenkünfte, die er ab 1824 organisierte und die als »Stundisten-Versammlungen« weithin bekannt waren, legten den Grundstein für die Entstehung einer starken pietistischen Bewegung unter den deutschsprachigen Siedlern in der ganzen Provinz.6 Diese deutsche pietistische Strömung traf dabei auf andere religiöse Erweckungsbewegungen: in den 1840er Jahren auf die nazarenische Sekte in deutschen Kolonien in Bessarabien und in den 1850er Jahren auf die Mennoniten in den Provinzen Ekaterinoslav und Taurien. Zusammen mit baptistischen Einflüssen aus dem Westen, die in den späten 1860er Jahren durch das Wirken deutscher Missionare nach Südrussland gelangt waren, legten die evangelischen Erweckungsbewegungen unter deutschen und mennonitischen Siedlern den Grundstein für eine religiöse Strömung unter ukrainischen Bauern, die von russischen Zeitgenossen als »ukrainische Stundisten« (chochly-ˇstundy)7 bezeichnet wurden.8 Die ukrainischen Provinzen des russischen Zarenreiches in der Schwarzmeer-Region waren die Wiege der Stundistenbewegung. Die russisch-türki-

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schen Kriege von 1768–1774 und 1787–1791 brachten es mit sich, dass verschiedene soziale, ethnische und religiöse Gruppierungen in diese Region Südrusslands strömten. Damals herrschte eine große Nachfrage nach hart arbeitenden und qualifizierten Siedlern. Um die bevölkerungsarmen Steppen im Süden der Ukraine zu besiedeln, lockte die russische Regierung Kaufleute und Unternehmer aus dem Ausland mit allerlei Privilegien an und erlaubte ihnen etwa in der Provinz Cherson alle verfügbaren Arbeitskräfte, die sie benötigten, zu verpflichten. Zwischen 1760 und 1830 ließen sich Tausende von Ausländern im Süden der Ukraine nieder: Serben, Polen, Franzosen, Schweden, Juden, Deutsche und Mennoniten. Und sie alle brachten ihren eigenen Lebensstil, ihre Religion und ihre Kultur in die Ukraine mit. Als Folge der intensiven Kolonialisierung gewann diese landwirtschaftlich geprägte Region für fleißige Siedler mit unterschiedlichem ethnischen und religiösen Hintergrund an Attraktivität. Laut Bericht des Gouverneurs der Provinz Cherson an den Zaren waren 15 Prozent der Bevölkerung in seiner Provinz nicht-orthodoxer Konfession.9 Die Massenenteignungen der Bauern nach den Agrarreformen von 1861, ihre Mobilität und Umsiedlungstendenzen in Richtung südlicher Grenze, die Kolonialisierung des Südens durch Ausländer und das Anwerben russischer Arbeitskräfte durch nicht-russische Siedler schufen die Voraussetzungen für religiöse Gärungsprozesse in der orthodoxen Bevölkerung im Süden des Zarenreiches. Die Mehrheit der Bevölkerung, die vorwiegend aus Staatsbauern (mehr als 60 %), Kosaken oder Militärsiedlern bestand, kannte das System der Leibeigenschaft gar nicht. All diese Gruppen waren im wahrsten Sinne des Wortes »entwurzelt«. Migration und eine neue kulturelle Umgebung in einer multiethnischen Gesellschaft hatten sie die Orientierung verlieren lassen. Große Teile ihrer kulturellen Identität waren ihnen abhanden gekommen, darunter auch ihre traditionelle russisch-orthodoxe Ausrichtung. Ihre Anpassungsversuche an die neuen Lebensbedingungen brachten sie in Konflikt mit den »Hütern« der traditionellen kulturellen Werte – den Priestern der Russischen Orthodoxen Kirche. Anstatt sich auf traditionelle Werte zu besinnen, versuchten die Bauern in den südlichen Provinzen der Ukraine ein eigenes kulturelles Wertesystem aufzubauen. In der Spätzeit des russischen Zarenreiches waren die religiösen Dissidenten auf dem Lande wahrhaftige »kulturelle Pioniere« eines Systems, das ein neues Kulturverständnis und einen neuen Glauben hervorbrachte.10 Als der ukrainische Stundismus 1869 mit dem deutschen Baptismus in Kontakt kam, führte dies zu seiner Aufspaltung in zwei Strömungen: erstens in eine in theologischen Fragen und in der religiösen Praxis konservativere Strömung des Stundo-Baptismus, der in ländlichen Regionen der Ukraine Institutionen deutscher Baptisten-Gemeinden einzuführen versuchte; und zweitens in die radikalere Strömung des »Neuen« oder »Jungen« Stundismus,

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welcher sich der Institutionalisierung und Formalisierung ihrer Bewegung widersetzte, die unmittelbare geistliche Kommunikation der Gläubigen mit Gott in den Mittelpunkt stellte sowie eschatologischen Heilserwartungen huldigte, auf dass soziale Gerechtigkeit und Gleichheit eintrete. Von Anfang an waren in der Ukraine radikale religiöse Gruppierungen in der Mehrheit. Laut ersten Berichten aus der Provinz Kiev aus dem Jahre 1874 gehörte die überwältigende Mehrheit (85 %) der behördlich erfassten Stundisten dem radikalen Flügel der ukrainischen Stundisten an.11 Später, im Jahre 1909, gab es mehr radikale Stundisten und Malevancen12 als Baptisten. Von 9300 registrierten Mitgliedern evangelischer Sekten waren 3608 Stundisten, die baptistische Gottesdienste ablehnten, 1687 »evangelische Christen«, 1553 Malevancen und nur 1787 Baptisten. Bis 1917 war die evangelische Bewegung in der Provinz Kiev viel stärker radikal-evangelisch als baptistisch geprägt.13 Zeitgenössischen Beobachtern, die Zeugen dieser »radikalen Reformation« in den ländlichen Gebieten Russlands und der Ukraine wurden, war sofort klar, dass es sich hierbei um ein eminentes kulturelles Phänomen handelte, dessen Bedeutung weit über die radikalen Bauernsekten hinausging. Russische Schriftsteller wie Leskov und Dostoevskij empfanden die Ausbreitung des Stundismus als Bedrohung für die einheimische christlich-orthodoxe Bauernkultur und warfen russischen Intellektuellen vor, vom Tand des »westlichen Evangelikalismus« geblendet zu sein.14 Für Sympathisanten des religiösen Dissidententums wie Lev Tolstoj oder Gleb Uspenskij und Stepnjak-Kravcˇ inskij (zwei Vertreter des Volkstümlertums in der Literatur) hingegen waren die radikalen Bauernsekten Ausdruck des »progressiven«, innovativen Geistes des einfachen Volkes, und deshalb stellten sie auch in ihren eigenen Werken das Gedankengut dieser Sekten einem breiten Publikum vor.15

Gegenseitige Beeinflussung Anhänger von Graf Tolstoj und Oberst Paˇskov waren auch persönlich involviert in die evangelische Bauernbewegung in der Ukraine. Fürst Chilkov und Mitglieder der Cˇertkov-Familie betrieben Propaganda auf dem Land. Im Unterschied zu den revolutionären Volkstümlern predigten sie den ukrainischen Bauern allerdings eine friedliche Vision sozialer Umgestaltung. Trotzdem waren Konflikte programmiert. 1898 veröffentlichte die russische Emigrantenzeitschrift Svobodnoe slovo (Das freie Wort), die von Tolstojs Anhängern herausgegeben wurde, Briefe und Tagebücher von Timofej Zajac, der in den Augen liberaler russischer Intellektueller ein stundistischer Märtyrer war.16 In jeder Ausgabe der Zeitschrift Listki Svobodnogo slova17 dokumentierte Cˇertkov Übergriffe und Repressalien gegen religiöse Dissidenten.

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Am 3. März 1902 führte eine gegen die Stundisten gerichtete Predigt eines orthodoxen Missionars in der Gemeindekirche der Stadt Bogoduchov in der Provinz Char’kov dazu, dass orthodoxe Bauern, die es auf Stundistenfrauen abgesehen hatten, Mitglieder der örtlichen Stundistengemeinde verprügelten. Nach diesem Gewaltausbruch erstatteten alle weiblichen Mitglieder der örtlichen Stundistengemeinde Anzeige bei der Polizei wegen ihrer Wunden und Blutergüsse.18 Darauf empfahl der Gouverneur der Provinz Char’kov dem Heiligen Synod, orthodoxen Missionaren zu untersagen, Predigten gegen die Stundisten auf dem Lande zu halten, um Gewaltausbrüche zu verhindern.19 Die Polizei ging davon aus, dass die antizaristische Haltung der religiös dissidenten Bauern auf ein eigenartiges Gemisch eschatologischen Gedankenguts religiöser Extremisten und sozialistischer Propaganda revolutionär gesinnter Intellektueller zurückzuführen sei. Laut Polizei wurden eschatologische Heilserwartungen in der Ukraine in erster Linie von der stundistischen Sˇalaput-Bewegung der Malevancen im Bezirk Taraˇscˇ a der Provinz Kiev geschürt. Die Träger staatsfeindlicher Propaganda waren hauptsächlich lokale Grundbesitzer, die diverse liberale und sozialistische Theorien unters Volk brachten, wie etwa Fürst Chilkov, der die Bauern im Bezirk Sumy der Provinz Char’kov mit Tolstojs Ideen bekannt machte. Die Dörfer, die solchen liberalen Grundbesitzern bis 1861 gehört hatten, wurden in den 1890er und 1900er Jahren zu Zentren der bäuerlichen Protestbewegung. Laut Polizei ging die staatsfeindliche Propaganda hauptsächlich von Siedlungen in der Provinz Char’kov aus, wo es besonders viele religiös dissidente Bauern gab. Laut Polizeiberichten war das ehemalige Gut des Fürsten Chilkov, das Dorf Pavlovki im Bezirk Sumy, in den 1890er Jahren für religiöse Extremisten der wichtigste Hort regierungskritischer Geisteshaltung. Schon 1892 ging die Polizei davon aus, dass es eine Verbindung geben musste zwischen den antizaristischen Predigten ukrainischer Stundisten und dem sozialistischen und tolstojanischen Gedankengut, das in Pavlovki kursierte. 1892 informierte der Priester von Pavlovki die Polizei, dass zwei stundistische Aktivisten aus dem Dorf Alekseevka in der Provinz Char’kov, Vater und Sohn – Filipp und Lev Tkaˇcev, »gefährliche politische Ideen« verbreiteten. Wie sich herausstellte, verkündeten diese stundistischen Bauernprediger, dass die Zeit nahe sei, da alle gleich sein werden und es keine Zaren, Gutsherren und Priester mehr geben wird.20 Lev Tkaˇcev erklärte seinen Zuhörern, dass es nötig sei, die gesamte Obrigkeit mit dem Zaren an der Spitze zu hängen, damit der Schritt in diese Zukunft möglich werde. Die göttliche Gerechtigkeit werde keine mit Sünden behaftete staatliche Macht dulden. Als die Tkaˇcevs von ihren Nachbarn gefragt wurden, wie man denn ohne Zar und Obrigkeit leben könne, antworteten sie: »Wir werden unseren eigenen Zaren und unsere eigene Obrigkeit aus dem einfachen Volk wählen, genauso wie wir auch

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unsere Dorfverwaltung wählen«. Gemäß ihren Ausführungen wird es für die Bürger erst nach der Exekution des Zaren und der Bestrafung aller politisch Verantwortlichen möglich sein, dieselben politischen Rechte zu bekommen, wie dies in Westeuropa schon üblich sei.21 In einem Gespräch mit Bauern behauptete Filipp Tkaˇcev, dass es Russland unter einem »fremden Zaren« besser gehen würde. Und er erläuterte, dass die Herrscher in Europa ihre Bürger schonend behandeln, dass sie sich um das Wohlergehen des einfachen Volkes kümmern, dass sie alles Land gleichmäßig aufgeteilt und die Steuerlast verringert haben. Im Mai 1892 während einer Debatte unter freiem Himmel ließ Filipp Tkaˇcev vor einem bäuerlichen Auditorium verlauten: »Unser Zar ist ein Hurensohn; dem Klerus und dem Adel hat er uneingeschränkte Rechte und Privilegien eingeräumt; Ordnung wird bei uns erst dann herrschen, wenn alle Priester, Gutsherren und Zaren ihre gerechte Strafe bekommen haben«. In den Jahren 1892 und 1893 predigten Lev und Filipp Tkaˇcev ihren Nachbarn das Evangelium und untermauerten ihre Kritik an der orthodoxen Geistlichkeit und der zaristischen Obrigkeit mit Zitaten aus der Heiligen Schrift. Die Pharisäer dienten ihnen als Symbol für den heuchlerischen und repressiven Charakter der Russischen Orthodoxen Kirche und der lokalen Behörden. Der Polizei gestanden Lev und Filipp Tkaˇcev, dass sie in ihren Predigten Gedanken von Fürst Chilkov wiederholt hätten und dass sich ihre Auslegung der Heiligen Schrift auf die Bibelinterpretation von Chilkovs Anhängern aus dem Dorf Pavlovki stütze. Und es stellte sich heraus, dass die Tkaˇcevs in Pavlovki einen Verwandten namens Daniil Vernidub hatten. Von Vernidub hatten die Angeklagten erfahren, dass Fürst Chilkov seinen ganzen Landbesitz unter den Bauern aufgeteilt habe und sie gelehrt habe, die Orthodoxe Kirche nicht mehr zu besuchen und die Obrigkeit zu missachten. Laut Aussage von Vernidub sagte Chilkov den Bauern in Pavlovki, dass sie sich bereit halten sollten für die kommende Revolution, und er lehrte sie, dass man auch ohne Religion leben könne. Priester aus der Gegend gaben zu Protokoll, Chilkov habe darauf insistiert, dass niemand in Russland, auch nicht die Stundisten im Dorf, eine neue Religion brauche, sondern dass es vielmehr nötig sei, das staatliche Gefüge des Landes zu verändern. Tolstojs Anhänger lehnten Gewalt ab und beharrten auf einer »rationalen« Auslegung des Evangeliums. Paˇskovianer und Tolstojaner agitierten für eine grundlegende Reform der gesamten sozialen Ordnung Russlands auf der Grundlage des Evangeliums und führten einen Kampf für die Rückbesinnung auf christliche Normen, die der Landbevölkerung soziale Gerechtigkeit bringen sollte. In den Augen der Stundisten vor Ort waren sie »evangelische Christenbrüder und -schwestern«, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden. Laut Polizeiberichten gab es unter diesen Intellektuellen auch viele Anhänger Tolstojs. Letztlich waren alle oppositionellen Gruppen

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im Süden Russlands – Liberale, Revolutionäre und religiöse Dissidenten verschiedener Richtungen – miteinander vernetzt, und daran waren die Tolstojaner in den 1870er und 1890er Jahren aktiv beteiligt, da sie Kontakte herstellten und für die neue oppositionelle Subkultur im Süden Russlands die nötige Infrastruktur bereitstellten. Tolstojaner und ukrainische stundistische Bauern bildeten eine religiöse Allianz, die den sorgfältig geplanten Widerstand gegen die weltliche Obrigkeit im ländlichen Süden der Ukraine erst möglich machte.22 Die Stundisten eröffneten in ihren Siedlungen religiöse Schulen mit eigenem Lehrplan. Mennonitische und deutsche Siedler organisierten ihre Schulen in den deutschen Kolonien nach protestantischem Vorbild. Auch die Anhänger von Lev Tolstoj erarbeiteten ihr eigenes praxisorientiertes Unterrichtsprogramm für Dorfschulen.23 Die Stundo-Baptisten in den südlichen Provinzen Russlands arbeiteten mit ihnen und geeigneten Vertretern anderer evangelischer Strömungen zusammen. Nikolaj Gorinoviˇc, ein ehemaliger russischer Revolutionär, der sich dem evangelischen Kreis von Oberst Paˇskov angeschlossen hatte, besuchte 1883 Molokanen-Siedlungen und Stundisten-Gemeinden und unterrichtete dort deren Kinder. V.G. Pavlov, ein russischer Baptist aus dem Kaukasus, und Zinovij Zacharov, ein Anführer der Neo-Molokanen, schlossen sich Gorinoviˇc an und organisierten in einer Molokanen-Siedlung gemeinsame Gottesdienste. Alle Evangelischen aus der Umgebung nahmen daran teil und schickten ihre Kinder in Gorinoviˇcs Schule.24 In solchen gemeinsamen Projekten nahmen stundistische Bauern ihrerseits Einfluss auf die pädagogischen Experimente der Tolstojaner, die das zaristische Bildungsmonopol ablehnten. Zudem leisteten die Stundisten, die ab 1900 in den Provinzen Cherson und Kiev einen beachtlichen Teil der Landbevölkerung ausmachten, durch die Entwicklung einer Lesekultur und einer praxisbetonten Schulbildung einen nicht zu unterschätzenden Beitrag im Modernisierungsprozess der ländlichen Gebiete der Ukraine und in der Akkumulation von »menschlichem Kapital«, d.h. im Vermitteln von Fähigkeiten, Bildung und diversen sozialen Praktiken.25 Von Tolstojs Lehre inspirierte stundistische Aktivisten waren Vertreter einer neuen Generation des ukrainischen Bauernstandes, die durch intensive Lektüre, durch Auswendiglernen und Dispute über die Heilige Schrift ein außerordentlich hohes intellektuelles Niveau erreicht hatten. In Streitgesprächen waren sie ihren religiösen Widersachern, orthodoxen Missionaren und dem örtlichen Klerus, nicht nur hinsichtlich ihrer Moral- und Wertvorstellungen überlegen, sondern auch was ihre geistige Beweglichkeit in der Entwicklung neuer Ideen und kultureller Formen betraf.26 Die evangelischen Bauern versuchten nicht nur die ländlichen Gebiete Russlands und der Ukraine zu modernisieren, ihre neue Mentalität als lesekundige und fortschrittliche Bauern war zudem

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ein Appell, die Würde jedes Menschen zu respektieren. Allerdings stieß diese fortschrittliche Ethik auf den Widerstand der orthodoxen Kirche und konnte sich nicht in der breiten Bevölkerung durchsetzen. Stundisten aus Elizavetgrad, einer Stadt in der Provinz Cherson, zogen aufs Land und organisierten dort ihre Gemeinschaft nach kommunistischevangelischen Prinzipien, wie Tolstoj dies lehrte. Gewaltanwendung und die terroristischen Methoden der Volkstümler lehnten sie ab und distanzierten sich von jeglichem revolutionären Radikalismus. Sie warben für die Idee eines kulturellen Dialogs zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, sie propagierten Ackerbau als Lebensgrundlage und Gewaltverzicht in der Politik.27 Laut Polizeiberichten versuchten die Stundisten von Elisavetgrad im Jahr 1888, noch ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit, ihre eigene Version eines christlichen Tolstojanertums zu realisieren und alle pazifistischen evangelischen Gruppierungen in ihre improvisierte tolstojanischchristliche Gemeinschaft zu integrieren. 1890 rapportierte ein Polizeidetektiv, dass stundistisches Gedankengut auch bei jungen radikalen jüdischen Intellektuellen wie Jakov Gordin, der in der Provinz Cherson zahlreiche stundistische Versammlungen besuchte, außerordentlich populär sei. Die Polizei ging davon aus, dass junge Juden und radikale Stundisten nicht nur durch Tolstojs Lehre, sondern auch durch das sozialistische Gedankengut der Volkstümler beeinflusst wurden. Deshalb versuchten sie auch evangelische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen mit einer kommunistischen Utopie, lehnten politisch motivierte Gewalt allerdings ab. Aus diesem Grund bevorzugten sie für ihre kommunistischen Ackerbaukolonien Orte mit starker stundistischer Präsenz. Am 18. Juni 1890 setzte ein Polizeibeamter seine Vorgesetzten darüber in Kenntnis, dass »stundistische Tolstojaner« im November 1889 in Glodossy (einem bekannten Zentrum des ukrainischen Stundismus) »eine nach kommunistischen Prinzipien organisierte Ackerbaukolonie gegründet, Bekanntschaft mit Bauern aus der Umgebung geschlossen, diese zu sich nach Hause eingeladen und mit ihnen dort das Evangelium in ihrer eigenen sozialistischen Auslegung gelesen haben«.28 Auch die Mitglieder dieser stundistischen Kolonie stützten sich auf Tolstojs Auslegung des Christentums. Neben der Bibel und sozialistischer Literatur wurden Tolstojs Schriften gelesen und diskutiert. In ihrer Kolonie versuchten sie sogar Tolstojs Ideen in die Praxis umzusetzen. 1889 errichteten sie ein spezielles Gebäude, wo landwirtschaftliche Produkte an bedürftige Mitglieder und Bauern aus der Umgebung verteilt wurden. Gleichzeitig diente dieses Gebäude dazu, mit Bauern zur gemeinsamen Lektüre und Auslegung der Bibel und Tolstojs Schriften zusammenzukommen. Alle Stundisten in Glodossy nahmen aktiv an diesen Diskussionen teil. Ein Polizeibeamter notierte, dass die praktisch veranlagten Bauern ihre neuen Nachbarn mochten, da die Tolstojaner sie mit Medikamenten versorgten

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und sie »in medizinischen und landwirtschaftlichen Fragen umfassend berieten«. Gleichzeitig verbreiteten die Tolstojaner aber auch evangelische Literatur und versuchten Einfluss auf die stundistischen Bauern zu nehmen, »und zwar in einer Art und Weise«, wie es ein Polizeibeamter formulierte, »die von einem politischen Standpunkt als suspekt bezeichnet werden muss«.29 Nach zahlreichen Beschwerden darüber, dass die Tolstojaner die Stundisten »sozialistisch« beeinflussen, erklärte die russische Regierung 1894 die Stundisten zur »gefährlichsten Sekte« des Landes und verbot alle stundistischen Treffen.30 Das Gesetz von 1894 konnte die Radikalisierung der religiös dissidenten Bauern allerdings nicht mehr aufhalten. Polizeiliche Unterlagen und Berichte orthodoxer Missionare dokumentieren die weitere Entwicklung. In den 1890er Jahren wurde die evangelische Bewegung noch radikaler. Orthodoxe Missionare berichteten von einer »Durchdringung mit sozialistischem und kommunistischem Gedankengut«, vom schädlichen Einfluss von Tolstojs Lehre, von »intensiven Kontakten der Bauernführer mit anderen Sekten aus dem In- und Ausland« und von der Unterstützung, die den religiösen Extremisten von revolutionär gesinnten Intellektuellen zuteil werde.31 Die Radikalisierung der evangelischen Bewegung, die viele Sympathien genoss, und ihre zahlreichen Kontakte provozierte eine Gegenreaktion des orthodoxen Klerus und orthodoxer Missionare: Neue Zeitschriften wie die Missionarsrundschau wurden lanciert, orthodoxe Bibliotheken und Debattierklubs gegründet. Aber um die Ausbreitung des Stundismus und seine Vernetzung mit den Tolstojanern zu unterbinden, waren weder missionarische Aktivitäten noch polizeiliche Repressionen das geeignete Mittel.

Anmerkungen 1 F.A. Sˇ cˇ erbina, Malorusskaja sˇtunda, in: Nedelja, 1877, Nr. 2, 58–59. 2 Zit. nach A. Ro zˇ destvenskij, Juˇzno-russkij sˇtundizm, St. Petersburg 1889, 269. 3 J. Brown, The Stundists. The Story of a Great Religious Revolt, London 1893, 66f. Vgl. auch A.F. Heard, The Russian Church and Russian Dissent, Comprising Orthodoxy, Dissent, and Erratic Sects, New York 1887, 290. 4 N. Kutepov, Kratkaja istorija i verouˇcenie russkich racionalistiˇceskich i mistiˇceskich eresej. Duchoborcev, molokan, lesnago bratstva, sˇtundy, tolstovcev, chlystov i skopcov, Novoˇcerkassk 1907 [1891], 57. 5 Die Geschichte des Stundismus wurde sowohl von russischen / ukrainischen als auch von westlichen Historikern detailliert rekonstruiert. Vgl. H. Dalton, Der Stundismus in Russland. Studie und Erinnerungen, Gütersloh 1896; W. Gutsche, Westliche Quellen des russischen Stundismus. Anfänge der evangelischen Bewegung in Russland, Kassel 1956; M. Klimenko, Die Anfänge des Baptismus in Südrussland (Ukraine) nach offiziellen Dokumenten, Erlangen 1957; A.I. Klibanov, Istorija religioznogo sektantstva v Rossii (60-e gody XIX v. – 1917 g.), Moskau 1965; E. Heier,

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Religious Schism in the Russian Aristocracy 1860–1900. Radstockism and Pashkovism, The Hague 1970; I. Klippenstein, Religion and Dissent in the Era of Reform. The Russian Stundobaptists, 1858–1884 (unveröffentlichte Masterarbeit, University of Minnesota 1971); S. Nesdoly, Evangelical Sectarianism in Russia. A Study of the Stundists, Baptists, Pashkovites, and Evangelical Christians 1855–1917 (unveröffentlichte Dissertation, Queens University 1971); H. Brandenburg, The Meek and the Mighty. The Emergence of the Evangelical Movement in Russia, New York 1977. Siehe auch meine Darstellung der Geschichte des ukrainischen Stundismus: S.I. Zhuk, Russia’s Lost Reformation. Peasants, Millennialism, and Radical Sects in Southern Russia and Ukraine 1830–1917, Baltimore 2004, insbesondere die Zahlenangaben auf S. 177f. Vgl. V.V. Sary cˇ ev, Social’no-˙ekonomiˇceskie i politiˇceskie aspekty rasprostranenija baptizma v Rossii (Evropejskaja cˇ ast’, 1860-e – 1917 gg.) (unveröffentlichte Dissertation, Universität Jaroslavl’ 1989); S.N. Savinskij, Istorija evangel’skich christianbaptistov Ukrainy, Rossii, Belorussii (1867–1917), St. Petersburg 1999; O.V. Beznosova (Kudinova), Pozdnee protestantskoe sektantstvo Juga Ukrainy (1850–1905) (unveröffentlichte Dissertation, Universität Dnepropetrovsk 1998); H. Coleman, Russian Baptists and Spiritual Revolution 1905–1929, Bloomington 2005. Colemans Buch ist eine überarbeitete Version ihrer Dissertation: The Most Dangerous Sect. Baptists in Tsarist and Soviet Russia, 1905–1929 (unveröffentlichte Dissertation, University of Illinois 1998). 6 C. Bonekemper, Stundism in Russia, in: Missionary Review of the World 17, März 1894, 203. 7 »Chochly« – pejoratives russisches Ethnonym für »Ukrainer« (Anmerkung des Übersetzers). 8 Vgl. A. Ro zˇ destvenskij, Juˇzno-russkij sˇtundizm, 12f, 42f, 59f; A. Dorodnicyn, Juˇzno-russkij neobaptizm, izvestnyj pod imenem sˇtundy. Po oficial’nym dokumentam, Stavropol’ 1903, 117, 122; P. Kozickij, Vopros o proischoˇzdenii juˇzno-russkago sˇtundizma v naˇsej literature, St. Petersburg 1908. Die russischen Verwaltungsbehörden übernahmen die Bezeichnung der lutherischen Stundisten und bezeichneten die ersten evangelischen Bauern, die sich mit deutschen Protestanten zusammentaten, ebenfalls als »Stundisten«. Mit anfänglich nur 20 Mitgliedern im Jahr 1862 wuchs die Stundistensekte unter der ukrainischen Bauernbevölkerung in den 1870er Jahren auf mehrere Tausend an und breitete sich in der Süd- und Zentralukraine rasant aus. In den 1880er Jahren hatte der Stundismus die Provinzen Taurien, Ekaterinoslav, Poltava, Char’kov, Cˇernigov, Wolhynien und Podolien erreicht (1886 gab es in der Provinz Cherson 2956 Apostaten, 1884 in der Provinz Kiev deren 2006, in der Provinz Ekaterinoslav 300). 1885 wurden von den örtlichen Polizeiorganen insgesamt mehr als 7000 Menschen registriert, die ukrainische Stundistenversammlungen besuchten. In der Provinz Kiev wuchs die Zahl der Stundisten von 200 im Jahr 1872 auf 5002 im Jahr 1890 an, in der Provinz Cherson von 20 im Jahr 1862 auf 4648 im Jahr 1890, in der Provinz Ekaterinoslav von 300 im Jahr 1888 auf 1000 im Jahr 1897. Was diese Statistiken nicht zeigen, ist der Umstand, dass der Einfluss der Stundisten sehr viel größer war, als diese Zahlen vermuten lassen. Tatsächlich dominierten die Stundisten die Dörfer, in welchen sie mehr als 2 Prozent der Bevölkerung ausmachten, und übten einen entscheidenden Einfluss auf mindestens einen Drittel der Dorfbevölkerung aus. 1890 schrieb der Gouverneur von Cherson in einem Bericht an den Zaren, dass die Stundistensekte die ländliche Bevölkerung »auf 75 Prozent des gesamten Gebiets der Provinz« indoktriniere. Nach unseren Berechnungen hat die Polizei in den wichtigsten Provinzen im Süden des Zarenreiches (Kiev, Podolien, Wolhynien, Cherson, Taurien, Ekaterinoslav, Char’kov, Bessarabien, Stavropol’ und Astrachan’) zwischen 1891 und

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1895 nicht weniger als 20000 aktive Stundisten registriert. Für ausführlichere Angaben s. S.I. Zhuk, Russia’s Lost Reformation. Peasants, Millennialism, and Radical sects in Southern Russia and Ukraine 1830–1917, Baltimore 2004, 177f. Siehe Rossijskij gosudarstvennyj istoriˇceskij archiv (im Folgenden – RGIA), Rechenschaftsbericht des Gouverneurs von Cherson für das Jahr 1885, sowie RGIA, F. 1263, Op. 1, D. 4543, Bl. 301–303, 440–442. E.I. Dru zˇ inina, Juˇznaja Ukraina v period krizisa feodalizma 1825–1860, Moskau 1981, 31f; W. Sunderland, Taming the Wild Field. Colonization and Empire on the Russian Steppe, Ithaca 2004, 189. RGIA, F. 1284, Op. 241, D. 181. Die Zahlenangaben basieren auf folgenden Archivmaterialien: RGIA, F. 821, Op. 133, D. 21, Bl. 275v–277v. Glaubensgemeinschaft, die auf den Genuss von Fleisch und Eiern verzichtete. Sie wurde vom Stundisten Kondrat Malevannyj (1845–1913) gegründet und von Tolstoj wertgeschätzt. Ebd. Ein proportional ähnliches Bild bot sich in der Provinz Ekaterinoslav: 212 Stundisten, 812 evangelische Christen und 289 Baptisten. F.M. Dostoevsky, The Diary of a Writer, übers. v. B. Brasol, New York 1954, 62f; vgl. auch 64, 103–105, 567–569. Siehe S.M. Stepniak-Kravchinskii, The Russian Peasantry. Their Agrarian Condition, Social Life and Religion, Westport 1977 [1888], 341; V.S. Solov’ev, Russkaia ideja, in: O christianskom edinstve, Moskau 1994, 71ff. V. Bon cˇ -Bruevi cˇ , (Hg.), Materialy k istorii i izuˇceniju russkogo sektantstva i raskola, Bd. 3, St. Petersburg 1910, 9, 12, 14f, 25. Siehe auch die Materialien im fond Cˇertkova in der GBR, Handschriftenabteilung, F. 435, Box 46, 67 u.a. RGIA, F. 797, Op. 72, Abt. 2, St. 3, D. 125 (1902), Bl. 13–14v. A.a.O., D. 330 (1902), Bl. 1–2. Die folgende Darstellung basiert auf Polizeiakten aus den Jahren 1894–1895 (GARF, F. 124, Op. 3, D. 130, Bl. 1–1v, 9–11). Auf Russisch lauteten Tkaˇcevs Worte: »Einfache Leute haben in Russland keine Rechte [net pravov]« (a.a.O., Bl. 1–1v); (d.h. mit einer defektiven, volkssprachlichen Flexionsendung – schriftsprachlich: net prav – Anm. d. Übers.). Diese Repressions- und Widerstandstraditionen und -muster spielten sowohl in der Russischen Revolution von 1917, im Bürgerkrieg 1918–1921, in den tragischen Ereignissen der stalinistischen Zwangskollektivisierung in der Ukraine als auch beim Aufkommen einer neuen evangelischen Bewegung in der sowjetischen Ukraine nach dem 2. Weltkrieg eine große Rolle. Zu Bürgerkrieg und der Machno-Bewegung im Süden der Ukraine siehe P. Avrich, The Russian Anarchists, New York 1967, 209ff. Zur evangelischen Bewegung in der sowjetischen Ukraine siehe W. Sawatsky, Soviet Evangelicals since World War II, Scottsdale 1981, 43f, 62, 67, 86, 90ff. Lev Dejˇc, ein Revolutionär, der bei den Molokanen gelebt hat, verweist in seinen Memoiren auf den Stellenwert, den diese der Praxisbezogenheit und dem praktischem Nutzen in der Erziehung beimaßen (L.G. Dej cˇ , Za polveka, Moskau 1926, 115, 118). Die Paˇskovianer, die russischen Anhänger von Oberst Paˇskov, versuchten ihre eigenen Vorstellungen einer praxisbezogenen Erziehung in ländlichen Gebieten Russlands zu verwirklichen. Über Paˇskov siehe S. Nesdoly, Evangelical Sectarianism in Russia. A Study of the Stundists, Baptists, Pashkovites, and Evangelical Christians, 1855–1917. Siehe RGIA, F. 796, Op. 164, D. 1326, Bl. 30–31v. In offiziellen Dokumenten ist von vielen solchen gemeinsamen Aktionen die Rede.

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25 In der Forschung kann »menschliches Kapital« definiert werden als »unternehmerische Fähigkeit, sich Informationen zu verschaffen und sich an die Unausgewogenheiten anzupassen, die Modernisierungsprozesse zwangsläufig mit sich bringen« (T.W. Schultz, Investing in People. The Economics of Population Quality, Berkeley 1981, 23). 26 Polizeiberichte und Dokumente der orthodoxen Kirche belegen die überdurchschnittlichen geistigen Fähigkeiten der stundistischen Bauern. Siehe z.B. die Schilderung der intellektuellen Fähigkeiten und moralischen Wertvorstellungen von Vasilij Orda, einem Stundistenaktivisten aus der Provinz Poltava (RGIA, F. 1284, Op. 222 [1894], D. 31, Bl. 1v–4). 27 RGIA, F. 821, Op. 8, D. 345 (1884), Bl. 36, 38v. 28 Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (im Folgenden – GARF), F. 102, Op. 87 (1889), D. 606, Bl. 4, 11, 19–20, 21, 23, 24, 57–57v. 29 RGIA, F. 821, Op. 8, D. 345 (1884), Bl. 118–119v. 30 V.I. Jasevi cˇ -Borodaevskaja, Bor’ba za veru. Istoriko-bytovye oˇcerki i obzor zakonodatel’stva po staroobrjadˇcestvu i sektantstvu v ego posledovatel’nom razvitii s priloˇzeniem statej zakona i vysoˇcajˇsich ukazov, St. Petersburg 1912, 560. 31 Kievskie eparchial’nye vedomosti 1898, Nr. 16, 621f. Ab 1896 gab die Orthodoxe Kirche die Missionerskoe obozrenie (Missionarsrundschau) heraus, wo die neuen apostatischen Sekten scharf angriffen wurden.

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Die Duchoborzen in Kanada »Es gibt Gläubige, bei denen es Brauch ist, sich vor allen Menschen, mit denen sie Umgang haben, tief zu verbeugen. Sie sagen, dass sie das tun, weil jedem Menschen der Geist Gottes innewohne. Wie seltsam dieser Brauch auch anmuten mag, er beruht doch auf einer tiefen Wahrheit« (PSS 41: 262). Auch wenn sich diese Aussage Tolstojs nicht explizit auf die Duchoborzen bezieht, ist sie für unsere Zwecke dennoch von zentraler Bedeutung. Zunächst ist es eine jener persönlichen Bemerkungen Tolstojs, die der Autor in die unter dem Titel Krug ˇctenija (Lesezyklus) veröffentlichte Sammlung seiner liebsten Aphorismen aufgenommen hat. Er notierte sie in der Spätphase seines Lebens, zu einer Zeit, als er die Geschicke der Duchoborzen-Bewegung schon fast zwanzig Jahre lang aktiv begleitet hatte. Hier schreibt er eher über die Bewegung als Ganzes und nicht wie bei früheren Gelegenheiten über einzelne Mitglieder der Sekte. Vor allem aber zeigt sich in dieser Bemerkung eine Ehrfurcht vor der in ihr verkündeten Wahrheit hinsichtlich der Beziehung der Menschen zueinander und zu Gott. Das wohl deutlichste Zeichen des Respekts und der Ehrfurcht, den die kanadischen Duchoborzen für Tolstoj empfinden, war ihre Entgegennahme eines Geschenks aus der ehemaligen Sowjetunion im Jahr 1987, als ihnen die »Rodina (Heimat)-Gesellschaft für kulturelles Erbe« zwei Statuen ihres geliebten »Deduˇska« (Großvaters) übergab, Arbeiten des Bildhauers Jurij Cˇernov. Das war umso bemerkenswerter, als die Duchoborzen in der Regel bildliche Darstellungen derer, die sie verehren, nicht akzeptieren; das gilt sogar für Darstellungen biblischer Gestalten. In einem ergreifenden Leitartikel anlässlich der Enthüllung einer dieser Statuen in Verigin (Saskatchewan) schrieb Jim Popoff, der Herausgeber der Duchoborzen-Zeitschrift Iskra: Diese Tolstoj-Denkmäler sind, wie schon erwähnt, keine Kultgegenstände wie etwa Ikonen. Aber wenn wir sie nur oberflächlich als Kuriosität oder Touristenattraktion wahrnehmen, ohne uns ihre tiefere Bedeutung zu vergegenwärtigen, dann werden diese Statuen ihrer eigentlichen Funktion nicht gerecht … Nein – das dürfen wir nicht zulassen! Wie jedes andere historische Denkmal auch sollen uns diese Tolstoj-Statuen daran erinnern, was sie eigentlich repräsentieren – und zwar umfassend: an den Menschen Tolstoj, an seine Leistungen, an seine Hoffnungen und Ideen, an seinen Appell an uns alle, die wir wissen, dass er Recht hat …

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Die heutige Welt braucht sein Werk – das unermüdliche Streben nach Liebe und Gewaltlosigkeit, für ein gerechtes, friedliches und brüderliches Dasein aller Menschen auf dieser Erde – heute noch dringender als irgendwann sonst in der Geschichte der Menschheit. Nicht nur Tolstoj, sondern die Vorsehung selbst schleudert uns allen diesen Aufruf entgegen, unser verblendetes und mutwilliges Tun, unsere materialistische Weltanschauung hinter uns zu lassen und uns voll und ganz der heiligen Sache zu widmen.1

Bis heute ist noch nicht restlos geklärt, wie sich die Duchoborzen als christliche Gruppierung in Russland konstituierten. Wir wissen, dass sie die Aufmerksamkeit der zaristischen Behörden schon in den 1750er Jahren auf sich zogen. Einige Jahrzehnte später verwendete ein russisch-orthodoxer Bischof die Bezeichnung »Duchobor« (Geisteskämpfer) für diese Gruppierung in einem abfälligen Sinne – er behauptete, dass sie den heiligen Geist bekämpfen würden. Die Gruppierung deutete diesen Ausdruck um als Bezeichnung für diejenigen, die »mit oder für den Geist kämpfen«, und übernahm ihn in der Folge als stolzes Autonym.2 Da sie glauben, dass der heilige Geist jedem gläubigen Individuum innewohne und es persönlich leite, lehnten die Duchoborzen die orthodoxe Kirche mit ihren Sakramenten und ihrer kirchlichen Hierarchie ab – genauso wie auch ihre Bücher. Sie wollten nur mündliche Überlieferungen anerkennen, in erster Linie Psalmen und Hymnen, die sie als »Lebendiges Buch« bezeichneten. Zudem waren sie glühende Verfechter pazifistischen und egalitaristischen Gedankengutes. Sie weigerten sich, irgendeine kirchliche oder politische Macht anzuerkennen, und ordneten sich nur ihren eigenen Führern unter, die nach ihrer Überzeugung von Gott eingesetzt worden waren. Angesichts ihrer konsequenten Ablehnung von Kirche und Staat kann es kaum überraschen, dass die Geschichte der Duchoborzen geprägt ist von Verfolgung, Exil, Leid und Verbannung.3

Repression und Emigration Einer der bekanntesten Duchoborzen-Führer war Petr Verigin (1859–1924).4 Während seiner fünfzehn Jahre dauernden Verbannung im Norden und Osten Russlands erfuhr er entscheidende Impulse durch Begegnungen mit verbannten Revolutionären und Anarchisten sowie durch seine intensive Lektüre von Tolstojs Schriften, welche ihn dazu veranlassten, ein wichtiges Element der Lehre der Duchoborzen mit neuem Nachdruck zu verfolgen – die totale Ablehnung von Militarismus und Gewalt. Ende 1893 sandte Verigin seinen Anhängern ein Manifest zu, in dem er sie dazu aufrief, den Militärdienst zu verweigern, ihr Privateigentum auf ein absolutes Minimum zu beschränken (und somit die alte Tradition des gemein-

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schaftlichen Besitzes wieder aufleben zu lassen) und nicht nur auf den Genuss von Alkohol und Tabak, sondern auch auf Fleischkonsum zu verzichten. Des Weiteren schlug er seinen Anhängern eine neue Selbstbezeichnung vor – »Christliche Gemeinschaft der universellen Bruderschaft« (Christian Community of Universal Brotherhood – CCUB), die später zum offiziellen Namen der Duchoborzen-Gemeinschaft in Kanada werden sollte. 1895 wies Verigin seine Anhänger an, alle Waffen, die sie besaßen, einzusammeln und diese am 29. Juni (11. Juli nach Gregorianischem Kalender) als kollektive Manifestation ihrer Ablehnung von Gewalt öffentlich zu verbrennen. Hier mag auch eine strategische Überlegung eine Rolle gespielt haben: Es ist gut möglich, dass Verigin es vorzog, seine Anhänger sofortigen Repressalien auszusetzen, um nicht Zeuge eines sich hinziehenden Konflikts mit der Staatsmacht zu werden, der von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Darauf folgten mehrere Jahre staatlicher Repressionen, und viele Duchoborzen wurden in abgelegene Dörfer im Kaukasus verbannt. Junge Männer, die den Militärdienst verweigerten, wurden in Strafbataillone abkommandiert, während andere wegen ihres Glaubens inhaftiert oder sogar gefoltert wurden. Die drakonischen Repressionen, welche auf die öffentliche Waffenverbrennung der Duchoborzen folgten, waren ein direkter Angriff auf Tolstojs ganze Philosophie der Gewaltlosigkeit, auf seine Ablehnung der institutionalisierten Religion, des Eigentums und von Privilegien, die auf Klassenschranken und der Macht der Eliten gründeten. Diese Repressionen im Zusammenspiel mit dem von nationalistischen und militaristischen Tendenzen geprägten zeitgeschichtlichen Kontext veranlassten Tolstoj, das Gebot, sich dem Bösen nicht mit Gewalt zu widersetzen, als fundamentalen Grundsatz seiner christlichen Lehre noch stärker zu betonen. Dass Tolstoj sich einmischte und das Bestreben der Duchoborzen, sich durch eine Massenauswanderung der Strafverfolgung in Russland zu entziehen, moralisch und finanziell unterstützte, kam nicht überraschend – es war dies lediglich die logische Fortsetzung seiner empörten Auflehnung gegen staatliche Repressionen, wie sie schon verschiedene religiöse Sekten – Quäker, Mennoniten und andere pazifistische christliche Gruppierungen – erfahren hatten. Nur gingen in diesem Fall die repressiven Maßnahmen sehr viel weiter, als das in der Vergangenheit zum Beispiel bei den Molokanen oder den Stundisten der Fall gewesen war; besonders hoch war der Verfolgungsdruck nach der von Verigin initiierten Waffenverbrennung. Zweifellos waren es aber in erster Linie die Lebensweise der Duchoborzen und die Affinität ihrer Ideale zu Tolstojs eigener Philosophie, die ihn eine besondere Sympathie zu dieser Sektengemeinschaft fassen ließ. Tolstoj wurde von seinen Anhängern laufend unterrichtet über die Hingabe, mit welcher die Duchoborzen ihr Land bestellen, wie sie ihren Besitz miteinan-

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der teilen, über ihre Liebe zu Gott, die sie in ihrer Gemeinschaft kultivieren, über ihre bedingungslose Ablehnung von Krieg, Töten und Gewalt und nicht zuletzt auch über ihre Bereitschaft, zuliebe der Wahrheit Verfolgung zu erdulden. Für den zum christlichen Philosophen gewandelten Schriftsteller fand sich hier die Verkörperung von nahezu alldem, wonach er selber strebte und was er in seinen Werken propagierte – ein perfektes Beispiel der Verschmelzung des Idealen mit dem Praktischen, das alle seine Theorien untermauerte.5 Aufgrund von Tolstojs Intervention und unter tatkräftiger Mithilfe britischer Quäker machten sich im Winter und Frühling 1899 etwa 7500 Duchoborzen auf eine Reise, die sie vom Kaukasus über das Schwarze Meer, das Mittelmeer, den Atlantischen Ozean und den halben nordamerikanischen Kontinent bis in die kanadische Prärie führte. Mit Unterstützung der kanadischen Regierung ließen sie sich als Siedlerkollektiv im heutigen westlichen Manitoba und östlichen Saskatchewan nieder.6 Als das russische Innenministerium seine Verbannung schließlich aufgehoben hatte, durfte 1902 auch ihr Anführer Petr Verigin nach Kanada ausreisen.7

Die heutige Wahrnehmung von Tolstojs Lehre bei den Duchoborzen Über die Duchoborzen – und zwar sowohl über die kanadischen (und ihre Nachkommen, deren Zahl sich heute auf fast 30000 beläuft) als auch über die in Russland verbliebenen – ist schon sehr viel geschrieben worden.8 Die wichtigste Informationsquelle über die kanadischen Duchoborzen ist ihre Monatszeitschrift Iskra (der Funke),9 die sich Themen von bleibender Aktualität wie Gewaltlosigkeit und »Arbeit und friedfertigem Leben« (das Motto der Duchoborzen) widmet und zugleich im Zeichen weltumspannender Bruderschaft Brücken zur kanadischen Gesellschaft schlagen will. Was jedoch immer noch fehlte, war eine objektive Studie darüber, wie die Duchoborzen die Bedeutung von Tolstojs Erbe für ihr Leben heute einschätzen. Um diese Frage möglichst »wissenschaftlich« untersuchen zu können und gleichzeitig den Duchoborzen selbst ein Forum zur Verfügung zu stellen, initiierte ich im Jahr 2001 unter dem Patronat der Slavic Research Group (SRG) der Universität von Ottawa eine Umfrage, die ermitteln sollte, in welchem Maß kanadische Duchoborzen des 21. Jahrhunderts sich der Rolle, die Tolstoj bei der Auswanderung ihrer Vorfahren gespielt hat, bewusst sind und wie weit sie mit seiner literarischen und sozialen Tätigkeit sowie den Hauptideen seiner Philosophie vertraut sind. Ein Fragebogen (auf Russisch und Englisch) wurde einer Ausgabe der Zeitschrift Iskra beigeheftet,10 zusätzlich

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dazu wurden etwa 200 Exemplare des Fragebogens direkt an ausgewählte Personen verschickt. Die Resonanz auf die Umfrage war äußerst erfreulich. Insgesamt kamen 146 ausgefüllte Fragebogen zurück – fast alle davon auf Englisch.11 Viele der Befragten hatten sich die Mühe gemacht, zusätzliche Kommentare beizufügen. Ungefähr zwanzig Personen zogen es vor, einfach einen Brief über Tolstoj zu schreiben, statt die vorgegebenen Fragen zu beantworten. Im Vorfeld gehegte Befürchtungen hinsichtlich der wohlbekannten Aversion der Duchoborzen gegenüber allen Formen schriftlicher Selbstauskunft erwiesen sich als unbegründet, vielleicht infolge des Vertrauens, das über mehrere Jahre hin zwischen der SRG und der Duchoborzen-Gemeinde aufgebaut werden konnte.12 Der Fragebogen enthielt zunächst dreißig Fragen in drei Kategorien. Zunächst wurden die Befragten um persönliche Angaben (d.h. Alter und Bildungsniveau) gebeten und um Informationen darüber, wann und wie sie von Tolstoj in seinen verschiedenen Rollen – als Mensch, als Freund der Duchoborzen, als Schriftsteller und Denker – erfahren haben. Zum Zweiten wollten wir herausfinden, wie gut die Duchoborzen Tolstojs Werk – und zwar sowohl die fiktionalen Werke als auch die religiösen und philosophischen Traktate kennen. Und drittens interessierten uns die Reaktionen auf bestimmte Ideen von Tolstoj. Demographisch ergibt sich folgendes Bild: 71 (also fast die Hälfte) der 146 Rückmeldungen stammen von 60- bis 70-jährigen Duchoborzen, 44 weitere von 50- bis 60-jährigen. Nur 22 Teilnehmer waren jünger als 50, während 9 älter als 70 Jahre waren. Ein 93-jähriger sandte uns ein dreiseitiges Schreiben über seinen Freund Pavel Planidin und dessen persönliche Begegnung mit Lev Tolstoj. Obwohl nur wenige Vertreter der jüngeren Duchoborzen-Generation bei der Umfrage mitmachten, ergab die Auswertung ihrer Antworten gegenüber denen der älteren Teilnehmer keine signifikanten Abweichungen. Die Jüngeren wiesen jedoch, wie auch zu erwarten war, ein tendenziell höheres Bildungsniveau auf. Enttäuschend war, dass sich dreimal mehr Männer als Frauen an der Umfrage beteiligten. Fast alle Teilnehmer hatten zum ersten Mal in ihrer Familie von Tolstoj gehört (seltener in der Schule oder durch eigene Entdeckung). Das ist angesichts der wohlbekannten Bemühungen der Duchoborzen-Gemeinschaft um die Bewahrung von Tolstojs Andenken kaum überraschend. Bemerkenswert ist allerdings, wie tief dieses Andenken und die Dankbarkeit gegenüber dem »Deduˇska« Tolstoj im Herzen und in der Seele der Gemeinschaft verankert sind. Aus den Antworten geht klar hervor, dass bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (dem Alter der meisten Teilnehmer nach zu schließen) die Familie der wichtigste Träger und Vermittler der Erinnerung an Tolstoj war.

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Die Schule ergänzt die Familie in dieser Hinsicht, tritt aber nie als einzige Informationsquelle in Erscheinung. Es vermag nicht zu überraschen, dass die große Mehrheit der Teilnehmer zum ersten Mal im Kindes- oder Jugendalter von Tolstoj gehört hat (75 Teilnehmer vor ihrem 15. Lebensjahr). Nur fünf Duchoborzen gaben an, Tolstoj eigenständig, ohne äußeren Einfluss entdeckt zu haben. Da viele Teilnehmer mehrere mögliche Antworten ankreuzten, erlauben die Resultate der Umfrage keine Rückschlüsse darauf, welcher Aspekt von Tolstojs Wirken im Gedächtnis junger Duchoborzen vor einem halben Jahrhundert besonders haften geblieben ist. Dennoch besteht Grund zur Annahme, dass in Duchoborzen-Familien damals nicht nur über die Rolle gesprochen wurde, die Tolstoj bei der Auswanderung nach Kanada gespielt hat, sondern dass auch sein schriftstellerisches Werk ein Thema war – dieser Punkt wird weiterhin untersucht. Sicherlich erzählte man den Kindern schon in jungen Jahren davon, wie sich Tolstoj für die Auswanderung der Duchoborzen eingesetzt hatte, und zwar sehr detailliert – auch die finanzielle Unterstützung, die Tolstoj und seine Anhänger leisteten, die Auswahl des Zielortes und die praktische Organisation der Übersiedlung kamen zur Sprache. Etwas irritierend war der Befund, dass das persönliche Engagement von Tolstojs ältestem Sohn Sergej L’voviˇc für die Auswanderung der Duchoborzen kaum Erwähnung fand. Über ein Drittel der Teilnehmer gab an, die Biographie Tolstojs auch über die Duchoborzen-Periode hinaus recht gut zu kennen. Als um präzise Angaben gebeten wurde, mit welchem Lebensabschnitt die Befragten am besten vertraut seien, wurden am häufigsten (wohl nicht sehr überraschend) die späteren Jahre genannt, wobei manchmal noch eine weiter gehende Spezifizierung erfolgte: »die Jahre seines Kontaktes mit den Duchoborzen«. Die Umfrage zeigte, dass die Duchoborzen in Kanada im Allgemeinen auch heute noch ein reges Interesse an Tolstojs Biographie zeigen. Im nächsten Fragenkomplex ging es um die Kenntnis von Tolstojs Werk, und zwar sowohl des literarischen wie auch des philosophischen. Nur vier der insgesamt 146 Teilnehmer gaben zu, Tolstoj als Schriftsteller überhaupt nicht zu kennen. Die überwältigende Mehrheit hingegen bezeugte, dass sie den Schriftsteller seit ihrer frühen Kindheit oder ihrer Jugend kenne und dass sich somit ihre Vorstellung von Tolstoj keineswegs nur auf seine Rolle bei der Auswanderung ihrer Vorfahren beschränke. Weiterhin lässt sich festhalten, dass ihre Tolstoj-Lektüre mit einem der drei großen Romane begann – bei 60 % war das Krieg und Frieden, seltener Anna Karenina oder Auferstehung. Überraschenderweise wurde bei dieser Frage nur viermal ein kürzeres Prosawerk angegeben: Der Gefangene im Kaukasus etwa wurde nur einmal genannt, und zwar vom einzigen Teilnehmer aus Russland, der dieses Werk in der vierten Klasse gelesen hatte, während die überwältigende Mehr-

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heit der kanadischen Duchoborzen sich direkt in eines der großen Werke vertieft hatte. Andererseits gaben zehn der befragten kanadischen Duchoborzen an, zuerst eines der religiösen Traktate gelesen zu haben. Alles in allem scheinen die Duchoborzen in Kanada gut über Tolstojs schriftstellerische Tätigkeit informiert zu sein. Viele von ihnen haben (früher oder später) neben seinen drei großen Romane und der autobiographischen Trilogie (Kindheit, Knabenjahre, Jünglingszeit) auch einige seiner Volkserzählungen gelesen wie etwa Herr und Knecht und Wo die Liebe ist, da ist auch Gott (für einen Teilnehmer gehörte sogar Der Tod des Ivan Il’iˇc in diese Kategorie). Von Tolstojs religiösen Traktaten wurden Das Reich Gottes ist in euch und die Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien am häufigsten genannt; einige kannten auch die Beichte. Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder hingegen wurde nur selten erwähnt, was sehr überraschend ist, wenn man bedenkt, dass es eine Zeit gab, als dies der einzige schriftliche Text war, den die Duchoborzen in ihren Sonntagsschulen duldeten.13 Interessant ist auch, dass elf Teilnehmer stolz darauf verwiesen, Zwei Kriege gelesen zu haben – einen Artikel, in dem Tolstoj den spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 leidenschaftlich verurteilt und gleichzeitig seiner Bewunderung für den von den Duchoborzen erklärten »Krieg gegen Kriege« Ausdruck verleiht. Uns interessierte natürlich nicht nur, was die Duchoborzen von Tolstoj gelesen haben, sondern auch, wie sie es lasen. Die Ersteller des Fragebogens hatten eine Reihe aufeinander bezogener Fragen formuliert, um auch diesen Aspekt möglichst genau untersuchen zu können. Die Umfrage ergab hier nur wenige eindeutige Aussagen, doch der Grundtenor der Antworten war positiv. Zu Tolstojs »gelungensten« Werken zählten die Teilnehmer die drei großen Romane sowie Der Tod des Ivan Il’iˇc und Herr und Knecht. Seltener wurde die Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien genannt. In der Rubrik der Werke, die »dem Glauben der Duchoborzen am stärksten entsprechen«, wurden Das Reich Gottes ist in euch und Tolstojs Volkserzählungen angeführt. Einige Antworten zeugten von einer kritischen Haltung gegenüber dem Schriftsteller Tolstoj. Bei der Frage »Sind Sie in Tolstojs Werken auf Aussagen gestoßen, die im Widerspruch zu Glaubensgrundsätzen der Duchoborzen stehen?« nannten einige Teilnehmer Werke, in welchen Kampfhandlungen geschildert werden – wie etwa die Sevastopoler Erzählungen, die Erzählungen über den Krieg im Kaukasus und die Schlachtszenen in Krieg und Frieden (was die ansonsten hohe Meinung der Teilnehmer über den Roman nicht schmälerte). Negative Reaktionen betrafen auch die Kreutzersonate sowie in acht Fällen die Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien – ein Werk, das es paradoxerweise bei anderen Teilnehmern in die Kategorie der »gelungensten« schaffte.

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Außerdem wurde gefragt, welche Werke Duchoborzen ihren Freunden und Bekannten – insbesondere Kindern – als erbauliche Lektüre empfehlen würden und welche sie im Gegenteil nicht empfehlen könnten. Der kontroverse Charakter dieser Frage zeigte sich darin, dass sie nur von relativ wenigen Teilnehmern beantwortet wurde, und auch darin, dass die eingegangenen Antworten sehr heterogen waren. Während Das Reich Gottes ist in euch einhellig zur Lektüre empfohlen und die Kreutzersonate mehrheitlich verworfen wurde, tauchte die Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien in beiden Kategorien auf. Anna Karenina war laut Umfrage für Erwachsene geeignet, nicht aber für Heranwachsende. Seltsam mutet der Umstand an, dass Krieg und Frieden, das Buch, das so viele gelesen hatten und das in anderen Abschnitten der Umfrage sowohl positiv wie auch negativ bewertet wurde, in der Liste weder unter »zu empfehlen« noch unter »abzuraten« vorkam. Daraus könnte man schließen, dass für die Duchoborzen von heute ästhetischer Gehalt und historische Genauigkeit bei der Bewertung eines literarischen Werkes nicht im Vordergrund stehen, auch wenn diese Annahme nicht direkt belegt werden kann, da nicht explizit nach den pädagogischen Qualitäten von Krieg und Frieden gefragt wurde. Im Ganzen darf man annehmen, dass es in der Wahrnehmung des literarischen Werks von Tolstoj kaum einen Unterschied zwischen den gebildeten kanadischen Duchoborzen und dem anglophonen Durchschnittsleser mit gleichem Bildungsgrad gibt. Die Mehrheit lernte den Schriftsteller Tolstoj durch Krieg und Frieden kennen und las dann die beiden anderen großen Romane. Einige kannten zudem seine Kindergeschichten und seine Volkserzählungen; andere Werke wurden seltener genannt. Und nicht nur die Statistik zeigt eine allgemeine Vorliebe für die literarischen Texte gegenüber den nichtfiktionalen Schriften; vielmehr wurde dies von einzelnen Teilnehmern auch in direkten Kommentaren herausgestellt. Nichtsdestotrotz belegt die Umfrage ein bemerkenswert hohes Interesse an Tolstojs religiösen und gesellschaftspolitischen Traktaten. Dies und die durchgehend ablehnende Haltung gegenüber Schilderungen militärischer Kampfhandlungen sind die beiden distinktiven Merkmale der Tolstoj lesenden Duchoborzen als Umfragegruppe. Ansonsten waren die Resultate mehr oder weniger typisch für die Rezeption von Tolstojs schriftstellerischem Werk allgemein. Auch Alter, Beruf und Bildungsgrad der Teilnehmer hatten keinen nennenswerten Einfluss auf die Wahrnehmung der literarischen Texte des Autors. In einer weiteren Gruppe aufeinander bezogener Fragen ging es um die Kenntnis bestimmter Grundideen von Tolstojs Philosophie sowie um die Haltung der Duchoborzen zu diesen Ideen. Ein Problem, das sich uns stellte, war die Neigung der Duchoborzen, den Einfluss ihrer Glaubensgrundsätze

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auf Tolstojs Ansichten zu überschätzen – besonders was die zentralen Gebote der Liebe und des Friedens, der Ablehnung von Privateigentum und den gewaltlosen Widerstand gegen das Böse betrifft – Ideen, die, so der Tenor, in der Duchoborzen-Bewegung eine lange Tradition hätten und sich bis weit vor den ersten Kontakt zu Tolstoj zurückverfolgen ließen. So wichtig diese Punkte auch sein mögen, ein direkter Einfluss auf die Ansichten des Schriftstellers dürfte nicht leicht zu beweisen sein. Im Gegenteil: Es lässt sich belegen, dass der damals schon fast siebzigjährige Tolstoj bereits früher und unabhängig von den Duchoborzen ähnliche Gedanken entwickelt hatte. Den Kontakt zu den Duchoborzen könnte man eher als eine Art Resonanzboden sehen, der Tolstoj-Spezialisten dort nützlich sein kann, wo es darum geht, die spezifische Gestalt der Ideen in den Blick zu bekommen, die sich in ihm schon herausgebildet hatten. Diese Schlussfolgerung wird durch eine Korrelation zwischen den Antworten in dem betreffenden Abschnitt des Fragebogens und dem Wissensstand der Befragten bestätigt: Je mehr sie über Tolstojs Leben und Werk wissen, desto vorsichtiger sind die Teilnehmer mit Annahmen über einen möglichen wechselseitigen Einfluss. Selbstverständlich fanden Tolstojs Pazifismus und seine generellen Ansichten über »Arbeit und friedfertiges Leben« breite Zustimmung bei den Teilnehmern. Die Umfrage hat gezeigt, dass diese Ideen auch im 21. Jahrhundert für die Duchoborzen sehr relevant sind. Viele schätzten Tolstojs Konzept der »Vereinfachung« (oproˇsˇcenie) des Lebens als sehr bedeutsam ein, auch wenn sie es durch den Ausdruck »einfaches Leben« ersetzten. Folgende Ansichten Tolstojs wurden von den Teilnehmern ebenfalls als »gelungen« oder »heute noch relevant« bezeichnet: die Ablehnung von Gewalt, der gewaltlose Widerstand gegen das Böse, Brüderlichkeit unter den Völkern, die Bereitschaft, anderen zu vergeben, und natürlich die Liebe. Tolstojs Reaktion auf den Bibelvers »Gott ist die Liebe«14 wurde oft zitiert. Erwähnung fanden auch andere Aspekte von Tolstojs Lehre wie etwa der Vegetarismus, die Gleichheit aller Menschen und die Vorteile einer gemeinschaftlichen Lebensweise. Bemerkenswert (wenn auch in unserem Fall nicht überraschend) war, dass sehr häufig als »gelungenste« Idee von Tolstoj der Entschluss, die Auswanderung der Duchoborzen nach Kanada zu unterstützen, genannt wurde. Als »am wenigsten gelungen« wurden folgende Ideen angeführt: Enthaltsamkeit bzw. völlige sexuelle Abstinenz, gewisse Ansichten zu Kunst und Ästhetik sowie alles, was Tolstojs Lehre in die Nähe des Konzepts der Anarchie rückte (wobei nicht ganz klar wurde, was die Teilnehmer genau darunter verstanden). Diese Frage legte divergierende Meinungen innerhalb der Duchoborzen-Gemeinschaft offen. Während zum Beispiel einige Teilnehmer den Vegetarismus und eine gemeinschaftliche Lebensweise als »gelungen« einschätzten, wurde dies von anderen bedingungslos abgelehnt. Einer der

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Befragten legte dar, dass alle positiven Ideale Tolstojs auf ein gemeinschaftliches Leben in einer Art utopischen Gesellschaft abzielten. Andere Ideen Tolstojs wie etwa seine Ansichten zur Ästhetik oder zur Rolle der Frau in der Gesellschaft wurden von einigen als »veraltet« bezeichnet. Zum Schluss möchte ich noch einige Ergebnisse unserer Umfrage hervorheben, die eine weitere Erforschung nötig machen. Dass die Duchoborzen heute keine monolithische Gruppe mehr darstellen, die sich immer einig ist, und zwar auch in Fragen, die sich direkt auf ihren Glauben beziehen, wird etwa aus den diametral entgegen gesetzten Reaktionen ersichtlich, die Tolstojs Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien hervorrief. Seltsamerweise erwähnte kaum ein Teilnehmer, dass Tolstoj, der selbst sein ganzes Leben lang inbrünstig danach trachtete, sich spirituell weiterzuentwickeln, die Menschen unermüdlich darin bestärkte, ihrem angeborenen Streben nach Wahrheit, ihrer natürlichen Suche nach Gott und ihrem Glauben zu folgen.15 Das ist etwas, was Tolstoj und die Duchoborzen von vielen ihrer Zeitgenossen unterschied und worauf Tolstoj-Forscher auch heute noch oft verweisen. Es ist natürlich möglich, dass die Duchoborzen von heute diesen Aspekt als einen so natürlichen Teil ihres Lebens verstehen, dass sie nicht erwarten, danach gefragt zu werden. Es könnte aber auch sein, dass ein solcher weißer Fleck im Kontext des modernen Kanada einfach dem Lauf der Zeit zuzuschreiben ist und dem Einfluss der Technik auf die heutige Lebensweise, ganz zu schweigen vom Faktor der kulturellen Assimilation und den Mischehen. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Duchoborzen den Schlachtszenen in Krieg und Frieden eher ablehnend gegenüberstehen ebenso wie ihr Zögern, dieses Buch Heranwachsenden vorbehaltlos zur Lektüre zu empfehlen, von einem heutigen Standpunkt aus leicht erklärbar. Dennoch zeigt die durchgängig positive Bewertung dieses Romans, dass die Einstellung der heutigen Duchoborzen zu Tolstojs Werk nicht dogmatisch rigide ist und dass sie eher zu einer differenzierten Betrachtung bereit sind. Interessanterweise geben die meisten Befragten diesen Roman als das erste Buch von Tolstoj an, das sie gelesen haben, was natürlich auch damit zusammenhängen könnte, dass Krieg und Frieden allgemein im kanadischen Schulkontext sehr präsent und damit für junge Leser leicht zugänglich ist (wozu sicherlich auch die Verfilmungen beigetragen haben). Möglicherweise wird die nächste Generation der kanadischen Duchoborzen Tolstojs Werke, die er eigens für Kinder geschrieben hat, etwas stärker beachten, vor allem wenn sie eigene Kinder haben und das Bedürfnis verspüren, Tolstojs Werk besser kennen zu lernen. Diese Umfrage kann als Beweis dafür dienen, welche Relevanz Tolstojs Leben, seinem Werk und seinen Ideen in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts immer noch zukommt, zugegebenermaßen in den Augen einer Grup-

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pierung, die eine traditionell enge Bindung zum Schriftsteller hat. Zugleich können die Ergebnisse unserer Umfrage auch den Duchoborzen selbst als Anregung dienen, sich an weitergehenden Diskussionen über diejenigen Punkte zu beteiligen, in denen die Umfrage widersprüchliche Ergebnisse erbrachte, sowie nicht zuletzt dazu, sich die Notwendigkeit, das Andenken und die Ideen Tolstojs noch stärker bewusst zu machen.

Anmerkungen Dieser Beitrag ist eine vom Autor überarbeitete Fassung zweier Kapitel (Einleitung und Kapitel 6) des Buches: A. Donskov, Leo Tolstoy and the Canadian Doukhobors. An Historic Relationship, Ottawa 2005. 1 Iskra Nr. 1647, 1987, 2f. 2 Es gilt indessen zu beachten, dass laut der Ethnographin Svetlana Inikova diese Bezeichnung »zum ersten Mal im März 1786 in einem Bericht des Erzbischofs Nikifor von Slovjansk und Cherson an die Synode auftaucht. Im November desselben Jahres wurde die Eparchie von Slovjansk und Cherson in die Eparchie Ekaterinoslav eingegliedert, die Erzbischof Ambrosius unterstand« (S. Inikova, The History of the Doukhobors in the Archives of Vladimir D. Bonch-Bruevich, übers. u. hg. v. K. Tarasoff, Ottawa 1999, 2). 3 Für weiterführende Informationen zur Geschichte der Duchoborzen siehe das in Anm. 2 erwähnte Buch von Svetlana Inikova sowie G. Woodcock/I. Avakumovic, The Doukhobors, Toronto 1968; K. Tarasoff, Spirit Wrestlers. Doukhobor Pioneers’ Strategies for Living (Buch mit CD-Rom), Ottawa 2002; J. Woodsworth (Hg.), The Doukhobors 1895–1943, Ottawa 21997 (= CRCR Document Series, 8); J. Woodsworth (Hg), Russian Roots & Canadian Wings. Russian Archival Documents on the Doukhobor Emigration to Canada, Ottawa 1999. 4 Siehe A. Donskov, Leo Tolstoy – Peter Verigin. Correspondence, übers. v. J. Woodsworth, Ottawa 1995 sowie meinen Artikel »Peter V. Verigin«, in: Dictionary of Canadian Biography 15, 2005, 1032–1036. 5 Vgl. insbesondere die Kapitel 2 und 3 (S. 39–103) in meinem Buch Leo Tolstoy and the Canadian Doukhobors. 6 Zur Auswanderung der Duchoborzen nach Kanada siehe A. Donskov (Hg), Sergej Tolstoy and the Doukhobors. A Journey to Canada, zsgest. v. T. Nikiforova, übers. v. J. Woodsworth, Ottawa/Moskau 1998. 7 Zu Verigins Emigration siehe die in Anmerkung 4 erwähnte Korrespondenz von Tolstoj und Verigin, insbesondere 38–54. 8 Vgl. die Bibliographie in meinem Buch Leo Tolstoy and the Canadian Doukhobors, 437–467. 9 Iskra erscheint seit 1943, zunächst als Informationsbulletin, später als Zeitschrift. 10 Iskra, Nr. 1905, 2001. 11 Ausgefüllte Fragebögen und Briefe trafen auch noch mehrere Jahre nach Auswertung der Resultate ein, wobei sich die verspäteten Rückmeldungen nicht wesentlich von den publizierten Ergebnissen unterschieden. 12 Dafür ließen sich etwa folgende Beispiele anführen: a) SRG-Mitglieder haben an mehreren Duchoborzen-Konferenzen in Grand Forks und Castelgar (British Columbia)

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teilgenommen und werden auch weiterhin regelmäßig in Fragen, die für beide Seiten relevant sind, von Duchoborzen-Historikern wie Eli A. Popoff und Koozma Tarasoff konsultiert; b) auf meine Anfrage hin steuerten diese beiden Historiker sowie der Duchoborzen-Künstler Jan Kabatoff Gastbeiträge zu meinem Buch Leo Tolstoy and the Canadian Doukhobors bei (siehe 211–237); c) 1996 trat der Kurator des DuchoborzenMuseums Larry Ewashen aus Castlegar auf einer internationalen Konferenz an der University of Ottawa, die dem Thema »Tolstoj und die Brüderlichkeit« gewidmet war, als Gastredner zum Thema »Tolstoy and the Doukhobors today« auf – siehe den Tagungsband: A. Donskov/J. Woodsworth (Hg.), Lev Tolstoy and the Concept of Brotherhood, Ottawa 1996; d) 1999 figurierte die SRG als Sponsor einer größeren internationalen Konferenz an der University of Ottawa anlässlich der Einhundertjahrfeier der Duchoborzen in Kanada – siehe den Tagungsband: A. Donskov/J. Woodsworth/C. Gaffield (Hg.), The Doukhobor Centenary in Canada. A MultiDisciplinary Perspective on their Unity and Diversity, Ottawa 2000; e) auf Initiative des renommierten Duchoborzen-Historikers Eli A. Popoff arbeitet ein Mitglied der SRG zur Zeit an der englischen Übersetzung von Valentin Bulgakovs Christianskaja ˙etika (Christliche Ethik; ein Überblick über Tolstojs Auslegung des Christentums), die von der SRG ediert werden soll. 13 Siehe Vera Kanyginas Artikel über Tolstojs Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder als Pflichtlektüre in den Sonntagsschulen der Duchoborzen (Iskra, Nr. 1484, 1978, 28–31). 14 1 Joh 4,16. 15 Eine der befragten Personen, P.I. Solov’ev, schrieb schon vor vielen Jahren in der Zeitschrift Iskra: »Für uns Duchoborzen wie auch für viele andere, die auf der Suche nach spirituellen Werten in dieser Welt sind, ist der spirituelle Aspekt bei Tolstoj das Wesentliche, seine Suche nach dem Sinn des Lebens, seine Suche nach Wahrheit … und Liebe« (Nr. 1484, 1978, 2).

Werkverzeichnis

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Verzeichnis der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs Über das Gebet (O molitve) 1852, Fragment, PSS 1: 247f. Über die Religion (O religii) 1865, Fragment, PSS 7: 125–127. Leben und Leiden Justins des Märtyrers und Philosophen (Zˇitie i stradanija muˇcenika Jutina filosofa) 1874/75, Fragment, PSS 17: 137f. Über das künftige Leben jenseits von Zeit und Raum (O buduˇsˇcej ˇzizni vne vremeni i prostranstva) 1875, Fragment, PSS 17: 338f. Über die Seele und ihr Leben jenseits des uns bekannten und verständlichen Lebens (O duˇse i ˇzizni ee vne izvestnoj i ponjatnoj nam ˇzizni) 1875, Fragment, PSS 17: 340–352. Über die Bedeutung der christlichen Religion (O znaˇcenii christianskoj religii) 1875/76, Fragment, PSS 17: 353–356. Definition von Religion und Glaube (Opredelenie religii – very) 1875/76, Fragment, PSS 17: 357f. Christlicher Katechismus (Christianskij katichizis) 1877, Fragment, PSS 17: 363–368. Gespräch über Glauben und Wissen (Sobesedniki) 1877/78, Fragment, PSS 17: 369–385. Was kann der Christ tun, was darf er nicht (Cˇto moˇzno i ˇcego nel’zja delat’ christianinu) 1879, PSS 90: 123f. Das Reich Gottes (Carstvo boˇzie) 1879, PSS 90: 125f. Wessen sind wir? (Cˇ’i my?) 1879, PSS 90: 127–131. Kirche und Staat (Cerkov’ i gosudarstvo) 1879, Fragment, PSS 23: 475–483. Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien (Soedinenie i perevod ˇcetyrech Evangelij) 1879–81, PSS 24: 7–798. Aufzeichnungen eines Christen (Zapiski christianina) 1881, Fragment, PSS 49: 7–21. Brief an Alexander III. (Imperatoru Aleksandru III) 1881, PSS 63: 44–52. Beichte (Ispoved’) 1879–82, PSS 23: 1–59. Kurze Darlegung des Evangeliums (Kratkoe izloˇzenie Evangelija) 1881–83, PSS 24: 801–938. Untersuchung der dogmatischen Theologie (Issledovanie dogmatiˇceskogo bogoslovija) 1879–84, PSS 23: 60–303. Mein Glaube (V ˇcem moja vera?) 1883/84, PSS 23: 304–465. Die Bergpredigt (Nagornaja propoved’) 1884, PSS 25: 530f. Die Versuchung unseres Herrn Jesus Christus (Iskuˇsenie gospoda naˇsego Iisusa Christa) 1885, PSS 25: 36f. Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus (Stradanija gospoda naˇsego Iisusa Christa) 1885, PSS 25: 114. Die Lehre der zwölf Apostel (Uˇcenie dvenadcati apostolov) 1885, PSS 25: 416–428. Chinesische Weisheit (Kitajskaja mudrost’) 1884, Fragment, PSS 25: 532–535. Siddharta, genannt Buddha, d.h. der Heilige (Siddarta, prozvannyj Buddoj, t.e. svjatym) 1885/86, Fragment, PSS 25: 540–543, 659–662. Was sollen wir denn tun? (Tak ˇcto ˇze nam delat’?) 1882–86, PSS 25: 182–411. Über die Glaubensbekenntnisse (O verach) 1886, PSS 26: 572–577. Kalender mit Sprichworten für das Jahr 1887 (Kalendar’ s poslovicami na 1887 g.) 1886, PSS 40: 9–66. Über das Leben (O ˇzizni) 1886/87, PSS 26: 313–442.

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Das Heil nur für alle (Blago tol’ko dlja vsech) 1887, Fragment, PSS 26: 635–647. Es ist Zeit, sich zu besinnen! (Pora opomnit’sja!) 1888, PSS 26: 443–445. Warum die Menschen sich betäuben (Dlja ˇcego ljudi odurmanivajutsja?) 1890, PSS 27: 269–285. Über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern (Ob otnoˇsenijach meˇzdu polami) 1890, PSS 27: 286–289. Die erste Stufe (Pervaja stupen’) 1891, PSS 29: 57–85. Über den Hunger (O golode) 1891, PSS 29: 86–116. Eine schreckliche Frage (Straˇsnyj vopros) 1891, PSS 29: 117–125. Das Reich Gottes ist in euch (Carstvo Boˇzie vnutri vas) 1890–93, PSS 28: 1–306. Forderungen der Liebe (Trebovanija ljubvi) 1893, PSS 42: 260–264. Das Nichtstun (Nedelanie) 1893, PSS 29: 173–201 / PSS 90: 22–44. Religion und Sittlichkeit (Religija i nravstvennost’) 1893, PSS 39: 3–26. Christentum und Patriotismus (Christianstvo i patriotizm) 1894, PSS 39: 27–80. Wozu lebe ich? (Zaˇcem ja ˇzivu?) 1894/95, Fragment, PSS 90: 133–137. Unsinnige Träume (Bessmyslennye meˇctanija) 1895, PSS 31: 185–192. Christenverfolgung in Russland (Gonenie na christian v Rossii) 1895, PSS 39: 99–105. Es ist beschämend (Stydno) 1895, PSS 31: 72–77. Patriotismus oder Frieden? (Patriotizm ili mir?) 1896, PSS 90: 45–53. Gott oder dem Mammon? (Bogu ili mammone) 1896, PSS 39: 106–112. Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen? (Kak ˇcitat’ Evangelie i v ˇcem ego suˇsˇcnost’?) 1896, PSS 39: 113–116. Das Nahen des Endes (Pribliˇzenie konca) 1896, PSS 31: 78–86. Nachwort zum Aufruf Helft! (Posleslovie k vozzvaniju »Pomogite!«) 1896, PSS 39: 192–196. Die christliche Lehre (Christianskoe uˇcenie) 1894–97, PSS 39: 117–191. Was ist Kunst? (Cˇto takoe iskusstvo?) 1897/98, PSS 30: 27–203. Die Wurzel des Übels (Koren’ zla) 1898, PSS 34: 329–338. Carthago delenda est, 1898, PSS 39: 197–205. Zwei Kriege (Dve vojny) 1898, PSS 31: 97–101. Brief an einen Feldweibel (Pis’mo k fel’dfebelju) 1899, PSS 90: 54–59. Patriotismus und Regierung (Patriotizm i pravitel’stvo) 1900, PSS 90: 425–444. Die Sklaverei unserer Zeit (Rabstvo naˇsego vremeni) 1900, PSS 34: 144–199. Du sollst nicht töten (Ne ubij) 1900, PSS 34: 200–205. Wo ist der Ausweg? (Gde vychod?) 1900, PSS 34: 206–215. Muss es denn wirklich so sein? (Neuˇzeli ˙eto tak nado?) 1900, PSS 34: 216–238. An das chinesische Volk (Obraˇsˇcenie k kitajskomu narodu) 1900, PSS 34: 339–342. An den Zaren und seine Gehilfen (Carju i ego pomoˇsˇcnikam) 1901, PSS 34: 239–244. Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar 1901 (Otvet na postanovlenie Sinoda ot 20–22 fevralja) 1901, PSS 34: 245–253. Das einzige Mittel (Edinstvennoe sredstvo) 1901, PSS 34: 254–269. Denkzettel für Soldaten (Soldatskaja pamjatka) 1901, PSS 34: 280–283. Denkzettel für Offiziere (Oficerskaja pamjatka) 1901, PSS 34: 284–290. Über die Glaubenstoleranz (O veroterpimosti) 1901, PSS 34: 291–298. Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen? (Cˇto takoe religija i v ˇcem suˇsˇcnost’ eja?) 1901/02, PSS 35: 157–198. An die Geistlichkeit (K duchovenstvu) 1902, PSS 34: 299–318. An das arbeitende Volk (K raboˇcemu narodu) 1902, PSS 35: 121–156. An die Politiker (K politiˇceskim dejateljam) 1903, PSS 35: 199–215. Über das Bewusstsein des geistigen Anfangs (O soznanii duchovnogo naˇcala) 1903, PSS 90: 141f.

Werkverzeichnis

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Gedanken weiser Männer (Mysli mudrych ljudej na kaˇzdyj den’) 1903, PSS 40: 67–216. Besinnt euch! (Odumajtes’!) 1904, PSS 36: 100–148. Der grüne Stab (Zelenaja paloˇcka) 1904/05, PSS 36: 407–415. Buddah (Budda) 1905, PSS 41: 96–101. Pascal (Paskal’) 1905, PSS 41: 477–484. Petr Chelˇcick´y (Petr Chel’ˇcickij) 1905, PSS 42: 46–50. Lamennais (Lamen˙e) 1905, PSS 42: 160–165. Die Lehre der zwölf Apostel. Vorwort (Uˇcenie dvenadcati apostolov. Predislovie) 1905, PSS 42: 318–321. Eines ist not (Edinoe na potrebu) 1905, PSS 36: 166–205. Wie soll sich das Arbeitervolk befreien? (Kak osvobodit’sja raboˇcemu narodu?) 1905, PSS 90: 69–74. Die große Sünde (Velikij grech) 1905, PSS 36: 206–230. Wie und wozu leben? (Kak i zaˇcem ˇzit’?) 1905, PSS 36: 397f. Drei Unwahrheiten (Tri nepravdy) 1905, PSS 36: 399–406. Das Ende eines Zeitalters (Konec veka) 1905, PSS 36: 231–277. Brief an einen Chinesen (Pis’mo k kitajcu) 1906, PSS 36: 290–299. Aufruf an die Russen (Obraˇsˇcenie k russkim ljudjam) 1906, PSS 36: 304–314. Über die Bedeutung der russischen Revolution (O znaˇcenii russkoj revoljucii) 1906, PSS 36: 315–362. Was tun? (Cˇto ˇze delat’?) 1906, PSS 36: 363–371. Die wahre Freiheit (Istinnaja svoboda) 1907, PSS 90: 77–82. Warum sich die christlichen Völker überhaupt und besonders das russische jetzt in einer erbärmlichen Lage befinden (Poˇcemu christianskie narody voobˇsˇce i v osobennoti russkij nachodjatsja teper’ v bedstvennom poloˇzenii) 1907, PSS 37: 348–359. Unsere Lebensauffassung (Naˇse ˇzizneponimanie) 1907, PSS 37: 23–30. Gespräche mit Kindern über ethische Fragen (Beseda s det’mi po nravstvennym voprosam) 1907, PSS 37: 31–38. Du sollst niemanden töten! (Ne ubij nikogo) 1907, PSS 37: 39–54. Liebet einander! (Ljubite drug druga) 1907, PSS 37: 55–62 / PSS 42: 324–331. Vertraut euch selbst! (Ver’te sebe) 1906/07, PSS 37: 63–66. Das Wesen der christlichen Lehre (Suˇsˇcnost’ christianskogo uˇcenija) 1908, PSS 41: 65–69. Lesezyklus (Krug ˇctenija) 1904–1908, PSS 41/42. Erinnerungen an die Verurteilung eines Soldaten (Vospominanija o sude nad soldatom) 1908, PSS 37: 67–75. Ich kann nicht schweigen (Ne mogu molˇcat’) 1908, PSS 37: 83–96. Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder (Uˇcenie Christa, izloˇzennoe dlja detej) 1908, PSS 37: 97–147. Das Gesetz der Gewalt und das Gesetz der Liebe (Zakon nasilija i zakon ljubvi) 1908, PSS 37: 149–221. Religion und Wissenschaft (Religija i nauka) 1908, PSS 37: 360–362 / PSS 40: 427–429. Das Heil der Liebe (Blago ljubvi) 1908, PSS 37: 363–365. Die Zeit ist gekommen (Vremja priˇslo) 1908, PSS 37: 366–371. Die Todesstrafe und das Christentum (Smertnaja kazn’ i christianstvo) 1909, PSS 38: 39–48. Letter to a Hindoo (Pis’mo k indusu) 1908/09, PSS 37: 245–272. Brief an einen Revolutionär (Pis’mo revoljucioneru) 1909, PSS 38: 263–267. Über das Recht. Brief an einen Jura-Studenten (Pis’mo studentu o prave) 1909, PSS 38: 54–61. Über die Erziehung (O vospitanii) 1909, PSS 38: 62–69.

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Eine unausweichliche Umwälzung (Neizbeˇznyj perevorot) 1909, PSS 38: 72–99. Das eine Gebot (Edinaja zapoved’) 1909, PSS 38: 100–118. Gebete (Molitvy) 1909, PSS 90: 143–147. Vortrag für den Friedenskongress in Stockholm (Doklad, prigotovlennyj dlja kongressa mira v Stokgol’me) 1909, PSS 38: 119–125, 311–318. Über die Wissenschaft (O nauke) 1909, PSS 38: 132–149. Worin besteht die Hauptaufgabe eines Lehrers (V ˇcem glavnaja zadaˇca uˇcitelja?) 1909, PSS 38: 156–159. Es ist Zeit, zu begreifen (Pora ponjat’) 1909, PSS 38: 160–169. Noch einmal über die Wissenschaft (Eˇsˇce o nauke) 1909, PSS 38: 170–174. Sprüche Mohammeds, die nicht in den Koran eingegangen sind (Izreˇcenija Magometa, ne voˇsedˇsie v Koran), 1909, PSS 40: 343–349. Die Lehre des Laotse (Uˇcenie Lao-Tze) 1909, PSS 40: 350f. Sprüche des Laotse (Izreˇcenija Lao-Tze) 1909, PSS 40: 352–362. Für die Seele (Dlja duˇsi) 1909, PSS 40: 363–395. Für jeden Tag (Na kaˇzdyj den’) 1906–1910, PSS 43/44. Briefe an Mahatma Gandhi, 1909/10, PSS 80: 110–112; PSS 81: 247f / PSS 82: 137–141. Du sollst nicht töten (Ne ubij) 1910, PSS 90: 148f. An den Slavenkongress in Sofia (Slavjanskomu s»ezdu v Sofii) 1910, PSS 38: 175–177. Über den Wahnsinn (O bezumii) 1910, Fragment, PSS 38: 395–411. Über den Sozialismus (O socializme) 1910, Fragment, PSS 38: 426–432. Der Weg des Lebens (Put’ ˇzizni) 1910, PSS 45.

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

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Bibliographie der deutschen Übersetzungen der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs

= L.N. Tolstoj, Sämtliche Werke, hg. v. R. Löwenfeld, 33 Bde., Leipzig 1901–1907 I. Serie, Bd. 1–12; II. Serie, Bd. 1–2; III. Serie, Bd. 1–19 I. Sozial-ethische Schriften. – II. Theologische Schriften. – III. Dichterische Schriften. B = L.N. Tolstoj, Gesammelte Werke, hg. v. R. Löwenfeld, 35 Bde., Jena 1910–1912 Neu-Einteilung: I. Serie, Bd. 1–21; II. Serie, Bd. 1–14 I. Dichterische Schriften. – II. Schriften zur Religion, Pädagogik und Kunst. C = L.N. Tolstoi, Religions- und gesellschaftskritische Schriften, neu hg. und durchges. v. E. Schmidt u. P. Dörr, 8 Bde., München 1990–1994 (Neudr. ausgewählter Ausgaben v. R. Löwenfeld, Leipzig, Jena 1901–1911). D = L.N. Tolstoj, Ausgewählte Werke, 12 Bde., hg. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1928–1929. E = L.N. Tolstoi, Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Dieckmann u. G. Dudek, Berlin 1964ff (Bde. in versch. Aufl.). A

O religii (1865) Über die Religion, übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Christianskij katichizis (1877) Christlicher Katechismus, übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Cˇ’i my? (1879) Wessen sind wir?, übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Cerkov’ i gosudarstvo (1879) Ernste Gedanken über Staat und Kirche, aus dem russ. Manuskript übers., Berlin 1891. Kirche und Staat, übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Soedinenie i perevod ˇcetyrech Evangelij (1879–81) Vorrede zum Werke Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien, übers. v. N. Syrkin, in: L.N. Tolstoi, Das Evangelium. Kurze Auslegung mit Anmerkungen aus dem Werke »Vereinigung und Uebersetzung der vier Evangelien«, Berlin 1902. Das Wunder der Auferstehung Christi (aus dem Buch Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien), übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Zapiski christianina (1881) Aufzeichnungen eines Christen, übers. v. G. Dalitz, in: Tagebücher 1 (1847–1884), Berlin 1978E 18 (auch in: L.N. Tolstoi, Tagebücher 1847–1910, München 1979). Imperatoru Aleksandru III (1881) An den Zaren Alexander III., übers. v. P.A. Sergejenko, in: L. Tolstoi, Briefe 1848–1910, gesamm. u. hg. v. P.A. Sergejenko, Berlin 1911 u. 1928.

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

An Alexander III., übers. v. K. Nötzel, in: L. Tolstoi, Religiöse Briefe, übers.u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922. An Alexander III., übers. v. G. Dalitz, in: Briefe, Bd. 1: 1844–1885, Berlin 1971E 16. Brief an Alexander III., übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Ispoved’ (1879–82) Bekenntnisse, übers. v. H. Samson-Himmelstjerna, Leipzig 1886. Meine Beichte, übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1890 (weitere Auflagen). Meine Beichte, übers. v. A. Markow, Berlin 1890 (überarb. Neuaufl. Berlin 2010). Meine Beichte, übers. v. W. Lilienthal, Berlin 41895 (weitere Auflagen). Meine Beichte, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1901A I/1 (Jena 1911B II/1 u. 1922, Düsseldorf/ Köln 1978, München 1990C 1, Kreuzlingen/München 2008). Meine Beichte, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Beichte, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Beichte (Auszug), übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Kratkoe izloˇzenie Evangelija (1881–83) Kurze Auslegung des Evangeliums, übers. v. F.W. Ernst, Berlin 1891. Kurze Darlegung des Evangeliums, übers. v. P. Lauterbach, Leipzig 1892. Leben und Lehre Jesu [Kapitelzusammenfassungen der Kurzen Darlegung des Evangeliums], übers. v. N. Syrkin, in: L.N. Tolstoi, Über Gott und Christentum, Berlin 1896 u. 1901. Das Leben und die Lehre Christi [Kapitelzusammenfassungen der Kurzen Darlegung des Evangeliums], übers. v. L.A. Hauff, in: L.N. Tolstoi, Gott und Unsterblichkeit, Berlin 1901. Das Evangelium. Kurze Auslegung mit Anmerkungen aus dem Werke »Vereinigung und Uebersetzung der vier Evangelien«, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1902 (ohne Anmerkungen neu abgedruckt in: L.N. Tolstoi, Wahrheit will gefunden werden. Aufzeichnungen eines Gottsuchers, hg. v. M. Baumotte, Zürich/Düsseldorf 1998) [ohne Kapitelzusammenfassungen]. Kurze Darlegung des Evangeliums [Kapitelzusammenfassungen], übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Issledovanie dogmatiˇceskogo bogoslovija (1879–84) Vernunft und Dogma. Eine Kritik der Glaubenslehre, übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1891 [unvollst.]. Kritik der dogmatischen Theologie, übers. v. C. Ritter, 2 Bde., Leipzig 1904A II/1–2 (Jena 1911B II/2–3). Schlussbetrachtung aus der Untersuchung der dogmatischen Theologie, übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. V ˇcem moja vera? (1883/84) Worin besteht mein Glaube. Eine Studie, übers. v. S. Behr, Leipzig 1885. Mein Glaube, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1902A I/2 (Jena 1911B II/4 u. 1917, München 1990C 2). Religion, Berlin 1903. Mein Glaube (Auszüge), übers. v. O. Radetzkaja, im vorliegenden Band. Stradanija gospoda naˇsego Iisusa Christa (1885) Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band.

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

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Tak ˇcto ˇze nam delat’? (1882–86) Was sollen wir denn thun? Ev. Lucä 3,10, übers. v. H. Samson-Himmelstjerna, Leipzig 1886. Was sollen wir also thun?, übers. v. A. Scholz, Berlin 1891. Was sollen wir denn thun?, übers. v. R. Löwenfeld, 2 Bde., Leipzig 1902A I/3–4 (Jena 1911B II/5–6, München 1991C 3–4). Was sollen wir denn tun?, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. O ˇzizni (1886/87) Über das Leben, übers. v. S. Behr, Leipzig 1889. Über das Leben, übers. v. A. Berger, Berlin 1891 u. 1902. Das Leben, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1902A I/5 (Jena 1911B II/7 u. 1924, München 1992C 5). Über das Leben (Auswahl), in: Weltanschauung, Hamburg u.a. 1929D 12. Über das Leben (Auszüge), übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Dlja ˇcego ljudi odurmanivajutsja? (1890) Warum die Menschen sich betäuben, übers. v. R. Löwenfeld, Berlin 1891 (Leipzig 1902A I/12, Jena 1911B II/11). Ob otnoˇsenijach meˇzdu polami (1890) Der Aufsatz fand Eingang in Cˇertkovs Anthologie O polovom voprose. Mysli L.N. Tolstogo (1901). Die Anthologie wurde 1901 unter dem Titel [Über] die sexuelle Frage mehrfach ins Deutsche übersetzt. Siehe unter Anthologien. Pervaja stupen’ (1891) Die erste Stufe, übers. v. W. Henckel, Berlin 1892. Die Enthaltsamkeit, eine Forderung wider den Luxus unserer Zeit, Lorch 1931. O golode (1891) Über die Hungersnot, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Carstvo Boˇzie vnutri vas, ili christianstvo ne kak mistiˇceskoe uˇcenie, a kak novoe ˇzizneponimanie (1890–93) Gottes Reich ist in Euch, oder Das Christentum nicht als eine mystische Lehre, sondern als neue Lebensanschauung, vollst. vom Verf. genehmigte Übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1894. Das Reich Gottes ist [inwendig] in Euch oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre, übers. v. R. Löwenfeld, Stuttgart 1894 (Leipzig 1903A I/6–7, Jena 1911B II/8–9). Das Reich Gottes ist in euch (Auszüge), übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Trebovanija ljubvi (1893) Forderungen der Liebe, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 2, Dresden 1907 (rev. von Ch. Körner, München 2010).

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Nedelanie (1893) Das Nichtstun. Mit einer Rede Emile Zola’s und einem Briefe Alexander Dumas’, übers. v. A. Garbell, Berlin 1893. Das Nichtstun. Nebst einer Rede von Emile Zola und einem Brief von Alex. Dumas, übers. v. W. Henckel, in: L.N. Tolstoi, Das Reich Gottes in uns, München 1894. Religija i nravstvennost’ (1893) Religion und Moral. Antwort auf eine in der »Ethischen Kultur« gestellte Frage, übers. v. S. Behr, Berlin 1894. Religion und Sittlichkeit, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Christianstvo i patriotizm (1894) Patriotismus und Christentum, übers. v. A. Berger, Berlin 1894. Christentum und Vaterlandsliebe, übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1894. Bessmyslennye meˇctanija (1895) Sinnlose Hirngespinste. Eine Auseinandersetzung über Autokratie und Demokratie, aus dem unveröffentl. Nachlass. des Dichters hg. v. W. Tschertkow, Bern 1918. Unsinnige Träume, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Gonenie na christian v Rossii (1895) Christenverfolgung in Russland im Jahre 1895, übers. v. M. v. O., Berlin 1896. Die Christenverfolgung in Russland 1895, übers. v. L.A. Hauff, in: L.N. Tolstoi, Du sollst nicht töten!, Berlin 1901. Stydno (1895) Es ist beschämend, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Patriotizm ili mir? (1896) Patriotismus oder Frieden?, übers. v. S. Behr, Berlin 1896. Kak ˇcitat’ Evangelie i v ˇcem ego suˇsˇcnost’? (1896) Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen?, übers. v. N. Syrkin, in: L.N. Tolstoi, Über Gott und Christentum, Berlin 1901. Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen?, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Pribliˇzenie konca (1896) Das Ende naht, übers. v. W. Henckel, Zürich 1897 (mehrere Auflagen). Krieg und Vernunft, übers. v. A. Markow, Berlin 1897 (auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Christianskoe uˇcenie (1894–97) Die christliche Lehre, vom Verf. autorisierte u. revidierte dt. Ausg., hg. v. E.H. Schmitt, Berlin 1898 [unvollst.].

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

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Cˇto takoe iskusstvo? (1897/98) Was ist Kunst? Studie, übers. v. A. Markow, Berlin 1898 (weitere Auflagen und Nachdrucke). Was ist Kunst?, übers. v. M. Feofanoff, Leipzig 1902A I/10 (Jena 1911B II/14, 1919, München 1993C 6). Was ist Kunst?, übers. v. G. Dalitz, in: L.N. Tolstoi, Ästhetische Schriften, Berlin 1968E 14 (2. Aufl. 1984; auch abgedruckt in: L.N. Tolstoi, Über Literatur und Kunst, Leipzig 1980). Was ist Kunst? (Auszüge), übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Carthago delenda est (1898) Carthago delenda est, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Patriotizm i pravitel’stvo (1900) Patriotismus und Regierung, übers. v. W. Czumikow, Leipzig 1900 u. 1901A I/12 (Jena 1911B II/11, Zürich 1917, Berlin 1978 u. 1983; auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Patriotismus und Regierung, übers. v. N. Syrkin, in: L.N. Tolstoj, Über Gott und Christentum, Berlin 1901. Rabstvo naˇsego vremeni (1900) Die Sklaverei unserer Zeit, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1900 u. 1901. Die Sklaverei unserer Zeit, übers. v. L. A. Hauff, Berlin 1900 u. 1901. Die Sklaverei unserer Zeit, übers. v. W. Tronin, Genf / Gießen 1901. Moderne Sklaven, übers. v. W. Czumikow, Leipzig 1901A I/11 (Jena 1911B II/10). Die Sklaverei unserer Zeit, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Die Sklaverei unserer Zeit, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15 (auch abgedruckt in: Lew Tolstoi, Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin 1992). Ne ubij (1900) Du sollst nicht töten, übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1901. Du sollst nicht töten, Aus dem Russ., Treptow b. Berlin 1919 (= Propaganda d. individualist. Anarchismus, 9; auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Du sollst nicht töten, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Gde vychod? (1900) Wo ist der Ausweg?, übers. v. W. Czumikow, in: Ein Aufruf an die Menschheit, Leipzig 1901A I/11 (Jena 1911B II/10). Neuˇzeli ˙eto tak nado? (1900) Ein Aufruf an die Menschheit. Muss es denn wirklich so sein?, übers. v. W. Czumikow, Leipzig 1901A I/11 (Jena 1911B II/10).

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Carju i ego pomoˇsˇcnikam (1901) An den Zaren und seine Leute. Ein offener Brief, übers. v. R. Löwenfeld, in: Der Sinn des Lebens, Leipzig 1901 u. 1902A I/11 (Jena 1911B II/10). An den Zaren und seine Gehilfen, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Otvet na postanovlenie Sinoda ot 20–22 fevralja i na poluˇcennye mnoju po ˙etomu sluˇcaju pis’ma (4. 4. 1901) Antwort an den Synod, übers. v. R. Löwenfeld, in: Der Sinn des Lebens, Leipzig 1901 u. 1902A I/11 (Jena 1911B II/10). Antwort an den Synod, übers. v. N. Syrkin, in: Graf Leo Tolstoi und der heilige Synod, Berlin 1902 u. 1903. Antwort auf die Verordnung des Synods vom 20.–22. Februar und die von mir aus diesem Anlass erhaltenen Briefe, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20. bis 22. Februar und auf die aus diesem Anlass bei mir eingegangenen Briefe, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15 (auch abgedruckt in: Lew Tolstoi, Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin 1992). Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar 1901, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Edinstvennoe sredstvo (1901) Das einzige Mittel, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1901A I/12 (Jena 1911B II/11). Oficerskaja pamjatka (1901) »Denkzettel für Offiziere«, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. O veroterpimosti (1901) Über Gewissensfreiheit, übers. v. R. Löwenfeld, in: Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen, Leipzig 1902A I/11 (Jena 1911B II/10). Über die Duldung, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Cˇto takoe religija i v ˇcem suˇsˇcnost’ eja? (1901/02) Was ist Religion?, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1902. Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen, übers. v. I. Ostrow, Leipzig 1902A I/11 (Jena 1911B II/10). K duchovenstvu (1902) An die Geistlichkeit, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. K raboˇcemu narodu (1902) An das arbeitende Volk, übers. v. A. Lubinow, Berlin 1902 u. 1903. An die Arbeiter, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1903A I/12 (Jena 1911B II/11). Odumajtes’! (1904) Besinnt Euch!, übers. v. A. Sˇkarvan, Berlin 1904. Besinnet euch! Ein Wort zum russisch-japanischen Krieg, übers. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1904A I/12 (Jena 1911B II/11, 1916, 1918).

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

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Zelenaja paloˇcka (1904/05) Der grüne Stab, übers. v. W. Löwenthal, in: Religion und Geisteskultur 5, 1911, H. 2 (auch abgedruckt in: L.N. Tolstoj, Zeiten des Erwachens, hg. v. A. Dornemann, Freiburg i. Br. u.a. 1991 / Tolstoi-Brevier, hg. v. A. Dornemann, Stuttgart 1998). Das Grüne Stäbchen, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg 1929D 12. Budda (1905) Buddha, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 1, Dresden 1906 (rev. von Ch. Körner, München 2010). Buddha, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Paskal’ (1905) Pascal, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 2, Dresden 1907 (rev. von Ch. Körner, München 2010). Petr Chel’ˇcickij (1905) Petr Chelˇcick´y, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 2, Dresden 1907 (rev. von Ch. Körner, München 2010). Lamen˙e (1905) Lamennais, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 2, Dresden 1907 (rev. von Ch. Körner, München 2010). Uˇcenie dvenadcati apostolov. Predislovie (1905) Die Lehre der zwölf Apostel. Vorwort, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, Bd. 2, Dresden 1907 (rev. von Ch. Körner, München 2010). Edinoe na potrebu (1905) Eines ist not. Über die Staatsmacht, übers. v. A. Hess, München 1906 (auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Velikij grech (1905) Die große soziale Sünde. Was für das russische Volk und für alle Völker das Notwendigste ist, übers. v. M. Brumm, Leipzig 1905 (= Sozialer Fortschritt, 54/55). Die große Sünde, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Konec veka (1905) Das Ende eines Zeitalters. Die bevorstehende Umwälzung, übers. v. K. Holm, München 1906. Pis’mo k kitajcu (1906) Brief an einen Chinesen. Darlegung der Gefahren repräsentativer Verfassungen. Mit einem Anhang von Sprüchen chinesischer und buddhistischer Weisheit, mit einem Vorw. hg. v. E.H. Schmitt, übers. v. A. Sˇkarvan, Hannover 1911. An einen Chinesen, übers. v. P.A. Sergejenko, in: L. Tolstoi, Briefe 1848–1910, gesamm. u. hg. v. P.A. Sergejenko, Berlin 1911 u. 1928.

742

Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

An einen Chinesen, übers. v. K. Nötzel, in: L. Tolstoi, Religiöse Briefe, übers. u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922. An Ku Hung Ming, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Obraˇsˇcenie k russkim ljudjam. K pravitel’stvu, revoljucioneram i narodu (1906) Der Weg zur sozialen Befreiung. Aufruf an die russische Regierung, die Revolutionäre und das Volk, übers. v. A. Sˇkarvan, hg. v. E. H. Schmitt, Berlin 1907 (unter dem Titel Aufruf an die Russen auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). O znaˇcenii russkoj revoljucii (1906) Die Bedeutung der russischen Revolution, übers. v. A. Hess, Oldenburg 1907 Suˇsˇcnost’ christianskogo uˇcenija (1908) Das Wesen der christlichen Lehre, übers. v. Ch. Körner, in: Für alle Tage. Ein Lebensbuch. Auf Grundlage der russ. Ausgabe letzter Hand von Ch. Körner revidierte und ergänzte Übersetzung v. E. Schmitt u. A. Sˇkarvan, München 2010. Das Wesen der christlichen Lehre, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Ne mogu molˇcat’ (1908) Ich kann nicht schweigen! Über die Hinrichtungen in Russland, übers. v. E. Rot, Berlin 1908. Ich kann nicht schweigen, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15 (auch abgedruckt in: Lew Tolstoi, Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin 1992). Uˇcenie Christa, izloˇzennoe dlja detej (1908) Die Lehre Christi dargestellt für Kinder, hg. v. E.H. Schmitt, übers. v. A. Sˇkarvan, Dresden 1909. Zakon nasilija i zakon ljubvi (1908) Das Gesetz der Gewalt und das Gesetz der Liebe, übers. v. A. Steinberg, Berlin 1909. Smertnaja kazn’ i christianstvo (1909) Die Todesstrafe und das Christentum, Berlin 1909. Die Todesstrafe und das Christentum, in: Weltanschauung. Ausw. v. W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Letter to a Hindoo (1908/09) Brief an einen Hindu, übers. v. A. Sˇkarvan, hg. v. E.H. Schmitt, Heidelberg 1910. Brief an einen Indier, übers. v. K. Nötzel, in: L. Tolstoi, Religiöse Briefe, übers. u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922. An einen Inder, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Brief an einen Hindu. Taraknath Das, Leo Tolstoi und Mahatma Gandhi, hg. v. C. Bartolf, Berlin 1997. Pis’mo k revoljucioneru (1909) An einen Revolutionär, übers. v. K. Nötzel, in: L. Tolstoi, Religiöse Briefe, übers. u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922.

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

743

Pis’mo studentu o prave (1909) Über das Recht. Briefwechsel mit einem Juristen, übers. v. A Sˇkarvan, hg. v. E.H. Schmitt, Heidelberg 1910. Über das Recht, in: Der freie Arbeiter. Anarchistisches Wochenblatt, Berlin, 8, 1911. An einen Studenten, übers. v. K. Nötzel, in: L. Tolstoi, Religiöse Briefe, übers. u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922. Molitvy (1909) Gebete, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Doklad, prigotovlennyj dlja kongressa mira v Stokgol’me (1909) Rede gegen den Krieg, Berlin 1920 u. 1921 (auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Vortrag für den Friedenskongress in Stockholm, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. O nauke (1909) Über die Wissenschaft, übers. v. A Sˇkarvan, samt briefl. Diskussion mit Tolstoi hg. v. E.H. Schmitt, Heidelberg 1910. Pora ponjat’ (1909) Begreift doch endlich!, übers. v. G. Dalitz, in: Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin 1974E 15. Izreˇcenija Magometa, ne voˇsedˇsie v Koran (1909) Aussprüche Mohammeds, die nicht in den Koran aufgenommen sind, übers. v. S.D. Nikolajew, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Uˇcenie Lao-Tze (1909) Über das Wesen der Lehre Lao tses, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Izreˇcenija Lao-Tze (1909) Aussprüche Lao tses [Auswahl], in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925. Perepiska Tolstogo s M.K. Gandi (1909/10) Korrespondenz mit Gandhi, in: Tolstoi und der Orient, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925 (auch abgedruckt in: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968). Korrespondenz mit Gandhi, vollst. übers.u. dokumentiert in: Brief an einen Hindu. Taraknath Das, Leo Tolstoi und Mahatma Gandhi, hg. v. C. Bartolf, Berlin 1997.

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Anthologien und Sammelausgaben Von Tolstoj zusammengestellte Anthologien (mit eigenen und fremden Texten) Mysli mudrych ljudej na kaˇzdyj den’ (1903) Gedanken weiser Männer, übers. v. A. Hess, München 1904. Krug ˇctenija (1904–1908) Für alle Tage. Ein Lebensbuch von Leo Tolstoi, dt. Ausg. v. E.H. Schmitt u. A. Sˇkarvan, 2 Bde., Dresden 1906–1907 (rev. u. erg. v. Ch. Körner, München 2010). Auszüge: Tolstois Kalender der Weisheit. Aufbauende und inspirierende Texte aus aller Welt, zusammengest. u. komm. v. L. Tolstoi, aus dem Amerikanischen übers. v. F. Cattani, hg. v. P. Sekirin, München 1999. Na kaˇzdyj den’ (1906–1910) Auszüge: Drei Tage, Gleichnisse, Aphorismen, Gebet (aus der Sammlung Für jeden Tag), übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. Put’ ˇzizni (1910) Der Lebensweg. Ein Buch für Wahrheitssucher, übers. v. A. Hess, Leipzig 1912.

Von Cˇertkov zusammengestellte Sammelausgaben mit kürzeren Texten Tolstojs (zu dessen Lebzeiten publiziert) Mysli o boge (1898) Gedanken über Gott, übers. v. E.H. Schmitt, in: L.N. Tolstoi, Die christliche Lehre, hg. v. E.H. Schmitt, Berlin 1898. Gedanken über Gott, mit Billigung des Autors zusammengest. u. übers. v. W. Czumikow, in: Ein Aufruf an die Menschheit, Leipzig 1901A I/11 (Jena 1911B II/10). Gedanken über Gott, übers. v. N. Syrkin, in: L.N. Tolstoj, Über Gott und Christentum, Berlin 1901. Gedanken von Gott, übers. v. L.A. Hauff, in: L.N. Tolstoi, Gott und Unsterblichkeit, Berlin 1901. Auswahl: Gedanken über Gott, übers. v. D. Trottenberg, im vorliegenden Band. O smysle ˇzizni (1901) Über den Sinn des Lebens, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1901. Der Sinn des Lebens, übers. v. W. Czumikow, München 1901. Der Sinn des Lebens, übers. v. M. Feofanoff, Leipzig 1901 u. 1902A I/11 (Jena 1911B II/10). O polovom voprose (1901) Die sexuelle Frage, gesammelt v. W. Tschertkoff, vollst. Übers. d. vielfach erg. u. erw. Ausg. d. russ. Originals, Berlin 1901. Über die sexuelle Frage, übers. v.H. von Carlawitz, Dresden c1901. Die sexuelle Frage, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1902. Über die sexuelle Frage, übers. v. M. Feofanoff, mit Vorw. v. W. Tschertkow, Leipzig 1901A I/12 (Jena 1911B II/11).

Bibliographie der deutschen Übersetzungen

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Tolstoj-Breviere und -Lesebücher Aufruf zur Bruderschaft. Eine Botschaft aus seinem Gesamtwerk, ausgew. u. übers. v. K. Nötzel, Wernigerode 1928 (= Russland-Bücherei, 1). Denken mit Tolstoi. Über Krieg und Frieden, Gott und die Welt, zusammengest. v. P. Bukowski, Zürich 1985. Gedanken über Gewalt, Krieg und Revolution. Aus seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen ausgewählt von V. Bulgakov, Berlin 1928. Insel-Almanach auf das Jahr 2010, hg. v. Ch. Lux u. H.-J. Simm, Frankfurt/M / Leipzig 2009. Ein Lesebuch für unsere Zeit, hg. v. E. Dieckmann, Berlin 1992. Reife Ähren. Betrachtungen, Gedanken und Bekenntnisse aus den Schriften und Briefen, gesamm., übers.u. hg. v. W. Henckel, Zürich 1898. So spricht Tolstoi, bearb. v. F. Kraus, München-Planegg 1954 (= Lebendige Quellen zum Wissen um die Ganzheit des Menschen). Tolstoi [Aphorismensammlung], hg. v. R. Friedmann, München 1929 (= Religio). Das Tolstoi-Buch, hg. v.H. Meyer-Bensey, Berlin 1905. Tolstoi spricht zu uns. Eine Sammlung, hg. v. K. Dietz, Rudolstadt 1948. Vom Frieden ohne Gewalt. Leo Tolstoj. Eine Einführung in Leben und Lehre, Texte ausgew. u. übers. v. F.-H. Philipp, Stuttgart 1960 (= Steinkopfs Hausbücherei). Wahrheit will gefunden werden. Aufzeichnungen eines Gottsuchers, ausgew., eingel. u. hg. v. M. Baumotte, Zürich / Düsseldorf 1998 (= Klassiker der Meditation). Was soll ich tun? Ausgewählte Worte, Stuttgart-Degerloch 1947 (= Ausgewählte Worte, 6). Worte Tolstojs, hg. v. E.A. Regener, Minden i. Westf. 1907 (= Breviere ausländischer Denker und Dichter, 5). Zeiten des Erwachens, hg. v. A. Dornemann, Freiburg i. Br. u.a. 1991 (= Herder spektrum, 4017); identisch mit: Tolstoi-Brevier, hg. v. A. Dornemann, Stuttgart 1998 (= Reclams UB, 2820).

Sammelausgaben Ästhetische Schriften, übers. v. G. Dalitz, Berlin 1968E 14 (2. Aufl. 1984). Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt v. Th. Rutt, Paderborn 1960 (= Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften). Briefe 1848–1910, gesamm. u. hg. v. P.A. Sergejenko, Berlin 1911 u. 1928. Briefe an seine Frau, hg. v. D. Umanskij, Wien 1925. Briefe an seinen Freund Wladimir Tschertkow aus den Jahren 1883–1886, übers.u. hg. v. L. u. D. Berndl, Winterthur 1950. Briefwechsel mit der Gräfin A.A. Tolstoi 1857–1903, übers. v. L. u. D. Berndl, L. Wolf, München 1913 (= Tolstoi-Bibliothek, 1) (Neuausg. Zürich 1926). Briefe, Bd. 1: 1844–1885, Bd. 2: 1886–1910, übers. v. G. Dalitz, Berlin 1971E 16–17. Denkwürdigkeiten, Erinnerungen und Briefe, hg. v. D. Umanskij, Wien 1921. Gott und Unsterblichkeit. Das Leben und die Lehre Christi. Du sollst dem Bösen nicht Widerstand leisten, übers. v. L.A. Hauff, Berlin 1901. Ein Leben in Selbstbekenntnissen. Tagebuchblätter und Briefe, hg. v. A. Luther, Leipzig 1923. Pädagogische Schriften, hg. v. R. Löwenfeld, 2 Bde., Leipzig 1907A I/8–9 (Jena 1911B II/12–13, München 1994C 7–8).

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Tolstojs theologische und sozial-religiöse Schriften

Philosophische und sozialkritische Schriften, übers. v. G. Dalitz, Berlin 1974E 15. Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hg. v. P. Urban, Frankfurt/M 1968 (weitere Auflagen 1985 u. 1991). Religiöse Briefe, übers.u. hg. v. K. Nötzel, Sannerz / Leipzig 1922. Religiös-ethische Flugschriften, hg. v. R. Löwenfeld, Leipzig 1901–1904A I/11–12 (2 Bde., Jena 1911B II/10–11). Die Rettung wird kommen … 30 unveröffentlichte Briefe an Eugen Heinrich Schmitt. Ein Weltanschauungsbild des russischen und des deutschen Denkers, zsgest. v. E. Keuchel, Hamburg 1926. Tagebuch, hg. u. übers. v. L. Berndl, Bd. 1, München 1917 (= Tolstoi-Bibliothek, 6). Tagebuch 1895–1899, ausgew. u. hg. v. L. Rubiner, übers. v. F. Ichak-Rubiner, Zürich 1918. Tagebuch, Bd. 1: 1895–1899, Bd. 2: 1900–1903, übers.u. hg. v. L. Berndl, Jena 1923. Tagebuch der Jugend, hg. u. übers. v. L. Berndl, München 1919 (= Tolstoi-Bibliothek, 2). Tagebücher, Bd. 1: 1847–1884, Bd. 2: 1885–1901, Bd. 3: 1902–1910, übers. v. G. Dalitz, Berlin 1978E 18–20 (in einem Band: Tagebücher 1847–1910, München 1979). Tolstoi und der Orient. Briefe und sonstige Zeugnisse über Tolstois Beziehungen zu den Vertretern orientalischer Religionen, hg. v. P. Birukoff, Zürich / Leipzig 1925 Über Gott und Christentum, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1896 u. 1901. Über Krieg und Staat, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1903 u. 1905. Über Literatur und Kunst, übers. v. G. Dalitz, Ausw. u. Nachw. v. G. Dudek, Leipzig 1980 (= Reclams UB, 854: Kunstwiss.). Über Vernunft, Glaube und Gebet, übers. v. N. Syrkin, Berlin 1901. Der unbekannte Tolstoi. Offizielle Ausg. der Familie Tolstoj, hg. v. R. Fülöp-Miller, Zürich u.a. 1927. Vater und Tochter. Tolstois Briefwechsel mit seiner Tochter Marie, hg. v. P. Birukoff, übers. v. S. Lorié, Zürich 1927. Vernunft, Glaube, Gebet und Arbeiterfrage, Berlin o.J. Weltanschauung. Ausw. von W. Lüdtke, Hamburg u.a. 1929D 12. Das Verzeichnis der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs sowie die Bibliographie der deutschen Übersetzungen wurden von Christian Münch erstellt.

Personenregister

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Personenregister

Abiram 252 Abraham (Stammvater) 91, 148, 167, 252, 359 Adam (Stammvater) 52f, 88–90, 250, 252, 254, 265, 342 Afanas’ev, Aleksandr 257 Aksel’rod, Ljubov’ (Axelrod, Esther) 425, 443, 635 Alekseev, Vasilij 134, 375 Aleksej Michajloviˇc (Zar) 71 Alexander I. (Zar) 544 Alexander II. (Zar) 125, 453, 562 Alexander III. (Zar) 19, 28, 125, 130, 453 Amiel, Henri-Frédéric 26 Amvrosij (Kljuˇcarev, Erzbischof) 587 Amvrosij (Starez) 539, 548 Andreev, Leonid 27 Angelus Silesius 296, 336, 412, 422 Antonij (Chrapovickij, Bischof) 586 Antonij (Vadkovskij, Metropolit) 373, 587, 590 Apollov, Aleksandr 590 Arakeljan, Ambarcum 573 Aristoteles 463, 468 Arnold, Eberhard 610, 648 Arnold, Edwin 683 Arnold, Gottfried 394, 550, 638 Arnold, Matthew 224 Asmus, Valentin 631 August, Heinrich 550 Augustinus 194, 362, 395, 406, 425, 409, 555 Augustus, Gaius Octavius 78 Avenarius, Richard 472 Avvakum (Protopope) 71 Bakunin, Michail 459, 517f Ballou, Adin 182, 551 Balthasar, Hans-Urs von 621 Balzac, Honoré de 677 Barrett, William 673 Barth, Karl 484, 617, 649

Basileios d. Gr. 360 Baumgarten, Alexander Gottlieb 463 Baur, Ferdinand Christian 346, 376, 546 Bazarov, Vladimir 635 Bechterev, Vladimir 466f Beecher-Stowe, Harriet 542 Beethoven, Ludwig van 441, 463f Behr, Sophie 188 Bejlis, Menachem Mendel 568 Beketov, Andrej 206 Beklemiˇsev, Aleksandr 522 Benz, Ernst 502f Berdjaev, Nikolaj 12, 339, 373, 408, 427–429, 470, 521, 594, 599, 601–603, 644 Bergson, Henri 670 Berkeley, George 496 Bernard, Paul 620 Bernstein, Eduard 524, 526 Besant, Annie 683 Birjukov, Pavel 72, 125, 272, 478, 575, 641 Bismarck, Otto von 639 Blavackaja, Elena 670, 683 Bloy, Léon 624 Blum, Emil 640, 646–648 Blumhardt, Christoph Friedrich 639, 643f Bogdanov, Aleksandr 635 Bond, Kenneth Herbert 551 Bonekemper, Johann 708 Bonet-Maury, Amy Gaston 551 Bonhoeffer, Dietrich 333, 612f Botvinnik, Naum 566 Bouguereau, William-Adolphe 180 Bouvier, Bernard 477 Brajtburg, Semen 525 Breˇznev, Leonid 631f Brjusov, Valerij 472 Brown, John 707 Buddha 67, 271, 287, 291, 337, 384, 401, 575f, 578f, 683

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Register

Bulanˇze, Pavel 573, 576 Bulgakov, Sergej 12, 18, 339, 373, 410, 420, 586, 591, 596, 599–603 Bulgakov, Valentin 27, 459, 573, 630, 641 Bultmann, Rudolf 13, 330, 423 Burnouf, Eugènev 575 Caesar, Gaius Julius 78 Camus, Albert 668f, 676f, 679 Carlyle, Thomas 683 Carnegie, Andrew 696–698 Carus, Paul 577 Cˇechov, Anton 506, 557 Cˇernov, Jurij 719 Cˇernyˇsevskij, Nikolaj 519 Cˇertkov, Vladimir 28, 52, 72, 87, 102, 134, 164, 174, 180, 211, 223, 234, 240, 258, 270, 272, 518, 531, 586, 591, 630, 642, 710 Chamberlain, Stewart Houston 558 Charcot, Jean-Martin 466 Chardin, Teilhard de 621 Chelˇcick´y, Petr 395, 405, 550, 638 Chesterton, Gilbert Keith 625 Chilkov, Dmitrij 710–712 Chodaseviˇc, Vladislav 590 Chomjakov, Aleksej 64, 387, 400, 440, 554 Chruˇscˇ ev, Nikita 630f Cˇibunin 677 Cinger, Aleksandr 21 Clemens von Alexandrien 363 Coates 683 Coleridge, Samuel Taylor 241 Comte, Auguste 191, 194, 640 Dante Alighieri 624 Darwin, Charles 225, 467, 483, 506–508, 693–695 Das, Taraknath 684f Dathan 252 David (König) 274, 343 Demokrit 191 Descartes, René 191, 494, 496 Devi, Sarada 688 Dickens, Charles 542 Diderot, Denis 190, 477, 485 Didon, Henri (Père) 262 Diederichs, Eugen 692 Dietrich, Wolfgang 437

Dillon, Emile 558, 565 Diokletian (Kaiser) 83 Dionysios (Pseudo-Dionysios) Areopagites 356, 364, 369, 532f Dobroljubov, Nikolaj 519 Doerne, Martin 337, 615 Doke, Joseph J. 684 Donahoo, Robert 538 Dondukova-Korsakova, Marija 336 Dostoevskij, Fedor 21, 248, 257, 331, 471, 499–501, 503, 507f, 510f, 537, 546f, 554, 594, 597, 635, 654, 662, 676, 693, 700, 710 Dreyfus, Alfred (Affäre) 566 Eckhart, Meister 386, 412 Eckhartshausen, Karl von 543 E˙jchenbaum, Boris 496, 521 E˙kzempljarskij, Vasilij 586, 598 Elia (Il’ja, Prophet) 253, 256 Elischa (Prophet) 253 E˙lpidin, Michail 28, 33, 353 Elisabeth von Österreich-Ungarn 518 Emerson, Ralph Waldo 551, 624, 696 Emile Dillon 558 E˙ngel’gardt, Michail 102, 563 Engels, Friedrich 526, 628, 632, 677 Epiktet 199, 555 E˙rn, Vladimir 18, 598, 600 Ernst, Peter 427, Evdokimov, Pavel 385 Evropeus, Aleksandr 522 Feofan der Klausner (Bischof) 536 Fet, Afanasij 19, 491, 575 Feuerbach, Ludwig 73, 191 Fichte, Johann Gottlieb 386, 702 Ficker, Ludwig von 653 Flaubert, Gustave 499 Florovskij, Georgij 357, 591 Fonvizina, Natal’ja 248 Foucaux, Philippe Edouard 575 Fourier, Joseph 521–523, 526 Frank, Semen 12, 337, 600–603 Franz von Assisi 406 Franz von Sales 406 Freud, Sigmund 670 Frey, Bruno 315 Fröbel, Friedrich 375, 379, 386 Fröbel, Julius 375

Personenregister Galilei, Galileo 496 Gandhi, Mahatma 14f, 610f, 649, 683–691 Ganz, Hugo 508 Gardner, John 678 Garˇsin, Vsevolod 180 Gaston, Amy 551 Gastrow, Paul 610 Gay, Nikolaj 459 Gec, Fajvel’ Meer Benceloviˇc 561f, 565 Gercen, Aleksandr 482 Gerˇsenzon, Michail 558 Gizycki, Georg von 188 Glinka-Volˇzskij, Aleksandr 598 Goethe, Johann Wolfgang von 170, 580, 604, 692f, 697 Gogol’, Nikolaj 537, 555, 635 Gol’denvejzer, Aleksandr 315, 558 Golubcov, Aleksej 272 Gor’kij, Maksim 472, 507, 629 Gordin, Jakov 714 Gordon, Acharon David 567 Gorinoviˇc, Nikolaj 713 Gregor von Nazianz 95, 360 Gregorios Palamas 415 Griesbach, Johann-Jacob 550 Grigor’eviˇc, Vladimir 272 Grinevskaja Izabella 573 Grot, Nikolaj 509 Guenther, Johannes von 14 Gureviˇc 566 Gusev, Nikolaj 12, 524 Gustafson, Richard 14, 535f Guyau, Jean Marie 465–467 Haeckel, Ernst 508, 692–694 Hannas (Hohepriester) 161 Hamsun, Knut 508 Harnack, Adolf von 614, 618 Hartmann, Karl Robert Eduard 197 Hauck,Wilhelm-Albert 437, 440 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 197, 334, 337, 481, 491, 506, 597 Heidegger; Martin 668f, 671, 673–676, 679 Heiler, Friedrich 426 Hellerer, Heinz Otto 653 Herzen s. Gercen Hermann, Wilhelm 612 Herodes d. Gr. 163 Hirsch, Emanuel 502f

749

Hochheim, Eckhart von 512 Holl, Karl 612, 614 Hübner, Adolf 653 Hus, Jan 395, 405, 550, 638 Husserl, Edmund 674 Huxley, Aldous 578 Huxley, Thomas Henry 206–208 Ibsen, Henrik 508, 695 Il’in, Ivan 12, 460, 591, 601 Ingold, Felix Philip 467f Ioann von Kronstadt 12, 249, 589 Irving, Washington 682 Isaak (Stammvater) 167, 252 Ivanov, Vjaˇceslav 603 Ivanoviˇc, Pavel 272 Jacobowski, Ludwig 693 Jakob (Stammvater) 91, 167, 252, 359 James, William 624, 653 Jaroslavskij, Jemel’jan 630 Jaspers, Karl 674 Jesaja (Prophet) 141, 271, 563f Jesus Christus 16f, 54, 65f, 76, 78–80, 85, 89–91, 95f, 101, 104–108, 110, 112–114, 116, 118, 120–122, 134–163, 164–173, 174–179, 180f, 183–187, 207, 212, 214, 219, 224, 235–239, 240–248, 250, 253, 257, 261–264, 271–281, 291, 308, 333, 341–349, 356, 358, 363, 368, 370, 373–388, 390–392, 395f, 401, 411f, 418, 422, 428f, 435, 437, 442, 450f, 471, 493, 501f, 535, 546f, 551, 554, 558, 563f, 597, 599, 608f, 613, 615, 620, 622, 625, 636, 643, 645f, 656, 659–661, 678, 697, 699 (f Christentum: Lehre Christi; im Stichwortregister) Joachim von Fiore 403 Johannes (Evangelist) 21, 97, 168, 346, 348, 353, 374, 377 Johannes Chrysostomos 67, 601 Johannes der Barmherzige (Patriarch) 67 Johannes der Täufer 136, 139, 172 Johannes von Damaskus 356, 361, 533 Josaphat von Indien 67 Joseph (Stammvater) 252, 342 Judas Ischariot (Apostel) 147, 157f, 161, 569 Julian Apostata (Kaiser) 373

750

Register

Jur’ev, Sergej 58 Justin der Märtyrer 386 Kaiphas (Hohepriester) 155, 161f Kalinovskij, Grigorij 590 Kant, Immanuel 43, 59, 197, 204f, 323, 331–333, 336, 341, 350, 359, 366, 415, 417, 422, 424f, 427, 436f, 442, 491–494, 496f, 506, 508, 533, 535, 598, 612, 654, 698 Karl d. Gr. 77 Kaˇskin, Nikolaj 522 Kassner, Rudolf 673 Katharina II. d. Gr. (Zarin) 78, 94, 451, 486, 562 Keely, John Ernst Worrell 700 Keller, Gottfried 508 Kenworthy, John Coleman 551 Kierkegaard, Søren 654, 674 King, Martin Luther 610 Kingsford, Anna 683 Kingsley, Charles 551 Kireevskij, Ivan 323, 537 Kirill (Smirnov, Bischof) 590 Kjetsaa, Geir 445 Kleist, Heinrich von 417 Koeppen, Carl Friedrich 575 Kolstø, Pål 9, 540, 585f Konfuzius 271, 291, 337, 401, 422, 535 Koni, Anatolij 234 Konstantin I. d. Gr. (Kaiser) 76–78, 98, 374, 396 Kopernikus, Nikolaus 496 Korah 252 Kramskoj, Nikolaj 27 Kravˇcinskij, Stepnjak 710 Kropotkin, Petr 517–519, 646 Krupskaja, Nadeˇzda 629 Ksenofont (Vjazemskij, Schima-Mönch) 590 Kuße, Holger 14, 25f Kutter, Hermann 639f Lamarck, Jean-Baptiste de 693 Lamennais, Hugues Félicité Robert de 553, 555f Lange, Dietz 611 Laotse 287, 291, 337, 401 Lazarus 216 Leo XIII. (Papst) 621

Lempp, Otto 615 Lenin, Vladimir 29, 511, 521, 594, 628–636, 641, 646f, 677 Leskov, Nikolaj 710 Lessing, Gotthold Ephraim 421 Lichtenberg, Georg Christoph 508 Liebknecht, Wilhelm 693 Lineckij, E˙mmanuil 566 Litovkin, Iosif 590 Lodyˇzenskij, Mitrofan 598 Lombroso, Cesare 508 Lomonosov, Michail 420 Losev, Aleksej 595 Losskij, Nikolaj 12, 419f Losskij, Vladimir 419f Löwenfeld, Raphael 337, 562, 692, 700 Lücke, Friedrich 550 Luhmann, Niklas 426 Lukas (Evangelist) 76, 80, 168, 182, 256, 435, 455 Lunaˇcarskij, Anatolij 29, 472, 628–630, 635f Luther, Henning 425 Luther, Martin 393, 395, 481, 541, 550, 613f, 638f, 672f Luxemburg, Rosa 521, 635 Mach, Ernst 472 Machinek, Marian 367, 421f, 428 Maeterlinck, Maurice 508, 624 Maevskij, Vladislav 535 Maitland, Edward 683 Makarij (Bulgakov, Metropolit) 87, 97, 359, 362, 367, 530–534 Makarios d. Gr. 67 Makovick´y, Duˇsan 21, 458, 524 Malikov, Aleksandr 375 Malthus, Thomas Robert 559 Mann, Thomas 499, 567 Maria (Mutter Jesu) 65f, 81, 84, 89, 99, 100, 144, 156, 168, 216, 235, 240, 244, 250, 256, 420, 455, 554 Maria Magdalena 165, 235 Maritain, Jacques 623f Markovitch, Milan 478 Markus (Evangelist) 235 Marc Aurel (Kaiser) 199, 555 Mars (Kriegsgott) 641 Marx, Karl 73, 191, 508, 523–526, 598, 612, 628, 632, 635, 640f, 643, 671

Personenregister Matthäus (Evangelist) 21, 96, 104, 106, 349, 396, 435, 548, 567 Matthieu, Jean 639, 646–648 Mattmüller, Markus 646 Matual, David 14 Mazzini, Guiseppe 422 Medzhibovskaya, Inessa 14 Mehring, Franz 635 Mel’nickij, Fedor 516f Meleˇsko, Elena 421, 441f Men’, Aleksandr 12 Mensching, Gustav 426 Mereˇzkovskij, Dmitrij 12, 373, 385, 510f, 521, 596–598, 601 Meyer, Heinrich August Wilhelm 550 Mickiewicz, Adam 623 Milkov, Nikolaj 661f Mill, John Stuart 523 Minocchi, Salvatore 621f Minor, Zelik 562f, 567 Minskij, Nikolaj 638 Mohammed (Prophet) 74, 229, 271, 275f, 350, 384, 412, 416, 422, 534, 571f, 683 Montaigne, Michel de 43 Montesquieu, Baron de, Charles de Secondat 315, 477, 486 Morris, Charles 426 Moses (Prophet) 54, 56, 116, 147, 165, 167, 200, 225, 229, 252, 290f, 341, 344, 384, 416, 534, 564 Müller, Max 190, 575, 683 Müller, Ludolf 587, 592 Napoleon Bonaparte (Kaiser) 78f Naumann, Friedrich 639 Nazarov, Vladimir 13, 30 Nekrasov, Nikolaj 558 Newton, Isaac 191 Nickell, William 588 Nietzsche, Friedrich 73, 191, 204f, 260, 463, 499–515, 597, 600, 608f, 610, 640f, 669f, 672, 678, 693f Nikolaus I. (Zar) 572 Nikolaus II. (Zar) 130 Nikon (Bischof) 537 Nikon (Patriarch) 81 Noah (Stammvater) 252, 254 Nordau, Max 467, 472 Novoselov, Michail 18, 373

751

Oldenberg, Hermann 575 Olshausen, Hermann 550 Orechanov, Georgij 13 Origenes 395 Otto, Rudolf 426 Owen, Robert 521, 524, 526 Paisij Veliˇckovskij 536 Palmieri, Aurelio 620 Parak, F. 655 Paraskeva-Pjatnica (Heilige) 83f Parfenij (Levickij, Erzbischof) 589 Pascal, Blaise 26, 228, 323, 327, 337, 555f, 658 Pascal, Tania 662 Paˇskov, Vasilij 69, 710, 713 Pasternak, Leonid 558 Paulus (Apostel) 48, 76, 80, 95, 98, 336, 344, 356, 375, 396, 414, 436, 450, 461, 502, 532 Pavlov, V.G. 713 Pelizäus 692 Pergament, Osip 557 Perper, Iosif 315f Peter I. d. Gr. (Zar) 94 Peter III. (Zar) 78 Petrus (Apostel) 150, 158f, 161, 165, 395, 405, 411 Philipp, Franz-Heinrich 546, 550 Pilatus, Pontius 162f, 180f Pisarev, Dmitrij 519 Pius X. (Papst) 621f Platon 196, 356, 463 Plechanov, Georgij 628f, 631, 633–635 Polenz, Wilhelm von 507 Poljakov, Lazar 559 Popoff, Jim 719 Pressensé, Edmond Dehault de 551 Proudhon, Pierre-Joseph 516, 523, 646 Puˇskin, Aleksandr 441 Quiskamp, Robert 416, 638 Radstock, Grenville (Lord) 544 Ragaz, Leonhard 639–648 Rahner, Karl 411 Rajchandra, Shrimad 683 Ramakrishna, Paramahamsa 422 Rancour-Laferrière, Daniel 538 Reichel, Eugen 506, 546f

752

Register

Renan, Ernest 191, 346, 546f Repin, Il’ja 27, 180 Reuß, Edouard 346, 546, 550 Réville, Albert 546 Rhys Davids, Thomas William 575 Robertson, Frederick William 551 Robespierre, Maximilien de 190 Rohls, Jan 14 Rolland, Romain 679 Rösener, Karl 509 Rousseau, Jean-Jacques 23, 190, 323, 327, 329, 331f, 350, 358, 379, 443, 477–490, 535, 541f, 612, 624, 665 Rozanov, Vasilij 12, 18, 597f, 602 Rudnev, Ioannikij 587f Rumi, Dschalal ad-Din 290 Russell, Bertrand 654, 657f Saint-Pierre, Jacques-Henri Bernardin de 190, 484 Saint-Simon, Henri de 521–523, 526, 612, 639 Saitschick, Robert 693 Sakyamuni s. Buddha Salomo (König) 287, 342, 576, 658 Saltykov-Sˇcˇ edrin, Michail 558f Samarin, Jurij 64 Sˇamil’ (Imam) 572 Sartre, Jean-Paul 668f, 677–679 Savonarola, Girolamo 395, 405, 407 Sˇcˇ egolenok,Vasilij 257 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 597 Schiller, Friedrich 467 Schleiermacher, Friedrich 550 Schopenhauer, Arthur 14, 59, 195–198, 204, 292, 315, 342, 350, 422, 424, 437, 491f, 494–497, 508, 529, 535, 575f, 597, 608, 654, 658 Schultze, Bernhard 620 Schulz, Martin 642 Schweitzer, Albert 608–611, 615 Semeria, Giovanni 621f Seneca, Lucius Annaeus 199, 422, 555, 611 Serebrennikov, Michail 270 Sergij (Stragorodskij, Bischof) 588 Sˇ˙estov, Lev 12, 18, 437, 505, 507, 509–511, 600, 668–674, 676, 679 Sivers, Marie von 694 Sˇ˙klovskij, Viktor 22f, 33, 386

Skvorcov, Vasilij 587 Sokrates 179, 191, 271, 287, 384, 576, 658 Solov’ev, Ivan 290f Solov’ev, Vladimir 323, 402, 419, 537, 558, 562, 565f, 586, 594–597, 602, 621 Spencer, Herbert 467 Spener, Philipp Jacob 708 Spinoza, Baruch de 204, 374 Stamo, E˙leonora 557f Stange, Carl 612 Stasov, Vladimir 505 Steiner, Rudolf 15, 670, 692–706 Stepun, Fedor 12, 18, 373, 384, 600 Strachov, Nikolaj 19, 47, 58, 66, 87, 125, 134, 547, 575 Strindberg, August 500 Strauß, David Friedrich 191, 346, 385, 546–548, 638 al-Suhravardi, Abdallah 572 Suvorin, Aleksej 557 Tamcke, Martin 14 Tatian 80, 346 Tendrjakov, Vladimir 631 Teneromo, Isaak 557 Tertullian 261, 323, 362, 395 Thielicke, Helmut 611 Thomas (Apostel) 164f Thomas a Kempis 406 Tichon von Zadonsk 406 Tillich, Paul 336, 408, 410, 612f Tischendorf, Konstantin 560 Titius, Artur 612 Tjutˇcev, Fedor 257 Tkaˇcev, Filipp 711f Tkaˇcev, Lev 711f Tolstaja, Aleksandra Andreevna 19, 39, 83, 324, 374, 377, 542 Tolstaja, Aleksandra L’vovna 317, 637 Tolstaja, Sof ’ja 125, 317, 518, 588 Tolstoj, Dmitrij 102 Tolstoj, Nikolaj 545 Tolstoj, Sergej L’voviˇc 134, 375, 701, 724 Tolstoj, Sergej Nikolaeviˇc 249 Trillhaas, Wolfgang 502 Trockij, Lev 641 Troeltsch, Ernst 611, 613 Troickij, Dimitrij 589 Trubeckoj, Evgenij 12, 602 Tugendhat, Ernst 410

Personenregister Turgenev, Ivan 491, 499, 545f Tyszkiewicz, Stanislao 620 Unamuno, Miguel de 624 Urusov, Lev 500 Uspenskij, Gleb 710 Varsonofij (Starez) 590f Vasilij Blaˇzennyj (Narr in Christo) 257 Vergil 624 Verigin, Petr 719f Vernidub, Daniil 712 Véron, Eugène 467 Vigny, Alfred de 500 Vinet, Alexandre 551 Vlasov, Andrej 341 Vladimir d. Gr. (Großürst) 77 Voltaire 87, 190, 405, 477 Vygockij, Lev 469 Wagner, Richard 23, 99, 463, 499, 507 Weber, Max 369, 428, 460, 603, 613 Weinel, Heinrich 609f, 615

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Weininger, Otto 508 Weisbein, Nicolas 14 Weitling, Wilhelm 639 Wellhausen, Julius 501 Whitman, Walt 624 Wilson, Andrew Norman 538 Witt-Guizot, Henriette de 43 Wittgenstein, Ludwig 14f, 653–667 Wuchterl, Kurt 146, 183 Xenophon 292 Zacharov, Zinovij 713 Zachäus 146, 183 Zajac, Timofej 710 Zarathustra 350, 504f, 509, 670, 680 Zavolokin, Vasilij 270–281, 381 Zdziechowski, Marian 622f Zen’kovskij, Vasilij 12, 339, 350, 408, 591, 600f Zola, Emile 566, 695 Zschokke, Heinrich 542

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Register

Stichwortregister

755

Stichwortregister

Abendmahl f Sakramente Aberglaube 24, 73, 83, 178, 188–192, 210, 213, 220, 226, 231, 246, 258, 260, 266, 272f, 275, 312–314, 351, 382, 384, 397, 409, 423, 439, 452, 454f, 526 (f Mystizismus; f Wunderglaube) Absolute, das 378, 482, 603, 644 Adventisten 708 Ägypter 195, 216, 252, 271 Altes Testament 224, 252–254, 263, 341–344, 351, 564, 645, 672, 683 – Dekalog 54, 213, 309, 342, 645 – Genesis 56, 342 (f Schöpfung) – Tora 342, 563 (f Gesetz Mose) Amerika 131, 315, 688, 699 Anarchismus 14, 454, 457, 459, 486, 502f, 516–519, 573, 602f, 609f, 612, 615, 620, 623, 643, 646–648, 662, 676, 687, 720, 727 Anglikaner 211, 249, 398, 551 Angst 25, 41, 59, 145, 158, 161f, 178, 180, 190–192, 206f, 223, 466, 615, 633, 661, 674 (f Furcht; f Todesangst) Ansteckungstheorie 458, 462–473, 497, 623 Anthropologie 356, 365, 367, 415, 417, 419, 433–448, 624 Anthroposophie 692–706 Antichrist 12, 554, 596, 598, 621 – Nietzsches »Der Antichrist« 499–505, 510, 512f Antike / Altertum 185, 191, 201, 286, 293, 389, 609, 685 Apatheia 536 Apokalypse 401, 456 Apophatik f Theologie, apophatische Apostel 76, 95–97, 170, 236, 275, 341, 397, 450, 533, 645, 647 Arbeit 45, 54, 62, 107, 121, 142f, 149, 153, 186, 220f, 256, 259, 273, 299, 301, 303,

311, 516, 522f, 525, 559, 600f, 603, 654, 687f, 698, 722, 727 – geistige 25f, 40f, 196, 381, 458 Aristokratie 293, 523, 712 Armut 54, 79, 95–98, 109, 111, 117, 121, 140, 145–147, 180, 216, 219, 259, 274, 294, 298, 383, 396, 405, 517, 522f, 603, 613, 646, 684, 687, 691 Askese 11, 15, 37, 65, 70f, 106, 111f, 143f, 154, 387f, 418, 435, 438, 440, 443, 452, 493, 495, 499, 518, 528f, 536, 555, 591, 598, 601, 603, 613f, 634, 636, 655, 688 Astapovo 28, 37, 317f, 590, 673, 676, 681 Ästhetik 20, 26, 215, 462–473, 497, 507, 510, 621, 623f, 672, 694, 726, 728 Atheismus 227, 258, 260, 416, 485, 511, 518, 594, 596, 600, 602, 621, 628, 631, 654, 678 Athos 32, 76, 242, 256, 536 Auferstehung 66, 84, 91, 96, 114, 164–173, 234f, 240, 243, 250, 258, 261–263, 346, 348, 373, 382f, 396, 420, 423, 437, 547, 549, 592, 595, 599, 601, 608, 622 Aufklärung 14f, 263, 355, 358, 361f, 366, 403, 413, 424, 478, 480f, 483, 497, 542, 553, 624, 636, 645 – französische 405, 477, 486f Authentizität 22, 24, 26, 168, 362, 427, 434, 438, 460, 463–465, 600 Autokratie 454, 623, 685 Autorität 21, 260, 265f, 328, 331, 336, 339, 341, 346f, 395, 403, 458, 536f, 555, 557, 567f, 595, 603, 608, 646, 686 Bahai 573 Baptismus 276, 708–710, 713, 715–717 Bauern 23, 41f, 67f, 70, 83f, 110f, 117, 151, 182, 185, 199, 239, 256, 262, 270f, 292, 307, 325, 332, 344, 350, 381, 424, 437f, 442, 449, 455, 459, 480, 496, 511, 516, 522, 524, 537, 543, 548, 577, 595, 600f,

756

Register

614, 628f, 631–634, 636, 640, 654, 671, 684, 707–718 Beamtentum 79, 111, 122, 146, 519 Bedürfnisse 52f, 56, 65, 78, 87, 92, 101, 108, 192, 221, 225, 267f, 286, 290, 313, 326, 515, 533, 536, 578f, 596, 600f, 622, 634, 693, 695f, 728 – fleischliche 25, 47f, 52, 56f, 90, 99, 136f, 139, 141, 143–145, 150f, 153, 157f, 160f, 167, 180, 244, 250, 260, 267, 290, 313, 348, 376, 379f, 415, 433–435, 443–445, 493, 495, 578, 597, 634, 644, 656 (f Fleisch) – seelische 47f, 255, 310, 598 Beichte 19, 66, 90, 244, 273, 279, 326, 422, 433, 464, 469, 470f (f Sakramente) Bekenntnis f Glaubensbekenntnis Besitz 19, 69, 78, 108, 110f, 121f, 140, 142f, 145f, 150, 153, 184f, 271, 279, 301, 303, 310, 316, 434, 456, 510, 516–519, 523, 579, 633, 643, 678, 720f, 727 Betrug 19, 73–77, 79f, 93, 99, 116, 120, 122, 138, 155, 186, 239, 244–247, 252, 260, 265, 268, 270, 383, 391, 396–399, 401, 419, 433–435, 437, 439–441, 443f, 449, 455, 517, 541, 622 Bewusstsein 45, 56f, 66, 100, 121, 172, 174f, 183, 185, 192, 198–200, 202, 220, 227, 229, 255, 266f, 279, 286f, 293, 295, 297, 307, 309, 318, 332, 335, 363, 366, 368, 379, 381, 383, 397, 410, 415f, 418, 427, 449, 486, 494, 561, 597, 622, 633, 654, 659, 678 – religiöses 24, 215–218, 220f, 260, 454–457, 465, 467, 516, 579, 597, 622 Bibel 17, 20f, 50, 52, 54, 99, 134, 252, 258, 263, 339–354, 393, 398, 420, 423, 471, 493, 496, 543f, 546, 548f, 551f, 564, 567, 611, 638, 708, 712, 714 (f Altes Testament; f Neues Testament) – Exegese 16, 31, 212, 343–348, 386, 402, 470, 546f, 550, 660, 703 – narrative Exegese 347, 350 – existenziale Auslegung 382 (f Entmythologisierung) Bildung 16, 63, 84, 117, 192, 264, 266, 286, 332, 350, 440–443, 459, 472, 477, 541, 546, 597, 603, 636, 645, 713

Blasphemie 71, 76f, 83–85, 132, 237f, 244–247, 277, 279, 290, 341, 344, 373, 375, 391, 420, 510, 529, 537, 620, 692, 701f Bolschewismus 29, 521, 569, 612, 628, 630f, 635f, 641, 647 Böse, das 13f, 19, 21, 26, 52, 55, 65, 71, 74, 77f, 98, 100, 103, 107–110, 112–114, 116, 120–122, 124, 126–133, 138, 140f, 143, 147f, 152f, 155, 158–161, 181f, 185, 226, 245f, 260f, 269, 271, 279, 281, 294, 304, 333f, 349, 380, 396f, 406, 413f, 427f, 440–442, 446, 449, 451–455, 460, 486, 492, 496f, 501, 506, 510, 526, 547f, 551, 573, 575, 580, 592, 596, 601f, 614, 621, 632–634, 656, 668, 670, 672, 676, 678, 684, 721, 727 (f Übel, das) – Unde-Malum-Frage 380 Brahmanismus 74, 195, 197, 202, 275, 291, 337, 401, 494, 685 Brüderunität 405, 550 Buddhismus 15, 50, 74, 91, 193–195, 197, 201f, 218, 227, 271, 276f, 315, 353, 410, 416, 421f, 502, 510f, 536, 539, 565, 575–581, 595, 621, 658, 681, 685 (f Buddha im Personenregister) – Hinayana 578f – Karma 577, 698, 704 – Mahayana 579 Buße 78, 90, 216, 381, 388, 399, 402, 587, 589–592 (f Sakramente) China 194, 201 Chlysten 169 Christentum 12, 14, 16, 38, 40, 47, 50f, 69, 71, 73f, 76–81, 98, 102–104, 109, 134f, 168, 170, 182–185, 191, 193–195, 200, 202, 212, 216, 218, 232, 240f, 243f, 246–249, 257, 259f, 271, 285–289, 294, 315, 342, 355f, 358f, 361, 366, 369, 373f, 383–385, 387, 389f, 394, 396, 399f, 403–405, 409, 414, 420f, 423, 427, 450, 453, 485, 493, 502f, 505, 510f, 518, 523, 528, 534–536, 541f, 554–556, 563–565, 575, 585, 595–597, 599, 601, 603, 608–610, 612f, 614, 620f, 625, 629, 633, 638f, 643f, 646f, 655, 660, 683, 685, 693, 696f, 714, 721

Stichwortregister – Gebote Christi 17, 110, 114, 116–124, 140f, 184, 383, 401–403, 406, 451, 460, 599, 601 (f Gesetz Christi) – Lehre Christi 21, 66, 74, 77, 85, 92, 96f, 103–105, 107f, 111–116, 126–128, 136, 167, 170–172, 182–184, 211–214, 219, 243, 245f, 270, 272, 296, 300, 305, 308, 330, 333f, 342–347, 349–351, 354, 373f, 376–378, 380f, 383–385, 387, 392, 395–401, 418, 422, 449, 470, 502, 548, 550, 556, 596, 599, 638f, 656 – Religion Christi 11, 38, 358, 375, 399, 403, 421, 542 Christliche Tugenden und Werte: – Barmherzigkeit 62, 138, 223, 236, 257, 533 (f Güte) – Demut 54, 62, 67, 79f, 92, 100, 103–105, 141, 216, 280, 334, 381, 399, 445, 598, 646, 658, 688 (f Erniedrigung) – Feindesliebe 105, 122f, 127, 131, 274, 279, 334, 349, 383, 547, 565, 577, 684 – Friedfertigkeit 80, 220, 502, 517, 573, 641, 710, 720, 722 (f Friede) – Hoffnung 19, 59, 61, 129, 291, 426, 486, 559 (f Glaube) – Keuschheit 216, 236, 271, 436, 444f, 452, 456, 611, 613 (f Enthaltsamkeit) – Liebe 13, 40, 60, 64, 69, 71, 79, 84, 92, 100, 103–105, 112, 116, 118f, 127f, 131, 133, 135, 138f, 142, 146f, 153–155, 158–161, 176–179, 181, 184, 203, 208f, 216–218, 221–227, 231f, 244f, 247, 255, 261, 271, 274, 280f, 282–284, 289f, 301, 305f, 308, 310–313, 317, 331, 334–337, 338, 343, 347, 352, 363, 365f, 370, 379–381, 383f, 387f, 392, 400, 412–414, 416–420, 435–437, 439–445, 450, 453, 455–457, 478, 481, 483, 496, 523, 525, 534–536, 542, 547f, 554, 558, 564, 566, 573, 577, 592, 600, 603, 609, 613f, 624f, 646, 648, 656, 661, 664, 670, 685–688, 697, 720, 722, 727 – Mitleid 49, 70, 112, 140, 147, 163, 216, 298, 336, 436, 499f, 503, 509, 511, 579 – Nicht-Urteilen 78, 80, 82, 98–100, 104, 140, 154, 245, 279, 396, 400, 455 – Reinheit 70, 80, 99, 131, 135, 138, 154, 169, 423, 454, 493, 554, 688

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– Selbstlosigkeit 92, 103f, 179, 336, 381, 635, 693 – Selbstverleugnung 79, 206, 208f, 564 – Verbrüderung aller Menschen 19, 38, 124, 184f, 219–222, 277, 280f, 290f, 293, 310, 312, 317, 326, 335, 343, 394, 399f, 441, 450, 522, 578, 612, 614, 643, 685, 727 – Vergeltung von Bösem mit Gutem 103, 124, 127f, 130–133, 271, 304, 453, 684, 690 (f Nichtwiderstehen) – Vergebung 52, 84, 98, 104, 108, 125–128, 130–133, 152–154, 181, 233, 244, 258, 272f, 279f, 383, 391, 396, 417, 453, 565, 592, 727 Christologie 85f, 89, 91, 108, 135–137, 147–150, 180f, 183, 243f, 278, 370, 373–388, 392, 412, 535, 547, 656 (f Jesus Christus im Personenregister) – Homousie 81, 100, 374 – Inkarnation 353, 374, 429, 532 (f Gott: Logos) – Sühnopfer Christi 333, 547 – Zwei-Naturen-Lehre 408, 645 Dagestaner 572 Deismus 190, 645 Demut f Christliche Tugenden und Werte Diesseits 362, 375, 450, 564, 623, 643f, 675 Disziplin 17, 111f, 443, 451, 460 – Selbstdisziplinierung 11, 37, 493, 518, 555 (f Askese) Dogmen 17, 23, 47, 64, 78, 80–82, 87, 92, 99, 103f, 169, 174, 219, 238–241, 243, 256, 261, 263, 323, 328f, 331, 355, 358–360, 366f, 368, 374, 378f, 394, 397f, 400, 402, 419, 422, 425, 439, 450, 455, 485, 501, 523, 530, 535, 548, 552, 575, 578f, 591, 599, 621f, 643, 645, 697f Dreieinigkeit f Trinität Dualismus 16, 380, 436, 445, 483, 485, 656 Duchoborzen 195, 226, 401, 518, 719–730 Egoismus 19, 219, 260, 434, 436f, 506, 525, 577f, 602, 624 Ehe 54f, 80, 90, 119f, 180, 185, 224, 228, 383, 244, 433, 440f, 443–445, 504 (f Sakramente; f Sexualität)

758

Register

– Ehebruch 78, 81, 101, 118, 180, 281, 496, 501, 506, 659 – Geschlechterverhältnis 25, 54f, 63, 84, 93, 118f, 125, 140, 142, 147, 150, 153, 160, 174, 179f, 239, 252, 317, 433, 437f, 443–445, 560, 568f, 663 (f Frau, Rolle der) – Scheidung 118, 244, 544 Ehre 117f, 121, 169, 221, 235, 357, 510 Eid 111, 120, 124, 153, 245, 383, 501 (f Schwören) Eigentum f Besitz Einheit f religiöse Einheit Einsamkeit 40, 59, 143, 192, 401, 425, 487, 591 Ekel 58, 135, 243, 469, 500, 503, 572, 696 Emotionen 215, 217, 436, 464–469, 471f Engel 88, 90f, 168, 186, 236, 250, 252, 257, 287 – Cherubim 65, 88, 235, 239 – Seraphim 88, 235 Entdifferenzierung 453, 484 Enthaltsamkeit 271, 576, 578, 691, 727 (f Askese; f Christliche Tugenden und Werte: Keuschheit) Entlarvung 22–25, 204, 246, 257, 268, 345, 359, 449, 451, 494, 505, 555, 557, 596 Entmythologisierung 330, 348, 353, 382, 384, 423 Erfahrung 23, 63, 105, 124, 175, 192, 286, 323, 325f, 337, 349, 356, 363, 408–412, 419–422, 424–427, 441f, 463, 467f, 472, 483, 496, 579, 600, 635, 656, 658, 664, 671, 673 – mystische 410f, 419–422 (f Mystik) – Gotteserfahrung 17, 364, 422 Erkenntnis 25, 59, 73, 138, 141, 199, 212, 225, 227, 230f, 234, 276, 288, 323–325, 329, 334, 337, 343, 352, 356, 360–362, 378, 381, 395, 398, 400, 409, 412–415, 418f, 422f, 426, 428f, 482f, 493–497, 531f, 548–550, 552, 601, 611, 625, 670, 672f, 680, 696f – Gotteserkenntnis 17, 231, 305f, 318, 356f, 362f, 363, 368f, 403f, 409, 412–417, 439, 532, 539, 542 Erlösung 40, 60, 62, 68, 77f, 82, 85f, 89–92, 96, 100, 105, 114–116, 154, 159,

180, 194, 196–198, 201, 211f, 219, 236, 240, 243f, 249, 250f, 254f, 258, 265, 273f, 281, 285, 287, 314, 327, 333f, 336, 358f, 362f, 365, 370, 373, 377–383, 387, 391, 396, 400f, 414, 418, 420, 493, 502f, 535, 545, 552, 565, 571, 597, 599, 604, 620, 625, 632, 656, 672 – Selbsterlösung 274, 334, 381, 428, 599 Erniedrigung 66, 98, 103, 117, 121, 150, 314, 396, 444, 560 – Selbsterniedrigung 67 Erweckungsbewegung 543–545, 708 Erziehung 20, 54, 77, 81, 118, 123, 202, 218, 221, 242, 253, 304, 442–445, 472, 478–481, 504, 506, 519, 541f, 576, 622, 633 Eschatologie 330, 427, 644f, 710f Ethik 188–210, 336, 346, 408, 422, 427f, 486, 492f, 497, 505, 510, 545–547, 550–552, 555, 565, 599, 602, 608–613, 621, 624, 628f, 634f, 644, 658, 663, 665, 676, 714 (f Christliche Tugenden und Werte; f Moral; f Sittlichkeit) Evangelium f Neues Testament Evangelienharmonie 20, 134, 137, 164, 213f, 330, 339, 341f, 344f, 346f, 353, 412, 422f, 549 Evolution 205f, 228f, 439, 467, 518, 572, 695f, 701 Ewigkeit 37, 55, 87, 192, 200, 224f, 230, 253, 256, 258, 282, 295, 309, 350, 361, 374, 377, 414f, 417, 436, 518, 531f, 601, 643 (f Leben, ewiges; f Unendlichkeit) Existenz, körperliche 175–178, 366, 379, 446 Existenzialismus 668–682 Exkommunikation 13, 31, 240, 390–392, 394, 405f, 413, 420, 428f, 539, 586–588, 591, 594, 598, 608, 701 Familie 108, 111, 113, 145, 150, 185, 194, 201–203, 205, 208, 238, 246, 268, 297, 311, 440–442, 445, 455f, 658f, 671, 685, 723f Fanatismus 38, 240, 243, 277, 394, 617, 625 Fasten 62f, 65, 68, 94, 104, 114, 141, 236, 243, 306, 326

Stichwortregister Fleisch 25, 37, 52, 56f, 87, 90, 99, 111, 136f, 139–141, 143–151, 153f, 156–161, 164, 167, 180, 244, 250, 260, 348, 374, 380, 385f, 415, 433, 435–438, 443–446, 493, 495, 576, 578, 597, 601, 642, 644, 654, 656, 721 (f Bedürfnisse, fleischliche; f Leben, fleischliches; f Persönlichkeit, animalische; f Tod, fleischlicher) – fleischliche Liebe 445, 494, 510 (f Sexualität) Formalismus 521, 554 Fortschritt 49, 186, 190f, 200, 206, 208f, 219, 399, 403, 438, 456f, 572, 595, 603, 622, 636, 671, 713f Frau, Rolle der 25, 81, 94, 112f, 118f, 140, 153, 160, 165, 168, 180, 201f, 257f, 433, 444f, 560, 568f, 663, 728 (f Ehe: Geschlechterverhältnis) Freidenkertum 115, 556, 595, 692 Freiheit 56, 62, 87, 129f, 132, 136, 142, 238, 257, 331, 334, 348f, 380, 382, 416, 443f, 458, 479, 492, 517, 531, 565, 592, 601f, 612, 643, 648, 676–678, 692 Frieden 21, 64, 271, 383, 386, 427f, 436, 470, 577f, 602, 639, 642f, 727 (f Pazifismus) Frömmigkeit 18, 94, 358, 528f, 543–545, 552, 600, 643, 708 (f Spiritualität) Furcht 41, 124, 221, 244, 252, 446, 492, 675 (f Angst) Fürsorge, göttliche 624 Gabe 90, 130, 151, 300, 327, 334, 399, 401, 537, 590 Gebet 43f, 59, 63, 65f, 70f, 90–94, 104f, 108, 114, 141f, 158, 161, 190–192, 194, 226, 229, 234–239, 242–244, 247, 255, 257f, 273, 278–281, 282–284, 285, 290f, 299, 306, 310–314, 326, 347, 362–364, 366–368, 370f, 389f, 392–394, 398, 404, 406, 415–417, 424, 440, 451, 516, 534, 542f, 550, 572, 575, 588, 590, 592, 656, 704 (f Neues Testament: Vaterunser) Gefangene 96, 124, 132, 234–239, 383, 517, 663 Gefängnis 81, 111f, 185f, 207, 234, 238, 304, 403, 453, 508, 640, 663 Gefühl 19, 26, 58f, 66f, 122f, 126, 192, 198, 215–218, 220–222, 224f, 227, 230, 239,

759

241f, 251, 256, 263, 267, 278f, 290, 294, 317, 365, 405, 441, 443, 449, 455, 463–466, 468–472, 477, 480, 507, 518, 542, 559, 565, 572, 613 (f Emotionen; f Leidenschaften) – religiöses 94, 192, 487, 497, 525, 538, 623 Gehorsam 93, 95, 103, 111, 211, 327f, 331, 397, 537, 612 (f Ungehorsam) Geist 12, 24f, 51, 54, 59, 65, 77, 80, 87f, 96f, 98, 127, 137–146, 148f, 154, 158, 160, 163, 166f, 170, 174, 211, 213, 219, 226, 237, 242, 244, 247, 258, 278, 294–297, 301f, 307, 345, 347f, 353, 360, 366, 375, 377, 380f, 383, 388, 396, 406, 411–413, 415, 417, 419f, 435–438, 440, 442, 444, 446, 450, 460, 466, 482, 484, 493, 506, 518f, 531, 535f, 554, 579, 597, 599–603, 612, 622, 643, 645, 650, 654, 656, 661, 670, 694, 696f, 699, 719f (f Leben, geistiges; f Tod, geistiger; f Arbeit, geistige) – Heiliger Geist 65, 79f, 89f, 93, 96f, 99, 135, 166, 169, 213, 240, 250, 252, 257, 272, 359, 364–366, 390, 397, 403, 720 Geistlichkeit f Klerus Gemeinschaft 95f, 99f, 116, 118, 122, 124, 175f, 194–196, 201, 203f, 207f, 240, 251, 360, 389, 392–394, 397, 400f, 404, 406, 427, 429, 437–442, 444, 459, 466, 468, 485, 487, 523, 613, 643, 657, 677, 714, 721–723, 727 Genuss 89, 92, 194, 198, 203, 215f, 220, 465 Gerechtigkeit 155, 183, 280, 383, 531, 548, 642, 676, 710–712, 714 Gericht 108, 110, 113, 122, 124, 162f, 207, 220, 234, 255, 259, 282, 304, 349, 382, 452, 455, 460, 492, 545, 644, 668, 686 – Jüngstes 91, 244, 382 Gesellschaft 75, 110–112, 123, 128f, 185, 196f, 200–202, 204f, 207–209, 216, 218, 221, 234, 257, 426, 433, 438, 441, 445, 449–461, 465, 478, 480f, 485, 487, 504, 506, 508f, 516f, 519, 523–526, 548, 560, 562, 576, 596f, 599, 602f, 615, 629, 631, 634, 655, 662, 709, 722, 728 – christliche 260, 305, 487 – gesellschaftliche Institutionen 12, 19, 23, 25, 108, 110f, 119, 220, 234, 349,

760

Register

379, 389, 395, 399–401, 405, 438–440, 442, 444, 449, 452f, 455, 457, 459, 470, 479, 481, 485f, 492, 550, 556, 595f, 615, 619, 625, 631, 639, 643, 655, 662, 668, 673, 679, 710, 721 – gesellschaftlicher Rückzug 198, 200, 278f, 308, 332, 418, 438, 480, 486 – Gesellschaftskritik 438, 487, 516, 521, 523f, 548f, 603, 621, 624 – Gesellschaftsordnung 109, 112, 523, 525, 623, 634, 685f – Gesellschaftsvertrag 454, 486f Gesetz 13, 52–57, 89, 108, 110f, 114–116, 132, 136, 138f, 146, 156f, 162, 166, 176, 179, 182, 184f, 189, 192, 205–208, 224, 247, 249, 253, 260, 278, 312f, 331–333, 337, 343, 378, 409, 414, 417f, 424, 434, 439f, 443, 445, 451, 453, 455f, 459f, 470f, 486, 492f, 506, 524, 526, 563f, 577, 580, 601, 609, 612, 622, 648, 685f, 715 – Gesetz Christi 108, 111f, 133, 304, 344, 548, 564, 645 – Gesetz des Lebens 178, 206, 417f, 422, 424, 426, 428, 435, 437, 439–441, 443 – Gesetz Gottes 55, 57, 110, 128f, 131f, 300, 302, 306, 312f, 337, 344, 399, 418, 426, 435, 445, 453f, 563f, 684 – Gesetz Mose 116, 147, 343f, 564, 569 (f Altes Testament) Gewalt 70, 73f, 77–79, 98, 101, 111, 121f, 124, 130, 141, 149, 161, 163, 166, 181, 207, 221f, 247, 251, 255, 304f, 312, 376, 383, 393f, 399, 405, 428, 438f, 450–452, 454–459, 461, 470, 486, 501, 516–518, 525f, 563, 592, 595f, 602f, 614, 641, 643, 645, 648, 651, 654, 668, 678, 683–687, 686f Gewaltlosigkeit 13f, 19, 21, 114, 141, 184–186, 122, 141, 238, 245, 305, 323, 334, 349, 402, 428, 451, 456, 458f, 486f, 496, 501, 525, 542, 547f, 550–552, 563, 567, 573, 575, 579, 602, 612, 614, 639, 642f, 645, 657, 684, 687f, 690f, 712, 714, 720–722, 727 (f Nichtwiderstehen) Gewissen 93, 115, 120, 238f, 263, 265, 267f, 274, 279, 293, 295f, 311f, 317, 345f, 382, 443, 452f, 458, 486, 542, 566, 571, 596, 614f, 641, 661, 674, 684, 688

Gewissheit 91, 105, 338, 340, 351, 409, 446, 661, 668, 675 Glaube 11, 24, 33, 38, 44f, 47–51, 63–65, 67–71, 72–82, 83–85, 92, 98–101, 103, 105, 155, 157, 169, 189f, 238f, 254, 261f, 279, 312f, 323–338, 340, 351, 376f, 385, 421, 423–427, 434, 485, 524, 546, 549, 555, 599f, 613, 644, 659, 669f, 672f – vernünftiger 324, 327–336, 377, 421, 665 (f Vernunftglaube) – wahrer 47, 49, 75, 80, 83, 96, 238, 262, 306, 328f, 331–336, 425, 450, 600 – Glaubensbekenntnis 16, 47, 64, 70f, 83, 101, 108, 114, 249f, 263, 270, 323, 329, 331, 333, 355f, 358, 362f, 370, 392, 394, 398, 400f, 403, 413, 451, 484, 500, 542, 572, 656, 660, 745 – – Nizänisches 64, 70, 100, 249, 265, 394, 398 – – filioque 70, 554 – – Katechismus 47, 75, 99, 209, 258, 285, 340, 370, 393, 400, 528, 659 – Glaubensbetrug 74–76, 79 – Glaubensgehorsam 93, 103, 211, 327–329, 331, 370, 397, 537 – Glaubenswissen 48–51, 63, 67, 326, 337f, 340, 350, 400, 669 – Fideismus 328 – sola fide 333, 378, 387, 638, 672 – Unglaube 70, 91, 103, 114f, 138, 215, 219, 241, 259f, 262f, 328, 333, 643 – Zweifel 45f, 58, 68, 104f, 213, 228, 243, 266, 271, 286, 330f, 362, 435, 509, 548, 591, 660, 669, 686 Gleichheit 132, 184f, 255, 294, 517, 561, 643, 663, 710, 727 Glück 21, 37, 41, 100, 130, 145, 285f, 291, 305, 368, 470, 495f, 522, 578f, 634, 658, 695 Glückseligkeit 11, 38, 88, 141, 144, 160, 236, 244, 337, 399, 424, 442f, 542 Gnade 78f, 89f, 92, 95, 105, 108, 152, 199, 211, 333, 358, 381, 397, 399, 484, 493, 535, 549, 554f, 579, 614 Gnosis 380, 675, 681 Gott 17–22, 25, 37, 40f, 43–45, 47, 50–53, 55–67, 73–76, 78–81, 83–93, 96, 98, 100f, 105, 120, 135–142, 148f, 165, 185, 190, 197f, 212f, 219, 223–233, 244, 247,

Stichwortregister 254f, 261f, 277, 280, 282–284, 285–289, 290f, 292, 294, 296, 298, 299f, 305–307, 317f, 334–337, 343, 348, 355–372, 374–377, 381, 408f, 411, 412–417, 420, 424, 484f, 493f, 509f, 529–535, 542, 578, 595, 600f, 623f, 656, 670, 672–674, 677f, 727 (f Erfahrung: Gotteserfahrung; f Erkenntnis: Gotteserkenntnis; f Gesetz Gottes) – Gottesbeweis 37, 43, 45, 59, 73, 80, 105, 169ff, 176, 258, 359, 361f, 362, 429, 492, 494, 533, 687, 728 – Gottesdienst 12, 17, 23, 62f, 65f, 94, 234–239, 243, 245, 392, 398, 404, 406, 542, 549, 552, 571, 585, 600, 708, 710, 713 – Gottesreich / Reich Gottes 14, 96, 139, 162f, 182, 184, 186f, 222, 231, 247, 280, 304, 382–384, 387, 389, 395f, 401, 403, 406f, 427f, 447, 458, 485, 519, 610–613, 625, 638–640, 642–646, 651, 656f (f Himmelreich) – Gottessohnschaft 149f, 183, 199, 217, 219, 278, 294, 374–378, 382, 384, 386, 412, 428, 435, 648, 657 – Gottesverehrung 76, 97, 101, 138f, 154–156, 188, 193, 347, 401, 409, 450 – Logos 21, 136, 223, 348, 353, 374, 386, 659 (f Verständnis) – (A-)Personalität Gottes 226, 229f, 240, 336, 348, 355, 360, 366f, 370, 416f, 518, 534f, 595 – Schöpfer 56, 59f, 137, 140, 223, 226f, 236, 240, 243, 287, 343, 355, 362f, 370, 411, 533, 620, 624, 656 (f Schöpfung) – Suche nach Gott 13, 58–61, 84, 135, 291, 305, 310, 348, 356, 362, 365, 368f, 425, 427, 429, 458, 470, 529, 535, 545, 547, 576, 578f, 585, 590, 599, 600, 603, 609, 642, 647, 670, 675, 678, 695, 728 – Wille Gottes 62, 85, 87, 115, 119, 127–132, 137, 139, 146, 160, 182f, 195, 198f, 202f, 224, 227, 244, 247, 270f, 273–275, 279f, 282f, 309, 333f, 343, 349, 370, 373f, 378–380, 387f, 398, 401, 416, 420f, 423, 425, 427f, 442, 444, 454, 456, 481, 486, 492, 495f, 535, 564, 656, 661 Götzendienst 21, 257, 398, 443, 556 Griechen 216, 271, 293

761

Güte 131, 141, 224, 229, 436, 479, 500, 515, 531, 694 Gutes 37, 41, 47, 65, 81, 89, 92, 103, 107, 123f, 126–128, 130–133, 138, 140–143, 146f, 150–152, 154f, 268, 271, 279, 283, 300, 304, 307, 332–334, 369, 380, 400, 411–413, 419, 425, 428, 434f, 438, 440f, 446, 453, 479, 492, 509f, 549, 577f, 596, 600–602, 604, 634, 656, 659, 670–672, 674–676, 678, 681, 684, 688 – Gut und Böse 26, 52, 103, 124, 127f, 130–133, 140f, 252, 260, 266, 271, 304, 380, 453, 501, 506, 604, 656, 670, 690 Häresie 80, 85, 169, 368, 390, 392–394, 404f, 450, 537 (f Heterodoxie; f Ketzerei) Hass 75, 77, 81, 98, 130, 153, 242, 260, 311, 396, 436, 572, 603, 620, 632 Hedonismus 137, 144, 151, 194, 198, 203, 460, 601, 659 Heidentum 54, 77f, 156f, 162, 170, 185f, 193f, 196–198, 200–205, 209, 217, 305, 396, 405, 506 Heil 17, 51, 54, 67, 85, 88, 101, 108f, 114–116, 118, 120–124, 140, 145, 148f, 152–154, 159, 174f, 179, 189, 193f, 196–199, 201–205, 207, 215f, 219–221, 226f, 231f, 238, 240, 244–247, 251, 266, 268, 282, 285–289, 297, 308, 310, 313f, 333–335, 337, 365f, 376–379, 383f, 390, 401, 438, 441, 445f, 506, 554, 564, 629, 659f Heilige 65, 67, 75f, 83, 91, 94, 155, 165, 194, 236, 238, 250, 256f, 281, 299, 396, 437, 495, 571, 576, 622, 678 – Heiligenverehrung 62, 75f, 83, 91, 93f, 165, 168, 170, 244, 250, 256f, 394, 398, 478, 545, 556 Heilsarmee 251, 687 Heilung 149, 165, 253, 348, 383, 659f Henker 75f, 207, 647 Hermeneutik 21, 370, 470, 611 Herrschaft 19, 88, 133, 358, 461, 516, 555 Hesychasmus 415 (f Philokalia; f Starzen) Heterodoxie 76, 297, 329, 369, 414, 538, 668 (f Häresie; f Ketzerei) Heuchelei 19, 92, 126, 204, 207, 219, 228, 486, 506, 545, 712

762

Register

Himmelfahrt 66, 91, 96, 165f, 235, 250, 253f, 261–263, 286, 571, 622 Himmelreich 101, 106, 127, 140f, 150–152 (f Gottesreich) Himmelsgestirne 49, 55f, 88, 175, 199, 209, 212, 253, 285, 294, 303, 305, 332, 415, 418, 493, 496, 646 Hinduismus 416, 421, 683f (f Brahmanismus) Hölle 89, 91f, 97, 114, 117, 244, 250, 263, 286, 382, 395, 405 Homme naturel 23 Humanismus 13, 482, 513, 538, 567, 592 Hunger 113, 137, 146, 208, 300, 435, 595, 684 Husaren 69 Idealismus 14f, 128, 182–184, 334f, 375, 445, 479, 521, 598, 629, 633, 678, 694 Ikonenverehrung 62, 76, 90f, 93, 99, 217, 221, 236, 239, 244–246, 250f, 256f, 278f, 394, 398, 455, 571, 279, 394, 398, 455, 545, 603 Immanenz 14, 24, 330, 382, 484, 601 Imperativ, kategorischer 205, 424, 492f Individualismus 368, 460, 478, 600, 602, 634, 640 Institution f Gesellschaft: gesellschaftliche Institutionen Intellektualität 44, 119, 332, 350, 362, 369, 405, 625, 679 Intelligencija 460, 519, 521, 537, 543, 557, 565, 585, 602, 663 Ironie 24f, 647 Islam 50, 74, 194, 201, 271, 275–278, 421, 571–574, 685 – Koran 275, 571f, 683 Japan 194, 218, 459, 637 Jasnaja Poljana 12, 20, 23, 27f, 292, 317, 339, 352, 373, 442, 456, 477, 491, 521, 525, 537, 543, 557f, 565, 567, 580, 589, 590f, 615, 622, 630, 632, 636, 637f, 641, 645, 655 Jenseits 201, 225, 245, 277, 304, 330, 364, 446, 594, 643 (f Hölle; f Paradies) Jerusalem 138, 142, 155–157, 162, 258, 392, 395, 670 Josephiten 536

Judentum 50, 101, 135, 137f, 147–149, 155–157, 162f, 167, 194, 197, 201, 204, 216, 229, 237, 246, 253, 267, 275, 285, 342, 377, 384, 401, 421f, 484, 557–570, 602, 685, 709, 714 – Antisemitismus 557, 561, 566–569, 642 – Kibbutz 567, 570 – Sabbat 66, 138, 142, 258, 348 – Talmud 197, 562, 565–567 Jungfräulichkeit 89, 99, 235f, 244, 373, 420, 549 Justiz 110, 234, 349, 548, 562 (f Recht) Karikatur 79, 87, 359f, 387, 391, 502, 544f, 699, 701 (f Satire; f Spott) Katharsis 468 Katholizismus 14, 16, 68–70, 77, 80, 169, 190f, 211, 218f, 249f, 258, 271, 369, 393, 398, 516, 536, 554–556, 620–627 Kaukasus 22, 37, 40, 571, 713, 721f, 725 Ketzerei 69, 77, 85, 91, 361, 388, 393–395, 550, 612, 640 (f Häresie) Kinder 23, 33, 47, 54f, 63, 69, 81, 83, 97, 106, 108, 112f, 116, 122f, 127, 134, 136, 141f, 148f, 152, 156f, 170, 185, 193, 198, 201, 208, 210, 212, 221, 224, 227, 236, 239, 245, 251–253, 255f, 263, 266, 270, 272, 283, 292, 294, 296, 301, 304, 306, 332, 345, 348, 358, 379f, 386, 391, 405, 423, 440, 442–445, 478f, 504, 566, 589, 595, 633, 640f, 647, 655f, 698, 701, 713, 724, 726, 728 Kindheit 61, 103, 192, 254f, 260, 264–266, 342, 358, 379, 479, 480, 724 Kirche 12, 14, 16, 51, 64f, 68, 71, 72–82, 83, 85, 89, 91–101, 103–105, 114, 124, 135, 170, 172, 185f, 211f, 219, 240–243, 246–248, 250f, 260, 263f, 275f, 291, 305f, 326, 329, 333, 341, 343f, 347, 355, 358–362, 370, 377, 383, 389–407, 412, 439, 449–451, 456, 470f, 473, 485, 502, 516, 528, 537f, 542, 551, 564, 585, 587, 589f, 592, 594, 596, 598–600, 602, 608, 613, 620f, 622, 631, 640, 643, 651, 668 – universale 47, 51, 291, 399–401 – Kirchenväter 356, 360, 362f, 367, 369, 370f, 405f, 530, 533, 536, 596, 598, 601 – Unfehlbarkeit der Kirche 64, 95f, 98f,

Stichwortregister 211, 250, 263f, 341, 360, 395, 398–400, 556, 651 Klerus 12, 16, 66, 69, 79, 82, 90, 137, 238, 243, 249, 251, 257–259, 277, 390f, 393, 397f, 400, 402, 404, 529, 585f, 588–590, 594, 625, 712f, 715 – Archimandriten 70 – Bischöfe 17, 70, 161–163, 199, 249, 256f, 263f, 347, 398, 405, 530f, 534, 536f, 586–588, 590, 622, 720 – Diakon 94, 234–236, 238 – Erzbischof 75, 93–95, 263f, 397, 587, 589 – Hohepriester 89, 155, 161, 347 – Kardinal 249, 264, 398, 622 – Metropolit 75f, 87, 93, 239, 264, 359, 362, 367, 373, 397, 530, 587f, 590 – Papst 70, 79, 100, 114, 211, 249, 263f, 393, 398, 405, 519, 556, 622 – Patriarch 81, 95, 236 – Pharisäer 97, 137, 183, 270, 277, 347, 378, 563, 712 – Popen 75f, 78f, 90, 92, 94–96, 99, 170 – Presbyter 236 – Priester 12, 20, 23, 45, 47, 66, 74, 87, 90f, 94, 207, 234–238, 244f, 249, 253, 263f, 290, 327, 391f, 397f, 404, 537, 542, 549, 556, 589f, 598, 621f, 655, 684, 709, 711f Kloster 55, 76, 92, 110, 242, 256, 536f, 548, 564 Kommunismus 517–519, 523, 526, 631, 687, 700, 714f Konfuzianismus 74, 227, 271, 484, 565, 685 Konzil 77, 396 – von Nizäa (325) 64, 76f, 80f, 100, 249, 374, 397, 404 – von Konstantinopel (381) 64, 249, 360, 365 – Quinisextum (691/92) 95 – von Konstanz (1415) 405 Körper 12, 24, 47f, 52, 57, 63, 87, 118f, 129, 167, 170, 175–178, 225–227, 230, 243, 247, 250, 283, 287f, 290f, 295, 303, 306f, 310f, 313f, 366, 379f, 382, 387, 390, 414f, 419, 433, 436, 440–442, 444, 446, 450–452, 461, 466, 494, 531, 579, 671, 675, 687, 695 (f Fleisch; f Leib)

763

Kosaken 709 Kraft, göttliche 59–62, 70, 83, 92, 127, 141, 158, 160f, 176–178, 220, 287, 294, 306–308, 331, 334, 337, 340, 363, 365, 381f, 411, 413, 446, 624 Kreuz 70, 79, 89, 113, 163, 183, 237f, 246, 257, 280, 348, 381f, 388, 396, 398, 501f, 541, 621, 646 Kreuzzüge 485, 625 Krieg 71, 78, 98, 103f, 108f, 111f, 114, 120, 123f, 145, 154, 185f, 207, 245, 255, 259, 304, 393, 396, 403, 440, 451f, 485, 501, 510, 518, 548, 567, 579, 602, 628, 641, 650, 653–655, 679, 686, 722, 725 Kriegsdienst f Militär: Militärdienst Kultur 23, 362, 479, 487, 572, 595, 597, 599, 603f, 609f, 613, 636, 638, 693, 696, 699, 701, 705 Kulturkritik 441, 449, 456, 479, 486f, 603, 638, 696, 701 Kunst 11, 86, 215–222, 323, 352, 421, 436, 440f, 456, 462–473, 497, 506f, 510, 546, 549, 596, 598, 624, 628, 645, 676f, 693, 727 Laien 16, 95, 209, 397, 400, 402, 529, 536, 643, 645 Laster f Sünde Leben – ewiges 90, 113, 139, 141f, 149, 154, 244, 250, 281, 307, 382, 390f, 436, 564, 613, 661 – fleischliches 136, 139, 141, 143–146, 148–151, 154, 156–161, 438, 443, 446, 654, 656 – geistiges 141, 143–145, 347, 382, 415, 435, 438, 442, 446, 661 – Leben in der Gegenwart 100, 308, 314, 382, 661 – Lebenskraft 60–62, 70, 176, 287, 327, 329, 340, 351, 362, 423, 446 – Lebenspraxis 92, 330, 332, 351, 384, 409, 420f, 427, 500, 509, 514, 647, 694, 698 – Lebenssinn f Sinn des Lebens – Lebensverständnis 21, 37, 62, 135f, 151, 154, 160, 167, 169, 178, 195–198, 199, 205, 255, 286, 310, 318, 323, 328f, 336, 362, 374, 383, 409, 420, 443, 451, 549, 552, 564, 600, 670, 673

764

Register

Legende 62, 67, 167–170, 172, 257, 267, 290f, 330, 368, 420, 528, 547, 549, 578 Leib 37, 67, 80, 88, 91, 94, 139, 153, 156f, 235f, 238, 261, 277, 327, 380–382, 387, 391,414f, 419, 436f, 550, 601, 675 (f Körper) Leibeigenschaft 542, 562, 709 (f Sklaven) Leiden 68, 106f, 111–113, 144, 154, 158, 161, 180, 194, 197f, 201, 203, 218, 226f, 232, 247, 254f, 287, 314, 337, 381f, 388, 414, 417, 494, 500, 579, 596, 656 Leidenschaften 44f, 63, 189, 207, 506, 536, 614 (f Sinnlichkeit) Liberalität 29, 128–130, 384, 479, 486, 551, 562, 565, 597, 639, 662, 710f, 713 (f Theologie, liberale) Liebe f Christliche Tugenden und Werte – fleischliche f Fleisch Liturgie 17f, 65, 78, 93, 358, 360, 391f, 534, 600 Lüge 63, 68f, 71, 74, 79, 83–85, 93, 132, 138, 160, 169–171, 204, 218, 234, 243, 255, 264, 267f, 270, 273, 285, 327, 341, 361, 375, 397, 399, 401, 423, 433f, 478, 506, 526, 528, 529f, 532, 537, 549, 623, 643, 654, 672 Lutheraner 249, 393, 398, 543, 611 Luxus 62, 95, 98, 119, 221, 293, 396, 405, 687, 693 Macht 41, 43, 59, 70, 77, 79f, 88f, 101, 113, 140, 154, 163, 217, 224, 245, 252, 293, 313, 325, 365, 368, 374, 397, 434, 438, 450–452, 454, 457f, 461, 467, 471, 486, 523, 526, 560, 571, 598, 602, 609, 610, 614, 636, 643, 646, 666f, 711, 720f Märtyrer 67, 83, 155, 170, 236, 591, 710 Marxismus 521, 524, 594, 598, 600, 602, 628–637, 646, 678, 695 (f Marx, Karl im Personenregister; f Sozialismus) Materialismus 48, 260, 496, 508, 598, 600f, 603, 628, 631, 633f, 645, 699f, 720 Materie 88, 231, 254, 295, 307, 313, 317, 380, 412, 424, 436, 650, 695 Mazdaismus 685 Mennoniten 708f, 713, 721 Menschenwürde 221, 375, 412, 451, 714 Menschheit 19, 38, 43–45, 57, 61, 63f, 72–74, 101, 110, 112, 114, 116, 119,

126, 135, 184–187, 189, 191, 193–195, 200, 202f, 208f, 215f, 219f, 222, 255, 263, 275, 286f, 308, 325, 336, 340, 350, 355, 358, 382, 384, 399, 401, 403, 407, 422, 424, 427, 438, 441, 445, 449, 456f, 460, 468, 478, 485–487, 493, 495, 505, 508, 517, 524, 531, 564f, 571–573, 577, 580, 625, 629, 632, 648, 657, 686, 693, 720 – Bestimmung des Menschen 88, 174, 203, 219, 261f, 324, 376, 386, 483, 517, 522, 526, 678 Metaphysik 191f, 204, 215, 226, 315, 346, 351, 354, 362, 384, 396, 407, 418, 441, 482f, 510, 564, 598f, 622, 629, 633f, 656, 658–660 Methodisten 211, 511 Militär 15, 37, 109f, 194, 217, 234, 439f, 452, 548, 639, 663, 726 – Militärdienst / Kriegsdienst 123, 207, 438, 522, 653, 720f – Militärpflicht / Wehrpflicht 110, 182, 451, 459 – Militärdienstverweigerung 124, 438f, 636, 641f, 684, 687, 720f Missionierung 11, 25–29, 256, 449, 565, 569, 711, 713, 715 Molokanen 94, 169, 393, 713, 721 Mönche 67, 71, 75, 110, 236, 256, 356, 397, 402, 519, 536, 590 (f Starzen) Moral 11, 22, 24f, 37, 111, 188, 317, 332f, 343, 353, 384, 408, 417, 420–425, 427–429, 434, 437f, 440, 443, 449, 451f, 454–460, 463, 465f, 477f, 480f, 483, 486, 492f, 500, 506f, 509f, 517, 521, 523, 535, 544, 549, 556f, 578, 595, 598–601, 611, 613, 622, 624, 629, 634f, 648, 655, 658, 663, 670, 674, 678, 683f, 693, 713 (f Ethik; f Sittlichkeit) – Amoralität 439, 455, 506f, 524, 589, 661 – Morallehre 408, 419f, 423, 427, 479, 523, 536, 595, 615, 621, 642, 645, 693 Musik 99, 119, 189, 209, 251, 464, 613f Mysterien f Sakramente Mystik 15, 185, 220, 336, 382, 408–411, 413, 417, 419–422, 427, 438, 529, 536, 543f, 600, 654 Mystizismus 220, 543f, 654 (f Aberglaube)

Stichwortregister Nächstenliebe f Christliche Tugenden und Werte: Liebe Narodniki 375, 595, 710, 714 Narr in Christo (jurodivyj) 257, 528f Narration 11, 20, 21, 350, 437, 572, 671 Nationalsozialismus 14, 460, 642, 645, 648 Naturalismus 206, 695 Naturwissenschaften 49, 343, 420, 483, 657, 660, 692 Nazarener 195, 401, 708 Neues Testament 253f, 341–345, 347, 351, 355, 365f, 374f, 395, 436, 493, 543, 547, 550f, 563, 611f, 645f, 672, 683 – Bergpredigt 21, 83, 86, 103–107, 114, 140f, 184, 253, 334, 336, 346, 349, 351, 378, 402f, 406f, 428, 451, 455, 501f, 508, 510, 545, 547, 549, 552, 563, 598, 602f, 610–613, 638f, 641, 644–646, 648, 658, 683 (f Christentum: Gebote Christi; f Gesetz: Gesetz Christi) – Evangelium 21, 40, 78, 81, 86, 93f, 96f, 102f, 106f, 109f, 134–163, 169f, 172, 198, 211–214, 216f, 234f, 244, 247, 253, 256, 258, 264, 270–272, 274, 277f, 289, 330, 332, 344–349, 353, 358, 376, 383f, 390, 395, 397f, 401f, 404–406, 470, 477f, 485, 489, 493, 502, 543f, 547, 556, 598, 602, 609, 612, 614, 620, 639f, 645–647, 653, 655, 657, 664, 712, 714 (f Christentum: Lehre Christi) – Paulusbriefe 344, 436 (f Paulus [Apostel] im Personenregister) – Vaterunser 134, 279–281, 347, 406 Neuplatonismus 356 Nichts / Nichtiges / Nichtigkeit 198, 200, 226, 252, 254, 294, 332, 410, 418, 674f Nichtwiderstehen 14, 19, 21, 103–110, 112, 114, 121f, 127f, 140, 153, 158, 181f, 304, 334, 349, 383, 427f, 451, 453, 455, 472, 486, 496, 501, 503, 547f, 563, 567, 575, 579f, 592, 595, 602, 614, 621, 632f, 634, 638, 645, 648, 672, 675, 677f, 721 (f Gewaltlosigkeit; f Militärdienstverweigerung) Nihilismus 15, 103, 439, 460, 499, 503, 519, 601, 603 Offenbarung 16f, 49–51, 72, 95, 134, 188, 199, 213, 231, 275–277, 330, 335f,

765

339–354, 358, 374, 376, 379f, 384, 398, 400, 409, 417, 419f, 422, 484, 573, 599f, 662, 670 – natürliche 339 – übernatürliche 339, 341, 420, 552, 662 Oktoberrevolution 12, 29, 521, 630, 636, 641, 647 Optimismus 423, 427–429, 438, 529, 615, 634 Optina Pustyn’ 537, 548, 590 Orthodoxie / Orthodoxe Kirche 12f, 16–18, 47, 58, 64, 68–71, 80, 87, 93, 103, 137, 169, 190, 211, 229, 234, 240, 242f, 248–250, 271, 276, 326f, 330, 347, 355–361, 363–370, 373f, 383, 385, 389–394, 396, 398, 400–403, 410, 419, 428f, 451, 528–540, 541f, 544f, 548f, 554f, 562, 571, 585–593, 594, 596–598, 608, 638, 660, 663, 676, 707–715, 720 Pädagogik 20, 23, 386, 442f, 478–481, 576, 655, 671, 701, 713, 726 (f Bildung; f Erziehung) Pantheismus 12, 15, 229, 348, 355, 362, 416, 534, 601, 613, 675 Paradies 52, 88, 91, 114, 236, 244, 250, 252, 382 Parrhesia 470 Paˇskovianer 69, 710, 712f Patriarchalismus 185, 194, 595, 633, 663 Patriotismus 122f, 126, 174, 185, 203, 217, 221, 224, 293, 439, 451, 460, 597, 603, 628, 653 Pazifismus 9, 14, 182, 349, 405, 428, 454, 518, 571, 579, 610f, 628f, 639, 641f, 646, 657, 714, 720f, 727 Perser 77, 195, 216, 290, 293, 315 Personalität Gottes f Gott: (A-)Personalität Gottes Persönlichkeit, animalische 174f, 178, 335, 366, 375, 377, 379f, 386, 415, 435f, 438, 444 Pessimismus 197, 201, 460, 467, 472, 496, 499f, 529, 615, 634 Pfingstler 708 Philokalia 32, 536, 598 Philosophie 24, 48, 73, 114, 191, 196–198, 200, 203–206, 209, 325, 339, 356, 368, 384, 422, 425, 460, 463, 477–490, 491–498, 499–515, 522, 562, 578, 585,

766

Register

594–607, 621, 629, 631, 633, 653–667, 668–682, 692, 721f, 726 Pietismus 394, 543f, 552, 638, 659, 708 Polemik 13, 23, 26, 248, 358, 369f, 394, 398, 402, 428, 439, 460, 463, 467, 469, 483, 485, 534, 555, 557, 585, 588, 595, 621, 672 Positivismus 190f, 194, 483, 508, 640 Predigt 11, 97, 136, 156, 195, 254, 260, 278, 285, 370, 395, 405, 420, 437, 509–511, 547, 551, 556, 589, 614f, 623, 632–634, 636, 640, 672, 696, 711 Proletariat 632–634 Propheten 14, 89, 95, 97, 139, 147, 156, 224, 236, 247, 250, 272, 275, 342, 383, 387, 402f, 457, 507, 509, 563f, 571, 598, 603, 632, 640, 688, 693 Prostitution 234, 519, 640 Protestantismus 13–15, 18, 68–70, 80, 169, 190, 195, 219, 251, 258, 387, 393, 395, 398, 405, 536, 541–553, 555, 603, 608–619, 638–652, 707, 713 – angelsächsischer 431, 549 – deutscher 549, 551 – französischer 549, 551 Provokation 12, 23, 347, 402, 467, 511, 715 Psalmen 114, 274, 342, 720 Pythagoräer 195, 202 Quäker 69, 195, 401, 638, 683, 721f Rationalismus 12, 15, 169, 323, 330, 336, 355, 362, 384, 403, 408, 417f, 419–422, 424, 436, 502f, 511, 542, 550, 554, 625, 645 – mystischer 419–422 Realismus 15, 472, 615, 631, 635, 663, 677 Recht 114, 439, 455, 486, 549, 595, 602, 609, 645, 663, 666 (f Justiz) Reformation 541, 550, 552, 710 Reformierte 543, 551 Reich Gottes f Gottesreich Reichtum 78, 95, 100, 117f, 121, 132, 134, 140, 145f, 207, 216f, 219, 259, 268, 274, 312, 578, 636, 656, 661, 684, 687, 697 Reinkarnation 685f, 698, 704 Religion 11, 15, 21–23, 38–41, 43–46, 78f, 94, 114, 185, 188–210, 220, 242, 260, 292, 309, 323–325, 333, 335f, 338, 350,

352, 355, 358, 364, 375, 389, 396, 399f, 403f, 408–432, 435, 450, 470, 478, 484f, 487, 493f, 499, 502f, 505, 518, 523, 525, 541f, 544f, 547f, 552, 555, 562f, 566, 571–573, 578–580, 599f, 612, 620f, 628f, 632–636, 639, 643, 656, 668f, 683f, 709, 712, 721 – natürliche 350, 352, 542 – übernatürliche 185, 547 – vernünftige 424, 685 (f Vernunftreligion) – Religionsfreiheit 458, 602 – Religionsgründung 11, 38, 324, 355, 358, 399f, 403, 421, 541f, 545, 547, 636, 712 – Religionsphilosophen 12–14, 16, 18, 373, 510, 558, 594–607 – religiöse Einheit 19, 38, 64, 66, 69f, 100, 159, 217–222, 231, 263, 310, 312, 317, 331, 335, 338, 359, 364, 374, 378, 392, 394, 400, 441, 450, 453f, 457, 481, 532, 554, 573, 621 (f Einheit) – religiöse Universalität 26, 51, 309, 340–344, 347, 349–352, 376f, 384, 399–401, 410f, 421, 423, 518, 566f, 572, 578 Reliquien 62, 75f, 90f, 93, 165, 168, 170, 244, 250, 256f, 394, 398, 556 Renaissance 197, 200, 204, 708 Repression / Repressalien 29, 454, 558, 587, 710, 715, 720f Respekt 108, 294, 492, 614, 714 Rettung f Erlösung Reue 41, 130, 468–471 Revolution 29, 112, 130, 132f, 394, 402f, 405, 407, 438, 450, 457, 479, 511, 517–519, 521, 525f, 561, 571, 594, 596, 602, 623, 632–636, 639–641, 643, 645–647, 651, 676, 684, 696, 710–715, 720 Richter 110f, 115, 122, 162, 207, 349, 353, 516 Ringparabel 421 Riten / Rituale 12, 23, 58, 64f, 67, 99, 138f, 155, 193–195, 243f, 256, 285, 316, 326, 328f, 390, 394, 419, 425, 439, 545, 575, 578f Römer 162, 180, 194, 216, 293 Ruhm 77, 94, 117f, 140, 169, 221, 235f, 280, 299, 311f, 387, 451, 510, 578f, 656

Stichwortregister Russland 12–14, 28, 71, 126, 130f, 133, 241, 251, 256–258, 323, 347, 396, 402f, 453, 457, 460, 467, 491, 500, 504, 516, 522, 536f, 542f, 546, 557–559, 562f, 567, 571f, 575, 585, 589f, 592, 595f, 610, 621, 629, 632f, 638, 653f, 663, 684, 687, 694, 699, 707f, 710, 712, 720f, 722, 724 Sakramente 23, 40, 62, 66, 70, 89f, 92f, 99, 104, 114, 199, 211, 240, 244–246, 250, 255, 273, 285, 323, 336, 358, 360, 368, 370, 378, 387, 390–392, 394f, 397, 401, 406, 408, 450, 485, 535, 545, 571, 588, 638, 720 – Abendmahl / Eucharistie 38, 63, 65–67, 76, 78, 80f, 90–92, 94, 99, 157, 221, 234–239, 240, 244f, 256, 273, 277, 327, 360, 390–392, 404, 501, 542f, 549f, 591 – Beichte / Buße 66, 78, 90, 244, 273, 326, 587, 589–592 (f Beichte; f Buße) – Ehe 80, 90, 244, 444 (f Ehe) – Myron-Salbung / Firmung 89f, 244, 404, 406 – Ölung, hl. / Krankensalbung 90, 244, 390, 404, 406 – Taufe 66, 89f, 97, 100, 235, 242, 244, 250, 273, 389, 404, 632 – Weihe zum hl. Amt 89f, 99 Säkularisierung 612f, 643, 646, 668 Satire 24, 26 (f Karikatur; f Spott) Schisma 68, 71, 80f, 393, 404, 587f – Altgläubige 68–71, 81, 154, 257, 271, 393, 668, Schöpfung 37, 55f, 59f, 87f, 91, 114, 119, 137, 140, 223, 226, 231, 236, 240, 243, 252, 263, 285f, 288, 342f, 355, 359, 361ff, 370, 411, 440, 510, 523, 531, 533, 535, 544, 566, 614, 636, 642, 671, 693 Schuld 68, 91, 117, 152, 200, 268, 280 Schwören 94, 114, 120f, 334, 349, 698 (f Eid) Seele 21, 26, 37, 40,f, 47–51, 53, 62, 64, 66f, 83, 86, 88, 92f, 100f, 112, 126f, 130, 139f, 151, 171, 183, 191f, 199, 207, 217, 221, 228, 232, 238, 243, 250, 255f, 261, 265, 268, 271, 276, 278f, 280f, 283, 285, 292, 294, 296, 305f, 308, 310–314, 332,

767

335–337, 340, 350f, 361, 369, 374f, 378, 382, 385f, 409, 412–414, 416, 418, 428, 433, 435–437, 440f, 470, 480, 492, 532, 542f, 554, 577, 579, 601, 614, 635, 644, 660f, 686, 695–700, 723 – Seelenheil 47f, 51, 100, 198f, 385, 414, 470 (f Heil) Sekten 19, 62, 94, 195, 247, 341, 393, 401, 518, 573, 613, 617, 668, 707f, 710, 715, 719, 721 Selbstfindung 19, 68, 80, 183, 203, 313f, 324, 378, 381, 419, 437, 458, 471, 480, 495, 579, 603, 610 Selbstverleugnung f Christliche Tugenden und Werte Sexualität 25, 118–120, 153, 287, 316, 433, 443–445, 456, 494–496, 610f, 645, 727 (f Ehe; f fleischliche Liebe) Shaker 69 Sinn des Lebens 39, 49, 60–63, 65–67, 72f, 75, 85, 87, 91f, 104, 115, 124, 134–136, 142, 148–150, 160, 187, 193f, 198f, 200, 202f, 205, 226, 244, 247, 261f, 273f, 286, 297, 308, 324–327, 330, 332–334, 339f, 342, 346, 351, 359, 362, 373, 377, 381, 383, 388, 420, 426f, 429, 456, 459, 470, 529, 545, 576–578, 600, 613, 647, 651, 655f, 659f, 674, 676, 685 – Sinnkrise 325, 342 – Sinnlosigkeit des Lebens 23, 92, 285, 297, 308, 327, 377, 379, 579, 672, 697 Sinnlichkeit 223, 387, 436, 444, 466, 469, 472, 483, 560, 598, 601 (f Bedürfnisse, fleischliche; f Emotionen; f Fleisch; f Gefühl; f Leidenschaften; f Sexualität; f Sünde: Begierde) Sittlichkeit 184, 188–210, 228f, 332, 352, 384, 409, 423f, 427, 505, 507, 696 (f Ethik; f Moral) – Sittlichkeit, christliche 201–205, 208f – Unsittlichkeit 92, 244, 258, 264 Skeptizismus 219, 342, 483f, 487 Sklaven 63, 131, 148, 160, 259, 444f, 647 Skopzen 169 Slavophile 387, 400, 440, 454, 486, 554, 669, 700 Sophismus 64, 74, 77, 205, 210, 345, 457 Soteriologie 377f, 381 (f Erlösung) Sozialdemokratie 633, 635, 641, 646, 648

768

Register

Sozialismus 219, 438, 472, 517, 521–527, 602, 612f, 616, 620, 633, 635f, 639–641, 645f, 647, 687, 696, 711, 714f (f Marxismus) – religiöser 612, 617, 638–652 Spott 81, 87, 163, 168, 240, 245, 358, 360, 390, 455, 483, 534, 536, 555 (f Karikatur; f Satire) Spiritualismus 601, 615 Spiritualität 13, 17, 88, 528, 536f, 586 (f Frömmigkeit) Staat 29, 72–82, 108, 110f, 120, 122f, 129–132, 155, 185, 189, 194, 196, 201–203, 208, 219, 326, 387, 410, 439, 449–461, 485f, 501, 519, 521, 526, 548f, 552, 556, 562f, 585, 595f, 602, 604, 609, 623, 628f, 633, 639, 643, 648, 651, 663, 668, 687, 720f – Staatskirche 370, 565, 592, 604 – Staatskritik 487, 501, 548f, 663 – Staatsreligion 80, 194, 585 Starzen 70, 528f, 536f, 548, 564, 590f Stundismus 94, 169, 707–718, 721 Suggestion 26, 466f Sühne 85, 92, 333, 378, 388 Sünde 37, 66, 78, 85, 89–91, 118f, 127, 131, 140, 148f, 165, 180, 183, 207, 236, 250, 255, 264, 272–274, 279f, 301, 304, 310–314, 377, 379–382, 387f, 391, 409, 429, 436, 444f, 466, 469f, 484, 508f, 522, 531, 555, 643, 648, 659, 687, 711 – Begierde 44, 52–54, 56, 65, 78, 101, 108, 118f, 137, 143, 260, 287, 316, 349, 387, 419, 433–437, 444f, 536 – Berauschung 275, 316, 387, 630, 640, 721 – Eifersucht 251, 256, 433, 436 – Eitelkeit 84, 441, 451, 659 – Erbsünde 89f, 170, 379 – Habgier 19, 37, 101, 387 – Hochmut 54, 678 – Missgunst 311, 387 – Müßigkeit 119, 311, 387, 479 – Rache 126, 140, 153, 221, 271, 311, 443f, 496, 509, 577 – Sündenfall 114, 244, 254, 265, 333, 420, 501, 672 – Stolz 65, 77, 255, 311, 313, 686 – Unzucht 55, 114, 118, 280, 387, 436

– Versuchung 25, 65, 69, 71, 116–123, 126–128, 152–155, 161f, 228, 268, 272, 279f, 311–314, 348, 387, 445 – Völlerei 280 – Wollust 311, 387, 568, 700 – Zorn 21, 96, 98, 114, 116f, 246, 290, 311, 412, 436 Synod, Hl. 12, 18, 79, 234, 240–245, 247, 257, 290, 355, 366, 373, 382, 390–392, 394, 420, 539, 586–588, 590, 599, 604–606, 711 Talion 106–108, 127, 304, 349, 451, 548 Taoismus 193, 195, 202, 271, 685 Taufe f Sakramente Täuschung 25, 154, 159, 230, 244, 254, 273f, 308, 329, 433–436, 528, 589 Terroristen 71, 125, 451, 562, 677, 714 Teufel 12, 25, 52f, 55, 57, 81, 88–91, 131, 148, 227f, 235, 242, 244, 249, 253, 256, 424, 615 Theologie 13, 16–18, 75, 106, 243, 356f, 419, 455, 594, 629, 643 – apophatische 17, 356f, 361, 363f, 369f, 529, 531–534, 678 – liberale 31, 346, 384, 395, 546, 604, 608–614, 638f – narrative 18–22 – politische 450–457, 460f Theopneustie 263, 341 Theosis f Vergöttlichung Theosophie 683, 694–696, 698, 703, 706 Tiere 52, 111, 144, 175–177, 206–208, 221, 252, 254, 261, 285, 287, 298, 309, 343, 366, 379, 412f, 436, 485, 506, 509, 595, 624 Tod 25, 28, 43, 45f, 63, 67, 85f, 89f, 90, 92, 113, 123f, 126, 130f, 139f, 145, 148–150, 154, 159f, 163, 174–179, 191f, 224, 231f, 242, 244, 247f, 250, 254, 263, 265, 271, 273f, 277, 281, 286f, 308f, 314, 324f, 327, 330, 334, 337, 376f, 380, 382, 388, 399, 419, 429, 436f, 446, 454, 486, 495, 545, 576, 578, 600, 615, 623, 633, 647, 661, 670–677, 679, 694f, 697 – fleischlicher / körperlicher 144f, 153, 156, 176f, 244, 348, 376, 380, 382, 446 – geistiger 382 – Todesangst 25, 600, 633, 661, 674f – Todeserfahrungen 325

Stichwortregister – Todesstrafe 71, 103, 108, 111, 124, 129, 155, 162, 207, 245, 255, 259, 304, 393, 396, 451, 486, 545, 597, 686 – Töten / Morden 52, 71–73, 75, 78, 108f, 110–113, 120, 125–128, 130, 132, 143, 148, 151, 155–157, 160–162, 208, 217, 245f, 255, 259, 261, 271, 281, 309, 316, 343, 393, 579, 654, 688, 722 – Sein zum Tode 308, 673f – Suizid 58, 60–62, 134, 325, 339, 380, 437, 521, 598, 655, 677, 687 – Unsterblichkeit 37, 40, 148, 160, 179, 250, 274, 288, 400, 433, 435, 446, 492, 494, 542, 660f, 686 Tolstojaner 19, 438, 459, 557, 568, 597, 600, 625, 628–631, 633, 636, 640–642, 651, 657, 700, 712–715 Transzendenz 362, 382, 410, 417, 441, 600, 635, 644, 658, 672, 677f Traum 110, 112, 144, 164, 186, 403, 511 Trinität 85, 87, 89, 91, 99, 114, 219, 243f, 250, 254, 258, 261, 263, 355, 359f, 364–367, 370, 374f, 394, 408, 420, 535, 542, 552, 571, 599, 620 Tschetschenen 572 Übel 77, 101, 104, 106f, 111, 118–122, 127, 129f, 132–134, 138, 146, 304, 334, 381, 395, 439, 451, 458, 502f, 510, 512, 548, 563, 567, 576, 655, 675, 685 (f Böse, das) Überlieferung / Tradition 17f, 50f, 61f, 64, 76, 81, 99, 138, 258, 266, 330f, 339, 340f, 345, 347, 349, 351, 355, 359, 366, 379, 400, 451, 548, 552, 638, 643, 707 Übernatürliches 88f, 185, 191, 330f, 339–341, 346f, 351, 362, 382, 420, 547, 576, 595, 621, 662 (f Wunder) Unendlichkeit 56, 100, 105, 136–140, 160, 182–184, 192, 196, 199f, 202, 210, 224f, 230f, 295, 306, 327, 332, 340, 364, 369, 378, 381, 383, 389, 409–411, 414f, 423f, 435, 445, 480, 517f, 531, 539, 644 (f Ewigkeit) Ungehorsam 250, 651 Unitarier 195, 401, 551 Universalität f religiöse Universalität Unrecht 79, 98, 109, 144, 154, 189, 284, 304f, 350, 396, 412, 438f, 496, 517

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Unsinn 21, 54, 219, 339, 341, 345, 501, 521, 523 Unterdrückung 98, 109, 129f, 140, 202, 217, 260, 293, 525, 633, 685f Unterwürfigkeit 293, 399 Unvernunft 254, 258, 264, 325 Ursprung 45, 50, 76, 80, 95, 168, 175, 178, 192f, 196, 198, 200, 202, 210, 225–227, 244, 247, 255, 260, 265, 278f, 289, 295–298, 309f, 313f, 332, 340, 350, 364, 366, 368f, 380, 389, 399, 409–411, 413, 415, 420, 423, 427, 493, 497, 525, 533, 536, 591, 614, 623, 693 Urteilen 22, 53, 80, 98f, 100, 104, 108, 140, 154, 282, 396, 400, 455 Utopie 383, 403, 429, 459, 521f, 601, 631f, 714, 728 Vatikan 620, 622 Vegetarismus 111, 595, 717, 721, 727 Verantwortung 111, 120, 192, 263, 453f, 535, 576–578, 599, 601f, 624, 677f Verbannung 124, 129, 132, 234, 256, 517, 561, 720–722 Verdammnis 89, 91, 94, 283, 329, 359, 391 Verderben 67, 82, 88, 112, 115f, 436, 665 Verfolgungen 71, 81, 103f, 112, 124, 143, 160, 256f, 630, 636, 712, 720–722 Vergebung 52, 78, 93, 98, 104, 108, 127f, 130–133, 152–154, 181, 233, 244, 258, 272f, 279f, 391, 396, 417, 453, 565, 727 Vergöttlichung 17, 365, 369, 375, 422, 427, 429, 518 Vernunft 38, 48–51, 56f, 63f, 92, 105, 114f, 166, 170, 174–179, 199, 203, 223f, 231f, 242, 254, 256, 262, 270–272, 275–277, 286–288, 309, 311, 323–338, 339–341, 343, 345f, 348, 359, 361, 365f, 384, 388, 396, 401, 414–416, 424, 436, 483f, 492–494, 509, 525, 534, 545, 549, 561, 564, 571, 573, 576, 578f, 599–601, 612, 623–625, 644, 669–673 – glaubende 323, 333 – Vernunfterkenntnis 325, 329, 552, 670 – Vernunftglaube 14, 323, 600 (f Glaube, vernünftiger) – Vernunftreligion 309, 335f, 338, 401, 424 (f Religion, vernünftige) – Vernunftwissen 48–50, 326f, 337, 351

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Register

Verstand 44f, 51, 56, 60, 87, 165, 174, 198–200, 212f, 222, 240, 247, 254, 263f, 325, 331f, 340, 345, 355, 364, 385, 418, 468, 485, 531f, 664 Verständnis [des Lebens] (razumenie [ˇzizni]) 21, 136, 144, 151, 154–157, 160, 328f, 348, 353, 374, 386, 412, 656, 659 Vertrauen (doverie) 262, 266f, 286, 327f, 336, 338, 376, 385, 426 Verweigerung f Militärdienstverweigerung Verzicht 100, 105, 121, 193, 202, 485, 495, 643, 672, 677, 688 (f Askese) – Gewaltverzicht f Gewaltlosigkeit; f Nichtwiderstehen Verzweiflung 59f, 103, 113, 134, 232, 255, 291, 339, 362, 414, 417, 433, 509, 572, 655, 671f, 678 Vision 14, 26, 164, 186, 403, 458, 615, 638, 640, 669, 688, 710 Volk 20, 62–65, 67, 83f, 94, 103, 122f, 126, 154–157, 162f, 189, 193f, 207f, 243, 245, 256–258, 264, 267f, 285, 311, 326, 391, 397, 410, 425, 454, 508, 518f, 525, 528, 542, 555f, 589, 596, 600, 603, 615, 622, 628, 633f, 663, 665, 684, 686, 688, 710–712 – Volksglaube / Volksfrömmigkeit 62f, 83f, 94, 256–258, 345, 357, 425, 455, 528, 600, 665 – Volksvertretung 129 Vollkommenheit 88, 105, 128, 182–184, 226f, 248, 271, 273, 275f, 279, 333f, 378, 380, 408, 427–429, 438, 445, 479, 493, 505, 613, 645, 691 – Vervollkommnung des Menschen 17, 61, 206, 255, 271, 273–275, 278, 378, 380, 428f, 458, 460, 480f, 505, 521, 556, 601–603, 634f, 651 – Unvollkommenheit 138, 184, 266, 291 Vorbild 19, 24, 50f, 54, 77, 128, 136, 147, 381, 384, 397, 400, 435, 442, 493, 576, 608, 610, 639, 644, 677, 684, 688, 707

Wahrhaftigkeit 96, 166, 168, 171, 198, 200, 332, 340, 418, 433–435, 469, 614, 672, 683 Wahrheit 11, 20–28, 40, 45, 63f, 67–71, 73–75, 83, 85f, 95, 100f, 116, 123f, 127, 159f, 163, 167, 189, 199, 212f, 247f, 265–267, 275–277, 285–287, 329, 331, 339–343, 346f, 349–351, 370, 375–378, 383f, 414, 418, 425, 433–435, 449, 455f, 469f, 486, 579, 595, 600, 624, 649, 665, 684, 687f, 728 Wallfahrt 67 (f Wanderasketen) Wanderasketen (stranniki) 528f Weisheit 14, 24, 26, 54, 95, 97, 129, 141, 170, 199, 212, 267, 271, 281, 306, 313, 325f, 332, 337, 350, 374, 421f, 424, 426, 429f, 435, 437, 531, 557, 565, 576, 603, 615, 669, 685, 699 Weltflucht / Abkehr 198, 200, 317, 332, 418, 438, 459, 580, 588–591, 614, 641 Weltkrieg – Erster 567, 614, 628, 641f, 700f – Zweiter 14, 615, 636, 642, 649 Wille, freier 380, 492 Wille Gottes f Gott: Wille Gottes Wissenschaft 44, 54, 190, 196f, 200, 205, 209, 220, 222, 277, 312f, 323, 332, 436, 439, 456f, 483, 497, 506, 524, 555, 622, 646, 664, 694–696 Wohlstand 132, 268 Wunder 60, 66f, 73, 75, 89, 91, 142, 164–173, 213, 252–254, 263, 323, 330f, 339, 346, 348, 363, 382, 408, 420, 423, 450, 501, 503, 547, 549, 556, 575, 578f, 595, 660 – Wunderglaube 171, 485, 571 (f Aberglaube) Zar 19, 63, 65, 79, 125–133, 185, 235f, 239, 258, 453f, 572, 614, 711f Zensur 28f, 39, 58, 102, 129, 164, 174, 180, 182, 188, 215, 234, 240, 242, 292, 500, 558, 597, 642 Zivilisation 23, 445, 479, 487, 519, 523, 551, 572, 595, 685f, 688 Zwangsarbeit 112, 516

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An das arbeitende Volk (1902) 524 An den Zaren und seine Gehilfen (1901) 588 An die Geistlichkeit (1902) 249–269, 328, 355, 589, 621 Anna Karenina (1875–77) 11, 22, 64, 168, 234, 437, 463, 493, 496, 519, 543–546, 548, 558f, 598, 600, 655, 657f, 672, 724, 726 Antwort auf den Beschluss des Synods (1901) 240–248, 355, 361, 366, 373, 390, 394, 413, 419, 537, 588, 692, 701 Auferstehung (1898–99) 12, 23f, 234–239, 240, 270, 350, 360, 381–383, 391, 437, 452, 455, 480, 508f, 518, 537, 543, 545, 549, 561, 586, 608, 611, 640, 663, 677, 701, 724 Beichte (1879–82) 11, 19f, 22–24, 52, 58–71, 72, 102, 324–327, 329, 342, 358, 362f, 365, 391f, 400, 427f, 434, 437, 449, 462, 469–471, 491, 495, 529, 529f, 562f, 576, 631, 647, 654, 664, 671f, 676f, 725 Brief an Alexander III. (1881) 19f, 125–133, 453 Brief an einen Hindu (1908/09) 684f Brief an Perper I.I. (10. 3. 1910) 315f, 353 Brief an einen Revolutionär (Januar 1909) 525 Brief an Solov’ev I.I. (8. 7. 1908) 290f Brief an einen Studenten über das Recht (1909) 439, 455 Brief an Tolstaja A.A. (3. 5. 1859) 39–42, 324 Brief an Tolstaja A.A. (3. 2. 1880) 83–86, 374f, 377, 388 Briefe an Zavolokin V.K. (1900/01) 270–281, 381, 387, 539 Die christliche Lehre (1894–97) 285, 379, 388 Christlicher Katechismus (1877) 47–51, 326, 340, 400

Du sollst nicht töten (1900) 528, 650 Das eine Gebot (1909) 335 Früchte der Aufklärung (1889–90) 168, 560 Für jeden Tag (1907–1910) 20, 292–315, 343, 350, 369, 411, 429, 484 Gebete (1909) 282–284, 440 Gedanken über Gott (1898) 223–233, 360, 363f, 368, 413, 415, 531, 533f, 662 Gedanken weiser Menschen für jeden Tag (1903) 292, 562 Der Gefangene im Kaukasus (1872) 462, 724 Gott sieht die Wahrheit (1872) 462 Hadˇzi Murat (1904) 11, 572, 653 Herr und Knecht (1895) 437, 495, 577, 673, 725 Kindheit, Knabenalter, Jugend (1852–57) 22, 455, 469, 478–480, 725 Kirche und Staat (1879) 72–82, 326, 434 Die Kreutzersonate (1887–89) 11, 270, 433f, 437, 443–445, 464, 493f, 560, 611, 654, 725f Krieg und Frieden (1864–68) 11, 13, 23f, 79, 234, 325, 353, 440, 482, 493, 500, 543, 548, 554, 632, 672, 724–726, 728 Kurze Darlegung des Evangeliums (1881–83) 134–163, 270, 344, 347, 353, 363, 653, 665 Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder (1908) 589, 725, 730 Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus (1885) 180f, 376 Leinwandmesser (1886) 516, 519 Lesefibeln (»Das Alphabet«, 1871–72, und »Das neue Alphabet«, 1874–75) 20, 342, 442 Lesezyklus (1904–08) 285, 292, 325, 330, 334, 338, 350, 385, 429, 555f, 576, 719 Luzern (1853) 518, 603 Mein Glaube (1883/84) 21f, 52, 102–124, 174, 324, 332, 342, 349, 363, 376, 388,

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421, 440, 449, 462, 500, 502, 512, 537, 548, 562f, 567, 569, 595 Philosophischen Bemerkungen zu den Reden Jean-Jacques Rousseaus (1847–52) 482 Das Reich Gottes ist in euch (1890–93) 182–187, 335, 378, 383, 409, 457, 485, 537, 551, 556, 575, 615, 640, 643, 650, 661, 725f Religion und Sittlichkeit (1893) 188–210, 332, 352, 409, 439 Sevastopoler Erzählungen (1855) 22, 451, 725 Siddharta, genannt Buddha (1885/86) 576 Die Sklaverei unserer Zeit (1900) 524 Tagebücher 11, 24, 26, 37f, 102, 223, 282, 317f, 323f, 477f, 526, 532, 575 Der Teufel (1889) 599 Der Tod des Ivan Il’iˇc (1886) 25, 446, 562, 578, 661, 669, 673f, 682, 694, 725 Über das Leben (1886/87) 174–179, 331, 434, 438, 695, 699, 705 Über das, was Kunst genannt wird (1896) 507 Über den Sozialismus (1910) 525 Über den Wahnsinn (1910) 508 Über die Glaubenstoleranz (1901) 588 Über die Religion (1865) 43–46, 325 Und das Licht scheinet in der Finsternis (1896/97) 343, 681

Untersuchung der dogmatischen Theologie (1879–84) 23, 52, 72, 87–101, 329, 332, 358f, 367, 370f, 374f, 399, 462, 528–530, 538 Vater Sergij (1899) 495, 537, 564, 599 Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien (1879–81) 134, 164–173, 330, 339, 344f, 462, 565, 725f, 728 Volkserzählungen (1881–86) 20, 28, 331, 350, 496, 549, 725f Was ist Kunst? (1897/98) 22f, 215–222, 441, 456, 462–464, 467, 469, 507, 596, 671, 677, 693 Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen? (1902) 328, 411, 426, 588, 659 Was sollen wir denn tun? (1882–86) 456 Der Weg des Lebens (1910) 290, 329, 335, 350, 380f, 411f, 421, 429, 435, 438f, 452, 454, 459 Das Wesen der christlichen Lehre (1908) 285–289 Wessen sind wir? (1879) 52–57, 363 Wie soll man das Evangelium lesen? (1896) 211–214, 660 Wo die Liebe ist, da ist auch Gott (1885) 376, 725 Wovon die Menschen leben (1881) 257, 577 Zwei Kriege (1898) 725

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Die Autorinnen und Autoren Radha Balasubramanian, Dr. phil., Professorin für Russische Sprache und Literatur (University of Nebraska) Erich Bryner, Dr. theol., Professor für Osteuropäische Kirchengeschichte (Universität Zürich) Olga Caspers, Dr. phil., Slavistin (Universität Salzburg) Andrew Donskov, Dr. phil., Professor für Slavistik (Universität Ottawa) Martin George, Dr. theol., Professor em. für Kirchen- und Dogmengeschichte (Universität Bern) Rainer Goldt, Dr. phil., Professor für Slavistik (Universität Mainz) Rainer Grübel, Dr. phil., Professor em. für Slavistik (Universität Oldenburg) Jens Herlth, Dr. phil., Professor für Slavistik (Universität Freiburg / Schweiz) Robert Hodel, Dr. phil., Professor für Slavistik (Universität Hamburg) Ilja Karenovics, Dr. phil., Slavist (Universität Basel) Pål Kolstø, Dr. phil., Professor für Russland- und Osteuropa-Studien (Universität Oslo) Holger Kuße, Dr. phil., Professor für Slavistik (Technische Universität Dresden) Christian Münch, Dr. theol., Privatdozent für Historische Theologie (Universität Bern) Georgij Orechanov, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte (Orthodoxe Tichon-Universität Moskau) Sylvia Sasse, Dr. phil., Professorin für Slavistik (Universität Zürich) Ulrich Schmid, Dr. phil., Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands (Universität St. Gallen) Martin Tamcke, Dr. theol., Professor für Ökumenische Theologie (Universität Göttingen) Ludger Udolph, Dr. phil., Professor für Slavistik (Technische Universität Dresden) Sergei Zhuk, Dr. phil., Professor für Geschichte (Ball State University) Regula Zwahlen, Dr. phil., Kulturphilosophin und Slavistin (Universität Freiburg / Schweiz)

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